https://innen.thueringen.de/ Verfassungsschutzbericht 2023 Freistaat Thüringen Pressefassung Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2023 Pressefassung 1 Inhaltsverzeichnis I. Einige Informationen zum Verfassungsschutz ....................................................5 1. Verfassungsschutz - Instrument der wehrhaften Demokratie ............................5 2. Das Amt für Verfassungsschutz (AfV) beim Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales ......................................................................................7 II. Rechtsextremismus ..............................................................................................14 1. Überblick: Rechtsextremismus in Thüringen .....................................................14 2. Rechtsextremistische Parteien ............................................................................16 2.1 "Alternative für Deutschland" (AfD), Landesverband Thüringen ..............................16 2.2 Verdachtsfall "Junge Alternative Thüringen" (JA Thüringen) ...................................21 2.3 "Die Heimat" ...........................................................................................................23 2.4 "Der III. Weg" in Thüringen .....................................................................................25 2.5 "Neue Stärke Partei" (NSP) in Thüringen ................................................................27 3. Parteiunabhängiges bzw. parteiungebundenes Spektrum ................................28 4. Staatliche Maßnahmen .........................................................................................39 5. Weitgehend unstrukturierte Rechtsextremisten .................................................43 6. Politisch motivierte Kriminalität - Rechts ...........................................................54 III. "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" ...............................................................56 1. Überblick ...............................................................................................................56 2. "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" in Thüringen........................................58 3. Entwicklung ..........................................................................................................61 IV. Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates (VDS).....................63 1. Personenpotenzial ................................................................................................64 2. Versammlungen ....................................................................................................65 3. Bewertung .............................................................................................................65 V. Islamismus ............................................................................................................67 1. Ideologischer Hintergrund ...................................................................................67 1.1 Salafismus ..............................................................................................................67 1.2 Legalistischer Islamismus .......................................................................................70 1.3 Schiitischer Islamismus ..........................................................................................70 2. Gefährdungsbewertung für die Bundesrepublik Deutschland ..........................70 2.1 Terrorangriff der HAMAS am 7. Oktober .................................................................72 2.2 Antisemitismus und Desinformation im Islamismus.................................................73 2 2.3 Betätigungsverbot HAMAS .....................................................................................73 2.4 Ermittlungsmaßnahmen gegen das "Islamische Zentrum Hamburg" und dessen mögliche Teilorganisationen ...................................................................................74 3. Islamismus in Thüringen ......................................................................................74 3.1 Überblick ................................................................................................................74 3.2 Islamisten in Thüringer Moscheevereinen ...............................................................75 3.2.1 Salafismus in Thüringen .........................................................................................76 3.3 Terrorangriff der HAMAS, Reaktionen in Thüringen ................................................77 3.4 Reisebewegungen aus Thüringen ..........................................................................77 VI. Auslandsbezogener Extremismus (ohne Islamismus).......................................78 1. Hintergrund ...........................................................................................................78 2. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) ......................................................................79 2.1 Überblick, allgemeine Lage.....................................................................................79 2.2 Strukturen der Organisation ....................................................................................80 2.3 Themenschwerpunkte der Organisation .................................................................81 2.4 Bewertung ..............................................................................................................82 VII. Linksextremismus ................................................................................................84 1. Überblick, Ideologie, Schwerpunktsetzung, Radikalisierung ............................84 2. Das linksextremistische Personenpotenzial .......................................................85 3. Autonome ..............................................................................................................86 3.1 Allgemeines ............................................................................................................86 3.2 Thüringer Autonome und ihr "Antifaschismus"-Verständnis ....................................88 4. Sonstige linksextremistische Organisationen ..................................................101 5. Politisch motivierte Kriminalität - Links ...........................................................105 VIII. Spionageabwehr .................................................................................................106 1. Aufgabe und Überblick .......................................................................................106 2. Methoden fremder Nachrichtendienste .............................................................110 3. Wirtschaftsschutz / Cyberabwehr .....................................................................113 4. Proliferation ........................................................................................................116 IX. Geheimschutz .....................................................................................................118 1. Allgemeines ........................................................................................................118 2. Personeller Geheimschutz .................................................................................118 3. Materieller Geheimschutz ..................................................................................120 3 X. Mitwirkungspflichten ..........................................................................................122 4 I. Einige Informationen zum Verfassungsschutz 1. Verfassungsschutz - Instrument der wehrhaften Demokratie Das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland und die Verfassung des Freistaats Thüringen garantieren allen Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Freiheit. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit der Weimarer Republik ist es die Aufgabe der Gesellschaft, denjenigen Kräften entgegenzuwirken, die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen. Das GG legt folglich nicht nur die Prinzipien des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats fest, es trifft auch Vorkehrungen zu seinem Schutz. Die wehrhafte Demokratie beschreitet - notwendigerweise - einen schwierigen Weg, indem sie auch gegenüber ihren Gegnern grundsätzlich Toleranz übt. Denn auch Personen, Vereinen und Parteien, die den demokratischen Rechtsstaat beseitigen wollen, stehen die Freiheitsrechte - wie zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht - zu. Jedoch liefert sich die wehrhafte Demokratie den Bestrebungen politischer Extremisten nicht schutzlos aus. So sind beispielsweise nach den Artikeln 9 und 21 GG das Verbot verfassungswidriger Vereine und Parteien oder nach Artikel 18 GG die Aberkennung von Grundrechten möglich. Außerdem verfügt unser Rechtsstaat über effektive Institutionen, deren Aufgabe darin besteht, als "Frühwarnsystem" politischen Extremisten entgegenzuwirken und die konstitutiven Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzusichern. Ein wesentliches Element der streitbaren Demokratie stellen die 17 Verfassungsschutzbehörden dar, die der Bund und die Länder unterhalten (Artikel 73 Abs. 1 Nr. 10 Buchstabe b und Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG). Im Freistaat Thüringen wurde die Verfassungsschutzbehörde 1991 errichtet. Die Verfassungsschutzbehörden gehen vor allem der Frage nach, aus welchen Parteien und Gruppierungen sich das extremistische Spektrum zusammensetzt und welche Ziele es verfolgt. Ebenso klären sie Spionageaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste auf. Die Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden sollen es den zuständigen Stellen ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu treffen. 5 Einen erheblichen Teil seiner Informationen gewinnt der Verfassungsschutz aus allgemein zugänglichen Quellen. Extremistische Akteure, Terroristen und fremde Nachrichtendienste agieren jedoch im Verborgenen und legen ihre Ziele nicht offen dar. Der Verfassungsschutz ist befugt, im Rahmen gesetzlich festgelegter Grenzen und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch nachrichtendienstliche Mittel zur Informationsgewinnung einzusetzen, um insbesondere terroristische Gefahren für die Bevölkerung frühzeitig erkennen und gemeinsam mit anderen Behörden abwenden zu können. Die Verfassungsschutzbehörden unterliegen der Kontrolle insbesondere durch die von den Parlamenten eingesetzten Kontrollgremien, durch die Innenministerien, durch die Gerichte sowie durch die Bundesbzw. Landesbeauftragten für Datenschutz. Sie besitzen keine Zwangsbefugnisse, die ausschließlich in die Zuständigkeit der Polizeibehörden fallen (Artikel 97 Verfassung des Freistaats Thüringen). Sie unterscheiden sich damit grundlegend sowohl von der "Geheimen Staatspolizei" (Gestapo) der Nationalsozialisten als auch vom "Ministerium für Staatssicherheit" (MfS) der ehemaligen DDR. Jene Institutionen waren darauf ausgerichtet, totalitäre Systeme abzusichern und abzuschirmen, wohingegen der Verfassungsschutz die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Bundesrepublik schützt. Für Verfassungsschutzbehörden besteht eine strikte Bindung an Recht und Gesetz. Sie dienen keiner Partei, sondern sind dem Mehrparteiensystem als essentiellem Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verpflichtet. Vor dem Hintergrund, dass bei dem Thüringer Verfassungsschutz und anderen Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder im Zusammenhang mit den Vorkommnissen um die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) ein weitreichendes Behördenversagen vorlag, wurden Verfassungsschutzgesetze geändert, bzw. in Thüringen neu gefasst. Damit wurden aus den Ergebnissen der Parlamentarischen Untersuchung präzise neue rechtliche Vorgaben für eine erfolgreiche und transparente Tätigkeit des Thüringer Verfassungsschutzes geschaffen. Die Unterrichtung der Öffentlichkeit über verfassungsschutzrelevante Bestrebungen ist geboten, wenn auf Tatsachen gestützte Anhaltspunkte vorliegen, die in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung führen, dass eine Bestrebung gegen die Freiheitliche Demokratische Grundordnung vorliegt, d. h. ein Personenzusammenschluss verfassungsfeindliche Ziele verfolgt und damit die Feststellung seines extremistischen Charakters verbunden ist. Die Darstellungen im Verfassungsschutzbericht sind nicht abschließend, sondern geben wesentliche Entwicklungen während eines konkreten Berichtszeitraums wieder. Eine Berichterstattung kann bereits dann in Betracht kommen, wenn hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für den Ver- 6 dacht extremistischer Bestrebungen vorliegen, die aufgrund eines im konkreten Fall hinzutretenden besonderen Aufklärungsinteresses der Öffentlichkeit eine Erwähnung erfordern. Diese Verdachtsfälle sind als solche im Text kenntlich gemacht. 2. Das Amt für Verfassungsschutz (AfV) beim Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales Aufgaben und Befugnisse Mit dem Thüringer Verfassungsschutzgesetz (ThürVerfSchG) bestehen präzise rechtliche Vorgaben für eine erfolgreiche und transparente Tätigkeit des Thüringer Verfassungsschutzes im demokratischen Rechtsstaat. Kernaufgaben des AfV sind die Sammlung und Auswertung von Informationen zum politischen Extremismus, zu Terrorismus und Spionage im Vorfeld polizeilicher Maßnahmen. Zu diesem Zweck beobachtet es gemäß SS 4 ThürVerfSchG: 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, 3. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 4. Bestrebungen und Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind. Einen nicht unerheblichen Teil seiner Informationen - insbesondere solche, ob tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsschutzrelevante Bestrebungen bestehen - schöpft das AfV aus öffentlich zugänglichen Quellen. Darüber hinaus ist das AfV in gesetzlich festgelegten Grenzen und unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit befugt, im Rahmen seines Beobachtungsauftrags Informationen auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln (z. B. Observationen, Telefonüberwachungen) zu beschaffen. 7 Die in Berichten, Lagebildern und Analysen zusammengefassten Erkenntnisse ermöglichen es der Landesregierung, rechtzeitig Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzuleiten. Gemäß den gesetzlichen Vorgaben übermittelt das AfV relevante Erkenntnisse unverzüglich nach Bekanntwerden an die Strafverfolgungsbehörden. Das AfV ist in den gemeinsamen Informationsund Kommunikationsplattformen der deutschen Sicherheitsbehörden (Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum - GTAZ, Gemeinsames Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum zur Bekämpfung des Rechtsextremismus/-terrorismus, des Linksextremismus/-terrorismus, des Ausländerextremismus/terrorismus und der Spionage einschließlich proliferationsrelevanter Aspekte - GETZ) vertreten. Des Weiteren obliegen dem AfV Mitwirkungspflichten im Bereich des Geheimund Sabotageschutzes (z. B. Sicherheitsüberprüfungen für in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätige Personen). Das ThürVerfSchG sieht in SS 5 zudem eine geeignete Informationsund Öffentlichkeitsarbeit des Amtes vor. Zudem bestehen ausführliche Regelungen über Umfang und Grenzen des Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel einschließlich des Schutzes des Kernbereichs privater Lebensgestaltung1 sowie die beim Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel einzuhaltenden Verfahren. Die Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei in der Thüringer Informationsund Auswertungszentrale (TIAZ) wurde in einer eigenständigen gesetzlichen Regelung verankert.2 1 Der Kernbereich privater Lebensgestaltung stellt einen Raum höchstpersönlicher Privatheit dar, welcher verfassungsmäßig geschützt und einem Zugriff durch staatliche Überwachungsmaßnahmen vollumfänglich entzogen ist. Hinweise auf begangene oder geplante Straftaten fallen aufgrund ihres Sozialbezugs nicht hierunter. Einfachgesetzliche Regelungen zum Schutz des Kernbereiches privater Lebensführung finden sich etwa in SS 10 Abs. 6 ThürVerfSchG und SS 3a Artikel 10-Gesetz (G10). 2 Siehe dazu SS 4 Abs. 4 ThürVerfSchG. 8 Aufbau und Organisation Der Thüringer Verfassungsschutz verfügte im Haushaltsjahr 2023 über 105 Stellen und Planstellen. Für die Wahrnehmung seiner Aufgaben waren ihm durch das Haushaltsgesetz Mittel in Höhe von 8.500.100 Euro zugewiesen.3 Der Verfassungsschutz Thüringen ist für die interessierte Öffentlichkeit über folgende Kontakte erreichbar: Amt für Verfassungsschutz beim Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales Postfach 450 121 99051 Erfurt Telefon: 0361 573313-850 Telefax: 0361 573313-482 Internet: https://verfassungsschutz.thueringen.de E-Mail: afvkontakt@tmik.thueringen.de Struktur des AfV 3 Siehe dazu Landeshaushaltsplan 2023, Einzelplan 03, S. 66 ff. 9 Stabsstelle Controlling Die Stabsstelle Controlling unterstützt den Präsidenten des AfV durch unabhängige und objektive Prüfungsund Beratungsdienstleistungen in seiner Leitungsfunktion. Sie hat die Aufgabe, regelmäßig die Rechtund Zweckmäßigkeit der nachrichtendienstlichen und sonstigen ihr zugewiesenen Maßnahmen zu überprüfen und dem Präsidenten des AfV Bericht zu erstatten (SS 2 Absatz 4 ThürVerfSchG). Die Stabsstelle ist dem Präsidenten des AfV unmittelbar zugeordnet, jedoch in der Beurteilung der Rechtund Zweckmäßigkeit der eingesetzten nachrichtendienstlichen Mittel nicht an Weisungen des Präsidenten, seines Vertreters oder des zuständigen Ministeriums gebunden. Die Stabsstelle Controlling ist darüber hinaus personell und organisatorisch von den übrigen Referaten des AfV getrennt, nicht zuletzt, um auch insoweit eine unabhängige Prüfung zu gewährleisten. Die Referate des AfV haben der Stabsstelle Controlling kontinuierlich schriftlich Bericht darüber zu erstatten, in welchen Phänomenbereichen und beobachteten Personenzusammenschlüssen nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt werden. Diese Berichtspflichten betreffen besondere grundrechtsund sicherheitsrelevante Vorkommnisse, die sich im Rahmen des Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel ereignen können. Bei besonderen oder schwierigen Vorkommnissen kann die Parlamentarische Kontrollkommission verlangen, dass die Stabsstelle Controlling diese auch unmittelbar unterrichtet (SS 2 Abs. 4 Satz 6 ThürVerfSchG). Referat 50 "Grundsatzund Rechtsangelegenheiten, G10, Gremienarbeit, Pressestelle" Das Referat 50 bearbeitet die Grundsatzund Rechtsangelegenheiten des Amtes. Weiterhin werden in diesem Arbeitsbereich Sitzungen verschiedener Gremien, z. B. der Parlamentarischen Kontrollkommission und der G10-Kommission des Thüringer Landtags sowie verschiedener Bund-Länder-Gremien vorbereitet. Die Bearbeitung von parlamentarischen Anfragen, Petitionen und Auskunftsersuchen von Bürgern zählt ebenso zu den Aufgaben des Referates wie die Begleitung der Rechtsetzung auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes, des Geheimschutzes oder relevanter Bundesratsverfahren. Das große Interesse der Mitglieder des Thüringer Landtags an den Themenfeldern, die vom AfV zu bearbeiten sind, zeigt sich an der Anzahl diesbezüglicher parlamentarischen Anfragen. So war das AfV mit der 10 Bearbeitung von 178 Kleinen Anfragen, 12 Mündlichen Anfragen und drei Großen Anfragen befasst. Darüber hinaus ist das Referat mit der Durchführung der Verfahren zur Postund Telekommunikationsüberwachung (G10) betraut. Des Weiteren ist die Pressestelle des AfV organisatorisch dem Referat zugeordnet. Referat 51 "Auswertung Islamismus/Auslandsbezogener Extremismus" Das Referat 51 erhält vom Referat "Beschaffung" Informationen zu den Aufgabenfeldern Islamismus und auslandsbezogener Extremismus. Es lenkt diesen Informationsfluss, führt die Erkenntnisse mit anderen Informationen, etwa aus offen zugänglichen Quellen, zusammen und wertet sie aus. Referat 52 "Auswertung Rechtsextremismus/Linksextremismus, Thüringer Informations-Auswertungs-Zentrale von Polizei und Verfassungsschutz (TIAZ)" Das Referat 52 erhält vom Referat "Beschaffung" Informationen zu den Bereichen Rechtsund Linksextremismus. Es lenkt diesen Informationsfluss, führt die Erkenntnisse mit anderen Informationen, etwa aus offen zugänglichen Quellen, zusammen und wertet sie aus. Aufgabe der seit 2007 bestehenden TIAZ, einer Projektorganisation des Thüringer Landeskriminalamts (TLKA) und des Thüringer Verfassungsschutzes, ist es, die in der jeweiligen Zuständigkeit erlangten Informationen zu politisch motivierter Kriminalität in den Phänomenbereichen "Rechts", "Links" und "Ausländer" sowie den Erscheinungsformen des internationalen Terrorismus zu bündeln und einer gemeinsamen Analyse zuzuführen. Die TIAZ übernimmt darüber hinaus die Aufgaben des Freistaats Thüringen im Wirkbetrieb der "Antiterrordatei" (ATD). Referat 53 "Beschaffung" Dieses Referat hat die Aufgabe, durch Ermittlungen und den Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln die für die Erfüllung des gesetzlichen Auftrags erforderlichen Informationen zu beschaffen. 11 Referat 54 "Querschnittsaufgaben" Das Referat "Querschnittsaufgaben" ist für den inneren Dienstbetrieb und die Wahrnehmung von Mitwirkungspflichten dem Waffengesetz, dem Luftsicherheitsgesetz, dem Staatsangehörigkeitsgesetz, dem Sprengstoffgesetz sowie dem Aufenthaltsgesetz und der Gewerbeordnung zuständig. Referat 55 "Geheimschutz, Spionageabwehr, Scientology Organisation" In dem Sachgebiet "Geheimschutz" werden Angelegenheiten des personellen und materiellen Geheimschutzes sowie Mitwirkungspflichten des Verfassungsschutzes gemäß dem Thüringer Sicherheitsüberprüfungsgesetz wahrgenommen. Dem Sachgebiet "Spionageabwehr" obliegt es, die unerlaubte Tätigkeit fremder Nachrichtendienste im Freistaat aufzuklären. Zudem wird etwaigen Hinweisen auf frühere, fortwirkende Strukturen der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen DDR nachgegangen. In einem weiteren Sachgebiet werden Hinweise auf mögliche Betätigungen der in Thüringen bislang nicht organisatorisch vertretenen "Scientology Organisation" bearbeitet. Kontrollinstanzen des Verfassungsschutzes Allgemeine parlamentarische Kontrolle Parlamentarische Kontrollkommission des Thü(parlamentarische Anfragen, Petitionen von ringer Landtags Bürgern) Amt für Verfassungsschutz Landesrechnungshof (Stabsstelle Controlling) Verwaltungsgerichte Landesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit G10-Kommission des Thüringer Landtags Parlamentarische Kontrolle Gegenüber der Parlamentarischen Kontrollkommission besteht eine umfassende Unterrichtungspflicht über die allgemeine Tätigkeit des AfV (SS 27 Abs. 1 ThürVerfSchG). Dabei bilden die mit nachrichtendienstlichen Mitteln gewonnenen Erkenntnisse einen Schwerpunkt. 12 Zudem ist der Landesregierung eine strukturierte Berichterstattung über die maßgeblichen operativen Vorgänge im Verfassungsschutz gegenüber der Parlamentarischen Kontrollkommission aufgegeben (SS 27 Abs. 2 ThürVerfSchG). Dies betrifft im Einzelnen eine Übersicht über den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel in den verschiedenen Phänomenbereichen, die Information über die Festlegung der einzelnen Beobachtungsobjekte, die Information über die Herstellung des Einvernehmens beziehungsweise des Benehmens für das Tätigwerden von Verfassungsschutzbehörden anderer Länder respektive des Bundes in Thüringen, die Vorlage von Regelungen über die Vergütung von V- Leuten zur Kenntnis und die Unterrichtung über die Feststellung eines Informationsübermittlungsverbotes durch den Verfassungsschutz. Darüber hinaus ist die Unterrichtung der Parlamentarischen Kontrollkommission über den Erlass und jede Änderung von Dienstanweisungen (SS 27 Abs. 5 ThürVerfSchG) gesetzlich verankert. Für den Erlass und die Änderung der Dienstanweisung zum Einsatz von V-Leuten ist eine Anhörung der Parlamentarischen Kontrollkommission vorgeschrieben (SS 12 Abs. 6 Sätze 6 und 7 ThürVerfSchG). Die umfangreichen Unterrichtungspflichten der Landesregierung und Kontrollbefugnisse der Parlamentarischen Kontrollkommission ermöglichen eine umfassende parlamentarische Kontrolle der Tätigkeit des AfV und eine zusätzliche Sicherung der Grundrechte betroffener Personen. Nach SS 33 ThürVerfSchG unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission unter Beachtung der Geheimhaltungspflichten den Landtag mindestens alle zwei Jahre über ihre Tätigkeit. 13 II. Rechtsextremismus 1. Überblick: Rechtsextremismus in Thüringen Mit dem Landesverband Thüringen der Partei "Alternative für Deutschland" und ihrer Jugendorganisation "Junge Alternative Thüringen" (Verdachtsfall)4 traten rechtsextremistische Bestrebungen mit dem Anspruch auf, die Allgemeinheit vor allem in Fragen der Außen-, der Wirtschaftsund der Einwanderungspolitik zu vertreten: Der Landesverband legt in seinen Äußerungen nahe, demokratische Mittel zur Aushöhlung der verfassungsmäßigen Ordnung erlangen zu wollen. Dabei orientiert sich die Partei in Thüringen an einem ethnischen Volksbegriff, der unvereinbar mit dem Grundgesetz ist und Menschen in ihrem Menschsein abwertet. Zudem spricht die Partei ein "Vorfeld" aus Vereinen und Gruppierungen mit ähnlichen Zielsetzungen an, die in der Gesellschaft Rechtsextremismus normalisieren sollen. Im Bereich rechtsmotivierter Strafund Gewalttaten im Freistaat Thüringen ist ein neuer Höchststand zu konstatieren, obschon die Deliktgruppe der Gewaltstraftaten auf hohem Niveau stabil blieb. Mit Ausnahme der AfD ist bei allen übrigen rechtsextremistischen Parteien eine Phase relativer Stagnation festzustellen. Dies trifft auf die "Die Heimat" (vormals "Nationaldemokratische Partei Deutschlands - NPD) ebenso zu wie auf die "Neue Stärke Partei" und die Partei "Der III. Weg". Dies bedeutet jedoch nicht, dass Rechtsextremisten ihre Aktivitäten eingestellt hätten. Im Gegenteil verlagern sich ihre Aktionsformen zunehmend in den Bereich der informellen Vernetzung über Musik, über aktionsorientierte Kleingruppen (etwa Kampfsport) sowie virtuelle Gruppierungen. In diesen Bereichen versuchen auch rechtsextremistische Parteien mit unterschiedlichem Erfolg eigene Standbeine aufzubauen. Dabei kommt es immer häufiger auch zu Überschneidungen zwischen den genannten Vernetzungsformen. Im Berichtszeitraum unterblieben zwar erneut größere rechtsextremistische Musikveranstaltungen, der Trend zu kleinen, konspirativ organisierten Konzertveranstaltungen setzte sich jedoch unvermindert fort. Ein neuer Höchststand wurde im Bereich der rechtsextremistischen Liederabende erreicht. Dazu trug maßgeblich die bundesweit bekannte Szeneimmobilie "Flieder Volkshaus" in Eisenach bei. Das Objekt beherbergt eine Veranstaltungsörtlichkeit, die für rechtsextremistische Musikveranstaltungen genutzt wird. Es steht zudem der rechtsextremistischen Partei "Die Heimat" (vormals NPD) zur unbeschränkten Nutzung, unter anderem als deren Landesgeschäftsstelle, zur Verfügung. Im "Flieder Volkshaus" fanden nach 4 Die "Junge Alternative Thüringen" wurde am 28. März 2024 als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung eingestuft, siehe dazu die Pressemitteilung des AfV 1/2024 vom 23. Mai 2024. Zuvor war sie seit dem Jahr 2021 als Verdachtsfall im Phänomenbereich Rechtsextremismus klassifiziert. 14 Einschätzung des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof (GBA) in der jüngeren Vergangenheit auch Trainings der rechtsextremistischen Kampfsportgruppierung "Knockout 51" statt, die das Objekt zudem auch als Waffenlager genutzt habe.5 Neben der rechtsextremistischen Musik hat sich, wie die Nutzung des "Flieder Volkshaus" bereits andeutet, in den vergangenen Jahren auch der rechtsextremistische Kampfsport als eine weitere bedeutende Subkultur verstetigt. Die rechtsextremistische Szene hat sich in vielen Teilbereichen dieser Subkultur deutlich professionalisiert. Dies trifft nicht nur auf entsprechende überregionale Kampfsportveranstaltungen wie z. B. den "Kampf der Nibelungen" zu, sondern auch auf das Training und den Vertrieb von Merchandise. Mit gestiegenem Selbstbewusstsein vertreten Rechtsextremisten ihren Körperkult und beteiligen sich auch an unpolitischen Kampfsportveranstaltungen, um sich im Sinne ihrer Ideologie mit Unbeteiligten zu messen. Rechtsextremisten vergesellschaften sich zuletzt zunehmend im virtuellen Raum. Doch die Formen dieser Agitation im Internet sind in der Praxis äußerst heterogen. Sie bedienen sich aller gängigen Plattformen und sozialen Medien und nutzen insbesondere Lücken in der Durchsetzung von verbindlichen Standards der Plattformbetreiber für ihre Agitation aus. Weder sind die bereits aus der Frühphase des Internets bekannten Foren als Orte des Austausches von Hass und Hetze verschwunden, noch haben sich einzelne Plattformen als das prägende Medium durchgesetzt. Vielmehr sind der Grad der Internetaffinität, wie auch der Plattformnutzung oder Konspirativität unter anderem von Alter, Geschlecht, Bildungsgrad und der Art der Aktivität abhängig. Die Beobachtung des virtuellen Raumes ist deshalb in allen Bereichen inzwischen eine Kernaufgabe. Thüringen Bund 2021 2022 2023 2022 2023 AfD 1.200 1.300 1.650 10.200 11.300 "Die Heimat" 100 100 100 3.000 2.800 "Der III. Weg" 40 30 30 700 800 parteiunabhängiges 280 300 400 8.500 8.500 bzw. parteiungebundenes Spektrum weitgehend unstruktu650 670 700 16.000 17.000 rierte Rechtsextremisten 5 Pressemitteilung des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof vom 14. Dezember 2023. 15 davon gewaltorientierte 350 350 350 14.000 14.500 Rechtsextremisten Tabelle 1: Geschätztes Mitgliederund Personenpotenzial Das rechtsextremistische Personenpotenzial in Thüringen belief sich 2023 auf insgesamt etwa 2.880 Personen. 2. Rechtsextremistische Parteien 2.1 "Alternative für Deutschland" (AfD), Landesverband Thüringen Der AfD Landesverband Thüringen (AfD Thüringen) wurde im Jahr 2013 gegründet; seine Führung obliegt seit Juni 2014 den Rechtsextremisten Björn Höcke und Stefan Möller. Auf dem Landesparteitag im November 2022 wurden beide mit über 90 Prozent wiedergewählt. Sie vertreten den Standpunkt der Partei zu gesellschaftlichen Themen nach außen und sind organisationsprägend für die AfD Thüringen.6 Der Landesverband umfasst zwölf Kreisverbände, die sich wiederum in diverse Gebietsund Stadtverbände untergliedern. Die AfD Thüringen erreichte im Berichtszeitraum erhebliche Zuwächse und hatte im Berichtszeitraum ein Personenpotenzial von ca. 1.650 Mitgliedern. Sie stellte mit 19 von vormals 22 Abgeordneten die drittgrößte Fraktion im 7. Thüringer Landtag. Fünf Abgeordnete bilden die Thüringer Landesgruppe der AfD im Deutschen Bundestag. Der AfD Landesverband Thüringen ist eine erwiesen rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Der Landesverband vertritt seit Jahren Positionen, die sich gegen die Menschenwürde, das Demokratieund das Rechtsstaatsprinzip richten. Im Berichtszeitraum ist keine politische Mäßigung eingetreten. Im Gegenteil gelten die unter den genannten Begriffen zusammengefassten verfassungsfeindlichen Positionen, die sich in zielund zweckgerichteter Weise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, als die beherrschende und weitestgehend unumstrittene politische Ideologie innerhalb des Landesverbandes. 6 Vgl. Verwaltungsgericht Köln, Urteil vom 8. März 2022, 13 K 326/21 Rn. 104, 739; Oberverwaltungsgericht Münster, Urteil vom 13. Mai 2024, 5A 1217/22 Rn. 163. 16 Das völkisch-nationalistische Ziel eines ethnisch-homogenen Staatsvolkes, das auch der im Jahr 2020 aufgelöste "Flügel" propagierte, stellt den ideologischen Unterbau der AfD Thüringen dar. Bis zu seiner Auflösung war der "Flügel" mit dem Landesverband organisatorisch eng verflochten und dominierte diesen in personeller und ideologischer Hinsicht. Die Auflösung des "Flügel" verlief in Thüringen ohne inhaltliche und personelle Konsequenzen und bewirkte letztlich nur dessen Aufgehen in der AfD Thüringen. Die propagierte ethnische Homogenität des Staatsvolkes soll insbesondere durch die Beendigung jeglichen Zuzuges von ethnisch "Fremden" erhalten und, so sich diese bereits in Deutschland aufhalten, durch deren "millionenfache Remigration" wiederhergestellt werden. Der daran zum Ausdruck kommende ethnisch-kulturelle Volksbegriff hat, wie auch gerichtlich festgestellt worden ist, keinen "rein deskriptiv[en]" Charakter hat, sondern ist mit "Wertungen" verbunden, die nicht zuletzt unter Verwendung von "martialischen Begriffen" zu einer "Abwertung zugewanderter Menschen führen" und das Postulat des "Erhalt[s] der ethnisch-kulturellen Identität" zum Gegenstand haben.7 Solche rassistischen Positionen gehen, auch wenn sie statt des Volksden Kulturbegriff verwenden, von einer biologisch begründeten und damit irreversiblen Ungleichheitsannahme zwischen einzelnen Menschen und Bevölkerungsgruppen aus. Sie sind damit verfassungsfeindlich, weil sie den einzelnen Menschen, der im Zentrum der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, auf dessen biologisch abgeleitete ethnische Zugehörigkeit reduzieren. Der exklusive Charakter eines solchen Volksbegriffes zeigt sich in einem Beitrag Stefan Möllers vom 17. Juli auf der Medienplattform "X". Darin schrieb er, "ob man Deutscher ist, entscheidet sich zwischen den Ohren, nicht auf dem Papier." Ergänzt wird dieser Standpunkt um die ethnopluralistische Idee einer ebenso feststehenden Inkompatibilität der als homogen verstandenen deutschen Kultur mit anderen Kulturen. Als Reaktion auf einen Terroranschlag in Brüssel schrieb Björn Höcke am 17. Oktober auf "X": "War es Rassismus, war es Glaubensfanatismus oder war es - wie immer - nur' ein psychischer Defekt, der den Nordafrikaner zur Tat trieb? Kann es sein, daß es Kulturen gibt, die man besser nicht vermischen sollte, werte westliche Staatenlenker?" Am 6. November führte Björn Höcke in seiner Rede bei der rechtsextremistischen Organisation PEGIDA in Dresden zudem aus: "Die jungen Männer aus Afrika, die jungen Männer aus dem arabischen Raum, sie können hier nicht integriert werden. Sie sind anders als wir. Sie haben andere Sitten und Rechtsvorstellungen. Sie behandeln ihre Frauen anders. Sie sehen den Staat anders. Sie kommen aus einer völlig fremden Kultur." Beide Sprecher der AfD Thüringen setzten demnach hinsichtlich der Zugehörigkeit einer Person zur rechtlich verfassten Gemeinschaft kulturelle und damit letztlich biologi- 7 Verwaltungsgericht Köln, Urteil vom 8. März 2022, 13 K 326/21 Rn. 816; vgl. auch Oberverwaltungsgericht Münster, Urteil vom 13. Mai 2024, 5 A 1217/22 Rn. 199. 17 sche, nicht aber rechtliche Kriterien an, wobei diese kulturellen Unterschiede als unabänderlich behauptet werden. Diese unterstellte kulturelle Inkompatibilität wurde von führenden Vertretern der AfD Thüringen mit der Forderung nach "Remigration" verknüpft. Am 15. September verlangte etwa ein Vorstandsmitglied der AfD Thüringen in einem Beitrag auf "X", eine "millionenfache Remigration" ins Werk zu setzen. Derlei Ansinnen deuten auf ein mit dem Rechtsstaatprinzip in Konflikt stehendes Vorgehen hin.8 So verlangte Höcke anlässlich seiner Rede am 6. November in Dresden bei PEGIDA einen Ausschluss von Personen mit einer erlangten deutschen Staatsbürgerschaft, die nicht seinem ethnisch-kulturellen Volksbegriff entsprechen: "Die gesamte Entwicklung seit dem Jahr 2000, was das Staatsbürgerschaftsrecht angeht, muss zurückabgewickelt werden." Der Begriff "Rückabwicklung" bedeutet, dass ein ursprünglicher Zustand wiederhergestellt werden soll, die entstandenen Folgen sollen mithin ungeschehen gemacht werden. In Bezug auf die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts inkludiert diese Forderung, dass alle erworbenen deutschen Staatsangehörigkeiten zumindest seit dem Jahr 2000 zurückgenommen werden müssten - deutsche Staatsbürgerschaften folglich aberkannt werden. Diese Forderung stellt eine menschenwürdewidrige Exklusion Staatsangehöriger aufgrund als irreversibel verstandener kultureller Kriterien dar. In dieser Rede geht Höcke mit seinen Forderungen noch weiter, wenn er ankündigt, die gesamte Bevölkerungspolitik seit Ende der 60er Jahre rückabwickeln zu wollen: "Spätestens am Ende der 60er Jahre gab es in Deutschland keine sachliche, keine logische, keine interessengeleitete Migrationspolitik mehr. Das ist über 50 Jahre her. Das ist 60 Jahre her. Es dauert, das wieder abzuwickeln. Aber das werden wir schaffen, wenn die Deutschen das mehrheitlich wollen. Und wenn sie der AfD das Vertrauen schenken, werden wir gemeinsam diesen Weg beschreiten." Damit zeigt Höcke, dass er mit den geforderten Maßnahmen nicht auf den Status vor dem Jahr 2000, sondern vor den migrationspolitischen Entwicklungen Ende der 1960er Jahre zielt. Insofern ist es konsequent, dass er am 12. Dezember im Rahmen eines Bürgerdialogs in Gera auf die Frage eines Teilnehmers, was "eigentlich mit den Millionen, ich nenne sie jetzt einfach Mal Ausländer, die ja schon längst den deutschen Pass haben", sei, antwortete: "Wir werden auch ohne Probleme mit 20, 30 Prozent weniger Menschen in Deutschland leben können." Auch wenn sich Höcke gegen diese kontextbezogene 8 Vgl. VG Köln, Urteil vom 8. März 2022, 13 K 208/20, Rn. 347. Laut einer Meldung des BAMF vom 10. November 2023 lebten in Deutschland ca. 170.000 Ausreispflichtige, von denen ca. 149.000 eine Duldung besaßen. 18 Interpretation seiner Aussage später in Beiträgen auf der Plattform "X" verwahrte, ist es angesichts vergleichbarer Äußerungen nicht fernliegend anzunehmen, dass Höcke damit auf die 27,3 Prozent der Bevölkerung anspielte, die laut dem Mikrozensus 2021 in Deutschland einen Migrationshintergrund haben. So schloss beispielsweise ein Vorstandsmitglied der AfD Thüringen einen Beitrag auf "X" am 30. Mai über einen vom ihm besuchten "Remigrationsgipfel" mit den Worten: "#Thüringen für #Urdeutsche erhalten. #AfD". Der Begriff "Urdeutsche" meint dabei abstammungsmäßige Deutsche. Der angestrebte Zustand ethnischer Homogenität manifestiert sich somit deutlich in menschenwürdewidrigen politischen Forderungen der AfD Thüringen. Die Forderung nach kultureller Homogenität wird mit der Verschwörungserzählung untermauert, Eliten in Deutschland betrieben gemeinsam mit internationalen Akteuren eine "Umvolkung" oder einen "Bevölkerungsaustausch". Damit ist die schrittweise Ersetzung einer als "autochthon"9 definierten Mehrheitsbevölkerung durch vornehmlich muslimische Zuwanderer aus Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten gemeint. Durch diese unterstellte Überwältigung durch Zuwanderung und die folgende vermeintliche ethnische Zersetzung werde die Gesellschaft gezielt destabilisiert. Mit der Darstellung dieser Verschwörungstheorie gegen ein als homogen begriffenes deutsches Volk geht regelmäßig die Behauptung einher, die Mächtigen würden die Verschwörung durch Denkund Sprechverbote zu decken versuchen. Am 16. Mai veröffentlichte die AfD Thüringen auf Telegram eine Grafik mit "Ab- & Zuwanderung 2022" in Deutschland und kommentierte dazu: "...aber wehe, du sprichst von Umvolkung!". Der Begriff der "Umvolkung" ist eine Anlehnung an einen gleichlautenden, nationalsozialistischen Terminus, der im Rahmen der Volkstumspolitik prominent und positiv konnotiert verwendet wurde. Somit wird zugleich nahegelegt, dass die von den Verschwörern betriebene Politik, die der gewaltsamen Gewinnung von "Lebensraum im Osten" durch Krieg, Vertreibung und Völkermord der Nationalsozialisten ähnele. Ziel dieser und ähnlich gearteter Kampagnen ist es, auch staatliches Handeln als illegitim erscheinen zu lassen. Migranten und Asylbewerber werden von Vertretern der Partei regelmäßig pauschal verächtlich gemacht. Am 27. Januar argumentierte Höcke in einem Facebook-Beitrag, der mit "Das große Schlachten" überschrieben war, mit der besonderen "Brutalität" und "Menschenver- 9 Sinngemäß: einheimisch oder alteingesessen, auch im biologischen Sinn. 19 achtung" durch "systematisch praktiziertes Kehledurchund Kopfabschneiden" einer "importierten Migrantengewalt". Er behauptete, dass Massenmigration und insbesondere die Prägung und Mentalität von Migranten für diese besonders grausamen Morde verantwortlich seien. Damit stützt Höcke das Narrativ, alle Ausländer seien per se gewaltbereit(er) und kriminell(er) als Inländer. Wo aber aus einem Gruppenmerkmal ein Tatmotiv abgeleitet wird, wird nicht mehr das Individuum bewertet, sondern der Einzelne auf diese Gruppenmerkmale reduziert. Dies stellt einen Verstoß gegen das Menschenwürdeprinzip dar. Durch die auf dem zugehörigen Bild aufgenommene Formulierung der "importierte[n] Gewalttradition" - die auch durch die bildliche Verbindung mit einem abgetrennten Puppenkopf und Blutflecken evoziert wird - stützt Höcke das Narrativ, menschenverachtende Brutalität wie "Kopfabschneiden" läge notwendig in den Traditionen der Personengruppe begründet. Damit sollen wiederum die vermeintlich unüberwindlichen kulturellen Unterschiede der jeweiligen Kulturen herausgestellt werden. Mit der Stichwahl im Landkreis Sonneberg am 25. Juli wurde erstmals ein Landrat der AfD in Deutschland gewählt. Nachdem ein weiterer AfD-Kandidat am 24. September die Stichwahl zum Oberbürgermeister verloren hatte, spekulierte Björn Höcke bei einer Rede am 29. September in Peissenberg (Bayern) über einen Wahlbetrug. Damit macht Höcke die Zustimmung zu demokratischen Prozessen von deren Ergebnis abhängig. Gewählte Repräsentanten werden auf diese Weise delegitimiert und verächtlich gemacht.10 Der Landesverband Thüringen steht nicht zuletzt organisatorisch im Zentrum eines Geflechtes rechtsextremistischer oder durch Rechtsextremisten mitgeprägter Organisationen. Dabei zeigte sich insbesondere die mangelnde Abgrenzung der Thüringer AfD von anderen rechtsextremistischen Bestrebungen innerhalb der Neuen Rechten. Mit der Wahl von Björn Höcke auf dem Landesparteitag am 18. November zum Spitzenkandidaten der AfD für die Landtagswahl in Thüringen im Jahr 2024 hat sich die dezidiert rechtsextremistische Grundausrichtung der Partei wiederum gezeigt. Auch im Berichtszeitraum konnte die Partei einerseits weitere Wählerpotenziale erschließen, andererseits erschwert die Rolle als Fundamentalopposition ihr die Organisation politischer Mehrheiten. Durch zentrale Vertreter der Partei wird Hass und Ablehnung gegen Migranten und den politischen Gegner weiterhin geschürt. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass die wiederhol10 Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14. Juni 2023, 2 WD 11.22, Rn. 21. 20 te öffentliche Verwendung von Terminologie des historischen Nationalsozialismus wie etwa durch das Verwenden der SA-Losung "Alles für Deutschland" beim Bürgerdialog der AfD Gera am 12. Dezember in Kombination mit weiterhin evidenten Verstößen gegen die Menschenwürde in der Gesamtwürdigung suggerieren, dass neonationalsozialistische Positionen innerhalb der Partei keinen wahrnehmbaren Widerspruch mehr hervorrufen. 2.2 Verdachtsfall "Junge Alternative Thüringen" (JA Thüringen) Bei der JA Thüringen11 - eine von insgesamt 16 Untergliederungen der "Junge Alternative Deutschland" - handelt es sich um die Jugendorganisation der AfD Thüringen. Die JA Thüringen ist seit 2021 Verdachtsfall des Thüringer Verfassungsschutzes. Seit der Neuwahl des Landesvorstandes auf dem Landeskongress der JA Thüringen am 26. November 2022 in Erfurt dominieren innerhalb des Landesverbands Thüringen der JA Personen, die dem "solidarisch-patriotischen Lager" zugerechnet werden können. Dieses "solidarisch-patriotische Lager" macht im Kern ein ethnischer Volksbegriff aus, der als extremistisch zu bewerten ist. In seinen politischen Positionen - etwa in der Sozialpolitik - orientiert sich das "solidarisch-patriotische Lager" an diesem Volksbegriff. Diese Dominanz bestätigte etwa der Landeskongress der JA Thüringen am 9. Dezember. Dort wurde ein weiteres Mitglied des Landesvorstandes in einer Nachwahl gewählt, das keine gemäßigten Positionen vertritt. Die Jugendorganisation zeigt auch weiterhin hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für eine Politik, die auf einem ethnisch definierten Volksbegriff basiert und gegen den Grundsatz der Menschenwürde verstößt. Dies beinhaltet eine pauschale Ausgrenzung und Abwertung von als "fremd" wahrgenommenen Personen. Eine "deutsche Zukunft" sei nur in einer ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaft möglich. So schrieb ein Mitglied des Landesvorstands der JA Thüringen am 8. November auf der Plattform "X": "Wir wollen keine Multikulti-Gesellschaft, sondern eine deutsche Zukunft. Die Zeit ist reif für #Remigration!". Die daraus resultierende Forderung nach massenhaften Abschiebungen zum Erhalt Deutschlands und einer ethnisch-konturierten "deutschen Identität" entwickelte sich zum zentralen Narrativ der JA Thüringen. Dabei scheint es nicht von Bedeutung zu sein, ob die Rückkehr in das Heimatland für den Betroffenen möglicherweise ein Sicherheitsrisiko darstellt. 11 Siehe Fn. 4 21 Zur Rechtfertigung von Abschiebungen führt ein Mitglied der JA Thüringen am 21. Februar in einem Beitrag auf der Plattform "X" folgende vermeintliche Gründe auf: "[...] Abschieben schafft innere Sicherheit! Abschieben steigert die Lebensqualität! Abschieben zum Erhalt Deutschlands! Werde auch du #Abschiebehelfer!". Mit den Äußerungen wird zum einen behauptet, dass Migration ursächlich für die Verschlechterung der Lebensqualität in Deutschland sei. Zum anderen wird der völkische Denkansatz verdeutlicht, nach dem es ein ethnisch-deutsches Volk gebe, welches durch Migration "abgeschafft" werde. Darüber hinaus wird allen geflüchteten Personen pauschal unterstellt, die innere Sicherheit in Deutschland zu gefährden. Die Forderung nach "Remigration" ist häufig mit migrationsund fremdenfeindlichen Äußerungen verbunden. So veröffentlichte die JA Thüringen am 25. August ein Video auf der Plattform Instagram mit dem Titel "Remigration jetzt", in dem ausschließlich die durch die JA wahrgenommenen "Schattenseiten" von Migration - wie "Vergewaltigungen und Terroranschläge" - überzeichnend dargestellt werden und daraus folgend die Rückkehr von Migranten in ihr Herkunftsland gefordert wird. Dieses Beispiel ist repräsentativ für eine Vielzahl an Fällen im Berichtszeitraum, bei denen Vertreter der JA Thüringen Flüchtlingen und Migranten auf generalisierende Weise eine Affinität zu Gewaltund Terrordelikten allein aufgrund ihrer Herkunft unterstellten. Diese zahlreichen Behauptungen sollen dazu dienen, Ängste und Ressentiments gegenüber Zuwanderern in der Bevölkerung aufzugreifen und diese gezielt zu schüren. Im Berichtszeitraum gipfelte die Forderung nach "Remigration" in einer Veranstaltung der AfD Thüringen am 28. Oktober in Erfurt. Mitglieder der JA Thüringen nahmen eine prägende Rolle innerhalb der Versammlung ein, da sie sowohl als Träger eines Banners mit der Aufschrift "Deutsche Jugend fordert Remigration" fungierten als auch die einschlägige Parole "Die ganze Nation für Remigration" skandierten. Beide Aussagen suggerieren, die durch die Extremisten vertretene Position stelle eine Mehrheitsmeinung dar. Zugleich greift die Betonung, es handele sich um die "deutsche" Jugend die angesprochenen ethnischen Grenzziehungen auf, die die Ideologie der Bestrebung prägen. Die Anzahl der Aktivitäten der JA Thüringen lag im Jahr 2023 im mittleren zweitstelligen Bereich. Dabei handelte es sich um interne Veranstaltungen, gemeinsame Freizeitaktivitäten von Mitgliedern und Interessierten sowie um die Teilnahme an bundesweiten Veranstaltungen. 22 Zudem lässt sich nach wie vor ein enges Zusammenwirken der AfD Thüringen und ihrer Jugendorganisation feststellen. Dies bildete sich im Berichtszeitraum durch häufige gemeinsame Auftritte von Vertretern beider Verbände bei Veranstaltungen ab. Dazu zählten gemeinsame Teilnahmen an Demonstrationen sowie Auftritte von Mitgliedern der AfD Thüringen bei Veranstaltungen der JA Thüringen. Zugleich bestehen AfD-Mitgliedschaften von JAMitgliedern sowie Fördermitgliedschaften von AfD-Mitgliedern im Landesverband der JA Thüringen. Darüber hinaus intensivierte sich die Vernetzung der JA Thüringen mit dem rechtsextremistischen "Vorfeld", insbesondere mit dem erwiesen rechtsextremistischen "COMPACTMagazin". Dies zeigte sich beispielsweise durch die Auftritte von Mitgliedern der JA Thüringen in Formaten des "COMPACT-Magazins" sowie der Teilnahme des "COMPACTMagazins" am Landeskongress der JA Thüringen am 9. Dezember. Im Nachgang der Veranstaltung veröffentlichte der Youtube-Kanal "COMPACTTV" einen Beitrag über die JA Thüringen mit Interviews der Mitglieder unter dem aufgrund seiner Anklänge an eine Jugendorganisation des Nationalsozialismus hochproblematischen Titel "Thüringen: Wir sind die HöckeJugend". Von dieser Bezeichnung distanzierte sich die Parteijugend nicht öffentlich. Darüber hinaus teilte die JA Thüringen den Youtube-Beitrag von "COMPACTTV" sowie das dazugehörige Titelbild mit der Abbildung eines Mitglieds der JA Thüringen und dem Schriftzug "Wir sind die Höcke-Jugend" in ihrem Telegram-Kanal. In der Zukunft ist weiterhin mit einer verstärkten Einflussnahme der AfD Thüringen auf die JA Thüringen sowie mit einer Zusammenarbeit der beiden Organisationen zu rechnen. Dies dürfte sich in der Unterstützung bei den anstehenden Wahlen in Thüringen zeigen. Zudem ist anzunehmen, dass sich die JA weiter intensiv mit dem rechtsextremistischen "Vorfeld" im Rahmen von Veranstaltungsteilnahmen und möglicherweise gemeinsamen Aktionen vernetzen wird. 2.3 "Die Heimat" Auf dem Bundesparteitag am 3./4. Juni beschloss die 1964 gegründete "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ihre Umbenennung in "Die Heimat". Damit verbunden war eine strategische Neuausrichtung der ältesten rechtsextremistischen Partei Deutschlands. Sie sieht sich nun als "Anti-Parteien Bewegung und patriotischer Dienstleister" der"starke patriotische Netzwerke, wirksame Bündnisse auf der Straße, in den Parlamenten und im vorpolitischen Raum" aufbauen will. 23 Die ideologische Ausrichtung ist von der Strategieänderung nicht betroffen: Ziel der Partei ist die Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung und die Schaffung eines autoritär geprägten Nationalstaates auf Basis einer ethnisch definierten deutschen "Volksgemeinschaft". Deren Mitglieder sollen durch Abstammung definiert werden. Mithin sind die politischen Ziele von "Die Heimat" auf die Missachtung der Menschenwürde ausgerichtet. Durch das Bundesverfassungsgericht wurde im Jahr 2017 die Verfassungsfeindlichkeit der NPD erstmals bestätigt. In einem weiteren Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, das den Ausschluss der Partei von der staatlichen Parteienfinanzierung zum Ziel hatte, fand am 4./5. Juli die Hauptverhandlung in Karlsruhe statt. Auf Beschluss des Parteivorstands von "Die Heimat" nahm die Partei nicht an der mündlichen Verhandlung teil.12 Der Umbenennung in "Die Heimat" stimmte auf dem Parteitag eine klare Mehrheit von 77% zu. Gegner der Umbenennung verließen allerdings in der Folge die Partei und gründeten eine "neue" NPD. Durch die Thüringer Untergliederungen wurde die Umbenennung hingegen unterstützt. Der seit 1990 bestehende NPD Landesverband Thüringen sowie seine neun Kreisverbände benannten sich umgehend in "Die Heimat" um. Gleichwohl zeigte die Partei im Berichtszeitraum wie schon im Vorjahr kaum öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. Sie ist nur in wenigen Regionen aktiv, wobei die Präsenz von "Die Heimat" abhängig vom lokalen Wirken einzelner Funktionäre war. Vorsitzender des Thüringer Landesverbandes war seit dem Jahr 2022 bis zum Ende des Jahres 2023 Patrick Wieschke. Seit Dezember 2023 fungiert der vormalig stellvertretende Landesvorsitzende Thorsten Heise als amtierender Landesvorsitzender. Heise ist zudem stellvertretender Bundesvorsitzender von "Die Heimat". Mit Sebastian Schmidtke, ebenfalls stellvertretender Bundesvorsitzender, und Wieschke, verantwortlich für Organisation, gehörten dem Bundesvorstand zwei weitere Vertreter des Thüringer Landesverbandes an. Hauptschwerpunkt und Region mit den meisten festgestellten Aktivitäten war der Raum Eisenach. Hier ist es der Partei unter der Führung von Wieschke gelungen, sich in der Gesellschaft zu verankern und sich ein dauerhaftes Wählerpotenzial zu sichern. In der Stadt Eisenach ist "Die Heimat" mit vier Mandaten im Stadtrat vertreten. Das dortige "Flieder Volkshaus", in dem sich auch die Landesgeschäftsstelle von "Die Heimat" befindet, entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem rechtsextremistischen Zentrum mit einem vielfältigen Veranstaltungsangebot. Hier fanden in den vergangenen Jahren rechtsextremistische Musikund Vortragsveranstaltungen, Parteiaktivitäten, subkulturelle Veranstaltungen und Kampf12 Mit Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Januar 2024 wurde "Die Heimat" für die Dauer von sechs Jahren von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen. Das Gericht stellte erneut die Verfassungsfeindlichkeit der Partei fest. 24 sport statt. Daneben hatten Veranstaltungen wie z. B. Partyund Discoabende eine "Türöffnerfunktion" gegenüber dem bürgerlichen Spektrum. Im August 2022 wurde das "Flieder Volkshaus" seitens der Thüringer Polizei als gefährlicher Ort13 klassifiziert. Ein weiterer Schwerpunkt der Aktivitäten war die Stadt Sondershausen, wo "Die Heimat" mit zwei Mandaten im Stadtrat und einem Mandat im Kreistag des Kyffhäuserkreises vertreten ist. Der Vorsitzende des Kreisverbandes Kyffhäuser und Schatzmeister des Landesverbandes, Patrick Weber, nahm in Sondershausen regelmäßig an so genannten Montagsprotesten teil, trat als Redner auf und war auch organisatorisch eingebunden. Im Zusammenhang mit einem Verfahren des Generalbundesanwalts gegen die rechtsextremistische Kampfsportgruppe "Knockout 51" wurde Wieschke am 14. Dezember wegen dringenden Tatverdachts auf Unterstützung einer kriminellen und einer terroristischen Vereinigung festgenommen. Die Aufgaben als Landesvorsitzender übernahm daraufhin Heise. Die politische Bedeutung von "Die Heimat" nahm im Berichtszeitraum weiter ab. Die Umbenennung und strategische Neuausrichtung zeigte bisher keine Wirkung. Weiterhin ist die Partei auf wenige geographische Schwerpunkte beschränkt. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sie ihre kommunale Verankerung nach den Kommunalwahlen 2024 aufrechterhalten kann. Dass "Die Heimat" mittelfristig an ihre früheren Erfolge anknüpfen kann, erscheint jedoch wenig wahrscheinlich. 2.4 "Der III. Weg" in Thüringen Die Partei "Der III. Weg" wurde 2013 in Heidelberg gegründet. Die Mitglieder der Partei sind fest im rechtsextremistischen Spektrum verankert. Das Führungspersonal setzt sich zum Teil aus ehemaligen NPD-Mitgliedern zusammen bzw. entstammt der neonazistischen Szene, insbesondere dem im Jahr 2014 verbotenen "Freien Netz Süd". Der ideologische Kampf der Partei richtet sich nach dem "Drei-Säulen-Konzept": Die Säulen stehen für den politischen Kampf, den kulturellen Kampf und den Kampf um die Gemeinschaft. Die Partei verfolgt eine nationalistische, völkische und fremdenfeindliche Ideologie. So werden in den Zielen der Partei neben der Schaffung eines "Deutschen Sozialismus", der sich am historischen Nationalsozialismus orientiert, auch eine "gerechte soziale und völkische Ordnung" und die "Erhaltung und Entwicklung der biologischen Substanz des Volkes" gefordert. 13 Die offizielle Ausweisung eines 'gefährlichen Ortes' ermöglicht polizeiliche Maßnahmen gegen Personen ohne das Bestehen eines konkreten Verdachtes. 25 Im Berichtszeitraum trat lediglich der Stützpunkt Erfurt-Gotha der rechtsextremen Kleinpartei "Der III. Weg" in Thüringen wahrnehmbar in Erscheinung. Nach eigenen Angaben der Partei existiert ein weiterer Stützpunkt ("Thüringer Wald/Ost"), der jedoch keine wahrnehmbaren Aktivitäten entfaltete. Mit dem Bürgerund Parteibüro in Ohrdruf steht der Partei und ihrem Stützpunkt Erfurt-Gotha seit Anfang 2022 eine Anlaufstelle für die Parteiarbeit zur Verfügung, die zudem auch als Veranstaltungsort für bundesweite Aktivitäten genutzt werden kann. Entsprechende Berichte wurden in den von der Partei genutzten sozialen Netzwerken veröffentlicht. Einen im Februar organisierten Liederabend mit überregionaler Beteiligung, der vom Stützpunkt Erfurt-Gotha aus organisiert wurde, löste die Polizei auf. Dabei wurden gegen zwei Teilnehmer Anzeigen wegen Beleidigung gegenüber der Polizei aufgenommen. Die Thüringer Aktiven der Partei "Der III. Weg" versuchen beispielsweise mit Flugblattaktionen wie in Eisenberg unter dem Motto "Kriminelle Ausländer raus" gegen Asylbewerber und die örtliche Unterbringung Geflüchteter zu agitieren. Ein weiteres propagandistisches Aktionsfeld der Partei ist die Stimmungsmache gegen die Gleichstellung von Menschen der LBTQI+.14 So wurden in Thüringen bereits mehrfach Flugblattaktionen der Partei "Der III. Weg" gegen den Christopher Street Day (CSD) im September 2023 in Gotha beobachtet. Der Stützpunkt am Standort Ohrdruf entfaltete im Berichtsjahr lediglich in beschränktem Umfang Aktivitäten. Als Ursache hierfür werden personelle und organisatorische Engpässe bei der Betreuung des Bürgerund Parteibüros und ein mangelndes Mobilisierungspotenzial der Partei in Thüringen gesehen. Die Defizite in der Mobilisierung dürften in Teilen auf einen bereits hohen bestehenden Organisationsgrad der rechtsextremistischen Szene in Thüringen zurückzuführen sein. Auch ist festzustellen, dass etablierte Strukturen der Partei "Der III. Weg" in Westsachsen zunehmend Einfluss auf den Ostthüringer Raum ausüben. Beispielweise führte die "Nationalrevolutionäre Jugend" (NRJ) - die Jugendorganisation der Partei - aus dem sächsischen Vogtland vom 4. bis 6. August ein Gemeinschaftswochenende im Landkreis Greiz durch, an dem nach Angaben der Partei ca. 20 Personen teilnahmen. Am 1. November führten vermut14 LGBTQI+: Abkürzung aus dem Englischen, steht für sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten (Lesbian-Gay-Bisexuell-Transgender-Queer-Intersexuell). Das Plus steht für weitere, nicht im Einzelnen berücksichtigte sexuelle Orientierungen und Identitäten. 26 lich ebenfalls Aktivisten der Partei aus dem Vogtland eine Gedenkaktion zum Todestag des sog. Bauerngenerals Georg Kresse im Landkreis Greiz durch. Auch wenn in sozialen Netzwerken ausschweifend über Aktivitäten wie z. B. Gemeinschaftswanderungen berichtet wird, scheint es sich hierbei eher um kleinere Privatveranstaltungen der wenigen örtlichen Aktiven zu handeln. Die Partei bleibt damit hinter ihren eigenen Erwartungen hinsichtlich des Aufbaus örtlicher Parteistrukturen zurück, was sich auch in stagnierenden Mitgliederzahlen niederschlägt. Über den Berichtszeitraum hinaus wird es daher erheblich von externen Faktoren - etwa dem Zerfall anderer Organisationsstrukturen im Bereich Rechtsextremismus - abhängen, ob die Partei zukünftig weiteren Zulauf erhält. Eine Zusammenarbeit mit anderen Parteien oder Gruppierungen, über die szeneüblichen Kennverhältnisse hinaus, konnte auch weiterhin nicht festgestellt werden. 2.5 "Neue Stärke Partei" (NSP) in Thüringen Im Februar 2020 benannte sich der 2015 gegründete rechtsextremistische Verein "Volksgemeinschaft Erfurt e.V." in "Neue Stärke Erfurt" e.V. (NSE) um. Die Vereinseintragung ist mit Datum vom 23. September 2021 erloschen. Am 14. Mai 2021 wurde die "Neue Stärke Partei" (NSP) in Erfurt gegründet. Im Jahr 2023 fand eine Umstrukturierung der nach eigenem Anspruch bundesweit agierenden Partei statt, die jedoch eher auf deren Strukturschwäche im Berichtszeitraum hinweist: So wurden die "Abteilungen" in Sachsen und Sachsen-Anhalt geschlossen. Am 17. Juni wurden "Landesverbände" in MecklenburgVorpommern und in Thüringen gegründet. Das Thüringer Personenpotenzial lag im unteren zweistelligen Bereich. Bereits am 27. November gab die NSP die Auflösung des Landesverbands Thüringen bekannt. Das Logo der Partei ist an jenes von "Der III. Weg" angelehnt, der ihre ursprünglichen Mitglieder in Teilen zuzurechnen waren. Die Partei soll ein Werkzeug zur Förderung und Umsetzung von nationalistisch-völkisch-sozialistischen Interessen sowie zur Rückeroberung deutscher Städte von vermeintlichen politischen Gegnern sein. Die Parteiprogrammatik ist offen neonazistisch und bekennt sich zu einem biologistischen Menschenbild. Grundrechte gelten demnach nur für ethnische Deutsche. 27 Im Berichtszeitraum fanden in Thüringen kaum Aktivitäten der NSP statt. Die Partei organisierte lediglich eine Demonstration in Erfurt und eine Gedenkveranstaltung in Rudolstadt, jeweils mit Teilnehmerzahlen im einstelligen Bereich. Über den Berichtszeitraum hinaus ist kein Trend zu einem Wiedererstarken der Parteistrukturen abzusehen. Gleichwohl traten vormalige Funktionäre der NSP weiterhin im Rahmen von regionalen und überregionalen Szeneaktivitäten in Erscheinung. 3. Parteiunabhängiges bzw. parteiungebundenes Spektrum Das Vorfeld der AfD Thüringen Der Landesverband Thüringen der AfD hat es sich zum Ziel gesetzt, den politischen Debattenraum in Richtung rechtsextremistischer Positionen zu öffnen. Vertreter des sog. intellektualistischen Rechtsextremismus bedienen sich zur Beschreibung ihrer Absichten des Konzepts der "kulturellen Hegemonie". Das Konzept beschreibt die Erringung einer kulturellen Vormachtstellung und die damit verbundene Vorstellung, dass sich diese Vormachtstellung in der Folge auf die Politik auswirkt: Durch eine Vielzahl an Einzelakteuren in losen Bündnissen mit unterschiedlichen Vorgehensweisen, die von Einflussnahme an Universitäten über Straßenproteste bis hin zu öffentlichkeitswirksamen Einzelaktionen reichen, sollen dabei schleichend kulturelle Positionen, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, normalisiert und sukzessive politisch mehrheitsfähig gemacht werden. Gruppierungen, die diese Hegemonie anstreben, werden durch die Akteure selbst verschiedentlich beschönigend als "Vorfeld" oder als "Mosaikrechte" bezeichnet. In den meisten Fällen handelt es sich jedoch um erwiesen rechtsextremistische Bestrebungen, die dezidierte verfassungsfeindliche Annahmen und Zielsetzungen teilen. Am 11. November sagte Landessprecher Höcke im Rahmen eines Interviews mit dem österreichischen Fernsehsender "AUF1": "Ich habe immer dafür gepredigt, der AfDLandesverband Thüringen steht dafür, dass die Partei nur ein Teil eines Mosaikes ist und dieses Bewusstsein auch hat, dass wir die Bewegung brauchen. Ich bin natürlich regelmäßig bei PEGIDA, regelmäßig bin ich zu Gast im Vorfeld. Ich war mit meinen Mitstreitern bei den Corona-Spaziergängen und so weiter und so weiter. Um immer wieder deutlich zu machen, Partei ist das eine, aber es ist nur ein Standbein. Und wir brauchen noch andere Standbeine beziehungsweise andere Spielbeine. Wir brauchen vor allen Dingen, das halte ich für ganz, ganz wichtig, Neudeutsch 'Thinktanks'. Also intellektuelle Zirkel, Institutionen, die unsere Weltanschauung [...] ausformulieren, die Leitideen entwickeln, die dann auch zu einer Ver28 einheitlichung dieser Noch-Opposition beitragen, die dann in Regierung auch mit einer größeren Schlagkraft unterwegs sein kann. Alles das kann Partei nicht leisten. Dazu braucht Partei Vorfeld." Dies formulierte Höcke schon im Jahr 2022 auch für die Parteijugendorganisation JA. In einem Grußwort an den JA-Bundeskongress in Apolda am 15. Oktober 2022 schlug er vor, dass sich die JA nicht an einer Organisation wie der "Jungen Union", welche die Grundprinzipien des Grundgesetzes anerkennt, orientieren solle, sondern sich die erwiesen rechtsextremistische "Identitäre Bewegung" zum Vorbild nehmen müsse: "Mehr I[dentiäre] B[ewegung] wagen und niemals J[unge] U[nion] werden." Höcke warb überdies im Berichtszeitraum für Bücher rechtsextremistischer Autoren. AfD Thüringen kam eine zentrale Rolle als Relaisstation für das Protestgeschehen im Phänomenbereich verfassungsschutzrelevante Delegitimierung15 des Staates in Thüringen zu. Funktionäre der AfD Thüringen beteiligten sich auch an deren Protesten. Vereinzelt übernahmen sie auch Organisationsverantwortung an Schwerpunkten des Protestgeschehens. Dabei traten die Funktionäre gemeinsam mit anderen Rechtsextremisten auf. Die dort formulierte Kritik überschritt häufig die Grenze zum Extremismus, etwa dann, wenn aus politischen Entscheidungen eine grundsätzlich ablehnende Aussage gegenüber staatlichen Institutionen und rechtsstaatlichen Verfahren abgeleitet wurde. Vermittels des "Vorfeldes" unterstützt der Landesverband den Ausbau eines Debattenraumes auf der Straße und im intellektuellen Diskurs, in dem Positionen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht nur toleriert, sondern als Mehrheitsmeinung etabliert werden sollen. Es ist damit zu rechnen, dass sich diese Unterstützung für die "Mosaikrechte" und die Kooperation mit dem "Vorfeld" fortsetzen wird. Eine erhebliche Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ergibt sich somit nicht nur durch politische Erfolge der Partei, sondern auch durch ihre "Aufbauarbeit" in verschiedenen Bereichen außerhalb der eigenen Parteistrukturen. "Compact-Magazin" Dem bundesweit verbreiteten rechtsextremistischen "COMPACT-Magazin" kommt in Thüringen eine exklusive Rolle zu, da es sich im Berichtszeitraum als alternatives Medium inszenierte, dem der Landesverband besondere Rechte bei der Berichterstattung bei parteipolitischen Veranstaltungen einräumte. Dies zeigt etwa der Landesparteitag am 18. November: 15 Siehe Abschnitt IV. 29 Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde der Versuch unternommen, ein öffentlich-rechtliches Format vollständig auszuschließen. Die Beteiligung aller Vertreter der als "MainstreamMedien" oder "Staatsrundfunk" abqualifizierten Journalisten wurde stark eingeschränkt, während ein Vertreter des "COMPACT-Magazins" uneingeschränkten Zugang erhielt. Dieses Vorgehen - eine Berichterstattung zu schaffen, die den extremistischen Inhalten unkritisch gegenübersteht - unterstrich bereits der Bundeskongress der JA Deutschland im Vorjahr. Auf der Veranstaltung in Apolda traten u. a. "COMPACT", der rechtsextremistische Verein "Ein Prozent e. V." und der "Verlag Antaios" (Verdachtsfall des BfV) mit eigenen Ständen auf. "COMPACT" wiederholte und intensivierte die Berichterstattung bei Veranstaltungen der JA im Jahr 2023. Zugleich stellte "COMPACT" organisatorische Unterstützung für zwei rechtsextremistische Großveranstaltungen - die Saalveranstaltung zum "Politischen Aschermittwoch" am 22. Februar in Ronneburg und die Versammlung mit Aufzug zum "Tag der Deutschen Freiheit" am 3. Oktober in Gera - zur Verfügung. Die Aschermittwochsveranstaltung wurde durch einen regional bekannten Rechtsextremisten organisiert. Allen politischen Aschermittwochsveranstaltungen ist das Ziel gemein, drastische Kritik an den bestehenden politischen Verhältnissen zu üben. Dabei bedienen sich Redner dem Mittel radikaler Polemik, um gesellschaftliche Missstände anzuprangern. Die Grenzen zwischen polemischen und extremistischen Aussagen haben dennoch Bestand, insbesondere da zahlreiche Akteure nicht als Kunstfiguren oder in Rollen auftraten, sondern als politische Funktionäre. Das Gepräge der Gesamtveranstaltung legt nahe, dass hier planvoll extremistisches Gedankengut unter dem Deckmantel der Satire zum Vortrag gebracht werden sollte. Darauf wies der Moderator zu Anfang hin indem er sich eines abgewandelten Zitats bediente und formulierte, er sehe in der Halle "mutige Bürger, die diese roten Ratten [die Regierung] in den nächsten Jahren in ihre Löcher jagen werden." Ein bundesweit aktiver Rechtsextremist leitete seine Rede mit bekannter Rhetorik ein. Er warnte davor, Deutschland werde "vor die Hunde gehen" und vertrat sodann Positionen, mit denen er den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in der Sprache des Angreifers rechtfertigte. Er sprach etwa von "Nazis in der Ukraine" und zweifelte mit Blick auf die Rolle der Vereinigten Staaten die deutsche Souveränität an: "Diese Bagage muss weg! [...] Ich hab 2015 gesagt, als die Olle [die ehemalige Bundeskanzlerin] die Grenzen aufgemacht hat: 'Wenn die Regierung das Volk austauschen will, 30 dann muss das Volk die Regierung austauschen'. Und ich habe 2020 gesagt, als sie uns im Lockdown misshandelt haben: 'Wenn die Regierung das Volk einsperren will, dann muss das Volk die Regierung einsperren'. Und angesichts der aktuellen Lage sage ich: 'Wenn die Regierung Russland den Krieg erklärt, dann muss das Volk der Regierung den Krieg erklären. Und die Schlimmsten und die ersten, die wir loswerden müssen, das sind die Kriegshexen, die wir auf der neuen COMPACT-Ausgabe abgedruckt haben, Baerbock, StrackZimmermann und die Flinten-Uschi, heute Panzer-Uschi Ursula von der Leyen [...]". Er äußerte sich auch zum "geheuchelten Antifaschismus" der Regierenden, die "Waffen, schwere Panzer an die Nazis in der Ukraine, an das Asov-Batallion, das sich absichtlich in die Tradition der SS und der Holocaustunterstützer stellt", lieferten. "Der Sozi-Olaf schickt seine Panzer auf den Spuren vom Nazi-Adolf Richtung Donbass und Richtung Stalingrad [...] Deswegen müssen wir diese Bande, diesen antifaschistischen Faschismus auch von der Regierung entfernen." Deutschland sei "Militärkolonie" sowie "Festlanddegen und Aufmarschgebiet gegen Russland". Er betonte die Rolle des US-Militärstützpunktes Ramstein als Logistikzentrum und Kommandozentrale der amerikanischen "Killer-Drohnen" und äußerte: "Ramstein ist ein Pfahl im Fleisch der deutschen Souveränität". In einem anderen Redebeitrag hieß es: "Wir werden kämpfen, wenn es darauf ankommt. Aber nicht gegen den Ivan, sondern gegen das rot-grüne Geschmeiß dort oben an der Spitze unseres korrupten, verlotterten deutschen Landes und fremdbestimmten Staates. Ihr seid unsere wahren Feinde." Livestreamer interviewten vor Ort auch Teilnehmer der Veranstaltung, deren Äußerungen darauf hindeuten, dass sie die rechtsextremistischen Positionen der Organisatoren teilten. So gab ein Interviewter an, aus Leverkusen nach Sachsen gezogen zu sein, um dem "Kalifat NRW" zu entgehen. Er äußerte sich zu Menschen mit mutmaßlichem Migrationshintergrund als "Orientalen", schrieb ihnen aufgrund ihrer vermeintlichen ethnischen Zugehörigkeit bestimmte Attribute zu und wertete sie damit in ihrem Menschsein ab: "Die Verhältnisse in diesem Kalifat [NRW] werden wirklich von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr unerträglicher [...]. Die Integration läuft da ja umgekehrt. Das ist in manchen Stadtvierteln des Ruhrgebietes so, dass eher die verbliebenen Deutschen gezwungen sind, sich der Masse der Orientalen anzupassen [...]. Da lohnt sich wirklich ein Besuch. Das kann man jedem hier aus Mitteldeutschland nur empfehlen, der vielleicht noch Illusionen über die Natur dieses 31 Staates und dieses Systems hegt [...]. Das fängt an bei der widerlichen Architektur, die das BRD-Regime überall verbreitet hat und geht bis zu den Bereicherungen durch einheimische und auswärtige Fachkräfte, Graffiti, Dreck, Müll inklusive teilweise Gestalten mit und ohne Kopftuch, die zwischen irgendwelchen alten Bergmannshäuschen sitzen und in [ei]nem alten Ölfass Feuerchen machen und den Igel oder die Katze aus der Nachbarschaft grillen." Auch die Veranstaltung am 3. Oktober in Gera war nach ihrem Gesamtgepräge als rechtsextremistisch zu bewerten. Sie wurde durch dieselbe Person wie der Aschermittwoch und einen Funktionär der "Patrioten Ostthüringen" organisiert. Die genannten Organisatoren verwendeten die verbotene Losung der SA "Alles für Deutschland!". Das "COMPACT-Magazin" beteiligte sich mit einem Infostand und Redebeiträgen an der Veranstaltung und bewarb diese in sozialen Medien. Die verfassungsfeindliche Ausrichtung trat auch in den Redebeiträgen zutage. So stellte ein Redner beispielsweise in pauschalisierender Weise Geflüchtete als Kriminelle und "Invasoren" dar: "Somit können Faesers Gäste weiter wie gestern in München Frauen vergewaltigen oder wie in Magdeburg Kinder missbrauchen. [...] Und es sind die Massen von Invasoren, die unser Land überschwemmen." Ein anderer Redner griff diese verfassungsfeindliche Position auf, indem er Gewaltkriminalität und Migration in einen Kausalzusammenhang stellte: "Wir wollen keine Messermigration mehr. Wir wollen keinen Import von Mord und Totschlag mehr. Wir wollen einfach, dass Deutschland deutsch bleibt." Vertreter der lokalen Gliederungsebene der AfD Thüringen unterstützten beide Veranstaltungen. Zudem trat jeweils ein Mandatsträger der AfD als Redner auf. "Kontrakultur Erfurt" Bei "Kontrakultur Erfurt" handelt es sich um die Nachfolgebestrebung der "Identitären Bewegung Thüringen", die als lokale, erlebnisorientierte Aktionsgruppe mit Schwerpunkt in der Landeshauptstadt Erfurt auftritt. Die Gruppierung trat erstmalig im Sommer 2021 in Erscheinung. Die Gruppierung "Kontrakultur Erfurt" orientiert sich in ihrer Ideologie an den Ansichten der "Identitären Bewegung" (IB). Die IB verfolgt eine antiliberale, antipluralistische sowie antiindividualistische Ideologie. Sie bekennt sich zum so genannten Ethnopluralismus. Der Ethnopluralismus strebt einen ethnisch und kulturell homogenen Staat an. Diese vermeintlich erhaltenswerte ethnokulturelle Identität würde nach Meinung der Gruppierung durch den sog. 32 Multikulturalismus, der durch eine unkontrollierte Masseneinwanderung zur Heterogenisierung der Gesellschaft führt, bedroht. Mit den Parolen "Grenzen schützen - Festung Europa jetzt", "Unser Volk zuerst" und "Remigration" stellt die Gruppierung öffentlichkeitswirksam ihre ablehnende Haltung gegenüber einer multikulturellen Gesellschaft, speziell gegenüber Asylbewerbern, dar. Im Berichtszeitraum trat "Kontrakultur Erfurt" in Thüringen nach einer Phase längerer Inaktivität mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Erscheinung. Dabei fällt auf, dass die Gruppierung öffentliche Wahrnehmung vor allem im virtuellen Raum anstrebt: Realweltliche Aktionen sollen Mut und einen authentischen Aktivismus suggerieren, sind jedoch oft in ihrer Außenwirkung begrenzt und gewinnen erst durch mediale Inszenierung an Relevanz. Am 2. Februar führte die Gruppe eine Plakataktion in Erfurt durch, bei der Plakate mit der Aufschrift "Unser Volk zuerst / Autarkie - Souveränität - Remigration" angebracht wurden. Am 15. April befestigten vermummte Personen ein Plakat mit der Aufschrift "Remigration statt Angsträume - Erfurts Innenstadt wieder sicher machen" an einer Laterne vor dem Einkaufszentrum Anger 1. Am 18. Juni folgte eine weitere Banneraktion auf dem Bastionspfad oberhalb der Erfurter Innenstadt. Dort wurde ein Banner in den Farben schwarz - rot - gold mit der Aufschrift "Stolz statt Pride" aufgehängt, um eine Abgrenzung vom "Pride Month" sowie die Ablehnung LGBTQI+-Bewegung zu suggerieren. Thüringer Mitglieder der Gruppierung beteiligten sich auch an Aktionen der IB im Ausland. So nahmen sie an einer Kundgebung am 29. April in Wien teil. Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit der rechtsextremistischen Gruppierung "Knockout 51" wurde am 15. Dezember ein Vertreter von "Kontrakultur Erfurt" wegen des dringenden Tatverdachts auf Bildung einer kriminellen und einer terroristischen Vereinigung festgenommen. Dies dürfte die Aktivitäten der Bestrebung in näherer Zukunft einschränken, unterstreicht jedoch, dass es sich bei den Beteiligten um oft langjährige Rechtsextremisten mit erheblicher Gewaltbereitschaft handelt. Die Aussage Höckes an die JA, sie müsse "mehr IB wagen" sollte somit auch in diesem Sachzusammenhang bewertet werden. "Patrioten Ostthüringen" Bei den "Patrioten Ostthüringen" handelt es sich um einen mindestens seit dem Frühjahr 2020 bestehenden informellen Personenzusammenschluss mit erheblicher Vernetzungsfunktion in Ostthüringen. Es ist keine programmatische Schrift der Gruppierung bekannt. Repräsentative Aussagen führender Mitglieder und gemeinsam organisierten 33 Veranstaltungen lassen jedoch eine gemeinsame Willensbildung erkennen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet ist. Die Bestrebung tritt geschichtsrevisionistisch auf, vertritt antisemitisch grundierte Verschwörungstheorien und lehnt aufgrund einer ethnischen Ungleichheitsannahme Migration ab. Im Jahr 2023 wurde der Personenzusammenschluss "Patrioten Ostthüringen" als eine erwiesen rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zum Beobachtungsobjekt im Phänomenbereich Rechtsextremismus erhoben. Die genannte Gruppierung nimmt an bundesweiten geschichtsrevisionistischen Gedenkveranstaltungen und rechtsextremistischen Veranstaltungen teil. In Ostthüringen organisiert sie zudem geschichtsrevisionistische Gedenkveranstaltungen mit positiven Bezügen zum historischen Nationalsozialismus. Der Personenzusammenschluss bemüht sich um Vernetzung von extremistischen Akteuren der Region sowie um ein koordiniertes Vorgehen gegen das bestehende "System" auch außerhalb demokratischer Prozesse. Im Berichtszeitraum organisierte der Personenzusammenschluss keine eigenen öffentlichen Veranstaltungen. Er beteiligte jedoch an mindestens sechs Veranstaltungen mit unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung wie dem neonazistischen Dresden-Gedenken am 11. Februar, einem durch Extremisten geprägten Protest in Ramstein (Rheinland-Pfalz) am 26. Februar, sowie an mehreren Protesten in Ostthüringen. Am Dresden-Gedenken beteiligten sich Personen, die den "Patrioten Ostthüringen" zuzurechnen sind. Sie legten einen Trauerkranz mit dem Logo der Gruppierung nieder und verwendeten den Begriff "alliierter Bombenterror", der im Rechtsextremismus typischerweise verwendet wird, um alliierte Bombenangriffe mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gleichzusetzen und letztere somit zu relativieren. Es handelt sich dabei um eine Form von Täter-Opfer-Umkehr, da die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg systematisch außer Acht gelassen wird. Einzelne Mitglieder sowie der Rädelsführer der Gruppierung verwendeten mehrmals in ihren Reden auf Versammlungen die verbotene Sentenz "Alles für Deutschland", bei der es sich um die Losung der paramilitärischen Kampforganisation "Sturmabteilung" (SA) der NSDAP handelt.16 Während öffentlichkeitswirksame eigene Veranstaltungen für das Jahr 2024 von den "Patrioten Ostthüringen" nicht zu erwarten sind, ist die Rolle zu betonen, die den "Patrioten" bei der 16 Zuletzt während der rechtsextremistischen Kundgebung zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2023 in Gera. 34 virtuellen Vernetzung und Professionalisierung der extremistischen Proteste im Bereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates17 zukommt. Es ist zudem davon auszugehen, dass Mitglieder der Bestrebung weiterhin geschichtsrevisionistische Gedenkveranstaltungen in Ostthüringen durchführen werden. Verein "Gedächtnisstätte e. V." Der Verein "Gedächtnisstätte e. V." hat sich vorrangig das Weltkriegsgedenken zum Vereinsziel gesetzt. Hierbei wird dieses Gedenken jedoch insofern eingeschränkt, als dass lediglich der deutschen Opfer sowie vorrangig derer des Zweiten Weltkrieges gedacht wird. Im Ergebnis legt dies eine Glorifizierung deutscher Taten und eine Täter-Opfer-Umkehr nahe. Die bei neonazistischem Heldengedenken übliche Beschränkung auf deutsche "Opfer" des Zweiten Weltkrieges bestätigt sich in Ansehung der Veranstaltungen des Vereins, die durch Rechtsextremisten organisiert werden und eine Heroisierung deutscher Soldaten anstreben. Die Tatsache, dass es sich um einen durch das nationalsozialistische Deutschland initiierten Angriffskrieg handelte, der eng mit der Umsetzung der Shoah verbunden war und auch gegen die Zivilbevölkerung geführt wurde, spielt in dieser extremistischen Form des Erinnerns keine Rolle. Zur Umsetzung des Gedenkens errichtete der Verein an einer genutzten Immobilie in Guthmannshausen ein eigenes Denkmal. Zu den vereinseigenen Veranstaltungen wird rechtsextremes Gedankengut gelebt und verbreitet. Am 23. April 2021 wurde das Gebäude durch einen Brand zerstört. Im Berichtszeitraum wurde der Wiederaufbau weiter vorangetrieben. Die Immobilie bleibt eine feste Veranstaltungsörtlichkeit, über die Rechtsextremisten regelmäßig zu Vernetzungsveranstaltungen verfügen können. So fanden in den Innenräumen und im Umfeld regelmäßige organisierte Veranstaltungen statt. Ab Februar wurde monatlich eine öffentliche Gedenkstunde zugunsten der deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges angeboten. Mitunter erstreckten sich die Veranstaltungen über mehrere Tage. Zudem richteten die Veranstalter mindestens vier Liederabende mit rechtsextremen Einzelmusikern ("Liedermacher") aus. Durch die seit dem Jahr 2022 regelmäßig veranstalten Liederabende werden auch Personen angesprochen, welche bislang nicht im Kontakt mit dem 17 Siehe Abschnitt IV. 35 "Gedächtnisstätte e. V." standen. Mit Abschluss der Wiederertüchtigung des Gebäudes ist in Zukunft von einer Intensivierung des Veranstaltungsgeschehens auszugehen. Exkurs: Geschichtsrevisionismus Der Geschichtsrevisionismus, d. h. die planvolle Umdeutung etablierter geschichtlicher Tatsachen und Kausalzusammenhänge, kann ein verbindendes Element zwischen Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Selbstverwaltern, sowie Extremisten im Bereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates bezeichnet werden. Vergleiche zwischen Pandemiepolitik und Nationalsozialismus, die Gegner der Maßnahmen zu Eindämmung der Pandemie bzw. Impfskeptiker mit Verfolgten des Nationalsozialismus, mit Widerstandsoder Freiheitskämpfern und/oder mit Verfolgten in Unrechtsregimen ganz grundsätzlich gleichsetzen, stellten in den zurückliegenden Jahren ein einigendes Band zwischen Extremisten einer ansonsten heterogenen Protestszene dar. Zugleich sind sie auch inhaltlich verfassungsschutzrelevant, denn sie deuten auf eine relativierende Haltung unter anderem gegenüber den historischen Verbrechen des Nationalsozialismus hin. Besonders Rechtsextremisten drücken dabei geschichtsrevisionistische Positionen regelmäßig dadurch aus, dass geschichtliche Abläufe umgedeutet oder in ihrer Bedeutung relativiert werden. So erinnert etwa das alljährliche geschichtsrevisionistische Gedenken an die alliierten Bombenangriffe bspw. auf Dresden an die "deutschen" Opfer und spricht in diesem Zusammenhang von "Bombenholocaust". Ziel ist es dabei, die deutsche Rolle gerade durch Auslassung wichtiger Informationen (Angriffskrieg, Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen und Völkermord, planvolle Ermordung von Nichtkombattanten u. v. m.) zu relativieren und mit einem wachsenden zeitlichen Abstand zu den Ereignissen schleichend diese Geschichtsbilder zu verschieben. Das AfV ist bei der Analyse derartiger geschichtsrevisionistischer Äußerungen nicht verpflichtet, zweideutige Äußerungen gegen jede Logik als verfassungskonform auszulegen. 18 Bei der Berücksichtigung von Äußerungen, die zwar auf den ersten Blick zweideutig sind, muss zunächst versucht werden diese unter Einbeziehung des jeweiligen Kontexts und des nachrichtendienstlichen Hintergrundwissens zu vereindeutigen. Es müssen dabei - anders als im Strafverfahren - nicht alle nach dem abstrakten Wortlaut einer Äußerung theoretisch denkbaren Deutungsmöglichkeiten berücksichtigt werden. Vielmehr darf darauf abgestellt werden, wie die konkreten Adressaten in dem jeweiligen Personenzusammenschluss eine Äußerung vernünftiger Weise verstehen dürfen. Insbesondere sind spezifische Terminolo18 Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2011, 1 B 111.10, Rn. 48. 36 gien, Signalwörter und Vorverständnisse des jeweiligen Phänomenbereichs zu berücksichtigen. Des Weiteren sind auch weitere Positionierungen innerhalb eines Beobachtungsobjekts zu berücksichtigen, die sich an eine Äußerung anschließen. Personenkreis um Tommy Frenck Der Thüringer Rechtsextremist Tommy Frenck betätigt sich als Regionalpolitiker, Versandhändler und Betreiber des Gasthauses "Goldener Löwe" in Kloster Veßra. Er zielt mit seiner Agitation auf öffentliche Wahrnehmung und die Erschließung von Resonanzräumen für seine rechtsextremistischen Positionen ab. Mit Beschluss des Thüringer Oberverwaltungsgericht (OVG) Weimar vom 19. September hat Frenck im Rechtsstreit um das Vorkaufsrecht am Grundstück des Gasthauses "Goldener Löwe" in Kloster Veßra eine juristische Niederlage erlitten. Das Gericht lehnte Frencks Antrag auf Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Meiningen aus dem Jahr 2021 ab und sprach der Gemeinde Kloster Veßra das Vorkaufsrecht am Grundstück zu. Die Verfahrenskosten wurden Frenck auferlegt. Bei Facebook reagierte Frenck auf die Medienberichte über seine juristische Niederlage vor dem OVG und zweifelte die Unabhängigkeit des Gerichtes an. Weiter teilte er mit, dass sein Anwalt eine Verfassungsbeschwerde prüfe. Bereits durch die pandemiebedingten Einschränkungen und die zuletzt verstärkten behördlichen Auflagen bei der Durchführung von Musikveranstaltungen, war eine deutliche Abnahme von Veranstaltungsaktivitäten Frencks mit größeren Teilnehmerzahlen zu verzeichnen. Aufgrund der absehbar endenden Nutzung des Gasthauses "Goldener Löwe" in Kloster Veßra, wird - auch aufgrund von Frencks eigener Ankündigung in sozialen Medien - davon ausgegangen, dass sich er sich um ein Ausweichobjekt bemüht. Verzahnung von Gewinnerwirtschaftung und rechtsextremistischer Ideologie Frenck steht beispielhaft für Angehörige des organisierten Rechtsextremismus, die ihren Lebensunterhalt mit Angeboten an die Szene erwirtschaften. Dazu zählen beispielsweise Veranstaltungen, die sich an ein rechtsextremistisches Publikum richten, oder die darauf abzielen, Personen für die Szene zu rekrutieren, der Vertrieb rechtsextremistischer Devotionalien sowie die Selbstvermarktung als überregional bekannter Szeneangehöriger. 37 Am 20. April warb Frenck anlässlich des Geburtstags von Adolf Hitler im Gasthaus "Goldener Löwe" mit einem Schnitzel-Sonderangebot. Mit dem auch in sozialen Netzwerken beworbenen Verkaufspreis von 14,88 Euro griff er bei Rechtsextremisten beliebte Zahlencodes auf. Die jährlich wiederholte Aktion verdeutlicht, dass der Rechtsextremist unternehmerische Aktivität eng mit rechtsextremistischer Ideologie verbindet. Zahlencode 88 Die Acht steht für den achten Buchstaben des Alphabets. 88 steht somit für HH - als Abkürzung für den verbotenen Gruß "Heil Hitler". Frenck betreibt auch weiterhin einen OnlineVersandhandel. Über diesen werden unter anderem Textilien und andere Devotionalien mit Symbolen der US-amerikanischen, rechtsextremistischen und rassistischen Geheimorganisation Ku-Klux-Klan zum Erwerb angeboten. Mit der Herausgabe seines Buches "Leben wir in einem freien Land?" im Juni hat Frenck eine weitere Einnahmequelle für sich erschlossen. In dieser Publikation versucht sich der Rechtsextremist als Widerstandkämpfer gegen staatliche Repression darzustellen, wobei ihn der bevorstehende Verlust des Gasthauses Frenck in seinem Weltbild noch bestärken dürfte. Veranstaltungen Zugleich ist Frenck auch im aktionsorientierten Rechtsextremismus verwurzelt und trägt dazu bei, seine rechtsextremistische Ideologie in Taten umzusetzen. Gerade diese Aktivitäten zeigen, dass Rechtsextremisten im ländlichen Raum darauf abzielen, ein Klima der Angst zu erzeugen, das diese Orte für ihre politischen Gegner unattraktiv machen soll. Im Frühjahr etwa agierte Frenck kampagnenartig in den sozialen Medien gegen die Unterbringung Geflüchteter in einem ehemaligen Krankenhaus in Schleusingen. Am 12. April meldete Frenck eine Demonstration "Nein zum 38 Asylheim" in Schleusingen an, der sich 615 Personen anschlossen. Gegen den ebenfalls teilnehmenden Rechtsextremisten Axel Schlimper wurde wegen seines Redebeitrages eine Anzeige wegen des Anfangsverdachts der Aufforderung zu Straftaten aufgenommen. Schlimper soll geäußert haben: "Wenn die Demonstrationen nichts bringen, dann muss man halt die Taktik ändern, dann muss man die Bude besetzen oder die ankommenden Busse blockieren". Frenck betätigt sich zudem als Organisator geschichtsrevisionistischer Gedenkveranstaltungen in Thüringen. Alljährlich initiiert er in zeitlicher Nähe zum Volkstrauertag in Schleusingen eine Demonstration zum sog. Heldengedenken, so auch im Berichtszeitraum als sich am 18. November bis zu 95 Personen - unter ihnen zahlreiche amtsbekannte Rechtsextremisten - aus diesem Anlass versammelten. 4. Staatliche Maßnahmen Das Jahr 2023 war unter anderem von erfolgreichen Verbotsverfahren gegen zwei zentrale bundesweit agierende rechtsextremistische Bestrebungen - die "Hammerskins" und die "Artgemeinschaft" - geprägt. Das klandestine, systematische und andauernde Vorgehen der beiden Bestrebungen unterstreicht die Gefahren, die vom organisierten Rechtsextremismus für die freiheitliche Grundordnung in einer Phase ausgehen, in der auch eine gegenläufige Tendenz zu weniger formell strukturierten Aktivitäten vorzuherrschen scheint. Beide Verbotsverfahren wurden unter Beteiligung Thüringer Sicherheitsbehörden umgesetzt. Ihre Erkenntnisse der vergangenen Jahre haben gemeinsam mit denen im behördlichen Verbund zu einer Erkenntnislage beigetragen, die sich in den Verbotsverfügungen des Bundesministeriums des Innern und für Heimat niedergeschlagen hat. Vereinsverbote ermöglichen es dem zuständigen Innenministerium des Bundes bzw. - sofern die Gruppierungen ihre Aktivitäten maßgeblich innerhalb eines Landes entfalten - auch Innenministerien der Länder, den Nachweis über verfassungsfeindliche Aktivitäten eines Vereins zu führen, seine Betätigung einzuschränken sowie etwaige Materialien mit Vereinsbezug im Rahmen der Umsetzung einer Verbotsverfügung zu beschlagnahmen. In Reaktion 39 auf die erfolgreichen Vereinsverbote trat eine wahrnehmbare Verunsicherung des organisierten Rechtsextremismus in Thüringen ein. Gruppierungen, auch solche mit Thüringenbezug wie beispielsweise die "Arische Bruderschaft", gaben etwa präventiv ihre Selbstauflösung bekannt. Das Signal, dass von diesen Verboten ausgeht und in der rechtsextremistischen Szene wahrgenommen wird, ist klar: Auf Dauer angelegte Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung ziehen, neben strafrechtlichen Konsequenzen auch ein Verbot ebendieser verfassungsfeindlichen Aktivitäten nach sich. "Hammerskins Deutschland" / "Crew 38" Am 19. September hat das Bundesministerium des Innern und für Heimat den Verein "Hammerskins Deutschland" einschließlich seiner dreizehn regionalen Chapter sowie der Teilorganisation "Crew 38" verboten, da diese nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen und sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung sowie den Gedanken der Völkerverständigung richten. Von den Exekutivmaßnahmen in zehn Bundesländern waren auch zwei Mitglieder der "Hammerskins" aus Thüringen betroffen. Die "Hammerskins" schlossen sich in den USA im Jahr 1988 in der "Hammerskin-Nation" zusammen und breiteten sich von dort in zahlreiche weitere Länder aus. Zu Beginn der 1990er Jahren fielen sie erstmals durch Aktivitäten in Deutschland auf und etablierten hier regionale Ableger ("Chapter"). Diese werden von der "Crew 38" (C38) unterstützt. In Thüringen gehörten wenige Einzelpersonen der "Hammerskin-Nation" an. Diese bildeten kein eigenes Thüringer Chapter, sondern schlossen sich regionalen Untergliederungen in zwei angrenzenden Bundesländern an. Die rassistischen und in Teilen nationalsozialistischen "Hammerskins" sahen sich in ihrem Selbstverständnis als Elite der rechtsextremistischen Skinhead-Szene. Ihre rassistische Ideologie fußte auf der Annahme einer angeblichen Überlegenheit der weißen Rasse, die im Englischen als "white supremacy"19 bezeichnet wird. Dem folgend lautete der Leitsatz der "Hammerskins": "We must secure the existence of our race and a future for white children."20 Als dessen Urheber gilt der im Jahr 2007 verstorbene US-Rechtsterrorist David Lane. 19 Deutsch: "weiße Vorherrschaft". 20 Deutsch: "Wir müssen die Existenz unserer Rasse und eine Zukunft für die weißen Kinder schützen." 40 In Anspielung auf ihren Namen wählten die Hammerskins als Erkennungszeichen zwei gekreuzte Zimmermannshämmer vor einem Zahnrad. Die Zahlen drei und acht im Namen der ehemaligen Unterstützerorganisation "Crew 38" stehen für die Buchstaben C und H. Diese bilden das Kürzel für "crossed hammers" und spielen damit auf das Logo mit den gekreuzten Hämmern an. In ihrer Organisation mit "Chapters" (Ortsgruppen) und "Supporters" (Unterstützern) ähnelten die "Hammerskins" Motorradclubs. Dies galt auch für den internen Aufstieg vom "Hangaround" (unterste Stufe der Mitgliedschaft) über den Anwärterstatus "Prospect of the Nation" (PotN) zum "Vollmitglied". In Deutschland vermieden es die "Hammerskins", öffentlich in Erscheinung zu treten. Auch in Thüringen fanden in der Vergangenheit klandestine Treffen und rechtsextremistische Musikveranstaltungen mit Bezügen zu den "Hammerskins" statt. Nach dem Verbot der "Hammerskins Deutschland" besteht der Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes fort, um mögliche Nachfolgebestrebungen feststellen zu können. Die Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V. (Artgemeinschaft) Am 26. September hat das Bundesministerium des Innern und für Heimat den Verein "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." ("Artgemeinschaft") einschließlich seiner Teilorganisationen verboten, da diese sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richten. Bei der 1951 gegründeten "Artgemeinschaft" handelte es sich um eine germanisch neuheidnische Glaubensgemeinschaft, die sich ideologisch auf einen rassebiologisch hergeleiteten Volksbegriff, den so genannten Artglauben bezieht. Die Gemeinschaft mit Vereinssitz in Berlin basierte somit auf einer klaren Unterscheidung zwischen "arteigenen" und "artfremden" Menschen, denen qua Geburt bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Als gesellschaftspolitisches Projekt strebte die "Artgemeinschaft" eine Gesellschaftsordnung - mit Anleihen an den nationalsozialistischen Führerstaat - an, die Hierarchien aufgrund rassebiologischer Kriterien realisiert. Der Verein stand somit den Wertprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, insbesondere den im Grundgesetz konkretisierten 41 Menschenrechten entgegen. Bundesweit ließen sich der "Artgemeinschaft" ca. 150 Mitglieder zurechnen. Das Thüringer Personenpotenzial lag etwa im unteren zweistelligen Bereich. Am 27. September wurde die durch das Bundesministerium des Inneren und für Heimat erlassene Verbotsverfügung des Vereins "Artgemeinschaft" umgesetzt. Von den in diesem Zusammenhang durchgeführten polizeilichen Durchsuchungen waren Wohnungen und weitere Räumlichkeiten von 39 Vereinsmitgliedern in 12 Bundesländern erfasst, davon drei in Thüringen. Es wurden unter anderem Speere, Wurfäxte, Vortragsutensilien, Bücher und Speichermedien beschlagnahmt sowie (weitere) Waffen und Munition sichergestellt. Die "Artgemeinschaft" mietete sich regelmäßig in eine Veranstaltungsstätte in Thüringen ein. Auch im Jahr 2023 wurden dort verschiedenste Zusammenkünfte und Feierlichkeiten mit Teilnehmerzahlen im unteren dreistelligen Bereich registriert. Diese Treffen wurden im Wesentlichen ohne eine Beteiligung der Öffentlichkeit abgehalten. Die "Artgemeinschaft" griff umfassend auf gesellschaftspolitische Vorstellungen zurück, die in Deutschland im historischen Nationalsozialismus geprägt wurden. Dabei standen zwei zentrale Ideen im Vordergrund: Orientierung an rassebiologischer Abstammung Im historischen Nationalsozialismus wurde der Versuch unternommen, systematisch zentrale gesellschaftspolitische Fragen an rassebiologischen Grundlagen zu orientieren. Dieser Versuch einer Ableitung von Antworten auf gesellschaftliche Fragen aus der Biologie diente der "Artgemeinschaft" explizit als Blaupause für die Gegenwart: Deutlicher Beleg hierfür ist das 2015 erschienene Kinderbuch "Zwerg Hüting zeigt Heiner den Weg". Es stellt lediglich eine überarbeitete Fassung einer bereits 1939 erschienenen rassenantisemitischen Schrift von Werner Graul dar. Dieses Buch wurde als 2. Auflage (erschienen 2021) über die Internetseite der "Artgemeinschaft" zum Kauf angeboten. Leben als Kampf Der Ansatz versteht das Leben als Kampf von durch Abstammung und nicht primär durch individuelle Fähigkeiten unterschiedlich begabten Menschen sowie einander überund untergeordneten Völkern. Das sog. "Artbekenntnis", dem Mitglieder zustimmen mussten, formu42 liert den "Kampf" als "naturnotwendig für alles Werden, Sein und Vergehen" sowohl des "Einzelnen" als auch der "Art". Dieses Verständnis ist notwendige Konsequenz eines auf Abstammung gründenden Gesellschaftsbildes, in dem sich durch Wettstreit und Leistung lediglich natürliche Unterschiede zwischen den Rassen und deren Angehörigen abbilden. Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft definierte sich vor allem durch Ausgrenzung derjenigen, die - qua Abstammung - nicht zu ihr gehören sollten. Die "Artgemeinschaft" definierte sich im Gegensatz dazu - aufgrund ihres derzeitig geringen Einflusses - vor allem dadurch, wer zu ihr gehören darf. Die alltägliche Gewalt ("Leben als Kampf") - eine "Vergemeinschaftung von Gewalt" - ist aber zentral für die verfassungsfeindlichen Ziele sowohl der "Artgemeinschaft" als auch der historischen Ziele des Nationalsozialismus. Entgegen eines staatlichen Gewaltmonopols kann gerade die Gewalt gegen Andere dabei als zentraler Aspekt der Vergesellschaftung dienen. In der "Artgemeinschaft" verband sich eine Ideologie auf rassistischer und antisemitischer Grundlage in Form des "Sittengesetzes" mit einem klaren Handlungsauftrag zur Errichtung einer vermeintlich 'artreinen' abgeschlossenen Gemeinschaft. Dieses "Sittengesetz", das für Mitglieder Bekenntnischarakter hatte, schloss "Todesverachtung" mit ein. Die eigentliche Gefahr der "Artgemeinschaft" ging somit von ihrem klandestinen Vernetzungscharakter aus. Der Verein versuchte, ein Mehrgenerationenprojekt zur Überwindung der bestehenden Ordnung zu realisieren, indem schon Kinder und Jugendliche im Sinne der Vereinsziele erzogen wurden. Bis zum Ende des Berichtszeitraumes hatte die Verbotsverfügung noch keine Rechtskraft erlangt. 5. Weitgehend unstrukturierte Rechtsextremisten Rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Musikgruppen und Einzelmusiker ("Liedermacher") transportieren durch Ihre Texte rechtsextremes Gedankengut. Sie vermitteln diese Ideologie den Zuhörern oft auf einfache und eingängige Art und Weise. Zudem stellt rechtsextremistische Musik ein ideologisches Fundament niedrigschwelliger Vernetzung innerhalb des Rechtsextremismus, aber auch darüber hinaus, dar. 43 Die Palette der verwendeten Musikstile (u. a. Rock, Heavy Metal, Gothic, Dark Wave, Black Metal, Hardcore, Rap, Schlager, Volkslieder) ist umfänglich. In rechtsextremistischen Liedtexten werden mit höchst unterschiedlicher Deutlichkeit rassistische, antisemitische, menschenverachtende oder gewaltverherrlichende Ansichten propagiert, staatliche Institutionen verunglimpft oder die nationalsozialistische Gewaltherrschaft glorifiziert. Dadurch geschürte Feindbilder prägen die häufig noch ungefestigten ideologischen Einstellungen der oft jugendlichen Konsumenten. Musikveranstaltungen einschlägiger Bands erzeugen bei den Besuchern ein Gefühl der Gemeinschaft und der Stärke. Auf Jugendliche, die der Szene noch nicht fest angehören, sondern sich vorerst in deren Umfeld bewegen, üben die Musikveranstaltungen eine besondere Anziehungskraft aus. Rechtsextremistische Musiker In Thüringen waren im Jahr 2023 Musikgruppen im unteren zweistelligen Bereich sowie Einzelmusiker im untersten zweistelligen Bereich "aktiv". Im Vergleich mit den Vorjahren ist im Berichtszeitraum somit ein leichter Anstieg zu verzeichnen, der in Teilen auf eine neue Erscheinung der letzten Jahre zurückgeht. Gruppen und Einzelpersonen traten auch nach zum Teil längerer Inaktivität mit neuen Tonträgern auf, die im Berichtsjahr veröffentlicht wurden. So hat beispielsweise ein rechtsextremistischer Einzelmusiker der 90-er und frühen 2000-er Jahre wieder Aktivitäten entfaltet, der zuvor über eine längere Zeitspanne hinweg inaktiv war. Gerade in der rechtsextremistischen Musik genießen Titel einiger inaktiver Bands und Einzelmusiker wie auch die Frühphase des "Rechtsrock" insgesamt Kultstatus. Häufig werden solche populären Titel durch Interpreten gecovert. Dies begünstigt auch das beschriebene Phänomen einer (dauerhaften oder temporären) Rückkehr vormaliger Musiker aus der Inaktivität. Rechtsextremistische Musikveranstaltungen Innerhalb der rechtsextremistischen Musikszene findet eine internationale Kooperation statt, die auf der gemeinsam empfundenen Zugehörigkeit zur "White-Power"-Bewegung und weitgehend übereinstimmenden Feindbildern basiert.21 Einschlägige Bands aus dem Ausland sind auch bei deutschen Rechtsextremisten beliebt. Entsprechende Gruppen treten 21 Unter "White Power" wird ein Slogan der äußerst heterogenen US-amerikanischen rechtsextremistischen Bewegung verstanden, der auf rassistischer Grundlage die Überlegenheit der "weißen Rasse" annimmt und diese - auch unter Anwendung von Gewalt - sichern will. 44 auch bei Konzerten in Deutschland auf. Im Gegenzug beteiligen sich deutsche Bands an Veranstaltungen im Ausland. Im Folgenden wird auf die im Berichtszeitraum in Thüringen durchgeführten rechtsextremistischen Musikveranstaltungen näher eingegangen, soweit sie ein gewisses Maß an öffentlicher Wahrnehmung erlangten. Die Verfassungsschutzbehörden bewerten eine Musikveranstaltung als rechtsextremistisch, sofern folgende Kriterien erfüllt sind: * Live-Auftritt mindestens einer als rechtsextremistisch bewerteten Band bzw. eines Liedermachers * Szeneöffentlichkeit * Vortrag rechtsextremistischer Liedtexte bzw. Feststellung rechtsextremistischer Aktivitäten der Interpreten anlässlich der Veranstaltungen * Organisation der Veranstaltung durch rechtsextremistische Gruppierungen oder Einzelpersonen. Hierbei ist nicht erforderlich, dass Informationen zu allen Kriterien vorliegen. Mindestvoraussetzung sind der szeneöffentliche Live-Auftritt sowie Indizien für rechtsextremistische Inhalte, die sich insbesondere aus dem Auftritt einschlägiger Bands oder aus dem Vortrag entsprechender Lieder ergeben können. Zu berücksichtigen sind bei der Würdigung die Gesamtumstände der Veranstaltung, wie etwa der Ablauf, die Liedtexte, der Teilnehmerkreis, das Verhalten der Organisatoren, Bands und Teilnehmer und der Vertrieb rechtsextremistischer Tonträger und Devotionalien. Inwieweit es sich bei der rechtsextremistischen Veranstaltung um ein Konzert oder einen Liederabend handelt, hängt von den Gesamtumständen der Veranstaltung ab und ist im Einzelfall zu prüfen. Anhaltspunkte zur Differenzierung sind beispielsweise die Anzahl der Musiker und das für den Auftritt gewählte Format (Einzelinterpret, Band), das Musik-Genre, die eingesetzte Technik (Verstärkung vers. akkustische Auftritte) und die Liedtexte. Rechtsextremistische Konzerte Die beiden im Berichtszeitraum in Thüringen geplanten rechtsextremistischen Konzertveranstaltungen, die öffentlich bekannt geworden sind, wurden polizeilich aufgelöst. 45 Datum Ort Teilnehmerzahl Bands/Liedermacher 1. April Zeulenroda-Triebes 138 "Sick Society", "True Aggression", (aufgelöst) "The Tenderizers" 18. NoSonneberg (aufge70 "Unbeliebte Jungs" u.a. vember löst) Tabelle 2: Übersicht rechtsextremistische Konzerte Die Intensivierung des Konzertgeschehens setzte sich verhalten fort, wobei die Anzahl der Veranstaltungen unter dem Niveau der Vor-Corona-Jahre blieb. Rechtsextremistische Liederabende Im Berichtszeitraum war gegenüber dem Vorjahr ein deutlicher Anstieg durchgeführter rechtsextremistischer Liederabende in Thüringen auf 26 (2022: 4) zu verzeichnen. Zwei dieser Veranstaltungen wurden aufgelöst. Zwei weitere Liederabende, die im November in Suhl und im Dezember in Bleicherode-Wolkramshausen geplant waren, konnten bereits im Vorfeld verhindert werden. Durch die Art der Darbietung (zumeist Einzelinterpret mit Akustikgitarre) stehen die Texte und deren politische Inhalte bei diesem Veranstaltungsformat besonders im Vordergrund. Trotz der harmlos klingenden Bezeichnung "Liederabend" schaffen derartige Veranstaltungen im kleinen Kreis eine gemeinschaftliche Atmosphäre, die Rechtsextremisten zum Feiern, Singen, aber auch zum Planen und Vernetzen einlädt. Die damit verbundenen Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung dürfen nicht unterschätzt werden. Zu den Veranstaltungen im Einzelnen: Datum Ort Teilnehmerzahl Bands/Liedermacher 28. Januar Eisenach 97 "Heureka", "Regiment 25" 3. Februar Unbekannt Unbekannt "FreilichFrei", "RAC'n'Roll Teufel" 18. FebruGuthmannshausen Unbekannt "FreilichFrei" ar 18. FebruOhrdruf (aufgelöst) 30 "Hermunduren" ar 18. März Guthmannshausen Unbekannt "Renitenz" 18. März Sonneberg Unbekannt "Kavalier" 22. April Guthmannshausen Unbekannt "Der Bienenmann" 46 Datum Ort Teilnehmerzahl Bands/Liedermacher 28. April Kloster Veßra Unbekannt "Hannes von Kategorie C", "Heureka", "Symphonie des Blutes" 28. April Eisenach Unbekannt Unbekannt 5. Mai Kloster Veßra Unbekannt "Phil von Flak" 6. Mai Eisenach Unbekannt Vermutlich "FreilichFrei" und "Der Hoffnungsträger" 20. Mai Eisenach 69 "Sturmrebellen", "Heureka" 20. Mai Guthmannshausen Unbekannt Liedermacher aus Sachsen 9. Juni Vermutl. Eisenach Unbekannt "FreilichFrei" 16. Juni Eisenach 68 "Flak Solo" 23. Juni Eisenach 86 "Sleipnir" 24. Juni Eisenach 68 "Sleipnir" 8. Juli Eisenach 45 "Flatlander" 22. Juli Unbekannt Unbekannt Liedermacher aus Thüringen 5. August Guthmannshausen 50 Liedermacher aus Sachsen 17. SepEisenach 88 "Lunikoff" tem-ber 22. SepSchleiz Unbekannt Frank Rennicke tem-ber 7. Oktober Eisenach 84 "F.i.e.L." 21. OktoSuhl Unbekannt Liedermacher aus Thüringen ber 21. OktoZeulenroda-Triebes 44 "Hannes von Kategorie C", "Heureka" ber Ende OkErfurt Unbekannt "Visionär" tober 18. NoUnbekannt Unbekannt "FreilichFrei" vember 15. DeKloster Veßra (auf50 "Kategorie C", "Heureka" zember gelöst) Tabelle 3: Übersicht rechtsextremistische "Liederabende" Daneben traten rechtsextremistische Liedermacher auch im Rahmen zahlreicher anderer Veranstaltungen wie z. B. "Heldengedenken", Gedenkstunden und Vortragsveranstaltungen auf. Hier bewegt sich die Anzahl der Veranstaltungen im Berichtszeitraum auf konstant hohem Niveau. 47 Darüber hinaus haben rechtsextremistische Liedermacher spätestens im Jahr 2022 begonnen, ihren Radius zu erweitern und sog. Graubereiche für sich zu erschließen. Ebenso wie rechtsextremistische Parteien versuchten sie, die in Teilen der Bevölkerung vorhandene Unzufriedenheit mit der politischen Situation für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. So kam es zu Darbietungen rechtsextremistischer Liedermacher auf von Akteuren der Protestbewegung organisierten Veranstaltungen, oder solchen, die der "Reichsbürger"-Bewegung zuzurechnen waren. Der Trend weg von größeren Konzerten hin zu kleineren, überschaubaren Musikveranstaltungen hat sich im Berichtszeitrum weiter verstetigt. Vornehmlich strategische Aspekte bestimmen diese Vorgehensweise: Der logistische sowie der finanzielle Aufwand des jeweiligen Veranstalters wird minimiert, die Risikoabwägung für den Veranstalter insgesamt erleichtert. Zugleich bleiben Organisation und Durchführung der Veranstaltung wieder verstärkt im Verborgenen. Eine Ausnahme von dieser Praxis bildeten primär die Veranstaltungen im "Flieder Volkshaus" in Eisenach, die im Vorfeld angezeigt wurden. Da sich der Musikbereich seit Jahren dynamisch entwickelt und sich an gesellschaftliche und politische Entwicklungen anpasst, ist über das Berichtsjahr hinaus etwa mit der Erschließung neuer Formate und/oder Veranstaltungsobjekte zu rechnen. Kampfsport als rechtsextremistisches Aktionsfeld Die Bedeutung des Kampfsports für die rechtsextremistische Szene ist im Laufe der letzten Jahre deutlich gestiegen. Mittlerweile existiert ein europaweites Netzwerk unterschiedlicher Kampfsportlabels, Bekleidungsvertriebe und Veranstaltungsorganisatoren. Auch ideologisch betten die unterschiedlichen Akteure den Kampfsport in ihr rechtsextremistisches Weltbild ein, um die sportliche Aktivität und mittelbar auch sich selbst als eine selbsternannte nationale Elite aufzuwerten. Entwicklung In der Rückschau auf die vergangenen Jahre hat sich der Kampfsport neben rechtsextremistischen Musikveranstaltungen zu einem Bereich entwickelt, der den aktionsorientierten Rechtsextremismus dominiert und zudem eine nicht unerhebliche Rekrutierungsfunktion besitzt. Ferner hat der Kampfsport einen maßgeblichen Anteil an der Professionalisierung und Kommerzialisierung der rechtsextremistischen Szene. 48 Noch in den frühen 2000er Jahren beschränkte sich die damals kleine rechtsextremistische Kampfsportszene darauf, durch die bloße Teilnahme an unpolitischen Kampfsportereignissen ihre Zielgruppe zu erreichen. In den letzten Jahren war jedoch ein rapider Zuwachs an rechtsextremistischen Veranstaltungen im Bereich des Kampfsports zu beobachten, die in Eigenregie organisiert wurden. Dieser Umstand ist auch auf eine gestiegene Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zurückzuführen. Unpolitische Veranstalter kommerzieller Kampfsportevents gerieten zunehmend unter Druck, wenn sie einen bekannten Rechtsextremisten in das Kämpferverzeichnis aufnahmen. Demzufolge beließen es die rechtsextremistischen Akteure nicht dabei, lediglich an Wettkämpfen anderer Organisatoren teilzunehmen. Stattdessen gingen sie dazu über, diese selbst zu veranstalten. Vor dem Hintergrund einer gewissen Gewinnerzielungsabsicht, stellten sich auch eine Professionalisierung sowie ein hoher Vernetzungsgrad zwischen den Veranstaltern verschiedener Events ein. Solche Veranstaltungen ziehen regelmäßig internationale rechtsextremistische Protagonisten an. Zudem ist im Rückblick auf die frühen 2000er Jahre mittlerweile erkennbar, dass die rechtsextremistische Kampfsportszene vor dem Hintergrund des Erfahrungsgewinns und der Erweiterung des Zielgruppen-Spektrums auch wieder vermehrt an unpolitischen Kampfsportereignissen teilnimmt, dabei jedoch ihre Gesinnung nicht offen zur Schau stellt. Ein Grund dafür könnte sein, neben den eigenen Fähigkeiten auch das rechtsextremistische Weltbild in Kämpfen mit Personen etwa mit Migrationshintergrund erproben zu wollen. Ideologie und Kommerzialisierung Die Vorteile für die Organisatoren und die Teilnehmer im Bereich des rechtsextremistischen Kampfsportes scheinen sich in einer Weise zu ergänzen, die den Aufstieg von rechtsextremistischem Kampfsport begünstigt hat: Ebenso wie die rechtsextremistische Musik ermöglicht der Kampfsport eine erhebliche Kommerzialisierung politischer Betätigung, was ihn in den Augen der Organisatoren positiv von klassischen Betätigungsfeldern wie Demonstrationen oder politischer Agitation abgrenzt. Zugleich bestehen für die Kampfsportler relativ geringe Zugangshürden, da zunächst nicht der ideologische und politische Austausch, sondern die körperliche Aktivität im Vordergrund steht. Zudem führt die Betätigung in einer Bestrebung, die häufig nicht augenfällig rechtsextremistisch ist, nicht zu einer sozialen Ächtung. Vor diesem Hintergrund wird der Kampfsport in der Szene als Bindeglied genutzt, dessen ideologische Komponente in den Kernbereich der gesamten rechtsextremistischen Szene einwirkt und gleichzeitig durch seinen Event-Charakter die Attraktivität und das Rekrutierungspotenzial stärkt. 49 Neben den Kampfsportarten Boxen und Kickboxen wird klassisches Mixed Martial Arts (MMA) mit Vollkontakt betrieben, was dem kriegerischen Selbstbild und den allgemeinen Anforderungen an die "Wehrkraft des Volkskörpers" gerecht wird. Diese Kampfsportvariante vereint Standund Bodenkampf sowie verschiedene Schlag-, Trittund Hebeltechniken zu einem schnellen und brutalen Konzept. Die dahinterstehende Ideologie ist eine Abgrenzung zu einer - in den Augen der Protagonisten - verweichlichten Gesellschaft. Das harte Training, das hohe Verletzungsrisiko beim MMA und das Stählen des eigenen Körpers sind weitaus mehr als die Vorbereitung auf einen Wettkampf oder die Pflege der persönlichen Fitness. Propagiert wird vielmehr eine vermeintlich mystische Pflicht, die "Volksgesundheit" und "Wehrhaftigkeit" aufrechtzuerhalten und einen "neuen Menschenschlag" zu schaffen, der stark an das im Nationalsozialismus propagierte Ideal des "Herrenmenschen" angelehnt ist. Eine wesentliche ideologische Komponente ist in dieser Hinsicht der "Straight Edge"22Gedanke. Er entstammt ursprünglich der Hardcore-Punk-Szene der 1980er-Jahre und sollte eine Gegenbewegung zu den ausufernden Alkoholund Drogenexzessen der Jugendkultur darstellen, wobei es im Kern um den Verzicht auf Rauschmittel, um gesunde Ernährung bis hin zum Veganismus und sexueller Enthaltsamkeit geht. Symbol der Bewegung ist ein "X". Die rechtsextremistische Szene knüpft hieran an. Unter ihr erlebt diese Strömung eine gewaltbetonte und rassistische Renaissance als "NS Straight Edge". Die Reinheit des Körpers, erlangt durch Abstinenz und hartes Training, ist dieser Ideologie zufolge eine Grundvoraussetzung für die Umwandlung einzelner Individuen hin zu einem wehrhaften und grundgesunden "Volkskörper". Nur durch sie könne die "nächste Ebene" erreicht werden. Auf Alkoholexzesse und den subkulturellen Lebensstil in den eigenen Reihen wird verächtlich herabgeschaut. Die Mitglieder der Kampfsportszene haben in der Regel ein elitäres Selbstbild, welches von Tugenden wie Fleiß, Disziplin und Härte bestimmt wird. Ein wiederkehrendes Mantra der Szene, das sich aus ihrem Weltbild ergibt, ist der "Kampf gegen die Moderne", welche als Sinnbild von Dekadenz und Verweichlichung strikt abgelehnt wird. Der vermeintliche Verfall der Gesellschaft wird mit einer empfundenen Erosion der "Volksgesundheit" gleichgesetzt. In Thüringen wird diese Szene insbesondere durch nachfolgende Gruppierungen geprägt: 22 "Straight Edge" - sinngemäß: "klare Kante" oder "Geradlinigkeit". 50 Kampfsportvereinigung "WARDON" Bei "WARDON" oder auch "WARDON 21" handelt es sich um eine überregionale rechtsextremistische Kampfsportvereinigung, die im Jahr 2017 gegründet wurde. Die Vereinigung ist dabei in vielfältiger Weise in die Organisation von Kampfsportveranstaltungen eingebunden und stellt auch einen eigenen Kampfsportkader. Die ideologische Ausrichtung kommuniziert die Gruppe öffentlich. So war auf ihrem mittlerweile gelöschten FacebookProfil folgendes Statement zu finden: "Unser Körper ist unsere Festung, die einen gesunden Geist birgt. Wir verstärken den Schildwall unseres Glaubens durch das vorangetragene Kreuzen unserer Arme und als Bekenntnis zur Freiheit durch eine volksgesundheitliche Lebensweise in Verhalten und Konsum." Hier wird deutlich, dass diese Gruppierung den Kampfsport nicht nur als solchen wahrnimmt, sondern ihm eine völkisch-mystische Verteidigungsfunktion beimisst, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckt und sich - sowohl argumentativ als auch durch die zu einem "X" gekreuzten Arme im Logo symbolisch - bei der "Straight Edge" - Bewegung bedient. Weiter hieß es im Eingangsstatement in den sozialen Netzwerken: "'WARDON' schenkt den niederen Auswüchsen dieser morschen Zeit keinerlei Beachtung. Unbeirrbarkeit ist selbstbewusste Konsequenz. Wer uns jedoch herausfordert und als Feind gegenübertritt, dem weisen wir den Weg mit unserer kampferprobten Faust. In Wort UND Tat!" Auch hier wird eine klare Freund-Feind-Unterscheidung deutlich, die sich nicht nur auf den sportlichen Wettstreit, sondern ebenfalls auf den politischen Kampf bezieht. Zudem orientiert sich auch diese Gruppe an einem von der "Straight Edge"-Bewegung geprägten Lebensstil mit Enthaltsamkeit, Sport und allgemein an einer "volksgesundheitlichen Lebensweise". Was die Gruppe darunter versteht wurde unter anderem deutlich, als sie bei Kampfsportveranstaltungen im Rahmen des "Kampf der Nibelungen" das Catering übernahm und dort ausschließlich veganes Essen anbot. Ferner werden vor dem Hintergrund des "Straight-Edge"-Gedanken Kletterund Wandertouren durchgeführt, die zusätzlich den Gemeinschaftsgedanken stärken sollen. "WARDON" beteiligte sich im Jahr 2023 sowohl organisatorisch als auch mit einem Kämpfer an der rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltung "European Fight Night", die am 6. Mai in Ungarn stattfand. Die Veranstaltung wurde seitens des rechtsextremistischen 51 Kampfsportformates "Kampf der Nibelungen" in Zusammenarbeit mit rechtsextremistischen Kampfsportlern aus Osteuropa organisiert und durchgeführt. Kampfsportvereinigung "Knockout 51" Die rechtsextremistische Kampfsportvereinigung "Knockout" oder auch "Knockout 51" trat erstmals Anfang 2019 in den sozialen Medien öffentlich in Erscheinung. Bei den Hauptprotagonisten handelt es sich um mitunter langjährige Rechtsextremisten aus dem Raum Eisenach. Die Zahl 51 steht hierbei vermutlich exemplarisch für die Buchstaben E und A und gibt somit einen Hinweis auf die Stadt Eisenach (Kfz-Kennzeichen EA). Für die Kampfsporttrainings der Gruppierung wurden wiederholt die Räumlichkeiten des "Flieder Volkshaus" der Partei "Die Heimat" in Eisenach genutzt. Unter dem Deckmantel des gemeinsamen Kampfsport-Trainings werden junge und nationalistisch gesinnte Personen angelockt und bewusst mit rechtsextremistischem Gedankengut in Verbindung gebracht. Zudem dient das Training zur Vorbereitung auf den politischen Kampf sowie zur Etablierung als bestimmende Ordnungsmacht in Eisenach. Im Laufe der Zeit professionalisierte die Gruppierung weiterhin ihre Tätigkeiten mit Kraftund Kampfsporttrainings. Die Ende November 2021 verkündete (Schein-) Auflösung der Vereinigung hatte keine Auswirkungen auf die Aktivitäten und den Stellenwert der Gruppierung in der rechtsextremistischen Szene. Am 6. April 2022 fanden Durchsuchungsmaßnahmen wegen des Verdachts rechtsextremistischer Straftaten in elf Bundesländern bei insgesamt 50 Beschuldigten statt. Die Bundesanwaltschaft hatte auf Grundlage von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof vier mutmaßliche Mitglieder einer rechtsextremistischen kriminellen Vereinigung festnehmen lassen. Die vier festgenommenen Personen werden der rechtsextremistischen Kampfsportvereinigung "Knockout 51" zugeordnet. Es handelt sich hierbei um den Anführer sowie um drei weitere Personen, die Führungspositionen innerhalb der Vereinigung innehaben. Die Hauptverhandlung wird seit dem 21. August am Thüringer Oberlandesgericht in Jena geführt. Rechtsextremisten aus verschiedenen Bundesländern konnten dabei als Teilnehmer der Verhandlungen zur Unterstützung der vier Beschuldigten festgestellt werden. 52 Im Zuge eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Gera wurden am 29. November mehrere Durchsuchungsbeschlüsse in zwei Bundesländern sowie ein Haftbefehl gegen einen Beschuldigten vollstreckt. Allen zwölf Beschuldigten wird u.a. die Mitgliedschaft, jedoch überwiegend Unterstützung der kriminellen Vereinigung, "Knockout 51", vorgeworfen. Am 14. Dezember hat die Bundesanwaltschaft auf Grundlage von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs zwei mutmaßliche Mitglieder und einen Unterstützer einer rechtsextremistischen kriminellen und terroristischen Vereinigung, "Knockout 51", festnehmen lassen. Einem Beschuldigten wird zudem zur Last gelegt, die Vereinigung gegründet und als Rädelsführer agiert zu haben. Vor diesem Hintergrund konnten auch im Berichtszeitraum keine weiteren Veranstaltungen der Kampfsportgruppierung festgestellt werden. Bewertung Die professionelle Ausrichtung der Kampfsport-Events, die geschickte Selbstinszenierung in den sozialen Medien sowie deren ideologische Unterfütterung haben dafür gesorgt, dass sich der Kampfsport weiterhin neben der rechtsextremistischen Musikkultur zu einem wesentlichen Element des erlebnisorientierten rechtsextremistischen Lebensstils herausgebildet hat. Dabei erfährt insbesondere die Kriegerideologie der Nationalsozialisten durch die Verknüpfung von Gewaltästhetik und dem durch den "Straight Edge" befeuerten Körperkult eine Renaissance. Diese "reine Lebensweise", gemischt mit dem Verzicht auf Alkohol und Drogen, macht diese Events auch für Personen der unpolitischen Kraftund Kampfsportszene interessant, die bisher keine rechtsextremistischen Bezüge aufweisen. Gerade das Angebot von Attraktionen für Kinder und Jugendliche, das offene Bewerben der Veranstaltungen sowie die Beteiligung an unpolitischen Kampfsportveranstaltungen zeigt das gestiegene Selbstbewusstsein der Szene. Dies äußert sich ebenfalls durch die geschickte Eigendarstellung und Dokumentation der Szene im Internet. Die Websites und Auftritte der Gruppierungen in den sozialen Medien vermitteln teilweise den Eindruck, dass es sich hierbei eher um moderne, international ausgerichtete Unternehmen als um gewaltbereite, rassistische und neonazistische Vereinigungen mit demokratiefeindlichen Zielsetzungen handelt. 53 Das künftige Potenzial von rechtsextremistischen Kampfsportgruppierungen wie "WARDON" und "Knockout 51" liegt vor allem in dem Angebot an die Generation junger Neonazis, sich als Teil einer Gemeinschaft aus "Kriegern gegen die moderne Welt" verstehen zu können. Die größte Gefahr durch die rechtsextremistische Kampfsportszene im Allgemeinen sowie durch die Kampfsportvereinigungen "WARDON" und "Knockout 51" im Speziellen, geht jedoch nicht nur von trainierten Straßenkämpfern aus, sondern von den so entstandenen transnationalen Netzwerken, die an weite Kreise der Szene die Akzeptanz von zielgerichteter physischer Gewalt gegen rechtsextremistische Feindbilder vermitteln. 6. Politisch motivierte Kriminalität - Rechts Das System der "politisch motivierten Kriminalität" (PMK) ist eine polizeiliche Kategorisierung zur Einordnung von Straftaten. Die Zahlen werden als ergänzende Information in diesen Bericht aufgenommen. Für die PMK - Rechts weist die Statistik des Landeskriminalamts Thüringen23 folgende Zahlen aus: Straftaten 2021 2022 2023 Insgesamt 1.280 1.555 1.835 davon u. a. Propagandadelikte 785 902 1048 Gewaltdelikte 60 93 93 24 Sonstige 435 560 694 Tabelle 4: Statistik politisch motivierte Kriminalität - Rechts Rund 59 Prozent aller politisch motivierten Straftaten, die im Berichtszeitraum im Freistaat Thüringen begangen wurden, sind dem Phänomenbereich "Rechts" zuzuordnen. Dies stellt einen erneuten numerischen Anstieg um 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (2022: ca. 49 Prozent) dar. Die Fallzahlen (1.835) übertreffen erneut die Fallzahlen des vergangenen Jahres 2022 (1.555), sodass von einem Trend gesprochen werden kann, der lediglich durch das Pandemiejahr (2021: 1.280) unterbrochen wurde. Die Propagandadelikte bilden weiterhin die mit Abstand größte Fallgruppe. Bei der politisch rechts motivierten Gewaltkriminalität ist mit 93 Fällen (2022: 93) ein stabil hohes Niveau zu 23 Veröffentlicht am 8. April 2024. 24 Bei den sonstigen staatsschutzrelevanten Delikten handelt es überwiegend um Sachbeschädigungen, Volksverhetzungen, Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, Beleidigungen, Diebstähle und Bedrohungen. 54 konstatieren. Dies ist Ausdruck der insgesamt hohen Gewaltbereitschaft innerhalb der rechtextremistischen Szene. Im Berichtszeitraum wurden im Freistaat Thüringen insgesamt 82 politisch motivierte Straftaten im Zusammenhang mit Wahlkreisbüros registriert. Im Vergleich zum Vorjahr (58) ist hier ein Anstieg von 24 Straftaten (41,4 %) zu verzeichnen. Den Schwerpunkt stellen Sachbeschädigungen dar, die im Vergleich zum Vorjahr (49 Delikte) um 21 Delikte (42,9 %) auf 70 Delikte angestiegen sind. 55 III. "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" 1. Überblick Ihrer Ideologie entsprechend, lehnen Angehörige dieses Phänomenbereichs grundsätzlich staatliche Institutionen, behördliche Repräsentanten sowie deren Maßnahmen ab. Dies geht bis zur vollständigen Leugnung der Existenz der Bundesrepublik Deutschland und der Zurückweisung der bestehenden Rechtsordnung. Die Bestrebungen der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" richten sich demnach gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung. Angehörige und Argumentation "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" bilden eine organisatorisch und ideologisch heterogene Szene, die überwiegend auf sich selbst bezogen ist. Meist agieren diese Personen für sich oder als (loser) Personenzusammenschluss. Vereinzelt bilden sich lokal größere Gruppen. Darüber hinaus existieren aber auch bundesweit aktive Gruppierungen oder Vereine, die regelmäßig um neue Mitglieder werben. Die Intentionen der einzelnen Akteure sind vielfältig, die Szene insgesamt ist äußerst heterogen. Es finden sich selbsternannte "Aussteiger", Querulanten und politische Provokateure, Verschwörungstheoretiker oder auch berechnende Geschäftemacher, die sich z. B. durch die Ausstellung von Fantasiedokumenten durch "Gleichgesinnte" finanzieren. Nur ein geringer Teil der "Reichsbürger"-Szene" kann ideologisch ebenfalls dem Rechtsextremismus zugeordnet werden. "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" vertreten zumeist politische Ansichten, die nicht im Einklang mit dem Grundgesetz stehen. Sie begründen Ihre Motive häufig mit pseudojuristischen und pseudohistorischen Argumentationsmustern, mit verschwörungstheoretischen Ansätzen oder mit selbst definierten Naturrechten. Folgende Kernaussagen sind regelmäßig zu finden: * Das Deutsche Reich ist nicht untergegangen. * Die Bundesrepublik Deutschland ist kein souveräner Staat. * Deutschland befindet sich weiterhin im Kriegszustand. Dabei gibt es verschiedene Vorstellungen, die auf einem Kriegszustand seit 1918 oder dem Fehlen eines Friedensvertrages mit den Alliierten nach 1945 beruhen. * Es gilt die Haager Landkriegsordnung. 56 * Das Grundgesetz ist keine Verfassung. * Die Bundesrepublik ist untergegangen. * Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Staat, sondern eine privatrechtliche "BRD GmbH". * Das Recht der Bundesrepublik widerspricht dem Gewohnheitsrecht nach Brauch und Sitte vor der gegenwärtigen Zeitrechnung. * Der wirkliche Herrscher der Welt ist das "finanzmächtige internationale Judentum". Darüber hinaus nehmen "Selbstverwalter" für sich in Anspruch, aus der Bundesrepublik "austreten" zu können und reklamieren für sich ihre rechtliche Autonomie mit territorialem Hoheitsanspruch. Sie bezeichnen sich als "natürliche Personen im Sinne des SS 1 BGB", die in keinem "Vertragsverhältnis" mit der "BRD-GmbH" stehen. Die Abgabe dieser Erklärung erfolgt vielfach über "Proklamationen", fiktive Urkunden oder "Privatautonome Willenserklärungen", die den Verwaltungsbehörden übersandt werden. "Gelber Schein" und Fantasiepapiere Angehörige der "Reichsbürger"-Szene hängen der absurden Theorie nach, ohne "Staatsangehörigkeitsausweis" staatenlos zu sein. Sie propagieren die Beantragung eines solchen Dokuments, da weder der Personalausweis noch der Reisepass als Nachweis der deutschen Staatsangehörigkeit dienten. Zudem behaupten sie, die Bezeichnung "Name" im Personalausweis kennzeichne die betreffende Person als "Firma, also eine inländische juristische Person" ohne Grundrechtsberechtigung. Ein "Staatsangehörigkeitsausweis" ("Gelber Schein") mit dem Parameter "Identität Familienname = Natürliche Person" sichere hingegen die volle Rechtsfähigkeit als Grundrechtsträger. Szeneangehörige "legitimieren" sich darüber hinaus häufig mit weiteren, selbst produzierten Fantasiepapieren, wie "Reichspersonenausweisen" oder "Reichsführerscheinen". Die Nutzer solcher Papiere wollen damit ihre Lossagung von der Bundesrepublik Deutschland dokumentieren. Häufig wurden im Vorfeld die amtlichen Ausweisdokumente bei der Meldebehörde abgegeben. Die Ausfertigung derartiger Fantasiepapiere erfolgt meist von Szeneanhängern, die damit in der Regel finanzielle Interessen verwirklichen. Einige Gruppierungen sowie einzelne Vertreter der Szene nehmen für sich sogar in Anspruch, eine eigene "Staatsgewalt" auszuüben. Sie bilden "Gemeinden", "Bundesstaaten" oder "Reichsregierungen", ernennen entsprechende Funktionäre, wie z. B. "Verweser" (altertümlich für "Verwalter"), "Reichskanzler" oder "Minister", die sich wiederum mit selbst gestalteten Ausweisdokumenten "legitimieren". 57 Querulatorische Schreiben und Vernetzung "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" versuchen, sich durch ihre Argumentation verschiedenen staatlichen Maßnahmen zu entziehen mit dem Ziel keine Steuern, Bußgelder oder Gebühren entrichten zu müssen oder drohende Zwangsvollstreckungen abzuwenden. Sie sprechen Behörden und Amtsträgern ihre hoheitlichen Befugnisse ab und weisen behördliche Schreiben oder Maßnahmen als illegitim zurück. Häufig geschieht dies durch zahlreiche und umfangreiche Schriftsätze mit denen die Arbeit der Behörden sabotiert werden soll. Nicht selten sind die Schreiben in anmaßendem und aggressivem Ton verfasst, verbunden mit Beleidigungen, Beschimpfungen, Belehrungen, Erpressung, Nötigung und der Androhung von "Bußgeldern" in Teils erheblicher Höhe oder "Unterlassungsverfügungen mit Strafzahlungen", auch persönlich gegen einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörden. Vordrucke, Vorlagen und Textbausteine für solche Schreiben mit vorgefertigten Argumentationsmustern finden sich hierbei zahlreich online. Überhaupt kommt dem Internet und den sozialen Medien auf Grund der beinahe unbegrenzten Möglichkeiten an Plattformen und Multiplikatoren eine besondere Bedeutung bei der Verbreitung der Ideologie der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" zu. Zudem bietet es bei Bedarf die notwendige Anonymität, um sich bei ersten Recherchen nach Denkansätzen und der Suche nach Gleichgesinnten sicher zu fühlen. In einem Austausch über Foren erfolgt häufig die weitergehende Vernetzung bis hin zu Verabredungen zu realweltlichen Treffen im konspirativen Kreis oder größeren öffentlichen Veranstaltungen. Zur Verbreitung und Vertiefung der Ideologie halten die einschlägigen Online-Shops und Präsenzen ein breites Angebot buchbarer Seminare oder ergänzender Literatur vor. Bei Realwelttreffen werden Beurkundungen vorgenommen, bei denen Zeugen die Identität von Personen oder ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oder einem Stamm mit ihrer Unterschrift und Fingerabdrücken bestätigen. Diese Urkunden werden danach oft mit umfangreichen Anlagen an Behörden versandt. 2. "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" in Thüringen Dem Phänomenbereich "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" wurden im Berichtszeitraum ca. 1.000 Personen (2022: ca. 1.000) zugerechnet. Das Personenpotenzial bewegt sich gegenüber dem Vorjahr auf einem konstanten Niveau. 58 "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" agieren in Thüringen überwiegend als Einzelakteure. Daneben gibt es bundesweit bzw. überregional agierende Gruppierungen, in denen auch im "Reichsbürger" aus Thüringen aktiv sind. Bundesweite bekanntestes Beispiel einer solchen Vernetzung ist die Gruppierung um Heinrich XIII. Prinz Reuß gegen die am 7. Dezember 2022 bundesweit umfangreiche Exekutivmaßnahmen im Zusammenhang mit einem Strafverfahren des Generalbundesanwalts wegen des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung durchgeführt wurden. Anfang Dezember 2022 kam es in diesem Zusammenhang zu zahlreichen Durchsuchungsmaßnahmen und Festnahmen, auch in Thüringen. Eine zentrale Rolle nimmt hierbei Heinrich XIII. Prinz Reuß ein, welcher als legitimer Nachfahre eines zu Zeiten des Deutschen Kaiserreichs bestehenden Fürstentums in Thüringen als zukünftiges Staatsoberhaupt vorgesehen war. Neben einem "Rat" mit verwaltungsähnlichen Strukturen soll der Vereinigung ein "militärischer Arm" angegliedert sein, der mit Hilfe militärisch organisierter "Heimatschutzkompanien" die geplante Machtübernahme auch mit Waffengewalt sichern und durchsetzen sollte. Am 11. Dezember klagte der Generalbundesanwalt ursprünglich insgesamt 27 Mitglieder oder Unterstützer der Vereinigung u. a. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens an.25 Wegen der Größe des Verfahrens wurden die Anklagen an drei Oberlandesgerichten erhoben, namentlich in Frankfurt, München und Stuttgart. Ebenfalls in Anlehnung an die seinerzeit existierenden (Groß-) Herzogtümer und Preußischen Bundesstaaten waren auch 2023 sog. Wahlkommissionen (WK) in Thüringen aktiv. Dabei fiel insbesondere die "Wahlkommission Preußische Provinz Sachsen" auf, die vor allem in Nordund Mittelthüringen als "Öffentliche Bekanntmachung" deklarierte Plakate mit der Aufforderung zum Eintrag in Wahllisten aufrief. Nach Auffassung der Anhänger der WK bestehen das Wilhelminische Kaiserreich von 1871 und seine Verfassung fort. Die Bundesrepublik wird nicht als Staat, sondern als Firmenkonstrukt wahrgenommen. Derzeit herrsche ein "Notstand", den man durch die Organisation eigener Strukturen beheben will. Dazu führen die Gruppierungen Wahlen durch, aus denen "Verweser" hervorgehen. Dem folgend behauptete die "Wahlkommission der Gemeindeverwaltung Sachsen-Weimar-Eisenach" im Internet, am 25. und 26. November eine Wahl im entsprechenden Herzogtum durchgeführt zu haben. Im Berichtszeitraum fanden zudem zahlreiche Treffen und Veranstaltungen in Thüringen statt, welche durch die WK über soziale Medien beworben und organisiert wurden. Bedeutendstes Treffen war dabei der "2. Zukunftskongress Deutschland" vom 2. bis 4. 25 Presseerklärungen des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof vom 12. Dezember 2023 59 Juli in Leinefelde-Worbis mit ca. 180 Teilnehmern. Er beinhaltete u. a. Workshops, Vorträge und eine Podiumsdiskussion. Im Berichtszeitraum fanden in Thüringen zudem mehrere Treffen der Organisation "Vaterländischer Hilfsdienst" (VHD) statt. Dieser zählt zu der bundesweit agierenden Bestrebung "Bismarcks Erben", auch bekannt als "Ewiger Bund" oder "Preußisches Institut". Die Ideologie dieser Vereinigung ist geprägt von den klassischen Narrativen der "Reichsbürger"Bewegung: Das "Deutsche Reich" bestehe fort und gelte als anerkanntes Völkerrechtssubjekt mit seiner Verfassung vom 16. April 1871 im Gebietszustand vom 27. Juli 1914. Es habe nie einen Friedensvertrag zur Beendigung des Ersten Weltkrieges gegeben und daher befinde sich Deutschland nach wie vor im Kriegszustand. Als Legitimation beruft sich der VHD auf das am 6. Dezember 1916 in Kraft getretene "Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst", das damals alle nicht zum Kriegsdienst einberufenen männlichen Deutschen zwischen 17 und 60 Jahren zum Hilfsdienst in kriegswichtigen Tätigkeiten verpflichtete. Nach Auffassung der Gruppierung ist dieses Gesetz weiter in Kraft und legitimiert den VHD, eine eigene Verwaltungsstruktur aufzubauen. Diese ist in Anlehnung an die Gliederung der deutschen Armee ab 1914 in Armeekorpsbezirke (AKB) aufgeteilt. Thüringen betreffen dabei die AKB IV und XI. Ziel ist die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit und die Wiedererlangung völkerrechtlicher Souveränität unter der Führung des Oberhauptes des Hauses Hohenzollern. Im Berichtszeitraum nahmen die Aktivitäten der in Wittenberg gegründeten Gruppierung "Deutschland" (KRD) deutlich zu. Das KRD verfügt mit dem "Käseturm" in Gera nunmehr über eine Immobilie in Thüringen. Zudem fanden erstmals Veranstaltungen der Untergruppierung "Leucht-Turm" statt. Das KRD behauptet, dass in seinem Einflussbereich kein "BRD-Recht" gelte. Es bezeichnet sich als Gemeinwohlstaat und versteht sich als eigenständiges System, losgelöst von den bestehenden staatlichen Strukturen. Eigenangaben zufolge steht das KRD "für einen Neuanfang des deutschen Staates nach den Grundsätzen des Völkerrechts und der Völkerfreundschaft. Es bietet praktische Lösungen für alle aktuellen systemischen, menschlichen und gesellschaftlichen Probleme: Von einem zinsund schuldfreien Geldwesen und einem autarken Wirtschaftskreislauf bis hin zu einem erneuerten, ganzheitlichen Gesundheitsund Bildungswesen."26 Das KRD wirbt insbesondere offensiv um Gewerbetreibende und Geldgeber. Unternehmen wird ein Wechsel in den "Rechtskreis des KRD" angeboten, in dem vermeintlich keine Mehrwertsteuer anfalle. Die Gründung eines Betriebes im KRD sei "steuerund erklärungsfrei". Die Gewinnung von neuen Mitgliedern erfolgt seit 2023 insbesondere über den "Leucht-Turm". Dieser bietet als 26 Homepage des "Königreich Deutschland". 60 Einstieg Infoseminare an. Über ein mehrstufiges - kostenpflichtiges - Seminarsystem werden Interessenten an die Gruppierung herangeführt. Gemeinschaftliche Aktivitäten und professionelles Marketing sollen augenscheinlich verschleiern, dass die sektenartige Gruppierung ihre Mitglieder umfassend finanziell in die Pflicht nimmt. Dem sozialen Zugehörigkeitsgefühl etwa dienen Wanderungen des "LeuchtTurm". In Thüringen fand am 24. September ein Seminar "Basis & Aufbau" bei Ilmenau sowie im Oktober eine Wanderung zur Werraquelle statt. Weiterhin gibt es in Thüringen Gewerbetreibende, die sich dem KRD zugehörig fühlen. Erkennbar sind diese zumindest über ihre Internetseiten. Dort geben sie als Sitz Wittenberg und als Aufsichtsbehörde das KRD an. Zudem weisen sie darauf hin, dass der Kunde "für die Dauer der Geschäftsbeziehung ... eine temporäre Zugehörigkeit zum Gemeinwohlstaat Königreich Deutschland" besitze. Einzelne Unternehmen und Personen aus Thüringen bieten zudem über das KRD-eigene Portal "KaDaRi" Waren und Dienstleistungen an. Die Bezahlung erfolgt dabei über die Fantasiewährung "Engelsmark" ("E-Mark") des KRD. Der Phänomenbereich der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" ist strukturellen Schwankungen unterworfen, aufgrund derer Gruppierungen an Bedeutung verlieren oder gewinnen. Im Berichtszeitraum weitete die bundesweit agierende Gruppierung "Indigenes Volk Germaniten" (IVG) ihre Aktivitäten aus. Eigenen Angaben nach erfolgte die Gründung des IVG bereits im Jahr 2010. Angehörige dieser Gruppierung bezeichnen sich als "Nachfahren der germanischen Völker / Stämme". Die Existenz der Bundesrepublik Deutschland wird durch die Angehörigen der Gruppierung nicht in Frage gestellt. Einem Staat rechnen sie sich aber auch nicht zu. Im Umkehrschluss ist naheliegend, dass geltendes Recht für nicht bindend erachtet wird. So werden beispielsweise bundesdeutsche Ausweisdokumente als rechtswidrig abgelehnt. Auch in Thüringen konnten vereinzelt Aktivitäten des IVG wahrgenommen werden, z. B. in Form von Schreiben an Behörden in Thüringen. Zu realweltlichen Treffen in Thüringen liegen bislang keine Erkenntnisse vor. 3. Entwicklung Die Relevanz des Phänomenbereichs "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" ist weiterhin hoch. Die Szene umfasst ideologisch stark gefestigte Personen, aber auch Trittbrettfahrer weitgehend ohne ideologischen Bezug. Bei Letzteren herrscht eine große Fluktuation innerhalb des Spektrums. Im Berichtszeitraum konnten umfangreiche Erkenntnisse zu Akteuren gewonnen werden, die sich entweder erstmals mit der Ideologie befassen oder sich bereits 61 in der Vergangenheit mit der Ideologie identifiziert haben und diese nun offensiver als zuvor praktizieren. Während ein Teil der im Phänomenbereich festgestellten Personen allein und nur für sich handelt, sind daneben feste Gruppierungen sowie eher lose Verbindungen aktiv. Die Vernetzung und Solidarisierung erfolgt sowohl online als auch auf zahlreichen realweltlichen Treffen. Hier werden Anleitungen und Handreichungen geboten, wie man sich gegen die "BRDGmbH" aufstellt. Die Akteure prägen eine tief verwurzelte Unzufriedenheit und ein fundamentales Misstrauen gegenüber dem politischen System und den Behörden. Ihre Ablehnung staatlicher Maßnahmen verankern die Szeneangehörigen in einem geschlossenen, durch Verschwörungserzählungen geprägten Weltbild. Je nach Tiefe der Ausprägung können sich hieraus erhebliche Aggressionen und somit Gefahrensituationen für die Allgemeinheit entwickeln. Immer wieder werden - oftmals gewaltorientierte - Widerstandshandlungen bei der Umsetzung behördlicher Maßnahmen registriert. Nicht zuletzt die bekannte Waffenaffinität der Szene sowie das Ausmaß des Strafverfahrens wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung gegen die Gruppierung um Heinrich XIII. Prinz Reuß belegen das besondere Gefährdungspotenzial. Die künftige Entwicklung des Phänomenbereichs dürfte maßgeblich von dem in der Szene empfundenen Verfolgungsdruck bestimmt werden. Entschlossenes Behördenhandeln und das Durchsetzen von Gesetzen dürften zumindest den noch nicht fest ideologisierten Teil der Szene zum Umdenken bewegen. Dies betrifft insbesondere den Entzug von waffenrechtlichen Erlaubnissen bzw. die Ablehnung von Anträgen auf Erteilung einer waffenrechtlichen Erlaubnis bei "Reichsbürgern". An diesen Verfahren wirkt das AfV durch Meldungen an die örtlichen Waffenbehörden nach den Regelungen im Waffengesetz (SSSS 4 und 5) sowie auf Grundlage von SS 21 ThürVerfSchG mit. Ohne ein robustes Handeln des Staates gegenüber den Akteuren des Phänomenbereichs könnte sich das Anhängerpotential weiter stabilisieren oder sogar deutlich anwachsen. Die Intensität dieses Trends dürfte unter anderem von der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse abhängig sein. 62 IV. Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates (VDS) Seit April 2021 bearbeitet das AfV in Abstimmung mit den anderen Sicherheitsbehörden im Verfassungsschutzverbund den Phänomenbereich der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" (VDS). Die Verfassungsschutzrelevanz von Delegitimierung ergibt sich aus einer Agitation, die sich grundsätzlich gegen staatliche Verfahren, gegen demokratisch legitimierte Verantwortungsträger des Staates oder staatliche Institutionen richtet. Die thematische Ausrichtung hingegen ist oft flexibel und lehnt sich an aktuelle gesellschaftliche Debatten an, sofern sie eine Kontroverse versprechen. Dabei beabsichtigen Akteure des Phänomenbereiches durch systematische Verächtlichmachung kollektiv bindender Entscheidungen und Prozesse, das Vertrauen in die demokratisch legitimierten Vertreter und in das staatliche System insgesamt zu erschüttern. Der Phänomenbereich macht sich dabei verschiedene Verschwörungstheorien zu eigen, in deren Zentrum oftmals vermeintlich im Verborgenen agierende global vernetzte Eliten stehen, die vermittels oder unter Duldung demokratisch legitimierter Akteure eine Zerstörung bestehender gesellschaftlicher Strukturen erreichen möchten. Oft orientieren sich die Theorien an bestehenden antisemitischen Stereotypen und verschränken sich mit vergleichbaren Theorien in anderen Phänomenbereichen wie dem Rechtsextremismus, bestimmten Strömungen des Linksextremismus sowie den "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern". Im Jahr 2023 war ein Abflachen der allgemeinen Protestbewegung zu beobachten, die an einigen Orten auf einen extremistischen Kern abschmolz. Dieser Kern versteht sich jedoch weiterhin als Stimme einer Massenbewegung und erhofft sich eine erneute Mobilisierungswelle durch äußere Ereignisse. Von diesem Kern der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung, einzelner Reichsbürger, sowie Rechtsextremisten geht dennoch eine herauszuhebende Bedrohung für die freiheitlich demokratische Grundordnung aus. Sie ergibt sich aus dem Zusammentreffen eines abgeschlossenen verschwörungstheoretischen Weltbildes mit einer Phase, in der die eigenen Ambitionen nicht erfüllt werden: Das bedeutet, dass die Kerngruppe die Überzeugung äußert, staatliches Handeln sei fremdbestimmt und diene vor allem zur Bereicherung "interessierter Kreise im Ausland". Dies kann einen Handlungsdruck erzeugen und zum Widerstand auch dann ermutigen, wenn die Unterstützung der Bevölkerung ausbleibt. 63 1. Personenpotenzial Der Phänomenbereich VDS zeichnet sich durch eine organisatorisch und ideologisch heterogene Zusammensetzung aus. Meist agieren diese Personen als Einzelakteure oder in losen Personenzusammenschlüssen, die jedoch durch virtuelle Agitation oft weit über ihr soziales Umfeld hinauswirken. Etwa 30 Personen wurden im Berichtszeitraum dem VDS-Spektrum zugeordnet, davon waren fünf als gewaltorientiert einzustufen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche Akteure ideologisch und/oder organisatorisch primär anderen Phänomenbereichen zuzurechnen sind, zugleich aber auch tatsächliche Anhaltspunkte für Betätigungen im Bereich VDS aufweisen. Sie gehen in dem ausgewiesenen VDS-Personenpotenzial nicht auf, um Mehrfacherfassungen zu vermeiden. Die zunächst hohe Beteiligung an den sog. Montagsspaziergängen nahm bis zur Jahresmitte sukzessive ab und stagnierte von da an bei wöchentlich ca. 2.000 Teilnehmenden. Dabei war das Protestgeschehen insgesamt durch eine als bürgerlich zu klassifizierende Klientel geprägt. Im Laufe des Jahres kristallisieren sich Erfurt, Weimar, Gera, Zeulenroda-Triebes und Leinefelde-Worbis als Schwerpunktorte des Protestgeschehens mit Extremismusbezug heraus. In diesen fünf Städten konnte ein erheblicher Einfluss von Rechtsextremisten und "Reichsbürgern", vor allem durch Aufrufe in sozialen Medien sowie durch Organisation der Versammlung und Redebeiträgen festgestellt werden. Das Protestgeschehen in Leinefelde wird letztlich durch Rechtsextremisten geprägt und daher dem Phänomenbereich Rechtsextremismus zugeordnet. Die Unterstützung der VDS-geprägten Protestaktionen durch die AfD Thüringen intensivierte sich im Frühjahr. Mitglieder der AfD Thüringen sind bei Versammlungen der Protestinitiativen aufgetreten und Protestinitiativen haben für Veranstaltungen der AfD Thüringen mobilisiert. In Ostthüringen kann zudem eine Vernetzung der Protestinitiativen mit dem rechtsextremistischen "COMPACT-Magazin" festgestellt werden.27 Dies zeigte sich beispielsweise durch die Teilnahme des "COMPACT-Magazins" an Veranstaltungen in Gera. 27 Siehe Verfassungsschutzbericht 2022 des Bundesministeriums des Innern und für Heimat. 64 2. Versammlungen Während Anfang des Jahres der thematische Schwerpunkt bei den Montagsprotesten auf dem Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine und den damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen wie der Verteuerung von Energieund Lebenshaltungskosten lag, geriet in der zweiten Jahreshälfte die Migrationsund Flüchtlingspolitik stärker in den Fokus. Ab Juli wurden zunächst bei den Protesten in Gera und dann thüringenweit die sog. Thüringen Nickis getragen, die indikativ für die delegitimierende Zielsetzung des extremistischen Personenanteils der Protestspektrums sind: Auf der Vorderseite ist ein Protestsymbol der jeweiligen Initiative abgebildet, auf der Rückseite ein Bild eines Politikers mit der Überschrift "schuldig". Obwohl nicht in jedem Fall strafbewehrt, zielt die verächtlichmachende Darstellung demokratisch gewählter Amtsträger als schuldige "Verbrecher" darauf ab, das Vertrauen in die Arbeit der Amtsträger zu erschüttern. 3. Bewertung Im Berichtszeitraum konnte bereits eine erhebliche Vernetzung der Protestinitiativen mit anderen zum Teil überregionalen extremistischen Akteuren wie dem "COMPACT-Magazin" festgestellt werden, sodass im Wahljahr 2024 mit einer Intensivierung dieser Aktivitäten zu rechnen ist. Im Vergleich zu den zahlenmäßig größeren Protesten im Jahr 2022 hat sich nun bei den meisten Protestinitiativen eine extremistische Kerngruppe etabliert, die regelmäßig an den montäglichen Versammlungen teilnimmt. Es bestehen intensive Kennverhältnisse zwischen den Protagonisten der extremistischen Protestinitiativen, die unter anderem dazu genutzt werden, durch wechselseitige Besuche die Teilnehmerzahlen lokal zu steigern. Damit soll der Eindruck größerer Breitenwirkung und Akzeptanz erzeugt werden. Ebenfalls der Suggestion erheblicher Mobilisierungswirkung dienen virtuelle Vernetzungsaktivitäten, die sich auch über 2023 hinaus fortsetzen dürften: Einzelne Protestinitiativen betreiben eigene YouTube-Kanäle im Rahmen derer sie Videos der organisierten Versammlungen bereitstellen. Als zentrale Mobilisationsplattform für das Protestgeschehen in Thüringen fungiert auch weiterhin der Telegram-Kanal "Freies Thüringen". Dabei wird vermittels 65 Bildunterschriften, Videoschnitt und wechselseitiger Weiterleitungen ebenfalls darauf abgestellt, es gäbe "Massenproteste". Die weitere Entwicklung des Protestgeschehens wird von politischen Schwerpunktthemen und der Fähigkeit des extremistischen Protestspektrums abhängen, diese Themen für sich zur Mobilisierung zu nutzen. Insbesondere das Thema Migration und Asylpolitik ist dazu geeignet, Personen des genannten Phänomenbereichs in erheblichem Maße zu mobilisieren, über den Phänomenbereich hinaus Rechtsextremisten anzusprechen und Bürgern vor Ort zu signalisieren, man trete - anders als die "etablierte Politik" - für 'ihre' Interessen ein. 66 V. Islamismus 1. Ideologischer Hintergrund Islamismus stellt eine Form des politischen Extremismus dar, der die Religion des Islam für politische Zwecke missbraucht und ideologisiert. Der Islam als Glaubenslehre ist klar von dieser extremistischen Ideologie abzugrenzen. Sowohl der Glaube als auch die religiöse Praxis sind durch das in Artikel 4 Grundgesetz verbriefte Recht auf Religionsfreiheit geschützt. In Abgrenzung zum Islam beginnt Islamismus dort, wo durch religiöse islamische Gebote und Normen als verbindliche politische Handlungsanweisungen ein Ausschließlichkeitsanspruch gegenüber anderen gesellschaftlichen Modellen postuliert wird. So reklamieren Islamisten für sich, den einzig "wahren Islam" zu vertreten und streben in Deutschland nach einer teilweisen bzw. vollständigen Abschaffung zentraler Kernelemente des Grundgesetzes zugunsten der Verwirklichung einer dogmatisch rigorosen islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung als Gegenentwurf zur westlichen Demokratie. Richtschnur für das angestrebte Modell eines islamischen Staates ist die Anwendung des islamischen - gottgegebenen - Rechts, das von einem eng gefassten, konservativen Islamverständnis geprägt wird. Diese Staatsund Gesellschaftsordnung ist in weiten Teilen nicht mit den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland vereinbar. 1.1 Salafismus Der Salafismus war über eineinhalb Jahrzehnte die islamistische Strömung mit dem stärksten Wachstum in Deutschland, wenngleich seit den letzten Jahren die Anhängerzahlen leicht rückläufig sind. Die salafistische Bewegung in Deutschland weist 10.500 Anhänger auf (2022: 11.000). Der Salafismus orientiert sich an einer idealisierten muslimischen Urgesellschaft, wie sie im siebten und achten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel vermeintlich existierte. Anhänger dieser Strömung zeigen sich überzeugt, im Koran und in prophetischen Überlieferungen ein genaues Abbild dieser Frühzeit des Islam gefunden zu haben und versuchen, die in diesem Sinne verstandenen Gebote Gottes wortgetreu umzusetzen. Salafisten lassen dabei theologische und soziopolitische Entwicklungen unberücksichtigt, die sich in den vergangenen 1.300 Jahren vollzogen haben. 67 Infolge diverser Vereinsverbote in den vergangenen fünf Jahren und des Verfolgungsdrucks durch die Sicherheitsbehörden setzt sich bundesweit die Fragmentierung der salafistischen Szene fort.28 Dabei lässt sich ein Verschwimmen von Grenzen infolge von Überschneidungen zwischen verschiedenen islamistischen Strömungen beobachten. Die salafistische Ideologie widerspricht in wesentlichen Punkten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, allen voran dem Gebot, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, das seinen Einfluss durch Wahlen und Abstimmungen ausübt. Der Kern der salafistischen Ideologie läuft dieser gesetzlich verankerten Volkssouveränität zuwider, indem Gott als der einzig legitime Souverän und Gesetzgeber postuliert wird. Demzufolge bildet für die Salafisten nicht die Selbstbestimmung des Volkes die Grundlage der staatlichen Herrschaftsordnung, sondern ausschließlich der Wille Gottes. Verwirklicht wird dieser durch die uneingeschränkte Anwendung der Scharia auf der Basis eines wörtlichen und strengen Verständnisses von Koran und Sunna. Die Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition ist in diesem politischen System der Salafisten folglich eben so wenig vorgesehen wie eine Gewaltenteilung oder die Unabhängigkeit der Gerichte. Salafisten lehnen alle Normen ab, die auf menschlicher Rationalität und Logik basieren. Die Implementierung der Scharia geht mit der Einschränkung der Menschenrechte einher. Es wird zwischen dem politischen und jihadistischen Salafismus unterschieden. Die Anhänger beider Strömungen eint eine extremistische Ideologie und die damit verbundenen Ziele. Sie unterscheiden sich lediglich in der Option der Gewaltanwendung, um ihre Ziele umzusetzen. Gemein sind ihnen ein Alleinvertretungsanspruch bezüglich einer absoluten göttli28 Im November 2016 wurden das Missionierungsnetzwerk "Die wahre Religion" (DWR) und die damit assoziierte Koranverteilaktion "LIES!" verboten. Das Verbot des Berliner Moscheevereins "Fussilet 33 e. V." folgte im Februar 2017. Weitere Verbote ergingen im März 2017 bezüglich der Vereine "Deutschsprachiger Islamkreis Hildesheim e. V." und "Almadinah Islamischer Kulturverein e. V." in Kassel im März 2017. Die Verbote gründen jeweils auf dem Agieren der Netzwerke und Moscheevereine gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung unter Verbreitung und Verfestigung der salafistischen Ideologie. Dies reicht von einer Befürwortung sowie dem Aufruf zu Gewalt bis hin zur Ausreise in die Jihadgebiete, um sich dort dem Kampf terroristischer Gruppierungen anzuschließen. Zudem hat das BMI im Mai 2021 den salafistischen Spendensammelverein "Ansaar International e. V." und seine Nebenorganisationen verboten. Der Verein richtete sich mit seinen Aktivitäten gegen den Gedanken der Völkerverständigung sowie die verfassungsmäßige Ordnung. 68 chen Wahrheit und die darin wurzelnde Absicht, die deutsche Rechtsordnung und Gesellschaft langfristig entsprechend ihres enggefassten ideologisierten Islamverständnisses umzugestalten. Sie streben nach der Errichtung eines politischen Systems auf der Grundlage ihrer strengen Interpretation der Scharia, mit einem Kalifen als religiösem und politischem Oberhaupt. Der politische Salafismus bezeichnet eine breit gefasste heterogene Sammlungsbewegung. Anhänger dieser Strömung folgen einer streng puristischen Lebensweise nach dem von ihnen wahrgenommenen Vorbild der islamischen Frühzeit z. T. unter Ablehnung theologischer und politischer Entwicklungen. Hauptkennzeichen des politischen Salafismus ist die systematische Missionierung (Da'wa), mit deren Hilfe die extremistische Ideologie weite Verbreitung findet. Diese Propagandaarbeit erfolgt virtuell in Form unzähliger salafistischer Auftritte im Internet, auf denen mit Islaminteressierten über Fragen zur Religion diskutiert und salafistische Literatur verbreitet wird, und in der Realwelt in Form von islamischen Informationsständen, Islamseminaren und Spendenaktionen. Der Übergang zum jihadistischen Salafismus ist angesichts des ambivalenten Verhältnisses politischer Salafisten zur Gewalt fließend. Während die Mehrheit der politischen Salafisten religiös legitimierte Gewalt zur Verteidigung ihres Glaubens nicht prinzipiell ablehnt, vermeidet sie es jedoch, offen zur Anwendung von Gewalt aufzurufen. Jihadistische Salafisten erachten es im Gegensatz dazu für unerlässlich, dass der Geltungsanspruch ihrer Ideologie sowie der Wandel bestehender sozialer und politischer Verhältnisse nach den Vorgaben eines göttlichen Heilsplans mit Gewalt verwirklicht werden müsse. So deuten sie das klassisch islamische Jihad-Konzept, das primär die Überwindung innerer Widerstände im Streben nach einem gottgefälligen Leben und dem untergeordnet ursprünglich eine defensive Form der Kriegsführung verkörpert, in ein revolutionäres Jihad-Konzept um. Damit erklären Jihadisten die Teilnahme am bewaffneten Kampf zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims und rufen zum Kampf gegen vermeintliche Feinde des Islam auf, d. h. all jene, die sich außerhalb ihres eigenen strengen salafistischen Regelwerks bewegen wie Atheisten, Polytheisten, Christen, Juden und sogar kritische und weniger puristische Muslime. Anhänger dieser militanten Gewaltideologie wähnen sich in einem Jihad gegen "den Westen", in dem sie eine Avantgarde verkörperten, die die Initiative zur Verteidigung des Islam ergreife und eine gewaltsame Ausbreitung des Islam bzw. ihres rigorosen Islamverständnisses anstrebe. 69 1.2 Legalistischer Islamismus Anders als jihadistische Gruppierungen sind legalistische, nicht gewaltorientierte islamistische Gruppen bestrebt, durch Missionierung Anhänger für ihre Lesart des Islam zu gewinnen und über karitative und gesellschaftspolitische Lobbyarbeit die Umformung des demokratischen Rechtsstaats in einen islamischen Staat unter Anwendung der islamischen Rechtsprechung zu erlangen. Richtschnur ihres Handelns ist eine strenge Lesart des Korans und die Anwendung der Scharia, was einen Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes darstellt. Beispielhaft seien die ägyptische "Muslimbruderschaft" und ihre Ableger in Deutschland, die in Indien gegründete transnationale Missionierungsbewegung "Tablighi Jama at" als auch die "Milli Görüs"-Bewegung und "Garde 20-Gemeinschaft" - beide türkisch geprägt - genannt. 1.3 Schiitischer Islamismus Schiitischer Islamismus knüpft in Abgrenzung zum sunnitischen Islamismus an spezifische Vorstellungen der schiitischen Theologie und politischen Lehre an und wird vom theokratischen Herrschaftskonzept "Velayat-e faqih" des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Ruhollah Khomeini29 gekennzeichnet. Dieses umfasst die Verwirklichung eines islamischen Staats auf der Grundlage der Scharia, angeführt von schiitischen Rechtsgelehrten, die den seit 941 in die Verborgenheit entrückten Mahdi, ein Nachfahre des Propheten Muhammad über dessen Tochter Fatima und Schwiegersohn Ali Ibn Abi Talib, stellvertreten. Khomeini forderte einst ebenso wie sunnitische islamistische Gruppierungen eine Rückbesinnung auf die Ursprünge des Islam und propagierte unter Ablehnung von Demokratie und Säkularismus die Vision einer weltweiten Islamisierung. 2. Gefährdungsbewertung für die Bundesrepublik Deutschland In den zurückliegenden Jahren hatte sich die Bedrohungslage auf hohem Niveau in der Bundesrepublik Deutschland stabilisiert. Die im Berichtsjahr erfolgten Koranschändungen in einigen europäischen Ländern sowie die Entwicklungen im Nahen Osten als Folge der Terroranschläge gegen den Staat Israel bewirken eine weitere Anspannung der Sicherheitslage, die sich mit jedem weiter eingreifenden Akteur und der Verschlechterung der humanitären Situation im Gazastreifen verschärft. 29 Der Religionsgelehrte Khomeini (1902-1989) führte die Islamische Revolution 1978/1979 im Iran an und lenkte nach dem Sturz des Schahs Mohammad Reza Pahlavi die Staatsgeschäfte der neu gegründeten Islamischen Republik Iran als religiöses und politisches Oberhaupt bis zu seinem Tod. 70 Islamistische Terrororganisationen wie der "Islamische Staat" (IS) nutzen Deutschland längst nicht mehr als Rückzugsraum oder zur Finanzierung von Aktivitäten im Ausland, sondern betrachten Deutschland als legitimes Ziel für Anschlagspläne. Bereits die Koranverbrennungen in Schweden wurden zum Anlass genommen, die jihadistische Szene zu mobilisieren und zu Racheakten im Westen aufzurufen. Trotz gegensätzlich ideologischer Ausrichtung solidarisieren sich Terrororganisationen wie der IS und das "Al-Qaida" Netzwerk (AQ) nach dem Angriff der "Harakat al-Muqawama al-Islamiya (HAMAS)30 auf Israel mit HAMAS und "HIZB ALLAH"31. Verbunden durch die Ziele Antisemitismus und Vernichtung des Staates Israel machen sich IS und AQ das Emotionalisierungsund Mobilisierungspotenzial jihadistischer Akteure im In-und Ausland zunutze und rufen im Kampf gegen Israel, das Judentum und den verbündeten Westen zu Terroranschlägen auf, wodurch das Gefahrenpotenzial in der Bundesrepublik Deutschland deutlich gestiegen ist. Diese Gefahr wird durch Desinformation und Propaganda zusätzlich befeuert und kann dazu führen, dass radikalisierte, auch irrational agierende, allein handelnde Täter, die durch die Ereignisse und die Lage in Israel bzw. Gaza emotionalisiert und inspiriert werden, den gegenwärtigen Konflikt zum Anlass für spontane Gewalttaten nehmen. Hier geht die akute Gefahr von dem zentralasiatischen IS-Ableger "Provinz Khorasan" (ISPK) aus. Der Ableger mit Ursprung in Afghanistan gründete sich 2014. "Khorasan" ist eine historische Region in Zentralasien, welche Gebiete des heutigen Iran, Afghanistan, Turkmenistan, Tadschikistan sowie Usbekistan umfasst. In Afghanistan steht der ISPK in Konkurrenz zu den Taliban und wird von diesen bekämpft. Die Ideologie des ISPK zielt darauf ab, sein Territorium sowie die islamische Welt von "Kreuzfahrern" und deren Einfluss zu reinigen und ein weltweites Kalifat zu schaffen. Das Netzwerk hat seinen Fokus auf das Ausland erweitert und beschränkt seine terroristischen Aktivitäten nicht nur auf Afghanistan, sondern hat bereits Anschläge in verschiedenen Ländern verübt und auch für Deutschland Anschlagsvorhaben formuliert und geplant. Der ISPK ist derzeit die größte islamistische Bedrohung und stellt die Behörden vor besondere Herausforderungen hinsichtlich Schutzund Sicherheitsmaßnahmen. 30 Bei der HAMAS handelt es sich um eine sunnitisch-extremistische Organisation, die sich aus dem palästinensischen Teil der Muslimbruderschaft entwickelte und mit Beginn der ersten Intifada (Palästinenseraufstand) im Jahre 1987 gegründet wurde. Ziel der HAMAS ist die Vernichtung des Staates Israel und die damit einhergehende Errichtung eines eigenen Staates auf dem gesamten Gebiet "Palästinas". Im Gazastreifen stellt sie die führende politische Kraft dar. Ihre Mitgliederzahl wird auf etwa 80.000 Personen geschätzt. Seit dem Jahr 2003 befindet sich die HAMAS als Terrororganisation auf der EU-Sanktionsliste. 31 Die "HIZB ALLAH" - "Partei Gottes" ist eine islamistisch-schiitische Partei und Miliz im Libanon. Ihr Ziel ist der Widerstand gegen Israel, die Befreiung des Libanon von westlichen Einflüssen sowie die Sicherung der eigenen politischen Machtbasis. Seit dem 26. März 2020 besteht eine Verbotsverfügung des BMI, aus der sich auch die Strafbarkeit der Symbole ergibt. 71 Im April 2023 kam es zu einer Messerattacke in einem Duisburger Fitnessstudio, welche islamistische motiviert war. Der Täter bekannte sich zum IS. Zudem sind zahlreiche Gefährdungssachverhalte bekannt geworden, die Anschlagspläne sowie -vorbereitungen umfassten und durch die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden aufgeklärt und verhindert werden konnten. So führten Gefährdungshinweise zu Anschlagsvorhaben auf den Kölner Dom in der Weihnachtszeit und zu Silvester in Einzelfällen zu Maßnahmen der Sicherheitsbehörden. Es wurden mehrere Personen vorläufig festgenommen, die im Verdacht stehen, als Anhänger des ISPK-Netzwerkes den Anschlag geplant zu haben. Auch das AfV ist einem Hinweis auf Mitgliedschaft bzw. Unterstützung des ISPK von zwei in Thüringen ansässigen Personen nachgegangen, der später in Ermittlungen des Generalbundesanwalts mündete. Das verdeutlicht, dass das Gefahrenpotenzial für mögliche Terroranschläge in Deutschland real und akut ist, so dass jederzeit mit unkoordinierten Spontantaten und Anschlägen durch radikalisierte Einzeltäter und Kleinstgruppen gerechnet werden muss. Neben großen, schwer zu schützenden Zielen sind jüdische/israelische Einrichtungen und jüdische/israelische Personen besonders gefährdet. 2.1 Terrorangriff der HAMAS am 7. Oktober Am frühen Morgen des 7. Oktober startete die HAMAS einen Großangriff unter der Bezeichnung "al-Aqsa-Flut" auf das südliche und mittlere Staatsgebiet Israels. Hierbei wurden mehrere tausend Raketen aus dem Gazastreifen auf verschiedene israelische Ziele abgeschossen. Trotz des israelischen Raketenabwehrsystems kam es aufgrund der hohen Anzahl von Raketen zu Einschlägen auf israelischer Seite. Parallel drangen Kämpfer der HAMAS auf israelisches Staatsgebiet vor und töteten eine hohe Zahl an Zivilisten und nahmen zahlreiche Geiseln. Die israelische Regierung hat nach den Angriffen der HAMAS eine militärische Gegenoffensive gestartet und erklärte am 8. Oktober den Kriegszustand. Die Terroranschläge der HAMAS und die darauffolgende israelische Offensive haben auch Auswirkungen auf die Sicherheitslage in der Bundesrepublik Deutschland. Seit dem 7. Oktober finden sowohl pro-israelische als auch pro-palästinensische Veranstaltungen im Bundesgebiet, einhergehend mit einem erhöhten Emotionalisierungsund zugleich Mobilisierungspotenzial, statt. Dies hat sich unter anderem auch in einem deutlichen Anstieg der politisch 72 motivierten Straftaten mit antisemitischem Hintergrund niedergeschlagen. So registrierte das Bundeskriminalamt allein im Oktober im Bereich der religiösen bzw. ausländischen Ideologie dreimal so viele Vorfälle wie in den gesamten neun Monaten davor. 2.2 Antisemitismus und Desinformation im Islamismus Die älteste Erscheinungsform des Antisemitismus ist die religiös begründete Feindschaft gegenüber Juden. Diese entstand aus einer Absolutsetzung der eigenen religiösen Überzeugungen, die einhergehen mit Ablehnung, Herabwürdigung und Diskriminierung anderer Glaubensformen. Bei zahlreichen islamistischen Organisationen lässt sich eine antisemitische Agitation feststellen, die so weit geht, dass das Existenzrecht Israels negiert und die Vernichtung Israels gefordert wird. Antisemitisches Gedankengut ist aber nicht nur unter Anhängern islamistischer Organisationen vertreten, sondern kommt ebenso in muslimischen Gesellschaftsteilen vor, die keine Islamismusbezüge aufweisen. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel verbreiten sich viele Falschmeldungen und antiisraelische Narrative. Sie knüpfen an bestehende Feindbilder an und sind im Kern antisemitisch. Desinformationen stellen ein Propagandamittel mit dem Ziel der Manipulation von Einstellungen, Meinungen und Gefühlen dar. Sie werden gezielt für politische Zwecke, wie auch bei Konflikten und Kriegen, eingesetzt. Eine besondere Funktion als Multiplikatoren von Desinformationen haben soziale Medien. Auf Facebook, "X", Telegram und Co. können in Sekundenschnelle Nachrichten weitergeleitet und kommentiert werden. So führen auch die im Netz verbreiteten unzähligen falschen Behauptungen, verstörenden Bilder und Videos im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt in Deutschland zu einer Täter-Opfer-Umkehr und heizen die Stimmung auf beiden Seiten der Konfliktparteien weiter auf. Sie tragen zur Emotionalisierung bei und können als Radikalisierungsfaktor fungieren. 2.3 Betätigungsverbot HAMAS Infolge der Geschehnisse am 7. Oktobers wurde die Betätigung der HAMAS in Deutschland am 2. November durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat gemäß SS 3 Vereinsgesetzes verboten. Demnach läuft die Tätigkeit der Vereinigung HAMAS den Strafgesetzen zuwider und richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Zudem beeinträchtigt und gefährdet die Tätigkeit der HAMAS sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Sämtliche mit der HAMAS assoziierten Kennzeichen und Logos sind ebenfalls von dem Verbot umfasst. Darunter auch die vor allem durch den militärischen Arm der "al-Qassam-Brigaden". 73 Wappen der HAMAS Logo des militärischen Flügels der HAMAS, "Izz-al-Din-al-Qassam-Brigaden" 2.4 Ermittlungsmaßnahmen gegen das "Islamische Zentrum Hamburg" und dessen mögliche Teilorganisationen Am 16. November wurden bundesweit Exekutivmaßnahmen gegen das "Islamische Zentrum Hamburg e. V." (IZH) sowie weitere Teilorganisationen an insgesamt 54 Objekten (Vereine, Räumlichkeiten, Personen und Konten) in sieben Bundesländern durchgeführt. Die Maßnahmen richten sich qualitativ gegen einige der wichtigsten schiitischen islamistischen Einrichtungen in Deutschland sowie gegen Personen, die hochrangig in das Revolutionsbüro im Iran eingebunden sind. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat führt gegen das IZH und insgesamt fünf weitere Vereinigungen ein vereinsrechtliches Ermittlungsverfahren. Das IZH steh im Verdacht, sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung zu richten und damit Verbotsgründe nach dem Vereinsgesetz zu erfüllen. Zudem gehen die Sicherheitsbehörden dem Verdacht nach, dass das IZH die in Deutschland verbotenen Aktivitäten der libanesischen Terrororganisation "Hizb Allah" unterstützt. Die oben beschriebenen Exekutivmaßnahmen dienen zur weiteren Aufklärung dieses Verdachts und zur Sicherung von Beweismitteln. 3. Islamismus in Thüringen 3.1 Überblick Islamistische Gruppierungen haben sich in Thüringen bislang kaum strukturell etabliert. Feste, formale Organisationsstrukturen existieren in diesem Sinne im Freistaat weiterhin nicht. 74 Nach wie vor agieren lose Personennetzwerke oder Einzelpersonen, die islamistische Aktivitäten entfalten. In Thüringen lässt sich eine Koexistenz und vereinzelt ein Miteinander der mehrheitlich aus Einzelpersonen bestehenden salafistischen Szene mit anderen islamistischen Strömungen wie der "Islamistischen nordkaukasischen Szene" (INS), Tablighi Jama'at (TJ) und Muslimbruderschaft (MB) ausmachen. Gründe hierfür werden u. a. in der nicht vorgenommenen Selbst-Kategorisierung als Salafi und Tablighi, sondern stattdessen als praktizierender, gläubiger Muslim sowie dem Mangel eines umfangreicheren Moscheenangebots im Freistaat gesehen. Darüber hinaus scheinen Kennverhältnisse aufgrund der gemeinsam bewohnten Gemeinschaftsunterkünfte zu bestehen. Das Potenzial der losen islamistischen Anhängerschaft beläuft sich im Freistaat Thüringen auf ca. 200 Personen. Zwei Drittel davon sind der Strömung des Salafismus zuzurechnen. Die übrigen dem AfV bekannten Islamisten verteilen sich auf die Gruppierungen TJ, MB, "Hizb Allah" und HAMAS sowie die INS. Schriftzug "Tablighi Jama'at" Symbol "Muslimbruderschaft" Logo der "Hizb Allah" 3.2 Islamisten in Thüringer Moscheevereinen Im Freistaat existieren Moscheevereine im unteren zweistelligen Bereich, von denen einzelne als islamistisch beeinflusst sowie als teilweise von Islamisten frequentierte Einrichtungen bewertet werden. Mehrheitlich dienen sie Muslimen als Anlaufstelle zur Verrichtung des freitäglichen Pflichtgebets. Diese Moscheevereine, deren Mitglieder und Besucher sich überwiegend im Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung betätigen, treten bisher nicht selbst als Multiplikatoren der islamistischen Ideologie in Erscheinung. Einige sind unwissentlich über einzelne Besucher islamistischen Einflüssen ausgesetzt und können somit sowohl der Rekrutierung für islamistische Netzwerke als auch als Orte der Radikalisierung dienen. Infolgedessen werden sie auch als mögliche Anlaufstellen und Trefforte zur 75 Kontaktaufnahme und für Zusammenkünfte entsprechender Personen genutzt. Dabei bestehen auch Kennverhältnisse zu Personen aus dem jihadistischen Spektrum. Aufgrund dessen werden Moscheevereine und Gebetsräume im Freistaat nicht insgesamt als salafistische Bestrebung bzw. allgemein islamistisch nachrichtendienstlich beobachtet, sondern vielmehr einzelne relevante Personengruppen. 3.2.1 Salafismus in Thüringen Die einflussreichste Strömung des islamistischen Spektrums in Thüringen bildet analog zum Bundestrend der Salafismus. Die hier vertretene Ideologie ist deutlich männlich dominiert. In den vergangenen Jahren war die salafistische Szene aufgrund von Verbotsund Ermittlungsverfahren sowie durch die Pandemiebeschränkungen kaum sichtbar tätig. Aktivitäten und Missionierungstätigkeiten verlagerten sich in den privaten Bereich oder den virtuellen Raum. Dort professionalisierte sich die Szene zunehmend. Neben den etablierten Kanälen You-Tube und Facebook wurde das Angebot auf die Plattformen Telegram, Instagram und TikTok ausgeweitet. Seit Mitte 2022 ist die Szene wieder verstärkt in der Öffentlichkeit aktiv. Vortragsveranstaltungen, das Auftreten salafistischer Prediger und Aktionen wie Infostände in Fußgängerzonen haben bundesweit zugenommen. So auch in Thüringen, wo erstmals seit dem Berichtszeitraum 2014/2015, wieder einschlägige Unterrichtsangebote und Seminare überregional agierender salafistischer Akteure festgestellt werden konnten. Aktivitäten von Salafisten im Internet lassen sich seit Jahren beobachten. Es ist das wichtigste Kommunikationsund Propagandamedium, da es grenzüberschreitend schnelle Kommunikation und Interaktion ermöglicht. Neben der leichten Verfügbarkeit von Informationen erleichtert es das Internet, Kontakt zu Gleichgesinnten aufzunehmen und sich miteinander auszutauschen. Durch das Internet erhalten Akteure Zugang zur digitalen Öffentlichkeit, um Propaganda im Netz zu konsumieren und auch zu verbreiten. So genießt das Internet gerade bei Jugendlichen einen hohen Stellenwert und verhilft oftmals zum ersten Einstieg in die Szene. Die Aussagen der salafistischen Influencer können erhebliche Auswirkungen im Lebensalltag für Jugendliche haben. Durch extremistische Medieninhalte werden Radikalisierungsprozesse verstärkt und beschleunigt. Dabei gilt das Internet nicht als alleiniger Auslöser, da eine Radikalisierung von einer Vielzahl von Faktoren abhängt. 76 3.3 Terrorangriff der HAMAS, Reaktionen in Thüringen Auch in Thüringen kam es infolge des Terrorangriffs der Hamas auf Israel zu einem Anstieg des Veranstaltungsgeschehens, welches eng mit der Entwicklung im Nahen Osten verknüpft und somit schwankend ist. Es überwogen pro Israel-Demonstrationen gegenüber den Veranstaltungen mit pro palästinensischem Charakter. Bis auf sehr wenige Ausnahmen verliefen die Veranstaltungen störungsfrei. Ebenso kam es in sehr wenigen Fällen zu politisch motivierten Straftaten. Die Reaktionen der islamistischen Szene in den sozialen Medien zum terroristischen Angriff der HAMAS waren zurückhaltend. Neben Aufforderungen zur Solidarität mit Palästina, der Forderungen nach Beendigung der Kampfhandlungen, antisemitischen Äußerungen, wie die Aberkennung des Existenzrechts Israels, wurden offene Sympathiebekundungen für die HAMAS kaum kommuniziert. 3.4 Reisebewegungen aus Thüringen Die Bundesanwaltschaft hat am 30. Januar vor dem Staatsschutzsenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena Anklage gegen eine nach Syrien ausgereiste Frau aus Thüringen erhoben. Die Angeklagte habe sich durch ihre Ausreise im März 2015 und ihrem sich daran anschließenden Verhalten im Herrschaftsgebiet des IS einer terroristischen Vereinigung im Ausland angeschlossen, deren Weltbild und gewaltsame Vorgehensweise sie zunächst geteilt und befürwortet habe. Durch ihre Heirat mit einem Kämpfer der IS-Truppen im April 2015, mit der Haushaltsführung und Kindererziehung, habe sie die Beteiligung ihres Ehemanns an den Kampfhandlungen des IS gefördert und sich in die Organisationsstrukturen des IS eingefügt. Während ihres Aufenthalts in Syrien war sie zeitweise im Besitz einer Waffe, wodurch sie gegen das Waffengesetz verstoßen habe. Die Angeklagte wurde am 12. Juni wegen mitgliedschaftlicher Betätigung in einer terroristischen Vereinigung im Ausland (SS 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB, SS 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB) und Verstoßes gegen das Waffenrecht (SS 51 Abs. 1, SS 1 Abs. 2 Nr. 1, SS 2 Abs. 3 WaffG) zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. 77 VI. Auslandsbezogener Extremismus (ohne Islamismus) 1. Hintergrund Auslandsbezogener Extremismus ist ein Sammelbegriff für Aktivitäten von heterogenen extremistischen und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen außerhalb des Islamismus, die überwiegend aus politischen, sozialen oder ethnischen Konflikten in den jeweiligen Herkunftsländern hervorgegangen sind. Ausländerextremistische Bestrebungen im Sinne des Verfassungsschutzes zielen auf mitunter gewaltsame Veränderungen der Verhältnisse in den Herkunftsländern ab, wobei Deutschland überwiegend als sicherer Rückzugsraum oder für propagandistische Zwecke genutzt wird. Diese Aktivitäten können gleichwohl die innere Sicherheit bzw. das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland gefährden, mitunter verstoßen sie auch gegen das Prinzip der Völkerverständigung. Akteure des auslandsbezogenen Extremismus, die auch ideologische Elemente des Rechtsund Linksextremismus aufweisen, sind u. a. die rechtsextremistische türkische "Ülkücü"Bewegung, die marxistisch-leninistische "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP), welche seit 2002 als Terrororganisation gelistet ist, separatistische Sikh-Organisationen und die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), welche in Thüringen unter den ausländerextremistischen Gruppierungen den Bearbeitungsschwerpunkt darstellt. Einige dieser extremistischen Akteure haben den am 7. Oktober von der HAMAS durchgeführten Terrorangriff auf Israel32 zum Anlass genommen, öffentlich ihre antisemitischen und anti-israelischen Positionen zu verbreiten, zu Hass und Gewalt gegen Juden und Jüdinnen aufzurufen und Israel das Existenzrecht abzusprechen. In diesem Zusammenhang tat sich das internationale Netzwerk "Samidoun - Palestinian Solidary Network" (Samidoun) hervor. Mit Verfügung vom 2. November hat die Bundesministerin des Inneren und für Heimat die Betätigung des internationalen Netzwerks in Deutschland verboten. Seine Teilorganisation 32 Siehe dazu Abschnitt V., Kapitel 2.1 und 3.3. 78 "Samidoun Deutschland" - auch agierend unter "HIRAK - Palestinian Youth Mobilization Jugendbewegung Germany" wurde verboten und aufgelöst. Zur Begründung hieß es, dass die Vereinigung gegen den Gedanken der Völkerverständigung sowie das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern verschiedenster Gruppen sowie die öffentliche Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland verstoßen hat. Das Verbot umfasst neben Internetseiten und E-Mail-Adressen auch Kennzeichen des Netzwerkes sowie die öffentlich geäußerte Parole "From the river to the sea". Samidoun wurde 2011 von im Ausland lebenden Mitgliedern der "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) vorgeblich zur Unterstützung von palästinensischen Gefangenen gegründet. Der tatsächliche Zweck besteht jedoch in einem grundsätzlichen und globalen "Befreiungskampf" gegen den Staat Israel. Samidoun fordert die Errichtung eines palästinensischen Staates vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer, welcher das ganze israelische Staatsgebiet umfasst. Die Formulierung "From the river to the sea, Palestine will be free", welche oft von unterschiedlichen Akteuren bei Veranstaltungen und Demonstrationen gegen Israel gerufen wird, ist ein antisemitischer Ausdruck in Verbindung mit Vernichtungs-Antizionismus. Das Territorium vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer umfasst auch das heutige Staatsgebiet Israels. Die Forderung extremistischer Akteure nach einer "Befreiung Palästinas vom Fluss bis zum Meer" beinhaltet unzweideutig den Anspruch auf das gesamte Gebiet des ehemaligen britischen Mandatsgebiets "Palästina" und hätte zwangsläufig die Auslöschung des Staates Israel zur Folge. Im öffentlichen Raum entfaltet die Parole über den Wirkkreis hinaus eine gegen den Staat Israel und "die Juden" generell gerichtete feindliche, von Hassgefühlen durchsetzte, aggressive Atmosphäre. 2. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) 2.1 Überblick, allgemeine Lage Die PKK wurde 1978 in der Türkei von Abdullah Öcalan gegründet. In der Folgezeit sind im Zusammenhang mit ihr auch die Bezeichnungen "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK), "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA GEL), "Gemeinschaft der Kommunen 79 in Kurdistan" (KKK) und "Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" (KCK) in Erscheinung getreten.33 Seit dem 22. November 1993 unterliegt die Partei in Deutschland einem bis heute gültigen Betätigungsverbot, welches sich auch auf die o. g. Nachfolgeorganisationen erstreckt. Darüber hinaus steht sie als terroristische Organisation seit 2002 auf der EU-Terrorliste.34 Der seit 1999 inhaftierte Parteigründer Abdullah Öcalan steht weiterhin formal an der Spitze der Organisation. Er wird von ihren Anhängern nach wie vor als Symbolfigur verehrt. Dementsprechend ist die Forderung nach seiner Freilassung eines der Hauptanliegen der Partei und ihrer Unterstützer, auch in Deutschland. Eine Änderung der grundsätzlich angestrebten Ziele ergab sich hingegen seit etwa 20 Jahren dahin, dass nicht mehr ein autonomer Kurdenstaat - auch unter Gewalteinsatz in Form eines Guerillakrieges - geschaffen werden soll, sondern die Anerkennung der sozialen und kulturellen Eigenständigkeit der Kurden innerhalb der staatlichen Ordnung der Türkei eingefordert wird. Dabei bedient sich die PKK weiterhin einer Doppelstrategie: Um ein friedliches Erscheinungsbild gegenüber der westeuropäischen Öffentlichkeit bemüht, werben ihre Anhänger bei Kundgebungen oder anlassbezogenen Gedenkund Kulturveranstaltungen vordergründig um politische Anerkennung ihrer Interessen. Zugleich unterhält die Partei in der Türkei und der nordirakischen Grenzregion noch immer bewaffnete "Volksverteidigungskräfte" (HPG), die ihre Ziele mit militärischer Gewalt erreichen sollen. 2.2 Strukturen der Organisation Auf Europaebene bestimmt der "Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa" (KCDK-E) die politischen Geschicke der Partei. Diesem sind die Strukturen 33 Die Strukturen blieben denen der Ursprungsorganisation gleich, weswegen von den Sicherheitsbehörden weiterhin die Bezeichnung PKK verwendet wird. 34 Nachdem der Europäische Rat im September 2001 die Bekämpfung des Terrorismus zu einem vorrangigen Ziel der EU erklärte, ist die PKK seit 2002 auf der in diesem Zusammenhang eingerichteten sogenannten EUTerrorliste notiert. Dort können Personen, Vereinigungen und Körperschaften erfasst werden, wenn eine zuständige Behörde eines EU-Mitgliedstaats über Beweise oder schlüssige Indizien für deren Involvierung in terroristische Handlungen verfügt. Konsequenz der Listung ist insbesondere das Einfrieren von Geldern und Vermögenswerten terrorismusverdächtiger Personen und Organisationen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied 2018, dass die Listung der PKK im Zeitraum 2014 bis 2017 mangels einer ausreichenden Begründung rechtswidrig war. Konkrete Auswirkungen hat das Urteil allerdings nicht, da es für 2018 eine neue Durchführungsverordnung des Rates der Europäischen Union zur sogenannten EU-Terrorliste gibt, in der die PKK aufgeführt ist und die durch das Urteil nicht infrage gestellt wird. 80 auf Nationalstaatsebene untergeordnet. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es dabei neun Regionen mit 31 Gebieten, die sich wiederum in "Teilgebiete" untergliedern. In Thüringen besteht mit dem "Teilgebiet Erfurt" bislang eine etablierte Struktur der PKK, welche organisatorisch dem "Gebiet Kassel" angeschlossen ist. Die PKK-Anhängerschaft im "Teilgebiet Erfurt" umfasst ca. 130 Personen (2022: 130). Die umzusetzenden Vorgaben und Anordnungen der KCDK-E-Leitung werden durch Gebietsund Teilgebietsleiter zur Basis transportiert. Der Teilgebietsleiter ist zudem auch für die Mobilisierung zu Veranstaltungen, die Verteilung und den Verkauf von Propagandamaterial sowie die Spendensammlungen verantwortlich. Die Basis wiederum findet ihren organisatorischen Zusammenhalt in PKK-nahen Vereinen. In Deutschland sind diese Vereine überwiegend dem Dachverband "Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland" (KON-MED) angeschlossen. Für Erfurt ist hier der Verein "Demokratische Gesellschaft der KurdInnen Thüringen e. V." zu nennen.35 2.3 Themenschwerpunkte der Organisation Zur Finanzierung ihrer Guerillaeinheiten, aber auch sonstiger Aktivitäten in Europa und Deutschland nutzt die PKK verschiedene Quellen, u. a. Mitgliedsbeiträge, Veranstaltungseinnahmen und den Publikationsverkauf. Den weitaus größten Einnahmenanteil erzielt sie jedoch während der alljährlich unter den Anhängern in Europa durchgeführten Spendenkampagne. Allein in Deutschland werden in diesen Kampagnen mehrere Millionen Euro gesammelt. Sonderspendenkampagnen zu aktuellen Themen sollen eine zusätzliche Spendenbereitschaft generieren. Neben den fest im Jahresverlauf verankerten Veranstaltungen (Demonstration zum Jahrestag der Festnahme Öcalans am 15. Februar, Newroz-Fest36 im März, Kurdistanfestival im September u. A.) setzten sich die Aktivitäten von PKK-Anhängern, die einen Zusammenhang zur Heimatregion bzw. zum PKK-Führer Öcalan aufweisen, im Berichtszeitraum fort. 35 Im Jahr 2012 als "Kulturverein Mesopotamien e. V." in Erfurt gegründet, 2018 zunächst in "Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Thüringen e. V." und 2019 schließlich in "Demokratische Gesellschaft der KurdInnen Thüringen e. V." umbenannt. Den Änderungen waren Beschlüsse des PKK-nahen Dachverbandes KON-MED über Neustrukturierungen der kurdischen Vereine in Europa vorausgegangen. 36 Mit dem kurdischen Neujahrsfest "Newroz" wird neben dem Beginn eines neuen Jahres der Frühlingsanfang gefeiert. "Newroz" wird aber auch als Fest des Widerstands gegen Tyrannei und als Symbol für den kurdischen Freiheitskampf verstanden. Die PKK nutzt dieses Fest, um kurdische Volkszugehörige auf die politischen Anliegen der Organisation aufmerksam zu machen, die Bindung der Anhängerschaft an die Organisation zu stärken, neue Anhänger zu werben sowie als Treffpunkt für hochrangige Kaderfunktionäre. 81 Als Reaktion auf den Sprengstoffanschlag der HPG im Oktober im Regierungsviertel von Ankara verübte die Türkei Luftangriffe auf kurdisch besiedelte Gebiete in Nordsyrien, um die Infrastruktur der PKK zu zerstören. In der Folge rief der KCDK-E zu europaweiten Protestaktionen gegen die "neue Angriffswelle der Türkei" auf. Bereits in der Vergangenheit wurden in Thüringen anlässlich ähnlicher Militäroffensiven Solidaritätsaktionen von regionalen PKK-Strukturen durchgeführt. Dabei wurden sie zur Darstellung ihrer Anliegen im demonstrativen Geschehen mehrfach auch von linken oder linksextremistischen Organisationen bzw. deren Anhänger unterstützt. Aktivitäten, in denen kurdische Anhänger der Partei selbst als Anmelder auftraten, wurden weitestgehend vermieden. 37 Auch in Erfurt fand im Jahr 2023 eine anlassbezogene Demonstration statt. Darüber hinaus wurde im "Teilgebiet Erfurt" am 24. Dezember der 45. Jahrestag der PKK gefeiert. 2.4 Bewertung Die PKK wird auch weiterhin auf verschiedenen politischen Ebenen und unter Einbindung politischer Akteure versuchen, ihre Bewertung als terroristische Organisation zu revidieren und das öffentliche Meinungsbild in ihrem Sinne zu beeinflussen. Auch hierbei findet sie - ebenso wie bei der Umsetzung diverser Aktionen und Durchführung von Veranstaltungen und Versammlungen - Unterstützung in linken bzw. linksextremistischen Strukturen. Das Mobilisierungspotenzial ist noch immer recht hoch und kurzfristig aktivierbar. Gerade emotional besetzte Themen, insbesondere der Gesundheitszustand des Organisationsgründers und die Forderung nach seiner Freilassung, aber auch die fortwährenden Militärangriffe auf kurdische Siedlungsgebiete (überwiegend in der Region Rojava38), finden Ausdruck u. a. in (bundesweiten) Massenkundgebungen. Nachdem - neben (den bereits in der Vergangenheit erteilten) behördlichen Auflagen hinsichtlich der Austragungsorte von Veranstaltungen und Kundgebungen und der nachdrücklichen Durchsetzung des Kennzeichenverbots - in den Jahren 2020 und 2021 der Hand37 Möglicherweise ist dies noch immer auf die Exekutivmaßnahmen u. a. gegen den o. g. Verein im März 2018 zurückzuführen. Bei den Beschuldigten des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Gera soll es sich um Mitglieder des Vereins handeln. Gegen sie bestand der Verdacht des Verstoßes gegen das Vereinsgesetz gemäß SS 20 Abs. 1 VereinsG (hier: Zuwiderhandlungen gegen das PKK-Verbot). Insoweit könnte hier ein Versuch der Anhängerschaft, sich aus dem Blick der Sicherheitsbehörden zu begeben, als Erklärung dienen. 38 Die de-facto-Autonomieregion Rojava im nordsyrischen Kurdengebiet stellt das symbolträchtige Aushängeschild für die Realisierung der von der PKK betriebenen kurdischen Autonomie dar. 82 lungsspielraum der PKK im Hinblick auf die Planung und Durchführung von bundesweiten Veranstaltungen und Aktionen durch die Corona-Pandemie weiter eingeschränkt war, fanden seit dem Jahr 2022 wieder vermehrt Veranstaltungen statt, um die Hauptanliegen der Organisation öffentlichkeitswirksam präsentieren zu können. Insbesondere im Hinblick auf die Bestrebungen zur Anerkennung als "legale" Organisation und zur Aufhebung des bestehenden PKK-Verbotes in Deutschland haben sich die Verantwortlichen stets bemüht, die Einhaltung staatlicher Vorgaben zu berücksichtigen, um der Kategorisierung als Terrororganisation entgegenzuwirken. 83 VII. Linksextremismus 1. Überblick, Ideologie, Schwerpunktsetzung, Radikalisierung Gemeinsam ist allen Formen des Linksextremismus das Ziel, die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Ihre durchaus unterschiedlichen Bestrebungen richten sich gegen grundlegende Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Letztlich wollen sie einen marxistisch-leninistischen Staat oder eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" errichten. Viele linksextremistische Bestrebungen eint ein Bekenntnis zur revolutionären Gewalt. Dass sich die von ihnen angestrebten Veränderungen einzig durch Gewalt vollziehen lassen, wird aus taktischen Gründen oft verschwiegen. Das linksextremistische Spektrum ist ideologisch breit gefächert. Es schließt Anhänger der "wissenschaftlichen Sozialismusund Kommunismustheorien" ebenso ein wie Sozialrevolutionäre, Anarchisten und Autonome. Die in Thüringen vertretenen linksextremistischen Parteien, Organisationen und sonstigen Personenzusammenschlüsse sind Teil bundesweit bestehender Strukturen. Der Schwerpunkt bei der Beobachtung des linksextremistischen Spektrums liegt auf dem gewaltorientierten Linksextremismus. Die Gewaltorientierung gehört zu den identitätsstiftenden Merkmalen dieser Linksextremisten. Autonome, die dieses Spektrum zu einem wesentlichen Teil bilden, verüben auch das Gros der einschlägigen Strafund Gewalttaten. Auf die im bundesweiten Vergleich geringe Anzahl Thüringer Linksextremisten entfällt ein entsprechend geringer (bundesweiter) Anteil an Strafund Gewalttaten. Im Berichtsjahr war in Thüringen ein Anstieg in der Gesamtzahl der registrierten linksextremistisch motivierten Straftaten als auch der Anzahl der linksextremistisch motivierten Gewaltdelikte - hier in einem Fall - zu verzeichnen. Straftaten mit Bezügen zum Terrorismus wurden nicht festgestellt. Dennoch ist aufgrund der in den vergangenen Jahren fortgesetzten schweren Einzelstrafund Gewalttaten gegen Objekte und Personen der rechtsextremistischen Szene in Thüringen von einem hohen Radikalisierungspotential eines Teils der gewaltorientierten linksextremistischen Szene im Freistaat auszugehen. Dabei agiert die gewaltbereite linksextremistische Szene konspirativ und abgeschottet. Selbst Taten mit einer hohen Gewaltintensität scheinen szeneintern als legitim zu gelten. Sie finden keinen expliziten Widerspruch. Eine Gefährdung von Menschenleben wird billigend in Kauf genommen. 84 Es scheint jedoch fraglich, ob es sich tatsächlich um eine weitere bzw. verstetigte Radikalisierung speziell der regionalen Thüringer Szene handelt. Art und Umfang der Beteiligung von Thüringer Linksextremisten lassen sich aktuell nur teilweise fundiert bewerten. Es gibt Anhaltspunkte, die auf eine nicht unerhebliche Beteiligung von auswärtigen Szeneangehörigen an Aktionen in Thüringen deuten.39 Thüringen ist im Vergleich zu anderen Bundesländern zentral gelegen mit guten Verkehrsanbindungen nach Berlin und Leipzig. Regelmäßige Kontakte der Thüringer linksextremistischen Szene zu den aktiven linksextremistischen Szenen in beiden Städten sind bekannt. Die Thüringer Szene ist überregional sehr gut vernetzt und in bundesweite Zusammenhänge eingebunden. Nicht gewaltorientierte linksextremistische Gruppierungen verfolgen ihre extremistischen Ziele mit politischen Mitteln zunächst innerhalb der bestehenden Rechtsordnung. Gegenüber den gewaltorientierten Linksextremisten verlieren sie zunehmend an Bedeutung. Den in Thüringen vertretenen marxistisch-leninistischen Parteien und Organisationen gelingt es teilweise durch öffentlichkeitswirksame Aktivitäten wahrgenommen zu werden. 2. Das linksextremistische Personenpotenzial Das linksextremistische Personenpotenzial in Thüringen belief sich im Berichtszeitraum auf etwa 420 Personen, die folgenden Teilspektren zugeordnet werden: 2021 2022 2023 Gewaltorientierte 140 145 150 Linksextremisten davon: Autonome 130 135 140 Anarchisten 40 10 10 10 Linksextremistische 85 85 90 Parteien 41 Rote Hilfe e. V. (RH) 160 170 180 Tabelle 5: Geschätzte linksextremistische Mitgliederbzw. Anhängerpotenziale 39 Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden dauerten zum Redaktionsschluss an. 40 Die Zahlenangabe zu den Anarchisten bezieht sich auf das personell stärkste anarchistische Teilspektrum, die "Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union" (FAU). Die FAU ist in geringem Umfang in Thüringen vertreten. Ihr Aktionsschwerpunkt beschränkt sich wie in den Vorjahren auf Jena. 41 Die Zahlenangabe zu den linksextremistischen Parteien setzt sich aus dem Personenpotenzial der organisatorisch in Thüringen vertretenen Parteien "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) - ca. 30 Mitglieder - und "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) - ca. 60 Mitglieder - zusammen. 85 Die Anzahl der gewaltorientierten Linksextremisten im Freistaat, die der autonomen Szene zugerechnet werden, ist im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Regionale Schwerpunkte bestehen in Jena und Umgebung. Die Fokussierung auf das Betätigungsfeld "Antifaschismus" hält an. In Verbindung damit kommt auch dem Aktionsfeld "Antirepression" aktuell eine gewachsene Bedeutung zu. Die in Thüringen vertretenen marxistisch-leninistischen Parteien und Organisationen rückten im Berichtszeitraum mitunter in die öffentliche Wahrnehmung. Der in diesem Spektrum isolierten MLPD gelang es, ihre politischen Anliegen in der Öffentlichkeit darzustellen.42 Auch Aktivitäten der DKP wurden festgestellt.43 Die RH ist die mitgliederstärkste Organisation im Bereich des Thüringer Linksextremismus und weist bundeswie auch thüringenweit in den letzten Jahren einen Zuwachs an Mitgliedern auf, eine adäquate Steigerung ihrer öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten in Thüringen war bisher nicht feststellbar. 3. Autonome 3.1 Allgemeines Autonome, die den überwiegenden Teil der gewaltorientierten deutschen Linksextremisten ausmachen, sind seit Ende der 1970er Jahre aktiv. Sie agieren vor allem in Großstädten wie Berlin, Hamburg, Leipzig, in Universitätsstädten oder Ballungsräumen wie dem Rhein-MainGebiet. Der gewaltorientierten autonomen Szene werden bundesweit etwa 8.300 Anhänger (2022: 8.300) zugerechnet. Das bundesweite Personenpotenzial hat sich im Vergleich zum Vorjahr auf hohem Niveau konsolidiert. Autonome erheben den Anspruch, nach eigenen Gesetzen zu leben. Vorgaben, staatliche und gesellschaftliche Normen lehnen sie ab. Sie sind entschlossen, die ihnen hemmend oder einengend erscheinenden staatlichen Strukturen zu zerschlagen. In ihren oft diffusen ideologischen Vorstellungen mischen sich anarchistische Elemente mit nihilistischen, sozialrevolutionären und auch marxistischen Versatzstücken. Ihr ausgeprägter Individualismus verlangt zur Veränderung der Gesellschaft nicht nach in sich geschlossenen Theorien oder Konzeptionen. Autonome nehmen Handlungen anderer, z. B. des Staats, von Unternehmen oder des 42 Der 2018 gegründete Landesverband Thüringen verfügt seit 2020 über eine eigene Geschäftsstelle in Erfurt. Parteivorsitzender ist Tassilo Timm. Die Partei ist in den Städten Eisenach, Erfurt, Gera, Jena, Sonneberg und Suhl mit Ortsgruppen vertreten. Sie verfügt über einen eigenen Jugendverband "REBELL" mit Ortsgruppen in Eisenach, Gera, Pößneck sowie Nordhausen. Die meisten Aktivitäten - wie Kundgebungen und Informationsstände - entfaltet sie in Erfurt, Eisenach und Sonneberg. 43 Die Partei verfügt in Thüringen über vier Regionalorganisationen (Erfurt, Hildburghausen, Weimar-Jena, Sonneberg). Erneut nahmen Mitglieder der DKP Thüringen an traditionellen Gedenkfeiern wie z. B. für Ernst Thälmann, von 1925 bis 1933 Vorsitzender der KPD, teil. Nennenswerte Aktivitäten wurden nicht festgestellt. Im Zeitraum 17. - 19. März veranstaltete die DPK ihren 25. Bundesparteitag in Gotha mit ca. 200 Delegierten. Zum Programm gehörte auch ein Grußwort der DKP-Landesorganisation Thüringen. 86 politischen Gegners, als Gewalt gegen sich wahr und versuchen damit ihre gewalttätigen Aktionsformen als Selbstschutz zu legitimieren. Dabei spielen Überlegungen zur Haltung möglicher Bündnispartner ebenso eine Rolle wie Stärke und Vorgehensweise eingesetzter Polizeikräfte oder des politischen Gegners. Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen des linksund rechtsextremistischen Spektrums können jeweils "Vergeltungsaktionen" nach sich ziehen. Die szeneinterne Kommunikation erfolgt vorrangig unter Nutzung elektronischer Medien. Dazu wird eine Vielzahl von Homepages und Portalen betrieben oder genutzt. Unter diesen hat sich das linksextremistische Internetportal "Demokratische Gesellschaft der KurdInnen in Thüringen e. V." zum wichtigsten Informationsund Propagandamedium in Deutschland entwickelt. Darüber hinaus dienen diverse, zum Teil konspirativ verbreitete Szeneblätter als Informationsquellen. Bei der internen, oft auch konspirativ abgeschotteten Kommunikation werden spezielle Möglichkeiten zur Nachrichtenverschlüsselung genutzt, die über die gängige End-to-End-Verschlüsselung hinausreichen. Zur Werbung von Nachwuchs für die meist jugendliche, vielfältige Szene bieten sich bestimmte Konzerte, Veranstaltungen zu relevanten Themen wie "Antifaschismus", Angebote in Szeneobjekten und die Möglichkeiten universitärer Einrichtungen, wie etwa Infotage, an. Wie auch andere Linksextremisten engagieren sich Autonome in verschiedensten gesellschaftlichen Konfliktfeldern und sind bemüht, ihre grundsätzliche Systemkritik dort über den sachbezogenen Protest hinaus in den öffentlichen Diskurs einfließen zulassen. So versuchen sie Bündnispartner zu gewinnen und ihre extremistischen Ziele zu verfolgen. Themenfelder wie "Antifaschismus", "Antirepression", "Antigentrifizierung", "Antirassismus", "Antikapitalismus", "Antiglobalisierung", "Klimaund Umweltschutz" bestimmen neben tagespolitischen Ereignissen die Diskussionen und Aktionen der autonomen Szene grundlegend. Fest strukturierte, auf Dauer angelegte und übergreifende Organisationsformen widersprechen dem Grundverständnis der traditionellen Autonomen. Die heterogene Szene lehnt Hierarchien und Führungsstrukturen ab, agiert meist in kleinen, unverbindlichen, lokal begrenzten, dezentralen Zusammenschlüssen. Um die wegen des niedrigen Organisationsniveaus begrenzten Wirkungsmöglichkeiten zu erweitern, gibt es immer wieder Versuche, übergreifende Organisationsformen oder Vernetzungsangebote zu schaffen. Das Aktionsspektrum und die Artikulationsformen Autonomer sind vielfältig. Sie reichen von Diskussionen, Vortragsveranstaltungen, Protesten und Demonstrationen über Straßenkra87 walle, Sachbeschädigungen bis hin zu Brandanschlägen und schwerer Körperverletzung. Gewalt ist ein selbstverständliches Aktionsmittel der Autonomen. Strafund Gewalttaten richten sich insbesondere gegen Angehörige oder vermeintliche Personen und Objekte des rechtsextremistischen Spektrums sowie Einsatzkräfte der Polizei. In Thüringen umfasste das Anhängerpotenzial der gewaltorientierten autonomen Szene im Berichtszeitraum ca. 140 Personen. Ein regionaler Schwerpunkt mit einer personell relativ starken und aktiven autonomen Szene befindet sich in Jena und Umgebung. Szenetypische Anlaufstellen sind "Infoläden" in Arnstadt, Erfurt, Jena und Gotha. Sie stellen für die örtliche linksextremistische, insbesondere autonome Szene Informationsund Kommunikationszentren dar. In Thüringen dominiert inhaltlich weiterhin das Themengebiet "Antifaschismus". Bundesweiten und überregionalen Zusammenschlüssen und Bündnisprojekten, die Dynamik und Widersprüchlichkeit im linksextremistischen Spektrum widerspiegeln, fehlen weiterhin Organisationsstrukturen in Thüringen. Persönliche Kontakte von Thüringer Autonomen insbesondere auch in bundesweite Szenehochburgen wie Leipzig, Berlin und Hamburg, das Aufgreifen aktueller Themen, die Mobilisierung für überregionale Veranstaltungen und Proteste, Verlinkungen, Vernetzungsbemühungen und die Beteiligung an Aktivitäten im Bundesgebiet belegen eine enge Einbindung und bundesweite Verflechtung. 3.2 Thüringer Autonome und ihr "Antifaschismus"-Verständnis Sachbeschädigung, Recherche und "Outing" Ein Grundkonsens der autonomen Szene besteht darin, über Ideen, Aktivitäten sowie die Anhängerschaft ihres politischen Gegners aufzuklären. Methodische Mittel reichen dabei von Recherchebis zu sog. Outing-Aktionen. Bei "Outings" handelt es sich in der Regel um Dossiers zu mutmaßlichen oder tatsächlichen politischen Gegnern ("Nazi", "Fascho"). Zu Personen, ggf. auch Gruppierungen oder Organisation werden dabei Informationen über einen längeren - zum Teil Jahre zurückliegenden - Zeitraum hinweg recherchiert, gesammelt, ausgetauscht und schließlich über das Internet oder als Flyer veröffentlicht. Mit diesen "Outing"-Aktionen setzen Linksextremisten darauf, mutmaßliche oder tatsächliche politische Gegner als "Nazis" im Wohnoder Arbeitsumfeld öffentlich zu machen, über ihre politische Ausrichtung "aufzuklären" und sie möglichst sozial zu isolieren. "Outing"-Aktionen führen mitunter zu weiteren Straftaten. Insoweit sind verbale Attacken, Sachbeschädigungen (an Haus oder Auto des Betroffenen) oder aber auch (körperliche) Übergriffe nicht auszu88 schließen. Ziel ist es, ein Bedrohungsszenario gegenüber der "geouteten" Person aufzubauen. Für Betroffene stellen "Outings" einen wesentlichen Eingriff in die Privatsphäre dar. Im Rahmen dieser "Outings" wird alles veröffentlicht, was der linksextremistischen Szene bekannt geworden ist oder wesentlich erscheint. So können in einem "Outing" ganze Lebensläufe, alte und neue Kontakte, Wohnund Arbeitsorte, Einschreibungen an Universitäten, Familienmitglieder/Lebenspartner, Teilnahmen an Veranstaltungen und Fotos enthalten sein. Die weitere Verwendung der so öffentlich zur Verfügung gestellten Informationen obliegt in der Folge allein der uneingeschränkten persönlichen Verantwortung und "Kreativität" des interessierten Nutzers. Für Betroffene von "Outings" besteht folglich eine (abstrakte) Gefahr, Opfer von Gegenmaßnahmen und Übergriffen der linksextremistischen Szene zu werden. "Outing"-Beitrag zu "überzeugtem Faschisten" in Erfurt vom 23. Mai Anlässlich seines Umzuges nach Erfurt sei ein seit vielen Jahren bekannter "überzeugter Faschist" und "gefährlicher RECHTSEXTREMER!" auf dem linksextremistischen Portal "de.indymedia" am 23. Mai mit Adressangabe geoutet worden. Zudem seien Flyer im Wohnviertel verteilt worden, "um Nachbar*innen vor ihm zu warnen". "Faschos wie er fühlen sich viel zu wohl in Erfurt - zeigen wir ihm: es gibt kein ruhiges Hinterland!" Der Flyer wurde ebenfalls auf "de.indymedia" veröffentlicht und zur Weiterverbreitung der Informationen aufgefordert. "Outing"-Beitrag zu "rechtem Autokorso" in Nordhausen vom 23. Mai Im Nachgang zu einem "rechten Autokorso" vom 22. April in Nordhausen veröffentlichten Unbekannte auf dem linksextremistischen Portal "de.indymedia" am 23. Mai mehr als einhundert Kennzeichen zu beteiligten Fahrzeugen aus verschiedenen Bundesländern, u. a. Thüringen, zur Inspiration von Nachtschwärmern, "um die 1 Million Euro Sachschaden für jedes Jahr Haft im Antifa-Ost Verfahren zu erreichen".44 44 Unbekannte hatten Schäden in Höhe von einer Million Euro pro Haftjahr in der Vergangenheit bereits im Internet vor dem Hintergrund der laufenden Strafverfolgung der Tatverdächtigen im Komplex Antifa-Ost avisiert. 89 Mutmaßlich linksextremistisch motivierter Brandanschlag auf "rechtes Szenelokal in spe" am 17. Juni in Triptis (Saale-Orla-Kreis) In den frühen Morgenstunden des 17. Juni kam es offenbar durch Brandstiftung zu Bränden im Innenund Außenbereich einer damals geschlossenen gastronomischen Einrichtung, deren geplante Wiedereröffnung bereits u.a. in einem der AfD nahestehenden regionalen Blatt öffentlich kommuniziert worden war. Zudem bestanden Verbindungen in Personenkreise, die von "Outings" als "Nazi" betroffen waren. Der von den unbekannten Tätern verursachte Sachschaden am letztlich ausgebrannten Imbiss war enorm. Ein Selbstbezichtigungsschreiben wurde nicht veröffentlicht.45 Mutmaßlich linksextremistisch motivierte Übergriffe auf Tattoo-Studio eines bekannten Rechtsextremisten am 14. bzw. 16. August in Zeulenroda (Landkreis Greiz) In den frühen Morgenstunden des 14. August schlugen Unbekannte die doppelverglaste Scheibe eines Tattoo-Studios in Zeulenroda ein und warfen eine mit gezündeten Böllern versehene und mit Buttersäure befüllte Flasche in das Objekt. Ein Brand entstand nicht. Zwei Tage später kam es zu einem erneuten Übergriff, in den frühen Morgenstunden wurde der Zaun des Anwesens beschädigt. Die Schäden von Buttersäure-Anschlag und folgender Sachbeschädigung sind nicht unerheblich. Ein Selbstbezichtigungsschreiben wurde nicht veröffentlicht.46 Das angegriffene Studio wird von einem bekannten Rechtsextremisten betrieben. Das Studio und sein Betreiber hatten im Vorfeld durch ihre Aktivitäten mehrfach öffentliche Aufmerksamkeit generiert. Der Betroffene, seine Studios und sein privates Umfeld waren auch in der Vergangenheit schon Ziel mutmaßlich linksextremistischer Übergriffe. Das der autonomen Szene zuzurechnende "Rechercheportal Jena-SHK" berichtete von dem Vorfall und der Reaktion des Geschädigten. Weitere Szeneresonanzen waren nicht feststellbar. Publik machen, Einschüchterung und Bedrohung eines - politisch unerwünschten - TattooStudio-Betreibers sind übliche Vorgehensweisen von Linksextremisten, die zeitliche Abfolge zwischen "Outing" und Aktion sind Hinweise auf eine detaillierte Planung bei der Vorbereitung und Begehung der Straftaten. Die Sachbeschädigungen der Geschäfte verfolgen das Ziel ihrer Schließung, das bei fehlender Sofortreaktion durchaus wiederholt und auch mit mehr Nachdruck verfolgt werden kann. 45 Die polizeilichen Ermittlungen zur Straftat dauerten zum Redaktionsschluss an. 46 Die polizeilichen Ermittlungen zur Straftat dauerten zum Redaktionsschluss an. 90 "Outing"-Beitrag zu "extrem rechte Burschenschafter an der Uni Jena" vom 22. September Das Rechercheportal Jena-SHK47 outete am 22. September - vermutlich im Vorfeld eines im Oktober anstehenden Burschentages - "extrem rechte Burschenschafter aus Jena" durch Veröffentlichung auf seiner Internetseite und Plattform "X". Die Betroffenen würden derzeit an der Universität Jena studieren, sich regelmäßig auf dem Campus, der Bibliothek und Mensa aufhalten, um dort ihre rechten Ideologien zu verbreiten. Details zu Vita und Kontakten in das "rechte" Spektrum wurden angegeben. Eine Flyerdruckvorlage ergänzte den Textbeitrag und verwies auch auf weitere, ausführliche Informationen zu den Personen sowie der Burschenschaft selbst.48 "Outing"-Beitrag "AfD-Schweine! Stoppen" vom 29. Dezember Unbekannte veröffentlichten auf dem linksextremistischen Portal "de.indymedia" am 29. Dezember eine Liste mit zahlreichen Adressen von AfD-Politikern aus dem Bundesgebiet, u. a. auch Thüringen, mit Bezug zum Bundestag. Betroffen waren neben Adressen von Parteibüros auch berufsbedingte und private Anschriften. "Nazi-Schweine gewinnen an Macht und Einfluss. Sie sind überall in deiner Nachbarschaft, deine[m] Arbeitsplatz, deiner Schule, deiner Uni, in deinem Dorf." Ein expliziter Bezug zur Landtagswahl 2024 in Thüringen und öffentlichen Wahlprognosen wird hergestellt. "Wie immer gilt. Kein Bock auf Nazis. Nazi sein heißt Stress kriegen." Parteibüros der Geouteten in Gera, Gotha, Nordhausen, Eisenach und Saalfeld waren bereits Gegenstand von mutmaßlich linksextremistischen Übergriffen und Aktivitäten. In Anbetracht der im Artikel explizit genannten Landtagswahlen in Thüringen 2024 kann mit einem erhöhten Aufkommen an (auch schadensintensiven) Übergriffen auf Vermögenswerte der Partei oder ihrer Repräsentanten gerechnet werden.49 Regelmäßig kommt es zu ähnlich gelagerten Sachbeschädigungen und weiteren Straftaten an vermeintlichen oder tatsächlichen Treffobjekten der rechtsextremistischen Szene oder an Immobilien, die mit ihr in Verbindung gebracht werden bzw. deren Nähe zu dieser - mitunter auch fälschlicherweise - angenommen wird. Auch private Anwesen und Kraftfahrzeuge von "politischen Gegnern" stehen stellvertretend für diese im besonderen Fokus gewaltorientierter Linksextremisten. Typisch sind regelmäßig festzustellende Graffiti wie "Nazis auf's Maul", 47 Das der autonomen Szene zuzurechnende "Antifa Rechercheportal Jena-Saale-Holzland-Kreis" veröffentlichte im Berichtszeitraum erneut zahlreiche Beiträge zu tatsächlichen oder vermeintlichen "Nazis", Mitgliedern und Funktionären "rechter" oder rechtsextremistischer Parteien und Gruppierungen sowie von Burschenschaften aus Jena und Umgebung. 48 Die Burschenschaft unterliegt nicht dem gesetzlichen Beobachtungsauftrag des Amtes für Verfassungsschutz in Thüringen. 49 Übergriffe gelten auch weiteren Parteien und ihren Einrichtungen, nicht in jedem Fall gibt es Anhaltspunkte für eine (links)extremistische Tatmotivation. 91 "Nazis raus", "ANTIFA FCK NZS", Farbanschläge, Buttersäure-Angriffe, mitunter ergänzt durch wohlwollende Kommentare auf Szeneseiten oder auch Selbstbezichtigungsschreiben. Ziel dieser Übergriffe ist es mitunter auch, einen möglichst hohen Schaden für den Betroffenen zu bewirken. Entsprechende Sachbeschädigungen durch Graffiti wurden auch im Berichtszeitraum festgestellt. Gewalt als selbstverständliches Aktionsmittel Autonomer Gewaltsame Angriffe auf Personen werden regelmäßig damit gerechtfertigt, dass es sich bei den Opfern um "Nazis" gehandelt habe. Diese zum Teil willkürlich verwendete Bezeichnung dient als Begründung, um das eigene Handeln möglichst positiv darzustellen. Die Verfolgung der eigenen Straftaten wird wiederum als angebliche Kriminalisierung und Ausdruck eines repressiven Staats wahrgenommen. Erneut konnte dabei auch ein planvolles, zielgerichtetes Vorgehen gegen zuvor ausgespähte Opfer festgestellt werden. Die Gewaltintensität verschiedener Übergriffe im Berichtszeitraum war extrem hoch. Offenbar wurden lebensbedrohliche Verletzungen zumindest in Kauf genommen. Überfall auf zwei Rechtsextremisten am 12. Januar in Erfurt Am Morgen des Tattages kam es durch sechs bis acht maskierte Täter zu einem Überfall auf zwei Rechtsextremisten. Offenbar wurden diese auf dem Weg zur Arbeit abgepasst. Die Täter schlugen mit Axt und Hammer auf sie ein und traten zu. Sie sollen die Opfer als "Nazis" bezeichnet haben. Eines von ihnen erlitt durch massive Gewalt gegen den Kopf sehr schwere Verletzungen, das andere leichte. Ein Selbstbezichtigungsschreiben wurde nicht veröffentlich. Eines der Opfer war zuvor nach Auseinandersetzungen und Provokationen gegenüber linken Objekten in Erfurt und ihren Nutzern Gegenstand mehrerer Outings, auch unter Nennung seiner Wohnanschrift.50 Überfälle auf (vermeintliche) Rechtsextremisten in der Zeit vom 9. bis 11. Februar in Budapest (Ungarn) Anlässlich des jährlichen stattfindenden rechtsextremistischen Vernetzungstreffens "Tag der Ehre" in Budapest wurden (vermeintliche) Angehörige der rechtsextremistischen Szene durch mehrere vermummte Personen mit linksextremistischer Tatmotivation angegriffen und teilweise schwer verletzt. Die szenetypisch in Gruppen agierenden Täter verletzten ihre Opfer durch gefährliche Schlagwerkzeuge und den Einsatz von Reizstoffen. Mindestens eine 50 Siehe dazu Verfassungsschutzbericht 2022 des Freistaats Thüringen. Die polizeilichen Ermittlungen zur aktuellen Straftat dauerten zum Redaktionsschluss an. 92 Tat konnte durch Überwachungskameras festgehalten werden. Eine Vielzahl der Täter(innen) konnte bisher identifiziert werden. So wurde unmittelbar im Zusammenhang mit den Übergriffen eine weibliche Person aus Thüringen in Budapest verhaftet, aber kurz danach wieder auf freien Fuß gesetzt. Die ungarischen Strafverfolgungsbehörden fahnden seit den Übergriffen nach mehreren Tatverdächtigen mit europäischen Haftbefehlen. Unter den Verdächtigen befinden sich auch deutsche Staatsangehörige aus Bayern, Sachsen, Berlin und Thüringen. In Thüringen wurde durch die Generalstaatsanwaltschaft Dresden gegen vier Frauen und einen Mann wegen gefährlicher Körperverletzung im Rahmen von "Spiegelverfahren" gemäß SS 7 StGB ermittelt. Auf deren Grundlage wurden auch nationale Haftbefehle ausgestellt.51 Im Rahmen von Durchsuchungsmaßnahmen in Thüringen und Sachsen am 15. März konnten bestehende Haftbefehle nicht umgesetzt werden, da sich der tatsächliche Aufenthaltsort der betroffenen Tatverdächtigen nicht aufklären ließ. Im Nachgang konnten auch die Aufenthaltsorte weiterer Tatverdächtiger nicht ermittelt werden, sodass davon ausgegangen werden muss, dass sich diese Personen absichtlich dem Behördenzugriff entziehen wollen, folglich untergetaucht sind. Am 11. Dezember wurde die männliche Person aus Thüringen in Berlin aufgefunden und durch die Polizei festgenommen. Der Verbleib der weiteren vier Thüringer Tatverdächtigen ist weiterhin unklar.52 Nächtlicher "Hausbesuch" und Übergriff am 10. November in Gera Zwei Unbekannte drangen vermummt in den frühen Morgenstunden auf das Privatgrundstück eines bekannten Rechtsextremisten ein und schlugen im weiteren Verlauf des Zusammentreffens auf diesen ein. Noch am Boden liegend wurde er mit Tritten und Schlägen traktiert und verletzt. Ausrufe wie "Fascho" weisen auf einen linksextremistischen Hintergrund der Tat. Der Betroffene war bereits Gegenstand von "Outings" und öffentlicher Berichterstattung.53 51 Die Verfahren wurden 2024 wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und weiterer Straftaten vom Generalbundesanwalt übernommen. 52 Die staatlichen Maßnahmen gegen die potenziellen Täter der Gewaltstraftaten führten weit über die linksextremistische Szene hinaus bundesweit zu zahlreichen Solidaritätserklärungen im Internet, durch Graffiti wie "Soli mit Budapest!" im Juni in Jena oder Veranstaltungen wie "Solitresen - Ein buntes Fest für Budapest" mit mehreren Hundert Teilnehmern. Die Einnahmen sollten "in die Arbeit gegen Repression, konkret für die betroffenen Antifas im Budapest-Kontext" einfließen. Die Solidarisierung hält auch weiterhin an. Siehe dazu Exkurs: Autonome und das Aktionsfeld "Antirepression". 53 Die polizeilichen Ermittlungen zur Straftat dauerten zum Redaktionsschluss an. 93 Häufung von Aufforderungen zur Gewalt und zum Töten von politischen Gegnern Thüringenweit - auch in Regionen ohne erkennbar aktive Szenestrukturen - belegen die Inhalte von Graffiti oder Aufklebern im öffentlichen Raum eine gesunkene Hemmschwelle zur Gewaltanwendung, explizit wird auch zur Tötung von politischen Gegnern aufgerufen. Insbesondere in Weimar, Jena, Eisenach und Nordhausen kam es durch unbekannte Täter zu zahlreichen, teilweise auch serienmäßig erfolgten Sachbeschädigungen durch Graffiti mit teilweise fünfstelligen Schadenssummen. Unter den üblichen szenetypischen Inhalten ragen inhaltlich Aufforderungen zum Töten von politischen Gegnern, wie "Nazis töten" und "Kill Cops" heraus. Am Briefkasten eines Weimarer Wohnhauses fand sich im Juni das Graffito "Queris töten". Anlässlich der Eröffnung eines Verfahrens gegen die rechtsextremistische Kampfsportgruppierung "Knockout 51" vor dem Oberlandesgericht Jena am 21. August reagiert die Szene insbesondere im August und September mit Sachbeschädigungen durch Graffiti wie "ANTIFA AREA Knockout 51 in den Knast 161" "Knockout 51 ausnocken", Anarchiezeichen und der Aufforderung "NAZIS TÖTEN". Als mutmaßliche Morddrohung hinterließen Unbekannte im September in Nordhausen im Zusammenhang mit den dort seinerzeit stattfindenden OB-Wahlen die Aussage "[Name] KILL", die offenbar einem Lokalpolitiker der AfD galt. Zudem hieß es "9MM GO FCK AfD". Im Nachgang zu dem Überfall auf das Thor-Steinar-Ladengeschäft "Trondheim" am 23. April 2022 in Erfurt durch mehrere vermummte Täter wurden auf der Glasscheibe der Eingangstür am 12./13. März Aufkleber angebracht, mit denen die unbekannten Täter die Öffentlichkeitsfahndung der Polizei zum Überfall überklebten. Neben szeneüblichen Aussagen wie "ANTIFA. Gegen Nazis, Staat und Kapital" fand sich mit "Kommando Ali Höhler" der Hinweis auf den Ali genannten Albrecht Höhler, der 1930 durch den Totschlag am Berliner SA-Führer Horst Wessel bekannt wurde. Der Aufkleber kann daher als direkte Warnung der linksextremistischen Szene an das Trondheim gewertet werden. Stellung zum Staat und zur Zivilgesellschaft Autonome sehen in der Politik der Regierung und in vermeintlichen gesellschaftlichen Missständen Auslöser für "faschistische" Tendenzen. Ihrer Meinung nach förderten "staatlicher Rassismus" und die "Kriminalisierung des antifaschistischen Kampfes" auch in der Bevölkerung die Entwicklung "rechter" Tendenzen. Die Kritik und die Aktionen des autonomen Spektrums richten sich deshalb auch gegen die Zivilgesellschaft. In diesem Zusammenhang dis94 tanzieren sich Autonome von den Aktivitäten demokratischer Bündnisse, schließen sich deren Veranstaltungen, insbesondere solchen gegen Rechtsextremismus, aber auch immer wieder an. Dies geschieht einerseits in der Annahme, über szenetypische Slogans und Darstellungen autonome Anschauungen transportieren und die Veranstaltungen breiter Bündnisse gegebenenfalls dominieren zu können, andererseits, um die etwaige behördliche Untersagung des selbst organisierten Protests zu umgehen. Als Ausdruck ihrer Eigenständigkeit sind Abgrenzungsversuche üblich. So rufen Autonome zur Beteiligung an "antifaschistischen" oder "antikapitalistischen" Blöcken innerhalb von Demonstrationen auf. Maßgebliche Beteiligung von Linksextremisten an Antifa-Protesten am 1. Mai in Gera Im Zusammenhang mit weiteren anlässlich des Mai-Feiertages initiierten Veranstaltungen in Gera nahmen an der von einer Privatperson zum "Arbeiter*innenkampftag" angemeldeten Demonstration unter dem Motto "Revolutionärer 1. Mai; 1. Mai Straße frei" ca. 550 Personen teil. Unter ihnen befand sich eine nicht unerhebliche Anzahl von Linksextremisten. Die Anreisen erfolgten thüringenweit, insbesondere aus Erfurt, Weimar und Jena, sowie bundesweit, insbesondere aus Sachsen. Teilnehmer vermummten sich, zündeten Pyrotechnik und skandierten polizeifeindliche Parolen wie "policia assassini"54. Ein "schwarzer Block"55 formierte sich an der Spitze des Zugs. Im weiteren Verlauf kam es zu massiven, gewaltsamen Durchbruchsversuchen in Richtung eines zeitgleich stattfinden Aufzugs, dem auch Rechtsextremisten und Anhänger des VDS-Spektrums angehörten. Bei den polizeilichen Gegenmaßnahmen wurden einige Teilnehmer und ein Polizist leicht verletzt sowie ein Einsatzfahrzeug beschädigt. Eine Gruppe von ca. 250 Teilnehmern aus dem "schwarzen Block" wurde wegen des Verdachts des Landfriedensbruches und der Körperverletzung schließlich separiert und Identitätsfeststellungen zugeführt. Massive Widerstandshandlungen Betroffener erforderten erneut konsequentes polizeiliches Handeln. Übrige Versammlungsteilnehmer zeigten nicht unerhebliche Solidarisierungseffekte. Eine deutliche Abgrenzung gegenüber den gewaltsam agierenden Teilnehmern der Versammlungslage blieb zum großen Teil aus. Strafanzeigen wurden wegen des Verdachts auf Landfriedensbruch, Körperverletzung, Verstoß gegen Versammlungsgesetz und Sachbeschädigung gefertigt. Für die Demonstration war im Vorfeld in der linksextremistischen Szene regional und überregional mobilisiert worden. In Thüringen rief insbesondere die linksextremistische 54 Deutsch: "Polizisten [sind] Mörder". 55 Der "Schwarze Block" ist eine besonders von Autonomen genutzte Demonstrationstaktik. Vermummte, schwarz gekleidete Aktivisten formieren sich in uniformer "Kampfausrüstung", um das Gemeinschaftsgefühl zu festigen, Stärke zu vermitteln und die Identifizierung von Straftätern sowie deren Strafverfolgung zu erschweren. 95 Gruppierung "Antifaschistische Aktion Gera (AAG)"56 unter dem Motto " Kämpfe verbinden - Kapitalismus überwinden" und mit der Frage "Willst Du mit mir Randale machen?" zur Beteiligung auf. Man stelle Machtfragen, kämpfe gegen kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung durch die herrschende Klasse. Zudem stelle man sich den "Rechten" entgegen. In einem der Aufrufe im Internet hieß es: "Gleichzeitig werden wir auch noch den Faschos ... den Tag versauen!". Auch Aufforderungen wie "NZSBXN" [steht für: "Nazis boxen"] oder "NAZIS AN DEM TAG RENNEN SEHEN!!!" waren zu finden.57 Beteiligung von Linksextremisten an Antifa-Protesten am 8. Mai in Weimar Gegen eine "Montagsdemo" in Weimar unter Teilnahme eines prominenten Vertreters der AfD wurden aus dem demokratischen Protestspektrum mehrere Gegenveranstaltungen angemeldet, u. a. unter dem Motto "Stoppt die AfD - auf die Straße". Die Gesamtteilnehmerzahl lag im niedrigen vierstelligen Bereich. Es kam zu einigen szeneund versammlungstypischen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten wie z. B. Vermummungsversuchen und dem Mitführen von Waffen sowie einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen einem Demonstranten und einem Gegendemonstranten. Mehrfach wurde versucht, sich dem gegnerischen Versammlungsraum zu nähern. Insgesamt wurden zwölf Verstöße festgestellt. Daneben begleiteten Teilnehmer des Gegenprotests die Demonstration in Kleingruppentaktik in verschiedenen Nebenstraßen. In den sozialen Medien wurde zuvor eine Aktionskarte geteilt, die neben der Darstellung entsprechender Bereiche der Demonstration auch die Erreichbarkeit eines Ermittlungsausschusses58 enthalten hatte. In der Nacht zum Protesttag sprühten Unbekannte in 45 Fällen zum Teil großflächig in der Innenstadt Zeichen und Sprüche, die sich gegen "Nazis" und die Partei AfD richteten, sowie Texte, in denen zu Straftaten aufgerufen wird. 56 Die AAG ist im Zuge von Protesten gegen sog. Corona-Leugner seit April 2022 aktiv und knüpft offenbar durch die Namenswahl an eine vormalige Gruppierung gleicher Bezeichnung an. Sie verwendet szenetypische Symbolik, betreibt Recherchearbeit und nimmt Bezug auf relevante Veranstaltungen; auch sind Hinweise auf Gewaltbereitschaft (Aufrufe zur Gewalt, mangelnde Distanzierung von Gewalt) festzustellen. Sie wird daher der autonomen linksextremistischen Szene zugerechnet. 57 Die polizeilichen Ermittlungen zu den Straftaten in Verbindung mit der Demonstration dauerten zum Redaktionsschluss an. Im Nachgang kam es am 8. November zu Durchsuchungsmaßnahmen in Thüringen und in weiteren Bundesländern. Resonanzaktionen der linksextremistischen Szene umfassten auch Straftaten. Siehe dazu auch Exkurs: Thüringer Autonome und das Aktionsfeld "Antirepression" sowie Kapitel 4. 58 Ein "Ermittlungsausschuss" ist ein unentgeltliches Rechtshilfeangebot, oft anlässlich von Demonstrationen und Aktionen, das von der Telefonbetreuung, der Organisation von Anwälten bis hin zur Betreuung bei Festnahmen oder in U-Haft reicht. Zum Teil handelt es sich um temporäre Einrichtungen, deren telefonische Erreichbarkeit kurzfristig bekanntgegeben wird, zum Teil sind es dauerhafte, fest etablierte Einrichtungen, mitunter begleitet von Sprechstundenangeboten. 96 Insofern ergeben sich Ähnlichkeiten zu Protesten gegen eine Demonstration der AfD unter dem Motto "Zukunft für Deutschland" am 29. April in Erfurt, bei denen zuvor ebenso Graffiti - hier mit der Aussage "Kein Platz den Faschist*innen" - gesprüht worden waren. Auch hier war im Vorfeld die Erreichbarkeit eines Ermittlungsausschusses angegeben worden. Die ebenfalls aus dem demokratischen Spektrum initiierten Proteste mit 800 Teilnehmern in der Spitze verliefen weitgehend störungsfrei, nur vereinzelt kam es zu Vermummungsversuchen. Eine umfangreiche Mobilisierung durch Akteure der linksextremistischen Szene in Erfurt, Weimar und Jena war zuvor feststellbar. An der AfD-Versammlung beteiligten sich mehr als 1.000 Personen. Beteiligung von Linksextremisten an Antifa-Protesten am 3. Oktober in Gera Auch anlässlich der demokratisch geprägten Proteste gegen eine rechtsextremistische Veranstaltung am "Tag der Deutschen Einheit" am 3. Oktober in Gera bestätigte sich erneut, dass es beteiligten Linksextremisten mitunter nicht mehr gelingt, mit ihrem politischen Anliegen deutlich wahrnehmbar im Protestverlauf und in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Einzelne Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, insbesondere durch Vermummung, wurden festgestellt. Szenetypische Straftaten, Ordnungswidrigkeiten, inhaltlich einschlägige Transparente, Banner und Symboliken treten im weitgehend störungsfreien Verlauf des demokratischen Protestengagements von etwa 600 Teilnehmern in den Hintergrund und können kaum eine eigene Wirkung entfalten. Stattdessen weisen Graffiti, die im Vorfeld der Versammlungen an Stromkästen, Schaufenstern, Wänden und Unterführungen hinterlassen werden, auf die politischen Ansichten und Forderungen von Linksextremisten. Relevant sind diese auch wegen der damit verbundenen, nicht unerheblichen Sachschäden. Dem eigenen Anspruch, "dem Staat unsere Zähne zu zeigen", wie in Verbindung mit einer aus Hamburg geplanten Anreise geäußert, dürfte so rückblickend aus Sicht der Szene nicht genügt werden können. Eine nachdrückliche Präsentation linksextremistischen Antifaschismuskampfes in Kooperation und zugleich Abgrenzung vom demokratischen Spektrum ist im Berichtszeitraum in Thüringen nur eingeschränkt wahrnehmbar. Möglicherweise bestehende strukturelle Defizite, taktische Erwägungen vor dem Hintergrund der bundesweit und international laufenden Strafverfahren u. a. gegen Tatverdächtige aus Thüringen sowie inhaltliche Differenzen können dabei im Einzelfall eine Rolle spielen. Ungeachtet dessen fällt auf beiden Seiten mitunter das Fehlen deutlicher Abgrenzungsbemühungen zwischen (Gewalt akzeptierenden und ausübenden) Extremisten und Nichtextremisten auf, es scheint zu einer Erosion der Grenzen zu 97 kommen, die hier insbesondere beim Begehen von Strafund Gewalttaten im Rahmen und am Rande von Demonstrationsgeschehen in Erscheinung tritt. Exkurs: Thüringer Autonome und das Aktionsfeld "Antirepression" Das Aktionsfeld "Antirepression" ist insbesondere für gewaltorientierte Linksextremisten von zentraler Bedeutung. Es richtet sich gegen die nach ihrem Verständnis dem Staat immanente Repression, die mit Überwachung, Strafverfolgung und Sanktionierung der Verhinderung gesellschaftlicher Veränderungen und revolutionärer Prozesse diene. Sie sei ein entscheidendes Mittel zur Herrschaftssicherung und Konditionierung unerwünschter politischer Betätigung. Widerstand und gesellschaftskritischer Protest würden diffamiert und Aktivisten eingeschüchtert. Traditionell gilt die dagegen gerichtete "Antirepressions"-Arbeit so der Unterstützung der von Strafverfolgung betroffenen Aktivisten, im Zusammenhang mit Exekutivmaßnahmen und im Rahmen der Gefangenenhilfe, z. B. durch Solidaritätskampagnen. Polizisten stehen während ihres Einsatzes als direkte Repräsentanten des Repressionsapparates im Fokus, ebenso polizeiliche Dienststellen und Ausrüstungsgegenstände, die "politisch instrumentalisierte" Justiz und der Strafvollzug. Im Nachgang zu mehreren schweren, mutmaßlich linksextremistisch motivierten Straftaten in Thüringen oder unter Beteiligung von Personen aus Thüringen dauern polizeiliche Ermittlungen und staatliche Exekutivmaßnahmen, Hausdurchsuchungen und Festnahmen, an. Damit einhergehend zeichnet sich eine thematische und aktionistische Schwerpunktverlagerung in der Thüringer linksextremistischen Szene, insbesondere in Jena, ab. Das Aktionsfeld "Antirepression" hat sich zudem zu einem starken Mobilisierungsfaktor entwickelt. Themenschwerpunkte sind: 1. die Folgen der Übergriffe auf (vermeintliche) Rechtsextremisten im Februar in Ungarn Unter dem Motto "Solidarisch gegen Polizeiund Staatsgewalt" protestierten am 29. März in Jena bis zu 180 Personen gegen Durchsuchungsmaßnahmen am 15. März in Jena und Leipzig. Zu Beginn des insgesamt störungsfreien Aufzugs kam es zu vereinzelten Vermummungen. Transparente zeigten die Aufschriften "Freiheit für alle politischen Gefangen", "Häuser denen, die drin leben, Bullen aus der Küche fegen!", "No cops, no nazis", "Ihr könnt unsere Türen brechen, aber niemals unseren Willen! Solidarisch gegen Polizei und Staatsgewalt". Szenenahen Medienberichten zufolge soll die Polizei auch durch grundloses Abfilmen der Demonstration unnötig hart gegen die Veranstaltung vorgegangen sein. Mobilisiert 98 hatte eine "Undogmatische radikale Linke Jena" (URL Jena)59. Der "Infoladen Sabotnik" Erfurt und die "Antifaschistische Aktion Gera" (AAG) teilten den Aufruf. Auch überregionale Mobilisierungsaufrufe wurden festgestellt, zudem wurde der Aufruf auf "de.indymedia" geteilt. Am 11. Dezember wurde in Berlin ein untergetauchter, gewalttätiger Linksextremist aus Jena verhaftet. Er leistete erheblichen Widerstand, verletzte Polizisten und sich selbst. In der Folge kam es zu zahlreichen Solidaritätsbekundungen und Protestaktionen bundesweit und in Thüringen, z. T. auch zu Straftaten. Durch Unbekannte wurden im Jenaer Stadtzentrum großflächig Graffiti "161"60 und "FREE ALL ANTIFAS" gesprüht. Im Rahmen einer linksextremistischen Soliveranstaltung "Freispruch statt Knast" am 13. Dezember in Jena nahmen bis zu 150 Personen teil. Die Tatvorwürfe wurden angezweifelt. Transparente zeigen Aufschriften wie "Ihr könnt unsere Führung brechen, aber niemals unseren Willen!", "Solidarisch gegen Polizei und Staatsgewalt", "Alle zusammen gegen den Faschismus". Sprüche wie "Nazis gibt's in jeder Stadt, bildet Banden, macht sie platt!" wurden skandiert.61 2. die Urteilsverkündung gegen vier Angeklagte im sog. Antifa-Ost-Verfahren vor dem Oberlandesgericht Dresden am 31. Mai und "Tag X"-Demonstration am 3. Juni in Leipzig (Sachsen) Am 31. Mai wurden vor dem OLG Dresden gegen vier Angeklagte Urteile im "Antifa-Ost"Verfahren, das bundesweit ein großes öffentliches und mediales Interesse erregt hatte, verkündet.62 Die Urteilsverkündung selbst sowie Aufrufe zur sog. "Tag X"-Demo in Leipzig wurden entsprechend beworben. Der Prozess gegen das Netzwerk wird als "Justizfarce" mit dem Ziel der "Kriminalisierung" von Antifaschisten betrachtet, die Opfer einer "Hetzund Diffamierungskampagne" seien. Lina E.63 und drei weitere Angeklagte wurden zu mehrjährigen 59 In der bislang nicht in Erscheinung getretenen, "neu gegründeten" URL Jena organisieren sich laut Selbstdarstellung "ehemalige Pekaris". Die Gruppierung wird dem autonomen linksextremistischen Spektrum zugerechnet. 60 Gebräuchlicher Zahlencode für "Antifaschistische Aktion". 61 Bereits zum Beginn des ersten Gerichtsverfahrens am 31. Oktober in Budapest gegen drei mutmaßlich tatbeteiligte Linksextremisten, darunter zwei deutsche Staatsangehörige, die wegen des Vorwurfs der Unterstützung bzw. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und schweren Körperverletzung angeklagt sind, war eine deutliche bundesweite Solidarisierung mit allen potenziell Betroffenen zu erkennen. 62 Das Verfahren gilt dem gleichnamigen Netzwerk von Personen, insbesondere dessen Exponenten. Mit dem Begriff "Netzwerk Antifa-Ost" werden von verschiedenen Strafund Ermittlungsverfahren betroffene Personen und Strukturen im militanten Antifaschismus bezeichnet, u. a. die kriminelle Vereinigung um die vier vor dem Oberlandesgericht Dresden Verurteilten um Lina E. Nach einem mutmaßlichen Rädelsführer wird öffentlich gefahndet. Die Bezeichnung "Netzwerk Antifa-Ost" verdeutlicht, dass aktuelle Aktivitäten und deren Akteure weit über den Tatkomplex der Straftaten in Eisenach und die in diesem Zusammenhang verurteilten Protagonisten und deren Umfeld hinausreichen. 63 Der linksextremistischen Gewalttäterin wird eine Beteiligung an verschiedenen schweren Straftaten vorgeworfen, u. a. an Übergriffen auf eine "rechte" Szenekneipe und deren Pächter im Jahr 2019 in Eisenach. Sie wurde am 5. November 2020 in Leipzig (Sachsen) verhaftet. Bundesweit kam es zu Resonanzen und Solidaritätsbekundungen, auch durch erhebliche Straftaten. Lina E. und "ihre Hammerbande" gelten der linksextremistischen Szene als Symbol für "konsequenten Antifaschismus". 99 Haftstrafen verurteilt. Der Haftbefehl wurde zunächst gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt, gegen das Urteil wurde Revision eingelegt. Anlässlich der im Nachgang zu diesem Termin initiierten "Tag X" - Demonstration am 3. Juni in Leipzig versammelten sich - trotz des Verbots der angemeldeten Großdemonstration nach Genehmigung einer "Ersatz"-Demo - bis zu 2.000 Personen, darunter viele vermummte und gewaltbereite Personen. Es kam zu Angriffen auf die Polizei mit Steinen, Feuerwerkskörpern und einem Molotow-Cocktail. Etwa 1.000 Personen wurden in der Folge durch die Polizei eingekesselt und deren Personalien aufgenommen. Unter ihnen befanden sich auch etliche Teilnehmer aus Thüringen, insbesondere aus Erfurt, Weimar, Jena. Im Nachgang kam es bundesweit zu einer Vielzahl von Solidaritätsbekundungen und auch in Thüringen zu zahlreichen Resonanzaktionen. Bei einer Banneraktion am 1. Juni in Weimar halten ca. 20 bis 30 schwarz gekleidete und vermummte Personen am Goethe-SchillerDenkmal zwei Transparente mit den Aufschriften "Lina E., willkommen zurück!" und "Den Kampf um Befreiung gewinn' wir - Stück für Stück!". In Erfurt wurde am 3. Juni ein Transparent "Free Lina" festgestellt. Ein Beitrag vom 7. Juni auf "de.indymedia" zeigt eine Soli-Aktion mehrerer Personen mit Hämmern in der Hand und Transparenten, die sich mit Lina E. und anderen "Antifaschisten" wie den "Eingeknasteten in Budapest", den "Untergetauchten" und den "unverzagt Demonstrierenden in Leipzig" solidarisieren. Ausgehend von einem "Repressionsfrühling" in Thüringen wird zu einer Militanzdebatte aufgerufen. Man wolle nicht aufhören, "die Faschos zu schlagen, wo wir sie treffen. Zu diskutieren haben wir, wen wann wo wie dolle und was dann. #Militanzdebatte." Das martialische Auftreten der Protagonisten mit Hämmern und der Aufruf zu einer Militanzdebatte in Thüringen könnten auf eine gesteigerte Gewaltbefürwortung der linksextremistischen Szene in Erfurt deuten. Zudem kam es in Erfurt am 1. Juni zu zwei nächtlichen Übergriffen auf zuvor bereits geoutete Tattoo-Studios (vermeintlicher) Rechtsextremisten mit fünfstelligem Sachschaden und Selbstbezichtigungsschreiben auf "de.indymedia". Weitere Resonanzaktionen wurden thüringenweit insbesondere durch Graffitti und Aufkleber wie "weg mit 129.Free Lina", "Antifa", "AFA", "161" 64 durchgeführt. 3. Folgen der Proteste am 1. Mai in Gera und Resonanzen auf überregionale Durchsuchungsmaßnahmen vom 8. November 64 Hinweis auf Paragraph 129 Strafgesetzbuch (StGB) - Bildung krimineller Vereinigungen; häufig genutzte Kürzel - Akronym und Zahlencode - für "Antifaschistische Aktion". 100 Im Nachgang zu überregionalen Durchsuchungsmaßnahmen im Zuge der Ermittlungen zu den o.g. Strafund Gewalttaten am 1. Mai in Gera65 kam es thüringenund bundesweit, insbesondere auch mit Bezug zu den jeweils eigenen polizeilichen Maßnahmen vor Ort, zu umfänglichen Resonanzen und Solidaritätsbekundungen im linksextremistischen und im nichtextremistischen linken Spektrum, mitunter ohne jegliche Distanzierung. Erneut zeigte sich eine deutliche Erosion der Grenzen zwischen extremistischem und nichtextremistischem Spektrum. Auf die linksextremistische "Rote Hilfe" als Unterstützungsorganisation wird verwiesen. Ein Mitglied des Bundesvorstandes äußerte: "Das staatliche Kalkül, durch diese Razzien die antifaschistische Bewegung einzuschüchtern und zu lähmen, wird nicht aufgehen. Den Repressionsangriffen stellen wir unsere Solidarität entgegen." Im Nachgang kam es in Gera am selben Tag an der dortigen Polizeidienststelle durch Unbekannte zu einer Beschädigung der doppelverglasten Eingangstür. In Jena nehmen am 10. November unter dem Motto "Jetzt reicht's! - Alle auf die Straße gegen die Repression" ca. 260 Personen an einer Demonstration teil. Ein Nebeltopf wurde gezündet, einschlägige Sprechchöre lauteten "Alerta, Alerta Antifaschista"66, Transparente trugen die Aufschriften "Freiheit für alle politischen Gefangenen", "Bullen raus aus den Häusern", "Ihr könnt unsere Türen brechen, aber niemals unseren Willen", "Solidarisch gegen Staatsgewalt". 4. Sonstige linksextremistische Organisationen "Rote Hilfe e. V." (RH) Bund Thüringen Gründung 1975 Sitz Göttingen Jena, Erfurt, Arnstadt Mitglieder 2023 13.700 180 2022 13.100 170 2021 12.100 160 Publikationen "Die Rote Hilfe" (vierteljährlich) Internet eigener Internetauftritt eigene Internetauftritte der örtlichen Gliederungen Tabelle 6: Zahlen und Fakten zur RH Die von Linksextremisten unterschiedlicher Ausrichtung getragene RH definiert sich als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation", die vermeintlich politisch Verfolgte aus dem gesamten "linken" und linksextremistischen Spekt65 Siehe dazu Kapitel 3.2. 66 Deutsch: "Achtung, Achtung "Antifaschisten!"; eine Parole aus dem antifaschistischen Kampf der 1920er Jahre gegen den italienischen Diktator Mussolini. 101 rum politisch und materiell unterstützt. Sofern die in der Satzung genannten Zwecke der RH erfüllt sind, erhalten von juristischen Verfahren Betroffene und rechtskräftig Verurteilte auf Antrag eine den vereinseigenen Regelungen entsprechende Kostenerstattung. Als Voraussetzung dafür muss jegliche Kooperation mit Justizoder Sicherheitsbehörden unterbleiben. Die RH selbst betont, "keine karitative Einrichtung" zu sein. Die Unterstützung für die Einzelnen sei ein "Beitrag zur Stärkung der Bewegung". Der durch exemplarische Strafverfolgung bezweckten Abschreckung stelle die RH explizit "das Prinzip der Solidarität" entgegen und ermutige damit zum Weiterkämpfen. Sowohl durch ihr Wirken als "Gefangenenhilfsorganisation" als auch durch die gezielte Meinungsbildung und -beeinflussung in der Öffentlichkeit - durch Publikationen, Veranstaltungen, Kampagnen - diskreditiert die Organisation den demokratischen Rechtsstaat als "Willkürregime", behindert staatliches Handeln und versucht letztlich szenestabilisierend und -stärkend zu wirken. Ohne selbst gewalttätig zu agieren, befürwortet und unterstützt sie so die Gewaltanwendung durch Szeneangehörige.67 Die RH versteht das Handeln von Polizei, Justiz und Strafvollzug als politisch motiviert, es diene zur "Herrschaftssicherung der Machthabenden". Sie lehnt das staatliche Gewaltmonopol ab. Der Bekämpfung des Terrorismus dienende Gesetze deutet die RH als "Feindstrafrecht", das die Regeln einer 'normalen' Prozessführung und Ermittlung missachte. Ihr Ziel sei es, "politische Aktivität gegen die herrschenden Zustände unmöglich" und Menschen durch "ausgeübte oder angedrohte Gewalt" gefügig zu machen. Die RH ist die mitgliederstärkste Organisation im Bereich des Linksextremismus und weist bundesweit seit Jahren einen beständigen Zuwachs an Mitgliedern auf. Die Organisation gliederte sich bundesweit in ca. 50 Ortsbzw. Regionalgruppen. In Thüringen existieren "Ortsgruppen" in Jena und Erfurt sowie eine "Regionalgruppe" in Südthüringen. Die laut Satzung alle zwei Jahre durchzuführende Bundesdelegiertenversammlung der RH fand im Zeitraum 15. bis 17. September in Bielefeld (Nordrhein-Westfalen) statt. Zum alljährlichen "Tag der politischen Gefangenen" am 18. März68 rief die RH wieder zu zahlreichen Veranstaltungen und Kundgebungen auf. Sie gibt darüber hinaus jährlich eine 67 Ihre Ziele und Betätigung richten sich damit gegen das Rechtstaatsprinzip, das zum essentiellen Kern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählt. Neben der Bekämpfung der staatlichen Ordnung unterstützt sie durch die Solidarisierung mit Linksextremisten ebenfalls die Zielsetzungen von Autonomen oder Anarchisten, die eine Systemüberwindung durch Aushebelung von Elementen des Demokratieprinzips, wie des Prinzips der Volkssouveränität oder des Rechts der Bildung und Ausübung einer Opposition, anstreben. Außerdem spricht die RH im Rahmen ihres Engagements "gegen Rechts" und insbesondere gegen mutmaßliche Rechtsextremisten den betroffenen politischen Gegnern bestimmte Grundund Menschenrechte ab, was einen Verstoß gegen das Prinzip der Menschenwürde darstellt. 68 Der von der RH am 18. März 1923 ausgerufene "Internationale Tag der Hilfe für politische Gefangene" geht auf einen Arbeiteraufstand der Pariser Kommune vom 18. März 1871 zurück; alljährlich wird zu diesem Anlass 102 Sonderzeitung heraus, die auch der linksextremistischen Tageszeitung "junge Welt" beiliegt. Den thematischen Schwerpunkt unter der Losung "Freiheit für alle politischen Gefangenen!" setzt sie im Jahr 2023 auf "Schikanen im Knast und Widerstand dagegen". Weltweit würden linke Aktivisten eingesperrt, weil sie sich den herrschenden Zuständen widersetzen, eine Vielzahl an Willkürmaßnahmen gegen diese Gefangenen solle sie dazu bringen, vom politischen Kampf abzulassen. Aufgabe sei es, diese "von außen zu unterstützen und mit allen politischen Mitteln für ihre Freiheit zu kämpfen". Auch wer gegen Neonazis kämpfe, werde unerbittlich verfolgt und möglicherweise für Jahre eingekerkert, wie auch Lina in Leipzig. Man würde nicht aufhören, "die sofortige Freilassung aller Antifaschist*innen zu fordern." Die RH in Thüringen beteiligt sich im Rahmen ihrer "Antirepressionsarbeit" an Demonstrationen und Protesten oder unterstützt diese. Im Berichtszeitraum boten die Ortsgruppen (OG) Erfurt und Jena regelmäßige Sprechzeiten an.69 Dabei betont die OG Erfurt: "...trotz der Repression auf den Straßen, in den Häusern, im Gerichtssaal und in Knästen: weiter fighten!" Kampagnen, Solidaritätserklärungen und -aktionen der RH in Thüringen zeigen ebenso wie ihre Beteiligung an adäquaten bundesweiten Aktivitäten gute Verbindungen in die linksextremistische Szene. Sie unterstützt so auch die gewünschte Vernetzung antifaschistischer Akteure und lokaler Gruppen, das "Bekenntnis zu konsequentem Antifaschismus" und die Forderung nach Freiheit für "alle inhaftierten Antifaschist:innen". Die OG Erfurt thematisierte "Hausdurchsuchungen & Anquatschversuche", insbesondere in Verbindung mit dem "Antifa-Ost"-Verfahren, und verwies mehrfach auf entsprechende Veröffentlichungen der RH Jena. Sie beteiligte sich an einem "Antirepressionsworkshops" am 31. März in Erfurt und bot auch vereinzelt Vorträge zu Repressionsfragen an. Anlässlich der am 31. Mai erfolgten Urteilsverkündung im "Antifa-Ost"-Verfahren dokumentierte sie am 15. Juni Solidaritätsgrüße aus Erfurt unter dem Motto "Kriminell und hammer solidarisch - wir sind alle SS 129! Antifa bleibt Handarbeit. Feminismus auch."70 Der Text war zuvor am 7. Juni anonym auf dem linksextremistischen Internetportal "de.indymedia" erschienen. Die OG Jena befasste sich im Nachgang zu den "körperlichen Auseinandersetzungen mit Nazis in Budapest" wiederholt mit den "Repressionsangriffen" und "Hausdurchsuchungen gegen Antifaschist*innen" auch in Jena. Mit Post vom 31. März rief sie zur Solidarität auf und forderte "Freiheit für die Inhaftierten in Budapest! Zusammenstehen gegen die neue Represzu Veranstaltungen und Demonstrationen gegen "staatliche Repression" und für "die Freiheit aller politischen Gefangenen" aufgerufen. 69 Der Regionalgruppe in Südthüringen gelang dies offenbar nicht. Der Internetauftritt der Gruppe endet mit einem Eintrag aus dem Vorjahr. Sie trat im Berichtszeitraum nicht mit Aktivitäten in Erscheinung. 70 Siehe Fn. 64. 103 sionswelle gegen Antifaschist:innen". Der von ihr dokumentierte Aufruf eines "Solikreises der beschuldigten Antifaschist:innen" gilt tatverdächtigen Gewalttätern, die im Februar in Ungarn vermeintliche Rechtsextremisten brutal und mit massiver Gewaltausübung überfallen und z. T. erheblich verletzt hatten.71 Zudem ergibt sich durch zwischenzeitlich bekannte Tatverdächtige und Untergetauchte eine unmittelbare Verbindung zum "Antifa-Ost"-Verfahren. Der Aufruf schloss mit der Forderung: "Spendet Geld, verbreitet diesen Aufruf und Informiert Euch und andere über das Verfahren! Antifa in die Offensive!" Ein Spendenkonto der "Roten Hilfe" zum Stichwort "Budapest" wurde angegeben. Im Mai forderte sie anlässlich der Verhaftung eines Genossen aus Jena, der Beschuldigter eines 129-Verfahrens wäre, und mehrerer damit in Verbindung stehender Hausdurchsuchungen zur Solidarität mit diesem auf und dokumentierte einen Aufruf von "Antifaschist:innen aus Jena" auf dem linksextremistischen Portal "de.indymedia". Am 22. November veröffentlichte die RH Jena unter der Überschrift "Repression geht weiter: Vorbereitet sein ist wichtig!" einen Post zu bundesweiten Exekutivmaßnahmen der Polizei am 8. November im Zusammenhang mit einem Landfriedensbruch am 1. Mai in Gera. Von den Hausdurchsuchungen betroffen waren auch Tatverdächtige aus Jena und Thüringen sowie aus weiteren Bundesländern, u. a. Sachsen, Berlin und Hamburg. Neben zahlreichen elektronischen Speichermedien wurden auch Waffen und Schlagstöcke sowie Betäubungsmittel sichergestellt. Es wäre wichtig, "sich vorzubereiten: Räumt analog wie digital auf, klärt mit eurem Umfeld was bei einer HD72 zu tun ist und wer sich um was kümmern kann." Weitere Informationen und Unterstützung wurden angeboten. Ein entsprechender Spendenaufruf wurde bereits am 15. November veröffentlicht, ein Konto unter dem Stichwort "1. Mai Gera" angegeben. Eine im Mai verlinkte "Dokumentation über aktuelle Anquatschversuche in Thüringen" vom 11. März richtete das Augenmerk auf das seit Jahren intensiv verfolgte Thema der "leisen Repression": staatliche Versuche, Informationsquellen zu gewinnen, würden momentan deutlich zunehmen. Durch zielgerichtete Unterstützung von Szeneangehörigen oder mit dem Staat in Konflikt stehenden Personen wird versucht, zumindest perspektivisch stärkeren Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von (linksextremistisch motivierten) Straftaten, Tätern und damit auf gesellschaftliche Normen insgesamt zu gewinnen. Mit anlassbezogenen Kampag71 Siehe Kapitel 3.2. 72 Steht für "Hausdurchsuchung". 104 nen gelingt es der RH mitunter, ihre politischen Anliegen erfolgreich in der Öffentlichkeit zu platzieren. 5. Politisch motivierte Kriminalität - Links Das System der "Politisch motivierten Kriminalität" (PMK) ist eine polizeiliche Kategorisierung zur Einordnung von Straftaten. Die Zahlen werden als ergänzende Information in diesen Bericht aufgenommen. Für die PMK - Links weist die Statistik des Landeskriminalamts Thüringen73 folgende Zahlen aus: Straftaten 2021 2022 2023 Insgesamt 443 353 444 davon u. a.: Gewaltkriminalität 29 23 24 Sachbeschädigungen 306 240 303 Verstöße gegen das 15 12 24 Versammlungsgesetz Tabelle 7: Statistik politisch motivierte Kriminalität - Links Im Jahr 2023 entfielen mit 444 von 3.097 in Thüringen insgesamt erfassten politisch motivierten Straftaten etwa 14,3 Prozent auf den Phänomenbereich "Links". Im Vergleich zum Vorjahr ist bei Betrachtung der absoluten Deliktszahlen der PMK - Links ein Anstieg um 91 Fälle zu verzeichnen, womit das Niveau des Jahres 2021 erneut erreicht und geringfügig überschritten wurde. Im Jahr 2023 wurde bei der Zahl der Gewaltdelikte das Vorjahresniveau um eine Straftat überschritten und entspricht damit im Wesentlichen dem Vorjahresniveau, wobei der insgesamt in Thüringen 2023 festzustellende Trend deutlich rückläufiger PMK-Gewalttaten hier offenbar nicht zum Tragen kommt. Straftaten mit Bezügen zum Terrorismus wurden im Bereich der PMK-L nicht festgestellt. Hinsichtlich der insgesamt 303 festgestellten Fälle von Sachbeschädigungen ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr ersichtlich, wobei das Niveau von 2021 nicht gänzlich erreicht wurde. Ebenso nahm die Zahl der im Berichtszeitraum registrierten Fälle von Verstößen gegen das Versammlungsgesetz zu. Hier wurde die Zahl der Straftaten im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. 73 Veröffentlicht am 8. April 2024. 105 VIII. Spionageabwehr 1. Aufgabe und Überblick Innerhalb der Verfassungsschutzbehörde hat die Spionageabwehr gemäß SS 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ThürVerfSchG die gesetzliche Aufgabe, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht zu beobachten, Informationen darüber zu sammeln und diese auszuwerten. Hierbei wird eine vertrauensvolle und enge Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz sowie den Behörden im Verfassungsschutzverbund gepflegt. Die Bundesrepublik Deutschland ist nach wie vor durch ihre geopolitische Lage, der bedeutenden Position innerhalb der Europäischen Union und der NATO, ihrer Eigenschaft als eine der führenden Industrienationen mit Standorten zahlreicher Unternehmen der Spitzentechnologie sowie als bedeutsamer Forschungsstandort ein prioritäres Aufklärungsziel für Nachrichtendienste fremder Staaten. Es gilt, Thüringen als Teil der föderalen Struktur und erfolgreichen Forschungsund Wirtschaftsstandort vor derartigen Tätigkeiten fremder Staaten und ihrer Nachrichtendienste zu bewahren und den Schutz für die Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Zugleich ist für die Verfassungsschutzbehörde auf Seiten der Gesprächspartner (z. B. im Rahmen des Schutzes vor Wirtschaftund Wissenschaftsspionage, Proliferation) eine gesteigerte Sensibilität für die Aufklärungstätigkeit fremder Nachrichtendienste und den Bedarf zum Schutz eigener Interessenlagen feststellbar. So erreichen die Verfassungsschutzbehörde weiterhin kontinuierlich Hinweise von öffentlichen und nicht-öffentlichen Stellen in Thüringen, die für die Aufgabenerfüllung relevant und Ausdruck der gesteigerten Aufmerksamkeit der Hinweisgeber sind. Akteure und Ziele Die Hauptakteure der gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Spionage sind weiterhin die Russische Föderation, die Volksrepublik China, die Islamische Republik Iran und die Republik Türkei, sowie einige Staaten aus dem nah-, mittelund fernöstlichen aber auch dem nordafrikanischen Raum. Daneben werden im Rahmen der Spionageabwehr des Verfassungsschutzverbundes auch nachrichtendienstliche Aktivitäten solcher Staaten in Deutschland bearbeitet, mit denen die Bundesrepublik in anderen Zusammenhängen ggf. partnerschaftlich zusammenarbeitet. 106 Die innen-, außensowie wirtschaftspolitischen Ziele dieser Länder bestimmen die Schwerpunkte der Aktivitäten ihrer jeweiligen Nachrichtendienste. Die Beschaffungsaktivitäten der Nachrichtendienste richten sich daher nicht allein nach der jeweiligen gesetzlichen Aufgabenzuweisung, sondern sie orientieren sich zudem an aktuellen politischen Vorgaben oder wirtschaftlichen Prioritäten der Staaten. Die Informationsbeschaffung ist schwerpunktmäßig auf die Bereiche Politik, Wirtschaft, Militär, Wissenschaft und Technik gerichtet. Ziel ist die Erlangung eines Informations-/Wissensvorsprungs in politischen Vorgängen, ein illegaler Technologietransfer aus Wirtschaft und Forschung und die Möglichkeit der Einflussnahme auf Willensbildungund Entscheidungsprozesse (z. B. durch Kenntniserlangung über politische/gesellschaftliche Konflikte im Zielland), mit denen letztlich eine Schwächung der Position Deutschlands in den Beziehungen zu anderen Staaten oder eine Beeinträchtigung deutscher Unternehmen und Forschungseinrichtungen im internationalen Wettbewerb verbunden sind. Ausspähung von Oppositionellen Eine große Zahl von Menschen suchte in den vergangenen Jahren Zuflucht und Schutz in Europa u. a. aufgrund der Sicherheitslage oder politischer Verfolgung in ihren Heimatländern. Damit einhergehend betreiben fremde Nachrichtendienste in Deutschland intensiv die Ausspähung oppositioneller Aktivitäten und die Unterwanderung der Exilgemeinden, etwa indem sie personenbezogene Daten von oppositionellen Personen und sonstige Informationen zu Aktivitäten von entsprechenden Vereinigungen in Deutschland sammeln. Entsprechende Bemühungen fremder Staaten unter Beteiligung ihrer Nachrichtendienste reichen indes auch bis zur Ausübung staatsterroristischer Aktivitäten im Ausland. Ziel hierbei ist die Sicherung des eigenen Herrschaftsanspruches im Heimatland. Im Berichtszeitraum erhob die Bundesanwaltschaft Anklage gegen einen marokkanischen Staatsangehörigen wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit. Der Angeklagte soll für den marokkanischen Auslandsnachrichtendienst DGED Angehörige einer oppositionellen marokkanischen Bewegung in Deutschland ausgespäht und die zu mehreren Personen erlangten Informationen an seinen marokkanischen Führungsoffizier übermittelt haben.74 74 Pressemitteilung des Generalbundesanwaltes vom 23. Juni 2023. 107 Wirtschafts-, und Wissenschaftsspionage, Proliferation Darüber hinaus bemühen sich einige Länder weiterhin darum, in den Besitz atomarer, biologischer oder chemischer Massenvernichtungswaffen und der hierfür erforderlichen Trägersysteme zu gelangen. Sie bedienen sich u. a. ihrer Nachrichtendienste bei der Beschaffung notwendiger Güter zu deren Herstellung sowie des erforderlichen Know-hows. Die Spionageabwehr des Verfassungsschutzverbundes tritt solchen Beschaffungsbemühungen in Zusammenarbeit mit anderen Behörden entgegen (Proliferationsabwehr). Die damit angesprochenen Bereiche Wirtschaft, Wissenschaft und Technik nehmen als Aufklärungsziele für Nachrichtendienste auch im Übrigen ein immer breiteres Spektrum ein. Insbesondere Staaten mit Forschungsund Technologierückständen haben großes Interesse an Informationen über Fertigungstechniken und technisches Know-how. In Russland und China sind Nachrichtendienste gesetzlich befugt, aktiv Spionage zur Förderung der heimischen Wirtschaft und damit zur Verfolgung ihrer wirtschaftsund sicherheitspolitischen Ambitionen zu betreiben. Auch unterliegen dortige Unternehmen einer weitgehenden Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den eigenen Nachrichtendiensten. Daher sind Information und Aufklärung von potenziell gefährdeten Unternehmen sowie wissenschaftlichen Einrichtungen und die Durchführung von Sensibilisierungsgesprächen über die Gefahren der Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage als wichtige Aufgabe der Spionageabwehr unverzichtbar. Gefährdung durch (cybergestützte) Einflussnahmeversuche und Desinformation Angesichts der immer komplexeren weltpolitischen Entwicklungen, sich abzeichnender Verschiebungen im globalen Kräfteverhältnis sowie einer rasanten Digitalisierung des Informationsraumes, spielt das Bestreben nach Deutungshoheit über aktuelle Vorgänge und Entwicklungen mittels gezielter Einflussnahmeversuche, Desinformation und Propaganda eine immer größere Rolle. Einflussnahmeaktivitäten ausländischer staatlicher Stellen, von ihnen herangezogener oder unterstützter nicht-staatlicher Akteure und unter Beteiligung von Nachrichtendiensten fremder Staaten zielen dabei auf unterschiedliche Adressatengruppen, wie Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft ab und sprechen DiasporaGruppen an. Im Berichtszeitraum führte insbesondere der seit dem Februar 2022 andauernde Krieg Russlands gegen die Ukraine zu einer signifikanten Veränderung der Sicherheitslage, auf die sich auch die Verfassungsschutzbehörden in Angelegenheiten der Spionageabwehr einstellen müssen. Sowohl der Krieg in der Ukraine als solcher, von Deutschland unterstützte Sanktio108 nen gegen Russland als auch Waffenlieferungen westlicher Staaten an die ukrainischen Streitkräfte lösen einen steigenden Informationsbedarf seitens staatlicher russischer Stellen aus, die - nachdem der Zugang russischer Vertreter zu sonstigen Gesprächsformaten und offenen Veranstaltungen eingeschränkt ist - maßgeblich auch unter Einsatz der russischen Nachrichtendienste erfüllt werden wird. Nachdem die Bundesregierung bereits im Vorjahr mit der Ausweisung von 40 Mitarbeitern der Russischen Botschaft in Berlin und der russischen Generalkonsulate in Deutschland erste Maßnahmen ergriffen hatte, um die Präsenz russischer Nachrichtendienste an diesen Stellen zu reduzieren, wurden schließlich zum 31. Dezember auch vier der bisher fünf Generalkonsulate Russlands in Deutschland geschlossen. Es ist davon auszugehen, dass sich nicht allein die nachrichtendienstlichen Aufklärungsbemühungen Russlands in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik sowie Militär sondern ebenfalls Versuche, die durch die Sanktionen hervorgerufenen Beschränkungen aufgrund der nicht ausreichenden Substituierbarkeit durch einheimische Kapazitäten zu umgehen, künftig weiter verstärken werden, auch um durch die Sanktionen bedingten Nachteile zu kompensieren. Die bisher stark botschaftsund konsulatsgestützte Aufklärungstätigkeit russischer Nachrichtendienste wurde durch die Ausweisungen zunächst geschwächt und wird angesichts der auch in vielen anderen Staaten der Europäischen Union und G7 vollzogenen Ausweisungen der in russischen Botschaften und Generalkonsulaten eingesetzten Mitarbeiter russischer Nachrichtendienste nunmehr mittels veränderter Methodik, z. B. durch einer Steuerung von Operationen aus den Zentralen der russischen Nachrichtendienste, erfolgen. Des Weiteren waren seit Kriegsbeginn in steigendem Umfang russische Desinformationsaktivitäten gegen politische und mediale Strukturen auch in Deutschland zu verzeichnen, die sich auch im Berichtszeitraum fortgesetzt haben. Ihnen lag das Bestreben zugrunde, in Aussicht gestellte russische Sanktionen und das militärische Vorgehen Russlands gegen die Ukraine in der Öffentlichkeit als reaktiv gegenüber den Sanktionen westlicher Staaten bzw. deren Unterstützungshandlungen für die Ukraine (insbesondere militärische Unterstützungsleistungen) darzustellen und so zu legitimieren. Dabei wurde der Versuch unternommen, das Bild eines verbreiteten Nachlassens der Akzeptanz der Unterstützung der Ukraine und der Sanktionen gegen Russland in europäischen Staaten einschließlich einer Entfremdung von Teilen der Bevölkerung von politischen Entscheidungsträgern zu zeichnen und so gesellschaftliche Konflikte auch in Deutschland zu initiieren oder zu verstärken. Äußerungen von deutschen öffentlichen Stellen bzw. von Vertretern anderer Staaten der Europäischen Union einerseits, ebenso wie entgegenstehende Äußerungen wurden durch russische staatliche bzw. staatsnahe Stellen unmittelbar aufgegriffen, für eigene Zwecke instrumentalisiert und 109 die Rolle Russlands als Opfer eines vermeintlichen Stellvertreterkrieges westlicher Staaten bzw. der NATO entwickelt. Auf eine breite öffentliche Wahrnehmung ausgerichtet waren zudem Cyberangriffe von parteiergreifenden pro-russischen, nicht-staatlichen Gruppierungen (sog. Hacktivisten) auf zivile Infrastrukturen (u. a. Flughäfen, Banken) und die Websites u. a. von Sicherheitsbehörden und politischen Entscheidungsträgern in Deutschland. Die Angriffe erfolgten regelmäßig als Überlastungsangriffe (DDos-Angriff) und in unmittelbarem Nachgang zu politischen Entscheidungen z. B. in Bezug auf weitere Unterstützungsleistungen Deutschlands und anderer Staaten für die Ukraine. Sie wurden durch die Urheber in sozialen Medien angekündigt, zielten auf eine Verunsicherung bzw. Einschüchterung in den Zielländern, verursachten indes bisher lediglich kurzfristige Störungen bei den betroffenen Stellen. 2. Methoden fremder Nachrichtendienste Bei der Informationsbeschaffung bedienen sich die Nachrichtendienste neben allgemein zugänglicher Quellen (z. B. Fachliteratur, Onlinebibliotheken, Fachkongresse und Vortragsveranstaltungen) einer Vielzahl von Methodiken. Informationsgewinnung mit Personen Menschlichen Quellen kommt bei der Informationsbeschaffung eine unverändert große Bedeutung zu. Oft werden entsprechende Kontakte aus sogenannten Legalresidenturen75 heraus von dort vorgeblich als Diplomaten tätigen Mitarbeitern des Nachrichtendienstes initiiert. Solche Verbindungen können im Rahmen der offenen Gesprächsführung unverfänglich aufrechterhalten werden, aber auch - über die gezielte "Pflege" eines solchen Kontakts - zum Aufbau einer geheimdienstlichen Agentenverbindung führen. Dabei sind die Nachrichtendienste fremder Staaten in Deutschland personell sehr unterschiedlich an ihren amtlichen und halbamtlichen Vertretungen (Botschaften, Konsulate) präsent. Deutsche Bürger, die sich für längere Zeit beruflich oder privat auf dem Gebiet des fremden Staates aufhalten oder regelmäßig dorthin reisen und Kontakte pflegen, sind für die Nachrichtendienste fremder Staaten von Interesse. Dazu zählen neben Angehörigen diplomatischer Vertretungen und weiteren Vertretern aus Politik und Verwaltung insbesondere Firmenrepräsentanten, Wissenschaftler oder Studierende/Gastwissenschaftler. Der Aufenthalt dieser Personen auf dem Gebiet des fremden Staates und die damit verbundenen rechtlichen und tatsächlichen Ein75 Stützpunkt eines fremden Nachrichtendienstes, abgetarnt in einer offiziellen oder halboffiziellen Vertretung (beispielsweise in Botschaften, Generalkonsulaten, Presseagenturen, Fluggesellschaften, etc.) seines Landes im Gastland. 110 wirkungsmöglichkeiten z. B. bereits im Rahmen der Einreise bieten den Nachrichtendiensten eine Vielzahl von Zugangsmöglichkeiten zu den aus ihrer Sicht interessanten Zielpersonen. Entsprechende, teils auch zunächst unverfänglich im Rahmen von persönlichen Gesprächen oder über Karrierenetzwerke aufgebaute Kontakte werden bei einer erneuten Einreise oder auch nach der Rückkehr nach Deutschland gepflegt. Cyberspionage Die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung zahlreicher Prozesse - nicht zuletzt vorangetrieben durch die Pandemielage der letzten Jahre - bietet für Nachrichtendienste einerseits eine Informationsquelle für im Internet veröffentlichte, teils auch sensible Informationen von öffentlichen und privaten Einrichtungen sowie andererseits neue potenzielle Einfallstore in IT-Systeme von Verwaltungen und Unternehmen und damit einen erweiterten Aktionsradius. Die weiter voranschreitende Digitalisierung hat der nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung somit neue Möglichkeiten eröffnet. Informationen, die früher nur durch menschliche Quellen zu erlangen waren, sind heutzutage verhältnismäßig leicht und ohne größere Risiken auf technischem Weg zu beschaffen. Cyberangriffe eröffnen dadurch in steigendem Umfang die Chance zur Erlangung sensibler Informationen bei überschaubarem eigenen Ressourceneinsatz. Zugleich werden die bei erfolgreichen Cyberangriffen erlangten Zugänge aber auch für anschließende Desinformationsund Einflussnahmeversuche ("Hack and Leak"-Operationen, bei denen erbeutete Daten teils in manipulierter Form öffentlich gemacht und/oder "Hack and Publish"-Operationen, in denen Falschinformationen über gekaperte reichweitenstarke Kommunikationskanäle veröffentlicht werden) genutzt. Nachrichtendienstlich gesteuerte Cyberangriffe stellen im Kern ein Mittel der Informationsgewinnung und Sabotage dar und bieten fremden Nachrichtendiensten in allen Feldern der Spionage (politisch-wirtschaftliche Spionage, Proliferation, Cyberangriffe, Desinformation / Einflussnahmeversuche) ein flexibel einsetzbares Aufklärungsmittel. Daten sind weltweit verfügbar und werden zu begehrten Informationsquellen auch für fremde Nachrichtendienste. Dementsprechend stellt der stetig wachsende Einfluss moderner Informationstechnologien (IT) eine besondere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden dar. Das Risiko, von Cyberangriffen mit nachrichtendienstlichem Hintergrund betroffen zu sein, betrifft generell neben dem wirtschaftlichen und wissenschaftlichen auch den politischen Bereich als klassischem Betätigungsfeld von Nachrichtendiensten. Eine Identifizierung der Urheber ist möglich, häufig jedoch mit verbleibenden Unsicherheiten verbunden. Der Schutz vor bzw. das Erkennen von elektronischen Angriffen auf Wirtschaftsunternehmen, Regierungsstellen, For111 schungseinrichtungen und Einzelpersonen in exponierter Stellung erfordert immer intensivere Anstrengungen und Aufwendungen. So werden zunehmend elektronische Angriffe mit mutmaßlich nachrichtendienstlichem Hintergrund auf Wirtschaftsunternehmen und Regierungsstellen festgestellt. Derartige Maßnahmen können mit geringem Risiko von den Heimatstaaten der Akteure aus oder über Drittstaaten initiiert werden. Sie sind hochkomplex, erfolgen teils mit erheblichem zeitlichen Vorlauf und mit hoher Professionalität, bieten hohe Erfolgsaussichten und sind geeignet, auch kurzfristige Informationsbedarfe der dortigen Regierungsstellen zu erfüllen. Anhaltspunkte für eine staatliche Steuerung bzw. Anbindung an Nachrichtendienste fremder Staaten ergeben sich etwa aus der Auswahl der angegriffenen Ziele, den dadurch erkennbar werdenden konkreten Aufklärungsinteressen und der Langfristigkeit ihres Auftretens. Häufig bleiben Datenverluste bei den Adressaten dieser Angriffe unerkannt oder werden nur mit erheblichem Zeitverzug festgestellt. Ein Problem stellt dabei z. B. speziell entwickelte Schadsoftware dar, die erst im konkreten Bedarfsfall - mitunter Monate oder Jahre nach ihrer Installation - aktiviert wird. Diese Arten der Informationsbeschaffung sind als Spionagemethode inzwischen fest etabliert und gewinnen für fremde Nachrichtendienste an Bedeutung. Die Angreifer bedienen sich ausgereifter Tarnstrategien und vielfältiger Verschleierungsmechanismen. Sie erschweren damit nachhaltig die Aufklärung und Abwehr der elektronischen Angriffe. Hybride Bedrohungen Daneben sind verstärkte Aktivitäten über sogenannte soziale Medien zur Beeinflussung von gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland erkennbar. Mit der gesteuerten Verbreitung von "Fake News" versuchen fremde Nachrichtendienste Einfluss auf gesellschaftliche und politische Meinungsbildungsprozesse zu nehmen und zumindest indirekt auf politische Entscheidungen einzuwirken. Sie greifen absehbare gesellschaftliche Konflikte auf oder verstärken diese mit dem Ziel der Destabilisierung und Delegitimierung der gesellschaftlichen Institutionen in den Zielländern. Das Portfolio hierbei eingesetzter Mittel ist vielfältig und kann von dem bereits aus der Vergangenheit bekannten Einsatz von Einflussagenten mit Anbindung an russische staatliche oder staatsnahe Stellen über den zielgerichteten Aufbau und die Pflege von Kontakten zu Multiplikatoren in Politik und Wirtschaft, über regelrechte Propagandaoffensiven und dem damit verbundenen Versuch der Instrumentalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen bis hin zu Einflussnahme-Aktivitäten in der Wirtschaft reichen. So erregten chinesische Versuche der Einflussnahme auf die deutsche Wirtschaft durch Direktinvestitionen besondere Aufmerksamkeit. Gezielte chinesische Firmenbeteiligungen in ausgewähl112 ten Schlüsselbranchen im Ausland sind erklärter Bestandteil der Industriestrategie "Made in China 2025". In die Prozesse der staatlichen Direktion von Investitionen staatlicher, halbstaatlicher und privater chinesischer Unternehmen sind auch Nachrichtendienste eingebunden. Darüber hinaus unternimmt insbesondere Russland mit zunehmender Intensität den Versuch, die politische und öffentliche Meinung in Deutschland u. a. durch die mediale Verbreitung von Propaganda und Desinformationen in seinem Sinne zu beeinflussen. Als Mittel zum Zweck dienen dabei neben den sozialen Medien die staatlich geförderten sowie privaten Institute ("Think Tanks") und die russischen Staatsmedien. So verbreiten weltweit sendende TV-, Radiound Internetkanäle auch in Deutschland gezielt Narrative im Sinne der russischen Führung. Staatliche Unternehmen kaschieren ihre Aktivitäten, indem sie als unabhängige Medien auftreten, um sich als Alternative zu anderen etablierten Medienangeboten zu positionieren. Die seitens Russlands verfolgten Ziele sind die Diskreditierung der Bundesregierung und der Landesregierungen, die polarisierende Zuspitzung des politischen Diskurses und das Untergraben des Vertrauens in staatliche Stellen. 3. Wirtschaftsschutz / Cyberabwehr Die deutsche Wirtschaft investiert große Summen in Forschung und Entwicklung. So schafft sie die Grundlagen für Innovationen und Know-how. Hierdurch besitzt sie einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Diese internationale Spitzenrolle weckt bei Konkurrenzunternehmen einerseits, aber auch fremden Staaten andererseits nach wie vor Begehrlichkeiten. An Grenzen stößt diese Differenzierung dort, wo es wegen der engen Verflechtung von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft im Einzelfall kaum möglich ist, zwischen staatlich betriebener Wirtschaftsspionage durch Nachrichtendienste fremder Staaten und der Ausspähung durch konkurrierende Unternehmen ohne staatliche Steuerung zu unterscheiden. Auch die Erschließung neuer Märkte im Ausland eröffnet für deutsche Unternehmen viele wirtschaftliche Chancen, birgt zugleich aber auch eine Vielzahl an Sicherheitsrisiken. Fremde Nachrichtendienste besitzen auf ihrem Hoheitsgebiet "Heimvorteil". Sie handeln häufig mit umfassenden Exekutivbefugnissen. Schaden durch Wirtschaftsspionage Wirtschaftsspionage verursacht in Deutschland jährlich erheblichen Schaden und kostet wertvollen Know-how-Vorsprung. Ausländische Nachrichtendienste versuchen in einem ersten Schritt, innovationsund leistungsfähige Unternehmen und Institutionen zu detektieren. Wesentlich dabei sind Bemühungen, Kontakte zu Entscheidungsund Kompetenzträgern in Wirtschaft und Wissenschaft aufoder bestehende Kontakte auszubauen. Diese Versuche 113 sind nicht begrenzt auf die aus den Medien bekannten Kampagnen mittels "Fake-Profilen" auf Plattformen wie LinkedIn, sondern können über die virtuelle Welt hinausgehen. Das langfristige Ziel dabei ist es, einen Wissensvorsprung durch illegales Abgreifen von (auch militärisch nutzbarem) Know-how zu erlangen. Die besondere Gefahr der Wirtschaftsspionage besteht darin, dass den Mitarbeitern der meisten Unternehmen nachrichtendienstliche Mittel und Vorgehensweisen nicht bekannt sind. Seitens des Angreifenden stehen jedoch professionelles nachrichtendienstliches Know-how bzw. eine entsprechende Anleitung und die erforderlichen Mittel zur Verfügung. Anders als im Bereich der Sicherung der Informationstechnologie und sonstiger Anlagen des Unternehmens entzieht sich die neben technischen Mitteln auch weiterhin relevante Informationsgewinnung fremder Nachrichtendienste durch menschliche Quellen - unabhängig davon, ob diese durch Anwerbung bereits im Unternehmen beschäftigter geeigneter Personen oder durch Einschleusung erfolgt - häufig der Kontrolle seitens der Verantwortlichen des Unternehmens. Geeignetes Mittel gegen - auch zunächst unverfänglich wirkende - Ausforschungsversuche sind hinreichend sensibilisierte Mitarbeiter in den Unternehmen und deren Bereitschaft, sich im Falle eines entsprechenden Verdachts einer verantwortlichen Stelle (z. B. Unternehmenssicherheit) und letztlich auch den Verfassungsschutzbehörden als Ansprechpartner in Angelegenheiten des Wirtschaftsschutzes anzuvertrauen. Wachsende Gefährdung durch Cyberangriffe Neben dem Einsatz klassischer Mittel und Methoden der Wirtschaftsspionage hat die zunehmende elektronische Vernetzung auch für Unternehmen zu neuartigen und erhöhten Risiken im Cyberraum geführt. Interne und externe Sicherheitsrisiken in der realen und der Cyberwelt erfordern einen ganzheitlichen Wirtschaftsschutz. Denn die Durchdringung des beruflichen Alltags mit internetfähigen Geräten und die Digitalisierung von Informationen und Verfahrensabläufen führen dazu, dass nahezu alle Wirtschaftsbereiche von Gefahren aus dem Cyberraum bedroht sind. Die Informationsbeschaffung fremder Nachrichtendienste durch den Einsatz technischer Mittel gehört zum Alltag. Dies gilt umso mehr, als neben ohnehin öffentlichen auch nicht öffentlich zugängliche Informationen oft leicht und ohne größere Risiken für fremde Nachrichtendienste erreichbar sind und z. B. Grundlage für eine anschließende Kontaktaufnahme zu menschlichen Quellen sein können. Zu den bekanntesten Gruppierungen, die fremden Nachrichtendiensten zugeordnet werden, zählen etwa APT28 (auch als Sofacy, Fancy Bear, Pawn Storm oder Sednit), Snake (auch Uroburos oder Turla) und GHOSTWRITER, die jeweils unterschiedliche Zielrichtungen aufweisen. Vor allem elektronische Angriffe, also gezielte Maßnahmen mit und gegen IT114 Infrastrukturen, sind ein wirksames und wichtiges Mittel der Informationsgewinnung. Die Möglichkeiten reichen vom Ausspähen, Kopieren oder Verändern von Daten (z. B. von Kundenlisten oder Strategiepapieren) über den Missbrauch von Identitäten bis hin zur Übernahme und Sabotage von Produktionsund Steuerungseinrichtungen. Im Rahmen solcher Cyberangriffe auf Unternehmen und Forschungseinrichtungen aber auch auf Regierungsstellen werden u. a. klassische E-Mails mit beigefügter Schadsoftware oder Watering-Hole-Attacks mit Drive-By-Infektionen eingesetzt, die von hierfür angelegten MailAccounts versandt werden. Häufig kommt Spear-Phishing76 als Angriffsmethode zur Anwendung, wobei jede Attacke mit hohem Aufwand speziell auf ein Ziel zugeschnitten wird. Ausgangspunkt ist auch hier oft ein ausgefeiltes "Social Engineering". Bei Watering-Hole-Attacks wiederum manipuliert der Angreifer bestimmte Websites derart, dass bei dem erwarteten Aufruf der Seiten durch das Opfer eine Schadwirkung ausgelöst wird. Die Kritische Infrastruktur (KRITIS)77 insbesondere in den Bereichen Energiebzw. Wasserversorgung, Verkehr und Telekommunikation ist aufgrund der mit einer Störung oder einem Ausfall verbundenen einschneidenden Auswirkungen für Bürger und Unternehmen ein herausgehobenes Ziel der Cyberspionage und -sabotage von staatlichen oder in deren Interesse handelnden nicht-staatlichen Akteuren und vorgeschalteten Ausforschungsbemühungen solcher Akteure im Vorfeld eines tatsächlichen Angriffes bzw. einer Sabotagehandlung. Dies gilt nicht nur für Angreifer mit allgemeinkriminellem Hintergrund und wirtschaftlicher Motivation, sondern auch für Nachrichtendienste fremder Staaten. Wegen eines befürchteten Imageverlustes zeigen Unternehmen die Vorfälle nur selten bei den zuständigen Stellen an. Dabei ist die Zusammenarbeit von Unternehmen und Sicherheitsbehörden wichtig, um Schutzmaßnahmen fest zu etablieren. Große Konzerne verfügen in der Regel über ausreichend Potenzial, geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Bei der Mehrzahl der kleinen und mittleren Unternehmen fehlt mitunter das Bewusstsein, dass auch sie durchaus ein lohnendes Ziel für Spionageund Ausspähungsaktivitäten sein können. Das Bundesamt für Verfassungsschutz erfüllt - in Kooperation mit den Verfassungsschutzbehörden der Länder - seinen gesetzlichen Auftrag, deutsche Unternehmen über die Gefahren von Cyberattacken durch fremde Nachrichtendienste aufzuklären. Es muss davon ausgegangen werden, dass auch künftig u. a. Unternehmen und Forschungseinrichtungen ins76 Spear-Phishing bezeichnet Angriffe mittels elektronischer Kommunikation, die auf bestimmte Personen, Organisationen oder Unternehmen abzielen. 77 Kritische Infrastruktur umfasst Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden. 115 besondere in den Bereichen der Luftund Raumfahrttechnik, neuer Werkstoffe, erneuerbarer Energien, der maritimen Wirtschaft, der Biotechnologie und Quantentechnologie (sog. Emerging Technologies) und kritische Infrastrukturen im Fokus von Aufklärungsbemühungen fremder Nachrichtendienste stehen. Bei der Verfassungsschutzbehörde eingehende Hinweise wurden auch im Berichtszeitraum an betroffene Unternehmen bzw. Privatpersonen und die fachlich zuständigen Ministerien mit einem Weitersteuerungsvermerk z. B. an Verbände, Unternehmen, öffentliche Einrichtungen übermittelt. Allen Thüringer Unternehmen, Unternehmensverbänden, Forschungseinrichtungen und Hochschulen steht der Wirtschaftsschutz des Verfassungsschutzes mit Publikationen, Sensibilisierungen und Vorträgen kostenfrei zur Verfügung und nimmt Hinweise auf Sachverhalte mit Verdacht auf einen nachrichtendienstlichen Hintergrund entgegen. 4. Proliferation Unter Proliferation versteht man die unerlaubte Weitergabe von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen (ABC-Waffen) bzw. der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte sowie entsprechender Trägersysteme (z. B. Raketen und Drohnen) einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows. Proliferationsrelevante Staaten78 geben durch ihr Verhalten auf der internationalen politischen Bühne nach wie vor Anlass zu der Befürchtung, solche Waffen in einem bewaffneten Konflikt einzusetzen oder deren Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele anzudrohen. Sie sind wesentlicher Teil der rüstungsund militärpolitischen Ambitionen fremder Staaten und wirken sich damit mittelfristig auf Konflikte aus, an denen diese Staaten beteiligt sind. Die Herstellung von Massenvernichtungswaffen stellt eine ernsthafte Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dar. Da jene Staaten ihren Bedarf an den zur Herstellung und Weiterentwicklung von ABCWaffen notwendigen Komponenten und des hierfür erforderlichen Know-hows nur zum Teil selbst decken können, sind sie bestrebt, bestehende technologische wie produktbezogene Defizite durch Beschaffungen aus dem Ausland zu beheben. Im Mittelpunkt stehen dabei solche Ausfuhrprodukte, die als sogenannte Dual-use-Güter sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich Anwendung finden können. 78 Als solche können insbesondere Nordkorea, Pakistan, Syrien und der Iran angesehen werden. 116 Die strenge Gesetzgebung und restriktive Exportkontrollen stellen für entsprechende Beschaffungsvorhaben hohe Hürden dar. Um diese zu umgehen, werden auf verdeckte Weise - teilweise durch sog. Umweglieferungen über Drittländer, Verwendung gefälschter Endnutzerzertifikate, zuweilen aber auch unter direkter Einbindung von Mitarbeitern der jeweiligen Nachrichtendienste - mitunter konspirativ agierende Beschaffungsnetzwerke genutzt. Ziel ist es, die tatsächliche Endverwendung der Güter gegenüber den überwachenden Behörden und den potenziellen Lieferanten zu verschleiern. Im Berichtszeitraum erließ der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof auf Antrag der Bundesanwaltschaft einen Haftbefehl gegen einen deutsch-russischen Staatsangehörigen. Dieser ist dringend verdächtig, in mehreren Fällen entgegen den Regelungen des Außenwirtschaftsgesetzes Elektronikbauteile, die ihrer Art nach auch in von den russischen Streitkräften eingesetzten Drohnen verwendet werden, an ein russisches Unternehmen geliefert zu haben, welche militärisches Material, darunter auch Aufklärungsdrohnen, herstellt. Die Lieferungen erfolgte zunächst unter Zwischenschaltung ziviler russischer Scheinfirmen und später über Empfänger in Drittstaaten, von wo aus die Bauteile anschließend nach Russland weitertransportiert wurden.79 Ebenfalls im Berichtzeitraum hat die Bundesanwaltschaft Anklage gegen einen deutschen Staatsangehörigen wegen des Verdachts von Verstößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) erhoben. Dem Angeklagten wird u. a. vorgeworfen, als Geschäftsführer eines Unternehmens mehrfach gewerbsmäßig Werkzeugmaschinen nebst Zubehör, welche für die Herstellung von Scharfschützengewehren Verwendung finden und den durch die Europäische Union erlassenen Handelsbeschränkungen für Rüstungsgüter und Güter mit doppeltem Verwendungszweck unterliegen, an einen russischen Waffenproduzenten geliefert zu haben. Die Abwicklung erfolgte über weitere, teils ebenfalls von ihm gegründete Unternehmen und über Drittstaaten.80 Betroffen von entsprechenden Beschaffungsversuchen können auch kleinere und mittlere Unternehmen oder z. B. solche Forschungseinrichtungen sein, in denen (Gast-)Wissenschaftler oder Studierende aus dem Heimatland des betreffenden Nachrichtendienstes tätig sind. Zur Verhinderung derartiger Beschaffungsaktivitäten sensibilisiert der Verfassungsschutz Thüringen regional ansässige Unternehmen und Forschungseinrichtungen über die Proliferationsthematik und ihre Risiken. Dabei ist oftmals ersichtlich, dass die Problematik bei den Firmen präsent ist und diese auch sorgsam mit entsprechenden Anfragen umgehen. 79 Pressemitteilung des Generalbundesanwaltes vom 29. August 2023; zwischenzeitlich wurde Anklage vor dem Oberlandesgericht Stuttgart erhoben. 80 Pressemitteilung des Generalbundesanwaltes vom 13. November 2023. 117 IX. Geheimschutz 1. Allgemeines Der Geheimschutz ist für den demokratischen Rechtsstaat unverzichtbar. Er hat dafür Sorge zu tragen, dass Informationen und Vorgänge, deren Bekanntwerden den Bestand, lebenswichtige Interessen oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines Bundeslandes gefährden kann, vor unbefugter Kenntnisnahme geschützt werden. Im Rahmen ihrer Organisationsgewalt haben Behörden und auch geheimschutzbetreute Unternehmen personelle und materielle Vorkehrungen zur Gewährleistung des Geheimschutzes zu treffen. Zu den Aufgaben des AfV zählt gemäß SS 4 Abs. 2 Satz 1 ThürVerfSchG die Mitwirkung im Bereich des personellen und materiellen Geheimschutzes. Unter dem Begriff "Geheimschutz" werden sämtliche Vorkehrungen im weiteren Sinne verstanden, die dem Schutz von Geheimnissen dienen. 2. Personeller Geheimschutz Nicht jede Person, nicht jeder Amtsträger erfüllt die für den Umgang mit Geheimnissen erforderlichen Voraussetzungen. Folglich gilt es, Personen, die aufgrund bestimmter Verhaltensweisen für Verrat, Erpressung oder Spionage anfällig scheinen, von vornherein den Zugriff auf Geheimnisse zu versagen. Diesem Ziel dient die Sicherheitsüberprüfung. Dabei wird festgestellt, ob der Überprüfte seiner Vergangenheit, seinem Charakter, seinen Gewohnheiten und seinem Umgang nach Anlass bietet, an seiner persönlichen Vertrauenswürdigkeit zu zweifeln, ob er somit ein Sicherheitsrisiko darstellt. Dabei kommt es nicht auf ein Verschulden im Sinne persönlicher Vorwerfbarkeit an. Rechtsgrundlage für das Sicherheitsüberprüfungsverfahren ist das Thüringer Sicherheitsüberprüfungsgesetz (ThürSÜG)81 vom 17. März 2003 in der Fassung vom 6. Juni 2018. Sicherheitsüberprüfungen werden für Personen, die eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit gemäß SS 1 Abs. 2 ThürSÜG ausüben sollen, durchgeführt. Betroffen sind in erster Linie Personen, die Zugang zu Verschlusssachen haben bzw. sich diesen verschaffen können oder die in einer Behörde oder einzelnen Teilbereichen innerhalb dieser tätig werden sollen, die 81 Thüringer Sicherheitsüberprüfungsgesetz (ThürSÜG) vom 17. März 2003 (GVBI. S. 185), zuletzt geändert durch Artikel 16 des Thüringer Gesetzes zur Anpassung des Allgemeinen Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 vom 6. Juni 2018 (GVBl. S. 229, 263). 118 aufgrund des Umfangs bzw. der Bedeutung dort anfallender Verschlusssachen durch die zuständigen Stellen zum Sicherheitsbereich erklärt worden sind. Zweckmäßig wird der o.g. Kreis der Personen, die Verschlusssachen bearbeiten oder sich Zugang zu Verschlusssachen verschaffen können, durch behördeninterne Aufgabenzuweisungen klein gehalten. Es gilt der Grundsatz: Kenntnis nur wenn nötig. Als Verschlusssache werden alle im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse - unabhängig von ihrer Darstellungsform - bezeichnet. Schriftstücke, Zeichnungen, Karten, Fotokopien, Lichtbildmaterial, elektronische Datenträger, elektrische Signale, Geräte und technische Einrichtungen können ebenso wie das gesprochene Wort oder Zwischenmaterial (z. B. Entwürfe), das im Zusammenhang mit Verschlusssachen anfällt, eine solche Klassifizierung erfordern. Bei Behörden ist zuständige Stelle in Angelegenheiten Geheimschutzes gemäß SS 3 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ThürSÜG sowie SS 5 der Verschlusssachenanweisung für den Freistaat Thüringen (VSA)82 grundsätzlich die Behördenleitung. Diese nimmt - soweit ein Geheimschutzbeauftragter nicht bestellt ist - Aufsichtsfunktionen im Geheimschutz war und ist zuständige Stelle gemäß SS 3 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ThürSÜG bei der Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen. Arbeiten oberste oder obere Landesbehörden mit Verschlusssachen des Geheimhaltungsgrades VS-VERTRAULICH oder höher, so ist gemäß SS 5 Abs. 3 VSA ein Geheimschutzbeauftragter und eine zur Vertretung berechtigte Person zu bestellen. Für die Einleitung und Durchführung der Sicherheitsüberprüfung ist dann der Geheimschutzbeauftragte der jeweiligen Dienststelle bzw. der zuständigen obersten Landesbehörde verantwortlich. Das AfV wirkt an der Sicherheitsüberprüfung gemäß SS 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ThürVerfSchG i. V. m. SS 3 Abs. 3 ThürSÜG mit und erstellt auf der Grundlage der eingeholten Informationen ein Votum gegenüber der zuständigen Stelle. Die Art der Sicherheitsüberprüfung und der in diesem Rahmen durchzuführen Maßnahmen wird je nach Art und Umfang des Zugangs zu Verschlusssachen bzw. der Tätigkeit in Sicherheitsbereichen abgestuft. Gemäß SSSS 8 ff. ThürSÜG wird die Sicherheitsüberprüfung als einfache (Ü 1), erweiterte (Ü 2) oder als erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit Sicherheitsermittlungen (Ü 3) durchgeführt. Die Zustimmung der betroffenen Person und ggf. einzubeziehender Personen (Ehepartner, Lebensgefährten usw.) ist gemäß SS 6 Abs. 2, 5 ThürSÜG ausnahmslos Voraussetzung für die Durchführung einer Sicherheitsüberprüfung. 82 Veröffentlicht im Thüringer Staatsanzeiger Nr. 50/2021 S. 2023 ff.; in Kraft getreten am 1. Januar 2022. 119 Das AfV als mitwirkende Behörde konnte im Berichtszeitraum in 347 Fällen das Sicherheitsüberprüfungsverfahren mit einem Votum gegenüber dem Geheimschutzbeauftragten der einleitenden Dienststelle abschließen. Im Berichtszeitraum war eine weiterhin hohe Zahl von Anträgen auf Durchführung einer Sicherheitsüberprüfung und an Fallbearbeitungen feststellbar, in denen vor Abgabe eines Votums teils umfangreiche Auswertungen von beigezogenen Akten anderer Sicherheitsbehörden oder Befragungen erforderlich wurden. Im Einzelnen wurden folgende Überprüfungen abgeschlossen: Erledigungen Jahr Ü1 Ü2 Ü3 gesamt 2023 126 187 34 347 2022 156 140 26 322 2021 163 161 25 349 Tabelle 8: Statistik Mitwirkung Sicherheitsüberprüfungen 3. Materieller Geheimschutz Der materielle Geheimschutz betrifft die Entwicklung, Planung und Durchführung technischer Maßnahmen, die dem Schutz geheimhaltungsbedürftigen Materials vor Entwendung oder Kenntnisnahme durch Unbefugte dienen. Zu technischen Sicherheitsmaßnahmen sind auch organisatorische Vorkehrungen zu rechnen, die den Geheimschutz verbessern. Als Rechtsgrundlage dient die auf Grundlage von SS 34 Abs. 1 ThürSÜG erlassene VSA. Die VSA richtet sich an Landesbehörden, landesunmittelbare öffentlich-rechtliche Einrichtungen und die sonstigen der Aufsicht des Freistaats Thüringen unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die mit Verschlusssachen befasst sind und somit Vorkehrungen zu deren Schutz zu treffen haben. Darüber hinaus betrifft sie Personen, die Zugang zu Verschlusssachen erhalten oder eine Tätigkeit ausüben, die einen solchen eröffnet und die Einhaltung bestimmter Schutzvorkehrungen erfordert. Für Kommunen gilt die VSA nur im Bereich der Aufgabenerfüllung im übertragenen Wirkungskreis. Den Kommunen wird empfohlen, die VSA auch im eigenen Wirkungskreis anzuwenden. Entsprechend der Schutzbedürftigkeit der Verschlusssache nehmen die herausgebenden Stellen die erforderliche Einstufung in einen der in SS 4 Abs. 2 ThürSÜG bestimmten Geheimhaltungsgrade83 vor. Aus der jeweiligen Einstufung ergeben sich die notwendigen personel83 "VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH", "VS-VERTRAULICH", "GEHEIM" oder "STRENG GEHEIM". 120 len und materiellen Sicherheitsvorkehrungen. Hinsichtlich des materiellen Geheimschutzes enthält die VSA eine Reihe von Vorschriften, welche die Herstellung, Kennzeichnung und Vervielfältigung von Verschlusssachen, den Zugang zu Verschlusssachen, die Dienstpflichten zum Schutz von Verschlusssachen, die Aufbewahrung, Übertragung, Verwaltung und Mitnahme außerhalb des Dienstgebäudes sowie Maßnahmen bei Verletzung von Geheimschutzvorschriften betreffen. Die VSA hält in ihren Anlagen zudem eine Vielzahl von Vorlagen zur Dokumentation von Maßnahmen des personellen und materiellen Geheimschutzes für die zuständigen Stellen bereit. Die Aufsicht über die Einhaltung der Vorgaben der Verschlusssachenanweisung obliegt der zuständigen Stelle, i. d. R. dem Geheimschutzbeauftragten derjenigen Stelle, bei der Verschlusssachen bearbeitet werden, im Übrigen der Behördenleitung. Das AfV berät diese über die Vorgaben der VSA zum Umgang mit Verschlusssachen und sichere Organisationsabläufe, u. a. auch über technische Sicherheitsmaßnahmen wie Alarmsysteme oder Stahlschränke (sog. Verwahrgelasse). In zunehmendem Maße ergeben sich Bedarfe nach einer Beratung von öffentlichen Stellen zu Vorgaben der VSA hinsichtlich der Ertüchtigung informationstechnischer Systeme zur Verarbeitung von Verschlusssachen (IT-Geheimschutz). Auskünfte zur Geheimschutzbetreuung von Wirtschaftsunternehmen erteilt das: Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und digitale Gesellschaft Der Geheimschutzbeauftragte für die Wirtschaft Postfach 90 02 25 Max-Reger-Straße 4-8 99105 Erfurt 99096 Erfurt Telefon: 0361 3797-140. 121 X. Mitwirkungspflichten Neben der Mitwirkung des Verfassungsschutzes an Sicherheitsüberprüfungen bestehen gesetzliche Pflichten zur seiner Beteiligung an Zuverlässigkeitsprüfungen anderer Behörden. Demgemäß wirkt das AfV bei Zuverlässigkeitsanfragen nach dem Waffengesetz (15.822), dem Luftsicherheitsgesetz (1.011), dem Staatsangehörigkeitsgesetz (2.003), dem Sprengstoffgesetz (1.343), der Gewerbeordnung (872) sowie dem Aufenthaltsgesetz mit. Bereits seit vier Jahren ist die Regelanfrage beim Verfassungsschutz im Rahmen der Waffenerlaubniserteilung normiert. Sofern dem AfV Erkenntnisse zu verfassungsfeindlichen Betätigungen der Antragsteller vorliegen, werden diese den gesetzlichen Regelungen gemäß der zuständigen Waffenerlaubnisbehörde für das dortige Verfahren übermittelt. Verfassungsfeinden und Extremisten soll so die Erlangung einer Waffenerlaubnis verwehrt bzw. die waffenrechtliche Erlaubnis entzogen werden können. Das AfV versteht sich hierbei als Fachbehörde, die mit ihrer sicherheitsrelevanten Expertise in den einzelnen Phänomenbereichen die jeweils zuständigen Behörden bei ihren Entscheidungsfindungen unterstützt. Durch das erhebliche Gefahrenpotenzial gerade im Bereich der Regelanfrage Waffe, ist eine zügige und fundierte Mitteilung, die als Grundlage für die Entscheidung der Waffenbehörde dient, unerlässlich. Die Einbindung des Verfassungsschutzes in diese sensiblen staatlichen Aufgabenbereiche ist Teil der "wehrhaften Demokratie" und trägt zu einem großen Teil dazu bei, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen und so unsere Gesellschaft sicherer zu machen. 122