Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2004 Pressefassung 1 Vorwort Die innere Sicherheit wird durch politischen Extremismus und politisch motivierte Gewalt sowie durch Fremdenfeindlichkeit, übersteigerten Nationalismus und Fundamentalismus bedroht. Dabei ist die Gefahr, die vom islamistischen Terrorismus ausgeht, unverändert groß. Die zahlreichen von den "Glaubenskriegern" im Jahr 2004 verübten Anschläge haben dies belegt. Islamistische Terroristen führten Anschläge an Orten durch, wo Sicherheitsvorkehrungen nur eingeschränkt getroffen werden konnten und eine hohe Zahl von Opfern zu erwarten war. Dies veranschaulichte das am 11. März 2004 in Madrid verübte Attentat, als Islamisten in drei Nahverkehrszügen Sprengsätze zündeten. Annähernd 200 Personen wurden getötet, über 1.500 zum Teil schwer verletzt. Die Anschläge machten auch deutlich, dass sich die globale islamistische Terrorszene zu einem lockeren, interkontinentalen Netzwerk mit flachen Hierarchien und einer höchst anpassungsfähigen Organisationsstruktur gewandelt hat. Die Feinde der Zivilgesellschaft können nur bekämpft werden, wenn diese Aufgabe als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe akzeptiert wird. Dazu benötigen wir neben aufgeklärten und engagierten Bürgern sowie privaten Initiativen auch professionelle und effiziente Institutionen, deren Aufgabe es ist, Informationen zu beschaffen, auszuwerten und zur Verfügung zu stellen. Insbesondere mit dem Rechtsextremismus ist eine offensive Auseinandersetzung notwendig. Geschichtsrevisionismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Autoritarismus haben in einer freiheitlichen Gesellschaft keine Berechtigung. Diese Auseinandersetzung erfordert Aufklärung, damit den rechtsextremistischen Positionen nicht nur mit Empörung, sondern auch mit rationalen Argumenten begegnet werden kann. Das rechtsextremistische Spektrum in Thüringen verzeichnete 2004 im Vergleich zum Vorjahr in der Anzahl der Personen nahezu keine Veränderungen, wies allerdings innerhalb der Szene unterschiedliche Entwicklungen auf. Die dem Bereich des subkulturell geprägten und sonstigen gewaltbereiten Rechtsextremismus zuzurechnenden Personen stiegen von ca. 470 im Jahr 2003 auf etwa 500 im Berichtszeitraum an. Dabei stellen die Skinheads den weitaus größten Teil dar, von dem auch die meisten der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten ausging. Die Anzahl der Neonazis, die sich auf ca. 250 Personen belief, erhöhte sich zwar nicht, jedoch wurden durch sie mehr Aktionen als im Jahr 2003 durchgeführt. Die Arbeitsmarktreform "Hartz IV" und die "Agenda 2010" dienten dabei überwiegend als Aufhänger. Eine neue Entwicklung wurde im Jahr 2004 durch die Absprache zwischen der NPD und Teilen der Neonaziszene, künftig offen zusammenzuwirken, eingeleitet. Daraus resultierte das Konzept, die extreme Rechte in einer "Volksfront von Rechts" zusammenzuschließen. Der Landesverband Thüringen der NPD unterstützte diese Strategie, indem er die Zusammenarbeit zwischen der Partei und Neonazis verstärkte. Der NPD gehörten in Thüringen 2004 etwa 180 Mitglieder an, was einen Zuwachs von 30 Personen bedeutet. Damit konnte die NPD 2004 ihren jahrelangen Abwärtstrend im Freistaat vorerst stoppen. Der Landesverband entwickelte im Berichtszeitraum zudem mehr öffentlichkeitswirksame Aktivitäten als im Vorjahr, an denen sich auch Neonazis und Skinheads beteiligten. Die "Deutsche Volksunion" (DVU) und die Partei "Die Republikaner" (REP) verloren in Thüringen im Gegensatz zur Entwicklung der NPD weiter an Mitgliedern. Zum Jahresende gehörten ihnen jeweils noch etwa 90 Personen an. Ihre Landesverbände sind im Berichtszeitraum kaum in Erscheinung getreten. Der Landesverband der "Deutschen Partei" (DP), dem wie im Vorjahr nicht mehr als 20 Mitgliedern angehörten, wurde ebenfalls nicht aktiv. 2 NPD und "Republikaner" erhielten bei den Wahlen zum 4. Thüringer Landtag und zum Europäischen Parlament zwar mehr Stimmen als im Jahr 1999, verfehlten jedoch deutlich ihr Ziel, in diese Volksvertretungen einzuziehen. Ihre Ansichten und Ziele werden nach wie vor von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Das linksextremistische Spektrum in Thüringen bot im Berichtszeitraum keine wesentlichen Veränderungen. Das Potential der gewaltbereiten autonomen Szene liegt bei etwa 150 Personen. In der gleichen Größenordnung gelang es den Autonomen, zusätzlich Personen für ihre Aktionen zu mobilisieren. Somit stagnierte die Zahl der Autonomen und ihrer Sympathisanten auf dem Stand der beiden Vorjahre. Das Netzwerk "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG), in dem sich die regionalen Gruppen und Zusammenschlüsse der Thüringer Szene überwiegend organisieren, repräsentierte wiederum das autonome Spektrum in Thüringen. Die Aktivitäten der Autonomen, ihre thematischen Schwerpunkte und ihre Neigung zu Strafund Gewalttaten wiesen im Vergleich zum Vorjahr keine Änderungen auf. Auch die Aktivitäten, die die in Thüringen agierenden marxistisch-leninistischen Parteien und Organisationen entfalteten, zeigten sich auf unverändertem Stand. Ihre Aktionen wurden, sofern sie in der Öffentlichkeit überhaupt in Erscheinung traten, kaum wahrgenommen. Obwohl sie sich bemühten, vor allem junge Menschen für eine Mitarbeit zu gewinnen, konnten sie die Zahl ihrer Mitglieder bzw. Anhänger nicht steigern. Ausländerextremistische Organisationen waren 2004 in Thüringen nur schwach vertreten. Lediglich der "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) kann im Freistaat gefestigte Strukturen aufweisen. Die "Türkisch Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) trat 2004 in Thüringen mit wenigen Anhängern erstmals öffentlich in Erscheinung. Der "Kurdisch-Deutsche Freundschaftsverein Erfurt e.V." richtete Veranstaltungen aus, um die vom KONGRA-GEL verfolgten Ziele zu unterstützen und auf die Verhältnisse in den Heimatländern der Kurden aufmerksam zu machen. Islamistische Gruppierungen wie die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) und die Bewegung "Tabligh-i Jamaat" (TJ, "Gemeinschaft für Verkündigung und Mission") versuchten im Jahr 2004, ihre Position unter den Muslimen in Thüringen auszubauen und Anhänger zu gewinnen. Das ausländerextremistische Personenpotential in Thüringen stieg 2004 zwar auf etwa 130 Personen an (2003 ca. 100), blieb jedoch im bundesweiten Vergleich weiterhin sehr gering. Dies ist auf den unverändert geringen Anteil von Ausländern an der Bevölkerung in Thüringen (unter 2%) sowie die spezifische Zusammensetzung hinsichtlich ihrer Herkunftsländer zurückzuführen. Nachdem der Freistaat Thüringen im Jahr 2002 die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen hat, den Verfassungsschutz als weiteres Instrument zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) einsetzen zu können, bringt das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV) seine Erfahrungen mit konspirativ operierenden Gruppierungen aus anderen Tätigkeitsfeldern ein. Dabei ist die Aufklärung der kriminellen Zusammenhänge im Vorfeld von Straftaten ein wichtiger Schritt bei der Bekämpfung dieser Kriminalitätsform. Für die Nachrichtendienste fremder Staaten stellt die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor eines der bevorzugten Aufklärungsziele dar. Ihre Bestrebungen sind darauf gerichtet, politische Institutionen ebenso wie die Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung auszuspähen, um wirtschaftliche Vorteile zu erlangen sowie Massenvernichtungswaffen und entsprechende 3 Trägersysteme herstellen zu können. Neben der Abwehr klassischer Spionageaktivitäten gewinnt die präventive Arbeit der Verfassungsschutzbehörden an Bedeutung. Der Freistaat Thüringen gewährt die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, so gut dies in einer freiheitlichen, pluralistisch ausgerichteten Gesellschaft möglich ist. Das TLfV als ein Instrument unserer wehrhaften Demokratie leistet hierzu seinen Beitrag, für den ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meinen Dank ausspreche. Dr. Karl Heinz Gasser Thüringer Innenminister Erfurt, Juni 2005 4 Inhaltsverzeichnis I. Einige Informationen zum Verfassungsschutz 1. Verfassungsschutz - Instrument der streitbaren Demokratie 2. Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV) 3. Verfassungsschutz durch Aufklärung II. Rechtsextremismus 1. Überblick 2. Ideologischer Hintergrund 3. Subkulturell geprägte und sonstige gewaltbereite Rechtsextremisten 3.1 Skinheads 3.2 Skinheadmusik 4. Neuer Nationalsozialismus (Neonazismus) 4.1 Ideologischer Hintergrund 4.2 Organisationsformen der Neonaziszene 4.3 Das Verhältnis zwischen der Neonaziszene und der NPD 4.4 Ausdrucksformen des Neonazismus in Thüringen 4.5 Exkurs: Immobilienkäufe von Rechtsextremisten 4.6 Demonstrationen/Veranstaltungen 4.7 Exkurs: Thüringer Rechtsextremisten treten gegen die Arbeitsmarktreform "Hartz IV" und die "Agenda 2010" auf 5. Parteien 5.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 5.1.1 Der Bundesverband der NPD 5.1.2 Der Thüringer Landesverband der NPD 5.1.3 Aktivitäten des Landesverbands 5.1.4 Junge Nationaldemokraten (JN) 5.2 Deutsche Volksunion (DVU) 5.3 Die Republikaner (REP) 5.4 Deutsche Partei (DP) 5.5 Exkurs: Rechtsextremistische Parteien beteiligen sich am 13. und 27. Juni in Thüringen an Landtags-, Europaund Kommunalwahlen 6. Sonstige Gruppierungen 6.1 Die Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V. (Artgemeinschaft) 6.2 Die Deutsche Freiheitsbewegung e.V. (DDF) - Der Bismarck Deutsche 6.3 Gesellschaft für Freie Publizistik e.V. (GFP) 6.4 "Intellektueller" Rechtsextremismus - Deutsches Kolleg (DK) 7. Politisch motivierte Kriminalität - Rechts - im Überblick III. Linksextremismus 1. Überblick 2. Ideologischer Hintergrund 3. Marxistisch-leninistische Parteien und Organisationen 3.1 Kommunistische Plattform (KPF) der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 3.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 5 3.2.1 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) 3.3 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 3.3.1 "Hartz IV" und die Sozialreformen als Thema von Linksextremisten - die besondere Rolle der MLPD 3.4 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD/Ost) 3.5 Roter Tisch Ostthüringen 3.6 Rote Hilfe e.V. (RH) 4. Autonome 4.1 Allgemeines 4.2 Bundesweite Aktionen 4.3 Die autonome Szene in Thüringen 4.4 Aktionen und Aktivitäten von Autonomen in Thüringen 5. Terroristische Gruppierungen 6. Nutzung moderner Kommunikationsmittel durch Linksextremisten 7. Politisch motivierte Kriminalität - Links - im Überblick IV. Ausländerextremismus 1. Allgemeines 2. Islamismus 2.1 Islamistische Vereinigungen in Deutschland mit Bezug auf Thüringen 3. Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) 3.1 Allgemeine Lage 3.2 Organisatorische Situation 3.3 Finanzierung 3.4 Propagandamittel 3.5 Propaganda des KONGRA-GEL 3.6 Aktivitäten des KONGRA-GEL in Thüringen 4. Türkische Linksextremisten: Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 4.1 Organisatorische Situation 4.2 Ziele 4.3 Situation in Deutschland 4.4 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) in Thüringen V. Scientology-Organisation (SO) 1. Gesetzliche Grundlagen zur Beobachtung der Scientology-Organisation 2. Scientology in Thüringen VI. Ereigniskalender extremistischer Bestrebungen in Thüringen VII. Organisierte Kriminalität (OK) 1. Aufgabe des Verfassungsschutzes 2. Beitrag des Verfassungsschutzes zur Gewährleistung der inneren Sicherheit 3. Beobachtungsschwerpunkte 4. Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel 5. Zusammenarbeit mit anderen Behörden 6. Fazit 6 VIII. Spionageabwehr 1. Überblick 2. Proliferation 3. Wirtschaftsspionage 4. Ausblick 5. Frühere, fortwirkende unbekannte Strukturen der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen DDR IX. Geheimschutz 1. Allgemeines 2. Personeller Geheimschutz 3. Materieller Geheimschutz 4. Sonstige Überprüfungen Anhang Thüringer Verfassungsschutzgesetz (ThürVSG) Thüringer Sicherheitsüberprüfungsgesetz (ThürSÜG) Abkürzungsverzeichnis Personenregister Sachregister 7 I. Einige Informationen zum Verfassungsschutz 1. Verfassungsschutz - Instrument der streitbaren Demokratie Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Verfassung des Freistaats Thüringen garantieren allen Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Freiheit. Nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung ist es die Aufgabe der Gesellschaft, denjenigen Kräften entgegenzuwirken, die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen. Das Grundgesetz legt folglich nicht nur die Prinzipien des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats fest, sondern trifft auch Vorkehrungen zu seinem Schutz. Die streitbare Demokratie beschreitet - notwendigerweise - einen schwierigen Weg, indem sie auch gegenüber ihren Gegnern grundsätzlich Toleranz übt. Denn auch Personen, Vereinen und Parteien, die den demokratischen Staat beseitigen wollen, stehen die Freiheitsrechte - wie zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht - zu. Jedoch liefert sich die streitbare Demokratie solchen Bestrebungen nicht tatenlos aus. So ist beispielsweise nach den Artikeln 9 und 21 des Grundgesetzes das Verbot verfassungswidriger Parteien und Vereine oder nach Artikel 18 die Aberkennung von Grundrechten möglich. Der Bund und die Länder unterhalten Verfassungsschutzbehörden, um die notwendigen Informationen über Verfassungsfeinde zu erlangen. Im Freistaat Thüringen ist die Verfassungsschutzbehörde als Landesoberbehörde 1991 errichtet worden. 2. Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV) Aufbau und Organisation des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz Das TLfV verfügte im Haushaltsjahr 2004 über 100 Stellen und Planstellen. Für die Erledigung seiner Aufgaben waren ihm durch Haushaltsgesetz Mittel in Höhe von 4.566.400 Euro zugewiesen. Das Amt ist wie folgt strukturiert: Präsident Abteilung 1 Abteilung 2 Abteilung 3 Abteilung 4 Zentrale Dienste Auswertung Beschaffung Spionageabwehr, Geheimschutz, Organisierte Kriminalität Die Fachaufsicht über das Landesamt führt das Thüringer Innenministerium, Referat "Verfassungsschutz, Geheimschutz". Abteilung "Zentrale Dienste" Die Abteilung "Zentrale Dienste" ist für den inneren Dienstbetrieb und für fachübergreifende Aufgaben des Amtes zuständig. Sie umfasst die Bereiche Grundsatzund Rechtsfragen, Verfahren der Postund Telekommunikationsüberwachung (G10), Personal, Haushalt und Innerer Dienst, EDV und Registratur, Öffentlichkeitsarbeit und Berichtswesen. Von den nach außen wirksamen Aktivitäten dieser Abteilung sind die Organisation und Durchführung von Vorträ- 8 gen, die Beantwortung von Bürgeranfragen und die Herausgabe periodischer Berichte hervorzuheben. Im Jahre 2004 hielten Mitarbeiter des Thüringer Verfassungsschutzes etwa 40 Vorträge, die die verschiedenen Beobachtungsbereiche des TLfV betrafen. Sie richteten sich vorrangig an Multiplikatoren aus Politik, politischer Bildung, Wirtschaft und Wissenschaft, aber auch an Lehrer, in der Jugendund Sozialarbeit Tätige sowie an die Vertreter unterschiedlichster Thüringer Verbände und gesellschaftlicher Interessengruppen. Seine periodische Berichterstattung versteht das TLfV als Serviceangebot gegenüber der Öffentlichkeit und den Fachbehörden, insbesondere solchen, die Aufgaben der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wahrnehmen. Abteilung "Auswertung" Die Abteilung "Auswertung" erhält von der Abteilung "Beschaffung" Informationen zu den Aufgabenfeldern Links-, Rechtsund Ausländerextremismus. Sie lenkt diesen Informationsfluss, führt die Erkenntnisse mit anderen Informationen, etwa aus offen zugänglichen Informationsquellen, zusammen und wertet sie aus. Abteilung "Beschaffung" Die Abteilung "Beschaffung" hat die Aufgabe, durch Ermittlungen und den Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln (z.B. Observationen, Führen von sog. Vertrauensleuten) die für die Erfüllung des gesetzlichen Auftrags erforderlichen Informationen zu beschaffen. Abteilung "Spionageabwehr, Geheimschutz, Organisierte Kriminalität" Dieser Abteilung obliegt es, die unerlaubte Tätigkeit fremder und ehemaliger, aber fortwirkender Nachrichtendienste im Freistaat aufzuklären. Darüber hinaus hat sie die Aufgabe, Informationen über Bestrebungen der Organisierten Kriminalität in Thüringen zu sammeln und auszuwerten. Im Bereich des personellen und materiellen Geheimschutzes werden Behörden und außerbehördliche Stellen bei der Überprüfung von Geheimnisträgern und Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätig sind, unterstützt. Sie werden beraten, wie Verschlusssachen durch technische oder organisatorische Sicherheitsmaßnahmen geschützt werden können. Kontakt Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz Postfach 450 121 99051 Erfurt Telefon: (03 61) 44 06-0 Telefax: (03 61) 44 06-251 Internet: www.verfassungsschutz.thueringen.de E-Mail: kontakt@tlfv.thueringen.de 9 Thüringer Innenministerium Referat 26 Steigerstraße 24 99096 Erfurt Telefon: (03 61) 37-93 900 Telefax: (03 61) 37-93 111 3. Verfassungsschutz durch Aufklärung Die freiheitliche demokratische Grundordnung kann nicht allein von staatlichen Behörden geschützt werden. Hierzu bedarf es auch der Mithilfe aller Bürgerinnen und Bürger. Die Bedeutung der politischen Auseinandersetzung mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen erfordert eine umfangreiche Aufklärung über die Gefahren, die durch den politischen Extremismus drohen. Information und Aufklärung sind für den Bürger erforderlich, um die wahren Absichten extremistischer Bestrebungen durchschauen zu können. Es liegt im Interesse eines jeden Einzelnen, dass diejenigen, die politische Verantwortung tragen, durch die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes rechtzeitig in die Lage versetzt werden, verfassungsfeindliche Bestrebungen abzuwehren und zu bekämpfen. Die Tätigkeit des TLfV stellt sicher, dass Regierung und Parlament, aber auch die Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Organisationen und Bestrebungen informiert werden. Im Freistaat Thüringen wird die Öffentlichkeitsarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes sowohl vom Thüringer Innenministerium als auch vom TLfV wahrgenommen. Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Thüringer Innenministeriums und des TLfV ist die Information der Bürgerinnen und Bürger durch den jährlichen Verfassungsschutzbericht. Der Verfassungsschutzbericht wird an Behörden, Institutionen, Schulen und interessierte Bürgerinnen und Bürger auf Anforderung kostenlos versandt. Er kann auch im Internet unter "www.verfassungsschutz.thueringen.de" abgerufen werden. 10 II. Rechtsextremismus 1. Überblick Das Personenpotenzial des rechtsextremistischen Spektrums in Thüringen erhöhte sich im Jahr 2004 im Vergleich zum Vorjahr leicht. Die einzelnen Auszweigungen entwickelten sich jedoch in unterschiedlichem Maße. Die Zahl der subkulturell geprägten und sonstigen gewaltbereiten Rechtsextremisten stieg von 470 Personen im Jahr 2003 auf etwa 500 im Berichtszeitraum an. Hingegen blieb die Anzahl der Neonazis mit ca. 250 Personen gleich - trotz der Zunahme von Aktivitäten, die insbesondere auf die Protestaktionen gegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung sowie eine intensivierte Zusammenarbeit mit der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) zurückzuführen ist. Die Thüringer Landesverbände der "Deutschen Volksunion" (DVU) und der Partei "Die Republikaner" (REP) blieben auch 2004 weitgehend inaktiv. Sie verloren weiter an Mitgliedern. Im Unterschied zu diesen Parteien entfaltete der Landesverband der NPD im Berichtszeitraum zahlreiche Aktivitäten; insbesondere in der zweiten Jahreshälfte vermochte er seine Mitgliederzahl relativ deutlich auf nunmehr 180 Personen zu steigern. Im Einzelnen stellt sich die Situation wie folgt dar: Subkulturell geprägte und sonstige gewaltbereite Rechtsextremisten Die Anzahl der Skinheads, die den weitaus größten Teil des gewaltbereiten rechtsextremistischen Spektrums ausmachen, erhöhte sich auf etwa 410 Personen (2003: 380 Personen). Diesem Spektrum sind ca. 90 sonstige gewaltbereite Rechtsextremisten hinzuzurechnen. Die Zahl der Skinheadkonzerte stieg im Berichtszeitraum deutlich auf 12 (2003: 4) an; ein Skinheadkonzert wurde von der Polizei verhindert. Dagegen sank die Anzahl der rechtsextremistischen Gewaltdelikte. Neonazismus Das neonazistische Spektrum schloss 2004 etwa 250 Personen ein, was dem Stand des Vorjahrs entspricht. Wie im Jahr 2003 waren etwa 75 Neonazis in Gruppierungen aktiv, die hinreichend feste Strukturen aufwiesen. Die übrigen Angehörigen dieser Szene traten insbesondere bei Demonstrationen und Saalveranstaltungen in Erscheinung. Die Anzahl der Aktionen, die Neonazis 2004 durchführten, überstieg die des zurückliegenden Jahres, da sie eine Reihe von Demonstrationen gegen die Arbeitsmarktreform "Hartz IV" und die "Agenda 2010" organisierten. An diesen Veranstaltungen nahmen jedoch meist nicht mehr als 20 Personen teil. Ebenso beteiligten sich Rechtsextremisten in kleinen Gruppen an zahlreichen "Montagsdemonstrationen" des demokratischen Spektrums, die sich ebenfalls gegen die Reformen der Bundesregierung richteten. In der zweiten Hälfte des Jahres 2004 vertiefte sich in Thüringen die traditionell ohnehin enge Zusammenarbeit zwischen den Neonazis und der NPD. Lokale Aktionsschwerpunkte der Neonazis bildeten im Berichtszeitraum Eisenach, Jena und Weimar. Rechtsextremistische Parteien Dem Landesverband Thüringen der NPD gehörten 2004 etwa 180 Mitglieder an, was einen Zuwachs von 30 Personen bedeutet. Seit Mitte des Jahres 2004 traten insbesondere Neonazis der Partei verstärkt bei. Diese Entwicklung hing mit der bundesweit intensivierten Zusammenarbeit zwischen der NPD und der Neonaziszene zusammen, die ihren Ausdruck in dem Konzept einer "Volksfront von Rechts" fand. Der Landesverband entwickelte 2004 wieder 11 mehr öffentlichkeitswirksame Aktivitäten als im Vorjahr; an ihnen beteiligten sich auch "Freie Kräfte" und Skinheads. Bei den Wahlen zum 4. Thüringer Landtag und zum Europäischen Parlament verfehlten sowohl die NPD als auch die "Republikaner" deutlich ihr Ziel, in diese Volksvertretungen einzuziehen. Jedoch erhielten sie weit mehr Stimmen als im Jahre 1999. Insgesamt ist es dem Landesverband Thüringen der NPD im Berichtszeitraum gelungen, einen leichten Aufwärtstrend einzuleiten. Im Unterschied zur NPD verloren sowohl die DVU als auch die "Republikaner" weiter an Mitgliedern; zum Jahresende gehörten ihnen jeweils noch etwa 90 Personen an. Ihre Landesverbände sind im Berichtszeitraum in Thüringen kaum in Erscheinung getreten. Ebenso wenig war der Landesverband der "Deutschen Partei" (DP) 2004 aktiv; auch in diesem Zeitraum dürfte er nur etwa 20 Mitglieder gezählt haben. Das rechtsextremistische Potenzial in Thüringen: Mitgliederzahlen rechtsextremistischer Parteien und Gruppierungen1 Freistaat Thüringen Bund 2002 2003 2004 2004 NPD 150 150 180 5.300 DVU 150 100 90 11.000 REP 140 100 90 7.500 DP - 20 20 500 Subkulturell geprägte und sonstige 480 470 500 10.000 gewaltbereite Rechtsextremisten Neonazis 470 250 250 3.800 2. Ideologischer Hintergrund Das Denken der Rechtsextremisten wurzelt nicht in einer fest strukturierten Ideologie. Es besteht aus geistigen Versatzstücken unterschiedlicher ideengeschichtlicher Herkunft, die innerhalb der jeweiligen Ausprägung des Rechtsextremismus mehr oder weniger deutlich zu Tage treten. Immer wiederkehrende Grundelemente sind: * ein überzogener, häufig aggressiver Nationalismus, der das Prinzip der Völkerverständigung missachtet, * die Überhöhung des Staats zu einem sich aus sich selbst heraus rechtfertigenden Wert und die Überbetonung der Staatsinteressen gegenüber den Freiheitsrechten des Einzelnen (Etatismus), * eine völkische Ideologie, die sich typischerweise zu Rassenideologie und Fremdenfeindlichkeit verdichtet, wobei dem Antisemitismus eine besondere Stellung zukommt, * das Leugnen oder Verharmlosen der Verbrechen des Nationalsozialismus sowie das Hervorheben angeblich positiver Elemente des Dritten Reichs (Revisionismus). Weitere Elemente stellen die Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit und eine Ideologie der Ungleichwertigkeit dar; Antipluralismus und Autoritarismus sind in unterschiedlicher ideolo- 1 Zahlen gerundet, z.T. geschätzt. Bei den angeführten Parteien und Gruppierungen gibt es Mehrfachmitgliedschaften. 12 gischer Ausdrucksweise bei allen Rechtsextremisten zu finden. Die rechtsextremistischen Parteien beispielsweise sind überwiegend auf die "Nation" fixiert und vertreten demnach eine nationalistische Position. Neonazis hingegen orientieren sich stärker an der "Rasse" und weisen dementsprechend eine rassistische Position auf. Die einzelnen Ideologieelemente treten in den einzelnen Auszweigungen des rechtsextremistischen Spektrums in unterschiedlicher Form hervor. Das rechtsextremistische Lager lehnt wesentliche Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab und kämpft gegen sie an. Insbesondere ist es gegen die Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien eingestellt. 3. Subkulturell geprägte und sonstige gewaltbereite Rechtsextremisten Die Anzahl der subkulturell geprägten und sonstigen gewaltbereiten Rechtsextremisten belief sich bundesweit wie im Vorjahr auf etwa 10.000 Personen. Sie setzten sich überwiegend aus Skinheads zusammen. Von ihnen gehen auch die meisten der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten aus. Überproportional hoch ist das Personenpotenzial der rechtsextremistischen Skinheadszene in Ostdeutschland, wo nur rund ein Fünftel der Bevölkerung, aber fast die Hälfte der gewaltbereiten Rechtsextremisten der Bundesrepublik lebt. Die Anzahl der rechtsextremistisch eingestellten Skinheads stieg in Thüringen im Berichtszeitraum auf 410 Personen (2003: 380) an. Diesem Spektrum sind etwa 90 sonstige gewaltbereite Rechtsextremisten hinzuzuzählen. Die Zahl der Skinheadkonzerte betrug in Thüringen im Berichtszeitraum 12 (2003: 4); ein Skinheadkonzert wurde von der Polizei im Vorfeld verhindert. Die Zahl der rechtsextremistischen Skinheadkonzerte, die bundesweit stattfanden, stieg im Vergleich zum Vorjahr von 119 auf 137 an. 3.1 Skinheads Entstehung der Subkultur2 und Ideologie Die Skinheadbewegung trat in der Bundesrepublik Deutschland erstmals Ende der 70er Jahre in Erscheinung. Binnen kurzem richteten sich gewalttätige Aktionen dieser Bewegung gegen die Feindbilder "Ausländer" und "Linke". Größtenteils griff die Szene rechtsextremistisches Gedankengut auf, das bald den grundlegenden Bestandteil ihres Selbstverständnisses ausmachte. Auch in einigen Großstädten der DDR entwickelten sich zu Beginn der 80er Jahre aus den Reihen jugendlicher Rowdies und Hooligans Gruppen, deren grundsätzliche Opposition zum "SED-Staat" sich in der Übernahme des typischen Skinhead-Outfits äußerte. Diese Jugendcliquen wiesen bereits deutliche Bezüge zum Rechtsextremismus auf und machten sehr bald durch Gewalttaten auf sich aufmerksam. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands kam es bei Konzerten und anderen Veranstaltungen erstmals zu breiten Kontakten von Skinheads aus Ost und West. Die gesamtdeutsche 2 Unter Subkultur ist im soziologischen Sinne eine Gruppenkultur innerhalb einer umfassenden Kultur oder Gesellschaft zu verstehen, die eigene Verhaltensnormen entwickelt. Die Normen bilden sich aus Überzeugungen, Werthaltungen oder Ideologien heraus, die von der Gesamtkultur abweichen. Die Skinheadszene stellt eine eigenständige jugendliche Subkultur dar. 13 Skinheadszene weitete sich sprunghaft aus. Es bildete sich eine gesamtdeutsche SkinheadSubkultur heraus, die zunehmend diffuser wurde und sich mehr und mehr politisierte. Parallel hierzu stieg auch die Gewaltbereitschaft der Szene beträchtlich an. Skinheads drücken ihre Ablehnung gegen Staat und Gesellschaft besonders augenfällig durch ihr äußeres Erscheinungsbild aus. Kahlrasierte Köpfe ("Glatzen"), Springerstiefel (oft auch schwere, manchmal mit Stahlkappen versehene Arbeitsschuhe) und Bomberjacken gehören zum szenetypischen Outfit, das allein jedoch noch kein Beleg für eine Zugehörigkeit zur rechtsextremistischen Skinheadszene darstellt. Die simple Gleichung: "Glatze + Springerstiefel + Bomberjacke = Skinhead" gilt daher genau wie die Gleichung: "Skinhead = Rechtsextremist" nicht in jedem Falle. In der Ideologie der rechtsextremistischen Skinheads herrschen insbesondere nationalistische, rassistische und antisemitische, auf das Gedankengut der Nationalsozialisten ausgerichtete Ansichten vor; meist haben sie jedoch keine fest gefügte Weltanschauung. Ihre Einstellung kommt in der Verachtung von Ausländern, Juden, Andersdenkenden oder so genannten Undeutschen, zu denen z.B. Obdachlose und Homosexuelle gezählt werden, zum Ausdruck. Hoher Alkoholkonsum und die Gruppendynamik setzen auf Seiten der Skinheads die Hemmschwelle für Gewaltanwendung deutlich herab und lösen häufig spontane gewalttätige Übergriffe von Skinheads aus. Deshalb sind rechtsextremistische Skinheads in der Regel als gewaltbereit einzustufen. Das Schlagwort "White Power" soll die rassistische Einstellung der rechtsextremistischen Skinheads symbolisieren. Sie sehen sich als Krieger der "weißen Rasse" an, was durch die so genannten "14 words" - einer Art "Kampfruf" - ausgedrückt wird.3 Sehr oft verwenden Skinheads auch nur Insidern bekannte Synonyme, wie z.B. Zahlen an Stelle von Buchstaben. So ist der Gruß "88" in der Szene weit verbreitet.4 Strömungen und Strukturen der Skinheadszene Innerhalb der Skinheadszene bildeten sich verschiedene Strömungen heraus. Neben rechtsextremistischen Skinheads - wie z.B. die "White-Power-Skins" - gibt es auch überwiegend unpolitische sowie politisch linksorientierte Skinheads, zu denen "Red"oder "Sharp"-Skins5 gehören. Obwohl die Skinheadszene tendenziell eher organisationsfeindlich eingestellt ist, gibt bzw. gab es in Deutschland einige straff geführte Organisationen, die sich meist als Eliteorganisationen verstehen. Zu ihnen gehören beispielsweise die "Hammerskins" sowie "Blood & Honour" ("B & H"). Beide Skinheadorganisationen, die in Thüringen über nur sehr wenige Mitglieder bzw. Anhänger verfügen, haben einen politisch-weltanschaulichen Anspruch und sind international tätig. 3 Die Zahl 14 wird in Anlehnung an die "14 words" des amerikanischen Rechtsextremisten David LANE verwandt: "We must secure the existence of our race and a future for white children" ("Wir müssen das Leben unserer Rasse und die Zukunft für unsere weißen Kinder sichern"). 4 Die Zahl 88 verwenden Rechtsextremisten als Synonym für die Parole "Heil HITLER". Die Zahl 8 steht in diesem Falle für H, den achten Buchstaben des Alphabets. Die Zahl 88 entspricht somit HH oder: "Heil HITLER". Diese Verwendung ist im Gegensatz zum "HITLER"-Gruß nicht strafbar. 5 "Sharp" (engl.) steht für "Skinhead against racial prejudice" ("Skinhead gegen rassistische Vorurteile"). 14 "Blood & Honour" ("B & H") Ab Mitte der 90er Jahre wurden in Deutschland in der rechtsextremistischen Skinheadszene erste Organisationsansätze festgestellt. Seit 1995 gab es in der Bundesrepublik eine deutsche "Division" der "B & H"-Bewegung, die in Großbritannien entstanden ist.6 Diese Organisation verfolgt das Ziel, auf internationaler Ebene eine autonome Struktur für die Skinheadszene zu schaffen. Sie propagiert ebenfalls den Nationalsozialismus und vertritt die rassistische "White Power"-Ideologie. Um auf die Szene mit dem Medium Musik ideologisch einzuwirken, richtet die "B & H"-Bewegung7 den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Organisation von Konzerten und Partys, insbesondere mit nationalistischen und rassistischen Bands. Ende des Jahres 1997 wurde in Thüringen die bundesweite "B & H"-Jugendorganisation "White Youth" gegründet, die jüngere Szeneangehörige organisieren und an ältere Kameraden binden wollte. Die Organisation von Konzerten und Partys in Zusammenarbeit mit der "B & H"-Sektion Thüringen stand im Mittelpunkt der Aktivitäten der "White Youth". Am 12. September 2000 verbot der Bundesminister des Innern die deutsche Division der SkinheadGruppierung "B & H" sowie deren Jugendorganisation "White Youth", da sich beide Vereinigungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richteten. Zu diesem Zeitpunkt gehörten der "B & H"-Division Deutschland etwa 200 Personen in 15 Sektionen - darunter auch eine thüringische - an. Zudem gab es bundesweit rund 50 "White Youth"-Mitglieder. Das Verbot, das im Juni 2001 rechtskräftig wurde, schwächte die Szene. Eine Vielzahl von Protagonisten, die in der Gruppierung früher eine Rolle gespielt hatten, verließ die rechtsextremistische Szene oder verlegte die Aktivitäten in andere Handlungsfelder, woraufhin der organisatorische Zusammenhalt der verbotenen Vereinigung zerfiel. Jedoch waren einige e- hemalige, aber auch neue Aktivisten bestrebt, frühere Organisationsstrukturen zumindest rudimentär beizubehalten oder neu aufzubauen. In diesem Zusammenhang wurden seit dem Verbot wegen des Verdachts der Fortführung einer verbotenen Vereinigung deutschlandweit mehrere Ermittlungsverfahren durch die Strafverfolgungsbehörden eingeleitet. Zwar sind die meisten ehemaligen Aktivisten der "B & H"-Szene nicht mehr zuzurechnen. Es bestehen jedoch vielfach Kontakte zwischen früheren Mitgliedern. Einige ehemalige Funktionäre traten wieder in Erscheinung, indem sie an der konspirativen Vorbereitung von Konzerten und dem Vertrieb von CDs mitwirkten. Vereinzelt wurde der Schriftzug "Blood & Honour" auf Devotionalien wie T-Shirts oder Basecaps festgestellt. Der hohe Provokationswert dieses Namens und der Reiz des Verbotenen sollen in der Szene eine größere Aufmerksamkeit erregen und den Verkaufsumsatz steigern. Dem Logo "Blood & Honour" kommt auch unter jüngeren Rechtsextremisten eine gewisse Werbewirkung zu. In Thüringen bestehen zwischen einigen ehemaligen Mitgliedern weiterhin enge persönliche Verbindungen. Auch im Freistaat gab es 2004 vereinzelte Anhaltspunkte, die auf den Versuch hindeuteten, die verbotene "B & H"-Bewegung wiederzubeleben. So tauchten T-Shirts mit dem Aufdruck "Blood & Honour"-Sektion Thüringen auf. Zudem fanden Skinheadkonzerte statt, an deren Organisation Personen aus dem Umfeld von "Blood & Honour" mitwirkten. 6 Nach der nationalsozialistischen Parole "Blut und Ehre" benannt und vom Frontmann der englischen Skinheadband "Skrewdriver", Ian Stuart DONALDSON, 1987 in England gegründet. 7 Als Synonym wird für "Blood & Honour" auch die Buchstabenkombination "28" verwandt. 15 "Hammerskin"-Bewegung Die "Hammerskins" stellen eine weltweit aktive Bewegung dar, die 1986 in den USA gegründet wurde und seit Mitte der 90er Jahre auch in Deutschland mit Sektionen vertreten ist. Die Bewegung versteht sich als Elite innerhalb der Skinheadszene. Sie verherrlicht bzw. propagiert rassistisches, antisemitisches und in Anklängen nationalsozialistisches Gedankengut. Die "Hammerskin"-Bewegung strebt an, weltweit alle "weißen, nationalen" Kräfte in einer "Hammerskin"-Nation zu vereinen. Ihr Erkennungsmerkmal - zwei gekreuzte Zimmermannshämmer in einer Raute - soll die Kraft und Stärke der "weißen Arbeiterklasse" symbolisieren. Wegen ihres elitären Anspruchs sind die bundesweit ca. 100 "Hammerskins" in der Szene umstritten. Da es den "Hammerskins" an Organisationsstrukturen ebenso mangelt wie an Führungspersönlichkeiten, gelang es ihnen nicht, sich entsprechend ihrem Anspruch in der rechtsextremistischen Skinheadszene als Elite durchzusetzen oder mit der "B & H"-Bewegung zu konkurrieren. Die Organisation strebt zwar eine "Hammerskin"-Nation an, besitzt aber kein Konzept, das auf dieses Ziel ausgerichtet ist. Von ihren überregionalen Koordinierungstreffen, die regelmäßig stattfinden, gingen konzeptionelle Impulse bislang nicht aus. Die "Hammerskins" sind im Wesentlichen die bundesweit einzige noch aktive SkinheadGruppierung; in Thüringen haben sie jedoch nur wenige Anhänger. Cliquenbildung Der Mangel an attraktiven sozialen Alternativen (besonders im ländlichen Raum), Gewohnheit und Kameradschaft der Skinheads untereinander führen oftmals zur Bildung von Cliquen, denen es jedoch oft an festeren Strukturen fehlt. Diese Cliquen treffen sich an Tankstellen, in Jugendclubs, an Haltestellen oder anderen öffentlichen Plätzen. Solche im Freistaat überwiegend regionalen, subkulturell geprägten Cliquen treten vor allem in Ostund Südthüringen auf. Die Anzahl ihrer Zugehörigen schwankt. Viele der Jugendlichen, die solchen Cliquen angehören und sich entsprechend kleiden, sind an politischen Zusammenhängen nur wenig interessiert. Der Zusammenhalt wird sehr oft durch martialisch klingende Phantasienamen beschworen. Kontakte zu anderen rechtsextremistischen Gruppierungen Die rechtsextremistische Skinheadszene lehnt eine Einbindung in feste und auf Dauer angelegte Organisationsstrukturen weitgehend ab. Rechtsextremistische Parteien wie die DVU und die "Republikaner" stehen den Skinheads nach wie vor mit Vorbehalten gegenüber. Für die NPD und die Neonazis stellt die Skinheadszene, von der meist keine eigenständigen politischen Aktionen ausgehen, insbesondere bei Demonstrationen und Mahnwachen, ein ergiebiges Mobilisierungspotenzial dar. So werden Skinheads bei derartigen Veranstaltungen oft als Ordner eingesetzt. Für die Motivation der Skinheads, sich in diese Aktivitäten einbinden zu lassen, spielt der gebotene Aktionismus eine nicht unwesentliche Rolle. Mit den Skinheads verfügt die Neonaziszene über ein wichtiges Rekrutierungsreservoir. Im Laufe der letzten Jahre bewegten sich die Skinheadund die Neonaziszene zunehmend aufeinander zu, nachdem sie sich früher voneinander abgegrenzt hatten. In einem größeren Umfang bildeten sich so genannte Mischszenen heraus bzw. verschmolzen Skinheadcliquen und neonazistische Kameradschaften miteinander. Die Gründe hierfür liegen zum einen in den 16 offeneren Strukturen der Neonazis, die in "unabhängigen Kameradschaften" agieren und somit der Organisationsunwilligkeit vieler Skinheads entgegenkommen. Zum anderen trugen in der Vergangenheit auch Strukturierungsversuche, die von der "B & H"oder der "Hammerskin"-Bewegung ausgingen, dazu bei, die Skinheadund die Neonaziszene einander anzunähern und in einem steigenden Maße zu politisieren. Skinheads sind überwiegend regional organisiert, daher sind Verbindungen zu Parteien häufig von persönlichen Kontakten abhängig. Die von den "Jungen Nationaldemokraten" - der Jugendorganisation der NPD - am 27. November in Mücka/Sachsen organisierte "Diskussionsveranstaltung" liefert ein Beispiel dafür, wie sich rechtsextremistische Parteien überregional bemühten, Skinheads anzuziehen und einzubinden.8 Auch der Thüringer Landesverband der NPD versuchte im Berichtszeitraum, Anhänger der Skinheadszene für sich zu gewinnen. Kontakte zur lokalen Skinheadszene pflegte vor allem der Kreisverband Gera. Er organisierte am 10. Juli bereits zum zweiten Mal in der Stadt eine als "Friedensfest" bezeichnete Veranstaltung, in deren Mittelpunkt nicht die Ansprachen von Rechtsextremisten, sondern die musikalischen Beiträge mehrerer Skinheadbands standen. 9 3.2 Skinheadmusik Subkulturelle Aktivitäten - Szenemusik als Einstieg Skinheadmusik und -konzerte bilden entscheidende Elemente, um die Szene zusammenzuhalten; von ihnen geht nach wie vor eine starke Sogwirkung auf die Szene aus. Das Gemeinschaftsgefühl, das die Konzerte stiften, und die aggressiven Rhythmen der Skinheadmusik fördern bei bisher noch unpolitischen Jugendlichen oftmals den Einstieg in die rechtsextremistische Szene. Diese sehr oft prägende Szenemusik drückt ihre Aggressionen, Ängste und Wünsche aus. Mit den Texten der Lieder werden die ideologischen Botschaften transportiert, für welche die Szene empfänglich ist. Die Skinheadbands, die ab Mitte der achtziger Jahre in der Bundesrepublik aufkamen, trugen erheblich dazu bei, eine rechtsextremistische Gesinnung zum szenespezifischen Allgemeingut zu verfestigen. Zunehmend verarbeiteten sie in ihren Liedtexten rechtsextremistisches Gedankengut, das weite Teile der Skinheadbewegung antrieb, "farbige Rassen" strikt abzulehnen und nur den "nordisch-arischen Rassen" eine Existenzberechtigung zuzugestehen. Mit der Vorliebe für rechtsextremistische Skinheadmusik begann manche rechtsextremistische Karriere; sie ist sozusagen eine Art Einstiegsdroge für den Nachwuchs der Szene. Die rassistischen, antisemitischen und Gewalt verherrlichenden Botschaften werden den Hörern mit harten Beats eingehämmert. Beliebt und eingängig sind auch Melodien bereits bekannter Stimmungslieder oder Schlager, die für neue bzw. umgeschriebene Texte verwandt werden. Häufig sind die Texte, die auf den Konzerten vorgetragen werden, extremer als jene, die sich auf den CDs befinden. Mit aggressiven, menschenfeindlichen Formulierungen versuchen sich die Bands gegenseitig zu übertrumpfen. Die dadurch angestachelten "Hitler-Grüße" oder Wechselgesänge zwischen Bands und Publikum steigern das aufputschende Erlebnis solcher Konzerte. Die Hassund Gewaltparolen dieser Szene wirken nachhaltig auf das Verhalten von jugendlichen Fans der Skinheadmusik ein. Sie tragen dazu bei, rechtsextremistische Feindbilder aufzubau- 8 Siehe über diese Veranstaltung S. 54 9 Siehe über diese Veranstaltung S. 50f. u. 52f. 17 en und zu verfestigen. Die Subkultur der Skinheads weckt in denen, die sie teilen, das Gefühl, einer weltweit verschworenen Gemeinschaft anzugehören. Skinheadbands und ihre CDs Deutsche und ausländische Bands Innerhalb der Skinhead-Musikszene findet eine internationale Kooperation statt, die auf der gemeinsam empfundenen Zugehörigkeit zur "White-Power"-Bewegung und weitgehend ü- bereinstimmenden Feindbildern basiert. Skinheadbands aus dem Ausland - insbesondere aus Großbritannien und den USA - und deren CDs sind bei deutschen Skinheads beliebt; entsprechende Gruppen treten regelmäßig bei Konzerten in Deutschland und auch in Thüringen auf. Im Gegenzug spielen deutsche Bands bei Veranstaltungen im Ausland und produzieren zum Teil auch Tonträger speziell für diesen Markt in englischer Sprache. Volksverhetzende fremdsprachige Tonträger finden auch in Deutschland weiterhin eine starke Verbreitung. Dementsprechend ist der Einfluss der rechtsextremistischen Musik aus dem Ausland - trotz möglicher Sprachbarrieren - hoch, da die durch die Musik propagierten Feindbilder überwiegend denen der deutschen rechtsextremistischen Skinheadszene entsprechen. Thüringer Skinheadbands Im Jahr 2004 traten u.a. folgende Thüringer Skinheadbands in Erscheinung: * "Blutstahl" (vormals "Division Wiking"), Jena * "Brainwash" (Projekt von "Kreuzfeuer" und "Might of Rage"), Altenburg * "D.N.A." ("Deutsch Nationale Antisemiten"), Gera * "Eugenik" (frühere Schreibweise "Oigenik"), Gera * "Garde 18", Westthüringen * "Radikahl", Weimar * "Wewelsburg", Altenburg Skinheadkonzerte Die oft als überregionale Treffen organisierten Konzerte dienen als Forum, um Kontakte zu pflegen, Informationen auszutauschen und die Vernetzung der eher strukturschwachen Szene voranzubringen. Zugleich bilden die entsprechenden Musikveranstaltungen Treffpunkte für die ansonsten stark zersplitterte Szene und vermitteln den Teilnehmern ein Gemeinschaftsgefühl. Auf das restriktive Vorgehen der Behörden gegen die Veranstaltung von Skinheadkonzerten reagiert die Szene bei der Planung und Durchführung der Konzerte mit konspirativen Methoden. Für die Konzerte wirbt die Szene vor allem per SMS, über Telefonketten, Mailinglisten, Briefversand per Post sowie durch Mundpropaganda. In der Regel wird nur ein Vorabtreffpunkt bekannt, von dem aus die Teilnehmer zum eigentlichen Veranstaltungsort weitergeleitet werden. Vor Beginn der Konzerte werden mitunter Leibesvisitationen durchgeführt und die Teilnehmer aufgefordert, ihre Handys abzugeben. Die Veranstaltungstermine werden meist nicht öffentlich bekannt gemacht und Konzerte, wenn überhaupt, oft als "Geburtstagsfeiern mit Livemusik" angezeigt. Wenn Angehörige der Szene Räume anmieten, geben sie z.B. häufig an, eine Familienfeier oder ein Klassentreffen vorzubereiten. Teilweise werden Personen vorgeschoben, die sowohl den Besitzern der 18 Räumlichkeiten als auch den Polizeiund Ordnungsbehörden (noch) nicht einschlägig bekannt sind, um Räume zu beschaffen. Dazu kommen die Anmeldungen von Veranstaltungen durch die NPD, bei denen rechtsextremistische Musikgruppen auftreten. Auch werden für Konzertveranstaltungen zunehmend Gaststätten, alte Industriegelände oder Räumlichkeiten genutzt, über die Sympathisanten der Szene verfügen. Außerdem erklären Organisatoren oft, kein Konzert, sondern eine "geschlossene Veranstaltung" mit "geladenen Gästen" zu planen. Die Veranstalter bedienen sich solcher Methoden, um gegen Skinheadkonzerte gerichtete ordnungsbzw. versammlungsrechtliche Maßnahmen zu erschweren. Die Anzahl der Skinheadkonzerte, die im Jahr 2004 deutschlandweit stattgefundenen haben, ist mit 137 Veranstaltungen (2003: 119) abermals angestiegen.10. Mehrfach fanden in diesem Jahr Skinheadkonzerte in zeitlicher und räumlicher Nähe zu anderen rechtsextremistischen Veranstaltungen statt. Skinheadkonzerte in Thüringen Die Anzahl der Skinheadkonzerte, die 2004 im Freistaat veranstaltet wurden, nahm stark zu. 12 Skinheadkonzerte wurden bekannt, ein Konzert von der Polizei im Vorfeld verhindert. Im Vorjahr waren vier Skinheadkonzerte veranstaltet, ein Konzert von der Polizei aufgelöst worden. Zu den Skinheadkonzerten in Thüringen reisten jeweils zwischen 50 und 300 Personen an, unter denen sich auch zahlreiche Besucher aus den angrenzenden Bundesländern befanden. Im Durchschnitt belief sich die Anzahl der Teilnehmer auf ca. 150 Personen (bundesweit ca. 165). Die meisten Thüringer Skinheads sind zwischen 20 und 25 Jahre alt. Häufig nehmen aber auch weit ältere Skinheads - so genannte "Altglatzen" - an rechtsextremistischen Skinheadkonzerten teil. Der Anteil der Frauen an den Konzerten variiert; er beträgt mitunter bis zu 15 %. Besucher und/oder Mitglieder der auftretenden Bands begingen bei einigen Veranstaltungen Straftaten. Meist handelte es sich um Propagandadelikte, wie zum Beispiel Verstöße gegen SS 86a StGB. Dieser Paragraph stellt das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen unter Strafe. Gegen SS 86a StGB verstößt auch, wer den "Hitlergruß" zeigt oder "Sieg Heil" ruft. Darüber hinaus wurden während der Konzerte zum Teil Lieder mit fremdenfeindlichen und antisemitischen Texten gesungen, die den Tatbestand der Volksverhetzung nach SS 130 StGB erfüllen. Übersicht über die Entwicklung der Skinheadkonzertzahlen in Thüringen: Skinheadkonzerte 2002 2003 2004 Stattgefunden 0 4 12 Aufgelöst 4 1 0 Verhindert 2 0 1 10 Konzerte auf Bundesebene 1998: 128; 1999: 109; 2000: 82; 2001: 80; 2002: 112; 2003: 119 19 Übersicht über die Skinheadkonzerte im Jahr 2004:11 Datum Ort TeilnehmerAuftritt von zahl 23.01.2004 Altenburg 70-80 "Attack"/USA, "Moshpit"/Sachsen, "Brainwash" 27.03.2004 Porstendorf 150 "Blutstahl", "Aryan Rebels"/Bayern, "Nordfront"/Niedersachsen 15.05.2004 Plaue 150-200 "Blutstahl", "Agitator"/Niedersachsen u.a. 22.05.2004 Wichmar 300 "Moshpit"/Sachsen, "Endlöser"/Bremen, "Verszerödes"/Ungarn, "Aryan Rebels"/Bayern, "Before the War"/Slowakei 16.07.2004 Gera 200 "Brainwash", "System Coffins"/SachsenAnhalt, "No Alibi"/USA 21.08.2004 Pößneck 90 "Eugenik", "D.N.A." u.a. 28.08.2008 Bucha 200 "Blutstahl", "Blitzkrieg"/Sachsen "Breakdown"/Rheinland-Pfalz 04.09.2004 Wachsen50 diverse burgGemeinde 11.09.2004 Pößneck 50-70 "D.N.A.", "Legion Germania"/Bayern u.a. 17.09.2004 Hinternah 170-200 "Blutstahl" u.a. 25.09.2004 Wasungen 150 "Garde 18", "Imperium"/Tschechien u.a. 30.10.2004 Gröben 200 "Blutstahl", "Garde 18", "Legion Germania"/Bayern Die Polizei unterband ein Skinheadkonzert, das am 5. Juni in einer verlassenen Brauerei in Plaue/Ilmkreis stattfinden sollte. Zu diesem Konzert waren 300-350 Rechtsextremisten aus dem gesamten Bundesgebiet und Österreich angereist, denen Platzverweise erteilt wurden. Die Polizeibeamten zeigten 10 Personen an, da sie Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verwendet oder gegen das Waffengesetz verstoßen hatten. Vier Personen, darunter eine bundesweit bekannte Größe der Skinheadszene aus Baden-Württemberg, nahmen sie vorläufig fest. Die Polizei stellte bei diesen Personen u.a. einige hundert CDs, Fanzines und Bücher sowie T-Shirts sicher, die gegen die Paragraphen 86, 86a und 130 StGB verstießen. 11 Skinheadbands aus Thüringen wurden fett gedruckt. 20 Liederabende, Auftritte von Liedermachern Liederabende erfordern einen vergleichsweise geringen logistischen Aufwand. Zumindest für kleinere, oft regional begrenzte Veranstaltungen stellen sie eine Alternative zu Skinheadkonzerten dar. Liedermacher werden gerne für Kameradschaftsabende oder auch für Parteiveranstaltungen eingeladen, um sie musikalisch zu umrahmen. Diese Art von Unterhaltung mit meist relativ niedrigen Teilnehmerzahlen verläuft dann häufig weniger laut und öffentlichkeitswirksam als Skinheadkonzerte, bei denen der "Spaßfaktor" wesentlich höher ist. Im Jahr 2004 traten auch in Thüringen einige rechtsextremistische Liedermacher auf. Liederabend mit Frank RENNICKE Am 13. Februar fand in Tümpling/Saale-Holzland-Kreis ein Liederabend statt, den Frank RENNICKE gestaltete. Die Veranstaltung besuchten etwa 230 Personen, die überwiegend aus Thüringen angereist waren. Die Teilnehmer des Liederabends setzten sich sowohl aus Skinheads als auch aus Neonazis zusammen. Die Verantwortung für die Veranstaltung trug der Jenaer Rechtsextremist Andre KAPKE. Im Saal hingen zwei Fahnen, welche die Aufschriften "Thüringer Heimatschutz" bzw. "Nationaler Widerstand" trugen, sowie eine Flagge des Irak. An zwei Verkaufsständen wurden CDs sowie Fahnen und Bücher angeboten. RENNICKE gilt als der bekannteste rechtsextremistische Liedermacher in der Bundesrepublik. Er tritt auf Veranstaltungen der NPD und anderer rechtsextremistischer Organisationen, auf Skinheadkonzerten und auf Pressefesten des rechtsextremistischen Spektrums auf. Viele seiner Produktionen wurden wegen Volksverhetzung als jugendgefährdende Tonträger indiziert. Sonstige Auftritte Weitere rechtsextremistische Liedermacher traten auf verschiedenen Veranstaltungen des rechtsextremistischen Spektrums auf. Sie beteiligten sich mit ihren Liedern u.a. an der "Frühlings-Doppel-Demo des Nationalen Widerstands" am 24. April in Meiningen und Suhl, am "3. Thüringentag der nationalen Jugend" am 29. Mai in Saalfeld und am Kameradschaftsabend des "Nationalen Widerstands Eisenach" am 26. November in Eisenach.12 Vertriebe Da rechtsextremistische Skinheadmusik im Handel meist nicht erhältlich ist, hat sich ein Versandhandel speziell für diese Musik herausgebildet. Im Zuge der Kommerzialisierung wurde der anfängliche Tonträgerhandel um ein umfassendes Angebot an Videos, Bekleidung, Schuhen/Stiefel, Fahnen, Schmuck, Büchern etc. ergänzt. Große professionelle Vertriebsunternehmen, die oft eine Mischung aus Szeneläden, Versandhandel und Musiklabels darstellen, dominierten den Markt bis etwa Mitte der 90er Jahre. Heute werden diese Geschäfte zunehmend von Kleinund Kleinsthändlern betrieben. Dies sind Einzelpersonen, welche z. B. anlässlich eines Skinheadkonzerts Tagesgeschäfte mit kleinen Stückzahlen abwickeln und nur die jeweilige regionale Szene - auch mit strafrechtlich relevanter Ware - bedienen. Mit dieser Dezentralisierung reagiert die Szene offenbar auf die Exekutivmaßnahmen vergangener Jahre, infolgedessen große Mengen strafrechtlich relevanter oder indizierter Produkte sichergestellt werden konnten. Weiterhin herrscht ein hohes Maß an Konspiration. Strafrechtlich relevante Tonträger werden überwiegend von Händlern aus dem Ausland, insbesondere den USA, hergestellt und vertrieben. 12 Siehe über diese Veranstaltungen S. 36, 52 und 28 21 Die Zahl der rechtsextremistischen Skinheadvertriebe, welche in größerem Umfang bundesweit rechtsextremistische Musik und Szeneartikel anbieten, hat sich im Berichtszeitraum auf ca. 60 erhöht. Eine große Bedeutung kommt weiterhin Internetanbietern zu, die entsprechendes Liedgut und Devotionalien einem großen Interessentenkreis zugänglich machen. MP3Dateien können von Internettauschbörsen heruntergeladen werden. Ein bedeutender rechtsextremistischer Vertrieb in Thüringen ist der Skinhead-Musikvertrieb "W&B Records" des Neonazis und NPD-Funktionärs Thorsten HEISE. Der Online-Shop namens "W&B Versand" bietet nicht nur Tonträger, darunter rechtsextremistischer Bands und Liedermacher, an. Er verkauft auch Textilien, Publikationen und "nordisch-germanischen" Schmuck. Die Homepage enthält darüber hinaus eine Übersicht verschiedener bundesweiter Demonstrationstermine des "Nationalen Widerstands" und weist auf Konzerte hin. Links verweisen auf Websites des rechtsextremistischen Spektrums. Am 22. Juni durchsuchte das Thüringer Landeskriminalamt (LKA) das Anwesen von HEISE wegen des Verdachts der Volksverhetzung (SS 130 StGB). Als weiterer bedeutender Vertrieb in Thüringen gilt aufgrund seines Lieferumfangs der "Aufruhr-Versand" aus Gera. Am 6. Mai fanden in Gera Durchsuchungen statt, die sich gegen die beiden Betreiber dieses rechtsextremistischen Musikvertriebs richteten. Sie standen im Verdacht, strafrechtlich relevante Tonträger über das Internet vertrieben zu haben. Die Betreiber des "Aufruhr-Versands" sind führende Aktivisten der neonazistischen Szene in Gera. Einer von ihnen kandidierte bei der Landtagswahl in Thüringen für die NPD. "Projekt Schulhof" Ein Beispiel für die zunehmende Professionalisierung des Vertriebswesens ist das so genannte "Projekt Schulhof". Mit diesem Projekt beschritt die rechtsextremistische Musikszene einen neuen Weg, um junge Menschen für die Ideen des Rechtsextremismus zu gewinnen. Ungewöhnlich und neu ist, dass sich ansonsten miteinander konkurrierende Vertreiber rechtsextremistischer Musik zu einem gemeinsamen Projekt zusammen gefunden haben. Hinter dem Projekt dürften ernsthafte finanzielle Interessen der Bands und Vertriebe stehen. Das "Projekt Schulhof" wird von Rechtsextremisten deutschlandweit seit Beginn des Jahres 2004 betrieben. Es verfolgt das Ziel, CDs mit rechtsextremistischen Musiktiteln nicht nur, wie ursprünglich geplant, vor Schulen, sondern auch an öffentlichen Orten wie Jugendtreffs und Bushaltestellen kostenlos an Jugendliche zu verteilen. Die für das "Projekt Schulhof" produzierten 50.000 CD-ROM mit dem Titel "Anpassung ist Feigheit - Lieder aus dem Untergrund" enthält ein Vorwort und 19 Musikstücke szenebekannter Bands aus dem Inund Ausland und ist multimedial gestaltet. Das "Projekt Schulhof" stellt das erste Konzept von Rechtsextremisten in Deutschland dar, das eine offensive "flächendeckende" Verteilung rechtsextremistischer Musik an Jugendliche vorsieht, die nicht der Szene angehören. Auch was ihren Umfang anbetrifft, stellt diese geplante Aktion ein Novum dar. Mit dem "Projekt Schulhof" verfolgen die Initiatoren die Absicht, ideologisch nicht gefestigte Jugendliche zu erreichen und ihnen rechtsextremistische Musik nahe zu bringen. Einer der Vertriebe, die als Unterstützer dieses Projekts genannt werden, ist der bereits erwähnte "W&B Versand" von Thorsten HEISE. Nach Bewertung der Strafverfolgungsbehörden ist der Sampler wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole sowie Vorrätighaltens eines schwer jugendgefährdenden Träger22 mediums strafbar. Demnach ist die CD geeignet, die Entwicklung von Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit schwer zu gefährden. Aufgrund ihres jugendgefährdenden Inhalts besteht gegen die CD ein Beschlagnahmebeschluss des Amtgerichts Halle/Saalkreis (Sachsen-Anhalt). Vorübergehend bestand die Möglichkeit, Titel und Cover der ursprünglich geplanten CD über ein File-Sharing-Programm im Internet herunter zuladen. Seit Ende 2004 können von der "Projekt Schulhof"-Internetseite Musikund Textdateien abgerufen werden. Die Textdateien sind weitgehend identisch mit denen, die die "Projekt Schulhof"-CD enthält. Allerdings befinden sich die 19 auf der CD enthaltenen Lieder nicht auf der Homepage. Es werden 27 andere strafrechtlich nicht relevante Lieder zum Download angeboten. Die ursprünglich geplante CD-Verteilung und deren bisheriges Scheitern wird in einem Vorwort thematisiert. Die Homepage bietet u.a. weitere Informationen über "Standpunkte und Forderungen der Nationalen Opposition", zu "Hartz IV" sowie über die rechtsextremistische Kampagne "Keine Agenda 2010". Den Sicherheitsbehörden gelang es bisher, die geplante Verteilung zu verhindern. Fanzines Fanzines gehören neben der Musik zu den wichtigen Kommunikationsmitteln der rechtsextremistischen Skinheadszene. Der Begriff "Fanzine" ergibt sich aus der verkürzten Zusammensetzung der beiden englischen Wörter fan (begeisterter Anhänger) und magazine (Magazine, Illustrierte). Die meist unregelmäßig erscheinenden Fanzines werden oft von Skinheads herausgegeben, die über Erfahrungen in der Szene und über entsprechende Kontakte verfügen. Fanzines unterscheiden sich, was die Art, die Aufmachung und die Höhe der Auflage betrifft. Manche Fanzines wirken primitiv und sind von schlechter Druckqualität, andere hingegen durchaus ansprechend und qualitativ hochwertig gestaltet. Sie enthalten überwiegend Informationen über Konzerte, Treffen von Skinheads und Skinheadbands mit Interviews. E- benso enthalten sie Werbung für Tonträger, Szeneartikel oder für andere Fanzines. Die Publikationen haben einen geringen, meist regional begrenzten Verteilerkreis. Fanzines werden überwiegend auf Konzerten, über Vertriebe und Szeneläden sowie von Hand zu Hand verkauft. Manche Fanzines können direkt beim Herausgeber oder per Internet bestellt werden. Im Jahr 2004 hat die Anzahl der Fanzines entgegen dem Trend der Vorjahre erstmals wieder bundesweit zugenommen. Ihre Anzahl stieg von rund einem Dutzend im Jahr 2003 auf etwa 20 im Berichtszeitraum an. In Thüringen wurde eine neue Ausgabe von "Ratatösk - Das FanZine aus der Wartburgstadt" bekannt. Im Jahr 2003 waren drei Ausgaben dieser Publikation erschienen. Das Online-Fanzine "Die Streiche von Max und Moritz" ist sowohl neu auf dem Markt als auch neu in seiner Form. Es betrachtet sich nach eigenen Angaben als "das erste deutsche Internetmagazin der Szene". Seit Juni 2004 kann es auf der Homepage von HEISEs Internetvertriebsdienst "W&B Records" abgerufen werden. Das Online-Fanzine enthielt u.a. Interviews mit Skinheadbands, kommentierte das "Projekt Schulhof" und rief zur Teilnahme an den "Montagsdemonstrationen" auf. 23 4. Neuer Nationalsozialismus (Neonazismus) 4.1 Ideologischer Hintergrund Neonationalsozialisten (Neonazis) fordern die Errichtung einer Staatsform und einer "Volksgemeinschaft", die dem Programm der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) von 1920 entsprechen. Sie orientieren sich ideologisch am 25-Punkte-Programm der NSDAP und an HITLERs programmatischer Schrift "Mein Kampf". Sie propagieren einen totalitären Staat auf der Grundlage des Eliteund Führerprinzips, der die eigene Rasse als höherwertig gegenüber anderen einschätzt und das deutsche Volk vor "rassisch minderwertigen Ausländern" und vor einer "Volksvermischung" bewahren will. Neonazis streben die Wiederzulassung der NSDAP an, um ein "Viertes Reich" zu gründen, das unter Ausschluss von Ausländern und Juden und nach Angliederung der ehemaligen deutschen Ostgebiete das "Großdeutsche Reich" auferstehen lässt. Bis Anfang der 80er Jahre war HITLER das Leitbild deutscher Neonazis. Seither gibt es nicht wenige Neonazis, die Kritik an HITLER üben. Diese "Nationalrevolutionäre" orientieren sich an den ehemaligen NSDAP-Ideologen Dr. Otto STRASSER und Gregor STRASSER sowie dem SA13-Stabschef Ernst RÖHM. Die hieraus resultierenden ideologischen Meinungsverschiedenheiten trugen zur Zersplitterung des Neonazismus bei; wie schon der "historische Nationalsozialismus" kann sich der Neonazismus nicht auf eine einheitliche geschlossene Ideologie berufen. Obwohl regionale "Führungskader" oder Einzelpersonen Schulungsveranstaltungen durchführen, besitzt die Masse der Neonazis nur rudimentäre Kenntnisse über den Nationalsozialismus. Neonazis sind in einem rassistisch bedingten "Freund-Feind-Denken" gefangen. Sie sehen sich in einem permanenten Kampf gegen das angeblich übermächtige "Weltjudentum", das sie Außenstehenden gegenüber mit der Kurzformel ZOG14 verschleiern. Neonazis sind überzeugt, dass die westlichen Regierungen, insbesondere die der USA und Deutschlands, vom "internationalen Finanzjudentum" gesteuert werden und dessen Streben nach Weltherrschaft willfährig unterstützten. Als Chiffre hierfür wird in der Öffentlichkeit der Begriff der amerikanischen "Ostküste" verwendet, wo das "Weltjudentum" seinen Sitz habe. 4.2 Organisationsformen der Neonaziszene Nachdem Anfang der 90er Jahre mehrere neonazistische Organisationen verboten worden waren, verfolgten Neonazis zwei Gegenstrategien. Auf der Suche nach aus ihrer Sicht unangreifbaren Organisationsformen fand sich ein Teil der Neonaziszene, die sich selbst als "Freie Nationalisten" bezeichnen, in unabhängigen Kameradschaften zusammen. Andere Neonazis fanden unter dem "legalen Dach" der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) Unterschlupf. Konzept der "Freien Kameradschaften" Nach diesem Konzept sollen Kameradschaften als kleine autonome Einheiten auf meist lokaler bzw. regionaler Ebene agieren und durch technische und personelle Kontakte überregional vernetzt sein. Aufgrund ihres informellen Charakters sollen dem Staat weniger Angriffspunkte geboten werden, gegen sie vorzugehen. Obwohl Kameradschaften meist keine oder nur geringe vereinsähnliche Strukturen aufweisen, sind sie durch eine verbindliche Funktionsverteilung dennoch deutlich strukturiert. Kennzeichnend für diese Gruppierungen ist die Bereit13 SA steht für "Sturmabteilung". 14 ZOG steht für "Zionist Occupied Government" ("zionistisch beherrschte Regierung"). 24 schaft, gemeinsam politisch zu arbeiten und neonazistisches Gedankengut zu verbreiten. Die Bezeichnung "Kameradschaft" verwenden aber auch Gruppierungen, die eher rechtsextremistisch "anpolitisierten" Jugendcliquen ähneln. Deren Mitglieder weisen regelmäßig rechtsextremistische Grundeinstellungen auf; im Vordergrund dieser Cliquen stehen jedoch gemeinsame Freizeitaktivitäten und gemeinschaftliches Auftreten. Daher sprechen die Verfassungsschutzbehörden dann von einer neonazistischen "Kameradschaft", wenn die jeweilige Gruppierung die folgenden Merkmale aufweist: * ein abgegrenzter Aktivistenstamm mit beabsichtigter geringer Fluktuation, * eine lediglich lokale oder maximal regionale Ausdehnung, * eine zumindest rudimentäre Struktur und * die Bereitschaft zu gemeinsamer politischer Arbeit auf Basis einer rechtsextremistischen, insbesondere neonazistischen Grundorientierung. Mehrere Gruppierungen versuchen, ihre Beschränkung auf einen lokalen Wirkungskreis auszugleichen, indem sie sich Aktionsbündnissen und -büros anschließen. Diese sollen dazu beitragen, die Mobilisierung zu verbessern und die Entwicklung gemeinsamer Projekte zu fördern. Sie sind teilweise über Internetseiten vernetzt, werden aber - bis auf Ausnahmen - ihrem Koordinierungsanspruch nicht gerecht. 4.3 Das Verhältnis zwischen der Neonaziszene und der NPD Viele Neonazis fanden nach der Verbotswelle neonazistischer Organisationen Anfang der neunziger Jahre Unterschlupf unter dem "legalen Dach" der NPD und nutzten deren Parteienprivileg für eigene Aktionen. Zunächst war die Partei gern bereit, mit den Neonazis zusammenzuarbeiten, brauchte sie sie doch als Mobilisierungspotenzial für ihren "Kampf um die Straße". Während des gegen sie gerichteten Verbotsverfahrens ging die NPD aus taktischen Gründen auf Distanz zu ihrem Bündnispartner. Der "Nationale Widerstand" schien sich überlebt zu haben. Dieser von der NPD proklamierte und auch von Teilen der Neonaziszene verwendete Begriff bezeichnet den Willen von Rechtsextremisten, gemeinsam organisationsübergreifend gegen das politische System der Bundesrepublik und die sie tragenden Kräfte vorzugehen. Die Absprache zwischen der NPD und Teilen der Neonaziszene, künftig offen zusammen zu arbeiten, leitete im Jahr 2004 einen neuen Trend ein. Diese Entwicklung gipfelte in dem Konzept, eine "Volksfront von Rechts" zu formen.15 In Thüringen arbeiten die Neonazis und die NPD seit Jahren relativ offen zusammen. Viele Neonazis sind in der NPD aktiv, viele Veranstaltungen werden gemeinsam beworben, organisiert und durchgeführt.16 Schon vor Jahren, als die Thüringer Neonaziorganisation "Thüringer Heimatschutz" (THS) noch existierte, stellten deren Mitglieder rund ein Drittel der Funktionäre des Landesverbands. Im Berichtszeitraum vertieften sich die personellen und aktionistischen Verflechtungen zwischen der Neonaziszene und der NPD: Im Juni wurden erneut Personen, die für eine Zusammenarbeit mit Neonazis eintreten, zu Mitgliedern des Landesvorstands der NPD und der bundesweit bekannte Neonazi Thorsten HEISE auf Platz drei der Landesliste der NPD für die Landtagswahl am 13. Juni gewählt. Im Oktober übernahm der Neonazi Michael BURKERT als Kreisvorsitzender des neuen Kreisverbands Erfurt-Gotha der NPD eine Führungsposition innerhalb des Landesverbands. Am 30./31. Oktober wurde Thorsten HEISE auf dem Bundes15 Siehe S. 45ff. 16 Siehe S. 50 25 parteitag der NPD in Leinefelde sogar als Beisitzer in den Vorstand gewählt, nachdem er im September der Partei beigetreten war. Weiterhin setzen sich Thüringer Neonazis für eine Zusammenarbeit mit der NPD ein, ohne deren Mitglieder zu sein. So organisierte der Eisenacher Neonazi Patrick WIESCHKE im Rahmen des Konzepts "Volksfront von Rechts" unter dem Motto "Eine Bewegung werden! Gemeinsam die Volksfront von Rechts schaffen." am 4. Dezember in Sondershausen eine "Große Saalveranstaltung".17 Der Eintritt von HEISE und BURKERT in die NPD, deren Wahl in den Bundesvorstand der Partei bzw. zum Vorsitzenden des neuen Kreisverbands Erfurt-Gotha sowie das Engagement des Neonazis WIESCHKE für die Zusammenarbeit mit der Partei können dazu führen, die Akzeptanz der NPD im neonazistischen Spektrum Thüringens weiter zu erhöhen sowie "Freie Nationalisten" mehr denn je in den "Kampf um die Straße" und in die Parteiarbeit einzubinden. Kein führender Thüringer Neonazi lehnt eine Zusammenarbeit mit der NPD ab. 4.4 Ausdrucksformen des Neonazismus in Thüringen In Thüringen ist die Anzahl der Neonazis im Berichtszeitraum gegenüber dem Vorjahr mit etwa 250 Personen gleich geblieben, während sich die Zahl der Neonazis auf Bundesebene erheblich von 3.000 auf 3.800 Personen erhöhte. Die meisten Thüringer Neonazis sind zwischen 18 und 24 Jahre alt; etwa 15 % der Angehörigen des neonazistischen Spektrums Thüringens sind weiblich. Frauen nehmen an rechtsextremistischen Veranstaltungen teil und organisieren auch solche. Darüber hinaus präsentieren sie sich im Internet als sogenannte "Mädel"-Gruppierungen. Beispiele hierfür stellen der "Mädelring Thüringen" (MRT), der sich als "Zusammenschluss aktiver nationaler Sozialistinnen" bezeichnet, "die den Befreiungskampf, speziell in Thüringen, unterstützen", sowie der "Nationale Mädelbund Weimar" (NMBW) dar, den der "Nationale Widerstand Weimar" (NWW) auf seiner Website als Untergruppierung angibt. Im Jahr 2004 veranstaltete das neonazistische Spektrum wesentlich mehr Demonstrationen als im Vorjahr. Zahlreiche Aktionen wandten sich gegen die Sozialund Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung18. An vielen Demonstrationen nahmen im Wesentlichen dieselben Personen teil. Für diese Rechtsextremisten ist es oft unerheblich, ob nun "Freie Nationalisten" oder die NPD Veranstaltungen anmelden. Außerdem fanden einige Schulungsveranstaltungen statt, die von bekannten Aktivisten der Szene organisiert wurden. Diese Veranstaltungen dienen oft weniger dem Ziel, das eigene, oft diffuse rechtsextremistische Weltbild als vielmehr ein Gemeinschaftsgefühl zu verfestigen. Thüringer Neonazis nutzten auch im Berichtszeitraum in erster Linie das Internet, um sich selbst darzustellen, Informationen zu verbreiten und Kontakte zu den "Freien Gruppen im Thüringer Widerstand" zu vermitteln. Besonders umfangreich waren die Websites von Gruppierungen in Eisenach, Weimar und Jena, die auch häufig aktualisiert wurden. Das Medium wird aber auch für die so genannte "Anti-Antifa"-Arbeit genutzt. Zu deren Methoden gehört es, zur Einschüchterung des politischen Gegners Informationen über diesen auszuspähen und in rechtsextremistischen Publikationen oder Medien zu veröffentlichen. Eine solche Thüringer Website wurde erstmals seit Jahren im Vorfeld des "Antifaschistischen Ratschlags" am 6. 17 Siehe über diese Veranstaltung S. 50 18 Siehe Exkurs: "Thüringer Rechtsextremisten treten gegen die Arbeitsmarktreform 'Hartz IV' und gegen die 'Agenda 2010' auf", S. 38ff. 26 November in Gotha festgestellt. Auf der Seite, deren Motto "Dem antideutschen Mob auf die Pelle rücken! Den Antifa-Ratschlag in Gotha bekämpfen!" lautete, wurden u.a. Fotos, Beschreibungen, Adressen sowie Autokennzeichen, die die "Antifa in Thüringen und Gotha" betreffen, verbreitet. Wie im Vorjahr sind etwa 75 Thüringer Neonazis, mithin ca. ein Drittel des gesamten Spektrums, in Gruppierungen aktiv, die ansatzweise Strukturen aufweisen. Das Personenpotenzial des so genannten "Nationalen und sozialen Aktionsbündnisses Westthüringen" (NSAW) ging 2004 weiter zurück, während der "Nationale Widerstand Weimar" (NWW) mit zahlreichen Aktivitäten in Weimar in Erscheinung trat. Weitere Bezeichnungen von Kameradschaften tauchten sowohl im Internet als auch auf Transparenten bzw. Flugblättern auf. Sie sind mitunter fiktiver Natur. Teilweise erfüllen entsprechende Cliquen nicht die Merkmale einer Kameradschaft, da es den Beteiligten entweder an der Bereitschaft zu gemeinsamer politischer Arbeit oder an einem abgegrenzten Aktivistenstamm mangelt. Viele Gruppierungen haben nur eine geringe Lebensdauer. Sie stehen und fallen mit dem Engagement und der Überzeugungskraft ihrer jeweiligen Wortführer. Rechtsextremistische Aktivitäten in Thüringen gehen zumeist von einzelnen, regional agierenden Aktivisten aus, die für Veranstaltungen jeweils ein bestimmtes Personenpotenzial aus ihrem Umfeld mobilisieren können. Neonazistische Strukturen, die Thüringen im Ganzen umfassen, existieren nicht; allerdings bestehen in der Szene enge persönliche Kontakte. Kommunikationsmedien wie Internet und Mobiltelefone werden intensiv genutzt. So gelingt es mitunter kurzfristig, einen großen Teil des Thüringer Neonazipotenzials für bestimmte Veranstaltungen zu gewinnen. Ein Beispiel hierfür stellt die Spontandemonstration am 17. August in Altenburg dar, für die innerhalb eines Tages etwa 250 Rechtsextremisten aus Thüringen und umliegenden Bundesländern mobilisiert werden konnten.19 Im Einzelnen traten im Berichtszeitraum vor allem die folgenden neonazistischen Personenzusammenschlüsse in Thüringen mit ihren Aktivitäten in Erscheinung: Neonazikreis um Patrick WIESCHKE Früher: "Sektion Eisenach des THS"/NSAW Sitz: Eisenach Mitglieder: ca. 20 Führungsperson: Patrick WIESCHKE Dieser Neonazikreis schließt ca. 20 Personen ein. Er ist das Relikt der früheren "Sektion Eisenach" des ehemaligen "Thüringer Heimatschutzes" (THS). Diese Sektion nannte sich früher auch "Nationales und Soziales Aktionsbündnis Westthüringen" (NSAW). Diese Bezeichnung wurde auch noch 2004 benutzt. Überwiegend tritt derselbe Personenkreis auch unter den Bezeichnungen "Zukunft-Perspektive-Heimat Bad Salzungen" (ZPH), "Kameradschaft Eisenach/Nationaler Widerstand Eisenach", "Freie Nationalisten aus Friedrichroda/Skinheadclub Friedrichroda" (F.N.F./S.C.F.), "Nationaler Widerstand Gotha", "Nationaler Widerstand Schmalkalden" und "Aktionsbüro Thüringen" auf. Dieser Personenkreis nimmt nicht nur an öffentlichkeitswirksamen Aktionen teil, sondern veranstaltet auch Kameradschaftsabende. So fand am 26. November in Eisenach ein Kameradschaftsabend des "Nationalen Widerstandes Eisenach" statt, der von WIESCHKE geleitet 19 Siehe S. 37 27 wurde. An der Veranstaltung nahmen ca. 20 Personen teil. Als Redner trat eigenen Angaben zufolge der bekannte Rechtsextremist Otto RIEHS auf. Die Veranstaltung soll mit einem Auftritt des "nationalen Liedersängers Olli" beendet worden sein. Patrick WIESCHKE ist einer der aktivsten Neonazis in Westthüringen. Der ehemalige Funktionär der NPD und frühere stellvertretende Landesvorsitzende der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) führte die "Sektion Eisenach" des THS an. Nachdem er im Mai aus der Haft entlassen worden ist, hat er in der rechtsextremistischen Szene wieder Fuß gefaßt. So meldete er zahlreiche Veranstaltungen des rechtsextremistischen Spektrums, die sich vor allem gegen die "Agenda 2010" und das "Hartz IV"-Gesetz richteten, an oder leitete sie. Infolge seiner Aktivitäten ist es WIESCHKE gelungen, sich wieder als einer der führenden Figuren unter den Thüringer Neonazis zu profilieren. WIESCHKE organisierte und führte die "Große Saalveranstaltung" am 4. Dezember in Sondershausen20 durch, die eine der wichtigsten rechtsextremistischen Veranstaltungen im Berichtszeitraum in Thüringen darstellte. WIESCHKE war im Mai 2002 u.a. wegen Anstiftung zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und einer Sachbeschädigung in einer Berufungsverhandlung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt worden. "Kameradenkreis" um Thorsten HEISE Früher: "Kameradschaft Northeim" Sitz: Fretterode Mitglieder: ca. 20 Führer: Thorsten HEISE Die "Kameradschaft Northeim" wurde von Thorsten HEISE 1995 gegründet. Seit er im Oktober 2002 nach Fretterode in Thüringen umgezogen ist, finden auf seinem Anwesen "Kameradschaftsabende" statt, an denen sich in der Regel 15 bis 20 Personen beteiligen. Über HEISE unterhält der "Kameradenkreis" Kontakte zu Gesinnungsgenossen in anderen Bundesländern. Die Angehörigen des "Kameradenkreises" nehmen an "szenetypischen" Veranstaltungen vor allem außerhalb Thüringens teil. Im Freistaat wurden bisher öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen des "Kameradenkreises" nicht bekannt. HEISE zählt zu den bekanntesten deutschen Neonazis. Er war Landesvorsitzender der "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP) in Niedersachsen, die bis zu ihrem Verbot im Jahre 1995 über ein Jahrzehnt eine der bedeutendsten Neonazi-Organisationen in der Bundesrepublik darstellte. HEISE betreibt einen Großhandel für Bildund Tonträger, Geschenkartikel und Militärkleidung. Mit seinem Vertrieb sowie einem Online-Fanzine ist er auch im Internet aktiv. HEISE kandidierte am 13. Juni auf Platz drei der Landesliste der NPD erfolglos für einen Sitz im Thüringer Landtag. Nachdem er im September der NPD beigetreten ist, wurde er auf dem Parteitag der NPD am 30./31. Oktober in Leinefelde als Beisitzer in den Bundesvorstand gewählt. HEISE will auf Bundesebene als "Sprachrohr sowie Ansprechpartner" all der Kameradinnen und Kameraden auftreten, die sich außerhalb der NPD organisieren. 20 Siehe S. 50 28 "Nationaler Widerstand Weimar"/"Braune Aktionsfront Thüringen, Sektion Weimar" (NWW/B.A.F.) Sitz: Region Weimar Mitglieder: ca. 20 Zahlreiche Aktivitäten gingen im Berichtszeitraum von der Gruppierung "Nationaler Widerstand Weimar"/"Braune Aktionsfront Thüringen, Sektion Weimar" (NWW/B.A.F.) aus. Eigenen Angaben des NWW zufolge sollen der "Nationale Mädelbund Weimar" (NMBW), die "Kameradschaft Frontsturm" (KSF) und die B.A.F. dem NWW als Untergruppierungen angehört haben. Die KSF trat bisher nicht in Erscheinung. Der Selbstdarstellung im Internet nach hat sich der NWW die Aufgabe gestellt, "nationale" Veranstaltungen wie beispielweise Liederabende, Vorlesungen, Partys und Ausflüge sowie die Teilnahme an Demonstrationen zu organisieren. Einige Mitglieder seien im eigenen Fußballverein "F.C. Hardcore" aktiv. Wie die B.A.F. im März dieses Jahres bekannt gab, sollen sich der "Nationale Widerstand Weimar" und die B.A.F. Thüringen in zwei Gruppen geteilt haben, nach wie vor jedoch weiter eng zusammenarbeiten. Die B.A.F. betreibt seit Mitte März 2004 wieder eine eigene Website, auf der sie ihre Ansichten wiedergibt, gegen das politische System der Bundesrepublik agitiert und für Veranstaltungen des rechtsextremistischen Spektrums wirbt. Sie hat den Vorsatz gefasst, "alle politischen Soldaten, die gewillt sind, den Kampf um unser aller Heimatland zu führen ... zu sammeln und politisch auszubilden". Sie bekennt sich u.a. zum Prinzip der "Volksgemeinschaft", einem zentralen Element der rechtsextremistischen Weltanschauung. Sie strebt einen "Nationalen Sozialismus" an und fordert die Rückgabe der "deutschen Gebiete". Im Januar, Februar und April organisierten die Gruppierungen drei so genannte "Nationale Stadtrundgänge" in Weimar. Sie zogen je 50, 60 bzw. 30 Personen an. Die "Rundgänge" dienten eigener Darstellung nach der Besichtigung der "unzähligen deutschen Kulturgüter" in Weimar und der "Weiterbildung". In Wirklichkeit zielten sie jedoch darauf ab, die politischen Gegner und die Polizeibeamten - die von den Veranstaltern als "Systemknechte" diffamiert wurden - zu provozieren. Darauf deuten insbesondere die Selbstdarstellungen des NWW und der B.A.F. im Internet hin, die sich wiederholt und umfangreich dem Verhalten der "Linken" und der Polizei während der Rundgänge widmeten. Die "Stadtrundgänge" stellten ein Novum hinsichtlich der Aktivitäten Thüringer Rechtsextremisten dar. Bisher brachten sie ihre politischen Ansichten meist mittels Demonstrationen oder Mahnwachen zum Ausdruck. Im Berichtszeitraum beteiligten sich Angehörige des NWW/B.A.F. darüber hinaus nicht nur an zahlreichen Aktivitäten des rechtsextremistischen Spektrums in Thüringen und in angrenzenden Bundesländern. Sie veranstalteten auch "Montagsdemonstrationen" in Weimar, die gegen die "Agenda 2010" und "Hartz IV" Front machten, und organisierten am 11. September in Tröbsdorf bei Weimar ein Treffen von Angehörigen der rechtsextremistischen Szene Thüringens und benachbarter Bundesländer, an dem sich etwa 100 Personen beteiligten. Nachdem gegen zehn mutmaßliche Angehörige des NWW wegen des Verstoßes gegen SS 127 StGB, der die Bildung bewaffneter Gruppen unter Strafe stellt, Ermittlungen eingeleitet worden waren, durchsuchte die Polizei auf Beschluss des Amtsgerichts Weimar am 28. Oktober zwölf Wohnungen. Den Hintergrund bildete ein in einem Pkw aufgefundenes Selbstporträt der Gruppe, auf dem 21 - zum Teil vermummte und bewaffnete - Personen abgebildet sind. 29 Die Polizei stellte u.a. Schreckschussund Luftdruckwaffen, Baseballund Totschläger, diverse CDs mit rechtsextremistischer Musik sowie Hakenkreuzfahnen sicher. "Hausgemeinschaft 'Zu den Löwen'" in Jena-Lobeda Neben den "klassischen" Organisationsformen haben sich weitere Modelle der Zusammenarbeit herausgebildet, mit denen Thüringer Neonazis ihre politischen Ziele verfolgen. Ein Beispiel dafür stellt die "Hausgemeinschaft 'Zu den Löwen'" in Jena-Lobeda dar. In dem von den bekannten Thüringer Rechtsextremisten Maximilian LEMKE, Ralf WOHLLEBEN und Andre KAPKE bewohnten Haus fanden auch im Jahr 2004 zahlreiche Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene statt. Die vorhandenen Räumlichkeiten werden von der rechtsextremistischen Szene Thüringens und anderer Bundesländer für Vortragsabende, Kameradschaftstreffen, Schulungen oder Liederabende genutzt. Das von den Bewohnern selbst als "Hausgemeinschaft 'Zu den Löwen'" bezeichnete Objekt dient der rechtsextremistischen Szene darüber hinaus als Anlaufstelle für ihre Anhänger und soll damit der Zersplitterung der Szene entgegenwirken. Auch die Thüringer NPD führte im Jahr 2004 in dem Gebäude erneut zahlreiche Veranstaltungen durch. Auf der Website des Kreisverbands Jena der NPD wird das Haus seit September als Kreisgeschäftsstelle mit Telefonund Faxnummern angegeben. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, wie eng die NPD und die Neonaziszene in Thüringen miteinander vernetzt sind. In der Person von Ralf WOHLLEBEN kommt dieser Zustand besonders deutlich zum Ausdruck. WOHLLEBEN fungiert als Vorsitzender des Kreisverbands Jena und stellvertretender Vorsitzender des Landesverbands Thüringen der NPD. Gleichzeitig zählt er zu den führenden Neonazis im Freistaat. WOHLLEBEN entfaltete nicht nur in der NPD Aktivitäten, sondern meldete auch zahlreiche Veranstaltungen des neonazistischen Spektrums an oder trat als stellvertretender Versammlungsleiter auf. "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) Gründungsjahr: 1979 Sitz: Frankfurt/Main Mitglieder bundesweit: ca. 600 Thüringen: ca. 15 Publikation: "Nachrichten der HNG" Die HNG stellt die mitgliederstärkste, neonazistische Organisation in Deutschland dar. Ihr gehören etwa 600 Mitglieder an, von denen etwa 15 aus Thüringen stammen. Ihre Hauptaufgabe sieht die HNG darin, "nationale Gefangene", die nach ihrer Haftentlassung der rechtsextremistischen Szene erhalten bleiben sollen, zu betreuen. Ein Großteil der Mitglieder der HNG gehört noch anderen rechtsextremistischen Organisationen an. Infolgedessen stellt die HNG ein wichtiges Bindeglied innerhalb der zersplitterten neonazistischen Szene dar. Sie gibt monatlich die Publikation "Nachrichten der HNG" mit einer Auflage von etwa 700 Exemplaren heraus. In den "Nachrichten der HNG" soll anhand von Berichten über "Repressionen" gegenüber "nationalen Gefangenen" im Justizvollzug die angebliche politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland dokumentiert werden. 30 Die Jahreshauptversammlung der HNG fand am 20. März in Gremsdorf (Bayern) statt. Unter den ca. 140 Teilnehmern befanden sich auch Personen aus Thüringen. Der im Jahr 2003 aufgetretene "Kameradschaftsbund für Thüringer POWs"21 hat im Berichtszeitraum keine Aktivitäten entfaltet. 4.5 Exkurs: "Immobilien im Besitz von Rechtsextremisten" Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen Rechtsextremisten Immobilien erwerben bzw. langfristige Mietbzw. Pachtverträge abschließen. Damit ist die Gefahr verbunden, dass diese sich Strukturen und Räume schaffen, in denen sie von Öffentlichkeit und Sicherheitsbehörden verhältnismäßig ungestört ihren rechtsextremistischen Bestrebungen nachgehen können. Nicht zuletzt deshalb löst der Erwerb eines Grundstücks durch Rechtsextremisten bei vielen zu Recht Unbehagen aus. Dennoch ist dieser Vorgang in einem Rechtsstaat differenziert zu betrachten. Jedermann hat in Deutschland das Recht, Grundstücke zu erwerben. Einen Grundstückskauf durch Extremisten hält unsere Rechtsordnung aus. Sie macht ihn daher auch nicht von der Gesinnung abhängig. Die Rechtsordnung missbilligt nur Verhaltensweisen, die ihr Schaden zufügen können und sieht dafür ein staatliches Einschreiten vor, bei welchem alle rechtsstaatlichen Mittel zum Schutz der angegriffenen Rechtsgüter ausgeschöpft werden müssen. Soweit Rechtsextremisten also Grundstücke und Häuser kaufen, um dort zu wohnen, geniessen sie den vollen grundrechtlichen Schutz. Geschieht der Kauf allerdings zum Zwecke der Verfolgung rechtsextremistischer Ziele, können sie sich auf diesen Schutz nicht mehr berufen. Der Verfassungsschutz kann und darf nicht den gesamten Grundstücksverkehr beobachten. Seine Befugnisse leiten sich im Einzelnen aus dem Thüringer Verfassungsschutzgesetz ab. Danach darf er seine Erkenntnisse den zuständigen Stellen (wie etwa den Kommunen) nur unter bestimmten Voraussetzungen mitteilen, damit diese ihre rechtlichen Möglichkeiten, die rechtsextremistische Nutzung eines Grundstücks zu verhindern, prüfen können. Eine solche Mitteilung ist etwa zulässig, wenn das Grundstück erworben wird, um es für eine verfassungsfeindliche Betätigung zu missbrauchen. Dies ist jedoch oft schwierig einzuschätzen, da im Zeitpunkt des Erwerbs der Immobilie ihre Nutzung vielfach noch nicht absehbar ist. In Fällen, in denen ein Grundstück im Wege der Versteigerung erworben wird, steht die Person des Käufers erst mit dem Zuschlag fest, so dass allein schon durch diese Form der Veräusserung eine Information über den Käufer im Vorfeld in aller Regel nicht möglich ist. So erhielt im Dezember 2003 die in London ansässige "Wilhelm Tietjen Stiftung für Fertilisation Limited" bei einer Grundstücksversteigerung in Berlin den Zuschlag für die Immobilie "Schützenhaus" in Pößneck. Bei der Stiftung handelt es sich um eine "Briefkastenfirma", die von dem rechtsextremistischen Hamburger Rechtsanwalt Jürgen RIEGER22 gesteuert wird. Das Ziel der Stiftung besteht u. a. in nicht näher bezeichneten "Fruchtbarkeitsforschungen". 21 Das gebräuchliche Kürzel "POW" steht in diesem Zusammenhang für die englische Bezeichnung "PRISONER OF WAR" des deutschen Worts "Kriegsgefangener" (im Zweiten Weltkrieg). 22 Der bereits mehrfach vorbestrafte Jürgen RIEGER ist Vorsitzender und ideologischer Kopf der rechtsextremistischen Gruppierung "Die Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V.", die regelmäßig "Gemeinschaftstagungen" in Thüringen abhält (siehe S. 69). Der ehemalige Funktionär der NPD und der "Wiking-Jugend", die inzwischen verboten worden ist, organisierte in den letzten Jahren darüber hinaus die Heß-Gedenkveranstaltungen der rechtsextremistischen Szene in Wunsiedel (siehe S. 33f.). Wegen seines breit angelegten Engagements, seiner Kontakte und Auftritte als Referent oder als Verteidiger von Rechtsextremisten gilt RIEGER seit Jahren als Symbolund Integrationsfigur im deutschen Rechtsextremismus. 31 Namensgeber der Stiftung ist ein im Jahr 2002 verstorbener ehemaliger Lehrer und SSAngehöriger aus Bremen. Die Stiftung ersteigerte außerdem im April 2004 ein weiteres Objekt in Niedersachsen. Da der Freistaat Thüringen aufgrund seiner zentralen Lage und des Angebotes an preisgünstigen Immobilien auch für überregional agierende Rechtsextremisten interessant ist,23 sind weitere Grundstückskäufe durch Rechtsextremisten nicht auszuschliessen. Um zu vermeiden, dass Grundstücke zum Zwecke rechtsextremistischer Betätigungen erworben werden können, ist eine besondere Aufmerksamkeit von Eigentümern solcher Immobilien geboten, die sich aufgrund ihrer Beschaffenheit - wie etwa das "Schützenhaus" in Pößneck - auch für die Nutzung zu rechtsextremistischen Veranstaltungen, wie Kameradschaftsabenden, Partei-, Schulungsund Musikveranstaltungen, eignen. 4.6 Demonstrationen/Veranstaltungen Das neonazistische Spektrum neigt in starkem Maße dem Aktionismus zu, was sich in einer hohen Demonstrationsbereitschaft seiner Anhänger äußert. Neonazis nehmen mitunter weite Anreisen auf sich, um an Demonstrationen Gleichgesinnter im gesamten Bundesgebiet teilzunehmen (sog. "Demo-Tourismus"). Demonstrationen bilden ein wichtiges Bindeglied in der ansonsten schwach strukturierten Szene und vermitteln den Neonazis ein Gemeinschaftsgefühl. Zumeist gelang es den Veranstaltern, die Durchführung der Demonstrationen vor den Verwaltungsgerichten durchzusetzen, sofern diese von den Ordnungsbehörden verboten worden waren. Die Veranstaltungen, die häufig mit Auflagen versehen wurden, verliefen überwiegend störungsfrei. Wenn Straftaten begangen wurden, fielen sie in den meisten Fällen in den Bereich der "Propagandadelikte". Außer Neonazis nahmen auch Skinheads an den Veranstaltungen teil. Sie bilden nach wie vor ein Mobilisierungspotenzial für Demonstrationen, die sowohl von der NPD als auch von den Neonazis ausgerichtet werden. Die Anzahl der Demonstrationen nahm infolge der zahlreichen Protestaktionen, die sich gegen die Reformen der Bundesregierung richteten, im Vergleich zum Jahr 2003 erheblich zu. Veranstaltungen mit Bezug auf historische Daten Der "Terminkalender" der Neonazis enthält Daten, an denen die Durchführung von Demonstrationen fest eingeplant ist. Zu ihnen zählen der "Führergeburtstag" am 20. April, der "Tag der Arbeit" am 1. Mai, der Todestag von Rudolf HEß am 17. August und der "Heldengedenktag" (Volkstrauertag), der im November begangen wird. Entsprechende Veranstaltungen fanden sowohl bundesweit als auch in Thüringen statt. HITLERs Geburtstag gedachten die Thüringer Rechtsextremisten im Jahr 2004 nicht öffentlichkeitswirksam. Andere Daten, wie der Tag der "bedingungslosen Kapitulation" am 8. Mai, werden sporadisch aufgegriffen. 23 Siehe dazu Ausführungen unter: "Kameradenkreis" um Thorsten HEISE und "Hausgemeinschaft 'Zu den Löwen'" in Jena-Lobeda 32 Veranstaltungen zum 1. Mai Traditionell war der 1. Mai der "Internationale Kampftag" der Arbeiterbewegung; die Nationalsozialisten führten den "Tag der nationalen Arbeit" als gesetzlichen Feiertag ein und missbrauchten ihn für ihre Massenkundgebungen. Rechtsextremisten knüpfen an diese Tradition an und gehen an diesem Tag auf die Straße, um für ihre Leitgedanken zu agitieren. In Leipzig nahmen unter dem Motto "Deutsch bleibt das Land - Für Volksgemeinschaft und Sozialstaat" ca. 900 Personen an einer Demonstration teil, die der bekannte Hamburger Neonazi Christian WORCH organisiert hatte. Unter den Teilnehmern befanden sich auch Rechtsextremisten aus Thüringen. Die vergleichsweise hohe Anzahl der Personen, die sich an der Demonstration in Leipzig beteiligten, überrascht insofern, als im rechtsextremistischen Spektrum hauptsächlich für die "Konkurrenzveranstaltung" der NPD in Berlin24 geworben worden war. Veranstaltungen zum 8. Mai Am 7. Mai 1945 erfolgte die "bedingungslose Kapitulation" der deutschen Wehrmacht im Hauptquartier des amerikanischen Generals EISENHOWER in Reims/Frankreich. Der Kapitulationsakt wurde am 8. Mai 1945 im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst wiederholt. Dieses Datum gilt in der rechtsextremistischen Szene als "Tag der Schande und Niederlage". Am 8. Mai 2004 beteiligten sich in Friedrichroda etwa 50 Personen an einer Demonstration bzw. Mahnwache, die die bekannten Thüringer Rechtsextremisten Michael BURKERT und Marco GUSE unter dem Motto "Für Wahrheit und Aufklärung der Geschichte" organisiert hatten. Die Teilnehmer, unter ihnen auch Skinheads, kamen hauptsächlich aus der Region. Die Teilnehmer trugen neben einigen Fahnen ein Transparent mit der Aufschrift: "8. Mai, Tag der Befreiung (Befreiung durchgestrichen) - Niederlage" mit sich und skandierten "hier marschiert der Nationale Widerstand". BURKERT kündigte an, "auch nächstes Jahr wieder den Protest und den Unmut über diesen Tag am 8. Mai in Friedrichroda in das Volk (zu) tragen". Gedenkveranstaltungen zum 17. Todestag von Rudolf HEß Die Gedenkveranstaltung für Rudolf HEß hat im neonazistischen Ereigniskalender eine herausragende Bedeutung erlangt. Als Stellvertreter HITLERs in Parteiangelegenheiten war HEß in führenden Funktionen daran beteiligt, den totalitären nationalsozialistischen Führerstaat aufzubauen und dessen Politik durchzusetzen. Der internationale Militärgerichtshof in Nürnberg verurteilte HEß 1946 zu lebenslanger Haft, da er ihn des Verbrechens gegen den Frieden für schuldig befunden hatte. HEß beging 1987 im alliierten Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau Selbstmord. Seitdem wurde HEß in rechtsextremistischen Kreisen zum "Märtyrer des Friedens" stilisiert. Er avancierte nicht nur bei deutschen Rechtsextremisten zur Symbolfigur. Zentrale Gedenkveranstaltung in Wunsiedel am 21. August An der zentralen Gedenkveranstaltung zum 17. Todestag von Rudolf HEß am 21. August in Wunsiedel nahmen nach Polizeiangaben ca. 3.800 Personen teil. Von ihnen kamen ca. 20 % aus zahlreichen Ländern Europas. Aus Thüringen reisten über 150 Angehörige des rechtsextremistischen Spektrums nach Wunsiedel, wo HEß bestattet worden ist. Wie im Vorjahr hat24 Siehe über die Veranstaltung S. 44 33 ten die "Thüringer Aktionsgruppen für Rudolf Heß" im Internet für die Veranstaltung geworben. Als Redner traten Jürgen RIEGER, der den "Gedenkmarsch" wie in den Jahren zuvor angemeldet hatte, der Bundesvorsitzende der NPD, Udo VOIGT, sowie der Neonazi Thomas WULFF auf. Ausländische Delegationen richteten Grußworte an die Teilnehmer der Veranstaltung. Zwei rechtsextremistische Liedermacher bestritten das Rahmenprogramm. Die Gedenkveranstaltung in Wunsiedel hat sich zur bedeutendsten Veranstaltung des rechtsextremistischen Lagers - insbesondere des neonazistischen Spektrums - in Deutschland entwickelt. Nachdem sich 2001 etwa 800 Rechtsextremisten an dem Aufmarsch beteiligt hatten, stieg deren Anzahl von rund 2.500 im Jahr 2002 über etwa 2.600 im Jahr darauf auf nunmehr ca. 3.800 an. Jahr für Jahr haben auch Rechtsextremisten aus Thüringen dieses Großereignis besucht. Die rechtsextremistische Szene bewertet den "Gedenkmarsch" als einen großen Erfolg, da die Anzahl der Teilnehmer kontinuierlich angestiegen ist und die Veranstaltung einen starken Zulauf von Gesinnungsgenossen aus dem Ausland erfährt. Wie in den Jahren zuvor war die Veranstaltung vom Landratsamt Wunsiedel zunächst untersagt worden. Nachdem RIEGER Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung eingelegt hatte, konnte der "Gedenkmarsch" stattfinden. Aktionen in Thüringen Am 14. August fand in Gotha unter dem Motto: "Rudolf-Heß - 17 Jahre tot! Noch immer ungeklärt" eine Demonstration statt, an der sich ca. 160 Angehörige des rechtsextremistischen Spektrums beteiligten. Unter ihnen befand sich auch der Hamburger Neonazi Christian WORCH, dessen Kfz als Lautsprecherwagen verwendet wurde. Als Redner traten neben WIESCHKE, der die Veranstaltung angemeldet hatte, die Thüringer Rechtsextremisten Ivonne MÄDEL und Michael BURKERT auf. Am 17. August wurde in Eisenach unter demselben Motto eine Veranstaltung durchgeführt, an der sich lediglich 16 Personen beteiligten. Wie in den Vorjahren kam es auch 2004 landesweit zu Plakatund Sprühaktionen. In der Nacht vom 16. auf den 17. August brachten zwei Thüringer Rechtsextremisten in Altenburg Plakate an, die den Todestag von Rudolf HEß betrafen. Während der vorläufigen Festnahme wurde ein Täter in einem Handgemenge durch einen Schuss, der sich aus der Dienstwaffe eines Polizeibeamten löste, verletzt. Diesen Vorfall nahm die rechtsextremistische Szene zum Anlass, am 17. August in Altenburg eine Spontandemonstration durchzuführen.25 Gedenkveranstaltungen von Rechtsextremisten zum Volkstrauertag (14. November) Der Volkstrauertag ist in der Bundesrepublik Deutschland seit 1952 ein nationaler Trauertag, um der Opfer beider Weltkriege und des Nationalsozialismus zu gedenken. Der Volkstrauertag knüpft an den Gedenktag für die Toten des Ersten Weltkrieges an, der zu Zeiten der Weimarer Republik eingeführt, von den Nationalsozialisten jedoch in "Heldengedenktag" umbenannt und zum offiziellen Staatsfeiertag erklärt wurde. Der Volkstrauertag wird vom rechtsextremistischen Spektrum mit dem Ziel missbraucht, die Wehrmacht zu glorifizieren. 25 Siehe S. 37 34 Die zentrale Gedenkveranstaltung der rechtsextremistischen Szene fand unter dem Motto "Ruhm und Ehre dem deutschen Frontsoldaten!" in Halbe/Brandenburg statt. An der Kundgebung beteiligten sich etwa 1.600 Rechtsextremisten, unter denen sich auch Personen aus Thüringen befanden. In Thüringen wurden für die Fahrt nach Halbe von zwei Rechtsextremisten vier Busse gemietet, in die auch in anderen Bundesländern Rechtsextremisten zustiegen. Als Redner traten die bekannten Rechtsextremisten Christian WORCH, Ralph TEGETHOFF, Gordon REINHOLZ sowie der Thüringer Neonazi Thorsten HEISE auf. Im nächsten Jahr erwarte er, so HEISE in seiner Ansprache, deutlich mehr Teilnehmer am "Heldengedenken". Denn nur so könne deutlich gemacht werden, dass das derzeit herrschende System am Ende sei. Bei Halbe fand im April 1945 die letzte große Kesselschlacht des Zweiten Weltkrieges zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee statt. Der Soldatenfriedhof in Halbe ist die größte Kriegsgräberstätte des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Der Ort ist deshalb für Neonazis von großer symbolischer Bedeutung. In Thüringen fanden am Volkstrauertag auf der Schmücke bei Oberhof, in Friedrichroda, Blankenhain, Tannroda, Saalfeld-Remschütz und Gera Veranstaltungen statt, die "Freie Kräfte" bzw. Kreisverbände der NPD organisiert hatten. An diesen Aktionen nahmen zwischen 10 und 40 Rechtsextremisten teil. Veranstaltungen mit Bezug auf aktuelle Themen Neonazis greifen außer historischen Daten auch Gegenwartsthemen auf, um sie in ihrem Sinne zu deuten und ihre Ansichten der Bevölkerung nahe zu bringen. Einen zentralen Platz in der Agitation der Rechtsextremisten nahmen im Berichtszeitraum zahlreiche Aktionen ein, die sich gegen die als "Hartz IV" und "Agenda 2010" bezeichneten Reformen der Bundesregierung richteten. Demonstration gegen Asylbewerberheime am 3. März in Jena Am 3. März demonstrierten vor dem Rathaus in Jena etwa 25 Personen aus der rechtsextremistischen Szene. Sie verfolgten das Ziel, gegen die Entscheidung des Stadtrats, in JenaLobeda und Löbstedt Asylbewerber unterzubringen, zu protestieren und Ausländerhass zu schüren. Unter den Demonstranten befanden sich auch die bekannten Thüringer Rechtsextremisten Ralf WOHLLEBEN und Andre KAPKE. Nachdem die Rechtsextremisten ihre Kundgebung vor dem Rathaus beendet hatten, organisierten sie entlang der Stadtrodaer Straße und vor dem Gebäude in der Lobedaer Carolinenstraße, das als Asylbewerberheim vorgesehen ist, zwei Spontandemonstrationen. An diesen Aktionen nahmen jeweils etwa 20 Personen teil. Unbekannte befestigten an dem Gebäude in der Carolinenstraße am Abend des 3. März ein Bettlaken, das mit der Aufschrift "DIESES HAUS BRENNT" und einem symbolisch brennenden Hakenkreuz versehen war. Demonstration am 20. März in Weimar Am 20. März fand in Weimar unter dem Motto "Recht auf Heimat" eine Demonstration statt, die von der "Interessengemeinschaft für die Wiedervereinigung Gesamtdeutschlands e.V." (IWG) angemeldet worden war. An ihr beteiligten sich etwa 110 Angehörige des rechtsextremistischen Spektrums. Als Anmelder und Leiter der Veranstaltung fungierte der Vorsitzende der IWG, Georg PALETTA aus Bayern, als dessen Stellvertreter Ralf WOHLLEBEN. Als 35 Veranstalter traten im Internet "nationale Kräfte aus Thüringen" auf. Sie verfolgten mit dieser Demonstration die Absicht, das vom damaligen Thüringer Justizminister Dr. GASSER thematisierte, Weimar und das KZ Buchenwald umfassende, Demonstrationsverbot zu bekämpfen. "Weimar ist für uns Deutsche ein zu sensibler Ort", hetzte das rechtsextremistisch orientierte "Aktionsbüro Thüringen", "um es dem BRD-Hobby-Faschist GASSER und seiner Politclique zu überlassen." Als Redner traten PALETTA, WOHLLEBEN und andere Rechtsextremisten auf. Sie bezeichneten die "deutschen Ostgebiete als Bestandteil Deutschlands" und forderten deren Rückgabe. Sie verurteilten die angebliche "Verfolgung deutscher Patrioten" und traten für eine "Bewegung Gesamtdeutschland" ein. Die Redner diffamierten osteuropäische Arbeitnehmer als Schwarzarbeiter, die "unsere Arbeitsplätze besetzen" und kündigten an, solange zu demonstrieren, bis das Ziel - die "Wiedervereinigung Gesamtdeutschlands" - erreicht ist. Weimar sei als Veranstaltungsort gewählt worden, um gegen das vom damaligen Thüringer Justizminister - der als "Kriegsminister" verleumdet wurde - thematisierte Demonstrationsverbot zu protestieren. "Frühlings-Doppel-Demo des Nationalen Widerstandes" am 24. April in Meiningen und Suhl Am 24. April fand in Meiningen und Suhl die "Frühlings-Doppel-Demo des Nationalen Widerstandes" statt, die die Thüringer Neonazis Ivonne MÄDEL und Marco SCHWARZ initiiert hatten. An der Veranstaltung in Meiningen, deren Losungen "Wer unsere Kinder tötet, vernichtet unsere Zukunft", "Gegen Abtreibung und Kinderschänder", "Deutsche Kinder sind Deutsche Zukunft" lauteten, nahmen etwa 120 Personen aus der rechtsextremistischen Szene teil. Als Redner traten MÄDEL und der hessische Neonazi Manfred ROEDER auf, der erst am 24. März aus der Haft entlassen worden war. Nach dieser Veranstaltung reisten die Teilnehmer nach Suhl. An der Demonstration in Suhl, die unter dem Motto: "Nein zur Agenda 2010-Nein zur Raubbaupolitik gegen das deutsche Volk" stand, beteiligten sich ca. 150 Personen. Der Hamburger Neonazi Christian WORCH, Ivonne MÄDEL und der Thüringer Neonazi Michael BURKERT traten als Redner, Manuel Z. aus Sachsen-Anhalt als Liedermacher auf. Für die "Doppel-Demo" hatten die Veranstalter mit jeweils 250 - 500 Teilnehmern gerechnet. Die geringe Beteiligung muss sie umso mehr enttäuscht haben, als beide Veranstaltungen ursprünglich für den 17. April vorgesehen waren und zugunsten einer für denselben Zeitraum angemeldeten Aktion in Gladenbach/Marburg (Hessen) auf den 24. April verschoben wurden. Rechtsextremistische Szene stört Wanderausstellung des Bundesamtes für Verfassungsschutz "Die braune Falle" am 6. Mai in Jena Am 6. Mai störten etwa 40 Angehörige der rechtsextremistischen Szene Thüringens in Jena die Wanderausstellung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) "Die braune Falle", die über die vielfältigen Strukturen und Strategien des rechtsextremistischen Spektrums in der Bundesrepublik aufgeklärt hat. Die Rechtsextremisten beklebten die Ausstellungstafeln mit Parolen und entrollten ein Plakat, die den Verfassungsschutz diffamierten. Nachdem die Verantwortlichen der Ausstellung den Störern, unter ihnen Ralf WOHLLEBEN und der Neonazi Andre KAPKE, Hausverbot erteilt und die Polizei deren Personalien festgestellt hatte, führten die Rechtsextremisten eine Spontandemonstration gegen "Polizeiwillkür" durch. 36 Rechtsextremistische Szene veranstaltet Spontandemonstration am 17. August in Altenburg Die Ereignisse in Altenburg, wo in der Nacht vom 16. auf den 17. August ein Rechtsextremist verletzt wurde26, nahm die rechtsextremistische Szene zum Anlass, unter dem Motto "Waffen sind keine Argumente" am 17. August eine Spontandemonstration durchzuführen. An der Aktion, die von Ralf WOHLLEBEN angemeldet wurde, nahmen etwa 250 Rechtsextremisten aus Thüringen und anderen Bundesländern teil. Als stellvertretender Versammlungsleiter fungierte der Thüringer Rechtsextremist Sebastian REICHE. Als Redner trat neben anderen der Hamburger Neonazi Christian WORCH auf. Wie die zeitnahe Durchführung der Spontandemonstration zeigt, war die rechtsextremistische Szene in Thüringen 2004 in sehr kurzer Zeit imstande, ein relativ hohes Personenpotenzial für ihre Veranstaltungen zu mobilisieren. "Erste Antikapitalistische Kaffeefahrt des Nationalen Widerstandes Thüringens" am 20. November Am 20. November unternahmen 20 - 25 Rechtsextremisten mit einem Bus die "Erste Antikapitalistische Kaffeefahrt des Nationalen Widerstands Thüringen", die Ralf WOHLLEBEN vorbereitet hatte. Sie führte nach Altenburg, Gera und Arnstadt, wo Thüringer Rechtsextremisten an diesem Tag Veranstaltungen organisiert hatten. Die Aktion zielte darauf ab, die gegen die Arbeitsmarktreform "Hartz IV" und die "Agenda 2010" gerichtete Kampagne des "Nationalen Widerstands Thüringen" in Regionen und Städten, in denen die Kampagne "bisher noch nicht öffentlich auf der Straße sichtbar war", mit Hilfe einer neuen Aktionsform bekannt zu machen. In Altenburg wurde unter dem Motto "Anti-Agenda 2010 - Weg mit Hartz IV" eine Kundgebung durchgeführt, an der etwa 30 Personen mitwirkten. In Gera war ursprünglich unter dem Motto "Nationalisten gegen Sozialabbau und Agenda 2010" eine Kundgebung geplant, die der Vorsitzende des Kreisverbands Gera der NPD, Gordon RICHTER, angemeldet hatte. Stattdessen bauten die Rechtsextremisten jedoch lediglich einen Informationsstand auf, an dem sie Informationsmaterialen verteilten und zu Gesprächen einluden. Zuletzt steuerten die Rechtsextremisten mit ihrem Bus Arnstadt an, wo unter dem Motto "Agenda 2010 und Hartz IV müssen weg - Wie kann man soziale Gerechtigkeit durchsetzen?" etwa 60 Personen an einer Kundgebung teilnahmen. Die Initiatoren bezeichneten die "Erste Antikapitalistische Kaffeefahrt in Thüringen" als einen vollen Erfolg und kündigten weitere Projekte dieser Art an. Diese Wertung steht jedoch im Widerspruch zu der Anzahl der Personen, die sich an den Veranstaltungen in Altenburg, Gera und Arnstadt beteiligten. In Altenburg und Gera nahmen kaum mehr Personen an den Veranstaltungen teil, als sich in dem Bus befanden. In Arnstadt setzte sich fast die Hälfte derer, die an der Kundgebung mitwirkten, aus den Insassen des Busses zusammen. Zudem nahm die Öffentlichkeit von diesen Veranstaltungen kaum Notiz. Deshalb bleibt abzuwarten, ob sich "Kaffeefahrten" wirklich zu einer tragfähigen Aktionsform Thüringer Rechtsextremisten entwickeln werden. 26 Siehe S. 34 37 Regelmäßig wiederkehrende Thüringer Veranstaltungen Einen festen Platz im "Veranstaltungskalender" der Thüringer Rechtsextremisten nimmt der "Sandro WEILKES-Gedenkmarsch" ein, der seit 1996 im Mai jedes Jahres stattfindet. Im Berichtszeitraum wurde er von der NPD organisiert.27 Zudem werden seit 2002 die so genannten "Süd-West-Thüringer Runden freier Nationalisten" veranstaltet. Sie sollen eigenen Angaben zufolge dem Ziel dienen, alle "national-gesinnten" Kräfte, rechtsextremistische Parteien, Kameradschaften und "Freie Kräfte" miteinander zu verbinden und die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik zu überwinden. Mit der fünften "Süd-West-Thüringer Runde freier Nationalisten", die am 24. Juli in Ammelstädt/Landkreis Saalfeld-Rudolstadt stattfand, wurde diese Veranstaltungsreihe fortgesetzt. An der Saalveranstaltung, zu der Michael BURKERT unter dem Motto "Widerstand für Deutschland an allen Fronten" eingeladen hatte, nahmen 50 - 60 Personen teil. 4.7 Exkurs: Thüringer Rechtsextremisten treten gegen die Arbeitsmarktreform "Hartz IV" und die "Agenda 2010" auf Ab Mitte der 1990er Jahre hat das rechtsextremistische Spektrum die Agitation, die sich auf die "soziale Frage" bezieht, kontinuierlich ausgeweitet. Seit Udo VOIGT 1996 zum Bundesvorsitzenden der NPD gewählt worden ist, stellt die Partei wirtschaftsund sozialpolitische Themen in den Mittelpunkt ihrer Propaganda. Sie bietet für diese Themen populistische Lösungen an, die soziale Fragen mit fremdenfeindlichen und antisemitischen Vorstellungen verbinden. Ebenso bezieht die NPD seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend Elemente eines "nationalen Sozialismus" in ihre Agitation ein und bedient sich einer aggressiven antikapitalistischen Demagogie. VOIGT rief schon 1998 auf, in "gesellschaftlichen und sozialen Auseinandersetzungen" nicht nur zu reagieren, sondern einzugreifen und nationalistische Wirtschaftsund Sozialpolitik als Schwerpunkt der Parteiarbeit zu betreiben. Die NPD müsse, agitierte VOIGT, "gerade in Mitteldeutschland" klarmachen, dass sie die "faktische Nachfolge der Kommunisten in der Vertretung sozialer Lebensinteressen des deutschen Volkes" angetreten habe. Ab Juli 2004 schlossen sich auch in Thüringen Rechtsextremisten - in kleinen Gruppen - zahlreichen "Montagsdemonstrationen" des demokratischen Spektrums an, die sich gegen die Arbeitsmarktreform "Hartz IV" und die "Agenda 2010" richteten. Zugleich organisierten Rechtsextremisten im Freistaat auch selbst Veranstaltungen gegen die Reformbestrebungen der Bundesregierung. Mit dieser Taktik verfolgten sie das Ziel, das politische System der Bundesrepublik im Ganzen anzugreifen, sich als "Speerspitze" des "Volkszorns" zu etablieren und die Ängste jener in der Bevölkerung, die von den Reformen der Bundesregierung Nachteile befürchten, für ihre politischen Absichten zu instrumentalisieren und sich als politische Alternative zum "herrschenden System" darzustellen. Die Reformbestrebungen der Bundesregierung wurden von Rechtsextremisten auch im Internet intensiv angegriffen. So appellierte Gerd ITTNER, ein bundesweit bekannter Neonazi aus Bayern, am 11. August an "alle Kameradinnen und Kameraden im nationalen Widerstand", an den "Montagsdemonstrationen" teilzunehmen. Es gelte, "sich an die Spitze dieses beginnenden Volksaufstandes (zu) stellen" und die "politische Meinungsführerschaft" zu übernehmen. Auch der Neonazi Thorsten HEISE aus Fretterode in Thüringen rief auf der Homepage seines "Witwe Bolte"-Versandhandels unter dem Slogan "Jeden Montag im ganzen Reich - Montagsdemos!" am 17. August auf, an Aktionen gegen die Umgestaltung des Sozialstaats mit27 Siehe S. 51 38 zuwirken. Viele rechtsextremistisch ausgerichtete Internetseiten im Freistaat enthielten zeitnahe, umfangreiche und bebilderte Berichte, die auf die aus der Sicht der Szene erfolgreiche Teilnahme an den "Montagsdemonstrationen" und die von Rechtsextremisten selbst organisierten Protestveranstaltungen eingingen. Neonazis gelingt es nicht, die Führung der "Montagsdemonstrationen" an sich zu ziehen In etliche "Montagsdemonstrationen" des demokratischen Spektrums reihten sich jeweils ca. 10 bis 35 Rechtsextremisten ein, die überwiegend dem neonazistischen Spektrum entstammten. Die Anzahl der Rechtsextremisten, die an solchen Veranstaltungen teilnahmen, ging von Juli bis Dezember 2004 ebenso zurück wie die der Personen, die sich insgesamt den Protestdemonstrationen anschlossen. Die große Mehrheit derjenigen, die sich an den Demonstrationen gegen das Reformwerk der Bundesregierung beteiligten, unterstützte die Bemühungen der Veranstalter und der Polizei, Rechtsextremisten von der Teilnahme an den "Montagsdemonstrationen" auszuschließen. Daher gelang es den Rechtsextremisten in Thüringen lediglich vereinzelt, die Protestbewegung zu dominieren und sowohl den Inhalt als auch den Ablauf der Demonstrationen zu bestimmen. Rechtsextremisten organisieren eigene Veranstaltungen Neonazis und die NPD organisierten in vielen Städten Thüringens selbst Demonstrationen und Mahnwachen, um gegen die Arbeitsmarkreform "Hartz IV" und die "Agenda 2010" aufzutreten. Unter den Veranstaltungen zogen die Demonstrationen in Gotha, Jena und Weimar, die am 3. Juli, 4. September bzw. 23. Oktober stattfanden, die meisten Teilnehmer an. In Gotha schlossen sich einer Demonstration, deren Motto ebenso wie in Jena "Nein zur A- genda 2010! Ja zu sozialer Gerechtigkeit! - Unsere Agenda heißt Widerstand!" lautete, etwa 150 Rechtsextremisten an. Ihre Anzahl blieb erheblich hinter den Erwartungen des Veranstalters zurück, der mit 200-250 Gesinnungsgenossen gerechnet hatte. Die Demonstranten führten Transparente mit sich, deren Losungen u.a. "Kapitalismus ist nicht reformierbar - für eine sozialistische Alternative" und "Fight the System! ... Dem Polizeistaat die Stirn bieten!" lauteten. Als Redner traten u.a. der Vorsitzende des Landesverbands Thüringen der NPD, Frank SCHWERDT und dessen Stellvertreter Ralf WOHLLEBEN, die Thüringer Neonazis Patrick WIESCHKE und Michael BURKERT sowie der Vorsitzende des Landesverbands Thüringen der "Deutschen Partei" (DP), Kurt HOPPE, auf. WIESCHKE gab über einen Lautsprecherwagen Parolen wie "Dieses System ist asozial, unser Sozialismus ist national" vor, die von den Demonstranten skandiert wurden. In Jena beteiligten sich ca. 100 Rechtsextremisten an einer Demonstration, die auf der Internetseite des Kreisverbands Jena der NPD als Höhepunkt der bundesweiten "Kampagne nationaler Kräfte gegen Kapitalismus und Globalisierung im Allgemeinen und den Sozialabbau und die Agenda 2010 im Besonderen!" in Thüringen bezeichnet wurde. Als Veranstaltungsleiter fungierte Ralf WOHLLEBEN, als dessen Stellvertreter der Gothaer Neonazi Sebastian REICHE, die bereits gemeinsam die Demonstration am 3. Juli in Gotha organisiert hatten. Mit der Demonstration in Jena beteiligte sich die NPD auch in Thüringen offiziell an der "Kampagne nationaler Kräfte" gegen die "Agenda 2010". In Weimar nahmen unter der Losung "Gegen Agenda 2010, gegen Hartz IV" etwa 100 Angehörige der rechtsextremistischen Szene an einem Aufmarsch teil, der von einer Aktivistin des "Nationalen Widerstands Weimar" (NWW) angemeldet wurde. Als stellvertretender Veranstaltungsleiter trat Michael BURKERT auf, auf dessen Kontakte zur Neonaziszene vermutlich 39 die vergleichsweise hohe Teilnehmerzahl zurückzuführen ist. Die "Braune Aktionsfront Thüringen" (B.A.F.) bezeichnete die Demonstration, allein weil sie durch die Weimarer Innenstadt führte, als einen "nationalen Sieg in der Reichskulturstadt Weimar". Als lokale Schwerpunkte des Engagements von Rechtsextremisten gegen die "Agenda 2010" bzw. "Hartz IV" bildeten sich Weimar und Eisenach heraus. Die Veranstaltungen in Weimar gingen ausschließlich auf den "Nationalen Widerstand Weimar" (NWW) zurück. In Eisenach trat Patrick WIESCHKE, der sich auch an "Anti-Hartz-Demonstrationen" in anderen Städten Thüringens u.a. als Redner beteiligte, führend in Erscheinung. Rückgriff auf nationalsozialistisches Gedankengut Mit der Forderung, dem "asozialen" System der Bundesrepublik einen "nationalen Sozialismus" als Vision für die Zukunft entgegenzusetzen, knüpfen die NPD und die Neonazis an die Linie des "linken", so genannten sozialrevolutionären Flügels der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) um die Gebrüder Gregor und Otto STRASSER an. Sie hatten in der Frühzeit der NSDAP einen "nationalen Sozialismus" propagiert, der gegen den Kapitalismus gerichtet war und u.a. auf die Vergesellschaftung der "Produktionsmittel" in der Industrie hinauslief. Mit diesem, von HITLER verworfenen, Programm hatte der "linke" Flügel der NSDAP die Erwartung verbunden, die von der Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre betroffenen proletarischen Schichten vom Marxismus abzuwerben und für die NSDAP zu gewinnen. 5. Rechtsextremistische Parteien 5.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Gründungsjahr Bund: 1964 Thüringen: 1990 Sitz Bund: Berlin Thüringen: Gera Mitglieder 2002 2003 2004 Bund: ca. 6.100 ca. 5.000 ca. 5.300 Thüringen: ca. 150 ca. 150 ca. 180 Parteiorgan "Deutsche Stimme" Internet: eigener Internetauftritt auf Bundesund Landesebene vorhanden Jugendorganisation Bund: "Junge Nationaldemokraten" (JN) Thüringen: Landesverband der "Jungen Nationaldemokraten" 40 5.1.1 Der Bundesverband der NPD Entwicklung der Partei Die NPD, die aus der rechtsextremistischen "Deutschen Reichspartei" hervorging, wurde 1964 gegründet, um das rechtsextremistische Lager zu sammeln. Noch bis Ende der sechziger Jahre zählte die Partei, die in mehreren Landtagen vertreten war, bundesweit mehr als 25.000 Mitglieder. Bei der Bundestagswahl im Jahre 1969 verfehlte sie mit 4,3 % der Stimmen knapp den Einzug in das Parlament. Diese Niederlage leitete den Niedergang der Partei ein, der bis in die neunziger Jahre hinein andauerte. Im Jahr 1995 erreichte er seinen Tiefstand, als der Partei nur noch 2.800 Mitglieder angehörten. Udo VOIGT wurde 1996 zum Vorsitzenden der Partei gewählt. Ihm gelang es, die Partei von ihrem Image einer "Altherrenpartei" zu befreien und sie politisch neu auszurichten. VOIGT entwickelte mit dem "Drei-Säulen-Konzept"28 nicht nur eine neue Strategie. Er führte auch in Bezug auf die Nachwuchsrekrutierung einen Paradigmenwechsel ein. Dieser Kurs führte zu einer verstärkten Kooperation der Partei mit der Neonaziund Skinheadszene, was nach außen vor allem bei Demonstrationen und Aufmärschen deutlich wurde. Die "Jungen Nationaldemokraten" (JN), die Jugendorganisation der NPD, fungierten als ein wichtiges Bindeglied. Ende der neunziger Jahre konnte die NPD die Anzahl ihrer Mitglieder erheblich steigern und deren Altersdurchschnitt wesentlich senken. Bei Kundgebungen konnte sie auf eine größere Zahl von Teilnehmern verweisen, da sie bisher nicht organisierte Neonazis und Skinheads mobilisieren konnte. Darüber hinaus erschlossen sich ihr in geringem Umfang neue Wählerpotenziale. Den in losen Gruppen, den so genannten "Freien Kameradschaften"29, zusammengeschlossenen Neonazis bot die NPD den geeigneten organisatorischen und strukturellen Rahmen, um für ihre Ziele Propaganda zu betreiben und Kundgebungen zu veranstalten. Interne Streitigkeiten und der Beginn der Verbotsdebatte im Jahr 2001 leiteten von Neuem einen Abwärtstrend ein, der sich in einem Rückgang der Mitgliederzahl äußerte. Das NPD-Verbotsverfahren Da die NPD aggressiv-kämpferisch eine verfassungsfeindliche Ideologie verficht, stellten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat im Januar bzw. März 2001 jeweils eigene Anträge beim Bundesverfassungsgericht, um die Verfassungswidrigkeit der NPD feststellen zu lassen und damit ein Verbot der Partei zu erreichen. Am 18. März 2003 stellte das Bundesverfassungsgericht das Verbotsverfahren gegen die NPD ein. Eine Sperrminorität des Zweiten Senats des Gerichts (drei von sieben Richtern) hielt die Beobachtung der NPD auf Bundesund Landesvorstandsebene durch V-Leute unmittelbar vor und während des Verbotsverfahrens für ein "nicht behebbares Verfahrenshindernis". Vier Richter hielten hingegen die Fortsetzung des Verfahrens für geboten, da eine staatliche Steuerung der NPD "nicht ansatzweise" zu erkennen sei. Zu der Frage, ob die NPD eine verfassungswidrige Partei ist, traf das Bundesverfassungsgericht keine Entscheidung. 28 Siehe S. 43ff. 29 Siehe zur Definition S. 24f. 41 Entwicklung der NPD während und nach Ende des Verbotsverfahrens Die NPD konnte aus der Einstellung des gegen sie gerichteten Verbotsverfahrens keinen Nutzen ziehen. Da die Partei während des gegen sie gerichteten Verbotsverfahrens aus taktischen Gründen auf Distanz zum neonazistischen Spektrum ging und öffentlichkeitswirksam weniger in Erscheinung trat, verlor sie unter vielen aktionsorientierten Rechtsextremisten an Sympathien. Zudem wurde während der Verbotsdebatte der Öffentlichkeit die Verfassungsfeindlichkeit der Partei deutlich vor Augen geführt. Infolgedessen bezifferte sich die Mitgliederzahl der NPD im Jahre 2003 auf nur noch rund 5.000 Personen, nachdem ihr im Jahr zuvor noch 6.100 Mitglieder angehört hatten. Zu Beginn des Jahres 2004 verlor die NPD zunächst weiter an Mitgliedern. Erst die Europawahlen im Juni und die Landtagswahl in Sachsen im September, bei denen die Partei Stimmen hinzugewann, sowie die Wiederannäherung an das neonazistische Spektrum im Rahmen der so genannten "Volksfront von Rechts"30 führten zu einer Aufbruchsstimmung in der NPD und zu einem Zuwachs an Mitgliedern. Am Jahresende gehörten ihr etwa 5.300 Mitglieder an. Im Verlauf des Berichtszeitraums zeichnete sich eine Doppelstrategie der NPD ab. Auf der einen Seite strebte sie im Sinne des von ihr im Rahmen der "Drei-Säulen-Strategie" propagierten "Kampfes um die Parlamente" Wahlbündnisse mit der DVU an, um eine eher traditionalistische rechtsextremistische Partei an sich zu binden. Auf der anderen Seite praktizierte sie wieder gemeinsam mit "Freien Nationalisten" verstärkt den "Kampf um die Straße", um ihren Aktivitäten einen "völkischen Bewegungscharakter" zu verleihen. Im Jahr 2004 entwickelte sich die NPD zu einem Kristallisationspunkt für einen neuen Versuch, das rechtsextremistische Lager in Deutschland zu vereinen. Die starke Stellung, die die NPD 2004 auf der äußersten Rechten inne hatte, gründete vor allem auf den Erfolg bei den Landtagswahlen in Sachsen am 19. September, als sie 9,2 % der Zweitstimmen gewann und mit 12 Abgeordneten in den Sächsischen Landtag einzog. Ideologie der Partei Die NPD verficht aggressiv-kämpferisch eine verfassungsfeindliche Ideologie. Sie strebt an, das von ihr so genannte "System" - die freiheitliche demokratische Grundordnung - zu überwinden. Die NPD propagiert einen völkischen Kollektivismus und agitiert fremdenfeindlich. So spricht sie von der "ethnisch homogenen Volksgemeinschaft", die durch "gemeinsame Abstammung, Geschichte, Sprache und Kultur" entstehe. Die Würde des Menschen hängt für sie, ihrem Parteiprogramm zufolge, von seiner biologisch-genetischen Teilhabe an der "Volksgemeinschaft" ab. Die Freiheit der persönlichen Entfaltung, die das Grundgesetz garantiert, missachtet sie. Die NPD stellt "Grundziele des Volkes" auf, an denen sich die Volksherrschaft - statt an der verfassungsmäßigen Ordnung - orientieren solle. In der von der NPD propagierten Gesellschaftsordnung sollen autoritäre Eliten vorherrschen. Der Anspruch auf Führerschaft steht im Widerspruch zum pluralistischen Mehrparteiensystem der Bundesrepublik. Fremdenfeindlichkeit Die Behauptung, dass Menschen unterschiedlicher Abstammung von ungleichem Wert seien, zieht sich wie ein roter Faden durch programmatische Äußerungen von Aktivisten der NPD. Sie enthalten zahlreiche Belege für die rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche 30 Siehe zur "Volksfront von Rechts" S. 45ff. 42 Haltung der NPD. Die Partei verwandte in diesem Jahr ein Wahlkampfplakat, das Ausländern "Gute Heimreise" wünschte. Im Berichtszeitraum agitierte sie vor allem gegen die Osterweiterung der Europäischen Union (EU). VOIGT bezeichnete im Vorfeld der Wahlen zum Europaparlament in der "Deutschen Stimme" den Widerstand gegen die Osterweiterung der EU als "Hauptschwerpunkt" der Parteiarbeit. Die Politik der EU führe, meinte die NPD, zu wirtschaftlicher und sozialer Verelendung, zunehmender Unfreiheit und Totalitarismus sowie zu kultureller und biologischer Vernichtung der Völker Europas. Die Partei sprach von einer "Zuwanderungsschwemme", in deren Folge Deutschland von einem "Heer von Billigzuwanderern überflutet" werde. Gemeinsam mit der DVU initiierte die NPD daher unter dem Tenor "Europa muss Bewahrer der Kulturen und Völker Europas und Deutschland muss das Land der Deutschen bleiben" eine Unterschriftenaktion, die sich gegen den Beitritt der Türkei zur EU richtete. VOIGT propagiert "Abwicklung der BRD" und bekennt sich zum Nationalsozialismus In einem Interview, das VOIGT im September der "Jungen Freiheit" gab, trat er dafür ein, die freiheitliche demokratische Grundordnung mit Hilfe eines revolutionären Umsturzes zu beseitigen. Sie könne infolge künftiger Wahlerfolge auch mit demokratischen Mittel abgeschafft werden. Es sei das Ziel der NPD, so VOIGT, "die BRD ebenso abzuwickeln, wie das Volk vor fünfzehn Jahren die DDR abgewickelt hat", was offenbar "auch über die Wahlurne" funktioniere. Den Umsturz der bestehenden Verhältnisse will VOIGT "durch revolutionäre Veränderung" erreichen. "Solange die Bundesrepublik de facto existiert, werden wir ihre Gesetze befolgen", betonte VOIGT, dem "eine demokratische Erhebung ... durch ein revolutionär verändertes Wahlrecht" vorschwebt. Die angestrebte neue Ordnung soll eine "Volksgemeinschaft" darstellen, die den Traditionen der deutschen Einheitsbewegung Rechnung trage. Der Nationalsozialismus habe deren "Ideen völkischer Identität in hohem Maße realisiert". In Adolf HITLER sieht VOIGT "einen großen deutschen Staatsmann", dem er allerdings "die Verantwortung für die Niederlage Deutschlands" anlaste. Folgerichtig bemühe sich die NPD heute darum, "die nationalsozialistische Strömung zu integrieren", da eine Abgrenzung nur dem politischen Gegner nütze. Strategie der Partei Das "Drei-Säulen-Konzept", das den "Kampf um die Straße, die Köpfe und die Parlamente" einschließt, bildete auch in diesem Jahr die Basis für die politische Agitation der NPD. In einer Grundsatzrede, die VOIGT auf dem Bundesparteitag Ende Oktober hielt, bekräftigte er, auch in Zukunft am "Drei-Säulen-Konzept" festzuhalten. Diesem Konzept fügte VOIGT den "Kampf um den organisierten Willen" als vierte Säule hinzu. "Kampf um die Straße" Die NPD führte den "Kampf um die Straße", indem sie zentrale Großveranstaltungen ebenso organisierte wie dezentrale, auf bestimmte Regionen bezogene Demonstrationen, die auch Neonazis und Skinheads als Plattform nutzten. Mit dieser Strategie versucht die NPD, ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen und ihre Mobilisierungsfähigkeit auszubauen. Im Jahre 2004 führte die Partei bundesweit im Vergleich zum Vorjahr mehr Demonstrationen durch. Sie bezogen sich vorwiegend auf die Sozialund Arbeitsmarkreformen der Bundesregierung. Meist erlangten diese Aktionen nur eine regionale Bedeutung. In Hinsicht auf den "Kampf um 43 die Straße" sollten nach Ansicht des Parteivorsitzenden künftig weniger, aber "qualitativ besser" organisierte Demonstrationen durchgeführt werden. Ein Beispiel für den diesjährigen "Kampf um die Straße" und für die enge Zusammenarbeit zwischen der NPD und den "Freien Nationalisten" stellt die Kundgebung dar, die die NPD zusammen mit "Freien Nationalisten" unter dem Motto "Volksgemeinschaft statt Globalisierungswahn! Arbeit für Millionen statt Profite für Millionäre" am 1. Mai in Berlin durchführte. An der Veranstaltung nahmen etwa 2.300 Rechtsextremisten teil. Unter ihnen befanden sich neben VOIGT und dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden Holger APFEL die "Freien Nationalisten" Thomas WULFF und Ralph TEGETHOFF, der ehemalige Rechtsterrorist Peter NAUMANN sowie Vertreter befreundeter ausländischer Organisationen. Die gemeinsame Vorbereitung und Durchführung dieser Demonstration durch die Führung der NPD und "Freie Nationalisten" habe sich, hieß es auf der Website des Bundesverbands der NPD, als richtig und konstruktiv erwiesen. Diese Veranstaltung ebnete der "Volksfront von Rechts"31 den Weg. In der Agitation der NPD bildeten die Sozialund Arbeitsmarkreformen32 der Bundesregierung einen wichtigen thematischen Schwerpunkt. Sie beteiligte sich bundesweit an zahlreichen demonstrativen - organisationsübergreifenden - Aktivitäten, die sich auf diesen Gegenstand bezogen. Die "soziale Frage" wurde von der Partei insbesondere im Wahlkampf, den sie vor der Landtagswahl in Sachsen führte, thematisiert. "Kampf um die Köpfe" Der "Kampf um die Köpfe" läuft vor allem darauf hinaus, die Mitglieder der NPD politisch zu schulen, die Programmatik der Partei mit Flugblättern zu verbreiten und die Monatszeitung "Deutsche Stimme" zu vertreiben. Mit der "Deutsche Stimme Verlagsgesellschaft" verfügt die NPD über ein eigenes Publikationsorgan des Parteivorstandes, dem ein Versandhandel für rechtsextremes Propagandaund Werbematerial angeschlossen ist. Da sich VOIGTs Worten auf dem Bundesparteitag zufolge die NPD als eine politisch nationale Kraft in Deutschland sieht, die sich unter einer Fremdherrschaft organisiere, komme dem "Kampf um die Köpfe" "künftig eine elementare Bedeutung im deutschen Freiheitskampf" zu. Die "Köpfe", die es zu gewinnen gelte, "müssen im wesentlichen noch vom Denken unserer Feinde befreit werden". VOIGT forderte, das Bildungszentrum der Partei in Berlin unverzüglich fertigzustellen und die Ausund Weiterbildung von Führungskräften nach der Landtagswahl im Februar 2005 in Schleswig-Holstein aufzunehmen. Einen Schwerpunkt der künftigen Arbeit werde der "Ausbau der Führungskapazitäten zur Integration" bilden. "Erst wenn auf der unteren Führungsebene verbreiterte politische Qualifikationen, Bündniswille und Bündnisfähigkeit vorhanden sind", argumentierte VOIGT, "lassen sich neue interessante Zielgruppen erschließen, weil die erforderliche Kompetenz ausgestrahlt wird." "Kampf um die Parlamente" In Zukunft sei es notwendig, stellte VOIGT im April in der "Deutschen Stimme" heraus, wieder verstärkt mit vereinten Kräften zu marschieren und als die Partei aller nationalen Kräfte aufzutreten. Der nationale Widerstand auf der Straße brauche einen starken Arm im Parlament, eine nationale Fundamentalopposition im Parlament hingegen eine starke Kraft auf der 31 Erklärung der Versammlungsleitung auf der Website des Bundesverbands der NPD 32 Siehe den Exkurs: "Thüringer Rechtsextremisten treten gegen die Arbeitsmarktreform 'Hartz IV' und die 'Agenda 2010' auf", S. 38ff. 44 Straße. Wahlen böten deshalb eine gute Möglichkeit, sich bewusstseinsbildend in der Öffentlichkeit zu präsentieren und neue Mitglieder bzw. Anhänger zu gewinnen. Im Wahljahr 2004 bemühte sich die Partei verstärkt um den "Kampf um die Parlamente", um als "Systemalternative" wieder an politischem Gewicht zu gewinnen. Sie nahm an der Europawahl, an den Landtagswahlen in Hamburg und Thüringen, im Saarland und in Sachsen sowie an den Kommunalwahlen im Saarland, in Sachsen, Sachsen-Anhalt, MecklenburgVorpommern, Thüringen und Nordrhein-Westfalen teil. Im Vergleich zur letzten Europawahl im Jahre 1999 gelang es der Partei, ihr Ergebnis bundesweit mit 0,9 % der Stimmen mehr als zu verdoppeln. Am besten schnitt sie in Sachsen ab, wo 3,3 % der Stimmen für sie abgegeben wurden. In Thüringen errang sie mehr als zweimal so viele Stimmen wie 1999.33 Bei der Landtagswahl im Saarland am 5. September entfielen auf die NPD 4,0 % der Stimmen, was zwar nicht für den Einzug in den saarländischen Landtag ausreichte, aber als beachtlicher Erfolg für die Partei zu werten ist. Bei der Landtagswahl am 19. September in Sachsen konnte die NPD 9,2 % der Zweitstimmen auf sich vereinen. Sie zog mit 12 Abgeordneten in den sächsischen Landtag ein; erstmals seit 36 Jahren ist sie wieder in einem Parlament vertreten. Mit diesem Erfolg gelang es der NPD, einen wesentlichen Teil ihres strategischen Konzepts umzusetzen. Die NPD profitierte in Sachsen vor allem von einer weit verbreiteten Proteststimmung. Ebenso wirkten sich die zahlreichen Wahlkampfaktivitäten, die die Partei entfaltet hatte, die niedrige Wahlbeteiligung und die Unterstützung, die ihr von Seiten des neonazistischen Spektrums zuteil wurde, auf das Wahlergebnis aus. Gleichzeitig gereichte es der NPD zum Vorteil, dass sie sich als einzige rechtsextremistische Partei an der Abstimmung beteiligte. "Kampf um den organisierten Willen" Der "Kampf um den organisierten Willen" bedeute, so VOIGT, "möglichst alle nationalen Kräfte" mit dem Ziel zu konzentrieren, die Macht durch den "organisierten Willen" zu erlangen. Die Fortsetzung der im Laufe des Jahres eingeleiteten erfolgreichen Entwicklung der Zusammenarbeit mit anderen nationalen Kräften besitze für die zukünftige Parteiarbeit einen hohen Stellenwert. Der "Kampf um den organisierten Willen", den die NPD als vierte Säule in ihre Strategie eingefügt hat, ist mit der "Volksfront von Rechts" identisch, die von der NPD, der DVU und von Neonazis im Berichtszeitraum angestrebt wurde. Die "Volksfront von Rechts" Annäherung zwischen NPD und Neonaziszene Im Jahre 2004 näherten sich die NPD und Teile der Neonaziszene einander an. Der bundesweit führende Neonazi Thomas WULFF rief in einem Beitrag, den die "Deutsche Stimme" im Mai publizierte, dazu auf, eine "Volksfront von Rechts" zu schaffen, "um in der kommenden Zeit die Funktion des Sammelbeckens der protestierenden Volksschichten übernehmen zu können". Zusammen mit anderen bekannten "freien Nationalisten" habe er mit dem Bundesvorsitzenden der NPD, Udo VOIGT, über die Notwendigkeit gesprochen, eine Zusammenarbeit aller relevanten Oppositionskräfte zuwege zu bringen. Am 1. Mai wolle man ein gemeinsames Zeichen setzen.34 In den Wahlkämpfen der kommenden Monate sollten alle Aktivisten 33 Siehe den Exkurs: "Rechtsextremistische Parteien beteiligen sich am 13. und 27. Juni in Thüringen an Landtags-, Europaund Kommunalwahlen", S. 63ff. 34 Siehe S. 44 45 dafür sorgen, dass die NPD als der "parteipolitische Arm" der Bewegung wieder gestärkt werde. Wenn sich der nationale Widerstand von der NPD distanziere, schwäche er sich letzten Endes nur selbst. In einer am 19. September im Internet veröffentlichten Erklärung propagierte die NPD eine "Volksfront statt Gruppenegoismus" und sprach sich dafür aus, eine "Volksfront von Rechts" zu bilden. Die nationale Opposition könne sich erst dann zu einer Volksbewegung entwickeln, wenn "zunächst einmal alle in der nationalen Opposition befindlichen Parteien und Aktionsformen ... als Bereicherung im Kampf für unser Volk" angesehen würden. In der Vergangenheit sei das "Grundlegende, das Einigende" infolge von Abgrenzungen und Distanzierungen immer wieder in den Hintergrund geraten. Die Führung der Partei sei nunmehr entschlossen, "endgültig den Weg zu einer wirklichen Volksbewegung einzuschlagen", eine "Gesamtbewegung des nationalen Widerstands" und eine "Volksfront all jener, die sich noch als Deutsche fühlen" anzustreben. Es bedürfe parteiunabhängiger Aktionsformen, um die globalen Gegenwartsprobleme zu meistern. Alle "volkstreuen" Deutschen seien daher aufgerufen, gemeinsam mit der NPD und führenden Vertretern freier Kräfte an einer wahren Volksbewegung für Deutschland zu arbeiten. Daraufhin teilten die Aktivisten der Neonaziszene Thomas WULFF, Thorsten HEISE und Ralf TEGETHOFF in einer gemeinsamen Erklärung mit, kurz vor der Landtagswahl in Sachsen in die NPD eingetreten zu sein. Nach wie vor sähen sie sich jedoch "in einer herausragenden Verantwortung gegenüber der GESAMTBEWEGUNG", da das "Konzept Freie Nationalisten eine für die nächsten Jahre dauerhaft arbeitsfähige Basis für viele Kameradinnen und Kameraden im Widerstand" sein werde. HEISE, WULFF und TEGETHOFF würden daher nicht aufrufen, es ihnen gleichzutun und in die NPD einzutreten. In der Partei wollten sie "mit gutem Beispiel der Zusammenarbeit" vorangehen, einen "Brückenschlag" vornehmen und als "Sprachrohr sowie Ansprechpartner" all der Kameradinnen und Kameraden auftreten, die sich außerhalb der NPD organisieren. Ebenso wie die NPD sehen HEISE, WULFF und TEGETHOFF ihr großes Ziel darin, eine "umfassende Volksfront von Rechts" zu formen. Annäherung der NPD an die DVU Nachdem die NPD bei der Europawahl am 13. Juni und insbesondere bei der Kommunalwahl in Sachsen vergleichsweise erfolgreich abgeschnitten hatte, arbeitete sie darauf hin, andere rechtsextremistische Parteien für die "Volksfront von Rechts" zu gewinnen. Am 23. Juni schlossen die NPD, von der die Initiative ausging, und die DVU ein Abkommen. Darin vereinbarten die beiden Parteien, sich bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am 19. September nicht durch konkurrierende Kandidaturen zu behindern. Auch dank dieser Ü- bereinkunft gelang es der NPD und der DVU, in Sachsen 12 bzw. in Brandenburg 6 Sitze im Landtag zu erringen. Kurz danach teilten die NPD und die DVU mit, ihre Parteivorsitzenden hätten am 22. September in Berlin vereinbart, auch für kommende Wahlen Bündnisse einzugehen. 30. Bundesparteitag der NPD am 30./31. Oktober in Leinefelde Die Bemühungen der NPD, eine "Volksfront von Rechts" zustande zu bringen, erreichten mit dem 30. Bundesparteitag der NPD am 30./31. Oktober in Leinefelde/Thüringen ihren vorläufigen Höhepunkt. An der Veranstaltung, die unter dem Motto "Arbeit - Familie - Vaterland" stand, nahmen 182 Delegierte und etwa 300 Gäste teil. 46 Die Delegierten unterstützten den Kurs des Parteivorsitzenden zur "Schaffung einer Volksfront von Rechts", indem sie VOIGT mit 86,8 % der Stimmen im Amt bestätigten. Die beiden stellvertretenden Parteivorsitzenden Holger APFEL und Ulrich EIGENFELD wurden ebenfalls wiedergewählt. Zum dritten Stellvertreter bestimmten die Delegierten den Landesvorsitzenden des Saarlands, Peter MARX35. Als Beisitzer wurde u.a. der bundesweit bekannte Thüringer Neonazi Thorsten HEISE in den Vorstand gewählt. Mit HEISE und Frank SCHWERDT, dem Vorsitzenden des Thüringer Landesverbands, sind nunmehr zwei Thüringer Rechtsextremisten im Bundesvorstand der Partei vertreten. Dem Bundesvorstand gehören 20 Personen an. In einer Grundsatzrede ging VOIGT auf das Verhältnis der Partei zu den "Freien und dem nationalen Widerstand" ein. Man plane keine "gegenseitige Übernahme", sondern sehe sich als "Bestandteil des gemeinsamen Widerstandes" an. Das weitere gemeinsame Vorgehen mit der DVU sei, hob VOIGT hervor, durch eine "absolut gleichberechtigte partnerschaftliche Zusammenarbeit" gekennzeichnet. Beide Parteien würden weiterhin bestehen bleiben und künftig Wahlabsprachen bzw. gemeinsame Listen oder Listenverbindungen dort anstreben, wo dies das Wahlrecht ermögliche. So werde die NPD im Februar 2005 zu den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein als "einzige nationale Kraft" antreten. Zur Bundestagswahl 2006 werde die NPD Listenführerin sein. FREY und weitere zu benennende Führungskräfte der DVU seien bereit, auf den Listen der NPD zu kandidieren. Im Gegenzug werde die DVU zur Europawahl 2009 Listenführerin mit Kandidaten der NPD sein. Obwohl VOIGT und FREY auf einer Pressekonferenz betonten, in den Grundpositionen ü- bereinzustimmen, waren Differenzen insbesondere in der Einschätzung des Nationalsozialismus oder in Hinsicht auf eine Zusammenarbeit mit Neonazis nicht zu übersehen. Ausblick Die auf dem Parteitag angekündigten Wahlbündnisse zwischen NPD und DVU erhöhen einerseits die Erfolgsaussichten beider Parteien bei künftigen Wahlen. Indem die beiden Parteien ihre Kräfte bündeln, können sie ihre Wahlkampfmittel effektiver einsetzen. Möglicherweise können sie auch damit rechnen, aufgrund der gestiegenen Erfolgserwartung den Mobilisierungsgrad potenzieller Wähler zu erhöhen. Andererseits sind Konflikte - sowohl innerhalb der beiden Parteien als auch zwischen ihnen - vorauszusehen, wenn sie sich auf gemeinsame Listen verständigen. Trotz der auf dem Bundesparteitag demonstrativ zur Schau gestellten Harmonie erscheint es zweifelhaft, ob sich die Parteiführung der NPD, die in die Partei integrierten Neonazis und die von FREY autokratisch geführte DVU angesichts der weiterhin bestehenden Konfliktlinien dauerhaft auf einen gemeinsamen Kurs einigen können. Ebenso bleibt abzuwarten, ob sich die Neonaziszene dem Führungsanspruch der NPD unterwerfen wird, oder ob deren Wortführer ihrerseits darauf hinarbeiten werden, der NPD ihre Strategie und Taktik aufzuzwingen. Die NPD bemüht sich um weitere Kooperationspartner VOIGT appellierte in seiner Rede auf dem Parteitag ebenfalls an die "Republikaner", nach ihrem Bundesparteitag im November die von der NPD ausgestreckte Hand nicht "länger zurück(zu)schlagen". Er forderte sie auf, der nunmehr in die Tat umgesetzten "Volksfront von Rechts" beizutreten. In einer Presseerklärung vom 31. Oktober wiesen die "Republikaner" jedoch das "Ansinnen der NPD zu einer Kooperation" zurück. Mit Parteien, die diesen Staat 35 MARX nimmt außerdem die Funktion des Parlamentarischen Geschäftsführers der sächsischen NPDLandtagsfraktion wahr. 47 und die Demokratie beseitigen wollen, um "ein 'Viertes Reich' zu errichten", erklärte ihr Bundesvorsitzender Dr. Rolf SCHLIERER, gebe es keinerlei Gemeinsamkeiten und auch keinerlei Kooperation. Am Jahresende erklärte mit dem Hamburger Neonazi Christian WORCH nun sogar einer der bislang schärfsten Kritiker der NPD und der von ihr propagierten "Volksfront" in einem "offenen Brief", zur Zusammenarbeit grundsätzlich bereit zu sein. WORCH war in den letzten Monaten aufgrund seiner kompromisslosen Haltung innerhalb der rechtsextremistischen Szene zunehmend in die Isolation geraten. Mit dieser Kehrtwende versucht er offensichtlich, die bröckelnde Schar seiner Anhänger weiter an sich zu binden und die eigene Position innerhalb der Szene wieder zu festigen. Die Stellung der NPD dürfte durch WORCHs Kurswechsel weiter gestärkt werden. 5.1.2 Der Thüringer Landesverband der NPD Allgemeine Lage Der Landesverband der NPD wurde 1990 gegründet. Im Berichtszeitraum gehörten ihm etwa 180 Mitglieder an; sie machen lediglich rund 3,4 % aller Parteimitglieder aus. Eine bundespolitische Bedeutung des Thüringer Landesverbandes der NPD ging lediglich von dessen Vorsitzendem Frank SCHWERDT aus, der zugleich als Bundesgeschäftsführer der Partei amtiert. SCHWERDT wurde am 26. Juni auf dem Landesparteitag der NPD, an dem etwa 50 Personen teilnahmen, im Amt des Landesvorsitzenden bestätigt. Im Jahr 2004 ist mit Thorsten HEISE ein bundesweit bekannter Neonazi dem Landesverband der NPD beigetreten. Seine Aktivitäten dürften sich jedoch vorwiegend auf die Bundesebene der NPD konzentrieren, um die Zusammenarbeit zwischen der NPD und "Freien Kameradschaften" zu intensivieren. Im Berichtszeitraum stieg nicht nur die Mitgliederzahl der Thüringer NPD im Vergleich zum Vorjahr von ca. 150 auf etwa 180 Personen an. Der Partei gelang es in dieser Zeit auch, bei der Landtagswahl ihren prozentualen Anteil an den Wählerstimmen von 0,2 % im Jahr 1999 auf 1,6 % zu steigern. Der Landesverband nahm darüber hinaus einige Strukturveränderungen vor und veranstaltete wieder mehr öffentlichkeitswirksame Aktionen als im Vorjahr. Insgesamt betrachtet ist es dem Thüringer Landesverband gelungen, einen leichten Aufwärtstrend einzuleiten. Übersicht über die Mitgliederentwicklung des NPD-Landesverbands Thüringen: M itg lie d e r e n tw ic k lu n g d e s N P D -L a n d e s v e r b a n d e s T h ü r in g e n 300 260 260 250 200 200 200 180 Mitglieder 150 150 150 100 90 60 60 50 50 40 40 0 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 Jahr 48 Der Landesverband Thüringen gliedert sich infolge des Strukturwandels, der vollzogen wurde, nunmehr in die neun Kreisverbände Altenburg, Erfurt-Gotha, Gera, Hildburghausen-Suhl, Jena, Nordhausen-Sondershausen, Saale-Orla, Saalfeld-Rudolstadt und Wartburgkreis. Der Kreisverband Hildburghausen-Suhl wurde im Juli, der Ortsverband Tannroda im Oktober gegründet. Außerdem wurde der Kreisverband Erfurt-Gotha-Nordhausen im Oktober in die beiden Verbände Nordhausen-Sondershausen sowie Erfurt-Gotha geteilt. Mit Michael BURKERT übernahm nicht nur einer der Neonazis, die in diesem Spektrum im Freistaat eine führende Rolle spielen, sondern auch ein ehemaliger Funktionär der "Deutschen Partei" (DP) den Vorsitz des neuen Kreisverbands Erfurt-Gotha. Die seit 2002 bestehenden Organisationsstrukturen sind vermutlich erweitert worden, weil Rechtsextremisten - die größtenteils dem neonazistischen Spektrum entstammen - der NPD beigetreten sind. Die NPD begründete diesen Schritt zudem mit dem "doch recht beachtlichen Wahlergebnis für die Thüringer NPD am 13. Juni 2004", das "erste Folgen gezeitigt (hätte)". Einige der neuen Mitglieder wurden mit einem eigenen Verantwortungsbereich in der Partei versehen, um auf lokaler Ebene die Strukturen der Partei zu festigen und auszubauen. Im Berichtszeitraum gehörten neben dem vormaligen Kreisverband Erfurt-Gotha-Nordhausen die Verbände Gera und Jena zu den aktivsten Gruppierungen der NPD in Thüringen. Sie gestalten ihre Parteiarbeit öffentlichkeitsund medienwirksam und treten offen für eine Zusammenarbeit mit "Freien Nationalisten" und Skinheads ein. Diese Kreisverbände konnten das Kräfteverhältnis im Landesverband im Berichtszeitraum weiter zu ihren Gunsten verändern. Denn seit dem Landesparteitag am 26. Juni sind fünf Protagonisten dieser Kreisverbände im Landesvorstand vertreten, der nicht mehr neun, sondern nur noch sechs Mitglieder umfasst. Der Vorsitzende des Kreisverbands Jena, Ralf WOHLLEBEN, übernahm zudem die Funktion des stellvertretenden Vorsitzenden des Landesverbands. WOHLLEBEN gehört nicht nur der NPD an, sondern zählt auch zu den führenden Neonazis in Thüringen. Er hat weitreichende Kontakte zum neonazistischen Spektrum und organisierte zahlreiche Veranstaltungen. Von anderen Kreisverbänden gingen 2004 kaum Aktivitäten aus. Ihnen mangelt es zumeist an Führungspersonal, das in der Lage ist, eine kontinuierliche Parteiarbeit zu betreiben, öffentlichkeitswirksame Aktionen zu entfalten und bisher nicht organisierte Rechtsextremisten einzubinden. Verhältnis der Thüringer NPD zu anderen Rechtsextremisten Verhältnis zur Neonaziszene36 Traditionell besteht zwischen der NPD und den Neonazis in Thüringen ein enges Verhältnis, das von Integration und Kooperation gekennzeichnet ist. Die Integration von Neonazis umfasst die Gewinnung von neuen Mitgliedern aus diesem Spektrum sowie die Übertragung von Ämtern im Landesvorstand bzw. in den Kreisverbänden. WOHLLEBEN und BURKERT stellen Beispiele dafür dar, wie stark Neonazis im Freistaat sowohl auf den Landesverband als auch auf die Kreisverbände der NPD einwirken. Die NPD und Neonazis kooperieren eng miteinander, indem sie Veranstaltungen gemeinsam organisieren, für sie mobilisieren und durchführen. Teilnehmer, Redner und Ordner treten oftmals auch auf Veranstaltungen des jeweils anderen Spektrums auf. Beispiele für die gemeinsame Organisation von Veranstaltungen stellen die "Reichsgründungsfeier" am 17. Januar37 sowie der "3. Thüringentag der nationalen Jugend" am 29. Mai38 36 Siehe S. 25f. 37 Siehe über diese Veranstaltung S. 51 38 Siehe über diese Veranstaltung S. 52 49 dar. Die NPD und die Neonazis arbeiten aber auch themenbezogen eng zusammen. So unterstützte der Landesverband Thüringen u.a. die "Thüringer Aktionsgruppen für Rudolf Hess 2004", die eine Initiative "Freier Nationalisten" aus Thüringen darstellen. Diese "Aktionsgruppen" wollen überparteiliche und unabhängige Kräfte bündeln, die an einer "aktiven Volksaufklärung" rund um den Fall "Rudolf Hess" interessiert sind. Saalveranstaltung am 4. Dezember in Sondershausen Die Saalveranstaltung, deren Motto "Eine Bewegung werden! Gemeinsam die Volksfront von Rechts schaffen!" lautete, zeigt auf, welche Bedeutung die Thüringer Rechtsextremisten dem Konzept einer "Volksfront von Rechts" beimessen. Zu dieser Veranstaltung fanden sich etwa 200 Personen zusammen, die zum größten Teil aus Thüringen kamen. Die Veranstaltung war vom Thüringer Neonazi Patrick WIESCHKE angemeldet und organisiert worden; Thüringer NPD-Funktionäre waren in die Organisation eingebunden. "Sinn und Zweck der Veranstaltung" war es nach eigenen Angaben, das in den letzten Monaten oft thematisierte Ziel einer "Volksfront von Rechts" der "Basis zu vermitteln". Als Redner traten neben WIESCHKE die Thüringer Landesvorsitzenden der NPD, DVU und DP, der Neonazi Peter NAUMANN aus Hessen, das NPD-Bundesvorstandsmitglied Thorsten HEISE, der Fraktionsvorsitzende der NPD im sächsischen Landtag Holger APFEL und das NPD-Mitglied Thomas WULFF auf. Sie warben für die "Volksfront von Rechts" und betonten in ihren Ausführungen, dass es für die weitere Entwicklung der "Volksfront" von grundlegender Bedeutung sei, "Trennendes zu überwinden" und "Gemeinsames in den Vordergrund zu stellen". Überdies traten zwei rechtsextremistische Liedermacher auf. Diese Veranstaltung besaß vor allem eine auf den Freistaat bezogene, regionale Bedeutung, obwohl an ihr bundesweit führende Rechtsextremisten wie APFEL und WULFF teilnahmen. Sie gehörte zu den wichtigsten Veranstaltungen, die das rechtsextremistische Lager Thüringens im Jahr 2004 durchführte. Sie brachte deutlich den Anspruch zum Ausdruck, das auf Bundesebene entworfene "Volksfrontkonzept" unter Einschluss der Landesverbände von NPD, DVU, DP sowie des neonazistischen Spektrums auf Landesebene umzusetzen. WIESCHKE ist es gelungen, neben den Landesvorsitzenden von drei rechtsextremistischen Parteien auch einige Rechtsextremisten, die bundesweit eine führende Rolle spielen, im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung zusammenzuführen. Verhältnis zu Skinheads Die Thüringer NPD umwirbt nicht nur Neonazis, sondern auch Skinheads.39 Von Skinheads gehen meist keine eigenständigen politischen Aktionen aus. Sie besuchen jedoch Musikveranstaltungen, die die NPD durchführt. Auf diese Weise erhöhen sie das Mobilisierungspotenzial der Partei. Da sich Skinheads überwiegend regional organisiert haben, sind Bündnisse, die die Partei mit ihnen eingeht, zumeist lokal gebunden und von persönlichen Kontakten abhängig. Im Landesverband Thüringen pflegt insbesondere der Kreisverband Gera Kontakte, die in die Skinheadszene hineinreichen. Mit dem "Friedensfest" organisierte er am 10. Juli unter dem Motto "Nationalisten gegen US-amerikanische Kriegstreiberei" zum zweiten Mal 40 eine politische Veranstaltung, in deren Mittelpunkt nicht die Ansprachen von zwei Rechtsextremisten, sondern musikalische Beiträge standen. Das Ziel des "Friedensfestes" bestand vor allem dar39 Siehe S. 16f. 40 Siehe Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2003, S. 71 50 in, Sympathisanten bzw. Mitglieder aus dem jugendlichen rechtsextremistischen Spektrum zu werben. 5.1.3 Aktivitäten des Landesverbands Der Landesverband Thüringen der NPD verstärkte in diesem Jahr wieder seine Aktivitäten. Insbesondere intensivierte er den "Kampf um die Straße". Viele Veranstaltungen wurden gemeinsam mit Neonazis durchgeführt. Der "Kampf um die Köpfe" trat hingegen in den Hintergrund; im Vergleich zum Vorjahr fanden weniger Schulungsveranstaltungen statt. Die erhöhte öffentlichkeitsund medienwirksame Darstellung der Parteiarbeit ging auf die Zusammenarbeit mit aktionistischen Neonazis zurück und entsprang dem Bedürfnis, im Thüringer Wahljahr 2004 im "Kampf um die Parlamente" Präsenz zu zeigen. Folgende Veranstaltungen der Thüringer NPD ragten im Berichtszeitraum heraus: Reichsgründungsfeier am 17. Januar in Ammelstädt Am 17. Januar fand in Ammelstädt/Landkreis Saalfeld-Rudolstadt eine von Rechtsextremisten initiierte "Reichsgründungsfeier" statt, anlässlich derer an die Gründung des zweiten Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 erinnert wurde. An der Veranstaltung, die von der NPD und "freien Kräften" aus Rudolstadt organisiert wurde, nahmen etwa 120 Personen teil. Als Redner soll u.a. der Vorsitzende der NPD, Udo VOIGT, aufgetreten sein. Das Rahmenprogramm der "Reichsgründungsfeier" wurde von einem Liedermacher und einer Musikband bestritten. Demonstration am 24. Januar in Nordhausen Am 24. Januar fand in Nordhausen unter dem Motto "Volksgemeinschaft statt Klassenkampf" eine Demonstration statt, an der ca. 150 Rechtsextremisten mitwirkten. Die Kundgebung war vom Vorsitzenden des Kreisverbands Erfurt-Gotha-Nordhausen, Patrick WEBER, angemeldet worden. Als Redner traten verschiedene Thüringer Rechtsextremisten aus dem Neonazispektrum und der NPD auf, darunter auch Thorsten HEISE und Ralf WOHLLEBEN. "Sandro-WEILKES-Gedenkmarsch" am 22. Mai in Neuhaus am Rennweg Am 22. Mai führte der Landesverband Thüringen der NPD in Neuhaus am Rennweg zum neunten Mal den "Sandro-Weilkes-Gedenkmarsch" durch, in den sich ca. 75 Rechtsextremisten einreihten. Die Veranstaltung war auch in diesem Jahr vom Bundesgeschäftsführer der NPD und Vorsitzenden des Landesverbands Thüringen, Frank SCHWERDT, zum "Andenken des ermordeten Sandro WEILKES" angemeldet worden. Während der Demonstration traten zwei Rechtsextremisten als Redner auf. Die Anzahl der Personen, die sich an dieser traditionellen Veranstaltung des Landesverbands Thüringen beteiligten, ist stark zurückgegangen. Während der Marsch im Jahr 2000 noch 300 Rechtsextremisten angezogen hatte, sank die Anzahl der Teilnehmer von 220 im Jahr 2001 über 120 und 150 in den Jahren 2002 bzw. 2003 auf nunmehr etwa 75 ab. WEILKES war im Laufe einer Auseinandersetzung zwischen rechtsund linksgerichteten Jugendlichen im Jahr 1995 in Neuhaus am Rennweg erstochen worden. Seither versucht die rechtsextremistische Szene, dessen Tod als Märtyrertod zu symbolisieren und die Straftat als politisch motiviertes Verbrechen hinzustellen. Aus diesem Anlass veranstalten Thüringer Rechtsextremisten alljährlich im Mai in Neuhaus am Rennweg eine Demonstration. 51 "3. Thüringentag der nationalen Jugend" am 29. Mai in Saalfeld Am 29. Mai fand in Saalfeld unter dem Motto "Kapitalismus abschaffen - Globalisierung bekämpfen! Für eine starke nationale Jugendkultur!" der "3. Thüringentag der nationalen Jugend" statt. An der Veranstaltung, die vom Landesverband Thüringen der NPD initiiert worden war, nahmen 250-300 Angehörige des rechtsextremistischen Spektrums teil. Als Veranstaltungsleiter fungierte Ralf WOHLLEBEN. Als dessen Stellvertreter trat der bekannte Neonazi Sebastian REICHE aus Gotha auf. Gegenwärtig finde, meinte SCHWERDT in einer Ansprache, "ein Umbau des Sozialstaates in eine frühkapitalistische Gesellschaft" statt. Außerdem werde die geplante Zuwanderung von Ausländern zu Lohndrückerei gegenüber den deutschen Arbeitnehmern führen. Als Redner traten weiterhin der Landesvorsitzende der DP, Kurt HOPPE, deren damaliger Jugendbeauftragter und führende Thüringer Neonazi Michael BURKERT, Ivonne MÄDEL, "Mareike" vom "Mädelring Thüringen" sowie Patrick WIESCHKE, der kurz zuvor aus der Haft entlassen worden war, auf. Zur musikalischen Unterhaltung trugen die Gruppe "Bloodrevenge" aus Nordrhein-Westfalen und die Liedermacher "Conny" und "Max" bei. Die Veranstalter hatten eigens für diese Veranstaltung eine Internetseite eingerichtet. Mit dieser Veranstaltung wollte die NPD zeigen, dass in Thüringen eine starke nationale Jugendbewegung existiert, die für den "Widerstand gegen die herrschenden Zustände! Gegen Kapitalismus und Globalisierung! Gegen Polizeistaat und Multikultur!" demonstriert. Außerdem sollte diese Veranstaltung dahin zielen, der Forderung nach Freiräumen für die "nationale Jugend" Nachdruck zu verleihen sowie die "nationalen Strukturen vor Ort" festigen. Die Veranstaltung wurde von neonazistischen Gruppierungen Thüringens sowie dem Landesverband der DP unterstützt. Die beiden ersten "Thüringentage" der Rechtsextremisten, die am 1. Juni 2002 in Jena und am 31. Mai 2003 in Gotha stattgefunden haben, waren vom Kreisverband Jena der NPD bzw. "Freien Nationalisten" angemeldet worden. Die Veranstaltungen hatten ca. 130 bzw. 350 Personen besucht. Demonstration am 5. Juni in Schleusingen Am 5. Juni veranstaltete die NPD unter dem Motto "Gegen linke Medienhetze, für eine gleichberechtigte nationale Jugendkultur" in Schleusingen eine Demonstration, an der sich ca. 110 Personen beteiligten. Während der Demonstration wurden Informationsmaterialien der NPD und der DP verteilt. Als Redner traten neben Frank SCHWERDT, der die Demonstration auch angemeldet hatte, Michael BURKERT, Kurt HOPPE und ein Rechtsextremist aus Schleusingen auf. Die Redner thematisierten das - letzten Endes vom Verwaltungsgericht Meiningen aufgehobene - Verbot eines Informationsstandes, den die NPD am 30. März in Schleusingen ausgerichtet hatte. Der Informationsstand diente dem Ziel, im Wahlkampf für die Ideen und Ziele der NPD zu werben. BURKERT kündigte in seiner Rede u.a. mehrere Demonstrationen in der Stadt an, "bis ein NPD-Bürgermeister in Schleusingen regiert". "Friedensfest" am 10. Juli in Gera Am 10. Juli fand in Gera ein von der NPD initiiertes "Friedensfest" statt, zu dem sich rund 150 Rechtsextremisten zusammenfanden. Der Veranstalter hatte jedoch mit etwa 350 Teilnehmern gerechnet. Als Veranstalter fungierte der Vorsitzende des Kreisverbandes Gera, Gordon RICHTER. Als Redner der Veranstaltung, deren Motto "Nationalisten gegen US52 amerikanische Kriegstreiberei" lautete, traten Frank SCHWERDT und Ralf OLLERT, Vertreter der "Bürgerinitiative Ausländerstopp" und Vorsitzender des NPD-Landesverbandes Bayern, auf. Das "kulturelle" Rahmenprogramm der Kundgebung wurde wie bereits bei einer ähnlich gelagerten Veranstaltung im vorigen Jahr41 durch mehrere Musikgruppen gestaltet. Neben der Thüringer Band "Eugenik" traten "Bloodrevenge" aus Nordrhein-Westfalen, "T.H.O.R." aus Sachsen und "Confident of Victory" aus Brandenburg auf. Mit dem "Friedensfest" konnte die NPD nicht an den Erfolg des vorangegangenen Jahres anknüpfen. So erzielte die Partei seinerzeit durch die mit etwa 200 Personen höhere Teilnehmerzahl eine stärkere Mobilisierung und damit auch eine größere Resonanz in der Szene. Sie hielt jedoch an der Verfahrensweise fest, den Schwerpunkt einer Parteiveranstaltung in den Musikbereich zu verlagern. Demonstration am 4. September in Jena Am 4. September fand in Jena unter dem Motto "Nein zur Agenda 2010! Ja zu sozialer Gerechtigkeit - Unsere Agenda heißt Widerstand" eine Demonstration des Kreisverbands Jena der NPD statt, an der sich etwa 100 Rechtsextremisten beteiligten. Mit dieser Veranstaltung beteiligte sich die NPD auch in Thüringen offiziell an der "Kampagne nationaler Kräfte" gegen die "Agenda 2010". Der Landesverband griff diese Thematik bereits im Vorfeld auf seiner Homepage auf, indem er über Veranstaltungen berichtete, die sich in Thüringen gegen die Arbeitsmarktreform "Hartz IV" sowie die "Agenda 2010" richteten.42 Infolge eines starken Polizeiaufgebots gelang es, Versuche zahlreicher Gegendemonstranten, in den Veranstaltungsbereich der NPD zu gelangen, zu unterbinden.43 Veranstaltungen am Volkstrauertag (14. November) Der Vorsitzende des Kreisverbands Saalfeld-Rudolstadt der NPD, Sandro TAUBER, meldete für den Volkstrauertag mehrere Kranzniederlegungen mit anschließenden Mahnwachen in der Region an. In Blankenhain nahmen 25 Personen, in Tannroda und in dem Saalfelder Ortsteil Remschütz jeweils 10 Personen an den Veranstaltungen teil. In Remschütz wurde bereits im vorigen Jahr von demselben Kreisverband eine derartige Veranstaltung, an der etwa 25 Personen teilnahmen, durchgeführt. Der Kreisverband Gera der NPD organisierte unter dem Motto "Deutsche Soldaten - Euer Opfer ist unsere Verpflichtung" auf dem Ostfriedhof in Gera eine Kundgebung, in deren Verlauf der Vorsitzende des Landesverbands der NPD, SCHWERDT, eine Rede hielt. Dieser Kreisverband führt traditionell seit Jahren am Volkstrauertag eine solche Veranstaltung durch. Die Anzahl der Teilnehmer blieb im Vergleich mit den Jahren 2003, 2002 und 2001, in denen sich etwa 30, 50 bzw. 40 Personen beteiligten, annähernd gleich. Geplante Kundgebung am 20. November in Gera Der Vorsitzende des Kreisverbands Gera, Gordon RICHTER, meldete für den 20. November unter dem Motto "Nationalisten gegen Sozialabbau und Agenda 2010" eine Kundgebung in 41 Siehe Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2003, S. 71 42 Siehe Exkurs: "Thüringer Rechtsextremisten treten gegen die Arbeitsmarktreform 'Hartz IV' und die 'Agenda 2010' auf", S. 38ff. 43 Siehe S. 98 53 Gera an, an der sich 80 Personen beteiligen sollten. Die Veranstaltung wurde in den Rahmen der "1. Antikapitalistischen Kaffeefahrt"44 eingebunden. 5.1.4 "Junge Nationaldemokraten" (JN) Mit den JN verfügt die NPD als einzige der rechtsextremistischen Parteien über eine zahlenmäßig relevante Jugendorganisation. Die Organisation, die 1969 gegründet wurde, bildet einen "integralen Bestandteil der NPD". Der Vorsitzende der JN ist kraft seines Amtes zugleich Mitglied des Parteivorstands der NPD. Die JN stellen sich selbst als "Jugend für Deutschland" dar und verstehen sich als eine "weltanschaulich-geschlossene Jugendbewegung neuen Typs mit revolutionärer Ausrichtung und strenger innerorganisatorischer Disziplin, deren Aktivisten hohe Einsatzund Opferbereitschaft abverlangt wird". Die JN bekennen sich zur "Volksgemeinschaft", die sie in "einer neuen nationalistischen Ordnung verwirklichen" wollen. Den Schwerpunkt ihres politischen Kampfs sehen sie in der Basisarbeit in den Städten, Landkreisen und Gemeinden. Sie streben an, ihre "politischen Vorstellungen in weite Kreise der deutschen Jugend" hineinzutragen. Der Jugend solle bewusst gemacht werden, dass es zum herrschenden System eine Alternative geben könne, die mit politischen Veränderungen einhergehe. Ihre Bedeutung als eigenständige Jugendorganisation hat die Organisation fast gänzlich verloren. Als bloßes Anhängsel der NPD wird sie in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. E- benso stagniert die Mitgliederzahl der JN. Rechtsextremistisch eingestellte Jugendliche schlossen sich bevorzugt Kameradschaften an oder traten mit Vollendung des 16. Lebensjahres gleich der NPD bei. Am 2./3. Oktober fand unter dem Motto "Ein revolutionärer Geist, eine sozialistische Idee, eine aktivistische Jugend" in Mosbach bei Eisenach der Bundeskongress der "Jungen Nationaldemokraten" statt. Stefan ROCHOW, der seit November 2002 als Bundesvorsitzender amtiert, wurde im Amt bestätigt. Er kündigte an, die politische Arbeit der JN zu verbessern. Zu diesem Zweck soll die Ausbildung und Schulung von Kadern der Organisation optimiert und eine nationalistische Schülerzeitung herausgegeben werden, um im Rahmen einer Aktion den "Nationalsozialismus in die Schulen (zu) tragen". In diesem Jahr organisierten die "Jungen Nationaldemokraten" lediglich eine öffentliche Veranstaltung. Am 27. November führten sie unter dem Motto "Pogo für Deutschland - Wir lassen uns das Tanzen und Singen nicht verbieten!" in Mücka/Sachsen eine "Diskussionsveranstaltung" durch. Unter den ca. 800 Rechtsextremisten, die zu der Veranstaltung überregional angereist waren, befanden sich auch Personen aus Thüringen. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand neben dem Redebeitrag von Thorsten HEISE der Auftritt der Skinheadbands "Oidoxie", "Gegenschlag", "Spreegeschwader" und "Die Verschwörung". Thorsten HEISE und ein Abgeordneter der NPD im sächsischen Landtag hielten Ansprachen. Außerdem standen den Teilnehmern der Bundesvorstand der JN und auch Mitglieder der NPD im sächsischen Landtag zur "Rede und Gegenrede" zur Verfügung. Mit dieser "Diskussionsveranstaltung" griffen die JN das bewährte Konzept der NPD auf, politisch unterlegte Veranstaltungen mit Auftritten von Skinheadbands zu umrahmen. 44 Siehe S. 37 54 Der Thüringer Landesverband der JN Im Jahr 2000 wurde in Eisenach ein Thüringer Landesverband der "Jungen Nationaldemokraten" gegründet. Er untergliederte sich in die Stützpunkte Jena, Eisenach, Gera und SaalfeldRudolstadt und hatte Ende 2000 etwa 70 Mitglieder. Von 2001 an gingen vom Landesverband Thüringen kaum noch öffentlichkeitswirksame Aktivitäten aus. Dieser Prozess setzte sich 2002 fort; im Jahr 2003 existierte ein Landesverband Thüringen faktisch nicht mehr. In diesem Jahr konnten Ansätze für die Reorganisation des Landesverbands verzeichnet werden, da dessen Stützpunkt Saale-Orla am 14. August in Pößneck gegründet wurde. 5.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) Gründungsjahr Bund: 1987 Thüringen: 1991 Sitz Bund: München Mitglieder 2002 2003 2004 Bund: ca. 13.000 ca. 11.500 ca. 11.000 Thüringen: ca. 150 ca. 100 ca. 90 für Thüringen relevante überregionale Publikationen: "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) Internet: eigener Internetauftritt des Bundesverbandes45 5.2.1 Der Bundesverband der DVU Die DVU wurde 198746 in München unter dem Namen "Deutsche Volksunion-Liste D" (DVU-Liste D) gegründet und 1991 durch eine Satzungsänderung in "Deutsche Volksunion" umbenannt. Mit derzeit etwa 11.000 Mitgliedern ist die DVU gegenwärtig die größte rechtsextremistische Partei Deutschlands. Sie verfügt in allen Bundesländern über Landesverbände; in Bremen und Brandenburg ist sie in den Landesparlamenten vertreten. Der Münchener Verleger Dr. Gerhard FREY, der seit der Gründung der DVU als Bundesvorsitzender fungiert, wurde zuletzt auf dem Bundesparteitag im April dieses Jahres in München in seinem Amt bestätigt. Dr. FREY führt die Partei weitgehend zentralistisch. Der bedingungslose Machtanspruch des Vorsitzenden lässt den Unterorganisationen keinen Handlungsspielraum, um eigene Initiativen zu entwickeln und selbstständig politische Arbeit zu leisten. Nach wie vor ist die DVU bei ihrem Vorsitzenden hoch verschuldet. Die Personalunion von Vorsitzendem und Kreditgeber verleiht Dr. FREY eine ungewöhnliche Machtfülle. Er ist faktisch zugleich Chefideologe und -stratege, alleinige Entscheidungsinstanz in Sachwie Personalangelegenheiten, einzig befugtes Sprachrohr und nicht zuletzt oberster Spendeneintreiber und Großfinanzier der Partei. Die DVU hat ihr Parteiprogramm bewusst vage formuliert, um ihre extremistische Ausrichtung zu verschleiern und möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Die Wochenzeitung "Na45 Auf der Internetseite des Bundesverbandes befindet sich ein Hinweis auf den Landesverband der DVU. 46 DVU e.V. 1971 als Verein gegründet, 1987 als Partei konstituiert, 1987 - 1991 "DVU-Liste D" 55 tional-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ), die dem Bundesvorsitzenden gehört, enthält jedoch Artikel, die tatsächliche Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen liefern. Die Schwerpunkte der Agitation, die die Partei betreibt, und die Artikel, die in der "NZ" publiziert werden, bilden tendenziell ausländerfeindliche, revisionistische und unterschwellig antisemitische Thesen. Häufig werden Themen gewählt, die sich auf Ausländer und Einwanderer beziehen. Diese Themen werden gezielt eingesetzt, um Überfremdungsängste zu schüren. Mit Überschriften wie "Beherrscht die Türkei bald Europa?" oder "Türkei in die EU - eine Torheit!" gerät hier insbesondere der Prozess der Erweiterung der "Europäischen Union" (EU) ins Visier. DVU und NPD vereinbaren Bündnisse für kommende Wahlen Im Berichtszeitraum vereinbarten die DVU und die NPD, auf Dauer zusammenzuwirken und schlossen Bündnisse.47 In einem Interview, das Dr. FREY der "NZ" gab, bezeichnete er den Vorsitzenden der NPD, VOIGT, als fairen und geschätzten Partner. Zwischen ihnen bestehe Einigkeit darin, dass es in Zukunft keinesfalls mehr zum Gegeneinander kommen dürfe und die Rechte ihre Kräfte vereinen müsse. 5.2.2 Der Thüringer Landesverband der DVU Walter BECK amtiert als Vorsitzender des Thüringer Landesverbands, der 1991 gegründet wurde. Der Organisationsgrad des Landesverbands, der sich in Kreisverbände untergliedert, ist gering. Die Aktivitäten der meisten Parteimitglieder beschränken sich darauf, die "NZ" zu beziehen und sich gelegentlich an "Politischen Stammtischen" zu beteiligen. Die ohnehin geringe Mitgliederzahl des Landesverbands ging daher von etwa 100 Personen im Jahr 2003 auf nunmehr nur noch ca. 90 zurück. Vom Landesverband gehen seit Jahren kaum noch öffentlichkeitswirksame Aktionen aus. Am 18. Januar fand in Bad Kösen/Sachsen-Anhalt der gemeinsame Landesparteitag der Landesverbände Thüringen und Sachsen statt, an dem etwa 300 Personen teilnahmen. Auf dem Parteitag wurde BECK offiziell zum neuen Vorsitzenden gewählt. Der gemeinsame Parteitag fügte sich in das übliche Schema solcher Veranstaltungen ein. In bekannter Weise hetzten die Redner gegen Ausländer und den demokratischen Rechtsstaat bzw. dessen Vertreter. Insbesondere die Ansprache Dr. FREYs widerspiegelte die plumpe Agitation, der sich die "NZ" bedient. Der Bundesvorstand der DVU beschloss einstimmig, sich weder an der Europanoch an der Landtagswahl in Thüringen zu beteiligen. Vermutlich fürchtete er negative Auswirkungen auf die Landtagswahl in Brandenburg am 19. September, wenn die Partei bei den Wahlen in Thüringen schlecht abschneidet. Bei der Kommunalwahl, die am 27. Juni in Thüringen stattfand, sicherte sich die DVU mit 8,3 % der Stimmen wie bereits 1999 einen Sitz im Stadtrat von Lauscha. Der Thüringer Landesverband der DVU tritt für die "Volksfront von Rechts" ein.48 Dessen Landesvorsitzender nahm nicht nur am Bundesparteitag der NPD am 30./31. Oktober in Leinefelde, auf dem die NPD und die DVU ihr Bündnis bekräftigten, sondern auch an der Saalveranstaltung "Nationaler Kräfte" am 4. Dezember in Sondershausen49 teil. Während dieser 47 Siehe Abschnitt "Volksfront von Rechts", S. 45ff. 48 Siehe S. 45ff. 49 Siehe S. 50 56 Veranstaltung warb BECK zwar für die DVU, stellte aber den Gedanken einer "Volksfront von Rechts" in den Vordergrund. Weder der Wahlerfolg, den die DVU bei den Landtagswahlen in Brandenburg erzielt hat, noch ihre Mitwirkung an der "Volksfront von Rechts" werden dazu führen, den Abwärtstrend des Landesverbands Thüringen aufzuhalten. Da die Partei in Thüringen seit langem kaum noch öffentlichkeitswirksame Aktionen organisiert, übt sie auf jugendliche Rechtsextremisten nur eine geringe Anziehungskraft aus. 5.3 "Die Republikaner" (REP) Gründungsjahr Bund: 1983 Thüringen: 1992 Sitz Bund: Berlin Mitglieder 2002 2003 2004 Bund: ca. 9.000 ca. 8.000 ca. 7.500 Thüringen: ca. 140 ca. 100 ca. 90 für Thüringen relevante überregionale Publikationen: "Zeit für Protest - Die Zeitung für mündige Bürger" Internet: eigener Internetauftritt des Bundesverbandes, des Landesverbandes Thüringen und des Kreisverbandes Weimar Unterorganisationen (Bund): -"Arbeitskreis Republikanische Jugend" (RJ) -"Republikanischer Bund der Frauen" (RBF) -"Republikanischer Bund der öffentlich Bediensteten (RepBB) -"Republikanischer Hochschulverband" (RHV) 5.3.1 Der Bundesverband der "Republikaner" Die Partei "Die Republikaner" wurde 1983 in München gegründet. Nach innerparteilichen Auseinandersetzungen zwischen dem damaligen Bundesvorsitzenden SCHÖNHUBER und seinem Stellvertreter und damaligen Fraktionsvorsitzenden im Landtag von BadenWürttemberg, Dr. Rolf SCHLIERER, wurde letzterer im Dezember 1994 zum neuen Bundesvorsitzenden gewählt. Auf dem Bundesparteitag im November 2004 wurde Dr. SCHLIERER im Amt bestätigt. Die Partei, deren Schwerpunkt seit jeher in Süddeutschland liegt, ist in jedem Bundesland mit einem Landesverband vertreten. Auf die Willensbildung der Partei nimmt der mitgliederstarke Landesverband Baden-Württemberg einen maßgeblichen Einfluss. Der organisatorische Aufbau in den ostdeutschen Bundesländern ist stecken geblieben. Die Strukturen dieser Landesverbände sind schwach ausgeprägt und die Mitglieder gering an Zahl. Die Parteiarbeit liegt seit Jahren brach. Sowohl auf Bundesals auch auf Landesebene ist die Partei von organisato57 rischer Zersplitterung, weitgehendem Mangel an intellektuellem Potenzial, Mitgliederverlusten und Misserfolgen bei Wahlen gekennzeichnet. Nach wie vor liegen bei den "Republikanern" tatsächliche Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen vor. Sie sind an zahlreichen Stellen und auf allen Parteiebenen zu finden, insbesondere dort, wo unterhalb der Ebene des Bundesvorstands bzw. dessen unmittelbarer Einflusssphäre ein aktives Parteileben (noch) besteht. Solche Anhaltspunkte ergeben sich nicht unmittelbar aus dem Parteiprogramm. Sie kommen insbesondere insofern zum Ausdruck, als die Partei mit anderen Rechtsextremisten zusammenarbeitet, fremdenfeindliche Agitationsmuster aufgreift sowie Repräsentanten und Institutionen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung diffamiert. Abgrenzungskurs der Parteiführung der "Republikaner" nach wie vor umstritten Die Auseinandersetzungen zwischen der Bundesführung und der innerparteilichen Opposition über den insbesondere vom Parteivorsitzenden Dr. SCHLIERER vertretenen Abgrenzungskurs der "Republikaner" gegenüber anderen rechtsextremistischen Organisationen dauern seit Jahren an. Auf ihrem Bundesparteitag am 8. Juli 1990 in Ruhstorf/Bayern hatten die "Republikaner" den so genannten "Ruhstorfer Beschluss" gefasst, in dem sie jede Zusammenarbeit mit der NPD und der DVU ablehnten. Am 16. Juni 1995 einigte sich der Bundesvorstand dann darauf, weiterhin jede Annäherung, jede Absprache oder jede andere Form der Zusammenarbeit mit Parteien, Gruppierungen, die der "Alten Rechten" zugerechnet werden, abzulehnen. Die Abgrenzungsbeschlüsse riefen Auseinandersetzungen in der Partei hervor, in denen die Anhänger des Bundesvorsitzenden denjenigen Mitgliedern gegenüberstehen, die eine deutliche Positionierung im rechtsextremistischen Lager anstreben. Auch 2004 verließen Funktionäre und Mitglieder die Partei oder wurden aus ihr ausgeschlossen, die Dr. SCHLIERERs Kurs für abträglich halten. So trat im Juni die ehemalige Landesvorsitzende der "Republikaner" in Sachsen, Kerstin LORENZ, dem "Nationalen Bündnis Dresden" (NB) bei, nachdem sie sich mit anderen Parteifunktionären in Sachsen vor der Kommunalwahl am 13. Juni für das von der NPD dominierte "NB" eingesetzt sowie der Landesverband Sachsen auf die Teilnahme an der Landtagswahl am 19. September verzichtet und der Bundesvorstand daraufhin ein Parteiausschlussverfahren angekündigt hatten. Mehrmals wies Dr. SCHLIERER VOIGTs Appell zurück, mit der NPD eine "Volksfront von Rechts" zu bilden. In einer am 2. November unter der Überschrift "Frankfurter Erklärung der Parteivorsitzenden von REP, DP und DSU" publizierten Presseerklärung stimmte SCHLIERER hingegen einer engeren Zusammenarbeit mit diesen drei Parteien zu. Das Ziel der "Frankfurter Erklärung" bestehe darin, hieß es in der Presseerklärung, eine seriöse, demokratische Alternative zu den im Bundestag vertretenen Parteien rechts von der Union zu etablieren. Die Vorsitzenden der drei Parteien hätten einer Erklärung der "Republikaner" vom 1. November zufolge überdies übereinstimmend erklärt, eine "Kooperation mit NPD/DVU oder einer nationalen Volksfront" auszuschließen. Ein Bündnis zwischen "Republikanern", DP und DSU kam jedoch nicht zustande, weil der Bundesvorstand der DP die "Frankfurter Erklärung" gegen den Willen seines Vorsitzenden verwarf.50 Trotz der - von innen und außen - wachsenden Kritik hielt der Bundesvorstand unbeirrt an seinem Abgrenzungskurs, insbesondere gegenüber der NPD, fest. Auf ihrem Bundesparteitag am 27./28. November in Veitshöchheim bei Würzburg/Bayern verabschiedeten die "Republi50 Siehe S. 61f. 58 kaner" erneut eine Resolution, in der sie die Beteiligung an einer "rechten Volksfront" und einer Zusammenarbeit mit Parteien, die "unseren Staat oder die freiheitlich demokratische Grundordnung beseitigen wollen", kategorisch zurückwiesen. Ausdrücklich habe man sich entschieden, gemeinsame Aktivitäten und Kandidaturen mit der "NPD oder neonationalsozialistischen Organisationen und deren Umfeld" auszuschließen. Dr. SCHLIERER wurde auf dem Bundesparteitag in Veitshöchheim mit 145 von 249 Stimmen im Amt bestätigt. Mit diesem Ergebnis hat er sich abermals gegen diejenigen durchgesetzt, die den von ihm und seinen Anhängern verfolgten Abgrenzungskurs gegenüber anderen rechtsextremistischen Parteien für abträglich halten. Jedoch bilden nach wie vor jene Parteimitglieder einen starken Flügel, die für eine deutliche Positionierung im rechtsextremistischen Lager und eine Beteiligung an einer "Volksfront von Rechts" eintreten. Als Wortführer dieser Richtung trat auf dem Parteitag der stellvertretende Bundesvorsitzende und stellvertretende Landesvorsitzende von Nordrhein-Westfalen, Björn CLEMENS, auf, für den als Gegenkandidaten Dr. SCHLIERERs immerhin 40 % der Delegierten stimmten. Die Richtungskämpfe innerhalb der Partei werden daher anhalten. 5.3.2 Der Thüringer Landesverband der "Republikaner" Der Landesverband Thüringen der "Republikaner" wurde 1992 gegründet. Als dessen Vorsitzender fungiert seit August 1998 Dr. Heinz-Joachim SCHNEIDER aus Jena, der auf dem letzten Landesparteitag am 12. April 2003 in Weimar in seinem Amt bestätigt wurde. Die Mitgliederzahl des Landesverbands bezifferte sich 2004 auf etwa 90 Personen. Somit ging sie im Vergleich mit dem ohnehin niedrigen Niveau des Vorjahrs, als der Landesverband noch ca. 100 Mitglieder zählte, weiter zurück. Der Landesverband vermochte eine erfolgreiche Parteiarbeit nicht zu betreiben, da er nur über eine geringe Zahl engagierter Mitglieder verfügt. Auf die politischen Willenbildungsund Entscheidungsprozesse übt er in Thüringen keinen Einfluss aus. Selbst innerhalb der rechtsextremistischen Szene Thüringens sind die "Republikaner" weitgehend isoliert. In manchen Regionen des Freistaats sind parteipolitische Aktivitäten völlig zum Erliegen gekommen. Der Landesverband hielt Vorstandssitzungen ab und die aktiven Kreisverbände führten Mitgliederversammlungen durch. Öffentlich traten die "Republikaner" in Thüringen auch 2004 nur wenig in Erscheinung. Sie organisierten lediglich einige Informationsstände und verteilten Flugblätter sowie Informationsmaterial vor der Europaund Landtagswahl am 13. Juni, um die notwendigen Unterstützungsunterschriften zu sammeln und für ihre Ziele zu werben. Am 18. April führten die "Republikaner" in Jena eine Wahlkampfveranstaltung durch, die auf die Europawahl ausgerichtet war. Als Redner traten Uschi WINKELSETT, stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei, und andere führende Mitglieder der Partei aus Sachsen und Thüringen auf. Sowohl aus der Europaals auch der Landtagswahl gingen die "Republikaner" als stärkste Kraft des rechtsextremistischen Lagers hervor.51 Der Landesverband zog auf seiner Internetseite die Legitimität des Grundgesetzes in Zweifel und griff das politische System der Bundesrepublik im Ganzen an: "Wir REPUBLIKANER warnen schon seit langer Zeit vor dem Einsturz der Sozialsysteme und verurteilen die grenzenlose Zuwanderung (in die Sozialsysteme), die Geldverschwendung der Regierung für grundgesetzwidrige Auslandseinsätze der Bundeswehr, die nicht einmal deutschen Interessen dienen, Geldgeschenke an andere Länder in Milliarden, Zahlungen für einen vor 59 Jahren 51 Siehe Exkurs: "Rechtsextremistische Parteien beteiligen sich am 13. und 27. Juni in Thüringen an Landtags-, Europaund Kommunalwahlen", S. 63ff. 59 verlorenen Krieg, die höchsten Beitragszahlungen an die EU, Zahlungen von Krankenkassenbeiträgen an im Ausland lebende Angehörige von Gast(!)arbeitern etc.. Solange wir keine vom Volk geschriebene Verfassung (Souveränität), wohl aber einen Verfassungsschutz haben, sondern nur ein von den Alliierten diktiertes undemokratisches Grundgesetz, das nicht kritisiert werden darf (Nazikeule) und keine Volksabstimmungen (Maastricht, Euro, Europaverfassung etc.) zulässt, ist etlichen der aufgezeigten Mißstände nur schwer beizukommen." 52 5.4 "Deutsche Partei" (DP) Gründungsjahr Bund: 1993 Thüringen: 2003 Sitz Bund: Bad Soden/Hessen Mitglieder 2003 2004 Bund: ca. 500 ca. 500 Thüringen: ca. 20 ca. 20 Internet: eigener Internetauftritt des Bundesverbandes 5.4.1 Der Bundesverband der DP Die "DP" wurde 1993 (wieder) gegründet. Als ihr Bundesvorsitzender amtiert seit 2001 der frühere hessische FDP-Landtagsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende des "Bundes Freier Bürger - Offensive für Deutschland. Die Freiheitlichen" (BFB-Die Offensive), Dr. Heiner KAPPEL. Die Partei, der im Berichtszeitraum bundesweit etwa 500 Mitgliedern angehörten, gliedert sich nach eigenen Angaben in 12 Landesverbände. Sie nahm am 13. Juni erstmals an einer Europawahl teil. Die politische Arbeit der Partei orientiert sich an den Leitmotiven "Wahrheit - Freiheit - Recht". Sie strebt an, als Sammelbewegung aller "freiheitlich, wertkonservativ und patriotisch" gesinnten Bürger zu fungieren. Das 12-Punkte-Programm vom 28. April 2002 und das 20-Punkte-Programm vom 4. Oktober 2003 fassen die politische Ausrichtung der Partei zusammen. Das 20-Punkte-Programm agitiert nicht nur gegen die Strukturen des politischen Systems der Bundesrepublik, mit deren "verantwortungslos aufgeblähtem Staat" Schluss sein müsse. Es setzt auch das Grundgesetz herab, das Ausdruck der unverändert andauernden TeilSouveränität Deutschlands gegenüber den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs sei. Auf dem Sonderparteitag am 24. Januar verabschiedete die DP unter dem Titel "Für ein selbstbewusstes Deutschland in einem gemeinsamen Europa" für die Wahlen zum Europäischen Parlament ein Programm, in dem sie Leitlinien ihrer Europapolitik umriss. In den vergangenen Jahren verfolgte die DP das Ziel, als Sammelbecken für Angehörige anderer rechtsextremistischer Organisationen zu fungieren. Auf diese Weise hoffte sie, aus der politischen Bedeutungslosigkeit herauszugelangen und im Parteienspektrum an Gewicht zu gewinnen. Auch im Jahr 2004 wurde sie diesem Anspruch nicht gerecht. 52 Auszug aus der Website "Die Republikaner", Landesverband Thüringen, vom 23. August 2004 60 Bei der DP liegen tatsächliche Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen vor, auch wenn nicht jedes Mitglied verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. So liegen ihrer Agitation unterschwellig fremdenfeindliche Denkmuster zugrunde, die sich gegen die Zuwanderung von Ausländern richten. Zudem ist der Abgrenzungskurs, den der Parteivorsitzende Dr. KAPPEL gegenüber anderen rechtsextremistischen Parteien verfolgt, sowohl in der Partei als auch im Bundesvorstand umstritten. Schließlich treten Mitglieder der DP - auch in Thüringen - für eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremisten anderer Spektren offen ein. Das Programm, das die Partei für die Europawahl entworfen hatte, schließt Argumentationsmuster ein, die von Rechtsextremisten verwandt werden. So erklärt das Programm Ausländer u.a. pauschal für die "ethnisch-kulturelle Auflösung" des deutschen Volkes verantwortlich. Am 24. Oktober beschloss der Bundesvorstand, eine Unterschriftenaktion gegen den geplanten EU-Beitritt der Türkei zu starten, da die Partei eigener Aussage zufolge die Aufnahme der Türkei "als Schicksalsfrage des Deutschen Volkes" ansieht. In Hinsicht auf die Wahlerfolge, die die NPD und die DVU im September erzielt hatten, und die Absicht der NPD, eine "Volksfront von Rechts" zu formen, sah sich die DP gezwungen, in Bezug auf eine Zusammenarbeit mit anderen "nationalgesinnten" Parteien und Gruppierungen Stellung zu nehmen. Dr. KAPPEL sprach sich in einer am 27. September veröffentlichten Erklärung dafür aus, sich einer solchen "Volksfront" nicht anzuschließen und weiter einen eigenen Weg zu gehen. Seiner Meinung nach würden die DP programmatische, strategische oder auch rein formale Punkte von NPD und DVU unterscheiden. Differenzen zwischen Bundesvorsitzenden und Bundesvorstand der DP In einer Presseerklärung, die Dr. KAPPEL unter der Überschrift "Frankfurter Erklärung der Parteivorsitzenden von REP, DP und DSU" am 2. November publizierte, hieß es, die Vorsitzenden der drei Parteien hätten sich auf eine engere Zusammenarbeit verständigt. Sie hätten die Absicht bekräftigt, mit weiteren Parteien eng zu kooperieren und zu Wahlen gemeinsam anzutreten. Das Ziel der "Frankfurter Erklärung" bestehe darin, eine seriöse, demokratische Alternative zu den Bundestagsparteien rechts von der Union zu etablieren. Die Parteivorsitzenden seien übereingekommen, für die in der Erklärung formulierten Ziele die Zustimmung ihrer Parteigremien einzuholen. Mitglieder des Bundesvorstandes sprachen sich daraufhin ausdrücklich dagegen aus, sich gegenüber anderen "nationalen Parteien" abzugrenzen. Der Bundesvorstand habe in einer Sitzung am 24. Oktober den "abgrenzungsfreien und partnerschaftlichen Kurs zu allen nationalen Parteien" mit großer Mehrheit abermals bestätigt. Ein "Spaltungsbündnis gegen Rechts", das sich aus "Republikanern", DSU und DP zusammensetzt, habe nicht zur Diskussion gestanden und werde auch niemals im Bundesvorstand der DP eine Mehrheit erhalten. Auf der Sitzung des Bundesvorstands sei auch sehr deutlich geworden, dass der partnerschaftliche Kurs der DP gegenüber den "Republikanern" natürlich gelte, "aber ganz sicher nicht zur derzeitigen REP-Bundesführung". Die Mehrheit des Bundesvorstands der DP lehnte deshalb am 21. November die vom Parteivorsitzenden Dr. KAPPEL mitunterzeichnete "Frankfurter Erklärung" sowie die darin vereinbarte engere Zusammenarbeit der "Republikaner", DSU und DP gegen den Willen Dr. KAPPELs ab. Ein Bündnis zu dieser Zeit führe, begründete der Bundesvorstand der DP seine Entscheidung, zu einer weiteren Spaltung des patriotischen Parteiengefüges. Es verringere damit die Chancen der "nationalen Parteien", im Jahr 2006 über eine gemeinsame Liste in den Bundestag einzuziehen. 61 Der Landesverband Thüringen der DP lehnte Dr. KAPPELs politischen Kurs ab. 5.4.2 Der Thüringer Landesverband der DP Der Landesverband Thüringen der DP, der 2003 gegründet wurde, konnte sich auch im Berichtszeitraum nicht unter den rechtsextremistischen Parteien Thüringens etablieren, sondern fristete weiter ein politisches Schattendasein. Nach wie vor gehören dem Landesverband nicht mehr als 20 Mitglieder an. Eine regelmäßige Parteiarbeit fand 2004 kaum statt. Ebenso wenig trat der Landesverband mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Erscheinung. Erste Auflösungserscheinungen des Landesverbands wurden sichtbar, als deren ehemaliger Jugendbeauftragte Michael BURKERT die Partei verließ, der NPD beitrat und zum Vorsitzenden des neuen Kreisverbands Erfurt-Gotha gewählt wurde. Seit Jahren verfolgt BURKERT die Absicht, in Thüringen die "nationalen Kräfte" zusammenzuführen und somit die Zersplitterung des rechtsextremistischen Lagers zu überwinden. Als Jugendbeauftragter der DP konnte er seinem Ziel nicht näher kommen, da die Strategie dieser Partei nur in einem geringen Maße darauf ausgerichtet ist, öffentlichkeitswirksame Aktionen zu organisieren. Vermutlich erschien es ihm aussichtsreicher, sich in der NPD zu engagieren, um seine Ziele zu erreichen. Auf rechtsextremistische Bestrebungen des Thüringer Landesverbands deuten die engen Kontakte hin, die der Landesvorsitzende der Partei, Kurt HOPPE, und andere Mitglieder der Partei zur NPD bzw. zum neonazistischen Spektrum unterhalten. Mitglieder der DP unterstützten die NPD im Wahlkampf insofern, als sie ihr bei der Sammlung von Unterstützungsunterschriften halfen. Dies stelle, betonte der Landesvorsitzende der NPD, Frank SCHWERDT, für die zukünftige gemeinsame Arbeit eine gute Basis dar. SCHWERDT lobte im August in der "Deutschen Stimme" die mit dem Landesverband der DP "praktizierte" Zusammenarbeit, gebe es doch kaum eine Veranstaltung, bei der HOPPE und er nicht gemeinsam aufträten. Der Landesverband Thüringen der DP unterstützte die "1.-Mai-Kundgebung" in Berlin, die die NPD gemeinsam mit "Freien Nationalisten" veranstaltete, und den "3. Thüringentag der nationalen Jugend", der am 29. Mai in Saalfeld stattfand. Auf dem Bundesparteitag der NPD am 30./31. Oktober in Leinefelde/Thüringen richtete HOPPE im Namen der DP Grußworte aus und beschwor, für den "Einheitswillen der nationalgesinnten Deutschen und den Auftrag, für die Lebensinteressen des deutschen Volkes" einzutreten. Während der Saalveranstaltung am 4. Dezember in Sondershausen53 erklärte HOPPE einem Bericht im Internet zufolge, die "spalterische", von Dr. KAPPEL unterzeichnete "Frankfurter Erklärung" werde weder von der Basis noch von einer Mehrheit des Bundesvorstands der DP getragen. Sowohl die Basis als auch eine Mehrheit des Parteivorstands strebten einen gemeinsamen Weg mit allen "nationalen" Parteien an und lehnten es ab, sich von der NPD oder der DVU abzugrenzen. Als Privatperson organisierte HOPPE unter dem Motto "Wahrheit gegen Verleumdung und Lüge!" eine Saalveranstaltung "Nationaler Kräfte aus der Region", die am 10. Dezember in Oberhof stattfand und der Kontaktpflege zwischen allen "nationalgesinnten Kräften" dienen sollte. Es fanden sich 70-80 Rechtsextremisten zusammen, um der geplanten Vorführung der Videodokumentation des britischen Historikers und langjährigen Außenministers Martin ALLEN zum Thema "Geheimakte Heß" beizuwohnen. 53 Siehe S. 50 62 Eine der wenigen Aktivitäten, die vom Landesverbands Thüringen der DP ausgingen, war eine Saalveranstaltung, die am 8. Mai unter dem Motto "Deutschland im freien Fall" in Bad Frankenhausen stattfand. Sie war darauf gerichtet, die Mitglieder der Partei und deren Sympathisanten für den Wahlkampf zu gewinnen. 5.5 Exkurs: Rechtsextremistische Parteien beteiligen sich am 13. und 27. Juni in Thüringen an Landtags-, Europaund Kommunalwahlen Am 13. Juni fanden in Thüringen Landtagsund bundesweit Europawahlen statt. Am 27. Juni waren die Wahlberechtigten aufgerufen, an den Kommunalwahlen teilzunehmen. Die NPD und die "Republikaner" beteiligten sich an allen Wahlen. Die DP nahm lediglich an den Wahlen zum Europäischen Parlament teil. Die DVU trat allein zur Kommunalwahl an. Landtagswahl Wahlergebnisse von NPD und "Republikanern" Landtagswahl Landtagswahl Landtagswahl Landtagswahl 1990 1994 1999 2004 Wahl2.001.204 1.952.951 1.965.937 1.958.041 berechtigte Wahlbeteiligung 71,8 74,8 59,9 53,8 in Prozent NPD Erststimmen * absolut - - - 943 * prozentual - - - 0,1 NPD Zweitstimmen * absolut 3.080 - 2.751 15.695 * prozentual 0,2 - 0,2 1,6 REP Erststimmen * absolut 1.217 7.252 24.306 - * prozentual 0,1 0,5 2,1 - REP Zweitstimmen * absolut 11.672 18.298 8.766 19.797 * prozentual 0,8 1,3 0,8 2,0 NPD Die NPD trat mit einer Landesliste, die 15 Bewerber umfasste, und einem Direktkandidaten, Patrick WEBER, im Wahlkreis "Kyffhäuserkreis I" an. Auf den ersten Platz der Liste wurde der Vorsitzende des Kreisverbands Jena der NPD, Ralf WOHLLEBEN, auf den dritten der bundesweit bekannte Neonazi Thorsten HEISE gewählt. Die Zusammensetzung der Landesliste entsprach der politischen Ausrichtung des Landesvorsitzenden Frank SCHWERDT und seiner Anhänger, die der aktivistischen und an der Zusammenarbeit mit Neonazis bzw. Skinheads interessierten Richtung der NPD zuzurechnen sind. 63 Wahlprogramm Da die gegenwärtige politische Konstellation in Thüringen weder zu echten Veränderungen noch zu Arbeit und sozialer Gerechtigkeit führe, formulierte die NPD in ihrem Wahlprogramm, gehörten neue, gute, unverbrauchte Kräfte in das Parlament. Hierfür bot sich die NPD als "nationale Alternative" an. Das Wahlprogramm spiegelte jene rechtsextremistischen Argumentationsmuster wider, die die NPD seit jeher vertritt. Wahlkampfaktivitäten In den Monaten vor der Wahl organisierte der Landesverband vor allem Informationsstände, um Unterstützungsunterschriften zu sammeln, Informationsmaterial zu verteilen und seine Ziele herauszustellen. Den Schwerpunkt der Aktionen bildeten die Städte Jena, Greiz, Gera und Pößneck im Osten Thüringens. Dabei griff die NPD im Wahlkampf die wirtschaftlichen und sozialen Probleme auf, die die öffentliche Diskussion in der Bundesrepublik im Jahr 2004 beherrschten. Sie legte die Gründe für die Entstehung willkürlich aus, um eindeutige, eingängige Schuldzuweisungen abzuleiten und in der Bevölkerung Sympathie für die eigenen Zielvorstellungen zu wecken. Bewertung des Wahlergebnisses Wenngleich das Wahlergebnis im Vergleich zur Landtagswahl in Sachsen, wo die Partei wenige Monate später 9,2 % der Stimmen errang und damit in den Landtag einzog, aus Sicht der NPD enttäuschen muss, konnte sie dennoch einen kleinen Erfolg für sich verbuchen: Im Vergleich zur Landtagswahl im Jahre 1999 konnte sie ihren Anteil an den Wählerstimmen von 0,2 auf 1,6 % steigern und kommt damit ebenso wie die "Republikaner" in den Genuss der Wahlkostenrückerstattung. Im Kyffhäuserkreis und im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt schnitt sie weit besser ab als in den anderen Wahlkreisen. Patrick WEBER, ihr einziger Direktkandidat, erzielte im Wahlkreis "Kyffhäuserkreis I" 143 Stimmen, was einem Anteil von 5 % entspricht. Die Direktkandidatur wirkte sich auf die Ergebnisse bei den Zweitstimmen (4 %) positiv aus. Der NPD gelang es, zahlreiche Protestwähler für sich zu gewinnen. Ebenso hat ihr die niedrige Wahlbeteiligung zum Nutzen gereicht, da sie ihre Anhänger für die Stimmabgabe mobilisieren konnte. Die "Republikaner" Die Landesliste der "Republikaner", an deren Spitze der Kreisvorsitzende Frank WELSCH aus Weimar stand, umfasste 9 Personen. Direktkandidaten stellte die Partei nicht auf. Wahlprogramm Das Wahlprogramm bezog sich auf die Themen Arbeit, Wirtschaft und Finanzen, Gesundheit und Soziales, Innenpolitik, Verkehr, Familie, Bildung und Kultur sowie Landwirtschaft, Umwelt und Heimat. Spezifische Forderungen für Thüringen enthielt es nicht. Wahlkampfaktivitäten Der Landesverband verteilte Flugblätter sowie Informationsmaterial an Haushalte, brachte Plakate an und organisierte - u.a. in Weimar und Meiningen - mehrere Informationsstände, um die notwendigen Unterstützungsunterschriften zu sammeln. 64 Bewertung des Wahlergebnisses Auch für die "Republikaner" stellt der Ausgang der Landtagswahl einen Erfolg dar. Sie konnten sich als Protestpartei darstellen und sich gegenüber 1999 von 0,8 auf 2,0 % der Zweitstimmen steigern, womit sie als stärkste Kraft des rechtsextremistischen Lagers aus der Wahl hervorgingen. Die meisten Stimmen gewann die Partei in den Wahlkreisen "Weimarer Land I/Saalfeld-Rudolstadt" (3,2 %), "Gotha II" (3,1 %) sowie "Weimarer Land II" (3,0 %). Kommunalwahl Am 27. Juni waren die Wahlberechtigten aufgerufen, 1.480 Bürgermeister, 256 Stadtund Gemeinderäte sowie 784 Mitglieder der Kreistage zu wählen. Der NPD, den "Republikanern" und der DVU ist es gelungen, bei den Kommunalwahlen je ein Mandat zu gewinnen. Der Vorsitzende des Kreisverbands Jena der NPD, Ralf WOHLLEBEN, errang mit 5,83 % (121 Stimmen) ein Mandat für den Ortschaftsrat in Lobeda/Altstadt. Diesen "kommunalen Erfolg" führt die Partei auf das in diesem Stadtteil von Jena gelegene "Braune Haus" zurück, das der rechtsextremistischen Szene mit Erfolg als Schulungsund Wohnobjekt diene. Der Landesvorsitzende der "Republikaner", Dr. Heinz-Joachim SCHNEIDER, wurde mit 7,06 % der Stimmen wieder in den Ortschaftsrat von Neulobeda (Jena) gewählt. Die DVU gewann bei der Wahl des Stadtrats in Lauscha/Kreis Sonneberg 8,3 % der Stimmen, womit sie sich einen Sitz in der Volksvertretung der Stadt sicherte. Das Mandat erhielt, wie bereits 1999, Uwe BÄZ-DÖLLE, Beisitzer im Landesvorstand der DVU. Im Vergleich zur Wahl im Jahre 1999 gewann die DVU in Lauscha 1,3 % der Stimmen hinzu. Europawahl Wahlergebnisse der NPD, "Republikaner" und DP Europawahl Europawahl Europawahl 12.06.1994 13.06.1999 13.06.2004 BundesThüringen BundesThüringen BundesThüringen gebiet gebiet gebiet Wahlberechtigte 60.473.927 1.959.432 60.786.904 1.967.824 61.682.394 1.960.795 Wahlbeteiligung in Prozent 60,0 71,9 45,2 58,1 43,0 53,7 Stimmen NPD 77.227 3.491 107.662 7.021 241.743 17.374 * absolut 0,2 0,3 0,4 0,6 0,9 1,7 * prozentual Stimmen REP 1.387.070 39.543 461.038 20.953 485.662 22.665 * absolut 3,9 2,9 1,7 1,9 1,9 2,2 * prozentual Stimmen DP - - - - 62.005 2.882 * absolut 0,2 0,3 * prozentual 65 NPD Die NPD trat bundesweit mit einer Liste an, auf der 23 Kandidaten nominiert waren. Der Bundesvorsitzende der Partei, Udo VOIGT, führte die Liste an. Der Landesverband Thüringen war durch seinen Vorsitzenden Frank SCHWERDT auf Platz 13 vertreten. Wahlprogramm Der Tenor des Europawahlprogramms der NPD lautete: "Europas Freiheit statt USImperialismus". Die derzeitige Politik der EU führe, meinte die NPD, zu wirtschaftlicher und sozialer Verelendung, zunehmender Unfreiheit und Totalitarismus sowie zu kultureller und biologischer Vernichtung der Völker Europas. Die NPD erklärte, "für ein starkes und einigendes Europa der Vaterländer, das getragen wird vom Willen der Völker zu Freiheit und Selbstbestimmung", einzutreten. Die NPD sah in den Wahlen eine Möglichkeit, "sich bewusstseinsbildend in der Öffentlichkeit zu präsentieren und neue Mitglieder und Anhänger zu gewinnen". Vor allem rechnete sie damit, Nichtwähler und "sozial betrogene Menschen" für sich mobilisieren zu können. Wahlkampfaktivitäten Der Vorstand der NPD eröffnete am 27./28. März mit vier regionalen Amtsträgertagungen, an denen etwa 300 Personen teilnahmen, den Wahlkampf für das Europäische Parlament. Außerdem gab der Vorstand eine Sonderausgabe der "Deutschen Stimme", des Parteiorgans der NPD, zur Europawahl heraus. In mehreren Städten brachte die NPD Plakate an, die ihre fremdenfeindlichen Ansichten wiedergaben und gegen die Erweiterung der EU agitierten. In Fernsehen und Rundfunk hetzte sie mit ihren Wahlspots gegen Ausländer, die angeblich nach dem EU-Beitritt osteuropäischer Staaten nach Deutschland zuwandern und infolgedessen die Arbeitsmarktlage für Deutsche weiter verschärfen würden. Auf mehreren Wahlkundgebungen mit Informationsständen verteilten Mitglieder der NPD Handzettel, die für die Ziele der Partei warben. An einer der Veranstaltungen in Weimar nahm auch der Bundesvorsitzende der NPD, Udo VOIGT, teil. Bewertung des Wahlergebnisses Auch der Ausgang der Europawahl stellt für die NPD einen Erfolg dar. Im Vergleich zur letzten Europawahl im Jahre 1999 gelang es der Partei, bundesweit ihr Ergebnis zu verdoppeln; in Thüringen errang sie sogar mehr als zweimal so viele Stimmen. Da die "Republikaner" jedoch weit mehr Stimmen erhielten, erfüllte sich die Hoffnung der NPD weder auf Bundesebene noch in Thüringen, als stärkste Kraft des rechtsextremistischen Lagers aus der Europawahl hervorzugehen. Wie auch die Landtagswahl zeigte, befinden sich die regionalen Hochburgen der NPD im Kyffhäuserkreis sowie im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt. Dort gewann sie jeweils 3,1 % der Stimmen. "Die Republikaner" Die "Republikaner" traten bundesweit mit einer Liste an, die 15 Bewerber umfasste. Sie wurde von der stellvertretenden Bundesvorsitzenden und Landesvorsitzenden von Nordrhein66 Westfalen, Ursula WINKELSETT, angeführt. Torsten WIRSCHING, der der Partei in Thüringen angehört, nahm Platz 13 ein. Wahlprogramm In ihrem Wahlprogramm bekannten sich die "Republikaner" zu Europa, nicht jedoch "zu dieser EU". Sie forderten darin in fremdenfeindlicher Manier einen "Zuwanderungsstopp für Nichteuropäer in Verbindung mit einem Rückführungsprogramm", um die "bereits laufende Überfremdung" einzudämmen. Denn "europäische Städte mit asiatischer und afrikanischer Bevölkerungsmehrheit" dürfe es nicht geben. Den Islam hält die Partei ihrem Wahlprogramm zufolge für einen "spalterischen Fremdkörper" in Europa. Wahlkampfaktivitäten WINKELSETT startete im März mit dem "REP-Mobil" eine Wahlkampftour durch die Bundesrepublik. Am 18. April hielt sie auf einer Wahlkampfveranstaltung der Partei in Jena, an der sich auch der Landesvorsitzende Dr. Heinz-Joachim SCHNEIDER beteiligte, eine Rede. In Thüringen wurde der Wahlkampf sehr verhalten geführt; lediglich Plakate wurden in großem Umfang angebracht. Als wichtigstes Wahlkampfmittel diente die parteieigene Zeitung "Der Republikaner", die seit Jahresbeginn den Namen "Zeit für Protest - Die Zeitung für mündige Bürger" trägt. Der neue Titel zielte darauf ab, die Partei für die Wahlen als Protestpartei herauszustellen. Mit Schlagzeilen wie "Stoppt die Abzocker!", "Der reine Steuerwahnsinn" oder "Rentner haben Angst" versuchten die "Republikaner" ebenso wie die NPD, Protestwähler für sich zu gewinnen. Zudem wurden in Rundfunk und Fernsehen Werbespots der "Republikaner" für die Europawahl ausgestrahlt, die in dieselbe Richtung zielten. Bewertung des Wahlergebnisses Obwohl die Wahlbeteiligung niedriger als vor fünf Jahren war, konnte die Partei noch an Stimmen hinzugewinnen und liegt nunmehr bundesweit bei 1,9 %. Somit bilden die "Republikaner", sowohl bundesweit als auch in Thüringen, die stärkste Kraft des rechtsextremistischen Lagers. In Thüringen schnitten die "Republikaner" sogar noch etwas besser ab, indem sie ihren Stimmenanteil um 0,3 auf 2,2 % verbessern konnten. Die besten Ergebnisse erzielte die Partei wie bei der Landtagswahl in der Region Weimar, wo sie mehr als 3 % der Stimmen gewann. DP Die DP beteiligte sich zum erstenmal an einer Europawahl. Sie bewarb sich mit einer Liste, die sich aus 20 Kandidaten zusammensetzte. Zum Spitzenkandidat war der Bundesvorsitzende der Partei, Dr. Heiner KAPPEL, bestimmt worden. Der Landesverband Thüringen war auf der Liste durch seine stellvertretende Landesvorsitzende Helga KUNZE auf Platz 20 vertreten. Die DP trat mit einer eigenen Liste an, nachdem sie vergeblich an "alle bürgerlichpatriotischen, wertkonservativen und freiheitlichen politischen Gruppierungen in der Bundesrepublik" appelliert hatte, zur Europawahl eine gemeinsame Liste aufzustellen. 67 Wahlprogramm In ihrem Programm lehnte die Partei einen europäischen Bundesstaat ab. Sie forderte - mit der NPD im Wesentlichen übereinstimmend - ein "Europa der souveränen Vaterländer, das sich auf die Staaten Europas zu beschränken hat". Wahlkampfaktivitäten Die DP bot im Internet Flugblätter und Flyer zum Herunterladen an, die mit den Parolen "DPEndlich Politik für Deutschland!!!" und "Aufwachen ... bevor es zu spät ist" überschrieben waren und eine Kurzfassung des Wahlprogramms enthielten. Sie wurden in Erfurt und während der Demonstration der NPD am 5. Juni in Schleusingen verteilt. Am 8. Mai führte der Landesverband Thüringen der DP in Bad Frankenhausen eine Wahlkampfveranstaltung durch, um Mitglieder und Sympathisanten für den Wahlkampf zu gewinnen. Bewertung des Wahlergebnisses Die Wahlen gingen für die DP enttäuschend aus. Bundesweit erreichte sie nur 0,2 %, in Thüringen 0,3 % der Stimmen, womit sie weit hinter der NPD und den "Republikanern" zurückblieb. Fazit Die NPD und die "Republikaner" erhielten erheblich mehr Stimmen als im Jahre 1999. Sie gewannen einerseits Protestwähler für sich, indem sie die Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung mit der wirtschaftlichen und sozialen Lage artikulierten und eindeutige Schuldzuweisungen ableiteten. Sie zogen andererseits aus der niedrigen Wahlbeteiligung, die im Vergleich mit 1999 weiter zurückgegangen war, Nutzen. Die DP hingegen hat ihr Ziel verfehlt, sich in Thüringen zu einer politischen Größe von Gewicht zu entwickeln und aus der politischen Bedeutungslosigkeit herauszugelangen. Abermals gelang es den rechtsextremistischen Parteien jedoch nicht, genug Stimmen auf sich zu vereinen, um in den Thüringer Landtag oder das Europäische Parlament einzuziehen. Aufgrund der traditionellen Zersplitterung des rechtsextremistischen Lagers blieben sie weit davon entfernt, die 5 %-Hürde zu überwinden, um in diesen Volksvertretungen Sitz und Stimme zu erhalten. Ihre Ansichten und Ziele, die den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widersprechen, werden nach wie vor von der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. 6. Sonstige Gruppierungen In Thüringen traten im Berichtszeitraum wiederholt sonstige überregionale rechtsextremistische Gruppierungen auf. Sie wählten den Freistaat vor allem aufgrund seiner zentralen Lage in der Mitte Deutschlands als Veranstaltungsort. Die Personen, die an den Veranstaltungen dieser Gruppierungen teilnahmen, stammten überwiegend aus anderen Bundesländern. Inhaltlich reicht das Spektrum der im Folgenden dargestellten Gruppierungen vom germanischheidnischen über den neonazistischen bis hin zum "intellektuellen" Rechtsextremismus. 68 6.1 "Die Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesengemäßer Lebensgestaltung e.V." (Artgemeinschaft) Die germanisch-heidnische "Artgemeinschaft" wurde 1951 gegründet und hat ihren Sitz in Hamburg. Sie versteht sich als Glaubensbund, der "die Kultur der nordeuropäischen Menschenart" bewahren, erneuern und weiterentwickeln will und verbindet heidnischgermanische Glaubensansätze mit rassistischen Vorstellungen. Ihr gehören bundesweit ca. 150 Mitgliedern an, von denen etwa 10 aus Thüringen kommen. Die "Artgemeinschaft" gibt die "Nordische Zeitung" sowie eine Schriftenreihe heraus und verfügt über eine eigene Internetseite. Ihr Vorsitzender, der Hamburger Rechtsanwalt Jürgen RIEGER, zählt seit Jahren zu den aktivsten Rechtsextremisten Deutschlands. Die "Artgemeinschaft" führte auch 2004 wieder regelmäßig überregionale "Gemeinschaftstagungen" um die Tagund Nacht-Gleichen, die Sommersonnenwende und Anfang Dezember in Nordthüringen durch. Die Teilnehmer kamen nahezu aus dem gesamten Bundesgebiet. Unter ihnen befanden sich auch ehemalige und noch aktive Aktivisten der rechtsextremistischen Szene. Die geschlossenen Veranstaltungen wirkten nach außen zum Teil wie Volksfeste und gesellige Familienveranstaltungen, in denen germanisches Kulturerbe gepflegt wird. Dieser harmlos anmutenden Lagerfeuerromantik stehen allerdings eindeutig rechtsextremistische Ideologieelemente im Regelwerk der "Artgemeinschaft" entgegen. So gebietet das "Sittengesetz unserer Art" den Mitgliedern u.a., sich für die "Wahrung, Einigung und Mehrung germanischer Art" einzusetzen, "dem besseren Führer Gefolgschaft" zu leisten und eine "gleichgeartete Gattenwahl (als) Gewähr für gleichgeartete Kinder" zu treffen. 6.2 "Die Deutsche Freiheitsbewegung e.V. (DDF) - Der Bismarck Deutsche" "Die Deutsche Freiheitsbewegung e.V. (DDF) - Der Bismarck Deutsche" stellt eine neonazistische Organisation dar, die nationalistisches, rassistisches und antisemitisches Gedankengut verbreitet. Sie war 1983 von dem ehemaligen zweiten Vorsitzenden der verbotenen "Sozialistischen Reichspartei" (SRP), Otto Ernst REMER, gegründet worden. Die Aktivitäten der Organisation beschränken sich nahezu ausschließlich darauf, die Zweimonatsschrift "Recht und Wahrheit", die Artikel von rechtsextremistischen Autoren und Verlegern publiziert, herauszugeben und einbis zweimal jährlich "Recht und Wahrheit-Lesertreffen", deren Teilnehmer dem gesamten rechtsextremistischen Spektrum angehören, zu veranstalten. Für die Lesertreffen trägt der ehemalige Vorsitzende der NPD, Günter DECKERT, die Verantwortung. Solche Lesertreffen finden in Nordthüringen bereits seit 1997 statt. Die Frühjahrstagung fand vom 7. bis 9. Mai, die Herbsttagung vom 22. bis 24. Oktober statt. An ihnen beteiligten sich jeweils bis zu 100 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet, unter denen sich nur wenige Personen aus Thüringen befanden. Die Bedeutung, die die "Recht und Wahrheit"-Lesertreffen für die rechtsextremistische Szene Thüringens besitzen, ist nur gering. Dies hat seine Ursache in dem von den Initiatoren geübten Verzicht auf größere Außenwirkung, in der Auswahl sowie der intellektualisierenden Betrachtungsund Behandlungsweise der jeweils angeschnittenen Themen. 6.3 "Gesellschaft für Freie Publizistik e.V." (GFP) Die GFP, die 1960 von ehemaligen Offizieren der SS und Funktionären der NSDAP gegründet wurde, stellt die größte rechtsextremistische Kulturvereinigung dar. Sie versteht sich als überparteiliche Sammelorganisation von Rechtsextremisten, die im publizistischen Bereich 69 aktiv sind. Überwiegend setzen sich ihre etwa 500 Mitglieder aus Verlegern, Journalisten, Redakteuren, Autoren, Buchhändlern und Wissenschaftlern zusammen. Die GFP verbreitet ausländerfeindliche und nationalistische Ansichten. Sie organisiert Vortragsveranstaltungen und einen Jahreskongress, auf dem bekannte Wortführer des rechtsextremistischen Spektrums als Referenten auftreten, und gibt die Schrift "Das Freie Forum" heraus. Die GFP hielt vom 23. bis 25. April unter dem Motto "Die neue Achse - Europas Chance gegen Amerika" in Friedrichroda ihren Jahreskongress ab, an dem weit mehr als 200 Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet mitwirkten. Aus dem rechtsextremistischen Spektrum Thüringens nahmen nur wenige Personen teil. Der Jahreskongress der GFP ist für das rechtsextremistische Spektrum nur von geringer Bedeutung. Von ihm gehen weder aktionistische Impulse noch ideelle Anregungen aus, die auf die rechtsextremistische Szene im Ganzen nachhaltig einwirken. 6.4 "Intellektueller" Rechtsextremismus - "Deutsches Kolleg" (DK) Seit den achtziger Jahren arbeitet eine Strömung des rechtsextremistischen Spektrums darauf hin, völkische und nationalistische Ordnungsvorstellungen intellektuell und wissenschaftlich zu fundieren. Die Wortführer dieser Strömung, die als "Neue Rechte" bezeichnet wird, richteten Gesprächskreise ein, hielten Seminare und Kongresse ab und gaben programmatische Schriften sowie Zeitschriften heraus, um den "Kampf um die Köpfe" zu gewinnen. Denn erst dann, meinen sie, könne es infolge einer "Revolution von rechts" gelingen, die Macht im Staat an sich zu ziehen. Der "Neuen Rechten" ist es jedoch bisher nicht gelungen, ihre Ideen zur Geltung zu bringen. Es gelang dieser Strömung nicht einmal ansatzweise, einen öffentlichen Diskurs anzustoßen, um eine "kulturelle Hegemonie" zu erlangen. Ebenso wenig vermochte sie, ihre Gedanken im rechtsextremistischen Spektrum durchzusetzen. Zirkel, die die Ansichten der "Neuen Rechten" verbreiteten, lösten sich auf oder stagnierten auf niedrigem Niveau. Publikationen dieser Richtung wurden eingestellt oder nur noch in unregelmäßigen Abständen herausgegeben. In Thüringen kommt dem Bereich des "intellektuellen" Rechtsextremismus nur eine geringe Bedeutung zu. Thüringer Rechtsextremisten führen weder Gesprächszirkel durch noch geben sie Schriften heraus, um die Vorstellungen der "Neuen Rechten" zu verbreiten. Der Freistaat wird aber - u.a. vom "Deutschen Kolleg" - für Tagungen als Veranstaltungsort genutzt. Das "Deutsche Kolleg" stellt ebenso wie die "Deutsche Akademie" einen rechtsextremistischen Theoriezirkel dar. Das "Deutsche Kolleg", das rassistische und antisemitische Ansichten vertritt, versteht sich als "Denkorgan des Deutschen Reiches". Es wird von Horst MAHLER, Dr. Reinhold OBERLERCHER sowie Uwe MEENEN geführt. Seine zentrale Aufgabe sieht es darin, die "nationale Intelligenz" zu schulen, um zur "Wiederherstellung und vollen Handlungsfähigkeit des Deutschen Volkes als Deutsches Reich" beizutragen. Zu diesem Zweck organisierte das "Deutsche Kolleg" in Mosbach bei Eisenach im Berichtszeitraum mindestens drei Veranstaltungen, die u.a. die Themen "Hegels Religionsphilosophie", "System der Sozialwissenschaften" und "Hegels System" zum Inhalt hatten. Das Interesse von Rechtsextremisten an den theoretisch ausgerichteten Schulungen des Kreises hat jedoch abgenommen. An den Veranstaltungen des Zirkels nahmen jeweils nur noch etwa 30 Personen (2003: etwa 60) teil. 70 Da sich zwischen MAHLER und Dr. OBERLERCHER im Berichtszeitraum erhebliche Differenzen ergeben haben, ist es fraglich, ob die Veranstaltungen des "Deutschen Kollegs" in der bisherigen Form in Thüringen von Bestand sein werden. Veranstaltungen der "Deutschen Akademie" wurden 2004 im Freistaat nicht festgestellt. Auch sie hatte wie das "Deutsche Kolleg" in den vergangenen Jahren in Mosbach bei Eisenach Schulungen organisiert. 7. Politisch motivierte Kriminalität - Rechts - im Überblick Die im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - Rechts - in den Jahren 2002, 2003 und 2004 in Thüringen begangenen Straftaten lassen sich wie folgt darstellen54: Straftaten 2002 2003 2004 insgesamt 913 774 591 davon im Einzelnen: Propagandadelikte 745 611 392 Gewaltkriminalität55 57 48 36 Volksverhetzungen 82 80 80 Sachbeschädigungen 12 18 27 Sonstige 17 17 56 Im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - Rechts - ist die Anzahl der Straftaten im Jahr 2004 insgesamt abermals zurückgegangen. So wurden in Thüringen 183 Delikte weniger als im Jahr 2003 registriert, was einem Rückgang um 23,6 % gleichkommt. Der seit 2000 deutlich rückläufige Trend der Fallzahlen im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - Rechts - setzte sich somit fort. Diese Entwicklung spiegelt sich auch im Hinblick auf die Straftaten wider, die der "Gewaltkriminalität" zuzuordnen sind. Sie sind auf 36 (2003: 48) gefallen und wurden überwiegend vor einem extremistischen Hintergrund begangen. Die Anzahl der "Propagandadelikte", die nach wie vor den Schwerpunkt im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - Rechts - bilden, ist im Vergleich mit dem Vorjahr besonders deutlich gesunken. Aufgrund der Erfahrungen, die in den letzten Jahren gesammelt wurden, weisen etwa 75 % der "Propagandadelikte" einen extremistischen Hintergrund auf. Die fremdenfeindlichen und antisemitischen Straftaten, die sich auf unterschiedliche Delikte verteilen, sind insgesamt im Vergleich mit dem Jahr 2003 von 145 auf 133 zurückgegangen. 54 Quelle: Thüringer Landeskriminalamt (LKA) 55 Die politisch motivierte Gewaltkriminalität umfasst Tötungsdelikte, Körperverletzungen, Brandund Sprengstoffdelikte, Landfriedenbruch, gefährliche Eingriffe in den Schiffs-, Luft-, Bahnund Straßenverkehr, Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsund Sexualdelikte. 71 III. Linksextremismus 1. Überblick Bundesweit umfasst das Potenzial der revolutionären Marxisten etwa 25.700 Personen. Hinzu kommen ca. 5.500 Personen, die die Verfassungsschutzbehörden der gewaltbereiten linksextremistischen Szene zurechnen. Etwa 5.000 von ihnen sind Autonome. Diese Zahlen entsprechen im Wesentlichen den Werten des Vorjahrs. Die verschiedenen Auszweigungen der Szene stagnierten somit auf dem bereits 2002 erreichten Niveau. Zusätzlich gelingt es gewaltbereiten Linksextremisten unverändert, für anlassbezogene, überregionale Aktionen und Demonstrationen mehrere tausend Personen zu mobilisieren. Im Freistaat Thüringen bezifferte sich das Potenzial der gewaltbereiten autonomen Szene auf etwa 150 Personen. In der gleichen Größenordnung gelang es, zusätzlich Personen für Aktionen der Szene zu mobilisieren. Entsprechend dem bundesweiten Trend stagnierte die Anzahl der gewaltbereiten Autonomen und ihrer Sympathisanten somit auf dem Stand des Jahres 2002. Die in Thüringen agierenden marxistisch-leninistischen Parteien und Organisationen vermochten trotz ihrer Bemühungen, vor allem jüngere Menschen für eine Mitarbeit bzw. Mitgliedschaft zu gewinnen, das Potenzial ihrer Mitglieder bzw. Anhänger nicht zu steigern. Geschätzte Mitgliederbzw. Anhängerpotenziale in Thüringen Freistaat Thüringen Bund 2002 2003 2004 2004 KPF der PDS 100 50-100 50 1.000 DKP 50 50 50 4.500 MLPD 50 50 50 2.000 KPD wenige Mitgl. wenige Mitgl. wenige Mitgl. 200 Gewaltbereite Linksextremisten/ 150 150 150 5.000 Autonome Die Lage im Freistaat Thüringen stellte sich 2004 in Bezug auf das linksextremistische Spektrum wie folgt dar: Nennenswerte Veränderungen, die die von Linksextremisten ausgehenden Bestrebungen und das Potenzial der autonomen Szene betreffen, haben sich in Thüringen nicht ergeben. Sowohl das Mobilisierungspotenzial der Szene als auch die Anzahl der gewaltbereiten Linksextremisten sind in Thüringen ebenso weitgehend gleich geblieben wie im gesamten Bundesgebiet. Nach wie vor repräsentiert das Netzwerk "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG), in dem sich die regionalen Gruppen und Zusammenschlüsse der Thüringer Szene überwiegend organisieren, das autonome Spektrum in Thüringen. Die Zahl, die Art und die Intensität der Aktivitäten, die auf die Autonomen zurückgingen, die der Szene immanente Neigung zu Strafund Gewalttaten, die von ihr eingesetzten Kommunikationsmittel und die bevorzugten thematischen Schwerpunkte blieben im Wesentlichen gleich. Akzentverschiebungen hinsichtlich der jeweils gewählten, letztlich jedoch traditionellen Themenfelder ergaben sich aus der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung. Ebenso wenig veränderten sich auch die Aktivitäten der marxistisch-leninistischen Parteien und Organisationen. Ihre Aktio72 nen wurden, sofern sie überhaupt in der Öffentlichkeit in Erscheinung traten, kaum wahrgenommen. Das autonome Spektrum und die linksextremistischen Parteien unterhielten auch im Jahr 2004 Kontakte, die über Thüringen hinausreichten. 2. Ideologischer Hintergrund Das in sich breit gefächerte linksextremistische Spektrum vertritt im Einzelnen ideologisch voneinander abweichende Positionen. Es schließt Anhänger der "wissenschaftlichen Sozialismusund Kommunismustheorien" ebenso ein wie Sozialrevolutionäre, Anarchisten und Autonome. Die Werke von MARX, ENGELS, LENIN, von STALIN, TROTZKI und MAO TSE-TUNG stellen die Grundlage der unterschiedlichen Anschauungen und theoretischen Gebilde dar. Gemeinsam ist den Linksextremisten das Ziel, die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Ihre - wie unterschiedlich auch immer gearteten - Bestrebungen richten sich letzten Endes gegen grundlegende Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Linksextremisten streben entweder ein marxistisch-leninistisches Staatsgebilde oder eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" an. Sie verbindet das Bekenntnis zur revolutionären Gewalt, zum Klassenkampf und zur Klassenherrschaft. Ihr Grundsatz, dass sich die von ihnen angestrebten gesellschaftlichen Veränderungen nur durch den Einsatz revolutionärer Gewalt vollziehen lassen, wird aus taktischen Gründen oft verschwiegen. Bei tagespolitischen Auseinandersetzungen greifen sie häufig zu legalen, gewaltfreien Formen des politischen Engagements. Das erleichtert es den Linksextremisten, auf bestimmten Politikfeldern auch Bündnispartner zu finden, die extremistischen Methoden im Grunde genommen abgeneigt sind. Die eigene extremistische Ausrichtung wird bewusst verschleiert. 3. Marxistisch-leninistische Parteien und Organisationen 3.1 "Kommunistische Plattform" (KPF) der "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) Gründung: 1989 Sitz: Berlin Anhänger: mehr als 1.000 (Bund) ca. 50 (Thüringen) Publikationen: "Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der PDS" (monatlich) Das Statut der PDS bietet die Möglichkeit, im Rahmen der Partei Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften zu bilden. Sie sind integraler Bestandteil der Partei. Sie bieten der PDS, die sich als linke "Strömungspartei" versteht, Ansatzpunkte für eine breite Bündnisund Integrationspolitik. Eine Vereinigung dieser Art stellt die am 30. Dezember 1989 in der damaligen SED-PDS gegründete KPF dar, die sich ihrer Satzung gemäß als "ein offen tätiger Zusammenschluss von Kommunistinnen und Kommunisten in der PDS" definiert. Als marxistisch-leninistische Organisation, die sich eindeutig zum Kommunismus bekennt, arbeitet sie eng mit der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) und weiteren Personenzusammenschlüssen zusammen. Sie ist "offen für alle, unabhängig von parteilicher und sonstiger politischer Bindung", sofern "Mehrheitsbeschlüsse der KPF" und das Statut der PDS akzeptiert werden. Im Rahmen des von ihr angestrebten "breiten linken Bündnisses" geht es ihr insbesondere darum, "die Zusammenarbeit mit allen ..., die mit dem Ziel einer sozialistischen Alternative zum bestehenden kapitalistischen System aktiv in politischen, sozialen und anderen Auseinandersetzungen der Gegenwart stehen", herzustellen. 73 Die KPF wird auf Bundesebene von einem Bundeskoordinierungsrat geleitet und vom Bundessprecherrat vertreten. Auf Landesebene sind adäquate Organe tätig. Das höchste Gremium der KPF bildet die Bundeskonferenz, die laut Satzung mindestens einmal jährlich einzuberufen ist. Sie beschließt die politischen Leitlinien der KPF und wählt den Bundeskoordinierungsbzw. Bundessprecherrat. In Thüringen konstituierte sich die KPF im März 1993. Auch im Berichtszeitraum kämpfte die KPF unbeirrt für eine Fortsetzung marxistischleninistischer Politik in der PDS. Sie sprach sich wiederholt für eine "konsequente Opposition", d.h. gegen die Regierungsbeteiligungen der Partei in Berlin und MecklenburgVorpommern aus, da diese "in erster Linie Glaubwürdigkeit und Stimmen" kosteten. Auch künftig will sie das "solidarische Zusammenwirken" mit parteiinternen Zusammenschlüssen wie dem "Marxistischen Forum"56 und dem "Geraer Dialog"57 intensivieren, um den "pluralen Charakter der Partei" zu erhalten. Die KPF kündigte daher an, sich "allen Versuchen, die Pluralität in der PDS neben den nunmehr prinzipiellen programmatischen Einschränkungen auch strukturell in Frage zu stellen, konsequent" zu widersetzen. Sie tritt zudem dafür ein, "daß die PDS in Abstimmung mit Friedensund anderen Bürgerbewegungen, Verbänden und Organisationen eine Kampagne zur Aufklärung über den militarisierten und asozialen Inhalt des Entwurfs der EU-Verfassung und zur Unterstützung der Forderung nach einem Referendum über diese Verfassung entwickelt". Eine weitere wichtige Aufgabe sieht die KPF darin, auch künftig "alles in der PDS" zu "unterstützen, was auf die Zusammenarbeit für fortschrittliche Gesellschaftsveränderung in sozialen und Antikriegsbewegungen gerichtet ist und selbst eine entsprechende Bündnisarbeit" zu leisten. Auf der 1. Tagung der 12. Bundeskonferenz der KPF im März wurden sowohl der Bundeskoordinierungsals auch der Bundessprecherrat neu gewählt. Dem 21 köpfigen Bundeskoordinierungsrat gehören seither drei Vertreter aus Thüringen an. Sahra WAGENKNECHT, die Mitglied des Bundeskoordinierungsrates ist, gewann eines der sieben Mandate der Partei im Europäischen Parlament. Sie ist ebenfalls wieder im neuen, auf der 1. Tagung des 9. Parteitages der PDS in Potsdam gewählten Bundesvorstand vertreten; für sie stimmten 61,1 % der Delegierten. Ein u.a. von Vertretern der KPF auf dieser Tagung eingebrachter alternativer Leitantrag, mit dem die PDS stärker auf eine Oppositionspolitik festgelegt werden sollte, wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Die KPF Thüringen trat in diesem Jahr öffentlich kaum in Erscheinung. Im Vergleich zum Vorjahr verlor sie weiter an Mitgliedern, womit sich der Abwärtstrend im Berichtszeitraum fortsetzte. 3.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung: 1968 Sitz: Essen Vorsitzender: Heinz STEHR Mitglieder: ca. 4.500 (Bund) ca. 50 (Thüringen) Publikationen: "Unsere Zeit" (UZ, wöchentlich) 56 Das "Marxistische Forum der PDS", das im Juli 1995 gegründet wurde, ist ein Zusammenschluss kommunistisch orientierter Mitglieder und Sympathisanten der PDS. 57 Der "Geraer Dialog in und bei der PDS" konstituierte sich im Februar 2003 und benannte sich im November desselben Jahres in "Geraer Dialog/Sozialistischer Dialog" um. 74 Die DKP wurde 1968 gegründet. Sie versteht sich als Nachfolgerin der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD). Ihr Parteiprogramm stammt aus dem Jahr 1978. In den auf dem 12. Parteitag der DKP im Jahr 1993 beschlossenen "Thesen zur programmatischen Orientierung der DKP" charakterisiert sie sich "als Partei der klassenbewussten und klassenkämpferischen Arbeiterklasse". Ihre Politik basiert "auf der materialistischen Wissenschaft ..., die von Marx und Engels begründet und von Lenin und anderen Marxistinnen und Marxisten weiterentwickelt wurde". Im Klassenkampf sieht sie "die zentrale Triebkraft der Geschichte", in der Arbeiterklasse "die entscheidende soziale Kraft für den gesellschaftlichen Fortschritt" und "im Sozialismus die Zukunft". Den "Hauptgegner der Arbeiterklasse in Deutschland und der DKP" stellt für sie "der deutsche Imperialismus" dar. Die "Hauptaufgabe" der Partei bildet demzufolge der Kampf für "eine Politik, die konsequent antikapitalistisch ist ... und die mit monopolkapitalistischen Eigentumsverhältnissen brechen will". Die DKP Thüringen, die im Januar 1996 gegründet wurde, umfasst nach eigenen Angaben vier Regionalgruppen. Der Koordinierungsrat, der von der Landesmitgliederversammlung gewählt wird, bildet das Führungsgremium. Die DKP beteiligt sich an den Wahlen zum Europäischen Parlament Die DKP beschloss im Januar auf einer Wahlkonferenz, unter dem Motto "Ein anderes Europa ist möglich!" erstmals seit 1989 mit einer eigenen Liste an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen. Sie begründete diesen Schritt damit, dass "es auch bei diesen Wahlen nicht zur Bündelung und Sammlung aller antikapitalistischen und linken Kräfte in Form eines Wahlbündnisses" gekommen und es notwendig sei, als "antikapitalistische gesellschaftsverändernde Kraft auch in diesem Wahlkampf als Teil der europaweiten kommunistischen Bewegung" präsent zu sein. Der Vorsitzende der DKP, Heinz STEHR, zeigte sich insbesondere enttäuscht darüber, dass es "von Seiten der PDS ... keine erkennbare Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei dieser Wahl" gegeben habe. "Angesichts der von der PDS mitzuverantwortenden Regierungspolitik in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern, ihrer Mithilfe beim Sozialabbau, ihrer widersprüchlichen Haltung zum EU-Verfassungsentwurf und ihrer DKP-Mitglieder ausgrenzenden Haltung" sei es, erklärte er, diesmal nicht möglich, wie 1999 zur Wahl der PDS aufzurufen. Gleichzeitig hoffte die Partei darauf, die Europawahlen für eine "Profilierung der DKP-Politik und zur Stärkung der UZ und DKP" nutzen zu können. In ihrem Wahlprogramm forderte die DKP vor allem ein "Europa der internationalen Partnerschaft und Solidarität", das nicht zur Militärmacht ausgebaut wird, junge Menschen fördert und ihnen bessere Zukunftsaussichten eröffnet, den Sozialabbau und die Massenarbeitslosigkeit stoppt, die Demokratie und den Sozialstaat erneuert und koordinierter als früher gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus vorgeht. Die Bundesliste mit dem Spitzenkandidaten Heinz STEHR umfasste 34 Kandidaten, darunter zwei Personen aus Thüringen. Für die DKP votierten bei der Europawahl bundesweit lediglich 37.160 Wähler (0,1 %); in Thüringen erhielt sie 1.747 Stimmen (0,2 %). Der Vorstand der DKP erklärte, "ein bescheidenes, aber nicht unerwartetes Ergebnis erzielt" zu haben. In den erhaltenen Stimmen sah er eine "Zustimmung zu unserer vorrangigen Orientierung auf die Sammlung aller Linkskräfte für den weiteren außerparlamentarischen Kampf gegen die derzeitige und künftige EU-Politik" und "zu einer Politik, die vor allem auf eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus setzt" sowie auf "eine Widerspiegelung des politischen Bewusstseins des linken Protestpotentials". Auch den Wahlkampf bewertete die DKP insgesamt als Erfolg. Die Bilanz "an gewonnenem politischen Einfluss, an neu eingetre75 tenen Mitgliedern und gewonnenen "UZ"-Abonnenten sowie an Wählerstimmen" sei ermutigend. Die DKP beklagt chronische Finanzprobleme Die chronischen Finanzprobleme der DKP dauerten auch in diesem Jahr unvermindert an. Am 1. September startete die Partei die Kampagne "Die UZ muss Wochenzeitung bleiben!", um Spenden und neue Abonnenten zu gewinnen. Die Aktion soll in zwei Etappen bis Ende Juni 2005 fortgeführt werden. Die DKP formulierte "abrechenbare Ziele", die sie mit der Kampagne erreichen will. Sie strebt an, Spenden in Höhe von 30.000 Euro für die "UZ" zu sammeln, 700 Abonnenten zu gewinnen, Aktionsverkäufe deutlich zu steigern, mehr "UZ"Anzeigen in Stadtund Betriebszeitungen der DKP zu schalten sowie mehr Förderund Geschenkabos einzuwerben. In einem Interview ging der Geschäftsführer des CommPress-Verlages auf die Kampagne ein und zog eine ernüchternde Bilanz: "Beim Sprung zur Wochenzeitung hatten wir als untere Machbarkeitsgrenze 8.000 zahlende Abonnenten errechnet. Jetzt liegen wir ca. 1.500 Abos darunter und erscheinen immer noch wöchentlich, u.a. weil wir schmerzhaft sparen. Aber es gibt kaum noch Einsparungsmöglichkeiten und keine zusätzlichen Einnahmequellen. Im Unterschied zu anderen Publikationen sind bei uns die Abo-Gelder die wichtigste Einnahmequelle." Angesichts der andauernden Finanzkrise und der Tatsache, dass sich die Partei nach eigenen Angaben "zu rund 45 Prozent aus Mitgliedsbeiträgen und knapp 50 Prozent aus Spenden und Zuschüssen" finanziert, warb der Parteivorstand in der "UZ" um Testamente zugunsten der Partei: "Genossinnen und Genossen, die keine Kinder oder direkte Verwandtschaft haben, ... sollten sich überlegen, ob sie ihren finanziellen Nachlass ... in Form eines Testamentes oder einer Nachlassverfügung der Partei für die politische Arbeit zukommen lassen." Auch 2004 wurde die Partei in Thüringen kaum wahrgenommen. Ihre personellen und finanziellen Probleme dauerten offenbar an. Im März fand in Bad Sulza ein Bildungswochenende statt, das "die Entwicklung der BRD von ihren Anfängen bis zur gewaltsamen Wiedervereinigung ..." und daraus resultierende "Schlußfolgerungen ... für einen erfolgreich zu führenden Klassenkampf ... zur Schaffung eines neuen sozialistischen Deutschlands" thematisierte. Die Veranstaltung, die von einem Mitglied der Programmkommission der DKP geleitet wurde, hatten u.a. die DKP Thüringen und der "Rote Tisch Ostthüringen" organisiert. 3.2.1 "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) Die formal selbstständige, jedoch mit der DKP eng verbundene Jugendorganisation SDAJ zählt bundesweit etwa 350 Mitglieder. In Thüringen, wo sie seit 1996 existiert, ist sie nur mit wenigen Mitgliedern vertreten. Im Gegensatz zu den vier regionalen Pfingstcamps 2003 organisierte die SDAJ in diesem Jahr wieder ein zentrales Pfingstcamp, das vom 28. bis 31. Mai auf den Rheinwiesen in Köln stattfand. An dem Camp sollen mehr als 380 Jugendliche teilgenommen haben. Am 9./10. Oktober fand unter dem Leitspruch "100 Jahre Arbeiterjugendbewegung verpflichten: Ausbildung statt Ausbeutung! Keinen Menschen und keinen Cent dem Militär! Kein Fußbreit den Faschisten!" in Hannover der 17. Bundeskongress der SDAJ statt. Der Kongress soll eigenen Angaben zufolge zwei wesentliche Beschlüsse gefasst haben: Erstens legte er sich darauf fest, unter dem Motto "Ausbilden statt Ausbeuten (AsA!)"eine breit angelegte "Kampagne gegen Ausbildungsplatzkiller" zu starten. Zweitens beschloss er, für die "16. 76 Weltfestspiele der Jugend und Studenten" 2005 in Caracas/Venezuela zu mobilisieren. Mit der AsA!-Kampagne, deren offizieller Start für Januar 2005 geplant war, wendet sich der Verband in erster Linie an Jugendliche, die einen Ausbildungsplatz suchen. Ihnen soll vermittelt werden, "dass die Unternehmer ihnen ihr Recht auf qualifizierte Ausbildung und eine freie Berufswahl vorenthalten und der einzige Weg, das zu ändern, der Weg des Sozialismus ist". Anhand eines vom Kongress beschlossenen "Berufsausbildungsgesetzes", das 16 Forderungen umfasst, will die SDAJ ihre Alternativen propagieren und "Lehrstellenkiller, vor allem die Großbetriebe" anklagen. Das eigentliche Ziel der Kampagne besteht nach eigenen Angaben jedoch darin, die "Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften zu erweitern ..., die SDAJ im Arbeiterjugendpolitik-Bereich inhaltlich weiter zu entwickeln und den Anteil Arbeiterjugendlicher in unseren Reihen zu erhöhen." Die Delegierten wählten außerdem einen neuen Bundesvorstand, der sich aus 29 Personen zusammensetzt. An dessen Spitze soll nicht mehr ein Vorsitzender, sondern eine kollektive, sieben Personen umfassende Bundesgeschäftsführung stehen. 3.3 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung: 1982 Sitz: Gelsenkirchen Vorsitzender: Stefan ENGEL Mitglieder: mehr als 2.000 (Bund) ca. 50 (Thüringen) Publikationen: "Rote Fahne" (wöchentlich) Die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) wurde 1982 in Bochum gegründet. Sie "wendet den Marxismus-Leninismus und die Maotsetungideen schöpferisch auf die heutige Situation an". Sie bezeichnet sich in der Präambel ihrer "Organisationspolitischen Grundsätze" "als politische Vorhutorganisation der Arbeiterklasse in Deutschland", deren "grundlegendes Ziel ... der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft" bildet. In ihrem Programm, das die MLPD 1999 auf dem "Gelsenkirchener Parteitag" beschlossen hat, führt sie ergänzend aus: "Die Eroberung der politischen Macht ist das strategische Ziel des Klassenkampfes der Arbeiterklasse. Die MLPD hat die Aufgabe, die entscheidende Mehrheit der Arbeiterklasse für den Sozialismus zu gewinnen und ihre Kämpfe in einem umfassenden, gegen das Monopolkapital und seinen Staat als politisches Herrschaftsinstrument gerichteten Kampf höherzuentwickeln. ... Der Kern der revolutionären Taktik der MLPD besteht darin, den wirtschaftlichen mit dem politischen Kampf zu verbinden bzw. den wirtschaftlichen in den politischen Kampf umzuwandeln und den Klassenkampf auf das sozialistische Ziel hin auszurichten." Im linksextremistischen Lager ist die MLPD ihrer sektiererischen Haltung wegen isoliert. Thüringen gehört dem Landesverband Elbe-Saale an, der Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen umfasst. Die Städte Eisenach und Sonneberg bilden im Freistaat die organisatorischen Schwerpunkte der Partei. Auch der Jugendverband "REBELL" und die Kinderorganisation "Rotfüchse", die Nebenorganisationen der Partei darstellen, sind in Thüringen vertreten. Auf dem VII. Parteitag der MLPD bildete der "erfolgreiche Parteiaufbau", berichtete das Zentralorgan "Rote Fahne", einen Gegenstand intensiver Beratungen. So sollen die MLPD und ihr Jugendverband "REBELL" inzwischen in 450 Städten und Regionen in allen Bundes77 ländern vertreten sein. Und in den letzten vier Jahren habe die Anzahl der Mitglieder um 13,2 % zugenommen. "Mit berechtigtem Stolz" habe der so genannte "Magdeburger Parteitag" "die theoretische Arbeit seines Zentralkomitees" bestätigt. Die Partei habe sich u.a. mit den Büchern "Neue Perspektiven für die Befreiung der Frau" und "Götterdämmerung über der neuen Weltordnung" weit über die eigenen Reihen hinaus Respekt für ihre wissenschaftliche Arbeit erworben. Ein Thema des Parteitags bildete auch das Engagement der Partei "in der neuen Friedensbewegung, insbesondere im Kampf gegen den Irak-Krieg, oder im Widerstand gegen die Politik des sozialen Raubzugs der Bundesregierung mit ihrer Agenda 2010". Die MLPD sei auf diesen Gebieten "zu einer anerkannten Kraft in der kämpferischen Opposition in Deutschland geworden". Sie habe es "gelernt, Massen zu bewegen und zu führen". Die Partei will den "Kampf um gesellschaftliche Positionen in den verschiedensten Massenbewegungen" führen, um ihre "relative Isolierung" nachhaltig zu durchbrechen. Gleichermaßen verfolgt sie das Ziel, sich "neu entstehenden Feldern" wie der "neuen Rentnerund Arbeitslosenbewegung" zuzuwenden und "an der Entstehung einer neuen Umweltbewegung" mitzuwirken. Der langjährige Vorsitzende der Partei, Stefan ENGEL, wurde in seinem Amt bestätigt. Von April bis Mai führte die MLPD in acht Städten unter dem Motto "Aufbruch für eine echte Perspektive!" Veranstaltungen zum VII. Parteitag durch, um "die Ergebnisse ihres Magdeburger Parteitages mit den Mitgliedern, Freunden und allen interessierten Menschen (zu) diskutieren". An der Veranstaltung in Leipzig sollen auch "Genossen" aus Eisenach teilgenommen haben. Sommercamp in Truckenthal Das traditionelle Sommercamp des MLPD-Jugendverbandes "REBELL" und seiner Kinderorganisation "Rotfüchse" fand unter dem Motto: "Schröder und Fischer bauen ab - wir bauen auf!" in der Zeit vom 17. Juli bis 28. August zum zweiten Mal in der "Ferienund Freizeitanlage Truckenthal" im Thüringer Wald statt. Da das als "Baucamp" deklarierte Sommercamp 2003 nach Aussage der Veranstalter "den Grundstein für die Funktionsfähigkeit der Anlage" gelegt hatte, sah das Lager in diesem Jahr "eine Kombination aus Bau-, Bildungs-, Freizeitund Ausbildungsprogramm" vor. Einen Höhepunkt des Camps bildete das nach eigenen Angaben von über 1.000 Gästen besuchte "2. Großes Waldfest". In einer Ansprache kritisierte ENGEL, dass die bisher beantragten staatlichen Fördergelder für die Anlage nicht genehmigt worden seien. Er kündigte an, "weiterhin alle Hebel für die Gewährung von Fördergeldern in Bewegung" zu setzen. In einem Interview, das ENGEL der parteieigenen Zeitung "Rote Fahne" gab, sprach er sich über das Camp lobend aus: "Mit über 500 Teilnehmern hat sich wieder eine große Zahl von Jugendlichen und Kindern eingefunden zu einem rebellischen gemeinsamen Urlaub in Verbindung mit Aufgaben zum Aufbau der Ferienanlage Truckenthal. Wie letztes Jahr wird auch in diesem Jahr unter fachmännischer Anleitung, mit Disziplin und Begeisterung weiter an der Fertigstellung der Ferienanlage gearbeitet. Dieses Erlernen der körperlichen Arbeit mit industriellen Arbeitsmethoden hat sich als hervorragender Bestandteil der Lebensschule der proletarischen Denkweise bewährt." 3.3.1 "Hartz IV" und die Sozialreformen als Thema von Linksextremisten - die besondere Rolle der MLPD Soziale Fragen gehören traditionell zu den Schwerpunktthemen der marxistisch-leninistischen Parteien und Organisationen. Seit dem zweiten Halbjahr des Jahres 2003 hat der Themenkomplex "Sozialabbau" in den Medien der DKP, KPD und MLPD einen breiten Raum eingenommen. Im Vordergrund der Berichterstattung stand vor allem die Ablehnung der "Agenda 78 2010". Seit Mitte des Jahres 2004 ist besonders die als "Hartz IV" bezeichnete Arbeitsmarktreform in den Fokus linksextremistischer Personenzusammenschlüsse gerückt. Wie auch bei anderen gesellschaftlich relevanten Themenfeldern üblich versuchten sie, die gegen "Hartz IV" gerichtete Protestbewegung zu nutzen, um ihre ideologischen Ansichten einer sensibilisierten Öffentlichkeit bekannt zu machen, für eine Mitarbeit in ihren Organisationen zu werben und der Bewegung schließlich eine dem eigentlichen Ziel - der Errichtung einer sozialistisch bzw. kommunistisch geprägten Gesellschaft - folgende Richtung zu geben. Im August 2004 erreichten die Proteste gegen die Arbeitsmarkreform eine neue Dimension. Im Rahmen von - in Anlehnung an die Demonstrationen des "Wendejahres" 1989 in der DDR - so genannten "Montagsdemonstrationen"58 fanden in der Bundesrepublik zahlreiche spontane Kundgebungen statt, deren Schwerpunkt sich in den fünf neuen Bundesländern und in Berlin befand. Als die Protestwelle von Mitte bis Ende August ihren Höhepunkt erreichte, fanden bundesweit Kundgebungen statt, an denen sich über 130.000 Personen in mehr als 200 Städten beteiligten. Die Demonstrationen wurden von einem breiten Bündnis, das Gewerkschafter, Kirchenvertreter, Sozialverbände, Globalisierungskritiker, Sozialinitiativen und Vertreter anderer Organisationen einschloss, organisiert und getragen. Die weit überwiegende Mehrheit der Teilnehmer vertrat Positionen, die mit extremistischen Anschauungen nichts gemeinsam haben. Die besondere Rolle der MLPD Außerordentlich aktiv, professionell und aufwändig agierte und agitierte die MLPD, die im Berichtszeitraum unter den Slogans "Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir!" bzw. "Weg mit Hartz IV, neue Politiker brauchen wir!" gegen die Reformbestrebungen der Bundesregierung auftrat. Mit Hilfe von ihr initiierter bzw. dominierter "überparteilicher Bündnisse", in denen sie die Meinungsführerschaft besaß, versuchte die MLPD in vielen Orten, die Demonstrationen zu steuern. Die machtund medienorientierte Partei hielt damit an ihrer Strategie fest, einerseits neue Mitglieder und Sympathisanten zu gewinnen und andererseits vor allem ihren Bekanntheitsgrad generell zu steigern sowie ihre "relative Isolation" zu durchbrechen. Auf ihrer Homepage und dem Info-Portal "rf-news" informierte die Partei aus ihrer Sicht zeitnah über die Ereignisse. Ebenso gab sie das Flugblatt "Montagsdemo aktuell" heraus. Der Vorsitzende der Partei, Stefan ENGEL, diagnostizierte bereits am 18. August in einem Interview, das er dem Zentralorgan "Rote Fahne" gab, in gewohnt optimistischer Diktion, "dass sich im Bewusstsein der breiten Massen eine tiefgreifende Veränderung vollzieht". "Der individuelle Unmut", meinte er, "schlägt um in die gemeinsame kämpferische Aktion. Politische Massendemonstrationen prägen mehr und mehr das Bild und kündigen ein Ende der relativen Ruhe im Klassenkampf an. Es ist damit zu rechnen, dass diese Massendemonstrationen zu einer politischen Millionenbewegung werden." Später sollten seiner Ansicht nach "zentralisierte Aktionen, z.B. ein Marsch auf Berlin, durchgeführt werden. ... Das muss auch mit Streiks und Blockaden verbunden werden ... Alles das kann die Regierung erschüttern und dazu führen, dass Hartz wirklich fällt. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass Hartz fällt, ohne dass die Regierung ihren Rücktritt erklären muss. Für die Entwicklung des Klassenbewusstseins und des Kampfs der Massen ist es von größter Bedeutung, dass es gelingt, tatsächlich die Regierung zum Rücktritt zu zwingen." "Neu an diesen Massendemonstrationen ist auch," hob ENGEL hervor, "dass die MLPD darin fest verankert ist und an vielen Orten sogar eine führende und organisierende Rolle übernimmt." Besonders deutlich sichtbar wurde das vom Vorsitzenden der Partei angesprochene Dominanzstreben der Partei in der Bundeshauptstadt. Dort kam es zu Rivalitäten und Kompetenz58 In einigen Thüringer Städten, z.B. der Landeshauptstadt Erfurt, gab es "Donnerstagsdemonstrationen". 79 streitigkeiten zwischen den Aktivisten des Berliner Aktionsbündnisses "Weg mit Hatz IV", dem neben Gewerkschaftern und Globalisierungskritikern auch Mitglieder der DKP und trotzkistischer Organisationen angehörten, und der von der MLPD dominierten Initiative "Montagsdemo gegen 2010". In der Folge fanden fast immer zwei voneinander getrennte "Montagsdemonstrationen" statt. Die Kontrahenten bezichtigten sich in den Medien gegenseitig der Ausgrenzung, inszenierter Abstimmungen, fehlender Legitimation und der Vereinnahmung bzw. Spaltung der Bewegung. Auch Angehörige anderer Aktionsbündnisse bezeichneten die MLPD als "mao-stalinistische Sekte", die die Protestbewegung gezielt unterwandern und "feindlich übernehmen" wolle. Die Streitigkeiten um den Vorrang innerhalb der Demo-Organisatoren führten dazu, dass am 2. und 3. Oktober in Berlin zwei unabhängig voneinander vorbereitete Großdemonstrationen gegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung stattfanden. Die Demonstration am 2. Oktober wurde vom Berliner Aktionsbündnis "Weg mit Hartz IV" veranstaltet. An ihr beteiligten sich rund 45.000 Personen, darunter etwa 150 Angehörige militanter linksextremistischer Gruppierungen sowie Mitglieder von DKP, SDAJ und FDJ. An einem maßgeblich von der MLPD organisierten "Sternmarsch gegen die Schröder/Fischer-Regierung" am 3. Oktober nahmen etwa 4.000 Personen teil; die Veranstalter hatten jedoch mit weit mehr Teilnehmern gerechnet. Ihre - zumindest zeitweilige - Präsenz in der Medienlandschaft, die von ihrem Protest gegen "Hartz IV" hervorgerufen wurde, verbuchte die MLPD als Erfolg für sich, sei es ihr doch gelungen, die "jahrelange Totschweigepraxis der Massenmedien" zu durchbrechen. Die "relative Isolation" der Partei im linken und linksextremistischen Lager blieb jedoch bestehen. KPD Die KPD hatte bereits im Januar in einem Aufruf an "alle demokratische Kräfte" appelliert, der "Ausplünderungspolitik der Regierung" Widerstand zu leisten. Im August warf sie in ihrem Zentralorgan "Die Rote Fahne" sowie in einem Extrablatt dieser Zeitung der "sozialdemokratischen Regierung" vor, mit der Arbeitsmarktreform "Hartz IV" "auf ihrer Kriegserklärung an die Lohnsklaven des Kapitals" zu bestehen. Die Zeit sei reif, "daß die Menschen sich besinnen, daß sie gemeinsam eine Kraft sind und nicht länger dulden, von den herrschenden Klassen manipuliert und ausgebeutet zu werden". DKP Auch in den Medien der DKP bildete das Thema "Sozialabbau" - insbesondere "Hartz IV" - einen Schwerpunkt der Agitation. In einem Artikel, den die Zeitung "UZ" unter dem Titel "Nicht nur Hartz IV muss weg" herausgab, betonte die stellvertretende Vorsitzende der DKP, Nina HAGER, dass die Aktionen koordiniert und über die Losung "Hartz IV muss weg!" hinaus gemeinsame Forderungen entwickelt werden müssten. "Wenn dies nicht gelingt ist zu befürchten, dass aufgrund der Spontanität und Widersprüchlichkeit vieler Aktivitäten die Proteste verebben." Es gelte auch, "den Widerstand in den Betrieben zu organisieren und mit den Protesten auf der Straße zu verbinden" sowie "Migrantenorganisationen einzubeziehen". "Aus der Sicht nicht nur von uns Kommunistinnen und Kommunisten", regte der Vorsitzende der DKP, STEHR, an, "muss jetzt der Abwehrkampf weiter entwickelt werden zu einem Kampf für einen Politikwechsel. Es gibt keinen Grund, die Schröder/Fischer-Regierung zu schonen. Aber es gibt schon gar keinen Grund, nur deren Ablösung zu fordern. ... Politikwechsel ist weit mehr als ein Personenwechsel!" Ihre Ziele - die denen der revolutionären Marxisten im Ganzen entsprechen - fasste die Partei wie folgt zusammen: "Wir kämpfen dafür, heute Wi80 derstand zu leisten gegen Sozialraub und Demokratieabbau und um Reformen im Interesse der Lohnabhängigen, der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger. ... Wir arbeiten in Betrieben und Gewerkschaften an der Formierung von Gegenwehr. ... Wir setzen uns dafür ein im Bündnis mit anderen fortschrittlichen politischen Kräften eine breite außerparlamentarische Opposition zu schaffen. ... Wir arbeiten mit daran, Bündnisse und Bewegungen zu organisieren, zu stabilisieren, Leute zu mobilisieren und neue Kampfformen zu entwickeln. ... Wir bringen in diese Bewegungen Klassenpositionen ein und machen darauf aufmerksam, dass es letztendlich darum geht, die gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich zu verändern ..." Der Versuch von Linksextremisten, die breite, von demokratischen Gruppen und Organisationen dominierte Protestbewegung für ihre Ziele zu instrumentalisieren, schlug weitgehend fehl. Sie vermochten es nicht, ihre auf den Sturz des politischen Systems der Bundesrepublik gerichteten Vorstellungen innerhalb der Bewegung zur Geltung zu bringen. Jedoch kam die Rivalität innerhalb des linksextremistischen Spektrums um die Führung in der Protestbewegung und in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich zum Vorschein. In Thüringen lösten die Themen "Sozialabbau" bzw. "Hartz IV" in den Reihen der revolutionären Marxisten nur wenige Aktivitäten aus. Vereinzelt beteiligten sie sich jedoch an Veranstaltungen, die sich gegen "Hartz IV" richteten. 3.4 "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD/Ost) Gründung: 1990 Sitz: Berlin Vorsitzender: Werner SCHLEESE Mitglieder: ca. 200 (Bund) wenige Mitglieder (Thüringen) Publikationen: "Die Rote Fahne" (monatlich) Die 1990 im damaligen Ost-Berlin von ehemaligen Mitgliedern der SED "wiedergegründete" KPD bekennt sich zu den Lehren von MARX, ENGELS, LENIN und STALIN. In ihrem 2003 neu gefassten Statut definiert sie sich als "marxistisch-leninistische Partei nach dem Vorbild der Leninschen Bolschewiki", die "fest in der Tradition des Bundes der Kommunisten, des Spartakusbundes, der KPD und SED sowie ihrer hervorragenden Persönlichkeiten" steht. Zu diesen zählt sie u.a. Karl LIEBKNECHT, Rosa LUXEMBURG, Wilhelm PIECK, Ernst THÄLMANN, Walter ULBRICHT und Erich HONECKER. Sie betrachtet sich als "Erbe und Bewahrer der Erfahrungen und Erkenntnisse des Klassenkampfes der revolutionären Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten in Deutschland" sowie "des Besten, was die deutsche Arbeiterklasse bisher erkämpfte, der sozialistischen Erfahrungen und Errungenschaften der DDR". Als ihre Hauptaufgaben sieht es die KPD an, die politischen Macht durch die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten zu erobern, die Diktatur des Proletariats zu errichten, das kapitalistische Eigentum an Produktionsmitteln aufzuheben und es in die Hand des Volkes zu überführen, eine sozialistische Gesellschaft in Deutschland zu errichten sowie einen Arbeiterund Bauernstaat zu schaffen. Der organisatorische Schwerpunkt der Partei befindet sich in den neuen Bundesländern. Die Landesorganisation Thüringen besteht seit April 1993. Der "Kommunistische Jugendverband Deutschlands" (KJVD), der im April 2002 wiedergegründet worden und auch in Thüringen organisatorisch vertreten ist, bildet die Jugendorganisation der KPD. 81 Die KPD nimmt an den Landtagswahlen teil In Thüringen entfaltete die KPD im Berichtszeitraum nur wenige Aktivitäten. Die Landesorganisation beschloss jedoch im Januar auf einer Wahlkonferenz in Erfurt, sich mit einer Landesliste an der Wahl zum 4. Thüringer Landtag zu beteiligen. Die Partei, die im Freistaat erstmals an einer Landtagswahl teilnahm, nominierte acht Kandidaten, darunter zwei Frauen. Auf die Frage, ob "man sich an den bürgerlichen Parlamenten beteiligen" sollte, betonte sie im Zentralorgan "Die Rote Fahne" unter Berufung auf LENINs Klassenkampftheoreme: "Die Parlamentstribüne muß von Kommunisten genauso wie der Wahlkampf dazu benutzt werden, der Arbeiterklasse und den werktätigen Massen die Verlogenheit der bürgerlichen Demokratie zu zeigen." Jedoch lassen sich "auf parlamentarischem Wege", agitierte die KPD, "Machtverhältnisse zu Gunsten der Arbeiterklasse nicht herstellen". Denn zum Sozialismus führe "nun einmal nur der revolutionäre Weg". "Das Einlassen auf die Spielregeln der bürgerlichen Demokratie, gar die Regierungsbeteiligung ist Verrat an der Klasse." In ihrem Wahlprogramm forderte die Partei u.a., das Thüringer Wahlgesetz zugunsten kleinerer Parteien abzuändern, mit parlamentarischen Mitteln "Arbeitsämter auf Korruption und Verschwendung" zu überprüfen sowie dem "politischen Finanzund Arbeitsstrafrecht für Menschen, die gegenüber der Gesellschaft und dem Staat DDR ihre Pflichten erfüllt haben" und "der blinden Umsetzung amerikanischer Primitivkultur" ein Ende zu setzen. Auf die Landesliste der KPD entfielen lediglich 1.842 Stimmen, was einem Anteil von 0,2 % entspricht. In der Zeitung "Die Rote Fahne" fasste die Partei die Ziele zusammen, die sie mit der Wahlbeteiligung verfolgt hatte: "Es ging uns dabei nicht nur darum, schlechthin an der Wahl teilzunehmen, sondern besonders darum, unsere Politik, die Politik der KPD, in dieser kapitalistischen Gesellschaft den Menschen näher zu bringen." Aus Anlass des 60. Jahrestages der Ermordung des damaligen Vorsitzenden der KPD, Ernst THÄLMANN, im KZ Buchenwald lud die KPD am 14. August zu einer Gedenkveranstaltung in den Hof des Krematoriums und zu einem Treffen auf dem Weimarer Buchenwaldplatz ein. An den Veranstaltungen, in deren Verlauf der Vorsitzende der Partei, Werner SCHLEESE, jeweils eine Ansprache hielt, sollen "Genossen aus verschiedenen Ländern der BRD" - darunter auch Genossen der DKP und MLKP59 - teilgenommen haben. Nachdem am Krematorium Kränze und Blumen niedergelegt worden waren, forderte SCHLEESE, THÄLMANNs Erbe "gerade in dieser Zeit des Sozialabbaus in Deutschland fortzusetzen". "Seit der Konterrevolution gegen den Sozialismus in der DDR sei der deutsche Imperialismus, agitierte SCHLEESE, wieder kühn geworden. Er bürde "alle seine Krisenerscheinungen nun noch stärker den Arbeitern, Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, der Jugend, den Rentnern, kurz gesagt, dem werktätigen Volk" auf. Anschließend überreichte er "an diesem Ort des Gedenkens" zwei neuen Genossen die Parteidokumente. Während der Kundgebung auf dem Buchenwaldplatz soll der Landesvorsitzende der DKP in seiner Rede gefordert haben, die kommunistische Bewegung in Deutschland "endlich wieder in einer einheitlichen kommunistischen Partei (zu) vereinigen." Das "VI. Treffen der Jugend", das die Landesorganisation Thüringen des KJVD organisiert hatte, fand vom 3. bis 5. September unter dem Motto "Ernst THÄLMANN - Stimme und Faust der Nation" in der Gedenkstätte des KZ Buchenwald statt. Der KJVD widmete das Treffen ebenfalls "dem ehrenden Gedenken an den Reichtagsabgeordneten und Vorsitzenden der KPD, Genossen Ernst Thälmann". "Mitglieder des KJVD vorwiegend aus Mitteldeutschland" sollen ebenso an der Veranstaltung teilgenommen haben wie "Genossen der KPD59 Die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) wurde 1994 in der Türkei gegründet. 82 Landesorganisationen Thüringen und Sachsen". Als Ergebnis des Arbeitstreffens wurde "ein Aufruf zur Solidarität und zum gemeinsamen Kampf an alle fortschrittlichen Kräfte formuliert und einstimmig angenommen". Am 9. Oktober fand in Viernau das bislang neunte von der Landesorganisation Thüringen der KPD organisierte "Leserforum" des Zentralorgans "Die Rote Fahne" statt, an dem sich wieder Mitglieder der KPD und anderer Organisationen beteiligt haben sollen. Wie in den Vorjahren war auch der Chefredakteur und stellvertretende Vorsitzende der KPD, Hans WAUER, als Ehrengast anwesend und machte "konkrete Ausführungen" über die Zeitung. Im Mittelpunkt einer mehrstündigen Diskussion soll die derzeitige politische Lage in der Bundesrepublik, in Europa und der Welt gestanden haben. "Um die Zeitung aktuell und abwechslungsreich zu gestalten" wurden deren Leser zudem ermuntert, "mehr Beiträge aus ihrem Umfeld über Probleme und Vorkommnisse zu schreiben, die das Wesen des Kapitalismus entlarven und diese Ausbeutergesellschaft bloßstellen". Im Jahr 2005 sind Leserforen auch in Gera, Erfurt und anderen Orten geplant. 3.5 "Roter Tisch Ostthüringen" Der "Rote Tisch Ostthüringen" bezeichnet sich auf seiner Homepage als einen "Zusammenschluss von Linken in Ostthüringen, deren Fernziel es ist, eine Gesellschaftsordnung frei von Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu errichten". Er gehe vom "Manifest der Kommunistischen Partei" aus und strebe dasselbe Ziel an wie die "anderen proletarischen Parteien im Klassenkampf: Bildung und Organisation des Proletariats, Sturz der Bourgeoisie, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat". Zu diesem Zweck will die Organisation "die Zersplitterung der linken Kräfte und Bewegungen durch Bildung von Aktionseinheiten, ... gemeinsame Gespräche, Terminkoordination und Aktionen" überwinden. Auch im Jahr 2004 wurden Aktivitäten des "Roten Tisches Ostthüringen" öffentlich kaum wahrgenommen. Erwähnenswert sind ein Bildungswochenende, das er u.a. mit der DKP Thüringen veranstaltete60 sowie die Durchführung eines "Internationalismus-Wochenendes" in Brückla/Landkreis Greiz mit Vorträgen und Diskussionen, die sich auf den "Arabischen Raum" bezogen. 3.6 "Rote Hilfe e.V." (RH) Gründung: 1975 Sitz: Göttingen Mitglieder: mehr als 4.600 (Bund) Publikation: "Die Rote Hilfe" (vierteljährlich) Die RH versteht sich als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation". Sie organisiere "die Solidarität für alle, unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Weltanschauung, die in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden". Darüber hinaus gelte die Solidarität "den von der Reaktion politisch Verfolgten in allen Ländern der Erde". Die Organisation gliedert sich bundesweit in knapp 40 Ortsbzw. Regionalgruppen. In Thüringen existieren Ortsgruppen in Erfurt und Jena sowie eine Regionalgruppe Südthüringen, deren Sitz sich in Zella-Mehlis befindet. Im Jahr 2004 trat vor allem die Ortsgruppe Erfurt mit 60 Siehe S. 76 83 verschiedenen Veranstaltungen öffentlich in Erscheinung. So wurde im Februar im Internet ein Rechtshilfeseminar im "Autonomen Zentrum (AZ) Klaushaus" in Gera mit Referenten der Ortsgruppe Erfurt der RH angekündigt. Diese Ortsgruppe gehörte auch zu denen, die die Kampagne der "Antifaschistischen Aktion Gera" (AAG) anlässlich der Ermordung eines Spätaussiedlers in Gera unterstützte.61 4. Autonome 4.1 Allgemeines Die ersten autonomen Gruppen bildeten sich in der Bundesrepublik Ende der siebziger Jahre heraus. Im Berichtszeitraum agierten Autonome in fast allen größeren Städten, insbesondere in Ballungsgebieten wie Berlin oder dem Rhein-Main-Gebiet. Bundesweit betrug die Anzahl der gewaltbereiten Autonomen im Jahr 2004 etwa 5.000. Die Autonomen erheben den Anspruch, ein selbstbestimmtes Leben ohne fremde Vorgaben, Anordnungen und Gesetze zu führen. Staatliche und gesellschaftliche Zwänge lehnen sie ab. Ihre paradoxe Devise lautet: "Keine Macht für niemand!" Ihre individuelle Befindlichkeit mündet in einer generellen Anti-Haltung. Autonome haben keine fest gefügten ideologischen Ansichten. Ihre Denkmuster setzen sich aus anarchistischen Elementen ebenso zusammen wie aus nihilistischen, sozialrevolutionären und mitunter auch marxistischen Versatzstücken. Autonome wollen alle Strukturen in Staat und Gesellschaft, die sie ihrer Meinung nach hemmen oder behindern, zerschlagen. Aufgrund ihres ausgeprägten Individualismus' verlangen sie nicht nach in sich geschlossenen, theorielastigen Konzeptionen zur Veränderung der Gesellschaft. Verschiedene Schwerpunktthemen, deren Intensität und Bedeutung schwanken, bilden die Grundlagen für die Diskussionen und Aktionen der autonomen Szene: * Antifaschismus, * Kampf gegen die angenommene "Großmachtrolle" der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, * Kampf gegen den angenommenen "Geschichtsrevisionismus" und "Opfermythen" im Zusammenhang mit der öffentlichen Wahrnehmung der Zeit des Nationalsozialismus, * Repression und innere Sicherheit, * Antirassismus, * Anti-Atomkraft-Bewegung, insbesondere Castor-Transporte, * Internationalismus, * Neoliberalismus, Globalisierung und Sozialabbau * "Häuserkampf"/Kampf gegen Umstrukturierung. Die Autonomen setzen sich mit ihren Themen in unterschiedlicher Form auseinander. Ihre Aktionen verlaufen friedlich oder gewalttätig. Sie schließen Demonstrationen, Diskussionen und Vortragsveranstaltungen genauso ein wie Straßenkrawalle und Sachbeschädigungen - die zum Teil einen erheblichen Umfang erreichen - sowie Brandund Sprengstoffanschläge. Gewalt gegen Personen setzen Autonome vor allem ein, wenn sich ihre Protestaktionen gegen Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene richten. Hier suchen Autonome die direkte Konfrontation mit dem politischen Gegner oder mit den Einsatzkräften der Polizei. Die Folge sind Sachbeschädigungen und Körperverletzungen. 61 Siehe S. 94f. 84 Fest strukturierte, auf Dauer angelegte und übergreifende Organisationsformen widersprechen dem Grundverständnis der Autonomen. Sie treten meist in kleinen, unverbindlichen, lokal begrenzten, dezentralen Personenzusammenschlüssen auf. Da die Wirkungsmöglichkeiten solcher Gruppen schon allein infolge ihres niedrigen Organisationsgrades begrenzt sind, unternahmen die Autonomen Versuche, sich übergreifend zu organisieren. Integrative Möglichkeiten eröffnet in diesem Zusammenhang insbesondere das Aktionsthema "Antifaschismus". Das Verständnis, das Linksextremisten vom Antifaschismus haben, reduziert sich nicht auf die gegenwärtig aktuellen Traditionslinien von Nationalsozialismus und Faschismus. Es schließt die "Auseinandersetzung mit dem imperialistischen System" ein, das ihrer Auffassung nach das Dritte Reich in modifizierter Form fortsetzt. Mit der Auflösung der seit 1992 bestehenden "Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation" (AA/BO) im April 2001 ist der bisher bedeutendste Ansatz gescheitert, autonome Strukturen bundesweit zu organisieren. Auch im Jahr 2004 gelang es dem autonomen Spektrum nicht, die Isolierung, die regionale Begrenztheit des Aktionsradius und die zahlenmäßige Schwäche zu überwinden. Absprachen zwischen den Gruppen sind in der Regel informeller Natur. Vor allem verständigen sie sich über E-Mail-Anschlüsse, Internet und Infotelefone. Sie ermöglichen eine überregionale Vernetzung, Agitation und Mobilisierung. Nach wie vor werden aber auch herkömmliche Formen der Kommunikation intensiv genutzt. So erscheint bundesweit weiterhin eine Reihe von Szeneblättern, die teilweise konspirativ verbreitet werden. Durch ihre überregionale Ausstrahlung hat die Zeitschrift "INTERIM", die vierzehntägig in Berlin herausgegeben wird, die größte Bedeutung erlangt. Als Anlaufpunkte für die gesamte Szene und deren Sympathisanten sind so genannte "Infoläden" von besonderer Bedeutung. Sie bieten Kontaktmöglichkeiten, dienen zugleich als Treffpunkt und vertreiben linksextremistische Schriften und Flugblätter. Plakate und Aushänge informieren über aktuelle Aktivitäten und geplante Aktionen. Ausgelegte Literatur, manchmal auch kleine Bibliotheken, können von jedermann genutzt werden. Interessierte finden dort Literatur zu szenetypischen Themen. Die "Infoläden" bieten auch Räumlichkeiten, um Aktionen und Demonstrationen vorzubereiten und Kontakte zwischen Angehörigen des linksextremistischen Spektrums zu ermöglichen. Faxgeräte, Computer und Kopierer, die sich in den "Infoläden" befinden, stehen den Angehörigen der Szene zur Verfügung. 4.2 Bundesweite Aktionen Linksextremisten beteiligen sich an Protesten gegen Aufmarsch von Rechtsextremisten am 31. Januar in Hamburg Anlässlich der Eröffnung der letzten Station der Wanderausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944" fand am 31. Januar in Hamburg ein Aufmarsch statt, an dem sich ca. 1.200 Rechtsextremisten beteiligten. Der Gegendemonstration eines "Antifaschistischen Bündnisses" schlossen sich etwa 3.500 Personen, darunter ca. 2.000 Linksextremisten, an. Während dieser Veranstaltung wurden Polizeikräfte von Demonstranten mit Steinen, Flaschen und Schneebällen beworfen sowie mit Signalmunition beschossen. Die Polizei erklärte die Veranstaltung daraufhin für beendet. In der Folge beteiligten sich Teilnehmer der Demonstration an einer weiteren Gegendemonstration und zogen - zum Teil vermummt - in Gruppen durch die Stadt. Dabei kam es zu massiven Sachbeschädigungen. So wurde eine Polizeidienststelle mit Gullydeckeln, Verkehrsschil85 dern und Stühlen beworfen. Außerdem wurden Barrikaden errichtet und entzündet; die Polizei setzte Wasserwerfer ein. Sie nahm 221 Störer in Gewahrsam und 15 Personen vorläufig fest. Schon zu Beginn soll es zwischen Teilnehmern der letztgenannten Gegendemonstration zu Gewalttätigkeiten gekommen sein. Internetberichten zufolge soll eine Gruppe von 20-50 so genannten "Antideutschen" versucht haben, sich mit Nationalflaggen der USA, Großbritanniens und Israels in den vorderen Teil der Demonstration einzureihen. Daraufhin seien sie von anderen, zum Teil vermummten Demonstranten angegriffen worden. Die Fahnen sollen dabei zu Boden getrampelt worden sein. Einer Stellungnahme der Gruppe "Autonome Antifa Nordost Berlin" (AANO) nach soll auch versucht worden sein, diese Fahnen zu verbrennen. Außerdem hätten Demonstranten Losungen wie "Sharon ist ein Mörder und Faschist" und "Intifada, Intifada" skandiert. Auch Angehörige der Berliner Gruppe "Kritik & Praxis" (KP), die ein Transparent mit dem Slogan "Deutschland denken heißt Auschwitz denken" mit sich geführt haben sollen, seien angegriffen worden. Für die Aktion war bundesweit insbesondere im Internet mobilisiert worden. In Thüringen war auf der Homepage der "Autonomen Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG) sowie auf der Seite der in ATAG organisierten Meininger Gruppe "Freie Union Revolutionärer AnarchistInnen" (F.U.R.A.) auf den Aufmarsch der Rechtsextremisten und die Gegenaktionen hingewiesen worden. Wie das Erfurter Szeneradio "LeftBeat" berichtete, sollen auch "Genossen" aus Erfurt an den Protesten beteiligt gewesen sein. Dies geht auch aus einer Stellungnahme der Erfurter Gruppe "mila26" hervor. In Thüringen wurde die Gegendemonstration insbesondere in der autonomen Szene Erfurts thematisiert. Im Mittelpunkt der Betrachtungen standen nicht die Proteste, sondern die Rangeleien zwischen "antideutsch" und "antiimperialistisch" eingestellten Teilnehmern zu Beginn der Veranstaltung. Der Vorfall wurde in zwei Sendungen des Radios "LeftBeat" am 12. und 26. Februar, in denen jeweils die genannte Stellungnahme der AANO verlesen wurde, aufgegriffen. In der Sendung am 26. Februar wurde außerdem eine Stellungnahme der Erfurter Gruppe "mila26" verlesen, die auch auf der Homepage der ATAG veröffentlicht wurde. E- benso verwies der Erfurter Infoladen "Sabotnik" auf seiner Internetseite auf die Stellungnahmen der AANO und von "mila26". Kernpunkt beider Stellungnahmen ist die absolute Solidarität mit dem Staat Israel und seiner Nationalflagge. So begrüßte "mila26", dass einzelne Gruppen Fahnen Israels mitgeführt und auf diese Weise "eindeutige antifaschistische Akzente" gesetzt hätten. Weiter hieß es in der Stellungnahme, die mit dem Slogan "Für eine israelsolidarische, antifaschistische Linke!" endete: "Für uns jedoch ist die Solidarität mit Israel eine Voraussetzung für ein antifaschistische Positionierung." Ähnlich sah es die AANO. "Ohne eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung um die Themen Antisemitismus, Antizionismus und der praktischen Solidarität mit Israel", betonte sie, könne es "... eine aktive Antifa in diesem Land nicht mehr geben". Ideologische Gräben zwischen "antideutschen" und "antiimperialistischen" Linksextremisten Diese Auseinandersetzungen weisen auf die ideologischen Gegensätze hin, die "antideutsch" eingestellte Gruppen innerhalb des autonomen Spektrums von solchen trennen, die traditionell "antiimperialistische" Ansichten vertreten. Schon in der Bewertung des israelisch-palästinensischen Konflikts im Zuge der so genannten "Al-Aksa-Intifada" traten zwischen beiden Lagern fundamentale Gegensätze zu tage, die sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem Angriff der USA und ihrer Verbündeten auf den Irak im Jahr 2003 zuspitzten. Den Kernpunkt "antideutscher" Anschauungen bildet der Holocaust. Daraus resultiert einerseits die strikte Ablehnung des deutschen Staates, 86 andererseits die bedingungslose Solidarität mit dem jüdischen Volk und dem Staat Israel. Dieser wird von den "antideutschen" Gruppierungen als Schutzraum für Juden vor antisemitischer Verfolgung verstanden, der deshalb gegen alle Angriffe verteidigt werden muss. Jedwede Kritik an Israel und dessen Politik gilt "Antideutschen" als Antisemitismus. Ähnlich werten sie die Kritik an den USA, da diese als Schutzmacht Israels begriffen werden. Im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts stellen sich "Antideutsche" klar auf die Seite Israels. Während sich die "antideutsche" Richtung bedingungslos zum Staat Israel und dessen Politik bekennt, sehen die traditionell "antiimperialistisch" ausgerichteten Gruppierungen Israel als "imperialistischen Aggressor" und "imperialistischen Brückenkopf" der USA in der arabischen Welt an. Sie solidarisieren sich mit dem Volk der Palästinenser, da es einen "antiimperialistischen" Kampf gegen Israel führe. Während in der Vergangenheit ideologische Differenzen zwischen "antideutschen" und "antiimperialistischen" Gruppierungen noch dem gemeinsamen Ziel Antifaschismus untergeordnet wurden, hat sich der ideologische Streit zwischen den beiden Richtungen des autonomen Spektrums im Berichtszeitraum immer wieder - wie zum Beispiel im Verlauf der oben geschilderten Demonstration in Hamburg - in gewalttätigen Auseinandersetzungen entladen. Linksextremisten nehmen an Protestaktionen am 13./14. Februar in Dresden teil Aus Anlass des 59. Jahrestages der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg fanden am 13./14. Februar in der Stadt verschiedene Protestaktionen statt, an denen sich auch Linksextremisten beteiligten. Am 13. Februar demonstrierten unter dem Motto "Den deutschen Opfermythos im Visier - Gegen jeden Geschichtsrevisionismus" ca. 450 Personen gegen die offiziellen Gedenkfeierlichkeiten der Stadt. Während der Demonstration wurden eine Fahne der Bundesrepublik Deutschland verbrannt und Feuerwerkskörper gezündet. Im Verlauf der offiziellen Gedenkkundgebung kam es zu Störversuchen. Einem Internetbeitrag der AAG nach sei die Veranstaltung "von einem Freudenfeuerwerk aus der Neustadt, Konfetti, Luftschlangen und lautstarken Sprechchören a la "Bomber Harris62 - do it again" begleitet worden. Gegen einen Aufmarsch der "Jungen Landsmannschaft Ostpreußen" (JLO) demonstrierten am 14. Februar etwa 1.500 Personen, darunter auch Linksextremisten. An den Aktionen in Dresden sollen sich auch Thüringer Linksextremisten beteiligt haben. Eigenen Angaben zufolge nahm die AAG "an den Protesten gegen die völkische Mobilisierung anlässlich des Gedenkens der Bombardierung Dresdens" teil. Für Aktionen anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Dresdens war im Vorfeld vor allem im Internet mobilisiert worden. In einem dort veröffentlichten Aufruf einer "Gruppe Freitag der 13te, Dresden" wenden sich die Autoren gegen einen angeblichen deutschen Opfermythos, der aufgrund der Bombardierung der Stadt konstruiert worden sei. Der Aufruf, der mit dem Slogan "let's go together - fight german ideology - Keine Träne für Dresden!" endete, wurde auch von Thüringer Linksextremisten, so von der AAG und dem Jenaer Infoladen "Schwarzes Loch", unterstützt. Darüber hinaus veröffentlichte die AAG im Internet einen 62 Arthur Travers HARRIS (1892-1984), britischer Luftmarschall, Chef des britischen Bomberkommandos. HARRIS ordnete im Zweiten Weltkrieg Flächenbombardements deutscher Städte an, um die Moral der Zivilbevölkerung zu zermürben. 87 eigenen Aufruf, dessen Motto "Dresden: Dem deutschen Volkstaumel entgegentreten - antifaschistische Aktionen am 12. - 14.02.04 unterstützen" lautete. Darin bezeichnete sie sich als "Unterstützer der antifaschistischen Gegenöffentlichkeit". Auf die Aktionen in Dresden wurde ebenfalls auf den Homepages von ATAG und des Erfurter Infoladens "Sabotnik" sowie in einer Sendung des Erfurter Szeneradios "LeftBeat" am 12. Februar hingewiesen. Die Trauerveranstaltungen, die jedes Jahr anlässlich der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 durch die Alliierten stattfinden, werden von Teilen des linksextremistischen Spektrums entschieden abgelehnt. Sie diffamieren sie als Versuch, einen deutschen "Opfermythos" zu schaffen, um die Schuld an den während des nationalsozialistischen Terrorregimes begangenen Verbrechen zu relativieren. Ein Beitrag, den "LeftBeat" am 26. Februar sendete, zielte insbesondere darauf ab, die Notwendigkeit der Bombardierung der Stadt zu begründen. Die Bombardierung war "zum einen eine normale Kriegshandlung und schon deshalb begrüßenswert, weil Nazi-Deutschland damit schneller zur Kapitulation gezwungen wurde. Zum anderen waren die meisten Menschen in dieser Stadt bekennende Nazis und Antisemiten, weswegen die Losung zur Dresden-Debatte nur lauten kann: Keine Träne für Dresden.". Revolutionärer 1. Mai in Berlin Wie schon in den vergangenen Jahren ging der "Revolutionäre 1. Mai" in Berlin auch im Jahr 2004 mit zum Teil schweren Gewaltausbrüchen einher, die jedoch nicht das Ausmaß des Vorjahrs erreichten. Dank dem konsequenten Einsatz von über 8.000 Polizeibeamten und einer geänderten Taktik der Polizei konnten Zerstörungen, wie sie 2003 zu verzeichnen waren, verhindert werden. Jedoch stieg die Anzahl der verletzten Polizisten von 175 im Jahr 2003 auf 193 an. Am Abend des 30. April fand unter dem Motto "Kommunismus statt Europa" eine Demonstration statt, für die u.a. die Gruppe "Kritik & Praxis" (KP) Berlin mobilisiert hatte. An der Demonstration sollen sich zwischen 800 und 1.500 Personen beteiligt haben. Im Gegensatz zum vorhergehenden Jahr, als es im Bereich des Mauerparks/Bezirk Prenzlauer Berg zu Ausschreitungen gekommen war, blieben die Veranstaltungen in der Walpurgisnacht - von vereinzelten Steinwürfen auf Passanten und Polizisten abgesehen - weitgehend friedlich. Gegen einen Aufmarsch der NPD in Berlin richtete sich eine Demonstration am 1. Mai, an der sich bis zu 2.000 Personen - darunter auch Autonome - beteiligten. Im Anschluss an die Demonstration versammelten sich bis zu 1.500 Personen, um den Aufmarsch der Rechtsextremisten zu behindern. Von Gegnern des Aufmarschs wurde die Polizei wiederholt mit Steinen und Flaschen beworfen. In der Folge wurde die Demonstration der NPD mehrmals gestoppt, weil Gegendemonstranten Hindernisse errichteten und teilweise anzündeten. Auch ein Auto wurde in Brand gesetzt. Die Polizei setzte Schlagstöcke sowie Wasserwerfer ein und kesselte nach Presseangaben rund 350 Gegendemonstranten für mehrere Stunden ein. Am Nachmittag fanden zwei Aufzüge statt, die beide am Kottbusser Tor endeten und ohne Vorkommnisse verliefen. An einer Demonstration, die am Oranienplatz ihren Anfang nahm, sollen sich vor allem Anhänger von kommunistischen, maoistischen und trotzkistischen Gruppierungen beteiligt haben. Nach 17.00 Uhr begann die traditionelle "Revolutionäre 1. Mai Demonstration" am Leipziger Platz, für die u.a. das Berliner Aktionsbündnis "ACT!" maßgeblich mobilisiert hatte. Der Demonstration, die unter dem Motto "Unsere Agenda heißt Widerstand - Zusammen kämpfen gegen Sozialterror und imperialistisches Morden" stand, schlossen sich mehrere tausend Personen an. Nach 20.00 Uhr kam es immer wieder zu Krawallen. Kleinere Feuer wurden entfacht, Hindernisse auf die Fahrbahn gelegt und Einsatzkräf88 te der Polizei mit Steinen beworfen. Da starke Polizeikräfte einschritten, konnte jedoch eine weitere Eskalation verhindert werden. Im Vergleich zum Vorjahr ging die Anzahl der Sachschäden von 170 auf 60 zurück, wobei es sich überwiegend um angezündete Müllcontainer handelte. Insgesamt wurden 186 Personen - 57 mehr als im Jahr 2003 - im Zusammenhang mit den Gewalttaten am 1. Mai vorläufig festgenommen. In Thüringen war für die Veranstaltungen in Berlin nur wenig mobilisiert worden. Lediglich das Netzwerk ATAG sowie die AAG wiesen auf ihren Homepages auf Aktionen in Berlin hin. "Antideutsche Demonstration" am 10. Juli in Berlin Am 10. Juli fand in Berlin unter dem Motto "Gegen den antizionistischen Konsens - Schluss mit der antisemitischen Gewalt in Kreuzberg und Neukölln" eine von "antideutschen" Gruppen getragene Demonstration statt, an der sich zwischen 120 und 300 Personen beteiligten. Der Aufmarsch wurde von Gegendemonstranten aus dem "antiimperialistischen" Spektrum begleitet, wobei sich beide Lager gegenseitig des Rassismus beschuldigten und sich als "Nazis" bezeichneten. Im Verlauf der Veranstaltung kam es zu Rangeleien, bei denen Eier, Tomaten, aber auch Flaschen und Steine geworfen wurden. Zu der Demonstration hatte die Redaktion des "antideutschen" Berliner Zeitungsprojektes "Bahamas" aufgerufen. "Antideutsche" Gruppierungen aus dem gesamten Bundesgebiet unterstützten den Aufruf, unter ihnen auch die Erfurter Gruppe "mila26". Sie begründeten ihre Initiative mit dem angeblich virulenten "Antisemitismus" der Einwohner von BerlinKreuzberg, der "nicht etwa fanatischer Überzeugung, sondern selbstverständlicher Lebenshaltung" entstamme. Gegen Juden habe man dort nichts, "solange sie tot sind und sie mit ihnen ihren antifaschistischen Lerneifer illustrieren können, dessen Quintessenz darin besteht, den lebenden Juden Lektionen in deutscher Friedenspolitik zu erteilen". Der Aufruf schloss mit dem Appell: "Es ist höchste Zeit, angesichts der Zunahme der antisemitischen und antisemitisch motivierten Übergriffe in Kreuzberg und Neukölln öffentlich einige Minimalstandards einzufordern. Wir fordern alle Freunde Israels in und außerhalb dieser Berliner Bezirke auf, seien es Deutsche oder Migranten, Linke oder Liberale, am 10.07.2004 mit uns zu demonstrieren * für die politische Isolierung linker Antisemiten wie RK (Abkürzung von "Revolutionäre Kommunisten") und deren Anhänger. * gegen alle Manifestationen für die Intifada oder einen sogenannten irakischen Widerstand * gegen jeden öffentlich propagierten Judenbzw. Israel-Hass, sei es im autonomen Zentrum oder im Al-Aksa-Cafe, in der Moschee oder in der evangelischen Kirche." Die Demonstration wurde durch einen Vorfall während des "Karnevals der Kulturen" am 30. Mai in Berlin-Kreuzberg ausgelöst, bei dem es zwischen Mitgliedern der Gruppe "Kritik und Praxis" (KP) und Angehörigen der Gruppe "Revolutionäre Kommunisten" (RK) zu einem Streit gekommen war. Dabei wurde ein KP-Mitglied von einem RK-Angehörigen mit einem Messer verletzt. Der Streit hatte sich an T-Shirts mit der Aufschrift "Antizionistische Aktion" entzündet, die Angehörige der RK während der Straßenveranstaltung trugen. In den Augen der KP, die auch "antideutsche" Ansichten vertritt, war dies eine unmissverständlich zu beantwortende Provokation. Unter dem Tenor "Messerattacke auf Antifas!" wurde der Vorfall anschließend im Internet von einem "UnterstützerInnenkreis der Betroffenen" thematisiert. Er rief dazu auf, sich künf89 tig von einer Zusammenarbeit mit der RK zu distanzieren. Der Aufruf wurde von über 75 Gruppierungen unterstützt, zu denen auch die im Bündnis ATAG organisierte "Autonome Antifa Gruppe Bad Salzungen" (AAGS), das "besetzte Haus" in Erfurt, der Erfurter Infoladen "Sabotnik" sowie die Gruppe "mila26" gehörten. Demonstration unter dem Motto "Die neue Heimat Europa verraten" am 24. Juli in Leipzig Am 24. Juli fand in Leipzig eine Demonstration statt, deren Leitsatz "Die neue Heimat Europa verraten - Gegen die Kollaboration mit der Europäischen Nation" lautete. Einer Pressemitteilung des "Bündnis gegen Realität" (BgR) Leipzig und des "Antifaschistischen Frauenblocks Leipzig" (AFBL) zufolge sollen sich etwa 300 Personen an der Veranstaltung beteiligt haben. BgR und AFBL hatten im Vorhinein zu der Kundgebung in Leipzig aufgerufen. Beide Gruppierungen bezeichneten in ihrem Aufruf die Entwicklung eines gemeinsamen Europas und einer europäischen Identität als "Modernisierung der Nationalstaatsideologie, welche die Menschen dem flexibilisierenden Verwertungsprozess angepasst an die kapitalistischen Verhältnisse bindet". In Wirklichkeit entwickele sich jedoch lediglich ein "Nationalstaat Europa", dessen Außenpolitik von Deutschland und Frankreich bestimmt werde. Auch Teilen der Linken, so BgR und AFBL weiterhin, müsse entgegengetreten werden, denen Europa als kleineres Übel erscheine "und als Chance, dem amerikanischen Hauptfeind entgegentreten zu können". Lediglich eine "antideutsche und damit notwendigerweise antieuropäisch-kosmopolitische Linke" könne eine offensive Auseinandersetzung mit den vermeintlich "deutscheuropäischen Großmachtambitionen und der antiamerikanisch/antisemitischen Ideologie" führen. Der Appell endete mit dem Slogan "Links ist da, wo keine Heimat ist. Keine Nation Europa, kein Deutschland!". Flankierend zur Demonstration sollte nicht nur über das Internet, mit Plakaten und Flyern mobilisiert, sondern auch Informationsveranstaltungen in verschiedenen Städten der Bundesrepublik durchgeführt werden. Ein derartiges Infotreffen wurde unter anderem als Bestandteil eines Veranstaltungstages der AAG für den 21. Juli im "Autonomen Zentrum (AZ) Klaushaus" in Gera angekündigt. Darüber hinaus wiesen in Thüringen auch die Internetseiten des Erfurter Infoladens "Sabotnik", der ATAG und der AAG auf die Demonstration hin. Diese war zudem Thema einer Sendung des Erfurter Szeneradios "LeftBeat" am 1. Juli, in deren Verlauf ein Aufruf zur Teilnahme verlesen wurde. Des Weiteren wurden in Erfurt Flyer verteilt, die ebenfalls über die geplante Protestkundgebung informierten. Im Verlauf der eigentlichen Demonstration am 24. Juli soll auch ein Redebeitrag der Erfurter Gruppe "mila26" gehalten worden sein, den die Gruppe anschließend auf ihrer Homepage veröffentlichte. In dem Text, der mit dem Slogan "Nieder mit Deutschland! Für den Kommunismus!" endet, ruft "mila26" ihrerseits zur Teilnahme an einer für den 3. Oktober 2004 in Erfurt geplanten "bundesweiten Demonstration gegen Deutschland und andere Widerwärtigkeiten" auf. 4.3 Die autonome Szene in Thüringen Das Potenzial der gewaltbereiten autonomen Szene bezifferte sich in Thüringen 2004 auf etwa 150 Personen. In der gleichen Größenordnung lassen sich zusätzlich Personen für Aktionen mobilisieren. Was die Anzahl ihrer Angehörigen anbelangt stagnierte die Szene wie bereits im Vorjahr auf dem Stand des Jahres 2002. 90 Die Zahl, die Art und die Intensität der Aktivitäten, die auf die Autonomen zurückgingen, änderten sich im Wesentlichen nicht. Wie in den beiden vergangenen Jahren blieben auch im Berichtszeitraum "traditionelle" Aktionen und Aktivitäten, die über mehrere Jahre stattfanden, aus. So kam es auch 2004 nicht zu Gegenaktionen von Linksextremisten, als das rechtsextremistische Spektrum in Neuhaus am Rennweg ihres "Märtyrers" Sandro WEILKES gedachte. Ebenso blieben Proteste gegen das Treffen der "Deutschen Burschenschaften" in Eisenach aus. Der in diesem Jahr von der Szene am 30. April in Gera initiierten "revolutionären MaiDemonstration" schlossen sich etwa 150 Personen an. In den vergangenen Jahren war die Anzahl der Teilnehmer an den "Revolutionären Mai-Demonstrationen" in Thüringen stetig gesunken. Nahmen an der ersten Veranstaltung dieser Art 2001 in Erfurt noch zwischen 400 und 500 Personen teil, ging die Zahl 2002 in Nordhausen auf 150 zurück. Im Jahr 2003 hatten sich in Eisenach nur 40 Personen eingefunden, worauf die Demonstration spontan abgesagt und lediglich eine kurze Kundgebung veranstaltet wurde.63 Die Ursachen für diese Entwicklung dürften vor allem darin zu sehen sein, dass sich die Aktivitäten der Szene überwiegend auf das Aktionsfeld "Antifaschismus" konzentrierten, wobei es sowohl zu thematischen Verschiebungen innerhalb des Aktionsfeldes als auch zu einer Konzentration auf regionale Schwerpunkte der Szene kam. Zudem dürften sich auch die kontrovers geführten Diskussionen, die innerhalb des linksextremistischen Spektrums bundesweit und in Thüringen in Bezug auf den Nahost-Konflikt geführt wurden, auf die autonome Szene des Freistaats ausgewirkt haben. Unter den Autonomen in Thüringen sind "antideutsche" Positionen verbreitet. Sie werden vor allem von den Erfurter Gruppen "mila26" und "Antifascist Youth Erfurt" (aye) geteilt. Regionale Schwerpunkte der Thüringer Szene bilden nach wie vor Erfurt und Jena. Ein weiterer Mittelpunkt des autonomen Spektrums hat sich seit dem Vorjahr in Gera herausgebildet. Weitere Regionen, in denen Autonome aktiv sind, stellen Eisenach, Meiningen, Suhl, ZellaMehlis, Nordhausen und Weimar dar. Die regionalen Gruppen und Zusammenhänge der Autonomen sind - wie bereits an anderer Stelle erwähnt - überwiegend in dem Netzwerk "Thüringer Autonome Antifa-Gruppen" (ATAG) organisiert. Dessen Ziel besteht darin, durch "einen gemeinsamen organisatorischen Rahmen" autonome Antifa-Strukturen zu stärken und "alltäglich Widerstand gegen das kapitalistische System zu praktizieren". Allerdings ist die nach wie vor auf der Homepage von ATAG aufgeführte Erfurter anarchistisch-kommunistische Gruppe "yafago" (youth against fascism and government), der in dem Netzwerk eine führende Rolle zugeschrieben wurde, seit 2003 nicht mehr in Erscheinung getreten. Einen herausragenden Platz im Netzwerk ATAG nahm im Berichtszeitraum die ebenfalls schon erwähnte Geraer Gruppe "Antifaschistische Aktion Gera" (AAG) ein. Die neugegründete Erfurter Gruppe "mila26" hat sich dem Netzwerk offensichtlich nicht angeschlossen. Als Jugendgruppe der Szene ist in Erfurt die "Antifascist Youth Erfurt" (aye) aktiv. Die "Antifaschistische Jugendgruppe Nordhausen" (AJGN) ist seit dem Vorjahr nicht mehr in Erscheinung getreten. Überwiegend nutzt die Szene das Internet und E-Mail-Anschlüsse, um untereinander Kontakt zu halten, zu agitieren und für Veranstaltungen zu mobilisieren. Zusätzlich wartet die Erfurter Szene seit dem Jahre 2002 mit der eigenen Radiosendung "LeftBeat" auf, um alle zwei Wochen über "News und Infos rund um Antifa und linke Politik" zu informieren. Eigenen Angaben zufolge wird die Sendung, die über die Frequenz des lokalen Senders "Radio F.R.E.I." ausgestrahlt wird, von der Jugendgruppe aye produziert. "Vertigo - Zeitung gegen den alltäg63 Siehe S. 97 91 lichen Wahn", eine relevante Szeneschrift aus Erfurt, ist seit Ende 2003 nicht mehr erschienen. Wie autonome Gruppen in anderen Bundesländern betreibt auch die Szene in Thüringen "Infoläden". Solche befinden sich in * Erfurt - Infoladen "Sabotnik" * Jena - Infoladen Jena und Infoladen "Schwarzes Loch & Archiv" * Meiningen - Infoladen "Notausgang" * Weimar - Infoladen Gerberstraße 1. Im Vorjahr wurde unter dem Namen "Infobüro Gera" im "Autonomen Zentrum (AZ) Klaushaus" in Gera ein weiterer "Infoladen" eröffnet. Darüber hinaus dient der Szene ein Gebäude als Kontaktund Treffpunkt, das sie seit April 2001 auf dem Betriebsgelände der ehemaligen Firma "Topf & Söhne" in Erfurt "besetzt" hält. Nach wie vor stellt der "Antifaschismus" auch für Linksextremisten in Thüringen - insbesondere für das autonome Spektrum - das wichtigste Aktionsfeld dar. So trat die autonome Szene auch im Jahr 2004 durch zahlreiche, gegen die rechtsextremistische Szene gerichtete, demonstrative Aktionen in Erscheinung. Nachdem Parteien oder Gruppierungen aus dem rechtsextremistischen Spektrum öffentliche Veranstaltungen angekündigt hatten, riefen die Autonomen häufig zu Gegenveranstaltungen auf. Mit ihnen verfolgten sie das Ziel, den "Naziaufmarsch" zu vereiteln oder wenigstens zu behindern. Ebenso strebten die Autonomen danach, ihren Protest gegen die Politik der Bundesregierung und vermeintliche gesellschaftliche Missstände zum Ausdruck zu bringen. Ihrer Ansicht nach förderten "staatlicher Rassismus" und "Kriminalisierung des antifaschistischen Kampfes" auch in der Bevölkerung die Entwicklung rechtsextremistischer Tendenzen. Bei Demonstrationen konnten Auseinandersetzungen zwischen Linksund Rechtsextremisten in der Regel nur von Einsatzkräften der Polizei verhindert werden. Bereits im Vorfeld riefen die Autonomen auf, an Blockadeaktionen teilzunehmen. Oft suchten sie auch den unmittelbaren Kontakt zum politischen Gegner, um den "Naziaufmarsch" mit allen Mitteln abzuwenden. Mitunter missachteten sie dabei bewusst Vorgaben und Auflagen der Behörden. Das autonome Spektrum wertete seine Gegenaktionen als positiv, wenn es ihm gelungen war, die Umleitung eines Aufzuges oder eine vorzeitige Beendigung der Veranstaltung zu erreichen. Eine geringe Resonanz und mangelnde Beteiligung von Angehörigen der Szene wurden hingegen kritisch angemerkt. Die autonomen Gruppen griffen in Thüringen nicht nur die Themen "Antifaschismus" und "Antirassismus" auf. Gegenstand ihres Protests war auch das Themenfeld "Innere Sicherheit", vor allem die geänderten Sicherheitsgesetze und deren Umsetzung. Ferner thematisierten sie den Konflikt im Nahen Osten, wobei Teile der Szene "antideutsche" Positionen vertraten. 92 4.4 Aktionen und Aktivitäten von Autonomen in Thüringen Kundgebung der autonomen Antifa-Szene am 27. Januar in Erfurt Anlässlich des "Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus" hatte die autonome Antifa-Szene am 27. Januar in Erfurt zu einer Kundgebung aufgerufen. Die Initiatoren wollten damit vor allem an eine tätliche Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen in Erfurt erinnern, in deren Folge ein Beteiligter am 27. Januar 2003 seinen Verletzungen erlag. Der 48Jährige Mann hatte sich damals bei einer Gruppe von linksgerichteten Jugendlichen aufgehalten und im Laufe der Schlägerei schwere Kopfverletzungen erlitten, die zum Tode führten. Der Vorfall wurde von örtlichen autonomen Gruppen als "Nazimord" bezeichnet. Der Aufruf zu der "Gedenkkundgebung" stand unter dem Motto "Stoppt den Naziterror - schlagt zurück!". Zu der Veranstaltung wurde u.a. auf den Websites des Netzwerkes ATAG und der in ATAG organisierten Meininger Gruppe "Freie Union Revolutionärer AnarchistInnen" (F.U.R.A.) mobilisiert. Darüber hinaus wurde der Aufruf auch im Erfurter Szeneradio "LeftBeat" bekannt gegeben. Dem Radiobeitrag zufolge soll der Appell auf die "neugegründete" Erfurter Antifa-Gruppe "mila26" zurückgegangen sein. Die Verfasser des Papiers schlossen sich der seinerzeit in der autonomen Szene verbreiteten, pauschalierenden Sichtweise des Vorfalles aus dem Jahre 2003 an und trafen u.a. folgende Feststellung: "Auch wenn bis heute der genaue Tathergang nicht vollständig bekannt ist und staatliche Institutionen den Übergriff als Kneipenschlägerei bagatellisierten, steht fest, dass hinter der Auseinandersetzung ein faschistischer Hintergrund auszumachen ist." Des Weiteren hieß es: "Dabei ist es heute völlig egal, wer damals die Auseinandersetzung begann. Auch wenn die Gruppe Punks in der Triftstraße zuerst den Streit mit den anwesenden Nazis gesucht hätte - würden wir uns hinter sie stellen. Denn es ist und bleibt natürlich richtig, Faschisten den öffentlichen Raum streitig zu machen und gegen sie vorzugehen." Letztere Formulierung lässt darauf schließen, dass die Urheber des Aufrufes zur "Gedenkkundgebung" am 27. Januar bei Aktionen gegen den politischen Gegner, d.h. "Nazis" und "Faschisten", auch Gewalt gegen Personen und Sachen für legitim erachten. Diese Einstellung wird auch in der abschließenden Passage des Textes deutlich: "Das staatliche Engagement gegen rechts ist, wie erwartet, an seinem Ende angelangt ... Eine linke, antifaschistische Perspektive (ist) wichtig, mit der sich wirksam gegen faschistische Strukturen und gegen einen rechten gesellschaftlichen Mainstream vorgehen lässt. Dabei lassen wir uns nicht die Vorgehensweise und die Mittel vorschreiben, wie wir dabei vorzugehen haben. Auch im vergangenen Jahr wurde mit direkten antifaschistischen Aktionen immerhin die Schließung des NaziTätowier-Ladens [Name des Geschäftes] erreicht. Damit hat sich das Problem einer lokalen Naziszene immer noch nicht erledigt. Mit eigenen Recherchen und Aktionen werden wir jedoch versuchen, den verbliebenen Nazi-Strukturen in Erfurt und anderswo eine politische Arbeit so schwer wie möglich zu machen. Nichts ist vergessen und Niemand! Für den Aufbau lokaler antifaschistischer Strukturen!" Über den Ablauf der Kundgebung am 27. Januar berichtete das örtliche Szeneradio "LeftBeat" bereits zwei Tage später. Es bezifferte das Teilnehmerfeld auf rund 60 Demonstranten. Alles in allem sei, so "LeftBeat", die Veranstaltung "nicht so weltbewegend" gewesen. Dennoch sei die Kundgebung insofern ein Erfolg gewesen, als dass einige Menschen auf diesem Wege überhaupt erst gegenwärtigt hätten, dass vor einem Jahr in Erfurt ein Mensch "von Faschisten ermordet" worden sei. Aus dem damaligen Vorfall leitete der Sprecher eine allgemeiner gehaltene Kritik an der "deutschen Zivilgesellschaft" ab. So beschuldigte er die "Zivilgesellschaft", sich nicht ernsthaft mit den Ursachen für rechtsextreme Bestrebungen und 93 deren Auswirkungen zu befassen, sondern eben diese Ideologie in Wahrheit sogar zu teilen: "Denn dass Faschisten morden ist eine Tatsache. Eine Tatsache, die so offensichtlich ist, dass sie sogar den normalen dummen Deutschen, die normalerweise überhaupt nichts interessiert, aufgefallen ist. Anstatt sich aber nun Gedanken über die Ideologie der Nazis zu machen oder sich gar ernsthaft die Frage zu stellen, wieso Menschen überhaupt zu Faschisten werden, zogen die unbescholtenen Deutschen es vor, einen Aufstand der Anständigen zu initiieren. Der zwar nicht aufständisch aber dafür sehr anständig ist. So haben die anständigen Deutschen zwar nicht viel Inhaltliches zu bieten, dafür aber Schlagworte wie Gewalt und Intoleranz. Was die Nazis nun tatsächlich denken, interessiert sie nicht. Mehr noch, sie sind größtenteils der selben Ideologie verfallen. So geht der anständige Deutsche von nebenan zwar weder Ausländer noch Assis klatschen, dass das Boot aber voll ist und wir keine weiteren Kanaken und Sozialschmarotzer gebrauchen können, das glaubt auch er." Der von Bundeskanzler Gerhard Schröder proklamierte "Aufstand der Anständigen" diene der etablierten Bürgergesellschaft, fuhr der Sprecher fort, nur dazu, um von eigenen Problemen abzulenken. Er ergänzte seine Kritik um den Vorwurf, auch die gesellschaftlich stigmatisierten "Nazis" fungierten lediglich als Sündenböcke, die für all diese Probleme verantwortlich gemacht werden könnten: "Und trotzdem, alle inhaltlichen Gemeinsamkeiten halten den anständigen Deutschen nicht davon ab, bei jedem Nazi-Aufmarsch gegen die unanständigen Deutschen zu protestieren. Warum ist das so? Die Antwort auf diese Frage ist plausibel, sie liegt auf der Hand. Wenn die anständigen Deutschen sich bei ihren Bratwurstständen bei Nazi-Aufmärschen so richtig engagieren, wenn sie zusammen häkeln und saufen gegen Rechts, und die Nazis dann zusammen mit den Trillerpfeifen und Buh-Rufen so richtig ausschimpfen, dann schaffen sie sich dabei ein Wir-Gefühl, eine Gemeinschaft, um nicht zu sagen Volksgemeinschaft. Die Nazis werden nicht deshalb gehasst, weil ihre Ideologie menschenverachtend ist und ihre Praktiken tödlich sind. Sie werden schlicht und einfach als Gegenprinzip gebraucht, um das "Korrektiv" überhaupt bilden zu können. So fungieren die Nazis einfach bloß als Sündenböcke, die die Deutschen für all ihre Probleme verantwortlich machen können, damit sie sich selbst den unbequemen Fragen, wie die, warum Lohnarbeit im Zeitalter der Computer immer noch existiert, nicht stellen müssen." "Antifaschistische Aktion Gera" (AAG) führt Kampagne nach der Ermordung eines Spätaussiedlers in Gera durch In der Nacht zum 21. Januar wurde in Gera ein sog. "Russlanddeutscher" von vier Jugendlichen ermordet. Der Ansicht der AAG nach soll es sich bei diesem - von "vier Nazis aus Gera" begangenen - Verbrechen "eindeutig um ... einen bewusst geplanten und durchgeführten gemeinschaftlichen Mord" gehandelt haben, bei dem die Täter mit menschenverachtender Ideologie vorgegangen seien. Auch wenn man nicht wisse, "ob und inwiefern die Tat aus nazistischen Motiven (z.B. wegen der Herkunft des Opfers) heraus geschah", sei das gesellschaftliche Klima, in das sich der Mord einbettet, wichtig. Bekanntlich stelle Gera bereits seit Jahren eine Hochburg und einen Rückzugspunkt für Neonazis dar, wo dem Aufbau rechter Strukturen nur wenig entgegengesetzt werde. Vielmehr werde in Gera versucht, jegliche e- manzipatorischen Ansätze im Keim zu ersticken. Selbst der "zivilgesellschaftliche Antifaschismus" sei ein Dorn im Auge. Die AAG kündigte in diesem Zusammenhang an, am 27. Januar eine Kundgebung und am 1. Februar eine Demonstration zu veranstalten. Nachdem bereits am 23. Januar "AntifaschistInnen" aus Gera am Tatort spontan eine Mahnwache abgehalten hatten, fand am 27. Januar unter dem Motto "Keinen Frieden mit dem deutschen Terror" abermals eine solche Aktion statt, an der sich ca. 15 Personen beteiligten. An der Infoveranstaltung, die sich unter dem Titel "Nazistrukturen in Gera" im "Autonomen 94 Zentrum (AZ) Klaushaus" an die Mahnwache anschloss, sollen etwa 60 Personen teilgenommen haben. Nach Presseberichten demonstrierten am 1. Februar in Gera unter dem Motto "Kein Vergeben!" etwa 100 Personen gegen den vermeintlichen Nazimord. Die Demonstration, die vom Stadtzentrum bis nach Bieblach Ost führte, verlief störungsfrei und war durch ein großes Polizeiaufgebot abgeschirmt worden. Drei Personen wurden festgenommen, weil sie gegen das Versammlungsgesetz verstoßen hatten. Außerdem beschlagnahmte die Polizei Flugblätter, auf denen das Motto "Schlagt die Faschisten wo ihr sie trefft" und eine Frau mit Knüppel abgebildet waren. Insbesondere auf der Homepage der AAG, aber auch auf denen der F.U.R.A. und des Infoladens "Sabotnik" aus Erfurt sowie auf den Internetplattformen "Nadir" und "indymedia" war appelliert worden, sich der Demonstration anzuschließen. Die AAG rief unter dem Tenor "Nazi-Terror stoppen! Wandelt Trauer und Wut in Widerstand" auf, dem "rechten Treiben" nicht länger zuzusehen, sondern "die Nazis zu bekämpfen - auf allen Ebenen mit allen Mitteln". Ebenso hatte das Szeneradio "LeftBeat" in einer am 29. Januar ausgestrahlten Sendung auf den Termin und den Treffpunkt für die Anreise nach Gera hingewiesen. Angehörige der Geraer Antifa-Szene hatten anlässlich des vermeintlichen Nazimordes weitere Veranstaltungen angemeldet, die in der Öffentlichkeit jedoch kaum beachtet wurden. Zum Teil war zuvor auf der Internetseite der ATAG auf die Termine hingewiesen worden. Die AAG hatte ebenfalls zur Teilnahme aufgerufen. Mit der Verurteilung der Täter scheint die Kampagne der AAG beendet zu sein. Anlässlich der Urteilsverkündung rief die AAG im Rahmen eines Veranstaltungstages am 21. Juli zu zwei Mahnwachen in Gera auf, an denen sich, nach eigenen Angaben der AAG im Internet, 30 Personen beteiligt haben sollen. Linksextremisten beteiligen sich an Aktionen gegen "Frühlings-Doppel-Demo des Nationalen Widerstands" am 24. April in Meiningen und Suhl Gegen die "Doppel-Demo" von Rechtsextremisten in Meiningen und Suhl richteten sich am 24. April mehrere Veranstaltungen, an denen sich auch Linksextremisten beteiligten. So hatte ein breites demokratisches Bündnis unter dem Motto "Kein Platz für Nazis und deren Gedankengut in Meiningen" eine Demonstration und Kundgebungen in der Stadt organisiert, denen sich etwa 250 Personen anschlossen. Unter ihnen sollen sich auch Angehörige der Meininger Gruppe F.U.R.A. befunden haben. Im Vorfeld hatten Linksextremisten im Internet, auf Plakaten und Aushängen aufgerufen, insbesondere in Meiningen auf die "Doppel-Demo" der Rechtsextremisten mit Aktionen zu antworten. Auf ihrer Homepage wies die F.U.R.A. auf die beiden Aufzüge der Rechtsextremisten sowie auf eine Mobilisierungssonderseite unter dem Motto "smash the nazis openair!" hin, auf der die F.U.R.A. als Kontakt angegeben wurde. Auf der Sonderseite wurde neben aktuellen Informationen, Spuckievorlagen64 und Sprühschablonen auch ein Aufruf veröffentlicht, dem zufolge sich Südthüringen bereits seit mehreren Jahren im Fokus der "organisierten Rechten" Thüringens befinde. Der Öffentlichkeit warfen die Autoren des Aufrufs vor, Rechtsextremismus meist auf gewalttätige Auswüchse zu reduzieren. "Die ideologischen Fragmente des Rechtsextremismus, wie z.B. völkisch definierter Nationalismus, allgemeine Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus" seien jedoch, ... in der gesellschaftlichen Mitte fest 64 "Spuckie" ist ein Szenebegriff für kleine Aufkleber. 95 verankert". Der Aufruf endete mit der Losung "Nieder mit Nationalismus, Rassismus und Arbeit! Naziaufmärsche am 24. April in Meiningen und Suhl verhindern!" Plakate rufen zu Gewalt gegen "Doppel-Demo" auf Auch auf den Homepages von ATAG, der AAG und des Erfurter Infoladens "Sabotnik" wurde auf die Sonderseite verwiesen. In Meiningen, Erfurt und Schmalkalden tauchten Spuckies und Plakate auf, die zu Gewalt gegen die "Doppel-Demo" aufriefen. Während die Spuckies u.a. mit der eindeutigen Losung "NAZIAUFMÄRSCHE ANGREIFEN!" versehen waren, riefen die Plakate zu einem vermeintlichen "OPENAIR" mit mehreren Bands am 24. April in Meiningen auf. Auf den Plakaten wurden die F.U.R.A. "Funny Radicals" genannt, das "Nationale und Soziale Aktionsbündnis Westthüringen" (NSAW) als "NaSenAusWuchs" bezeichnet sowie "The Flying Stones" der imaginären Gruppe "Die Platzenden Glatzen" gegenübergestellt. "Die Aftershowparty", hieß es auf den Plakaten in Hinsicht auf die rechtsextremistische Demonstration in Suhl, sei "jetzt auf die Krankenhausbühne Dreißigacker" verlegt worden. Trotz des martialisch klingenden Materials, mit dem für Aktionen gegen die "DoppelDemo" mobilisiert wurde, blieben gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Rechtsund Linksextremisten aus. Autonome Szene demonstriert am 30. April in Gera Am 30. April 2004 fand in Gera eine Demonstration des Netzwerks ATAG statt, an der sich etwa 150 Personen beteiligten. Die Demonstration, die durch die Geraer Innenstadt führte, verlief störungsfrei. Nachdem bereits in den vergangenen Jahren jeweils am 30. April in Thüringen "Revolutionäre Mai-Demonstrationen" durchgeführt worden sind, rief ATAG auch in diesem Jahr zu einer "sozialrevolutionären Demonstration" unter dem Motto "progress.movement.revolution - Für eine soziale Perspektive - Kapitalismus abschaffen" auf. Die Autoren des Aufrufs verdeutlichten, den 30. April als "linksradikalen Aktionstag" erhalten zu wollen, "wohl wissend, dass es um die Wahrnehmung fortschrittlicher Kräfte am ersten Mai nicht gut bestellt ist und auch Vereinnahmungsversuche des traditionellen 'ArbeiterInnenkampftages' durch Neofaschisten zugenommen haben". ATAG hält insbesondere nichts davon, den 1. Mai als "Tag der Arbeit" zu besetzen. Statt dessen fordert das Netzwerk die "Abschaffung von Arbeit, Deutschland und Kapitalismus". Vor allem am 1. Mai sei es wichtig, die "Unterschiede zwischen reformistischen und revolutionären Utopien herauszustellen", da "die Ausdrucksformen kapitalistischer Ökonomie" nicht zu reformieren seien. Sie hafteten dem Kapitalismus zwangsläufig an. Die Stadt Gera, so ATAG, sei als Ort der diesjährigen Demonstration gewählt worden, weil sie in einem "braunen Landkreis ohnegleichen" liege. Sie sei "Hochburg und Rückzugsort für Neonazis" und gleiche daher "vielen Regionen in den Neuen Bundesländern, in denen Nazis das Konzept 'National befreiter Zonen' konsequent umsetzen konnten". Der Aufruf endet mit der Parole "Gegen Deutschland! Arbeit und Kapitalismus abschaffen! Für den Kommunismus!" 22 Gruppierungen, von denen ein Teil aus anderen Bundesländern stammt, unterstützten den Aufruf. Sie schließen mit Ausnahme der Erfurter Gruppe "yafago" alle Gruppierungen ein, die im Netzwerk ATAG organisiert sind. Ein weiterer Aufruf wurde unter dem Motto "Feierabend für Alle - und zwar auf Dauer!" von der AAG veröffentlicht, die darin zum Verhältnis zwischen Arbeit und Kapitalismus Stellung nimmt. Auch die AAG tritt für die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaft ein, da dies 96 die "absolute Voraussetzung für ein Leben jenseits der Verwertungslogik, des Profitdenkens und der Herrschaft des Menschen über den Menschen" sei. Im Vorfeld war vor allem im Internet bundesweit für die Demonstration mobilisiert worden. In das Internet war auch eine Sonderseite eingestellt worden, auf der neue Nachrichten aus der Szene, der Aufruf des Netzwerks ATAG, verschiedene Texte, Materialien u.a. veröffentlicht wurden. Daneben wurden auch Plakate und Spuckies genutzt, um für die Demonstration zu werben. Weiterhin wurde ein Reader65 zur Demonstration herausgegeben, der neben den genannten Aufrufen Texte der F.U.R.A. und der "Autonomen Antifa Gruppe Bad Salzungen" (AAGS) mit den Titeln "Die faschistische Ideologie der Mitte" bzw. "Deutsche Normalität" enthält. Seit 2001 finden jährlich am 30. April Demonstrationen der autonomen Szene in Thüringen statt. Dieser Tag wird nunmehr als "Aktionstag der 'Autonomen Thüringer Antifa-Gruppen' [ATAG]" bezeichnet. Die Veranstaltungen, die 2001 in Erfurt, 2002 in Nordhausen und 2003 in Eisenach durchgeführt wurden, seien "Ausdruck einer linksradikalen Bewegung im 'kalten Herzen Deutschlands'" gewesen. In den vergangenen Jahren war die Anzahl der Personen, die sich an den damals als "Revolutionäre Mai Demonstrationen" bezeichneten Veranstaltungen beteiligt hatten, stetig gesunken. Nahmen 2001 noch zwischen 400 und 500 Personen an der Veranstaltung teil, so ging deren Zahl schon 2002 auf ca. 150 zurück. Die 2003 in Eisenach geplante Demonstration wurde spontan abgesagt, nachdem sich nur etwa 40 Personen am Kundgebungsort eingefunden hatten. Stattdessen veranstalteten die Initiatoren lediglich eine kurze Kundgebung mit Redebeiträgen. Autonome Antifa-Szene fordert zu Aktionen gegen "3. Thüringentag der nationalen Jugend" am 29. Mai in Saalfeld auf In einem Aufruf, der über die Internetseiten des Netzwerks ATAG und der AAG verbreitet wurde, forderten dessen Verfasser auf, nicht Lichterketten und Straßenfeste zu veranstalten, sondern "konsequent und mit allen Mitteln" gegen den "Thüringentag" der Rechtsextremisten vorzugehen. Denn mit dem "Thüringentag" verfolgten die "organisierten Nazis" erneut das Ziel, sich in der Stadt festzusetzen und ihr Konzept der "national befreiten Zonen" durchzusetzen. Das Prinzip von Straßenfesten und "Bunt statt Braun", kritisierten die Verfasser des Aufrufs, stelle eine "innergesellschaftliche Befriedigung" dar, führe jedoch nur selten dazu, den Nazis konsequent den Raum streitig zu machen. Ebenso wenig habe sich das "paradoxe 'Feste feiern gegen Nazis'" bewährt. Vielmehr gelte es, offensiv gegen Rechtsextremisten vorzugehen. "Wir werden da sein", drohten die Autoren des Aufrufs, "und den ganzen Sumpf trockenlegen!" Autonome versuchten vereinzelt, den "Thüringentag" zu stören. In einem im Internet verbreiteten Bericht der Szene hieß es u.a.: "Ein großer Fascho-Teil lief bis ans Ende der Absperrung auf braunen Terrain und skandierte passend zur Musik diverse Parolen zur 'Bekämpfung von Zecken'. Die Bullen waren überrascht, haben daraufhin die Antifas zurückgeschubst und versucht uns bis durch das Stadttor zu drängen. Es gab ein paar Rangeleien, als wir unter dem Tor standen, die Bullen aggressiver wurden, hatten sich ca. 100-150 Leute versammelt und dem Erfurter BFE66die Stirn geboten. Es eskalierte dann kurzzeitig, habe gesehen wie mindestens zwei Bullen bis vorne eine aufs maul bekommen haben, Flaschen flogen und einige NazigegnerInnen wurden von den Grünlingen brutal umgestoßen. Anschließend sind ca. 30 Leute durch die Seitenstraße gerannt um das Nazi-Event wieder aus nächster Nähe zu stören." 65 Ein Reader (engl. "Lesebuch") enthält eine Auswahl von Texten. 66 Beweissicherungsund Festnahmeeinheit 97 Autonome beteiligen sich an Protesten gegen den Aufmarsch der Rechtsextremisten am 4. September in Jena; Erfurter Gruppe "mila26" zieht sich aus Aktionsbündnis zurück Gegen die Demonstration von Rechtsextremisten am 4. September in Jena richtete sich unter dem Motto "Gegen Nazis auf die Straße" ein Protestmarsch, den ein von Gewerkschaften, Parteien und Initiativen gebildetes "Aktionsbündnis gegen Rechts" organisiert hatte. Zusätzlich fanden vor und während des Aufmarschs der Rechtsextremisten weitere Protestaktionen statt. So wurde das von der autonomen Antifa-Szene als "Nazihaus" bezeichnete Gebäude in der Jenaischen Straße von Demonstranten abgesperrt, um die Teilnahme von Rechtsextremisten - die in dem Haus vermutet wurden - an dem Aufmarsch zu verhindern. Polizeibeamte beendeten die Blockade des Gebäudes und sprachen Platzverweise aus. Ein starkes Polizeiaufgebot unterband den Versuch von Gegendemonstranten, den Aufzug der Rechtsextremisten zu stören bzw. zu blockieren. Mehrere Personen, die Steine und Flaschen geworfen hatten, nahm die Polizei vorläufig fest. Das linksextremistische Spektrum, darunter der "Infoladen Schwarzes Loch" aus Jena, die Gruppe "mila26" sowie die "DKP Jena", hatten die Mobilisierung unterstützt oder sich an ihr beteiligt. Zugleich hatten das Netzwerk ATAG, die AAG und die F.U.R.A. sowie "mila26" auf ihren Homepages auf die Gegenaktionen hingewiesen. "Mila26" steigt aus dem Aktionsbündnis wieder aus Die Gruppe "mila26" hatte jedoch in einer im Internet veröffentlichten Stellungnahme kurzfristig ihren Rückzug aus dem "Bündnis gegen den Naziaufmarsch" erklärt. "Mila26" habe sich dem Bündnis angeschlossen, erklärten die Verfasser der Stellungsnahme, um "den Nazis in Thüringen endlich mal wieder etwas mit geballter Kraft entgegensetzen zu können". Die Gruppe, die zum "antideutschen" Spektrum innerhalb des linksextremistischen Lagers gerechnet wird, sei jedoch aus dem Bündnis wieder ausgeschieden, da sie dessen Auseinandersetzung mit der Teilnahme von "Nazis" an den "Montagsdemonstrationen" für völlig unzureichend gehalten habe und ihre politische Ausrichtung gegenüber Israel mit der inhaltlichen Position anderer Bündnispartner unvereinbar sei. So sei ein Anhänger der Gruppe "mila26" auf einer für die Aktionen gegen den Aufmarsch der Rechtsextremisten organisierten "Soliparty" von einem Mitglied des Vorbereitungsbündnisses aufgefordert worden, ausgelegte Aufrufe mit dem Titel "Antifaschismus heißt Solidarität mit Israel!" wieder einzupacken. E- benso hätte die Gruppe auf der "Soliparty" Aufrufe für die am 3. Oktober geplante Demonstration deshalb nicht verbreiten dürfen, vermutete sie, weil diese ihre Solidarität mit Israel zum Ausdruck brachten. "Wäre es im Bündnis zum Eklat gekommen", fragten die Verfasser der Stellungnahme, "wenn wir am 04.09. mit Israelfahnen demonstriert hätten?" "Wie hätte es unser 'Bündnispartner' DKP Jena gehalten, eine Gruppe jener Partei, deren inoffizielles Theorieorgan - die 'Marxistischen Blätter' - auch schon mal die im Bundestag vertretenen Parteien zu Aktionen gegen Israel auffordert oder auf einer internationalen Konferenz eine ebenso internationale Demonstration in Palästina einfordert ...? Sie sind deutsch - wie der Name schon sagt." Autonomes Spektrum demonstriert am "Tag der Deutschen Einheit" in Erfurt gegen "deutsche Zustände" Die in diesem Jahr am 3. Oktober in Erfurt ausgerichteten zentralen Feierlichkeiten zum "Tag der Deutschen Einheit" nahmen etwa 200 Personen zum Anlass, mit einer Demonstration ihren Hass auf die "deutschen Zustände" zum Ausdruck zu bringen. Der Aufzug war von der 98 Gruppe "mila26" mit Unterstützung weiterer Gruppen und Zusammenschlüsse, die gleichfalls "antideutsche/antinationale" Ansichten vertreten, unter dem Motto "Deutschland hassen" organisiert worden. Die Veranstaltung verlief am Rande der Feierlichkeiten störungsfrei. In Erfurt hatte bereits am 2. Oktober 2002 eine so genannte Hass-Demonstration stattgefunden, die unter der Losung "Es gibt tausend Gründe, Deutschland zu hassen! - Für das Ende der Gewalt!" ebenfalls gegen den "Tag der Deutschen Einheit" gerichtet war und etwa 200 Personen angezogen hatte. Seinerzeit war die Anzahl der Teilnehmer, deren Mehrheit dem autonomen Spektrum entstammte, unter den Erwartungen der Organisatoren, Gruppen und Angehörigen des Netzwerks ATAG geblieben, die mit etwa 500 Demonstranten gerechnet hatten. Auch in diesem Jahr dürften die Veranstalter von der Anzahl derjenigen, die sich an der Demonstration beteiligten, enttäuscht gewesen sein. Immerhin hatten nach Angaben der Organisatoren mehr als 40 "antideutsche/antinationale" Gruppen bundesweit für die Veranstaltung in Erfurt geworben. Die Organisatoren der Demonstration vom 2. Oktober 2002 hatten den "Tag der Deutschen Einheit" mit der Einverleibung der DDR, nationalem Größenwahn, Pogromen wie in RostockLichtenhagen, Geschichtsentsorgung und Antisemitismus gleichgesetzt. Die Veranstalter des Protestmarschs vom 3. Oktober dieses Jahres bekundeten zusätzlich ihre Solidarität mit Israel und ihre "antideutsche" Ausrichtung. Gruppe "mila26" bekräftigt ihre "antideutsche" Position Die Gruppe "mila26" publizierte im Internet einen Text, in dem sie den "Tag der Deutschen Einheit" zum Anlass nimmt, ihre Ansichten darzulegen. Entsprechend ihrer "antideutschen" Einstellung sieht sie in Deutschland ein "nationales Projekt", das mit der "Judenvernichtung die regressivste Antwort auf die Krisenhaftigkeit kapitaler Vergesellschaftung als erstes durchgesetzt" habe. Deutschlands Politik rede heute von Frieden, meine damit jedoch nur die Zusammenarbeit und Unterstützung faschistischer Regime. Deutschland verfolge eine Politik, die sich als "ehrlicher Makler" im Nahen Osten begreife, auf europäischer Ebene indes finanziell Terrorakte gegen Israel unterstütze. Angesichts von Bewegungen, die das Projekt "Judenvernichtung" aktuell wieder aufnähmen, sei es absolut notwendig, Solidarität mit Israel und der zionistischen Idee zu üben sowie die palästinensische Konterrevolution und deren rechte wie linke "BefürworterInnen" insbesondere in Deutschland zu bekämpfen. Der Aufruf der Gruppe "mila26" schloss mit den Worten: "Nie wieder Deutschland. Solidarität mit Israel! Für den Kommunismus." 5. Terroristische Gruppierungen Terrorismus ist der nachhaltig geführte Kampf für politische Ziele, die mit Hilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen durchgesetzt werden sollen, insbesondere durch schwere Straftaten wie Mord, Totschlag, erpresserischer Menschenraub, Brandstiftung, Sprengstoffanschläge oder durch andere Gewalttaten, die der Vorbereitung solcher Straftaten dienen. Auch im Jahre 2004 blieben Aktivitäten linksterroristischer Gruppen aus. Die Rote Armee Fraktion hatte bereits 1998 ihre Auflösung erklärt. 99 6. Nutzung moderner Kommunikationsmittel durch Linksextremisten Auch im Jahr 2004 stellte das Internet für die Linksextremisten das wichtigste Medium dar, um ihre Ansichten zu verbreiten und Kontakte aufzunehmen. Zugleich bedienten sie sich jedoch weiterhin klassischer Mittel der Kommunikation, unter denen Flugschriften, Handzettel und Szeneschriften die größte Bedeutung besitzen. Das Internet bietet dem linksextremistischen Spektrum die Möglichkeit, sich über die regionalen Grenzen hinweg auf nationaler und internationaler Ebene kostengünstig und schnell zu verständigen und zu vernetzen. Fast alle linksextremistischen Gruppierungen verfügen inzwischen über eine Homepage, auf der sie ihre Ziele und Vorstellungen propagieren sowie Aufrufe, Termine und andere Informationen veröffentlichen. Wenn die Linksextremisten E-Mail-Anschlüsse nutzen, setzen sie auch Verschlüsselungsprogramme ein, um Informationen vor unerwünschten Mitlesern zu schützen. Die marxistisch-leninistischen Parteien und Organisationen sind fast ausnahmslos im Internet vertreten. In Thüringen trifft das auf die Untergliederungen von DKP und SDAJ zu, die eigene Homepages betreiben. Beide sind untereinander und mit den jeweiligen Bundesgliederungen über Links verbunden. Im Unterschied zum Vorjahr wurden die Seiten 2004 aktualisiert, wenn auch in unregelmäßigen Abständen. Auch die autonome Szene Thüringens betreibt eigene Websites, die mehr oder weniger regelmäßig aktualisiert werden. Von Bedeutung waren im Berichtszeitraum die Homepages der AAG, des Erfurter Infoladens "Sabotnik", des Netzwerks ATAG und der Meininger Gruppe F.U.R.A.. Auf diesen Seiten wurde zeitnah und aktuell über geplante bzw. bereits durchgeführte Aktionen der Autonomen berichtet. Mobilisierungsaufrufe, Diskussionsbeiträge und Presseerklärungen werden in den Archiven der Homepages abgelegt. Bei nahezu allen demonstrativen Aktionen nutzte die autonome Szene Thüringens in diesem Jahr das Internet, um ihre Anhänger zu mobilisieren. So wurden hier nicht nur der Ablauf und die Gruppen, die die Aktionen unterstützten, bekannt gegeben, sondern auch ausführlich die Hintergründe der geplanten Aktionen dargestellt. Die Websites weisen sowohl auf regionale Termine als auch auf überregionale Aktionen hin. Diese Hinweise scheinen jedoch eher das Interesse der Thüringer Gruppierungen an Aktionen anderer Gruppierungen und eine gewisse Solidarität mit ihnen auszudrücken. Sie können grundsätzlich nicht als Indiz für eine aktive Beteiligung an Aktionen in anderen Bundesländern angesehen werden. Als wichtiger Knotenpunkt im Internet hat sich das internationale Netzwerk "indymedia" etabliert. Es wird auch von Thüringer Linksextremisten, vorrangig aus dem autonomen Spektrum, genutzt. Im Jahr 2004 nutzte vorzugsweise die AAG die relativ unkomplizierten Publikationsmöglichkeiten, die das Netzwerk jedermann bietet, um dort eigene Beiträge zu veröffentlichen. 7. Politisch motivierte Kriminalität - Links - im Überblick Die im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - Links - in den Jahren 2002, 2003 und 2004 in Thüringen begangenen Straftaten lassen sich wie folgt darstellen:67 67 Quelle: Thüringer Landeskriminalamt (LKA) 100 Straftaten 2002 2003 2004 insgesamt 39 75 67 davon im Einzelnen: Gewaltkriminalität68 14 9 16 Sachbeschädigungen 8 26 13 Verstöße gegen das 8 23 21 Versammlungsverbot Sonstige 9 17 17 Die Anzahl der Straftaten, die im Jahr 2004 im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - Links - begangen wurden, ist im Vergleich mit dem Vorjahr leicht zurückgegangen. Von den im Berichtszeitraum registrierten 67 Straftaten wurden 58 allein in den Schutzbereichen der Polizeidirektionen Gera, Gotha und Jena begangen, die neben Erfurt regionale Schwerpunkte des autonomen Spektrums bilden. 68 Siehe Definition S. 71 101 IV. Ausländerextremismus 1. Allgemeines Ausländerextremistische Organisationen besitzen weder einheitliche Strukturen noch verfügen sie über eine homogene Ideologie. Entsprechend ihrer Ausrichtung sind sie islamistisch, linksextremistisch oder nationalistisch geprägt. Ebenso haben sie eine unterschiedliche Einstellung zu der Frage, ob es legitim ist, zur Durchsetzung politischer Ziele Gewalt einzusetzen. Während einige Gruppierungen durch Gewalt oder entsprechende Vorbereitungshandlungen die innere Sicherheit oder auch auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, entfalten andere Aktivitäten, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gerichtet sind. Oftmals dienen Aktivitäten von Ausländerextremisten in Deutschland dem Ziel, Veränderungen der politischen Verhältnisse in den Heimatländern herbeizuführen. Außerdem versuchen sie, die Bundesrepublik mit entsprechenden Handlungen in Bezug auf dieses Ziel unter Druck zu setzen. Einige ausländerextremistische Gruppierungen nutzen die Bundesrepublik als Ruheund Rückzugsraum. Gruppierungen solcher Art erschlossen sich in Deutschland darüber hinaus Möglichkeiten, finanzielle Mittel für den Kampf in der Heimat zu beschaffen. Aktuelle Einzelfälle ließen jedoch erkennen, dass hier agierende, insbesondere islamistische Gruppen Anschläge auf Objekte und Personen planen. Bundesweit gehören rund 56.570 Ausländer einer extremistischen Vereinigung an. Somit ist im Vergleich zum Vorjahr ein leichter Rückgang zu verzeichnen (2003: 57.300). Nach wie vor verfügen die islamistischen Gruppen, denen 31.300 Personen (2003: 30.950) zugerechnet werden, über das größte Mitgliederund Anhängerpotenzial. Linksextremistischen Ausländergruppierungen werden 16.840 Personen (2003: 17.470), dem extrem-nationalistischen Spektrum 8.430 (2003: 8.880) Personen zugerechnet. Nur eine kleine Minderheit der im Freistaat Thüringen lebenden Ausländer gehört einer extremistischen Organisation an oder unterstützt eine solche. Wie auch in den Vorjahren verfügt der "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL, früher PKK, danach KADEK) im Freistaat über gefestigte Strukturen. Wenige Anhänger der "Türkischen Kommunistischen Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) traten 2004 erstmals öffentlich als "ATIF"-Gruppe in Erscheinung. Mitunter werden auch in einigen hiesigen muslimischen Kreisen die Ideologien und Werte des "Westens" als schädlich und feindlich für Muslime dargestellt. Bestrebungen in Thüringen, Anhänger für Bewegungen zu gewinnen, die islamistische Grundsätze vertreten, werden vom Landesamt für Verfassungsschutz aufmerksam beobachtet. Bislang können diesem Spektrum Einzelpersonen und kleine Gruppen zugeordnet werden, die nach bisherigen Erkenntnissen im Allgemeinen nicht der Gewalt zuneigen. Im Jahr 2004 stieg das ausländerextremistische Personenpotenzial in Thüringen auf ca. 130 Personen (2003: etwa 100) an. Dieser Anstieg ist im Wesentlichen auf einen Zuwachs islamischer Extremisten zurückzuführen. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten ausländerextremistischer Gruppierungen, die z.B. in Informationsständen ihren Ausdruck fanden, waren in Thüringen selten. Sie knüpften meist an aktuelle Ereignisse an oder dienten dem Zweck, auf die Verhältnisse in den Heimatländern aufmerksam zu machen. In Thüringen lebende Anhänger extremistischer Gruppierungen beteiligten sich auch an überregionalen Veranstaltungen. 102 2. Islamismus Als Islamismus wird eine politisch instrumentalisierte Glaubensform des Islam bezeichnet. Extremisten fordern im Namen des Islam eine Gesellschaftsordnung, die im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht. Sie berufen sie sich auf den Koran, der in ihren Augen uneingeschränkte Gültigkeit besitzt und ihrer Forderung somit einen Absolutheitsanspruch verleiht. Ein Teil der Islamisten bewertet die im Koran enthaltene Aufforderung zum "Jihad" (wörtlich "innerer Kampf", "Anstrengung", auch "Heiliger Krieg") als Rechtfertigung und Verpflichtung, ihre politischen Ziele auch mit Gewalt durchzusetzen.69 Islamismus weltweit Der Palästinakonflikt polarisiert Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, mit denen sich viele Muslime solidarisieren, ist nach wie vor eines der Diskussionsthemen, die innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft vorherrschen. Insbesondere die Anhänger islamistischer und terroristischer Gruppierungen verfolgen die Entwicklung in den palästinensischen Gebieten mit großer Aufmerksamkeit, um hieraus politisches und propagandistisches Kapital zu ziehen. Im Berichtszeitraum lieferten ihnen vor allem die Errichtung des Grenzzauns zwischen dem Kernland Israels und den besetzten Gebieten sowie die gezielte Tötung des HAMAS-Gründers Scheich Ahmed JASSIN am 22. März und seines Nachfolgers Abdel Asis RANTISI am 17. April weitere Gründe, um den gewaltsamen Kampf gegen Israel und seine westlichen Verbündeten zu rechtfertigen. Der Tod des PLO-Führers und Palästinenserpräsidenten Jassir ARAFAT am 11. November zwingt alle Konfliktparteien, sich in vielen unterschiedlichen Teilfragen des Konflikts neu zu positionieren. Die Auseinandersetzung zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern wird für gewaltbereite Islamisten bis auf weiteres eine besondere Rolle spielen, um den internationalen islamistischen "Jihad" zu begründen. Irak als Motivationsfaktor des internationalen "Jihads" Nicht minder wirkte die Entwicklung im Irak auf den internationalen islamistischen Terrorismus ein. In der Vorstellung gewaltbereiter Islamisten verpflichtet die Präsenz US-amerikanischer und alliierter Truppen im Zweistromland geradezu zum Kampf, zum "Jihad". Insgesamt waren die Verhältnisse im Irak im Jahre 2004 durch eine sich zunehmend ausprägende Feindseligkeit gegenüber den "ausländischen Besatzern" und ihren "irakischen Kollaborateuren" gekennzeichnet. Diese ablehnende Einstellung erstreckt sich mittlerweile auf einen großen Teil der irakischen Zivilbevölkerung. Der mit terroristischen und mit militärischen Mitteln geleistete Widerstand wird sowohl von ausländischen Mujahedin ("Glaubenskriegern") als auch von irakischen Gruppierungen, wie den Anhängern des radikalen schiitischen Geistlichen Muqtada AS-SADR, getragen. Die Anschläge gegen Ausländer und jene Personen, die die irakische Übergangsregierung unterstützen, nahmen stark zu, nachdem die Misshandlungen irakischer Gefangener durch US-Soldaten im Frühjahr 2004 bekannt geworden sind. Insgesamt wurden im Berichtszeitraum rund 250 Ausländer aus über 30 Staaten im Irak entführt und mehr als 40 Geiseln ermordet. 69 Dementsprechend steht die Bezeichnung "islamistisch" für eine islamisch-extremistische Ausrichtung. 103 Dass der Irak zum Kampfplatz des islamistischen Terrorismus geworden ist, verdeutlichen die verschiedenen Stellungnahmen des Terrornetzwerks "Al-Qaida". So erschien am 7. Mai eine Botschaft ihres Anführers Usama BIN LADEN im Internet, in der er zum "Heiligen Krieg" und zum Kampf gegen die Zivilverwaltung im Irak und deren "Kollaborateure" aufrief. In den letzten anderthalb Jahren führten sowohl "Al-Qaida" als auch andere MujahedinGruppen eine regelrechte "Propagandaoffensive". In einer Reihe von Verlautbarungen riefen z.B. Usama BIN LADEN, Ayman AL-ZAWAHIRI und Musab AL-ZARQAWI die Muslime auf, den "Jihad" gegen die "Ungläubigen" - die USA sowie ihre Alliierten und Sympathisanten - hauptsächlich im Irak, in Afghanistan und Palästina aufzunehmen bzw. fortzuführen. Darüber hinaus drohten sie den gemäßigten Regierungen muslimischer Länder (vor allem Pakistan und den Golfstaaten) Gewaltaktionen an, weil sie mit den "Kreuzrittern" zusammenarbeiteten. Islamistisch motivierte terroristische Anschläge im Jahr 2004 Die verheerenden Anschläge des Jahres 2004 haben gezeigt, dass die weltweite Bedrohung durch den islamistisch motivierten Terrorismus weiterhin andauert. Obwohl die Sicherheitsbehörden ihre Bemühungen intensiviert haben, ließen sich Anschläge nicht verhindern. Inzwischen passen die islamistischen Glaubenskämpfer ihr taktisches Kalkül immer mehr den veränderten Gegebenheiten an: Sie führen Anschläge an Orten durch, wo Sicherheitsvorkehrungen nur eingeschränkt getroffen werden können und die Zahl der Opfer möglichst hoch ist. Diese Taktik veranschaulichte der Anschlag in Madrid, als eine spanisch-marokkanische Gruppe von Islamisten am 11. März während des morgendlichen Berufsverkehrs in drei Pendlerzügen Sprengsätze zündete. 191 Personen wurden getötet, über 1.500 zum Teil schwer verletzt. Anschläge "mit Botschaft" In der Wahl des Anschlagszeitpunkts, drei Tage vor den spanischen Parlamentswahlen, offenbarte sich eine neue Qualität des Terrors. Mit dem Attentat sollten nicht nur Angst und Schrecken - was dem "klassischen" Ziel des Terrorismus entspricht - verbreitet werden, sondern auch gezielt Einfluss auf politische Prozesse genommen werden. Zudem gelang es einer islamistischen Terrorgruppe erstmals, ein gesellschaftspolitisches Spannungsfeld analytisch zu erfassen und das hieraus resultierende politische Konfliktpotenzial für ihre Zwecke auszunutzen. Im Falle der Madrider Anschläge ging ihr Kalkül auf: die Informationspolitik der damaligen spanischen Regierung unter dem Ministerpräsidenten AZNAR führte im Zusammenhang mit den Anschlägen dazu, dass der sicher geglaubte Wahlerfolg der bisherigen Regierung ausblieb und schließlich die Opposition die Mehrheit der Wählerstimmen für sich gewinnen konnte. Zusätzliche Brisanz erhielten die Vorgänge dadurch, dass Ministerpräsident AZNAR im Gegensatz zur Mehrheit der spanischen Bevölkerung zu den Befürwortern eines militärischen Engagements im Irak zählte und die Anschläge nicht zuletzt mit eben dieser Position der spanischen Regierung im Irak-Konflikt begründet wurden. Usama BIN LADEN nahm auf das Attentat in Madrid Bezug: Am 15. April trat er mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit, in der er die Anschläge rechtfertigte und die Europäischen Staaten ultimativ aufforderte, binnen dreier Monate jegliches militärische Engagement in islamischen Staaten zu beenden. Charakteristisch für die propagandistische Offensive des internationalen Jihad-Terrorismus ist mittlerweile ein professioneller Umgang mit den vielfältigen Möglichkeiten, die die moderne globale Medienlandschaft bietet. Vor allem dem Internet kommt eine herausragende Rolle zu, 104 um Forderungen und politischen Botschaften zu verbreiten. Die Einbindung der Weltöffentlichkeit als Adressat ihrer Verlautbarungen, die das Internet ermöglicht, eröffnet der Kommunikationsstrategie von Islamisten ein globales Resonanzfeld. Zudem wirkt sich das Bewusstsein, den "Jihad" gleichsam "auf der Bühne der internationalen Medienöffentlichkeit" auszutragen, motivierend auf Gleichgesinnte aus, vermittelt es ihnen doch den Eindruck der Stärke. Auch als interne Kommunikationsmittel haben die neuen Medien für die Islamisten eine große Bedeutung erlangt. Im Internet geben zahlreiche Seiten beispielsweise praktische Anleitungen, um Anschläge vorzubereiten. Oft enthalten sie auch Sequenzen aus Kriegsfilmen, in denen islamistische Glaubenskämpfer heldenhaft inszeniert werden. Eskalation der Gewalt Die Eskalation und brutale Enthemmung der Gewalt, die über die Videound Internetbotschaften islamistischer Terrorgruppierungen verbreitet wird, spiegelt sich in der steigenden Skrupellosigkeit der jüngsten Anschläge wider. Am 1. September 2004 brachten tschetschenische Separatisten70 im nordossetischen Beslan in einer Schule mehr als 1.000 Geiseln in ihre Gewalt. Infolge der Befreiungsaktion, die russische Sicherheitskräfte durchführten, kamen über 330 Menschen, vorwiegend Kinder, ums Leben. Im Irak enthaupteten Islamisten im Jahr 2004 mehrere ausländische Geiseln und exekutierten Iraker, die sie der Kollaboration mit den US-Streitkräften bzw. der irakischen Übergangsregierung beschuldigten. Um auf die internationale Staatengemeinschaft Druck auszuüben, verbanden die Geiselnehmer ihre Morde regelmäßig u.a. mit der Forderung, alle ausländischen Truppenkontingente aus dem Irak abzuziehen. Die Videobänder der Hinrichtungen wurden zudem im Internet oder von arabischen Fernsehsendern veröffentlicht, um den politischen Handlungsspielraum der Regierungen der Entsendestaaten zusätzlich einzuengen. Strukturelle Veränderungen im islamistischen Terrorismus Die globale islamistische Terrorszene wandelt sich mehr und mehr zu einem lockeren, interkontinentalen Netzwerk mit flachen Hierarchien und einer höchst wandlungsund anpassungsfähigen Organisationsstruktur. Diese Struktur gründet auf das Prinzip der personellen Verzahnung, was die Verbreitung der Ideen islamistischer Extremisten zusätzlich erleichtert. So steht der Name "Al-Qaida" längst nicht mehr nur für eine terroristische Kaderorganisation mit avantgardistischem Selbstverständnis. Vielmehr ist er zum ideellen Credo einer weltweiten Gemeinschaft von "Glaubenskriegern", sozusagen zum "Label" eines speziellen JihadVerständnisses, avanciert. Seine Anhänger eint eine extrem strenge Interpretation des Islam, mehr noch aber ihr gemeinsamer Kampf gegen den vermeintlichen Feind, den "ungläubigen Westen". Durch seine zunehmend diffusen Strukturen und seine nur schwer zu durchdringenden Inkubationsund Verlaufsformen wird der islamistische Terrorismus in seinen Konsequenzen immer unberechenbarer. Diese Entwicklung kann für Zivilgesellschaften europäischen Zuschnitts schwerwiegende Folgen haben. Terrorismus bleibt das Gift, das Gesellschaften zersetzt, insbesondere wenn er, wie im Falle des islamistischen Terrors, die sozialen und spiritu70 Der größte Teil der tschetschenischen Bevölkerung ist muslimischen Glaubens. Seit dem Zerfall der Sowjetunion kämpfen tschetschenische Separatisten, teils islamistischer, teils nationalistischer Prägung, für die politische und territoriale Unabhängigkeit Tschetscheniens von Russland. Der islamistisch geprägte Teil der tschetschenischen Guerilla wertet ihren Widerstand als Kampf für einen islamischen Gottesstaat und versteht sich als Teil des weltweiten Jihad. 105 ellen Grundlagen des Lebens so vieler Menschen berührt. So haben die Ermordung des niederländischen Regisseurs Theo VAN GOGH durch einen islamistischen Überzeugungstäter und die hierauf folgenden Reaktionen in den Niederlanden bereits drastisch die elementaren Herausforderungen vor Augen geführt. Die Tat eines Einzelnen vermag auch das gesellschaftliche Selbstverständnis eines parlamentarisch-demokratischen Staates mit einer langen liberalen Tradition des interkulturellen Miteinanders in Frage zu stellen. Weiterhin erhöhte abstrakte Gefährdung für Deutschland Mehrere Gerichtsverfahren haben ins Blickfeld gerückt, dass Islamisten auch in Deutschland Terroraktionen geplant und vorbereitet haben. Vor diesem Hintergrund wurde auch vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf der Prozess gegen mutmaßliche Anhänger der so genannten "Al-Tawhid" Gruppe fortgesetzt. Die vier Angeklagten sollen einer Splittergruppe der "AlQaida" angehören sowie Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Berlin und Düsseldorf geplant haben. Die Prozesse zeigen auf, dass auch für die Bundesrepublik Deutschland von Seiten islamistischer Terroristen weiterhin eine erhöhte abstrakte Gefährdung ausgeht. Islamismus in Thüringen Die große Mehrheit der Muslime, die in Thüringen lebt, praktiziert ihren Glauben friedlich und im Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Anzahl der Muslime steigt in Thüringen - wenn auch in einer vergleichsweise geringen Größenordnung - kontinuierlich an, weil sie sich entweder im Asylverfahren befinden oder aus anderen Bundesländern zuziehen. Dieser Entwicklung tragen die ortsansässigen Muslime, die ihren Glauben ausüben wollen, Rechnung. Inzwischen sind in jeder größeren Stadt geeignete Räumlichkeiten vorhanden, um sich zum gemeinsamen rituellen Freitagsgebet zusammenzufinden. So wurde z.B. in der Landeshauptstadt Erfurt im Jahr 2004 ein zweiter Moscheeverein gegründet. Die Muslime in Thüringen werden in dieser Beziehung vor allem von etablierten Moscheevereinen aus den alten Bundesländern unterstützt. Auch islamistische Gruppierungen versuchen, ihre Position unter den Muslimen in den neuen Bundesländern auszubauen und Anhänger zu gewinnen. Beispielhaft hierfür sei der Auftritt eines hochrangigen Funktionärs der in München ansässigen "Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD), genannt, der sich im Frühjahr bei einer Festveranstaltung Thüringer Muslime als Referent an seine Glaubensbrüder wandte. 2.1 Islamistische Vereinigungen in Deutschland mit Bezug auf Thüringen Die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD)/"Muslimbruderschaft" Die IGD, deren Sitz sich in München befindet, stellt einen der größten muslimischen Verbände in der Bundesrepublik dar. Unter ihrem organisatorischen Dach sind eine Reihe so genannter "Islamischer Zentren" (Moscheevereine) in Deutschland zusammengefasst, die der Ideologie der "Muslimbrüder" nahe stehen. Die "Muslimbruderschaft", die 1928 in Ägypten gegründet wurde, ist inzwischen in nahezu allen arabischen Staaten sowie in Ländern mit muslimischen Bevölkerungsanteilen verbreitet. Das Ziel der "Muslimbruderschaft" besteht darin, durch z.T. verdeckte religiöse, gesellschaftliche und politische Einflussnahme eine schleichende Transformation der jeweiligen Staatswesen in eine islamistische Staatsform herbeizuführen. Die IGD vertritt nach außen einen Islam, der zum Dialog bereit und zur Toleranz fähig ist. Der "Muslimbruderschaft" gehörten im Berichtszeitraum wie im Jahr 2003 bundesweit ca. 1.300 Personen an. 106 "Tabligh-i Jamaat" (TJ) - "Gemeinschaft für Verkündigung und Mission" Die weltweiten Ereignisse, die auf den 11. September 2001 folgten, wirkten nachhaltig auf die Diskussionsprozesse innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft ein. Sie fordern und fördern eine eindeutige Positionierung in der Frage, wie sich das künftige Miteinander von Kulturen, Religionen und Gesellschaften gestalten soll. Im Umkehrschluss werfen sie auch die Frage nach der Identität der Muslime auf. Diese offene, von kontroversen Auseinandersetzungen und teilweise konträren Standpunkten gekennzeichnete Situation innerhalb der weltweiten muslimischen Gemeinde wird von einzelnen islamistischen Gruppierungen dazu genutzt, vermeintlich "schwache" Glaubensbrüder auf den "richtigen Weg zu bringen". Dieses Ziel verfolgt vor allem die Bewegung "Tabligh-i Jamaat" (TJ) - "Gemeinschaft für Verkündigung und Mission" - mit besonderem Nachdruck. Sie hat in der Bundesrepublik etwa 450 Anhänger (2003: 200). Die TJ wurde Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Indien als islamische Erweckungsund Missionisierungsbewegung gegründet. Sie ist durch ihren transnationalen Wirkungskreis gekennzeichnet und definiert sich nicht über ethnische Zugehörigkeiten. Das von der TJ missionarisch vermittelte Islamverständnis ist auf einen - im Gegensatz zum Volksislam - vermeintlich unverfälschten, von äußeren Einflüssen gereinigten Islam gerichtet. Das Ziel der inzwischen nahezu weltweit aktiven Bewegung besteht darin, Muslime hin zu einem streng an Koran und Sunna ausgerichteten Leben zu führen. Den weltweit neu geworbenen Anhängern werden nicht selten mehrmonatige Lehrgänge in Koranschulen in Pakistan vermittelt. Solche intensiven Schulungen sind geeignet, die Teilnehmer religiös zu indoktrinieren und auch für islamistische Positionen empfänglich zu machen. Die Absolventen solcher Lehrgänge haben in der Vergangenheit auch den Weg in Ausbildungslager arabischer Mujahedin in Afghanistan gefunden. Die Anhänger der TJ reisen in kleinen Gruppen weltweit umher, um im Sinne des von ihnen propagierten Islamverständnisses zu missionieren und neue Anhänger zu gewinnen. Auch in Thüringen versuchen Anhänger der TJ, insbesondere wirtschaftlich und sozial benachteiligte junge Muslime in intensiven persönlichen Gesprächen anzuwerben. 3. "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) gegründet: im November 2003; nach erfolgter Auflösung des "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK), der als Nachfolgeorganisation der 1978 in der Türkei gegründeten und im April 2002 aufgelösten "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) gilt Betätigungsverbot: das vereinsrechtliche Betätigungsverbot vom 26.11.1993 gegen die PKK erstreckt sich auch auf den KONGRA-GEL Leitung: Führungsfunktionäre der "Kurdisch Demokratischen Volksunion" (YDK), seit Juni 2004 "Koordination der kurdischen demokratischen Gesellschaft in Europa" (CDK) Publikationen: u.a. "Serxwebun" (Unabhängigkeit) Mitglieder/Anhänger (Bund) ca. 11.500 (2003: 11.500) Teilgebiet Erfurt: ca. 60 (2003: ca. 60) 107 3.1 Allgemeine Lage Die von Abdullah ÖCALAN 1978 in der Türkei gegründete "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) verfolgte zunächst das Ziel, die Kurden aus der Unterdrückung zu befreien und einen eigenen kurdischen Nationalstaat zu errichten. Ab 1984 führte die PKK über viele Jahre im Südosten der Türkei einen Guerillakrieg gegen das türkische Militär, um diese Ziele durchzusetzen. Auch in Deutschland griff sie türkische Einrichtungen an, um auf die Anliegen der Partei aufmerksam zu machen. Am 15. Februar 1999 wurde der Vorsitzende der PKK, Abdullah ÖCALAN, in Kenia festgenommen, in die Türkei verbracht und wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde 2002 in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. Noch 1999 rief ÖCALAN seine Anhänger auf, den bewaffneten Kampf einzustellen. Daraufhin beendeten die Guerillaeinheiten der PKK ihre Operationen in der Türkei und zogen sich überwiegend in den Nordirak zurück. Auf dem 7. außerordentlichen Parteikongress der PKK wurde Anfang 2000 beschlossen, die PKK grundlegend neu auszurichten, um aus ihr eine legale und politische Organisation zu formen. Das Ziel, einen autonomen Kurdenstaat zu errichten, wurde aufgegeben. Vielmehr strebte die PKK nunmehr an, die kulturelle Autonomie der Kurden innerhalb einer demokratischen Türkei durchzusetzen. Die Partei bemühte sich, als politische Kraft in der Türkei und Europa anerkannt zu werden. Seither folgte die PKK der von ÖCALAN vorgegebenen "Friedensstrategie". Sie behielt sich die Rückkehr zum bewaffneten Kampf jedoch vor, falls sie von der türkischen Regierung angegriffen oder diese die kurdische Frage nicht zufriedenstellend lösen werde. Auf dem 8. Parteikongress, der im April 2002 stattfand, erklärte die PKK ihre "historische Mission" für beendet und beschloss, alle Aktivitäten unter der Bezeichnung "PKK" einzustellen. Als einzige legitime Nachfolgeorganisation wurde der KADEK bestimmt. Der KADEK, hieß es in der Abschlusserklärung des 8. Parteikongresses, strebe die Lösung der kurdischen Frage auf der Basis "demokratisch-freiheitlicher Prinzipien" an. Als Aktionsform, die die politischen und gesellschaftlichen Probleme der Kurden in der Türkei lösen könne, wurde von Seiten der Organisation einzig der "friedliche demokratische Volksaufstand" (Serhildan) akzeptiert. Die "Volksverteidigungseinheiten" (HPG), d.h. die vom KADEK weiterhin im Nordirak unterhaltenen Guerilla-Einheiten, stünden lediglich zur legitimen Selbstverteidigung zur Verfügung. Am 26. Oktober 2003 beschloss der KADEK auf seinem 2. außerordentlichen Kongress einstimmig seine Auflösung. Presseberichten zufolge wollte der KADEK mit seiner Auflösung den Weg dafür frei machen, die Organisation innerhalb eines demokratisch-ökologischen Systems neu zu strukturieren. Die Auflösung zielte zugleich dahin, eine Vertretung des kurdischen Volks zu schaffen, die innerhalb internationaler Kriterien eine legale und demokratische Politik betreiben und eine demokratische Lösung der kurdischen Frage in Zusammenarbeit mit souveränen Staaten anstreben könne. Nachdem der KADEK aufgelöst worden war, fand zwischen dem 27. Oktober und 6. November im Nordirak der Gründungskongress des "Volkskongresses Kurdistans" (kurdisch: Kongra Gel(e) Kurdistans-KONGRA-GEL; türkisch: "Kurdistan Halk Kongresi"-KHK) statt. Die Gründung des KONGRA-GEL wurde auf einer Pressekonferenz am 15. November bekannt gegeben. Mit der Gründung des KONGRA-GEL strebten die Organisatoren die Schaffung einer Massenorganisation an, unter deren Dach alle kurdischen Interessengruppen vertreten sein sollten. Das Hauptziel des KONGRA-GEL bestehe darin, betonten die Organisatoren, die Lösung der kurdischen Frage in der Türkei, im Iran, im Irak und in Syrien mit friedlichen und demokratischen Mittel herbeizuführen. 108 Betätigungsverbot Seit 1993 unterliegt die PKK in Deutschland aufgrund ihrer früheren gewaltbereiten und terroristischen Agitation einem vereinsrechtlichem Betätigungsverbot. Im August 2002 stellte der Bundesinnenminister fest, dass die Neugründung des KADEK lediglich als bloße Umbenennung der PKK zu werten sei und sich das vereinsrechtliche Betätigungsverbot gegen die PKK folglich auch auf den KADEK erstreckt. In einer Stellungnahme vom Juli 2004 kommt das Bundesinnenministerium zu dem Schluss, dass das vereinsrechtliche Betätigungsverbot der PKK auch auf den KONGRA-GEL fortwirkt, da der KONGRA-GEL - wie bereits der KADEK - lediglich eine Umbenennung der PKK darstellt. 3.2 Organisatorische Situation Die Generalversammlung stellt mit 300 Mitgliedern das oberste Entscheidungsorgan des KONGRA-GEL dar. Die Organisation setzt sich zudem aus der Führung, die von der Generalversammlung mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt wird, dem Kongressvorsitz, der aus dem Vorsitzenden und dessen sechs Stellvertretern besteht, sowie dem Exekutivrat, dessen 40 Mitglieder alle drei Jahre ebenfalls von der Generalversammlung gewählt werden, zusammen. Neben diesen Gremien umfasst die Organisation noch zehn Komitees, einen Disziplinarausschuss, dem 11 Mitglieder angehören, einen Beratungsausschuss, der sich aus 15 Personen zusammensetzt, sowie eine demokratisch-ökologische Koordinationsstelle. Zübeyir AYDAR, der dem Präsidialrat des "Kurdischen Nationalkongresses"(KNK)71 angehörte, wurde auf dem Gründungskongress zum Vorsitzenden des KONGRA-GEL gewählt. Osman ÖCALAN und Riza ALTUN, bisher Europaverantwortlicher und Mitglied des Generalpräsidialrats des KADEK, wurden u.a. zu Stellvertretern AYDARs bestimmt, Abdullah ÖCALAN vom KONGRA-GEL zur "Führungspersönlichkeit" des kurdischen Volkes ernannt. Die vormals vom KADEK im Nordirak unterhaltenen Guerilla-Einheiten wurden für autonom erklärt, unterstünden jedoch dem politischen Willen des KONGRA-GEL. Für die politischen Aktivitäten in Europa waren zunächst weiterhin die Führungsfunktionäre der "Kurdischen Demokratischen Volksunion" (YDK) verantwortlich. Im Juni 2004 richtete die YDK ihren 5. ordentlichen Kongress in Frankreich aus, auf dem sie ihre Auflösung und Reorganisation unter dem Namen "Koordination der kurdischen demokratischen Gesellschaft in Europa" (CDK) beschlossen hat. Sowohl die Gründung des KONGRA-GEL als auch der CDK haben sich bislang nicht auf die vorherrschenden Organisationsstrukturen in Deutschland ausgewirkt. Nach wie vor ist Deutschland, unabhängig von den Grenzen der Bundesländer, in drei Sektoren (Serits) eingeteilt. Ihnen schließen sich als nachgeordnete Hierarchieebenen die Gebiete (Bölge) an, in denen weiterhin die Räume/Teilgebiete (Alan) und Stadtteile (Semt) zusammengefasst sind. Anordnungen und Vorgaben werden entsprechend der vorherrschenden Hierarchiestruktur über die verschiedenen Organisationsebenen weitergegeben. Dem Teilgebiet Erfurt, das die einzige Struktur des KONGRA-GEL in Thüringen darstellt, wurden 2004 ca. 60 Mitglieder/Anhänger zugerechnet. Das Teilgebiet Erfurt umfasst den Großraum Erfurt ebenso wie Teile Westbzw. Südwestthüringens; auch im Berichtszeitraum hat es seine Anbindung an das Gebiet Kassel beibehalten. Die Anhänger des KONGRA-GEL sind auf regionaler Ebene großenteils in örtlichen Vereinen organisiert, die sich zumeist der "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." 71 Gegründet 1999 als Zusammenschluss 29 kurdischer Parteien und Organisationen, versteht er sich als politi sche Kraft, die die Interessen aller Kurden in der internationalen Politik vertritt. 109 (YEK-KOM72) angeschlossen haben. Wie aus der Internetseite der YEK-KOM hervorgeht, stellt der "Kurdisch-Deutsche-Freundschaftsverein Erfurt e.V." einen ihrer Mitgliedsvereine dar. Der Verein beteiligte sich mit öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen daran, die von der YEK-KOM in Deutschland initiierten Aktionen umzusetzen. Bereits zu Beginn des Jahres 2004 kam es innerhalb der Führung des KONGRA-GEL zu Auseinandersetzungen in der Frage, welche Politik die Organisation verfolgen solle. Infolgedessen spaltete sich eine Gruppe einflussreicher Kader um Osman ÖCALAN, den Bruder Abdullah ÖCALANs und stellvertretenden Vorsitzenden des KONGRA-GEL, ab. Diese Entwicklung mündete in die Gründung der "Patriotisch-Demokratischen Partei" (kurdisch: Partiya Welatperez'e Demokratik - PWD), deren Führung Osman ÖCALAN übernahm. Das erklärte Ziel dieser Partei besteht darin, die kurdische Befreiungsbewegung in der gesamten Region - vor allem aber in der Türkei - zu unterstützen. Die PWD werde sich weiterhin auch für Abdullah ÖCALAN einsetzen, es ihm aber nicht erlauben, auf die Politik der Partei Einfluss zu nehmen. 3.3 Finanzierung Die wichtigste Einnahmequelle des KONGRA-GEL stellt die Spendensammlung dar, die die Organisation jährlich europaweit unter den Anhängern durchgeführt. Der Erlös aus der Spendensammlung, aus dem Verkauf von Parteipublikationen, aus den monatlichen Mitgliedsbeiträgen und den Gewinnen aus der Durchführung von Veranstaltungen wird zur Finanzierung des Propagandaapparates, der Führungskräfte sowie der Unterhaltung der Guerilla-Einheiten und sonstigen Strukturen verwendet. 3.4 Propagandamittel Der KADEK bediente sich des Fernsehsenders "MEDYA-TV", um politische Erklärungen öffentlichkeitswirksam zu verbreiten. Der französische Lizenzrat hat den Sendelizenzantrag des Fernsehsenders mit der Begründung abgelehnt, der Nachfolgesender von "MED-TV73" zu sein. Diese Entscheidung wurde vom französischen Kassationshof am 12. Februar bestätigt. Pressemeldungen zufolge wurde die Betreiberfirma von "MEDYA-TV" parallel dazu aufgefordert, den Sendebetrieb sofort einzustellen. Daraufhin nahm der neue kurdische Fernsehsender "ROJ-TV74" am 1. März seinen Sendebetrieb auf. Der Sender werde, gab die irakische Nachrichtenagentur MHA bekannt, in allen kurdischen Dialekten sowie in Türkisch, Arabisch und Syrisch senden. Den Sendungen sollen die Werte von Demokratie, Gleichheit und Freiheit sowie die journalistischen Prinzipien zugrunde gelegt werden. Der Sender sehe sich als Vermittler zwischen den Kulturen. Ebenso bedient sich der KONGRA-GEL der türkischsprachigen Tageszeitung "Özgür Politika" (Freie Politik) und des Internets, um seine Ansichten und Ziele zu veröffentlichen. 72 Die YEK-KOM ist mit gleichartigen Zusammenschlüssen anderer europäischer Länder im europäischen Dachverband "Konföderation kurdischer Vereine in Europa" (KON-KURD) organisiert. 73 "MED-TV" wurde im März 1999 durch die britische Aufsichtsbehörde ITC aufgrund seiner PKK-nahen Berichterstattung die Sendelizenz entzogen. Daraufhin wurde im Juli 1999 mit einer französischen Lizenz "MEDYA-TV" installiert. 74 Roj bedeutet Tag. 110 3.5 Propaganda des KONGRA-GEL Aufnahme des KONGRA-GEL in die Listen terroristischer Organisationen der USA und der Europäischen Union (EU) Seit seiner Gründung bemüht sich der KONGRA-GEL, gegenüber der Türkei Dialogbereitschaft hinsichtlich der Lösung der Kurdenfrage zu demonstrieren und sich als neue, demokratische Organisation darzustellen. Scharf kritisierte die Organisation daher die Beschlüsse, den KONGRA-GEL in die Listen terroristischer Organisationen aufzunehmen, die einerseits die USA und andererseits die Europäische Union (EU) aufgestellt haben. Die Aufnahme des KONGRA-GEL in die Liste der USA erfolgte im Januar 2004. Der KONGRA-GEL forderte daraufhin das Außenministerium der USA vergeblich auf, den Beschluss zu prüfen und zu korrigieren. Am 2. April 2004 beschloss dann der Rat der EU, sowohl den KONGRA-GEL als auch den KADEK als Alias-Bezeichnung der bereits am 2. Mai 2002 gelisteten PKK in die EU-Liste terroristischer Organisationen einzubeziehen. Die Entscheidung der EU wurde von der Führung des KONGRA-GEL auf das Schärfste verurteilt. Dessen Vorsitzender, Zübeyir AYDAR, bezeichnete den Beschluss als haltlose, ungerechte Maßnahme, die jeder Rechtsgrundlage entbehre. Er rief dazu auf, gegen die Haltung der EU zu protestieren. "Volksverteidigungseinheiten" (HPG) kündigen den einseitigen Waffenstillstand zum 1. Juni auf In einer Presseerklärung gab der Kommandorat der HPG am 28. Mai bekannt, den von der PKK am 1. September 1998 einseitig ausgerufenen Waffenstillstand zum 1. Juni 2004 zu beenden. Der Waffenstillstand habe, heißt es in der Erklärung, infolge der in den letzten drei Monaten zunehmenden militärischen Operationen der türkischen Regierung seinen politischen und militärischen Sinn verloren. Man werde sich als Kräfte der legitimen Verteidigung entsprechend diesem Vorgehen verhalten. Es läge in der Hand der türkischen Regierung, die Konfliktsituation, die sich gegebenenfalls auch auf die Bereiche Wirtschaft und Tourismus negativ auswirken könne, nicht noch mehr zu verschärfen. Die HPG stellte daraufhin ein 8- Punkte-Programm mit Bedingungen auf, die von der türkischen Regierung zu erfüllen seien, um die Konfliktsituation zu beenden. Die HPG forderten darin u.a. von der türkischen Regierung, die Haftbedingungen Abdullah ÖCALANs zu verbessern, einen zweiseitigen Waffenstillstand anzuerkennen, demokratische Schritte zur Lösung der Kurdenproblematik einzuleiten, ihre Armee aus Kurdistan abzuziehen und Operationen des türkischen Militärs gegen die HPG einzustellen. Der Vorsitzende des KONGRA-GEL, Zübeyir AYDAR, sagte zu, die von der HPG gegenüber der türkischen Regierung erhobenen Forderungen mit der von ihm geführten Organisation zu unterstützen. Er kritisierte die türkische Regierung, seit fünf Jahren keine Schritte für den Frieden unternommen zu haben. Ausländische Investoren und Touristen, stellte er klar, seien jedoch nicht das Ziel von Angriffen. Es müsse im Gegenteil darauf geachtet werden, Zivilisten nicht zu gefährden. Die Aufkündigung des einseitigen Waffenstillstands stelle keine Kriegserklärung dar, erklärte der Vorsitzende des Verteidigungskomitees des KONGRAGEL, Murat KARAYILAN. Man werde sich künftig lediglich gegen die Angriffe des türkischen Militärs besser verteidigen. Pressemeldungen zufolge habe der KONGRA-GEL anlässlich des Weltfriedenstages am 1. September 2004 fünf Bedingungen veröffentlicht, die - wenn sie die türkische Regierung er111 füllten - zu einem dauerhaften Waffenstillstand führen sollen. Der KONGRA-GEL forderte in diesem Papier, sowohl die Lage Abdullah ÖCALANs als auch des kurdischen Volkes in der Türkei zu verbessern. Und er verlangte von der EU, die Aufnahme des KONGRA-GEL in die Liste terroristischer Organisationen rückgängig zu machen. Im November kündigte die Organisation die Rückkehr zum Waffenstillstand an, sofern die türkische Regierung die militärischen Operationen bis zum 17. Dezember einstelle und die Isolationshaft ÖCALANs aufhebe. In diesem Zusammenhang wurde von KARAYILAN eine umfassende "Sechs-Punkte-Roadmap" vorgestellt, die aus Sicht des KONGRA-GEL als Fahrplan für einen dauerhaften Frieden dienen könnte. Der 17. Dezember war möglicherweise ein bewusst gewählter Termin: An diesem Tag einigten sich die Staatsund Regierungschefs der Europäischen Union im Rahmen eines Gipfeltreffens in Brüssel darauf, im Oktober 2005 mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. AYDAR kritisierte den Ausgang der Verhandlungen, da die Belange der Kurden nicht thematisiert worden seien. Er kündigte den Beginn eines neuen Zeitabschnitts an, in dessen Verlauf die kurdische Politik überdacht und politische Maßnahmen entwickelt werden müssten. Einen gewichtigeren Platz werde in diesem Zusammenhang die Diplomatie einnehmen. Man werde sich neu organisieren und sich am laufenden Prozess der Beitrittsgespräche beteiligen. 3.6 Aktivitäten des KONGRA-GEL in Thüringen Auch im Jahr 2004 organisierten kurdische Volkszugehörige in Thüringen öffentlichkeitswirksame Aktionen. Sie zielten darauf ab, auf die Lage der Kurden in der Türkei aufmerksam zu machen, die Forderungen des KONGRA-GEL zu bekräftigen und sich für deren Umsetzung - einzig mit demokratischen Mitteln - einzusetzen. Im Vergleich zum Vorjahr ging die Anzahl der Aktionen, die die Kurden in Thüringen durchführten, jedoch zurück. Informationsstand des "Kurdisch-Deutschen-Freundschaftsvereins Erfurt e.V." am 3. Januar in Erfurt Am 3. Januar führte der "Kurdisch-Deutsche-Freundschaftsverein Erfurt e.V." unter dem Motto "Nein zur Todesstrafe auf Zeit - für ein freies Leben für Abdullah Öcalan" einen Informationsstand in Erfurt durch. Mit dieser Aktion wollten die Veranstalter auf die andauernde Isolationshaft ÖCALANs, die eine "modernisierte Form der Todesstrafe" darstelle und die "physische und psychische Vernichtung" seiner Person bedeute, hinweisen. Die Freiheit Ö- CALANs wird als Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden angesehen. Demonstration des "Kurdisch-Deutschen-Freundschaftsvereins Erfurt e.V." am 28. Februar in Erfurt Am 28. Februar beteiligten sich unter dem Motto "Anschlag in Erbil auf die Kurden" etwa 80 Personen, überwiegend kurdische Volkszugehörige, an einer Demonstration in Erfurt, die der "Kurdisch-Deutsche-Freundschaftsverein Erfurt e.V." organisiert hatte. Die Veranstaltung thematisierte die Selbstmordanschläge vom 1. Februar während der Feierlichkeiten zum muslimischen Opferfest in den Parteizentralen der "Demokratischen Partei Kurdistans/Irak" (DPK/I) und der "Patriotischen Union Kurdistans" (PUK) in der nordirakischen Stadt Erbil, die mehr als 100 Tote und über 200 Schwerverletzte forderten. Unter den Opfern befanden sich auch der zweite Bürgermeister von Erbil und der stellvertretende Vorsitzende der DPK/I. Zübeyir AYDAR bewertete die Anschläge als Teil einer Kampagne, die sich gegen alle Kurden richte. Gleichzeitig rief er zur Einheit auf, damit diese "schmutzige Politik gegen die 112 Kurden" ins Leere laufe. In öffentlichen Stellungnahmen betonten die Führungen der PUK, DPK/I und des KONGRA-GEL, angesichts dieser anti-kurdischen Kampagne zusammenzuhalten. Veranstaltungen, die sich auf die Anschläge in Erbil bezogen, fanden deutschlandund europaweit statt. NEWROZ Am 21. März begehen die Kurden traditionell ihr Neujahrsfest "NEWROZ", in dem sie ein Symbol für die Befreiung von Fremdherrschaft und Tyrannei sehen. Alljährlich finden in den Tagen vor und nach dem 21. März bundesweit zahlreiche Veranstaltungen statt. Am 27. März schlossen sich in Erfurt ca. 75 Kurden aus Anlass des Newroz-Festes einem Fackelzug an, den der "Kurdisch-Deutsche Freundschaftsverein Erfurt e.V." vorbereitet hatte. Während der Veranstaltung wurden Flugblätter der YEK-KOM unter der Überschrift "NEWROZ ist Frieden, Freiheit, Demokratie" verteilt. Das Flugblatt thematisierte u.a. die Anschläge in der Stadt Erbil am 1. Februar sowie den nach Ansicht der Verfasser Besorgnis erregenden Gesundheitszustand Abdullah ÖCALANs, den die seit fünf Jahren andauernde Isolationshaft hervorgerufen habe. Den Verfassern des Flugblatts zufolge sei der KONGRAGEL gegründet worden, "um einer demokratischen Union im Mittleren Osten eine neue Chance zu geben" und die "Interessen der Kurden effektiver wahr(zu)nehmen". Da der Waffenstillstand im türkisch-kurdischen Konflikt verlängert worden sei und sich die militärische Situation daher etwas entspannt habe, eröffne sich nach Ansicht des KONGRA-GEL eine neue Chance, einen bilateralen Dialog aufzunehmen. Die zentrale europaweite Newroz-Veranstaltung fand unter dem Motto "Frieden, Freiheit und Demokratie" am 20. März in Hannover statt. An der Feier, die von der YEK-KOM und dem "Kurdistan Zentrum-Hannover e.V." angemeldet worden war, nahmen etwa 25.000 Kurden aus Deutschland und dem benachbarten Ausland teil. Themenschwerpunkte bildeten, wie bereits in den Jahren zuvor, der Gesundheitszustand und die Haftbedingungen Abdullah ÖCALANs sowie die Forderung nach einer friedlichen und demokratischen Lösung der Kurdenfrage. Im Verlauf der Veranstaltung wurden acht Personen, die Fahnen und Plakate der verbotenen PKK zeigten, vorläufig festgenommen. Informationsstand des "Kurdisch-Deutschen-Freundschaftsvereins Erfurt e.V." am 17. April in Erfurt Anlässlich der Aufnahme des KONGRA-GEL in die EU-Liste terroristischer Organisationen richtete der "Kurdisch-Deutsche-Freundschaftsverein Erfurt e.V." am 17. April unter dem Motto "Freiheit für Kurden/EU-Terroristenliste" in Erfurt einen Informationsstand aus. Während der Aktion wurden vom Veranstalter Unterschriftenlisten ausgelegt und Flugblätter an Passanten verteilt, die die Aufnahme des KONGRA-GEL in die EU-Liste als große Ungerechtigkeit gegenüber dem kurdischen Volk sowie einen Schlag gegen Demokratie und Menschenrechte bezeichneten. Die Betreiber des Standes zeigten zudem Plakate, deren Aufschriften u.a. den KONGRA-GEL "Stimme der Kurden" nannten und von der EU verlangten, die Organisation von der Liste terroristischer Organisationen zu streichen. Informationsstand des Kurdisch-Deutschen-Freundschaftsvereins Erfurt e.V. am 1. September in Erfurt Am 1. September führte der "Kurdisch-Deutsche-Freundschaftsverein Erfurt e.V." anlässlich des Weltfriedenstags auf dem Erfurter Anger einen Informationsstand durch. Im Verlauf der 113 Veranstaltung wurden von den Betreibern Flugblätter der YEK-KOM verteilt, deren Überschrift "Antikriegstag 2004" lautete. Das Flugblatt thematisierte die "ungelösten Konflikte überall auf der Welt". Insbesondere rückte es den Mittleren Osten und "das größte der unterdrückten Völker - die Kurden" in den Mittelpunkt. Die Lösung der kurdischen Frage, hieß es in dem Flugblatt, bilde die Voraussetzung dafür, im Mittleren Osten zu Demokratie und dauerhafter Stabilität zu gelangen. Die internationale Staatengemeinschaft - die europäische Union eingeschlossen - sollte aus eigenem Interesse auf eine Lösung dieses Konflikts bedacht sein, da die Türkei - "in der die kurdische Frage das zentrale Problem darstellt" - als Mitglied der EU zur Diskussion steht. 4. Türkische Linksextremisten: "Türkische Kommunistische Partei/MarxistenLeninisten" (TKP/ML) gegründet: 1972 in der Türkei Mitglieder/Anhänger (Bund): ca. 1.300 Mitglieder Anhänger (Thüringen): Einzelmitglieder-/Anhänger Die Organisation ist gespalten in: "Partizan" Leitung: Funktionärsgruppe Mitglieder/Anhänger (Bund): ca. 800 Publikationen: "Devrim Yolunda ISCI KÖYLÜ" (Arbeiter und Bauern auf dem Weg zur Revolution) "Bülten" (Das Bulletin) "Komünist" (Der Kommunist) und "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP) (bis Dezember 2002 "Ostanatolisches Gebietskomitee" -DABK-) Leitung: Funktionärsgruppe Mitglieder/Anhänger (Bund): ca. 500 Publikationen: "Halk Icin Devrimci Demokrasi" (Revolutionäre Demokratie für das Volk) "Halk Savasi" (Volkskampf) 4.1 Organisatorische Situation Die TKP/ML ("Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist"), die im April 1972 von Ibrahim KAYPAKKAYA gegründet wurde, spaltete sich 1994 in die zwei konkurrierenden Flügel 114 "Partizan" und "Ostanatolisches Gebietskomitee" (DABK). Das DABK benannte sich im Dezember 2002 in "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP) um. Beide Organisationen verstehen sich als Nachfolgerinnen der ursprünglichen Mutterpartei TKP/ML und orientieren sich an den Lehren des Marxismus, Leninismus und Maoismus. Beide Fraktionen unterhalten in der Türkei voneinander getrennte, bewaffnete Gruppierungen, die vorwiegend auf türkische Sicherheitseinrichtungen terroristische Anschläge verüben. Die Guerillagruppe des "Partizan"-Flügels bezeichnet sich als "Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" (TIKKO), während die MKP ihren bewaffneten Arm "Volksbefreiungsarmee" (HKO) nennt. 4.2 Ziele Sowohl der "Partizan"-Flügel als auch die MKP verfolgen das Ziel, das gegenwärtige Staatsgefüge in der Türkei gewaltsam zu zerschlagen, um eine "demokratische Volksherrschaft" auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus oder des Maoismus zu errichten. Daneben gilt ihr Kampf den westlichen Staaten, die mit der Türkei verbündet sind. 4.3 Situation in Deutschland In Deutschland organisieren sich die "Partizan"-Anhänger in der "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V." (ATIF), während die "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland e.V." (ADHF) der MKP nahe steht. Die traditionellen Großveranstaltungen zu Ehren des Parteigründers Ibrahim KAYPAKKAYA wurden getrennt voneinander durchgeführt. Die Veranstaltung des "Partizan"-Flügels, an der sich ca. 2.500 Personen aus dem Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland beteiligten, fand am 22. Mai in Wuppertal statt. Die MKP wich offensichtlich von ihrer Strategie, lediglich nur eine zentrale Veranstaltung zu organisieren, ab. In einem Programm wurde auf mehrere Gedenkfeiern in Deutschland hingewiesen, die laut "Özgür Politika" u.a. mit ca. 700 Teilnehmern in Köln und ca. 800 Teilnehmern in Hamburg stattfanden. 4.4 "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) in Thüringen Die wenigen Mitglieder bzw. Anhänger der TKP/ML, die seit einigen Jahren in Thüringen leben, waren im Freistaat bisher nicht organisiert. Sie beteiligten sich nur sporadisch an Veranstaltungen und Aktivitäten der verschiedenen linksextremistischen Organisationen im Bundesgebiet. In Thüringen traten die Anhänger der TKP/ML erstmals 2004 öffentlichkeitswirksam in Erscheinung. Kundgebung zum Todestag von Karl LIEBKNECHT und Rosa LUXEMBURG am 18. Januar in Erfurt Anlässlich der traditionellen Kundgebung zum Todestag von Karl LIEBKNECHT und Rosa LUXEMBURG am 18. Januar in Erfurt nahmen auch einige Jugendliche teil, die Transparente und Fahnen der TKP/ML - EIB75 mit sich führten. Außerdem wurden Flugblätter in türkischer und deutscher Sprache verteilt. 75 "Büro für internationale Beziehungen" (EIB), das der Kontaktpflege zu anderen Organisationen dient. 115 Reaktion auf die am 1. Februar in Erbil verübten Selbstmordanschläge76 Wie die Tageszeitung "Özgür Politika" meldete, veranstaltete der "Kurdisch-Deutsche Freundschaftsverein e.V." am 28. Februar in Erfurt eine Demonstration, die sich gegen die am 1. Februar in Erbil verübten Selbstmordanschläge richtete. An der Veranstaltung sollen ü- berwiegend kurdische Volkszugehörige und das "Erfurter Komitee der ATIF" teilgenommen haben. Die Demonstranten forderten in ihren Slogans Freiheit für ÖCALAN, den Rückzug der USA aus dem Nahen Osten und die Brüderlichkeit der Völker. Während des Umzugs wurden u.a. Fahnen der TKP/ML und ein Spruchband mit der Aufschrift "ATIF" gezeigt. Plakatierungsaktion aus Anlass des 1. Mai in Erfurt In der Erfurter Innenstadt wurden aus Anlass des 1. Mai Plakate des "Partizan"-Flügels mit der Aufschrift "Erhöhen wir den Kampf am 1. Mai gegen imperialistische Besatzungen und Sozialabbau!" festgestellt. Den Hintergrund bildeten Kampagnen und Aktionen türkischer linksextremistischer Organisationen, die sich schwerpunktmäßig gegen den Irak-Krieg und "imperialistische Besatzungen" richteten. So hatten im Vorfeld des NATO-Gipfels, der am 28./29. Juni in Istanbul stattfand, verschiedene deutsche und türkische linksextremistische Gruppierungen - darunter auch die ATIF - die Plattform "Resistanbul 2004" gegründet. Die Plattform bezeichnet die NATO als aggressive Kriegsorganisation. Das Ziel des Gipfels, so die "Özgür Politika", läge darin, die Besatzung des Irak durch die USA zu verlängern und zu bestätigen. Das Bündnis habe die Kampagne "Einheit gegen Bush und die NATO" gestartet. In der Türkei kam es zu Bombenanschlägen, die Tote und Verletzte forderten; in Deutschland verliefen die Aktionen gewaltfrei. Ein Agitationsthema der türkischen Linken in Deutschland bildeten auch die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung, die insbesondere von der ATIF in ungewohnt scharfer Form kritisiert wurden. 76 Siehe S. 112f. 116 V. Scientology-Organisation (SO) 1. Gesetzliche Grundlagen zur Beobachtung der Scientology-Organisation Die SO in Deutschland wird seit 1997 durch die Verfassungsschutz-behörden des Bundes und der Mehrheit der Länder beobachtet. Der Beobachtungsbeschluss fußt auf der Feststellung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) vom 5./6. Juni 1997, der zufolge in Bezug auf die SO tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bestehen und somit die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden gegeben sind. Die SO mit ihren Unterorganisationen ist ähnlich einem Wirtschaftskonzern organisiert. Das Managementzentrum, die oberste Leitungsebene, die strategische Planungsebene und das ideologische Hauptquartier des Imperiums befinden sich in Clearwater (Florida/USA). Die Europazentrale befindet sich in Kopenhagen (Dänemark); die "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD) ist in München ansässig. Daneben existieren in einzelnen Bundesländern so genannte "Kirchen", "Missionen", "Dianetik-Zentren" oder "Celebrity Centres". Der Absolutheitsanspruch, den die SO erhebt, die totalitäre Ausrichtung der Organisation sowie die von ihr angestrebte Gesellschaftsordnung stehen unverändert fest; sie sind mit den Grundsätzen einer parlamentarischen Demokratie unvereinbar. Das Menschenund Gesellschaftsbild der weltweit operierenden SO widerspricht elementaren Prinzipien des Grundgesetzes. Um sich der Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden zu entziehen, ist die SO seit Jahren bestrebt, sich als Glaubensgemeinschaft darzustellen, die sich auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegt. Hierzu werden von der Organisation - mit unterschiedlichem Erfolg - auch fortwährend die Gerichte bemüht. Zuletzt scheiterte die SO mit ihrer Klage gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit dem Ziel, die Beobachtung mit offenen und nachrichtendienstlichen Mitteln zu untersagen. Das Verwaltungsgericht (VG) Köln hat am 11. November 2004 die im März 2003 eingereichte Klage der "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD), sowie der "Scientology Kirche Berlin e.V." (SKB) in vollem Umfang abgewiesen. Das Gericht traf die Feststellung, dass tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen der SO vorliegen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, und somit die weitere Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden gerechtfertigt ist. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung wurde die Berufung beim Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster zugelassen. 2. Scientology in Thüringen SO-Niederlassungen ("Kirchen", "Missionen", "Dianetik-Zentren") existieren im Freistaat weiterhin nicht. Aktivitäten der SO beschränkten sich darauf, über ihre Zentrale in München gelegentlich "Werbematerial" wie Zeitschriften, Magazine und Bücher sowohl an Einzelpersonen als auch an öffentliche Einrichtungen, Polizeibehörden etc. zu versenden. 117 VI. Ereigniskalender extremistischer Bestrebungen in Thüringen Termin Ereignis 15. Januar Gruppe "mila26" ruft im Szeneradio "LeftBeat" zur Kundgebung am 27. Januar in Erfurt auf 17. Januar "Reichsgründungsfeier" der NPD in Ammelstädt 18. Januar Gemeinsamer Landesparteitag der Landesverbände Sachsen und Thüringen der DVU in Bad Kösen/Sachsen-Anhalt 23. Januar Skinheadkonzert in Altenburg 23. Januar Mahnwache der autonomen Szene in Gera anlässlich der Ermordung eines Spätaussiedlers 24. Januar Demonstration der NPD unter dem Motto "Volksgemeinschaft statt Klassenkampf" in Nordhausen 27. Januar Kundgebung der autonomen Szene in Gera anlässlich der Ermordung eines Spätaussiedlers 27. Januar Kundgebung der autonomen Antifa-Szene in Erfurt während des "Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus" 31. Januar "1. Nationaler Stadtrundgang" des "Nationalen Widerstands Weimar" (NWW) in Weimar 1. Februar Demonstration der autonomen Szene in Gera anlässlich der Ermordung eines Spätaussiedlers 13. Februar Rechtsextremist Frank RENNICKE gestaltet Liederabend in Tümpling 20. Februar Neonazis halten Mahnwache in Friedrichroda ab 28. Februar "2. Nationaler Stadtrundgang" des NWW in Weimar 28. Februar "Kurdisch-Deutscher Freundschaftsverein Erfurt e.V." führt unter dem Motto "Anschlag in Erbil auf die Kurden" Demonstration in Erfurt durch Februar - Mai Informationsstände der "Republikaner" zur Europaund Landtagswahl März - Juni Informationsstände der NPD zur Europaund Landtagswahl 19. - 21. März Gemeinschaftstagung der "Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." (Artgemeinschaft) in Nordthüringen 20. März Demonstration der "Interessengemeinschaft für die Wiedervereinigung Gesamtdeutschlands" (IWG) unter dem Motto "Recht auf Heimat" in Weimar 27. März Skinheadkonzert in Porstendorf 27. März "Kurdisch-Deutscher Freundschaftsverein Erfurt e.V." veranstaltet anlässlich des Newroz-Festes in Erfurt Fackelzug 27./28. März Schulungsveranstaltung des "Deutschen Kollegs" in Mosbach bei Eisenach 27./28. März DKP Thüringen und "Roter Tisch Jena" an Organisation eines Bildungswochenendes in Bad Sulza/Kreis Weimarer Land mitbeteiligt 3. April "3. Nationaler Stadtrundgang" des NWW in Weimar 9./10. April Schulungswochenende der rechtsextremistischen Szene in der Hausgemeinschaft "Zu den Löwen" in Jena 118 17. April "Kurdisch-Deutscher Freundschaftsverein Erfurt e.V." richtet unter dem Motto "Freiheit für Kurden/EU-Terroristenliste" in Erfurt Informationsstand aus 18. April Wahlkampfveranstaltung der "Republikaner" zur Europaund Landtagswahl in Jena 23./24. April Jahreskongress der "Gesellschaft für Freie Publizistik e.V." (GFP) in Friedrichroda 24. April "Frühlings-Doppel-Demo" von Neonazis in Meinigen/Suhl unter den Losungen "Gegen Kinderschänder und Abtreibung! Wer unsere Kinder tötet, vernichtet unsere Zukunft" und "Mit Agenda 2010 stirbt das deutsche Sozialsystem"/Linksextremisten beteiligen sich an Gegenaktionen 30. April Vierte "Revolutionäre Mai-Demonstration" der ATAG am Vorabend des 1. Mai in Gera 6. Mai Rechtsextremistische Szene stört in Jena Wanderausstellung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) "Die braune Falle" und führt Spontandemonstration durch 7. - 9. Mai Frühjahrslesertreffen der Zeitschrift "Recht und Wahrheit" in Nordthüringen 8. Mai Demonstration/Mahnwache von Neonazis unter dem Motto "Für Wahrheit und Aufklärung der Geschichte" in Friedrichroda 8. Mai Wahlkampfveranstaltung der DP in Bad Frankenhausen 15. Mai Skinheadkonzert in Plaue/Ilmkreis 22. Mai Skinheadkonzert in Wichmar/Saale-Holzland-Kreis 22. Mai "Sandro-WEILKES-Gedenkmarsch" der NPD in Neuhaus am Rennweg 29. Mai NPD veranstaltet "3. Thüringentag der nationalen Jugend" in Saalfeld/Autonome Antifa-Szene fordert zu Aktionen gegen die Veranstaltung auf 5. Juni Skinheadkonzert in Plaue/Ilmkreis verhindert 5. Juni Demonstration der NPD unter dem Motto "Gegen linke Medienhetze, für eine gleichberechtigte nationale Jugendkultur" in Schleusingen 11. Juni Wahlkampfkundgebungen der NPD in Kranichfeld, Bad Berka, Blankenhain und Weimar 13. Juni NPD, "Republikaner" und DP treten zur Europaund Landtagswahl an; KPD beteiligt sich an Landtags-, DKP an Europawahl 17.-20. Juni Gemeinschaftstagung der "Artgemeinschaft" zur Sommersonnenwende in Nordthüringen 25. - 27. Juni Schulungsveranstaltung des "Deutschen Kollegs" in Mosbach bei Eisenach 26. Juni Landesparteitag der NPD in Sondershausen 27. Juni NPD, "Republikaner" und DVU nehmen an Kommunalwahl teil 3. Juli Demonstration von Neonazis unter dem Motto "Nein zur Agenda 2010! Ja zu sozialer Gerechtigkeit! - Unsere Agenda heißt Wider stand!" in Gotha 9. Juli Landesverband der NPD gründet neuen Kreisverband Hildburghausen-Suhl 10. Juli "Friedensfest" der NPD unter dem Motto "Nationalisten gegen US-amerikanische Kriegstreiberei" in Gera 119 16. Juli Skinheadkonzert in Gera 17. Juli Kundgebung von Neonazis unter dem Motto "Unsere Agenda heißt Widerstand - Gegen die Agenda 2010" 17. Juli - 18. August Sommercamp der Jugendorganisation "REBELL" der MLPD in Truckenthal/Landkreis Sonneberg 21. Juli AAG hält anlässlich der Urteilsverkündung im Prozess gegen vier Jugendliche wegen der Ermordung eines Spätaussiedlers Mahnwache in Gera ab 3. - 6. August Mahnwachen von Neonazis unter dem Motto "Keine Agenda 2010" in Altenburg, Meuselwitz, Schmölln und Lucka 14. August KPD und DKP Thüringen ehren Ernst THÄLMANN in Buchenwald und Weimar 14. August "Junge Nationaldemokraten" (JN) gründen Stützpunkt Saale-Orla 16. August Spontandemonstration von Neonazis gegen "Hartz IV" in Jena 16. August - 27. SepWöchentliche Demonstrationen von Neonazis gegen die "Hartz tember IV"-Gesetze in Weimar 20. - 22. August "Internationalismus-Wochenende" des "Roten Tisches Ostthüringen" in Brückla/Landkreis Greiz 21. August Skinheadkonzert in Pößneck 28. August Skinheadkonzert in Buchta/Saale-Holzland-Kreis August - Dezember Teilnahme von Neonazis an "Montagsdemonstrationen" des demokratischen Spektrums gegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung in zahlreichen Städten Thüringens 1. September "Kurdisch-Deutscher Freundschaftsverein Erfurt e.V." setzt sich mit Informationsstand in Erfurt für Lösung der Kurdenfrage ein 3. - 5. September "VI. Treffen der Jugend" in Buchenwald 4. September Skinheadkonzert in Wachsenburggemeinde 4. September Demonstration des NPD-Kreisverbands Jena unter dem Motto "Nein zur Agenda 2010! Ja zu sozialer Gerechtigkeit - Unsere Agenda heißt Widerstand!"/Autonome beteiligen sich an Protesten gegen die Veranstaltung 11. September Skinheadkonzert in Pößneck 11. September Treffen der rechtsextremistischen Szene in Weimar-Tröbsdorf 17. September Skinheadkonzert in Hinternah 23. September Kundgebung von Neonazis unter dem Motto "Stellungnahmen zu Hartz IV und zu allen politischen Themen die uns bewegen (im legalen Bereich)" 24. - 26. September Gemeinschaftstagung der "Artgemeinschaft" in Nordthüringen 25. September Skinheadkonzert in Wasungen 25. September "2. Herbstfest des 'Nationalen Widerstandes Jena'" in Jena 2. Oktober Veranstaltung "Freier Nationalisten" in Dillstädt/Landkreis Schmalkalden-Meiningen 2./3. Oktober Bundeskongress der JN in Mosbach bei Eisenach 3. Oktober Autonomes Spektrum demonstriert am "Tag der Deutschen Einheit" in Erfurt gegen "deutsche Zustände" 8. Oktober Mahnwache mit Kundgebung von Neonazis unter dem Motto "Hartz IV und Agenda 2010, nicht mit uns" in Friedrichroda 8. - 10. Oktober Schulungsveranstaltung des "Deutschen Kollegs" in Mosbach bei Eisenach 120 9. Oktober 9. "Leserforum" der KPD in Viernau/Landkreis SchmalkaldenMeiningen 22. Oktober Kreisverband Erfurt-Gotha der NPD gegründet 22. - 24. Oktober Herbstlesertreffen der Zeitschrift "Recht und Wahrheit" in Nordthüringen 23. Oktober Ortsverband Tannroda der NPD gegründet 23. Oktober Demonstration von Neonazis unter dem Motto "Gegen Agenda 2010, gegen Hartz IV" in Weimar 28. Oktober Kundgebung von Neonazis unter dem Motto "Wie kann man soziale Gerechtigkeit durchsetzen?" 30. Oktober Skinheadkonzert in Gröben/Saale-Holzland-Kreis 30./31. Oktober Bundesparteitag der NPD in Leinefelde 14. November Gedenkveranstaltungen von Neonazis zum Volkstrauertag auf der Schmücke und in Friedrichroda 14. November Gedenkveranstaltungen der NPD zum Volkstrauertag in Blankenhais, Tannroda, Remschütz und Gera 20. November Rechtsextremisten veranstalten "Erste Antikapitalistische Kaffeefahrt" in Altenburg, Gera und Arnstadt 26. November Kameradschaftsabend von Neonazis in Eisenach 27. November "Lichterumzug" der rechtsextremistischen Szene in Apolda November - Dezember "Montagsdemonstrationen" von Neonazis gegen die Arbeitsmarktreformen unter dem Motto "Soziale Gerechtigkeit für alle Deutschen auf antifaschistischer Grundlage" in Eisenach 3. - 5. Dezember Gemeinschaftstagung der "Artgemeinschaft" zum "Juleingang" in Nordthüringen 4. Dezember Große Saalveranstaltung von Neonazis unter dem Motto "Eine Bewegung werden! Gemeinsam die Volksfront von Rechts schaffen!" in Sondershausen 10. Dezember Rechtsextremistische Saalveranstaltung unter dem Motto "Wahrheit gegen Verleumdung und Lüge!" in Oberhof 121 VII. Organisierte Kriminalität (OK) 1. Aufgabe des Verfassungsschutzes Die Beobachtung der Organisierten Kriminalität (OK) ist dem Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV) mit dem Gesetz zur Änderung des Polizeiund Sicherheitsrechts, das am 28. Juni 2002 in Kraft getreten ist, übertragen worden. Infolgedessen gehört Thüringen mit Bayern, dem Saarland, Hessen und Sachsen zu den Bundesländern, die den gesetzlichen Auftrag des Verfassungsschutzes auf dieses Beobachtungsfeld erweitert haben. OK ist SS 2 Abs. 4 des Thüringer Verfassungsschutzgesetzes (ThürVSG) zufolge die von Gewinnund Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind, durch mehr als zwei Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig 1. unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen oder 2. unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohung oder 3. unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft tätig werden. Aus dem Prinzip der wehrhaften Demokratie ergibt sich für das TLfV die Verpflichtung, die freiheitliche demokratische Grundordnung als hohes Gut unserer Verfassung zu bewahren und zu schützen. Weil die OK unsere Verfassung in einem hohen Maße bedroht, obliegt es vor allem dem Verfassungsschutz, frühzeitig auf Gefahren, die sich auf dem Gebiet der OK herausbilden, hinzuweisen. Der Verfassungsschutz stellt daher auch in Bezug auf die OK ein "Frühwarnsystem" zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dar. Dieser originären Aufgabe kommt der Verfassungsschutz nach, indem er bereits im Vorfeld Informationen auf dem Gebiet der OK aus unterschiedlichen Quellen, auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln, sammelt und Zusammenhänge rechtzeitig erkennt. Im Ergebnis führt die dem TLfV übertragene Aufgabe dazu, dass neben die polizeiliche Sicherheitsgewährleistung, die gefahrenabwehrend und überwiegend strafverfolgend ausgerichtet ist, auch eine nachrichtendienstliche Sicherheitsgewährleistung hinzutritt. 2. Beitrag des Verfassungsschutzes zur Gewährleistung der inneren Sicherheit Die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden ist - im Unterschied zur strafrechtlichen Ermittlung - nicht in erster Linie darauf ausgerichtet, einen Vorfall oder Lebenssachverhalt zu erhellen. Sie dient vielmehr dem Ziel, durch eine langfristig angelegte Beobachtung organisierte kriminelle Zusammenhänge aufzudecken. Da die Verfassungsschutzbehörden nicht an das "Legalitätsprinzip"77 gebunden sind, vermögen sie es, im Rahmen einer längerfristigen Strukturaufklärung einen Sachverhalt weiter zu bearbeiten, ohne ihn sogleich der Strafverfolgung zuzuführen, wenn ihnen einzelne kriminelle Handlungen bekannt werden. So können Informationen von Personen, die straffällig gewor77 Dem Legalitätsprinzip (Gesetzmäßigkeitsgrundsatz) zufolge sind Strafverfolgungsbehörden prinzipiell verpflichtet, bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte Straftaten zu verfolgen. 122 den sind, mit eigenen Mitteln verifiziert werden, um sie später an die Strafverfolgungsbehörden übermitteln zu können. 3. Beobachtungsschwerpunkte Als ein Beobachtungsschwerpunkt hat sich auch im Berichtszeitraum die Betäubungsmittelkriminalität herausgebildet, die sich überwiegend auf den Handel mit Cannabisprodukten, Heroin und Kokain erstreckte. Im Rahmen der Ermittlungen konnten neben Gruppierungen, die bundesweit tätig sind, auch Personen, die europaweit agieren, festgestellt werden. Sie haben in Deutschland oder im Ausland Betäubungsmittel erworben und nach Thüringen transportiert, wo sie von Dealern über ein Verteilernetz verkauft wurden. Als Drogenumschlagplatz hat sich Erfurt herausgebildet; von dort wird das Rauschgift an andere Thüringer Städte, aber auch in angrenzende Bundesländer weiter verteilt. Erkenntnisse des TLfV, die sich auf den illegalen Handel mit Betäubungsmitteln bezogen, lieferten einen Beitrag zu Exekutivmaßnahmen der Polizei. Wie das TLfV feststellte, setzten sich die Tätergruppierungen nicht mehr ausschließlich ethnienbezogen, sondern multinational zusammen. Außer Deutschen wurden insbesondere Personen aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), aus Asien, Nordafrika und aus Südosteuropa ermittelt. Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Beobachtung von Kriminalität im Zusammenhang mit dem Nachtleben. In diesem Bereich, der eine deliktsübergreifende Schnittstelle darstellt, wurden weitere OK-relevante Aktivitätsfelder, insbesondere der illegale Handel mit Waffen, Hehlerei, Geldwäsche, Schleusung und illegale Beschäftigung, festgestellt. 4. Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel Das organisierte kriminelle Milieu zeichnet sich durch Konspiration und Abschottung aus; es stellt daher an die Ermittlungsführung höchste Ansprüche. Da die Täter im Verborgenen agieren, ist es unmöglich, sie allein mit offenen Mitteln zu beobachten und Strukturen aufzuklären. Das Thüringer Verfassungsschutzgesetz erlaubt es deswegen, unter strengen rechtlichen Voraussetzungen Informationen auch verdeckt zu erheben. In der Palette der nachrichtendienstlichen Mittel stellt der Einsatz eines V-Manns das ergiebigste Instrument dar, befindet er sich doch in der Lage, wertvolle Erkenntnisse aus dem Innern der Strukturen beizusteuern. Zugleich ist es unerlässlich, auf weitere nachrichtendienstliche Mittel zurückzugreifen. So bedient sich das TLfV auch des nachrichtendienstlichen Mittels der Observation. Die längerfristige Beobachtung verdächtiger Personen ermöglicht es, ein Bewegungsbild zu erstellen. Es kann in der Folge als weiterer Ermittlungsansatz dienen. 5. Zusammenarbeit mit anderen Behörden Es bedarf größtmöglicher Anstrengungen aller mit der Bekämpfung der OK befassten und sonstiger öffentlichen Stellen, um deren Ausweitung entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck wurden in Thüringen förmliche und nichtförmliche Verbindungen aufgebaut. Eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit aller beteiligten Aufgabenträger ist für die Bekämpfung der OK in ganz besonderem Maße erforderlich. Unter der Federführung der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für OK in Gera beraten sich das TLfV, das Thüringer Landeskriminalamt (TLKA), der Bundesgrenzschutz, der Zoll und die Steuerfahndungsbehörden, um 123 eine effektive Zusammenarbeit zu gewährleisten und sich gegenseitig zu informieren. Ebenso tauscht das TLfV mit dem TLKA regelmäßig Erkenntnisse aus. Größere Ermittlungskomplexe des TLfV werden mit den Staatsanwaltschaften abgestimmt, um Maßnahmen zu koordinieren. Herr eines jeden Strafverfahrens bleibt somit immer die Staatsanwaltschaft. Hinzu tritt eine - vor allem fallbezogene - Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten, da die Vorgänge, die im TLfV bearbeitet werden, zumeist einen überregionalen Zusammenhang aufweisen. Diese nachrichtendienstliche Zusammenarbeit erstreckt sich auf die Verfassungsschutzbehörden jener Länder, die mit der Beobachtung der OK betraut worden sind, und den Bundesnachrichtendienst, aber auch auf ausländische Partnerdienste. 6. Fazit Die Übertragung der Aufgabe der Beobachtung von Tätigkeiten und Bestrebungen der Organisierten Kriminalität auf das TLfV hat dazu geführt, neue und vertiefte Kenntnisse über organisierte kriminelle Strukturen und Machenschaften in Thüringen zu erlangen. Durch die Zusammenarbeit mit anderen Sicherheitsbehörden konnte ein Mehr an Informationen gewonnen und zusammengeführt sowie in der weiteren Folge strafprozessuale Anschlussmaßnahmen eingeleitet werden. 124 VIII. Spionageabwehr 1. Überblick Die Bundesrepublik Deutschland stellt nach wie vor eines der bevorzugten Aufklärungsziele der Nachrichtendienste fremder Staaten dar. In Deutschland agieren insbesondere Nachrichtendienste aus Ländern, die der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) angehören oder sich im Nahen, Mittleren und Fernen Osten sowie im Norden Afrikas befinden. In den staatlichen bzw. halbstaatlichen Vertretungen, die diese Staaten in der Bundesrepublik unterhalten, sind die jeweiligen Nachrichtendienste personell unterschiedlich stark vertreten. Ihre als Diplomaten auf Tarndienstposten in so genannten Legalresidenturen78 vertretenen Mitarbeiter entfalten nachrichtendienstliche Aktivitäten, um Informationen zu beschaffen. Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten, die sich gegen die Interessen Deutschlands richten, schließen neben den klassischen Feldern der Spionage - Politik, Wirtschaft, Militär, Wissenschaft und Technik - auch die Ausspähung und Unterwanderung von Personen und Gruppen ein, die in Deutschland leben und in Opposition zur Regierung ihres Heimatlandes stehen. Die Regierungen von so genannten Krisenländern bemühen sich weiterhin intensiv, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen und dazu erforderliche Trägersysteme zu gelangen. Diese Staaten bedienen sich auch ihrer Nachrichtendienste, um sowohl einzelne Komponenten als auch das notwendige Know-how für die Herstellung von Massenvernichtungswaffen und entsprechender Trägersysteme zu beschaffen. Bestrebungen fremder Dienste, mit Hilfe von Spionage insbesondere wirtschaftliche Vorteile zu erlangen, bestehen unvermindert fort. Die Verfassungsschutzbehörden haben ihre Arbeit stark auf die präventive Spionageabwehr konzentriert, um etwaige Schwachstellen, die Wirtschaftsspionage und den Transfer von Know-how für fremde Nachrichtendienste erleichtern, aufdecken und beseitigen zu können. Die Methoden der Nachrichtendienste, Informationen gezielt abzuschöpfen, sind vielfältiger geworden. Die Globalisierung und die elektronische Vernetzung ermöglichen es den Diensten heute, auf Daten zuzugreifen, die früher nur auf konspirativem Wege gewonnen werden konnten. Darüber hinaus gewinnt die Auswertung weitgehend offener Quellen, zu denen Forschungsberichte, Diplomarbeiten, Dokumentationen u.ä. zählen, stetig an Bedeutung. 2. Proliferation Proliferation bedeutet die Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen (ABC-Waffen) bzw. der zu ihrer Herstellung benötigten Produkte - einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows - sowie von entsprechenden Trägersystemen an so genannte Krisenländer79, von denen zu befürchten ist, dass sie diese Waffen in Konflikten einsetzen oder ihren Gebrauch zur Durchsetzung politischer Ziele androhen werden. Einerseits beliefern sich die Krisenländer gegenseitig mit entsprechendem Material bzw. technischem Wissen. Andererseits sind sie bestrebt, Technologie und Bauteile aus führenden Industrienationen durch Teilhabe am freien Austausch von wissenschaftlichen Informationen und/oder durch Handel zu beschaffen. Für diesen Zweck setzen diese Länder auch ihre Geheimdienste ein. Sie gründen Scheinfirmen und verschleiern durch Umweglieferungen über 78 In Thüringen existieren weder Botschaften noch Generalkonsulate anderer Staaten. 79 Derzeit werden Nordkorea, Indien, Pakistan, Iran und Syrien zu den Krisenländern gerechnet. 125 Drittländer sowohl Endabnehmer als auch Endverwendungszweck des einzuführenden Gutes, um auf diese Weise internationale Abkommen und nationale gesetzliche Bestimmungen zu unterlaufen. Die Feststellung der Plausibilität des Endverwendungszwecks und damit der Proliferationsrelevanz wird zudem erschwert, wenn es sich um Dual-use-Güter, die sowohl zu militärischen als auch zu zivilen Zwecken eingesetzt werden können, handelt. Deutschland hat sich internationalen Abkommen, die der Verhinderung von Proliferation dienen, angeschlossen. Überdies bestehen Restriktionen des Außenhandels durch entsprechende Regelungen im Außenwirtschaftsgesetz, in der Außenwirtschaftsverordnung sowie im Kriegswaffenkontrollgesetz. In die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes fällt weiterhin die Aufgabe, Institutionen und Unternehmen, die durch ihre Forschungs-, Technologieoder Produktangebote in das Blickfeld der um Proliferation bemühten Staaten geraten könnten, entsprechend zu sensibilisieren. Das Ziel besteht darin, durch einen frühzeitigen Informationsaustausch proliferationsrelevante Beschaffungsbemühungen unterbinden und agierende Netzwerke aufklären zu können. 3. Wirtschaftsspionage Unter Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte oder gestützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen und Firmen zu verstehen. Sie ist von der Konkurrenzspionage zu unterscheiden. Bei letzterer handelt es sich um die Ausforschung, die ein (konkurrierendes) Unternehmen gegen ein anderes - ohne nachrichtendienstliche Steuerung - betreibt. Die internationale Akzeptanz eines Staates hängt mehr denn je auch von seiner Wirtschaftskraft ab. Einige Staaten betreiben auch Wirtschaftsspionage, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen oder aber eine führende Position zu erlangen. Aufklärungsziele und Methoden hängen von dem jeweiligen Entwicklungsstand der handelnden Staaten ab. Hochentwickelte Industrienationen sind folglich vorrangig an Marktund Wettbewerbsstrategien vergleichbarer Konkurrenten interessiert, technologisch weniger entwickelte Staaten hingegen an Fertigungstechniken und technischem Know-how, um Forschungskosten zu minimieren und wirtschaftliche Rückstände aufzuholen. Einige Auslandsaufklärungsdienste sind kraft Gesetzes verpflichtet, die Wirtschaft ihres Landes unmittelbar durch entsprechende Informationsbeschaffung zu unterstützen. Sie beschaffen solche Informationen, indem sie moderne Nachrichtentechnik verwenden, in Informationssysteme eindringen und menschliche Quellen einsetzen. Als Letztere können außer eingeschleusten Angehörigen von Nachrichtendiensten auch Mitarbeiter von Unternehmen tätig sein, die für eine Zusammenarbeit gewonnen wurden. Austauschwissenschaftler und Praktikanten, die gegebenenfalls mit einem nachrichtendienstlichen Auftrag ausgestattet worden sind oder zumindest nach ihrer Rückkehr in das Heimatland vom dortigen Nachrichtendienst abgeschöpft werden könnten, kommen hierfür ebenfalls in Betracht. Die ökonomischen und finanziellen Schäden, die der heimischen Volkswirtschaft bzw. den einzelnen Unternehmen durch Wirtschaftsspionage zugefügt werden, gilt es zu minimieren. Dies erfordert eine verstärkte Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden und der gewerblichen Wirtschaft. Die Verfassungsschutzbehörden richten ihr Augenmerk vor allem auf kleine und mittelständische Unternehmen, um sie für diese Thematik zu sensibilisieren. Das TLfV berät nicht nur Firmen, welche geeigneten Sicherungsmaßnahmen getroffen werden können, um die Barrieren für mögliche Spionageangriffe zu erhöhen. Es steht auch weiterhin 126 als vertraulicher Ansprechpartner für Unternehmen zur Verfügung, die sich eventuell mit Ausspähungsversuchen konfrontiert sehen. 4. Ausblick Die Globalisierung und die weltweite elektronische Vernetzung bieten nicht nur Vorteile, sondern bergen auch enorme Risiken in sich. Für Nachrichtendienste eröffnen moderne ITund Kommunikationssysteme vielfältige Möglichkeiten, in den Besitz sensibler Daten und Informationen zu gelangen, ohne Spuren zu hinterlassen. Die reale Gefährdung, die daraus erwächst, wird - nicht zuletzt infolge der veränderten politischen Verhältnisse und der Annäherung sich früher feindlich gesonnener Staaten - oftmals unterschätzt. Es gilt das Bewusstsein zu schärfen, dass Spionage infolge der politischen Annäherung nicht gänzlich endet, sondern andere Schwerpunkte verfolgt. Das betrifft politische Institutionen ebenso wie die Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung. Neben der Abwehr klassischer Spionageaktivitäten gewinnt somit die präventive Arbeit der Verfassungsschutzbehörden an Bedeutung. 5. Frühere, fortwirkende unbekannte Strukturen der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen DDR Konkrete Anhaltspunkte für die Existenz fortwirkender Strukturen, die aus der "Hauptverwaltung Aufklärung" (HVA) oder dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR80 hervorgegangen sind und dem gesetzlichen Beobachtungsauftrag des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz unterliegen, ergaben sich im Berichtszeitraum nicht. 80 Kurz vor der endgültigen Auflösung zum 31. März 1990 in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) umbenannt. 127 IX. Geheimschutz 1. Allgemeines Der Geheimschutz hat dafür Sorge zu tragen, dass Informationen, deren Bekanntgabe den Bestand oder lebenswichtige Interessen, die Sicherheit oder die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines Bundeslandes gefährden kann, geheim gehalten und vor unbefugter Kenntnisnahme geschützt werden. Im Interesse der Funktionsfähigkeit und -tüchtigkeit staatlicher Einrichtungen haben Behörden im Rahmen ihrer Organisationsgewalt Vorkehrungen zur Gewährleistung des Geheimschutzes zu treffen. Zu den Aufgaben des TLfV zählt gemäß SS 2 Abs. 5 des Thüringer Verfassungsschutzgesetzes (ThürVSG) die Mitwirkung im Bereich des personellen und materiellen Geheimschutzes. 2. Personeller Geheimschutz Unter dem Begriff "Geheimschutz" werden sämtliche Vorkehrungen im weiteren Sinne verstanden, die dem Schutz von Geheimnissen dienen. Nicht jede beliebige Person, nicht jeder Amtsträger ist geeignet, mit Geheimnissen umzugehen. Folglich gilt es, Personen, die aufgrund bestimmter Umstände und Verhaltensweisen für Verrat, Erpressung oder Spionage anfällig sein könnten, von vornherein vom Zugriff zu Geheimnissen fernzuhalten. Diesem Ziel dient die Sicherheitsüberprüfung. Mit ihr wird festgestellt, ob der Überprüfte seiner Vergangenheit, seinem Charakter, seinen Gewohnheiten und seinem Umgang nach Anlass bietet, an seiner persönlichen Vertrauenswürdigkeit zu zweifeln, ob er somit ein Sicherheitsrisiko darstellt. Dabei kommt es nicht auf ein Verschulden im Sinne persönlicher Vorwerfbarkeit an. Das Sicherheitsüberprüfungsverfahren ist im Thüringer Sicherheitsüberprüfungsgesetz (ThürSÜG) vom 17. März 2003, das im Anhang dieses Berichts abgedruckt ist, geregelt. Das ThürSÜG löste die seit 1991 bestehende Verwaltungsvorschrift "Sicherheitsrichtlinien für das Land Thüringen" ab. Sicherheitsüberprüfungen werden für Personen, die eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit gemäß SS 1 Abs. 2 ThürSÜG ausüben, durchgeführt. Betroffen sind in erster Linie Personen, die Zugang zu Verschlusssachen haben oder sich einen solchen Zugang verschaffen können. Verschlusssachen sind im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, und zwar unabhängig von ihrer Darstellungsform. Schriftstücke, Zeichnungen, Karten, Fotokopien, Lichtbildmaterial, elektronische Datenträger, elektrische Signale, Geräte und technische Einrichtungen oder auch nur das gesprochene Wort können ebenso zu den Verschlusssachen zählen wie Zwischenmaterial, das im Zusammenhang mit Verschlusssachen anfällt (z.B. Entwürfe). Für eine Sicherheitsüberprüfung ist der Geheimschutzbeauftragte (GSB) der jeweiligen Dienststelle bzw. der zuständigen obersten Landesbehörde zuständig. Das TLfV wirkt an der Sicherheitsüberprüfung gemäß SS 2 Abs. 5 Nr. 1 ThürVSG i.V.m. SS 3 Abs. 3 ThürSÜG mit. Die Sicherheitsüberprüfung wird je nach Geheimhaltungsgrad abgestuft. Gemäß SS 8 ff. ThürSÜG wird sie als einfache (Ü 1), erweiterte (Ü 2) oder als erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit Sicherheitsermittlungen (Ü 3) durchgeführt. Sie bedarf der Einwilligung - d.h. der vorherigen Zustimmung - des Betroffenen ebenso wie der gegebenenfalls einzubeziehenden Person (Ehegatte oder Lebenspartner). 128 Das TLfV wurde im Jahr 2004 in 205 Fällen als mitwirkende Behörde an Sicherheitsüberprüfungen beteiligt und hat sein Votum gegenüber dem GSB der einleitenden Dienststelle abgegeben. Im Einzelnen wurden folgende Überprüfungen durchgeführt: Sicherheitsüberprüfung Ü 1 Sicherheitsüberprüfung Ü 2 Sicherheitsüberprüfung Ü 3 2004 115 62 28 2003 107 45 37 3. Materieller Geheimschutz Der materielle Geheimschutz betrifft die Entwicklung, Planung und Durchführung technischer Maßnahmen, die dem Schutz geheimhaltungsbedürftigen Materials vor Entwendung oder Kenntnisnahme durch Unbefugte dienen. Zu technischen Sicherheitsmaßnahmen sind auch organisatorische Vorkehrungen zu rechnen, die den Geheimschutz verbessern. Als Rechtsgrundlagen dienen die Verschlusssachenanweisung (VSA) für den Freistaat Thüringen aus dem Jahr 1999 (Thüringer Staatsanzeiger, S. 2716 ff.) sowie sie ergänzende Richtlinien. Die VSA richtet sich an Landesbehörden und landesunmittelbare öffentlich-rechtliche Einrichtungen, die mit Verschlusssachen befasst sind und somit Vorkehrungen zu deren Schutz zu treffen haben. Darüber hinaus betrifft sie Personen, die Zugang zu Verschlusssachen erhalten oder eine Tätigkeit ausüben, die ihnen den Zugang zu Verschlusssachen eröffnet und bei der sie bestimmte Schutzvorkehrungen zu beachten haben. Entsprechend der Schutzbedürftigkeit der Verschlusssache nehmen die herausgebenden Stellen die erforderliche Einstufung in einen der in SS 4 Abs. 2 ThürSÜG bestimmten Geheimhaltungsgrade ("VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH", "VS-VERTRAULICH", "GEHEIM" oder "STRENG GEHEIM") vor. Aus der jeweiligen Einstufung ergeben sich die notwendigen personellen und materiellen Sicherheitsvorkehrungen. In Hinsicht auf den materiellen Geheimschutz enthält die VSA eine Reihe von Vorschriften, welche die Herstellung, Kennzeichnung und Vervielfältigung von Verschlusssachen, den Zugang zu Verschlusssachen, Vorkehrungen zum Schutze von Verschlusssachen sowie Maßnahmen bei Verletzung von Geheimschutzvorschriften betreffen. Das TLfV berät sicherheitsempfindliche Behörden, Einrichtungen und Unternehmen über technische Sicherheitsmaßnahmen wie Alarmsysteme oder "Verwahrgelasse" (Stahlschränke). Es berät sie unter anderem auch über den Umgang mit Verschlusssachen und sichere Organisationsabläufe. Daneben erteilt das TLfV den ersuchenden Behörden technische Sicherheitsempfehlungen, die zugleich Aspekte der Wirtschaftlichkeit berücksichtigen. Auskünfte zur Geheimschutzbetreuung von Firmen erteilt das: Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Arbeit (TMWTA) Der Geheimschutzbeauftragte für die Wirtschaft Postfach 10 05 52 Max-Reger-Straße 4-8 99005 Erfurt 99096 Erfurt Telefon: 0361 3797-154 129 4. Sonstige Überprüfungen Neben seiner Mitwirkung an Sicherheitsüberprüfungen wird das TLfV gemäß SS 29d Abs. 2 Nr. 2 Luftverkehrsgesetz [ab 15. Januar 2005 SS 7 Abs. 3 Nr. 2 Luftsicherheitsgesetz (BGBl. I S. 78ff.)] an Zuverlässigkeitsüberprüfungen beteiligt. Infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 ist insbesondere auch die Sicherheit im internationalen Luftverkehr und in diesem Zusammenhang die Zuverlässigkeitsüberprüfung im Bereich der Flughäfen in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. So wurde die Frist zur Wiederholung dieser Überprüfungen durch die Novellierung der entsprechenden Verordnung bereits im Oktober 2001 von fünf Jahren auf ein Jahr verkürzt. Das TLfV wurde im Jahr 2004 an 615 Luftverkehrs-Zuverlässigkeitsüberprüfungen für die Flughäfen Erfurt und Altenburg-Nobitz beteiligt. 130