Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2002 1 Vorwort Das freiheitliche demokratische, pluralistisch ausgerichtete Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland wird von den Bürgerinnen und Bürgern des Freistaats Thüringen als die beste Staatsform angesehen. Parteien und Organisationen auf der äußersten Rechten und Linken streben jedoch an, Staatswesen zu errichten, die unserer Verfassung grundlegend widersprechen. Sie wollen unseren Rechtsstaat durch politische Systeme ersetzen, in denen eine kleine Minderheit über die Mehrheit die Macht ausübt und Grundrechte wie Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz oder freie Wahlen nicht akzeptiert werden. Nicht selten versuchen die politischen Extremisten, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Die Anschläge vom 11. September 2001 führten der Öffentlichkeit vor Augen, dass unsere Demokratie nicht nur von Rechtsoder Linksextremisten aus dem eigenen Lande bedroht wird. Die schrecklichen Ereignisse haben deutlich belegt, wie groß die Gefahr ist, die auch vom islamistischen Extremismus ausgeht. Denn zunehmend entfalten dessen Anhänger in Ländern Aktivitäten, die sich fern von ihren Heimatregionen befinden. Auch 2002 gingen von islamistischen Terrorgruppen weltweit Bedrohungen und Bombenanschläge aus. Die Attentate auf Djerba, wo deutsche Touristen am 11. April den Tod fanden, und auf Bali, wo ein ü- berwiegend von australischen Staatsbürgern besuchtes Touristen-Zentrum das Ziel war, wiesen am stärksten auf den internationalen Terrorismus hin. Der demokratische Verfassungsstaat muss nach den geschichtlichen Lehren der Weimarer Republik eine "wehrhafte Demokratie" sein. Er bedarf effizienter Strukturen, um politischen Extremisten keine Chance zu geben und die freiheitliche demokratische Grundordnung abzusichern. Ein Element der "wehrhaften Demokratie" stellen die Verfassungsschutzbehörden dar. Sie erkunden, aus welchen Parteien und Gruppierungen sich das extremistische Spektrum zusammensetzt, welche Ziele es verfolgt, wie es sich verändert. Ihre Erkenntnisse dienen nicht nur der Unterrichtung von Bundesund Landesregierungen sowie der Unterstützung von Behörden. Sie bilden auch die Grundlage für die Aufklärung der Öffentlichkeit und für die Darstellung von extremistischen Phänomenen. Die Gefahren, die vom politischen Extremismus ausgehen, fordern unsere demokratische Gesellschaft heraus. Mit dem "Programm für mehr Sicherheit in Thüringen" hat die Regierung des Freistaats auf die gewachsene Bedrohung des Rechtsstaats rasch und ausgewogen reagiert. Sie hat die gesetzlichen und haushaltsmäßigen Voraussetzungen geschaffen, um die Freiheit und Sicherheit in einem Ausmaß zu gewährleisten, wie dies nur einer freiheitlichen Gesellschaft möglich ist. Wir bedürfen jedoch nicht nur effizienter Institutionen, um das Wirken von Extremisten einzudämmen und die Feinde der Freiheit abzuwehren. Alle Bürger sollten sich verpflichtet fühlen, sich mit Extremisten auf politische Weise offensiv auseinander zu setzen, für die Werte unserer Ordnung einzutreten. Einen Schwerpunkt für den Thüringer Verfassungsschutz im Jahre 2002 stellte unverändert die Beobachtung rechtsextremistischer Organisationen dar. So wie in den Vorjahren entwickelten Rechtsextremisten vielfältige Aktivitäten gegen unseren Rechtsstaat, wobei sie jedoch weiter an Anziehungskraft verloren haben. Die Anzahl der Personen, die in Thüringen rechtsextremistischen Parteien angehören, ist 2002 erneut zurückgegangen. Diese Parteien verloren im Freistaat 130 ihrer 570 im Jahr 2001 festgestellten Mitglieder. Ebenso war die Anzahl der Personen rückläufig, die sich an Demonstrationen oder anderen Aktionen des rechtsextremistischen Spektrums beteiligten. Bei den Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag wurden die 2 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) und die Partei "Die Republikaner" (REP) von den Wählern in Thüringen weitgehend ignoriert. Die NPD schränkte zwar ihre öffentlichen Aktivitäten im Jahr 2002 erheblich ein, war jedoch als einzige rechtsextremistische Partei in Thüringen imstande, Demonstrationen zu organisieren, für die sie bis zu 150 Sympathisanten mobilisieren konnte. Weiter war zu beobachten, dass der "Thüringer Heimatschutz" (THS) als Personenzusammenschluss im Jahr 2002 nicht in Erscheinung getreten ist und somit für die organisierte Neonaziszene in einem starken Maße an Bedeutung verloren hat. Der starke personelle Aderlass innerhalb der "organisierten" rechtsextremistischen Szene dürfte im unmittelbaren Zusammenhang mit der Zunahme der Zahl derjenigen Personen stehen, die der Gruppe der subkulturell geprägten und sonstigen - also den "nicht organisierten" - Rechtsextremisten zuzurechnen sind. Deren Gesamtzahl hat sich von 750 (2001) auf 880 erhöht. Diese Entwicklung legt den Schluss nahe, dass mit dem Austritt aus einer rechtsextremistischen Partei oder Organisation nicht automatisch eine Aufgabe der verfassungsfeindlichen Gesinnung verbunden sein muss. Zur Gruppe der subkulturell geprägten Rechtsextremisten gehören auch die Skinheads, deren Zahl von etwa 350 (2001) auf annähernd 380 im Berichtsjahr zugenommen hat. Trotzdem konnte im Berichtszeitraum kein Skinheadkonzert durchgeführt werden. Vier Veranstaltungen wurden von der Polizei aufgelöst; zwei konnten im Vorfeld verhindert werden. In Hinsicht auf die Bestrebungen, die 2002 in Thüringen von Linksextremisten ausgingen, haben sich nennenswerte Veränderungen ergeben. Sowohl das Mobilisierungspotenzial des autonomen Spektrums als auch die Anzahl der gewaltbereiten Autonomen waren - analog zum bundesweiten Trend - rückläufig. Im Freistaat umfassten die Autonomen 2002 bis zu 300 Personen; 150 von ihnen galten als gewaltbereit. Noch im Vorjahr war von 300 bis 350 Personen, von denen 150 bis 200 der Gewalt zuneigten, auszugehen. Das autonome Spektrum hat sich jedoch weiter konsolidiert. Im Berichtszeitraum war das Netzwerk "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG), das sich 2001 nur gelegentlich an den Aktivitäten der autonomen Szene beteiligt hatte, zunehmend in relevante Aktionen der Szene involviert. Das Netzwerk, in dem sich die maßgeblichen Gruppen und Zusammenschlüsse der Thüringer autonomen Szene organisiert haben, repräsentiert nunmehr das autonome Spektrum des Freistaats. Die generelle Bereitschaft der Autonomen, zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele Gewalt anzuwenden, kommt nach wie vor insbesondere im Rahmen des Aktionsfeldes "Antifaschismus" zum Ausdruck. Etwa 200 Anhänger und Sympathisanten marxistischleninistischer Parteien und Organisationen sind infolge ihres Bekenntnisses, revolutionäre Gewalt sei zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendig, unverändert dem linksextremistischen Spektrum im Freistaat zuzurechnen. Von den ausländerextremistischen Organisationen verfügte 2002 in Thüringen nur der "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK), die Nachfolgeorganisation der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), über gefestigte Strukturen. Im Vergleich mit den anderen Bundesländern fiel die Anzahl der Ausländer, die in Thüringen dem Extremismus zuneigen, weiterhin sehr gering aus. Dies ist einerseits auf den geringen Anteil von Ausländern an der Bevölkerung in Thüringen (unter 2 %) zurückzuführen, andererseits auf deren spezifische Zusammensetzung hinsichtlich ihrer Herkunftsländer. 3 Der vorliegende Verfassungsschutzbericht 2002 informiert über die Tätigkeit und die Ergebnisse der Arbeit des Verfassungsschutzes in Thüringen. Tatsachen und Bewertungen ermöglichen dabei den Bürgerinnen und Bürgern eine individuelle Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bedrohungen des Rechtsstaats. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz danke ich für ihr Engagement, durch welches sie einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit im Freistaat Thüringen geleistet haben und weiterhin leisten werden. 4 Inhaltsverzeichnis I. Einige Informationen zum Verfassungsschutz 1. Verfassungsschutz - Instrument der streitbaren Demokratie 2. Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV) 3. Verfassungsschutz durch Aufklärung II. Rechtsextremismus 1. Überblick 2. Ideologischer Hintergrund 3. Rechtsextremistische Parteien und Organisationen 3.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 3.2 Junge Nationaldemokraten (JN) 3.3 Deutsche Volksunion (DVU) 3.4 Freiheitliche Deutsche Volkspartei (FDVP) 3.5 Die Republikaner (REP) 3.6 Exkurs: Bundestagswahlen 2002 3.7 Organisationsübergreifende Bündnisbestrebungen in Thüringen 4. Neonazis 4.1 Neuer Nationalsozialismus (Neonazismus) 4.2 Thüringer Heimatschutz (THS)/Nationales und Soziales Aktionsbündnis Westthüringen (NSAW) 5. Skinheads 6. Deutsche Heidnische Front (DHF) 7. Exkurs: Nutzung moderner Kommunikationsmedien durch Rechtsextremisten 8. Politisch motivierte Kriminalität - Rechts - im Überblick III. Linksextremismus 1. Überblick 2. Ideologischer Hintergrund 3. Marxistisch-leninistische Parteien und Organisationen 3.1 Kommunistische Plattform (KPF) der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 3.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 3.3 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) 3.4 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 3.5 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD/Ost) 3.6 Exkurs: Bundestagswahlen 2002 3.7 Roter Tisch Ostthüringen 3.8 Rote Hilfe e.V. (RH) 4. Autonome 4.1 Allgemeines 4.2 Bundesweite Aktionen 4.3 Die autonome Szene in Thüringen 4.3.1 Exkurs: "Innere Sicherheit" - ein wichtiges Themenfeld der Autonomen in Thüringen 4.4 Aktionen autonomer Gruppen in Thüringen 5 4.4.1 Exkurs: Aktivitäten des autonomen Spektrums im Zusammenhang mit den Bundestagswahlen 5. Terroristische Gruppierungen 6. Exkurs: Nutzung moderner Kommunikationsmittel durch Linksextremisten 7. Politisch motivierte Kriminalität - Links - im Überblick IV. Ausländerextremismus 1. Allgemeines 2. Die wichtigsten extremistischen Ausländerorganisationen in Deutschland 3. Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) 3.1 Ziele und Strategie 3.2 Aufbau und Organisation 3.3 Finanzierung 3.4 Propagandamittel 3.5 Der KADEK engagiert sich in einem prokurdischen Bündnis bei den Parlamentswahlen in der Türkei 3.6 Aktivitäten Thüringer KADEK-Anhänger im Jahr 2002 4. Linksextremistische türkische Organisationen 4.1 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 4.2 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) 5. Islamistische Organisationen 5.1 Verbotsmaßnahmen gegen islamistische Vereine 6. Islamistischer Terrorismus V. Scientology-Organisation (SO) 1. Scientology - ein Fall für den Verfassungsschutz 2. Hintergrund und Methoden 3. SO in Thüringen VI. Ereigniskalender extremistischer Bestrebungen in Thüringen VII. Organisierte Kriminalität (OK) VIII. Spionageabwehr 1. Überblick 2. Spionage und neue Medien 3. Fortwirkende Strukturen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR IX. Geheimschutz 1. Allgemeines 2. Personeller Geheimschutz 3. Materieller Geheimschutz 6 I. Einige Informationen zum Verfassungsschutz 1. Verfassungsschutz - Instrument der streitbaren Demokratie Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Verfassung des Freistaats Thüringen garantieren allen Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Freiheit. Nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung ist es die Aufgabe der Gesellschaft, denjenigen Kräften entgegenzuwirken, die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen. Das Grundgesetz legt folglich nicht nur die Prinzipien des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats fest, sondern trifft auch Vorkehrungen zu seinem Schutz. Das Grundgesetz und die Thüringer Verfassung bekennen sich zur streitbaren Demokratie. Die streitbare Demokratie beschreitet - notwendigerweise - einen schwierigen Weg, indem sie auch gegenüber ihren Gegnern grundsätzlich Toleranz übt. Denn auch Personen, Vereinen und Parteien, die den demokratischen Staat beseitigen wollen, stehen die Freiheitsrechte - wie zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht - zu. Jedoch liefert sich die streitbare Demokratie solchen Bestrebungen nicht tatenlos aus. So ist beispielsweise nach den Artikeln 9 und 21 des Grundgesetzes das Verbot verfassungswidriger Parteien und Vereine oder nach Artikel 18 die Aberkennung von Grundrechten möglich. Der Bund und die Länder unterhalten Verfassungsschutzbehörden, um die notwendigen Informationen über Verfassungsfeinde zu erlangen. Im Freistaat Thüringen ist die Verfassungsschutzbehörde als Landesoberbehörde 1991 errichtet worden. 2. Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV) Aufbau und Organisation des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz Das TLfV verfügte im Haushaltsjahr 2002 über 103 Stellen und Planstellen. Für die Erledigung seiner Aufgaben waren ihm durch Haushaltsgesetz Mittel in Höhe von 5.325.200 Euro zugewiesen. Das Amt ist wie folgt strukturiert: Präsident Abteilung 1 Abteilung 2 Abteilung 3 Abteilung 4 Zentrale Dienste Auswertung Beschaffung Spionageabwehr, Geheimschutz, Organisierte Kriminalität Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz ist für jeden Bürger erreichbar: Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz Postfach 10 15 06 oder Haarbergstraße 61 99015 Erfurt 99097 Erfurt Telefon: (03 61) 44 06-0 Telefax: (03 61) 44 06-251 Internet: www.verfassungsschutz.thueringen.de E-Mail: kontakt@tlfv.thueringen.de 7 Im Thüringer Innenministerium besteht ein Referat "Verfassungsschutz, Geheimschutz" als Aufsichtsinstanz für das Landesamt: Thüringer Innenministerium Referat 24 Steigerstraße 24 99096 Erfurt Telefon: (03 61) 37-93 900 Telefax: (03 61) 37-93 111 Abteilung "Zentrale Dienste" Die Abteilung "Zentrale Dienste" ist für den inneren Dienstbetrieb und für fachübergreifende Aufgaben des Amtes zuständig. Sie umfasst die Bereiche Grundsatzund Rechtsfragen, Verfahren der Postund Telekommunikationsüberwachung (G10), Personal, Haushalt und Innerer Dienst, EDV und Registratur, Öffentlichkeitsarbeit und Berichtswesen. Von den nach außen wirksamen Aktivitäten dieser Abteilung sind die Organisation und Durchführung von Vorträgen, die Beantwortung von Bürgeranfragen und die Herausgabe periodischer Berichte hervorzuheben. Im Jahre 2002 hielten Mitarbeiter des Thüringer Verfassungsschutzes etwa 30 Vorträge, die die verschiedenen Beobachtungsbereiche des TLfV betrafen. Sie richteten sich vorrangig an Multiplikatoren aus Politik, politischer Bildung, Wirtschaft und Wissenschaft, aber auch an Lehrer, in der Jugendund Sozialarbeit Tätige sowie an die Vertreter unterschiedlichster Thüringer Verbände und gesellschaftlicher Interessengruppen. Seine periodische Berichterstattung versteht das TLfV als Serviceangebot gegenüber der Öffentlichkeit und den Fachbehörden, insbesondere solchen, die Aufgaben der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wahrnehmen. Abteilung "Auswertung" Die Abteilung "Auswertung" erhält von der Abteilung "Beschaffung" Informationen zu den Aufgabenfeldern Links-, Rechtsund Ausländerextremismus sowie Scientology-Organisation. Sie führt diese Erkenntnisse mit anderen Informationen, etwa aus offen zugänglichen Informationsquellen, zusammen und wertet sie aus. Abteilung "Beschaffung" Die Abteilung "Beschaffung" hat die Aufgabe, durch Ermittlungen und den Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln (z.B. Observationen, Führen von sog. Vertrauensleuten) die für die Erfüllung des gesetzlichen Auftrags erforderlichen Informationen zu beschaffen. Abteilung "Spionageabwehr, Geheimschutz, Organisierte Kriminalität" Dieser Abteilung obliegt es, die unerlaubte Tätigkeit fremder und ehemaliger, aber fortwirkender Nachrichtendienste im Freistaat aufzuklären. Darüber hinaus hat sie die Aufgabe, Informationen über Bestrebungen der Organisierten Kriminalität in Thüringen zu sammeln und auszuwerten. Im Bereich des personellen und materiellen Geheimschutzes werden Behörden und außerbehördliche Stellen bei der Überprüfung von Geheimnisträgern und Personen, die in sicherheits- 8 empfindlichen Bereichen tätig sind, unterstützt. Sie werden beraten, wie Verschluss-sachen durch technische oder organisatorische Sicherheitsmaßnahmen geschützt werden können. 3. Verfassungsschutz durch Aufklärung Die freiheitliche demokratische Grundordnung kann nicht allein von staatlichen Behörden geschützt werden. Hierzu bedarf es auch der Mithilfe aller Bürgerinnen und Bürger. Die Bedeutung der politischen Auseinandersetzung mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen erfordert eine umfangreiche Aufklärung über die Gefahren, die durch den politischen Extremismus drohen. Information und Aufklärung sind für den Bürger erforderlich, um die wahren Absichten extremistischer Bestrebungen durchschauen zu können. Es liegt im Interesse eines jeden Einzelnen, dass diejenigen, die politische Verantwortung tragen, durch die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes rechtzeitig in die Lage versetzt werden, verfassungsfeindliche Bestrebungen abzuwehren und zu bekämpfen. Die Tätigkeit des Landesamts für Verfassungsschutz stellt sicher, dass Regierung und Parlament, aber auch die Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Organisationen und Bestrebungen informiert werden. Im Freistaat Thüringen wird die Öffentlichkeitsarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes sowohl vom Thüringer Innenministerium als auch vom TLfV wahrgenommen. Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Thüringer Innenministeriums und des TLfV ist die Information der Bürgerinnen und Bürger durch den jährlichen Verfassungsschutzbericht. Der Verfassungsschutzbericht wird an Behörden, Institutionen, Schulen und interessierte Bürgerinnen und Bürger auf Anforderung kostenlos versandt. Er kann auch im Internet unter "www.verfassungsschutz.thueringen.de" abgerufen werden. 9 II. Rechtsextremismus 1. Überblick Die Anzahl der Personen, die in Thüringen Mitglieder rechtsextremistischer Parteien sind, ist im Jahr 2002 abermals zurückgegangen. Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD), die "Deutsche Volksunion" (DVU) und die Partei "Die Republikaner" (REP) verloren im Freistaat annähernd ein Viertel ihrer Mitglieder. Ebenso war die Anzahl der Personen im Jahr 2002 rückläufig, die sich an Demonstrationen, Kundgebungen oder anderen Aktionen des rechtsextremistischen Spektrums beteiligten. An den Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag nahmen auf der äußersten Rechten lediglich die NPD und die "Republikaner" teil. Beiden Parteien gelang es wiederum nicht, genug Stimmen auf sich zu vereinen, um in das Parlament einzuziehen. In Thüringen stimmten für die NPD 0,9 %, für die "Republikaner" 0,8 % der Wähler. Im Jahr 1998 hatten die "Republikaner" noch 1,6 % der Stimmen erhalten; die NPD hatte sich 1998 nicht zur Wahl gestellt. Die Anzahl der Neonazis blieb im Freistaat gegenüber dem Jahr 2001 in etwa gleich; der Organisierungsgrad nahm dabei deutlich ab. Die Anzahl der Skinheads erhöhte sich von etwa 350 auf rund 380. Im Überblick stellt sich die Situation wie folgt dar: Rechtsextremistische Parteien Die Mitgliederzahl des Thüringer Landesverbandes der NPD ging von etwa 200 im Jahr 2001 auf rund 150 im Jahr 2002 zurück. Die Partei verlor ca. 50 Mitglieder, weil sie ihre öffentlichen Aktivitäten erheblich einschränkte und für aktionsorientierte Neonazis an Attraktivität einbüßte. Auch das NPD-Verbotsverfahren wirkte sich erheblich auf die Mitgliederzahl aus. Auf den Rückgang der Mitgliederzahl reagierte die NPD insofern, als sie ihre Strukturen in Thüringen straffte. So reduzierte sie die Anzahl der Kreisverbände von zwölf im Jahr 2001 auf sieben im Berichtszeitraum. Gleichermaßen ging die Mitgliederzahl der "Republikaner" von etwa 170 im Jahr 2001 auf ca. 140 im Berichtszeitraum zurück. Nach wie vor spielt der Landesverband Thüringen in der Partei eine nur untergeordnete Rolle. In den Richtungsstreit, der die "Republikaner" seit Jahren beherrscht und schwächt, griff er nicht ein. Von zehn Kreisverbänden sind nur noch vier aktiv. Dem bundesweiten Trend entsprechend, verminderte sich auch die Mitgliederzahl der DVU 2002 um ca. 50 auf etwa 150. Vom Landesverband Thüringen gingen 2002 nur wenig Aktivitäten aus, die in die Öffentlichkeit hineinwirkten. Über effiziente Strukturen auf Kreisverbandsebene verfügt er nicht. Der Landesverband der "Freiheitlichen Deutschen Volkspartei" (FDVP), dem statt 20 Mitglieder im Jahr 2001 im Berichtszeitraum nicht mehr als 15 angehörten, spielte unter den rechtsextremistischen Parteien im Freistaat abermals eine nur untergeordnete Rolle. Der "Bund Deutscher Patrioten" (BDP) trat im Jahr 2002 nicht in Erscheinung. 10 Organisierte Neonazis Noch im Jahr 2001 hatte der "Thüringer Heimatschutz" (THS) als Bindeglied zwischen der freien Neonaziszene und der NPD eine bedeutende Rolle gespielt. Im Jahr 2002 trat der THS einzig durch seine im Raum Eisenach angesiedelte Sektion, das "Nationale und Soziale Aktionsbündnis Westthüringen" (NSAW), in Erscheinung. Dem NSAW werden etwa 70 Anhänger zugerechnet. Nicht organisierte Neonazi-Szene und Skinheads Während die Mitgliederzahl der rechtsextremistischen Parteien 2002 zurückging, wuchs die Zahl der nicht organisierten Neonazis von etwa 400 im Jahr 2001 auf ca. 500 an. Der Anstieg ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der THS als Personenzusammenschluss 2002 in einem starken Maße an Bedeutung verloren hat und sich Neonazis von ihm abgewandt haben. Auch die Zahl der Skinheads hat 2002 in Thüringen von etwa 350 (2001) auf annähernd 380 im Berichtsjahr zugenommen. Während sich im Jahr 2001 die Zahl der Skinheadkonzerte auf fünf belief (1998: 17, 1999: 11, 2000: 1), konnte im Berichtszeitraum kein Skinheadkonzert durchgeführt werden. Vier Veranstaltungen wurden von der Polizei aufgelöst; zwei Konzerte konnten im Vorfeld verhindert werden. Das rechtsextremistische Potenzial in Thüringen: Mitgliederzahlen rechtsextremistischer Parteien und Gruppierungen1 2000 2001 2002 NPD 260 200 150 DVU 200 200 150 REP 190 170 140 Subkulturell geprägte und 750 750 880 sonstige Rechtsextremisten (davon Skinheads) (350) (350) (380) Organisierte neonazistische Gruppierungen 160 (THS) 170 (THS) 70 (NSAW) Bei den oben aufgeführten rechtsextremistischen Gruppierungen gibt es Doppelund Mehrfachmitgliedschaften. 2. Ideologischer Hintergrund Das Denken der Rechtsextremisten wurzelt nicht in einer fest strukturierten Ideologie. Es besteht aus geistigen Versatzstücken unterschiedlicher ideengeschichtlicher Herkunft, die innerhalb der jeweiligen Ausprägung des Rechtsextremismus mehr oder weniger deutlich zu Tage treten. Immer wiederkehrende Grundelemente sind: - ein überzogener, häufig aggressiver Nationalismus, der das Prinzip der Völkerverständigung missachtet, 1 Zahlenangaben gerundet, z. T. geschätzt 11 - die Überhöhung des Staates zu einem sich aus sich selbst heraus rechtfertigenden Wert und die Überbetonung der Staatsinteressen gegenüber den Freiheitsrechten des Einzelnen (Etatismus), - eine völkische Ideologie, die sich typischerweise zu Rassenideologie und Fremdenfeindlichkeit verdichtet, wobei dem Antisemitismus eine besondere Stellung zukommt, - das Leugnen oder Verharmlosen der Verbrechen des Nationalsozialismus sowie das Hervorheben angeblich positiver Elemente des Dritten Reichs (einige Neonazis sind inzwischen dazu übergegangen, das geschichtliche Handeln der Nationalsozialisten zu verteidigen, ja zu verherrlichen). Weitere Ideologieelemente stellen die Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit und Ideologie der Ungleichheit dar; der Antipluralismus und Autoritarismus ist in unterschiedlicher ideologischer Ausdrucksweise bei allen Rechtsextremisten zu finden. Die rechtsextremistischen Parteien sind beispielsweise überwiegend auf die "Nation" fixiert und vertreten demnach eine nationalistische Position. Neonazis hingegen orientieren sich stärker an der "Rasse" und weisen dementsprechend eine rassistische Position auf. 3. Rechtsextremistische Parteien und Organisationen 3.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Noch bis zum Ende der sechziger Jahre zählte die 1964 gegründete NPD vorübergehend mehr als 25.000 Mitglieder. Im Jahr 2002 gehörten ihr noch etwa 6.100 Personen an. 1969 verfehlte sie bei den Bundestagswahlen mit 4,3 % nur knapp den Einzug in das Parlament. Seither gelang es der NPD nicht mehr, an diese Erfolge anzuknüpfen. Im Jahr 2002 trat die NPD dennoch unter den rechtsextremistischen Parteien in Deutschland am stärksten in Erscheinung, da sie im Gegensatz zu den anderen Parteien auf der äußersten Rechten auch zwischen den Wahlkämpfen auf sich aufmerksam macht. Nachdem Udo VOIGT 1996 das Amt des Parteivorsitzenden übernommen hatte, leitete er in Hinsicht auf die Nachwuchsrekrutierung der NPD einen Paradigmenwechsel ein. Er führte zu einer verstärkten Kooperation der Partei mit der Neonaziund Skinheadszene, was nach außen vor allem bei Demonstrationen und Aufmärschen deutlich wurde. Ende der neunziger Jahre konnte die NPD ihre Mitgliederzahl erheblich steigern, ihren Altersdurchschnitt wesentlich senken und bei Kundgebungen auf eine größere Zahl von Teilnehmern verweisen, da ihr bisher nicht organisierte Neonazis und Skinheads beitraten. Darüber hinaus erschlossen sich ihr neue Wählerpotenziale, wenn auch in geringer Größe. Den in losen Gruppen, in so genannten Freien Kameradschaften, zusammengeschlossenen Neonazis hingegen bot die NPD den geeigneten organisatorischen und strukturellen Rahmen, um für ihre Ziele Propaganda zu betreiben und Kundgebungen zu veranstalten. Das Vernetzungskonzept hat die NPD auch 2002 verfolgt. Im Zusammenhang mit den Bundestagswahlen wurde jedoch erstmals Kritik am "Wählerpotenzial" aus der Skinheadund Neonaziszene laut. So forderten Holger APFEL und Ulrich EIGENFELD, die dem Bundesvorstand der NPD angehören, im Oktober in der "Deutschen Stimme" im Hinblick auf den Mitgliederzuwachs künftig eine "starke Positivauslese" zu treffen. Denn ein nicht unwesentlicher Teil der Mitglieder, die gerade Ende der neunziger Jahre der Partei beigetreten und seinerzeit für deren Überleben notwendig gewesen sind, hätte sich jetzt als kontraproduktiv erwiesen. Weder in organisatorisch-logistischer und in politisch-weltanschaulicher Hinsicht noch in Wahlkämpfen habe sich der schnelle Mitgliederzuwachs als hilfreich für die Parteipo12 litik erwiesen. Viele destruktive Mitglieder, darunter auch zahlreiche neue Mitglieder, hätten die Partei inzwischen wieder verlassen. Noch im April hatte der Parteivorstand der NPD in "Strategischen Leitlinien zur politischen Arbeit der NPD" zum Ausdruck gebracht, dass die NPD generell problemlos mit solchen Skinheads zusammenarbeite, die bereit seien, als politische Soldaten zu denken, obwohl diese oftmals den Konsumenten der etablierten Medien als typisch für die nationalen Gruppen präsentiert würden. Vielfach handele es sich bei ihnen um sehr wertvolle junge Menschen, die man für den Aufbau der Volksgemeinschaft gewinnen müsse. Die NPD schwankte auch im Verlauf des Jahres mehrfach, was den gegenüber den Neonazis eingeschlagenen Integrationskurs betraf. Dies hing in erster Linie mit der NPDVerbotsdiskussion zusammen, die unter anderem die enge Verbindung zwischen der NPD und gewaltbereiten Rechtsextremisten aufgriff. Auch die Neonaziszene trug ihrerseits mit Aktionen dazu bei, dass die Zusammenarbeit der "national" gesinnten Kräfte nicht reibungslos verlief. So riefen beispielsweise so genannte Freie Nationale auf, die Wahl der NPD zu boykottieren. VOIGT schrieb dieses Verhalten wenigen "Freien" zu, denen "Persönliches" noch über "Politisches" gehe. In der "Deutschen Stimme" bekräftigte er abermals das Angebot der NPD, "wenigstens in wichtigen Angelegenheiten, die uns alle angehen, vereint zu schlagen, auch wenn zum Teil noch getrennt marschiert wird". Im Verlauf des Jahres strebte sowohl die NPD als auch die Neonaziszene zumindest zeitweise an, eigenständige Aktionen durchzuführen. Am 8. Juni fand in Leipzig unter dem Motto "Ruhm und Ehre den Wehrmachtssoldaten" eine Demonstration statt, an der sich etwa 1.100 Aktivisten beteiligten. Sie war vom NPDLandesverband Sachsen angemeldet worden und richtete sich gegen die "Wehrmachtsausstellung". Die Teilnehmer zogen durch das alte Messegelände, fanden jedoch nur wenig Beachtung. Als Redner traten Udo VOIGT und dessen Stellvertreter Holger APFEL sowie derNeonazi Herbert SCHWEIGER auf. In direkter Konkurrenz zu dieser Veranstaltung hatte der Hamburger Neonazi Christian WORCH gegen die "Wehrmachtsausstellung" eine Demonstration organisiert, an der sich etwa 430 Aktivisten beteiligten. In Leipzig führten NPD und Neonazis erstmals gegen die "Wehrmachtsausstellung" gerichtete Veranstaltungen durch, die zwar separat, aber gleichzeitig stattfanden. In Bielefeld, wo die Ausstellung zuvor gezeigt worden war, hatten die NPD und die Neonazis ihre Protestveranstaltungen noch an verschiedenen Tagen durchgeführt. Wie die Veranstaltungen in Leipzig zeigen, hat das Interesse der rechtsextremistischen Szene, gegen die "Wehrmachtsausstellung" zu protestieren, nicht nachgelassen. Sie verdeutlichen aber auch das Konkurrenzverhältnis, das zwischen Teilen der Neonazi-Szene und der NPD besteht. Die Leipziger Demonstrationen und die auf sie folgenden Diskussionen offenbarten, bemerkte das rechtsextremistische "Störtebeker-Netz", in welchem Maße der "Nationale Widerstand" im Innern gespalten sei. Der Neonazi Steffen HUPKA, der im Dezember 2001 aus der NPD ausgeschlossen worden ist, griff die Demonstrationen in Leipzig auf, um mit der NPD erneut hart ins Gericht zu gehen. In einem Rundbrief nannte er die NPD eine "feindliche Organisation", die "de facto - ob mit Vorsatz oder nicht - die Rolle des Spalters des Nationalen Widerstandes" erfülle. 13 Parteipolitisches Konzept Verfassungsfeindliche Ideologie und Programmatik Die NPD verficht aggressiv-kämpferisch eine verfassungsfeindliche Ideologie. Sie strebt an, das von ihr so genannte System - mithin die freiheitliche demokratische Grundordnung - zu überwinden. Die NPD propagiert einen völkischen Kollektivismus und agitiert fremdenfeindlich. So spricht sie von der "ethnisch homogenen Volksgemeinschaft", die durch "gemeinsame Abstammung, Geschichte, Sprache und Kultur" entstehe. Die Würde des Menschen hängt für sie ihrem Parteiprogramm zufolge von seiner biologisch-genetischen Teilhabe an der "Volksgemeinschaft" ab. Die Freiheit der persönlichen Entfaltung, die das Grundgesetz garantiert, missachtet sie. Die NPD stellt "Grundziele des Volkes" auf, an denen sich die Volksherrschaft - statt an der verfassungsmäßigen Ordnung - orientieren solle. In der Gesellschaftsordnung, die die NPD propagiert, sollen autoritäre Eliten vorherrschen. Der Anspruch auf Führerschaft steht im Widerspruch zum pluralistischen Mehrparteiensystem der Bundesrepublik. Die Behauptung, dass Menschen unterschiedlicher Abstammung von ungleichem Wert seien, zieht sich wie ein roter Faden durch programmatische Äußerungen von NPD-Aktivisten. Sie enthalten zahlreiche Belege für die rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche Haltung der NPD. Die Grundlage der mit dem Grundgesetz unvereinbaren Fremdenfeindlichkeit stellt die im Parteiprogramm enthaltene ideologische Konstruktion vom "lebensrichtigen" Menschenbild dar: "Wir stehen mit einem lebensrichtigen Menschenbild gegen Fremdherrschaft und Fremdbestimmung, gegen Überfremdung, Ausbeutung und Unterdrückung, für deutsche Freiheit, für Freiheit der Völker, für eine soziale Neuordnung in Deutschland, die unserem Menschenbild entspricht." Die Kritik an der Bundesregierung, die im Jahr 2002 besonders deutlich zum Ausdruck gebracht worden ist, leitet sich von den ideologischen Leitlinien der Partei her: "Die rot-grüne Regierung verwickelt Deutschland in internationale Kriegseinsätze...Ein Zuwanderungsgesetz und die 'Green-Card' lassen Deutschland faktisch zum Einwanderungsland werden..." Folgerecht formulierte die NPD die politischen Schwerpunkte: "Aufkündigung des Schengener Abkommens und Ausweisung von 1,5 Millionen Scheinasylanten! Das Grundrecht auf Asyl wird ersatzlos gestrichen!...Sozialleistungen werden nur noch an Deutsche gezahlt! Ein Arbeitsplatzschutzsicherungsgesetz stellt für alle Deutschen das Recht auf Arbeit sicher!" Wenn die NPD die Außenpolitik der Bundesregierung kritisierte, brachte sie auch ihre "antiamerikanische und antiimperialistische" Haltung zum Ausdruck. Die deutsche Regierung müsse, rief die NPD auf, sich dem US-Imperialismus mit allen zur Verfügung stehenden Kräften entgegensetzen und in erster Linie die Interessen des deutschen Volkes wahrnehmen. Zugleich forderte sie u.a. die Auflösung der NATO, da dadurch der "Träger des USImperialismus" aus Europa verschwinde und ein "Europa der freien Völker" entstehe. In der "Deutschen Stimme" brachte deren Redaktionsmitglied Waldemar MAIER im Juni eine antisemitische Einstellung unverhohlen zum Ausdruck: "Mit Haß und dem Mordtrieb gegen Nichtjuden, den schon das Alte Testament den Söhnen Abrahams einimpfte, gingen israelische Truppen gegen die palästinensische Stadt Dschenin vor und wüteten unter den Flüchtlingen...Dem ist nur hinzuzufügen, dass sich exakt diese religiöse und rassistische Ein14 stellung des Zionistenstaates seit Jahrzehnten auf geraubtem Boden am palästinensischen Volk entlädt." Die Wesensverwandtschaft, die geistige Nähe, die nach wie vor zwischen der NPD und dem Nationalsozialismus besteht, wurde deutlich, als die "Deutsche Stimme" im Juli eine "Reichsdebatte" veröffentlichte. "An den Tagen, da die NPD nicht mehr zum Deutschen Reich stehen sollte, wird sie ihre Seele verloren haben!" und "Was...bewahrenswert am Alten ist, muß auch bewahrt werden. Dazu gehört der Reichsgedanke...", hieß es in Leserbriefen. Der NPD-Parteivorstand entwirft strategische Leitlinien für die politische Arbeit Der Parteivorstand der NPD veröffentlichte im April in der Schriftenreihe "Profil" ein Positionspapier, das den Titel "Strategische Leitlinien zur politischen Arbeit der NPD" trug. Die Partei müsse, forderte der Vorstand darin, zukünftig die vorhandenen Kräfte bündeln, die operativen Ziele hinsichtlich ihrer Erreichbarkeit auswählen und jede taktisch politische Auseinandersetzung um Sachfragen an ihrem potenziellen Nutzen für das strategische Fernziel - eine neue politische Ordnung - messen. Die "8 Thesen zur Gestaltung der politischen und strategischen Arbeit der NPD" umfassen nicht nur grundsätzliche ideologietheoretische Ausführungen, die sich auf das "lebensrichtige Menschenbild" und die "Volksgemeinschaft" sowie die damit verbundene "neue Ordnung" beziehen, sondern auch wahltaktische Erörterungen. Der nationale Widerstand - als deren Speerspitze sich die NPD versteht - sei, heißt es in den Thesen, kräftemäßig noch nicht in der Lage, das in der Bevölkerung vorhandene Protestpotenzial dauerhaft für die Interessen des deutschen Volkes nutzbar zu machen. Deshalb müssten glaubhafte nationaldemokratische Themen benannt werden, um eine Stammwählerschaft aufzubauen. Strategie Die Strategie der NPD gründet auf dem seit Ende 1997 immer wieder propagierten "DreiSäulen-Konzept", das sich aus den Säulen "Kampf um die Straße", "Kampf um die Köpfe" und "Kampf um die Parlamente" zusammensetzt. Mit dem "Kampf um die Straße" versucht die NPD vor allem, ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen und ihre Mobilisierungsfähigkeit auszubauen. Hierzu zählen die Organisation von zentralen Großveranstaltungen ebenso wie die dezentralen, auf bestimmte Regionen bezogenen Demonstrationszüge, die auch Neonazis und Skinheads als Plattform nutzen. In der "Deutschen Stimme" ging der NPD-Theoretiker und Leiter des NPD-Arbeitskreises "Volk und Staat", Jürgen SCHWAB, im April unter dem Titel "Warum nationalbefreite Zonen?" der Frage nach, warum regionale Schutzräume, in denen nationale Bürger unbehelligt leben könnten, erforderlich seien. Die totalitäre Gesellschaft, argumentierte der Autor, habe den Staat erobert und führe ihren Vernichtungskampf nicht nur gegen Mitglieder der NPD, sondern darüber hinaus gegen einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Nationalbefreite Zonen - wie sie in "Mitteldeutschland" bereits entständen - böten aber gerade jenen Schutz für nationale Menschen, den der Staat nicht gewähre. Auch der Parteivorsitzende VOIGT bezeichnete "national befreite Zonen" als "Teil einer Konzeption einer weiteren Säule" des strategischen Konzepts der NPD. Demnach seien die Köpfe, "die so von uns vom geistigen Systemmüll gereinigt wurden, die ersten national befreiten Zonen". Nach den "Agitpropeinsät15 zen"2 würden sich die Menschen in ihren Gebieten wieder trauen, zu ihrer Meinung zu stehen und ihren Protest gegen die Haltung der Etablierten zu organisieren.3 Den "Kampf um die Köpfe" führt die NPD vor allem mit der "Deutschen Stimme", mit Flugblättern, auf denen sie ihr Programm verbreitet, sowie mit Hilfe der politischen Schulung ihrer Mitglieder. Für die NPD hat die Selbstdarstellung im Internet eine große Bedeutung. Sie nutzt dieses Medium, um ihre Ansichten zu verbreiten, Mitglieder zu werben und zu mobilisieren. Mit dem Verlag "Deutsche Stimme" verfügt die NPD über ein eigenes Publikationsorgan des Parteivorstands, dem ein Versandhandel für rechtsextremes Propagandaund Werbematerial angeschlossen ist. Die Zeitschrift "Deutsche Stimme" wird vom NPD-Parteivorstand monatlich in einer Auflage von 10.000 Exemplaren herausgegeben. Sie veröffentlicht Mobilisierungsaufrufe, Berichte über Veranstaltungen und Demonstrationen und dient auch als Forum für politiktheoretische und strategische Diskussionen von Intellektuellen aus dem Umfeld der Partei. In diesem Zusammenhang wurde die "Deutsche Akademie" aktiv, die vor allem Intellektuelle ansprechen will. Vom 29. November bis 1. Dezember hielt sie in Mosbach bei Eisenach ein Winterseminar ab, dessen Thema "Parteipolitik und Elitenbildung - ein Widerspruch?" lautete. An der Veranstaltung nahmen etwa 70 Personen aus dem Bundesgebiet, u.a. der Vorsitzende der Partei, Udo VOIGT, und der Anwalt der Partei, Horst MAHLER, teil. Im Zusammenhang mit dem "Kampf um die Parlamente" bemüht sich die NPD ausdrücklich um ein volksnahes Image. Zuerst will sie "Herzen und Köpfe" der Wähler gewinnen, um die Voraussetzungen für spätere Wahlerfolge zu schaffen. Die Partei müsse daher, regten die Mitglieder des Bundesvorstands APFEL und EIGENGELD an, ihre Politik und die Entscheidung, an welchen Wahlen sie künftig teilnimmt, in erster Linie auf ihre politische Wirksamkeit und die langfristige Durchsetzung ihrer politischen Ziele ausrichten. Da nach eigener Einschätzung die Kraft der Partei dafür in personeller und finanzieller Hinsicht zur Zeit begrenzt sei, beschloss deshalb die Parteiführung, zu den Landtagswahlen im Jahr 2003 nicht anzutreten. Im Frühjahr 2004 gelte es dann, Kraft, Konzentration und innerparteiliche Motivation auf die Europawahl im Frühjahr 2004 zu lenken. Innerparteiliche Opposition Im Januar beschloss die Versammlung der "Revolutionären Plattform" (RPF)4 ihre Aktivitäten einzustellen und die Gruppe aufzulösen. Die RPF habe ihre Aufgabe in der NPD soweit wie möglich erfüllt. Die Auflösung der RPF dürfte für deren Anhänger und Sympathisanten jedoch nur organisatorische Kosmetik gewesen sein. Das innerparteiliche Oppositionspotenzial, das sie verkörpern, blieb weiterhin bestehen. Deshalb ist anzunehmen, dass die früheren RPF-Aktivisten die derzeitige Parteiführung auch künftig in Grundsatzfragen massiv kritisieren werden. Eine Woche vor dem Bundesparteitag der NPD fand am 9. März in Fredersdorf/Brandenburg ein Kongress der "Initiativgruppe zum NPD-Parteitag" statt, an dem etwa 50 Personen teilnahmen. Hinter der Initiativgruppe verbirgt sich "die innerparteiliche Opposition revolutionärer Kräfte in der NPD". Das Treffen diente dazu, die Kritikpunkte der NPD-internen Opposi- 2 "Agitprop" ist die Abkürzung von Agitation und Propaganda. "Agitpropeinsätze" wurden in der DDR von der SED oder der FDJ organisiert, um ihre politischen Ziele zu verbreiten. 3 "Deutsche Stimme" Nr. 2/Februar 2002 4 Siehe auch Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2001, S. 28 ff. 16 tion inhaltlich zu fixieren und ihre Strategie für den Bundesparteitag der NPD festzulegen. Die "innerparteiliche Opposition", auf die das ehemalige Mitglied des NPD-Bundesvorstands, Steffen HUPKA, einen starken Einfluss nahm, mahnte u. a., die Parteibasis durch einheitliche weltanschaulich-politische Schulungen ideologisch zu festigen, auszulesen und politisch auszurichten. Bundesparteitag Vom 16. bis 17. März fand unter dem Motto "Deutschland wir kommen" der 29. ordentliche Bundesparteitag der NPD in Königslutter/Niedersachsen statt. In dessen Mittelpunkt standen die Neuwahl des Parteivorstandes, der Bericht des Parteivorsitzenden zur Lage der Partei, der Bundestagswahlkampf 2002 sowie das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Die etwa 200 anwesenden Delegierten bestätigten den Parteivorsitzenden VOIGT in seinem Amt und hielten auch an den meisten Mitgliedern des bisherigen Parteivorstandes fest. Der von der "Initiativgruppe zum NPD-Parteitag" angekündigte Versuch, VOIGT abzuwählen, konnte nicht durchgesetzt werden. In einem Kommentar, den das "Nationale und Soziale Aktionsbündnis Westthüringen" (NSAW) auf seiner Website verbreitete, merkte HUPKA kritisch an: "Ein Verbleib in der NPD ist bei diesem Vorstand...grundsätzlich als kontraproduktiv anzusehen...Die Partei ist nicht mehr reformfähig." Die "revolutionären Menschen in der NPD" sollten sich fragen, ob es sich noch weiter lohne, "Energie in diesen Apparat zu stecken". Struktur und Finanzen Die NPD gliedert sich in 15 Landesverbände und mehr als 200 Kreisverbände. Berlin und Brandenburg haben sich zu einem Landesverband zusammengeschlossen. Finanziell scheint die Partei weiterhin stark angeschlagen zu sein, was wohl auch mit den erheblichen Aufwendungen zusammenhängt, die ihr im Zusammenhang mit dem Verbotsverfahren entstehen. Auf Flugblättern, die im Januar der "Deutschen Stimme" beigelegt wurden, warb die NPD-Spitze um Spenden und Darlehen: "Unsere Kampfkraft vor Gericht und im Lande hängt jetzt von der Opferbereitschaft der deutschbewußten Männer und Frauen mit ab. Der Aufwand ist immens und kann aus den laufenden Mitgliedsbeiträgen nicht mehr gedeckt werden." Der Thüringer Landesverband der NPD Struktur Im Frühjahr 2002 schuf der NPD-Landesverband Thüringen, der im Jahr 1990 gegründet worden ist, neue Strukturen. Die Anzahl der Kreisverbände ging von vermeintlich5 zwölf auf sieben zurück. Die Kreisverbände Saale-Holzland, Sonneberg, Weimar, Gotha, Ilmkreis und Suhl bestehen nicht mehr; der Kreisverband Nordhausen wurde neu gebildet. Nunmehr gliedert sich der Landesverband der NPD Thüringen in die Kreisverbände Altenburg, Gera, Jena, Nordhausen, Saale-Orla, Saalfeld-Rudolstadt und Wartburgkreis. Diese organisatorische und verwaltungstechnische Straffung der Parteistrukturen dürfte notwendig geworden sein, weil die Mitgliederzahl weiter zurückgegangen ist. 5 Siehe Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2001, S. 31 17 Personenpotenzial/Mitglieder Dem Landesverband gehörten Ende des Jahres 2002 ca. 150 Mitglieder an. Somit setzte sich der starke Rückgang der Mitgliederzahl, der 2001 eingesetzt hatte, fort. Der erneute Rückgang in diesem Jahr gründet darauf, dass die NPD ihre öffentlichen Aktivitäten stark einschränkte und Potenzial aus dem neonazistischen Bereich nicht gewinnen konnte. Von großer Bedeutung war in diesem Zusammenhang sicherlich auch das NPD-Verbotsverfahren. Mitgliederentwicklung des NPD-Landesverbandes Thüringen 300 260 260 250 200 200 200 Mitglieder 150 150 100 90 60 60 50 50 40 40 0 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 Jahr Neuwahl des Landesvorstands der NPD Thüringen Auf einem außerordentlichen Landesparteitag wählte der NPD-Landesverband Thüringen am 6. April einen neuen Vorstand. Der bisherige Landesvorsitzende Frank SCHWERDT wurde in seinem Amt, das er seit dem 21. April 2001 innehat, bestätigt. Mitte März war er auf dem Bundesparteitag der NPD abermals zum Bundesgeschäftsführer gewählt worden. Mit der Wahl des neuen Vorstands verschoben sich die Machtverhältnisse innerhalb dieses Gremiums wieder zugunsten der eher zurückhaltend agierenden Kräfte. Nunmehr entstammt etwa die Hälfte der Vorstandsmitglieder den Kreisverbänden Wartburgkreis und Saale-OrlaKreis. SCHWERDT und die Vertreter des Geraer Kreisverbands sind hingegen der aktivistischen, durchaus an der Zusammenarbeit mit Neonazis und Skinheads interessierten Richtung in der NPD zuzurechnen. Aktive Kreisverbände Die Kreisverbände Jena und Gera heben sich von den anderen Kreisverbänden des Landesverbands Thüringen durch ihre öffentlichkeitsund medienwirksamen Aktivitäten ab. Sie sind auch die einzigen Verbände, die eine eigene Homepage betreiben und auch aktualisieren. 18 Der Kreisverband Gera entwickelte bereits von Beginn des Jahres an Aktivitäten, um die Teilnahme der NPD an den Bundestagswahlen sicherzustellen. Auf diesem Aktionsfeld war er der aktivste Kreisverband der NPD. Er organisierte zahlreiche Informationsstände, um ihren Direktkandidaten in diesem Wahlkreis zu unterstützen. Der Kreisverband Jena unterhält zusammen mit dem Kreisverband Magdeburg das InternetForum "Mitteldeutscher Gesprächskreis". Dessen Website bietet der rechtsextremistischen Szene die Möglichkeit, aktuelle politische Geschehnisse, geschichtliche und kulturelle Ereignisse sowie andere Themen zu diskutieren. Der Kreisverband Jena trat 2002 im Landesverband Thüringen in einem besonderen Maße in Erscheinung, um Demonstrationen anzumelden und durchzuführen. Insbesondere Ralf WOHLLEBEN, der Vorsitzende des Kreisverbands, engagierte sich für Personen mit "nationaler Gesinnung" in der Stadt Jena und deren Umgebung. Dieses Engagement nahm er als Angehöriger des Ortschaftsrats des Stadtteils Jena-Winzerla6, als Anmelder und Leiter von Mahnwachen und Aufzügen sowie als vielfältiger Unterstützer der rechtsextremistischen Szene, hier vor allem der "Nationalen Jugend Jena", wahr. Als "Nationale Jugend Jena"7 bezeichnen sich Jugendliche, Schüler und Lehrlinge aus dem Stadtgebiet Jena und dessen Umgebung, die der rechtsextremistischen Szene zugehören oder mit ihr sympathisieren. Sie fordern von der Stadt ein "Nationales Jugendzentrum", das sie selbst verwalten möchten. "Wir haben keine Lust mehr auf irgendwelche Strassensozialarbeiter, die uns als 'Platzgruppen' oder 'rechtsgefährdete Jugendliche' bezeichnen", schrieb die "Nationale Jugend Jena" am 26. November im Internet. "Wir wollen unsere Freizeit mit unseren Freunden verbringen und nicht auf öffentlichen Plätzen dieser Stadt. Wir wollen einen Jugendclub wo wir volle Mitbestimmung haben und nicht die Hausordnung schon gleich das Tragen von Kleidern verbietet oder aus niederen Gründen aus Hausverbot ausgesprochen wird." Erstmals trat dieser bisher unstrukturierte Personenzusammenschluss bei einer Stadtratssitzung am 24. Oktober 2001 auf, um seine Forderungen vorzubringen. Mit dem Satz "Unsere Stadtväter werden erst wieder zur Ruhe kommen, wenn wir dieses Ziel erreicht haben" kündigten sie ein aktionsreiches Jahr 2002 an. Die folgenden Veranstaltungen deuten auf die Annäherung hin, die sich zwischen der NPD und der "Nationalen Jugend Jena" herausgebildet hat. WOHLLEBEN trat während der Demonstration der "Nationalen Jugend Jena" am 12. Januar in Jena nicht nur als Redner auf. Er stellte auch die Website des Kreisverbands zur Verfügung, um für die Veranstaltung zu mobilisieren. Bei der nächsten Kundgebung der "Nationalen Jugend Jena", die am 1. Juni stattfand, agierte WOHLLEBEN bereits als Veranstalter. Darüber hinaus meldete er unter dem Motto "Jugend braucht Räume" ein Zeltlager an, für das politische Vorträge und Diskussionsrunden vorgesehen waren. Die Veranstaltung, die von der Stadtverwaltung Jenas verboten wurde, sollte dem Ziel dienen, die Forderungen der "Nationalen Jugend Jena" zu unterstützen. Im Januar 2002 verteilte die "Nationale Jugend Jena" erstmalig die Schülerzeitung "Mitteldeutsches Sprachrohr". Mit der Herausgabe dieser Publikation strebte die "Nationale Jugend Jena" einer Pressemitteilung zufolge die Gründung einer Schülerinitiative an, um auf "schulische und gesellschaftliche Mißstände...aufmerksam zu machen und den nationalgesinnten Jugendlichen an den Schulen Jenas eine Stimme [zu] geben"8. Die sechs Ausgaben, die bisher 6 Bis zum 1. Dezember 2002 7 Oder auch "Jugend für Jena" genannt 8 Pressemitteilung der "Nationalen Jugend Jena" vom 11. Januar 2002 19 erschienen sind, enthalten u. a. tagespolitische und regionale Themen, Terminaufrufe und Berichte über Aktionen des rechtsextremistischen Spektrums. Die Schülerzeitung "Mitteldeutsches Sprachrohr" orientiert sich am "Norddeutschen Sprachrohr", das von der "Schülerinitiative zur freien Meinungsäußerung und -bildung Greifswald" verlegt wird. Die Ziele der "Nationalen Jugend Jena" beruhen allerdings nicht auf eigenen Ideen. Die Forderung nach einem "Nationalen Jugendzentrum" stellte bereits der "Nationale Jugendblock Zittau e.V.", der in der Stadt Zittau/Sachsen einige Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Der "Kampf um die Straße" - Aktionen des Landesverbands Demonstration der "Nationalen Jugend Jena" am 12. Januar in Jena Am 12. Januar führte die "Nationale Jugend Jena" unter dem Motto "Jenas Jugend stellt sich quer - Wir machen es dem Stadtrat schwer! Für ein nationales Jugendzentrum - Gegen die Ignoranz der Stadt Jena" eine Demonstration auf dem Jenaer Marktplatz durch. An der Kundgebung nahmen 80 bis 100, meist jugendliche Personen - darunter auch Vertreter der Skinheadund Neonazi-Szene - teil. Für die Demonstration hatten der NPD-Kreisverband Jena, der "Nationale Widerstand Jena" (NWJ) und das "Nationale und Soziale Aktionsbündnis Westthüringen" (NSAW) im Internet mobilisiert. Flugblätter wurden in Jenaer Schulen verteilt und Unterschriften gesammelt, um für die Aktion zu agitieren. Als Redner traten der Sprecher der "Nationalen Jugend Jena", Christian KAISER, und der Vorsitzende des NPD-Kreisverbands, Ralf WOHLLEBEN, auf. Sie kritisierten die Jugendpolitik der Stadt Jena und riefen die Anwesenden auf, weiter für ihre Ziele zu kämpfen. Die Demonstration wurde durch das Abspielen von CDs und durch zwei Liedermacher musikalisch umrahmt. Es wurden 14 freiheitsentziehende Maßnahmen gegen anwesende Teilnehmer durchgeführt, weil sie u.a. Waffen mitführten und verfassungswidrige Kennzeichen trugen. Rechtsextremisten demonstrieren am 1. Juni in Jena erneut für ein "Nationales Jugendzentrum" Am 1. Juni fand in Jena unter dem Motto "1. Tag der Thüringer Jugend! - Zur Unterstützung der Forderung nach einem nationalen Jugendzentrum in Jena" eine Kundgebung statt, die von der "Nationalen Jugend Jena" und dem NPD-Kreisverband Jena initiiert worden war. An der Veranstaltung beteiligten sich etwa 130 Angehörige des rechtsextremistischen Spektrums aus Thüringen und anderen Bundesländern. Die Kundgebung war zunächst von dem Sprecher der "Nationalen Jugend Jena", Christian KAISER, angemeldet worden, um an die Demonstration der "Nationalen Jugend Jena" am 12. Januar anzuknüpfen und deren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Später zeichnete der NPD - Kreisverband Jena für die Versammlungsleitung verantwortlich.9 9 Grund hierfür war nach eigener Aussage von KAISER ein gegen ihn laufendes Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit der Durchführung einer Lotterie während der vorherigen Veranstaltung am 12. Januar 2002. WOHLLEBEN nannte im Kooperationsgespräch als weiteren Grund, dass die Bundespartei für derartige Veranstaltungen finanzielle Unterstützung gewähre. 20 An der Veranstaltung wirkten der NPD-Kreisverband Jena, die Schülerzeitung "Mitteldeutsches Sprachrohr", die "Nationale Jugend Jena", der "Club 88" aus Neumünster, die "Kameradschaft Karlsruhe", das NSAW, die "Kameradschaft Ostara", der "Märkische Heimatschutz" und die Bewegung "Deutsche Volksgemeinschaft" mit Informationsständen mit. An die Teilnehmer wurden zudem Handzettel verteilt, die die Forderungen der "Nationalen Jugend Jena" verbreiteten. Als Redner traten Gerd ITTNER von der "Bürgerinitiative Ausländerstopp" (BIA) aus Nürnberg, die NPD-Landesvorsitzenden Peter BORCHERT aus Schleswig-Holstein und Frank SCHWERDT aus Thüringen, der Angehörige des NSAW Patrick WIESCHKE sowie Christian KAISER von der "Nationalen Jugend Jena" auf. "Das gesamte Gebiet um den Hölleinplatz herum", lautete das Fazit der Initiatoren, "(war) an diesem Tag national befreit...Wir konnten in aller Öffentlichkeit unsere Kultur ausleben, neue Kontakte untereinander knüpfen und uns einen schönen Tag unter Kameraden machen." Das musikalische Programm gestalteten der "Völkische Vagant", ein weiterer Liedermacher und die Band "Selection" aus Leipzig. Die Polizei nahm sechs Angehörige der rechtsextremistischen Szene wegen des Verdachts des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vorläufig fest. Außerdem wurde ein Mitglied der Musikgruppe "Selection" vorläufig festgenommen, da es auf seiner Kleidung u.a. die Aufschrift "Brotherhood of Hate" sowie ein Symbol der "Blood & Honour"-Bewegung trug. Mahnwachen Am 8. Februar führte der NPD-Kreisverband Jena unter dem Motto "Wir Gedenken der Opfer des Bombenangriffs vom 09.02.1945" im Zentrum der Stadt eine Mahnwache durch. An der Veranstaltung nahmen etwa 25 Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum teil, die der NPD und der "Nationalen Jugend Jena" angehörten. Am 17. Juni fand in Jena unter dem Motto "Wir gedenken den Opfern des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953" eine Mahnwache statt, die von WOHLLEBEN angemeldet worden war. Auf dem Jenaer Holzmarkt versammelten sich vor der Gedenkplatte für die Opfer des Volksaufstands von 1953 etwa 7 Personen, die ein Transparent zeigten und themenbezogene Flugblätter verteilten. Am 6. August veranstaltete der NPD-Kreisverband Jena unter dem Motto "Hiroshima 45 und Irak 2002 - Amerikanischer Staatsterror" in der Innenstadt von Jena eine Mahnwache, an der sich etwa 15 Personen beteiligten. Mit der Aktion wollte die NPD auf einen möglichen Militärschlag der USA im Irak aufmerksam machen. Traditionelle Veranstaltungen der NPD in Thüringen Sandro-WEILKES-Gedenkmarsch Am 11. Mai fand in Neuhaus am Rennweg der "Sandro-WEILKES-Gedenkmarsch" statt, der vom Bundesgeschäftsführer der NPD und Vorsitzenden des NPD-Landesverbandes Thüringen, Frank SCHWERDT, angemeldet worden war. An der Demonstration, an die sich eine Abschlusskundgebung und eine Kranzniederlegung anschlossen, nahmen ca. 120 Personen der rechtsextremistischen Szene teil. 21 In einer Rede erinnerte SCHWERDT an Sandro WEILKES und andere "Vaterlandsopfer". WEILKES war im Verlauf eines Streits zwischen rechtsund linksgerichteten Jugendlichen 1995 ums Leben gekommen. Seither versucht die rechtsextremistische Szene, die Straftat als politisch motiviertes Verbrechen darzustellen und WEILKES zu einem Märtyrer zu verklären. Die Rechtsextremisten veranstalten jedes Jahr im Mai Demonstrationen und Kundgebungen, um an WEILKES zu erinnern sowie die Auseinandersetzungen zwischen ihnen und dem linksextremistischen Spektrum zu thematisieren. Die Anzahl der Teilnehmer nahm von Jahr zu Jahr ab. So hatten sich im Jahr 2000 300, im Jahr 2001 noch 220 Rechtsextremisten an der Demonstration in Neuhaus beteiligt. 17. November 2002 - Volkstrauertag Am 17. November führte der NPD-Kreisverband Gera auf dem Ostfriedhof der Stadt eine Gedenkveranstaltung mit anschließender Kranzniederlegung durch, an der etwa 40 Personen mitwirkten. Als Redner trat Frank SCHWERDT auf. Eine gleichartige Veranstaltung führten ca. 50 Rechtsextremisten aus Bayern und Thüringen am Kriegerdenkmal "Friedensberg" in Jena durch. Sonstige Veranstaltungen im Freistaat Thüringen Am 24. August veranstaltete der NPD-Kreisverband Erfurt-Gotha-Nordhausen10 in Sondershausen unter dem Motto "Repression hat viele Gesichter - vor allem in der Republik der kleinen Lichter" einen Aufmarsch. Obwohl mit Flugblättern, auf den Internetseiten des NPDLandesverbands Thüringen und auf den Websites anderer rechtsextremistischer Gruppierungen für die Teilnahme an der Demonstration geworben worden war, beteiligten sich nur rund 50 Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum an dem Aufmarsch. Somit blieb die Anzahl der Teilnehmer deutlich hinter den Erwartungen des Veranstalters zurück, der mit bis zu 200 Personen gerechnet hatte. NPD - Landesverband Thüringen veranstaltet Demonstration am 9. November in Weimar Am 9. November fand in Weimar unter dem Motto "Deutschlands Selbstbestimmung endlich vollenden" eine Demonstration statt, die von SCHWERDT angemeldet worden war. Obwohl für die Veranstaltung bundesweit mobilisiert worden war und der Bundesvorsitzende der NPD, Udo VOIGT, sowie Horst MAHLER zugegen waren, beteiligten sich an der Demonstration lediglich etwa 160 Rechtsextremisten. Die Anzahl der Teilnehmer blieb damit unter den Erwartungen des Veranstalters, der mit 800 bis 1.000 Demonstranten gerechnet hatte. Mit der Losung der Veranstaltung sollte SCHWERDT zufolge an den 9. November 1989 - an die "Befreiung von der Vorherrschaft der Russen" - erinnert, aber auch darauf verwiesen werden, dass die "Befreiung von der Vorherrschaft der anderen Besatzungsmächte" noch ausstehe. Als Redner traten außer Frank SCHWERDT zwei führende Funktionäre der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) aus Hessen bzw. Rheinland-Pfalz auf. Während des Aufmarsches skandierten die Rechtsextremisten u. a. die Parolen "Frei, sozial und national", "Hier marschiert die Deutsche Jugend" und "Hier marschiert der Nationale Widerstand". Sie führten Fahnen der NPD und des Freistaats Thüringen sowie ein Transparent der JN mit sich, das die Aufschrift "DEUTSCHE WEHRT EUCH - WACHT ENDLICH AUF" trug. Unter den Teilneh10 Unter diesem Namen trat der Kreisverband Nordhausen auf. 22 mern der Demonstration befanden sich auch Angehörige des NPD-Kreisverbands Göttingen sowie der "Kameradschaft Moselland" und "Northeim".11 Fazit Im Jahr 2002 ging die Anzahl der Personen, die sich an den Veranstaltungen der NPD beteiligten, deutlich zurück. Meist hatten die Veranstalter mit weit mehr Teilnehmern gerechnet. Die Zahl der Personen, die sich von Aktionen der NPD angesprochen fühlen, scheint zum Teil von der Mobilisierung, von der musikalischen Umrahmung und von den Personen, die als Redner auftreten, abzuhängen. Die Entwicklung tendiert zu kleineren Veranstaltungen, an denen sich nur eine geringe Anzahl von Personen beteiligt. Als Anlass für die Demonstrationen dienten regionale und tagespolitische Themen sowie geschichtliche Ereignisse, die aufgegriffen wurden, um im Sinne des rechtsextremistischen Spektrums Parallelen zur Gegenwart zu ziehen. 3.2 "Junge Nationaldemokraten" (JN) Ideologie und Ziele Als einzige rechtsextremistische Partei verfügt die NPD über eine Jugendorganisation. Die "Jungen Nationaldemokraten", die 1969 gegründet wurden, bilden laut SS 19 der NPD-Satzung einen "integralen Bestandteil der NPD". Sie verstehen sich selbst als "eine weltanschaulichgeschlossene Jugendbewegung neuen Typs mit revolutionärer Ausrichtung und strenger innerorganisatorischer Disziplin, deren Aktivisten hohe Einsatzund Opferbereitschaft abverlangt wird". Sie bekennen sich zu einer "Neuen Volksgemeinschaft", in der die "Widersprüche und Unzulänglichkeiten des bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systems" ü- berwunden werden sollen, und zu einem "Neuen Reich" mit einer starken Zentralgewalt, die den Bestand der deutschen "Volksgemeinschaft" sicherstellen. Den Schwerpunkt ihres politischen Kampfs sehen die "Jungen Nationaldemokraten" in der Basisarbeit in den Städten, Landkreisen und Gemeinden. Sie streben an, ihre "politischen Vorstellungen in weite Kreise der deutschen Jugend" hineinzutragen. Der Jugend solle bewusst gemacht werden, dass es zum herrschenden System eine Alternative geben könne, die mit politischen Veränderungen einhergehe. Die JN legen eigenen Angaben zufolge an ihre Mitglieder in Bezug auf die politischinhaltliche Übereinstimmung mit den Thesen der JN sowie deren charakterliche Eignung hohe Maßstäbe an. "Wir JN verkörpern neue Werte...Wir brechen aus der geistigen Leere unserer Zeit aus, prangern die Verlogenheit und Dumpfheit des herrschenden Systems an und überwinden die Heuchelei und den Opportunismus etablierter Spießbürger und Anpasser", legte die Organisation im Internet dar. "Unser Leben ist vom Geist der Offenheit und Kameradschaft durchdrungen....Wir JN leben die Volksgemeinschaft, die wir in einer neuen nationalistischen Ordnung verwirklichen wollen, bereits heute in den eigenen Reihen vor. Der politische Soldat wird mittels seiner Verhaltensweisen und Taten als ein Vorbild denen dienen, die der Mut zu kämpfen verlassen hat. Wir wissen: Nationale Identität und nationale Solidarität sind die Pfeiler des sich erneuernden deutschen Volkes - Wir sind die Vorhut dieses anderen Deutschlands." "Die JN will nicht verwaltet, sondern gelebt werden und dazu bedarf es der selbständigen Kreativität jedes Mitglieds durch positive Eigendynamik gemäß der vorgegebe11 Die Demonstration fiel mit dem Tag zusammen, an dem 1938 die "Reichskristallnacht" begonnen hatte. In einem barbarischen Terrorakt zerstörten nationalsozialistische Trupps in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 jüdische Wohnund Geschäftshäuser, Synagogen und Friedhöfe. Im Verlauf des Pogroms wurden 91 Menschen umgebracht, an die 30.000 Juden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. 23 nen Zielrichtung andere Jugendliche zu politisieren und nachhaltig wirksam zu betreuen!", rief der damalige Vorsitzende der JN, ROßMÜLLER, die Mitglieder im April in einem Rundschreiben auf. Stefan ROCHOW, der als Bundesvorsitzender der JN amtiert, äußerte sich in ausländerfeindlicher Weise u.a. zum "Einwanderungsgesetz". Das "Problem der Überfremdung" verlange endlich Lösungen. Das "Einwanderungsgesetz" würde die Zuwanderung noch verstärken und die Regelungen des von ihm abgelehnten Asylrechts noch erweitern: "Es ist Zeit zum Umdenken. Wir müssen erkennen, dass mit diesem Einwanderungsgesetz eine unumkehrbare Tatsache geschaffen werden soll, welche unser Land endgültig und für alle Zeit zu einem multikulturellen Vielvölkerstaat machen soll. Deshalb sagen wir Jungen Nationaldemokraten: Schluß mit der Überfremdung - Volksgemeinschaft statt multikulturelle Zerstörung unserer Lebensgrundlagen." Der Bundesvorstand, der auf dem Bundeskongress gewählt wird, bildet das Führungsgremium der "Jungen Nationaldemokraten". Am diesjährigen Bundeskongress, der am 16. November in Kirchheim/Hessen stattfand, wirkten mehr als 60 Delegierte und der Bundesvorsitzende der NPD, VOIGT, mit. Die Delegierten wählten Stefan ROCHOW zum neuen Bundesvorsitzenden der "Jungen Nationaldemokraten" und einen neuen Bundesvorstand. Dessen Zusammensetzung zeige, führten die JN in einer im Internet veröffentlichten Presseerklärung an, dass sowohl erfahrene als auch junge Aktivisten bereit seien, Verantwortung für die zukünftige Entwicklung der JN zu übernehmen und ihr neue Impulse zu geben, damit ein weiterer Aufschwung der Jugendorganisation der NPD angestrebt werden könne. In seiner Abschlussrede ging der neue Bundesvorsitzende auf die Schwerpunkte der politischen Arbeit des neuen Vorstands ein. Der neue Vorstand will vor allem darauf hinarbeiten, "die Qualifizierung von Mitgliedschaft und Funktionariat (zu) forcieren", in organisatorischer Hinsicht zu straffen und verstärkt Angebote für eine "systemalternative Freizeitgestaltung" zu unterbreiten. Die JN betrachten diesen Kongress nicht nur als richtungsweisend. Von ihm gehe auch ein Aufbruchsignal aus. Seine Ergebnisse sollen die Grundlage für eine in Zukunft noch qualifiziertere politische Arbeit der "Jungen Nationaldemokraten" darstellen. Die Thüringer "Jungen Nationaldemokraten" (JN Thüringen) Der Thüringer Landesverband, der im Jahr 2000 gegründet worden ist, trat im Jahre 2002 öffentlichkeitswirksam nicht in Erscheinung. Noch im Jahr 2001 zählten die "Jungen Nationaldemokraten" in Thüringen bis zu 50 Mitglieder. Im Jahr 2002 existierte ein eigener Landesverband offensichtlich nicht mehr. Am 29. Mai verurteilte das Landgericht Mühlhausen in der Berufungsverhandlung den ehemaligen stellvertretenden Landesvorsitzenden der JN in Thüringen, Patrick WIESCHKE, u.a. wegen Anstiftung zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und einer Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten. WIESCHKE hatte am 10. August 2000 in Eisenach ein anderes Mitglied der JN angestiftet, einen Sprengsatz an einem Döner-Imbiss explodieren zu lassen. Kurz vor der Gerichtsverhandlung beim Amtsgericht Eisenach im Januar 2002 hatte WIESCHKE in einer Pressemitteilung seinen Austritt aus der NPD und den JN erklärt. Als Gründe für den Austritt führte er reaktionäre und rückwärts gewandte Tendenzen im NPD24 Kreisverband Wartburgkreis sowie das derzeitige Verhalten des NPD-Bundesvorstands gegenüber kritischen Parteimitgliedern und "Freien Nationalisten" an. Im Jahr 2001 stellten die "Jungen Nationaldemokraten" noch eine zahlenmäßig relevante, verhältnismäßig einflussreiche und öffentlich wahrnehmbare Jugendorganisation dar. Funktionäre der JN traten 2002 zwar im Rahmen von NPD-Veranstaltungen in Erscheinung. Eigenständige demonstrative Aktionen, um ihre Ziele zu bekräftigen und durchzusetzen, organisierte die Jugendorganisation jedoch in diesem Jahr nicht. Die "Jungen Nationaldemokraten", deren Mitgliederzahl bundesweit unter 500 gesunken ist, haben zunehmend an eigenständigem Profil verloren. Die Gründe hierfür liegen darin, dass der "staatliche Verfolgungsdruck" im Rahmen des NPD-Verbotsverfahrens auch auf die Organisation eingewirkt hat, wichtige Funktionäre der JN Führungspositionen in der NPD übernommen haben und die NPD den aktivistischen "Kampf um die Straße" betont hat. Da die Mutterpartei die Durchführung von demonstrativen Aktionen an sich zog, erschien sie Neonazis und Skinheads attraktiver als die "Jungen Nationaldemokraten". Da der Aktionismus der NPD in diesem Jahr eine rückläufige Tendenz aufwies, verloren jüngere Rechtsextremisten den Bezug zur NPD und zu den JN. Der optimistische Grundtenor des Bundeskongresses stimmt demzufolge nicht mit den in diesem Jahr durchgeführten Aktivitäten überein. Insbesondere die mangelnde "Basisarbeit", die u.a. auch die Aktivitäten des Thüringer Landesverbands der JN zum Erliegen brachte, belegt, dass die JN zu einem Anhängsel der NPD verkümmert sind und in der Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen werden. Angesichts der Dominanz der NPD und des Verlusts der Nahtstellenfunktion der JN als Bindeglied zwischen der NPD und der Neonazi-Szene bleibt abzuwarten, inwieweit die JN den auf dem Kongress propagierten "weiteren Aufschwung" in die Tat umsetzen und damit ihre Aktionsfähigkeit sowohl auf Bundesebene als auch in Thüringen zurückgewinnen können. 3.3 "Deutsche Volksunion" (DVU) Die Partei wurde im März 1987 in München unter dem Namen "Deutsche Volksunion - Liste D" (DVU-Liste D) gegründet und im Februar 1991 in "Deutsche Volksunion" (DVU) umbenannt. Seit ihrer Gründung amtiert der Münchner Verleger Dr. Gerhard FREY als ihr Bundesvorsitzender. Mit ca. 13.500 Mitgliedern (2001: 15.000 ) ist sie die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei. Da FREY die Partei nach wie vor zentralistisch führt, gehen von den regionalen Organisationsstrukturen der DVU wenige oder keine eigenständigen Aktivitäten aus. Die "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ), deren alleiniger Gesellschafter FREY ist, gilt mit geschätzten 45.000 Exemplaren als die auflagenstärkste der periodisch erscheinenden Publikationen im Bereich des Rechtsextremismus. Aufgrund der beherrschenden Stellung, die FREY in der DVU innehat, kann die NZ als Presseorgan der Partei angesehen werden. Ihre Beiträge richten sich gegen Ausländer, setzen Politiker herab, vertreten einen unverhohlenen Revisionismus und antisemitisches Gedankengut. Die Zeitung verbreitet tendenziöse Berichte über Straftaten von Ausländern, um ausländische Mitbürger zu kriminalisieren. Sie druckte auch umfangreiche Artikel ab, die die Eskalation des Nahost-Konflikts betrafen und sich einzig gegen die Politik Israels richteten. Zu den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, wo die DVU 1998 noch 12,9 % der Stimmen erringen konnte, trat sie wegen mangelnder Erfolgsaussichten nicht mehr an. Ebenso wenig nahm die Partei an den Wahlen zum Deutschen Bundestag teil. Auf dem Bundesparteitag der DVU hatte FREY, der als Bundesvorsitzender im Amt bestätigt wurde, im Januar vor etwa 25 230 Delegierten erklärt, dass sich die Partei aus personellen und finanziellen Gründen nicht an den Bundestagswahlen beteiligen werde. Bei den Bundestagswahlen 1998 hatte die DVU bundesweit lediglich 1,2 %, in Thüringen 2,87 % der Stimmen erhalten. Vermutlich wird sich die Partei ihrer bisherigen Taktik gemäß weiterhin auf die Landtagswahlen in einwohnerschwachen Bundesländern, wie zum Beispiel Brandenburg und Bremen, konzentrieren, in deren Parlamenten sie derzeit vertreten ist. Der Thüringer Landesverband der DVU Der Thüringer Landesverband der DVU, dessen Sitz sich in Arnstadt befindet, besteht seit 1991. Dem Verband, als dessen Vorsitzender seit 1991 Gerhard KONRAD amtiert, gehörten 2002 etwa 150 Mitglieder an. Vom Landesverband gingen 2002 nur wenige öffentlichkeitswirksame Aktivitäten aus. Dessen Mitglieder trafen sich in unregelmäßigen Abständen in Weimar zu ihren politischen Stammtischen, um über aktuelle politische Ereignisse und über die Arbeit des Landesverbands zu diskutieren. Für den 23. März meldete das damalige Vorstandsmitglied des Landesverbands Thüringen, Kurt HOPPE, als "Privatperson" in Erfurt eine Kundgebung an, an der sich unter dem Motto "Kein Blutvergießen deutscher Soldaten in fremden Ländern für amerikanische Interessen" etwa 70 Rechtsextremisten beteiligten. HOPPE machte bereits in der Vergangenheit auf sich aufmerksam, als er für eine basisbezogene Zusammenarbeit rechtsextremistischer Parteien in Thüringen eintrat und auch so genannte freie nationale Kräfte in seine Arbeit einbeziehen wollte. In diesem Sinne warb er nach eigenen Aussagen auch auf Parteiversammlungen der Thüringer DVU für die Veranstaltung am 23. März und benannte Marko P., einen bekannten Rechtsextremisten, zum stellvertretenden Versammlungsleiter. In der Vergangenheit hatte sich HOPPE bereits daran beteiligt, zwei "überparteiliche Strategietreffen" bei Eisenach zu organisieren. Die Teilnehmer der Veranstaltung setzten sich überwiegend aus männlichen Jugendlichen zusammen, unter denen sich viele Anhänger des NSAW und des "Nationalen Widerstands Jena" befanden. Auch der führende Hamburger Neonazi Christian WORCH nahm an der Demonstration teil. Die Anzahl der Demonstranten blieb deutlich hinter den Erwartungen der Veranstalter zurück, was unter anderem auf restriktive Kontrollen der angereisten Teilnehmer durch die Polizei zurückzuführen war. Auf der Abschlussveranstaltung trat Otmar WALLNER, der ehemalige stellvertretende Bundesvorsitzende und ehemalige stellvertretende bayerische Landesvorsitzende der Partei "Die Republikaner" (REP), als Hauptredner auf. Am 17. November nahmen etwa 70 "freie Nationalisten" sowie andere Rechtextremisten aus dem Umfeld der DVU wie in den Vorjahren auf der Schmücke bei Oberhof am Grabmal des unbekannten Soldaten an einer Gedenkveranstaltung mit Kranzniederlegung teil. WALLNER rief in einer Rede anlässlich des Volkstrauertags auf, "nicht nachzulassen,...als Freiheitskämpfer für die Völker und des deutschen Geistes" einzutreten. Eine kontinuierliche Parteiarbeit der DVU findet in Thüringen vor allem deshalb nicht statt, weil es ihr an "Führungspersönlichkeiten" und gewachsenen Strukturen auf Kreisverbandsebene fehlt und die Partei von FREY zentralistisch gelenkt wird. Die zielgerichtete, parteiin26 terne Entwicklung solcher "Persönlichkeiten" widerspricht jedoch der Strategie des Bundesvorsitzenden, der wichtige Personalfragen selbst löst und entscheidet, wer in "seiner" DVU Karriere macht. Wegen des erstmaligen Verzichts seit vielen Jahren auf die traditionelle Passau-Großkundgebung, des steten Mitgliederrückgangs sowie der letzten Wahlniederlagen ist ein Bedeutungsverlust der FREY-Partei immer wahrscheinlicher. 3.4 "Freiheitliche Deutsche Volkspartei" (FDVP) Die "Freiheitliche Deutsche Volkspartei" (FDVP) wurde im Februar 2000 auf Bundesebene von neun ehemaligen Abgeordneten der DVU-Fraktion im Landtag Sachsen-Anhalt gegründet. Der Abspaltung gingen innerparteiliche Auseinandersetzungen zwischen den DVUParlamentariern und dem Bundesvorsitzenden Dr. FREY voraus. Landesverbände der Partei haben sich seither in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen konstituiert. Auf dem ersten Bundesparteitag der FDVP im Mai 2000 in Kleinjena (Sachsen-Anhalt) wurde die ehemalige DVU-Abgeordnete Sachsen-Anhalts, Claudia WIECHMANN, zur Bundesvorsitzenden gewählt. Sie erklärte, dass sich die Partei hauptsächlich für den Schutz nationaler Interessen, für die Wahrung der deutschen Identität und für den besonderen Schutz der Familie einsetzen wolle. Zwischen den Ansichten, die die FDVP und die DVU vertreten, bestehen keine wesentlichen Unterschiede. Eine fremdenfeindliche und unterschwellig antisemitische Grundhaltung ist auch elementarer Bestandteil des politischen Bekenntnisses der FDVP. Die FDVP erhielt bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 21. April 9.729 Stimmen, was einem Anteil von 0,8 % entspricht. Sie scheiterte somit deutlich an der 5 %-Hürde. Zu den Bundestagswahlen trat die FDVP nicht an. Am 21. September fand in Klieken/Sachsen-Anhalt der Bundesparteitag der FDVP statt der unter dem Motto "Damit zusammenwächst, was zusammen gehört - Konsens der Freiheitlichen" stand. In einer Rede kündigte WIECHMANN an, mit der "Deutschen Partei" (DP) eine Koalition einzugehen. Einen Zusammenschluss mit anderen Parteien werde es nicht geben. Nach wie vor strebe die FDVP, betonte WIECHMANN, aber eine enge Zusammenarbeit mit der "Freiheitlichen Partei Österreichs" (FPÖ) an. Die Bundesvorsitzende kritisierte den Wechsel von ehemaligen Mitgliedern der FDVP zur "SCHILL-Partei" und sprach die erheblichen finanziellen Schwierigkeiten an, in der sich die Partei befindet. Claudia WIECHMANN wurde als Bundesvorsitzende im Amt bestätigt. Der Thüringer Landesverband der FDVP Der Landesverband Thüringen der FDVP wurde am 18. Juni 2000 gegründet. Zur Vorsitzenden wurde das ehemalige Mitglied der Partei "Die Republikaner" (REP), Kerstin BREHME, und zu ihrem Stellvertreter der Rechtsanwalt Günther STEINERT, der vorher dem "Bund Freier Bürger" (BFB) angehört hatte, gewählt. Im Jahr 2002 traten in Thüringen einige Mitglieder aus der Partei aus. Nunmehr gehören dem Landesverband nur noch etwa 15 Personen an (2001 etwa 20 Mitglieder). STEINERT, der zwischenzeitlich aus der FDVP ausgetreten ist, wurde auf Platz 2 der Landesliste Thüringen der "Partei Rechtsstaatliche Offensive" - der so genannten SCHILL-Partei - gewählt. Nachdem in der Öffentlichkeit bekannt geworden war, dass STEINERT als stellvertretender Landesvorsitzender der FDVP Thüringen fungierte, sollte er seinen Listenplatz 27 freiwillig abgeben. Er verweigerte dies jedoch mit dem Hinweis, demokratisch gewählt worden zu sein. Der Thüringer Landesverband der FDVP, der über keine örtlichen Parteigliederungen verfügt, trat im Berichtszeitraum im Freistaat mit öffentlichen Veranstaltungen oder Aktionen nicht in Erscheinung. Im Internet präsentiert sich der Landesverband lediglich mit einer Postfachanschrift, einer Telefonnummer und einer E-Mail-Adresse. Da es dem Landesverband an einer arbeitsfähigen Basis sowie einem funktionierenden Landesvorstand fehlt, wird sich der Abwärtstrend wahrscheinlich fortsetzen. Auch die empfindliche Wahlniederlage in Sachsen-Anhalt schmälert die Zukunftsaussichten des Landesverbands und der Bundespartei. 3.5 "Die Republikaner" (REP) Die Partei "Die Republikaner" (REP) wurde 1983 von dem ehemaligen CSUBundestagsabgeordneten und ihrem späteren Bundesvorsitzenden Franz SCHÖNHUBER gegründet. Infolge von innenpolitischen Auseinandersetzungen fand 1994 ein Führungswechsel statt. Auf dem Bundesparteitag im Dezember 1994 wählte die Partei den Arzt und Rechtsanwalt Dr. Rolf SCHLIERER zum neuen Bundesvorsitzenden. Der Bundesvorstand hat seinen Sitz in Berlin und gibt die Publikation "Der Republikaner" mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren heraus. Aufgrund der angespannten finanziellen Situation der Partei erscheint die Zeitung nur noch jeden zweiten Monat. Die Mitgliederzahl der "Republikaner" ist bundesweit auf ca. 9.000 Mitglieder (2001: 11.500) zurückgegangen; dennoch stellt sie weiterhin die zweitgrößte, rechtsextremistische Partei nach der DVU dar. In allen Bundesländern verfügt die Partei über Landesverbände. In den neuen Bundesländern, wo sich den "Republikanern" lediglich 600 bis 700 Mitglieder angeschlossen haben, sind die Strukturen der Partei unverändert schwach ausgeprägt. Richtungsstreit in der Partei Seit Jahren streiten die "Republikaner" darüber, welcher Kurs gegenüber anderen rechtsextremistischen Parteien oder Gruppierungen verfolgt werden solle. Seit SCHLIERER 1994 den Parteivorsitz übernommen hat, strebt die Partei an, sich im rechtskonservativen Lager zu etablieren und sich - formal - von anderen rechtsextremistischen Parteien und Organisationen abzugrenzen. Dieser Kurs ist in der Partei nach wie vor sehr umstritten; zahlreiche Mitglieder und einzelne Funktionäre halten ihn für falsch. In die Partei wirken nicht nur der Richtungsstreit, sondern auch die schlechten Wahlergebnisse hinein, die sich in den letzten Jahren ergeben haben. Kritiker werfen SCHLIERER immer wieder vor, für die Erfolglosigkeit der Partei und die wachsenden Unzufriedenheit der Mitglieder verantwortlich zu sein und die Partei letzten Endes zu zerstören. Wiederholt forderten sie daher SCHLIERER und andere Mitglieder des Bundesvorstands zum Rücktritt auf, um mit einem neuen Vorstand die jahrelange Talfahrt der Partei zu stoppen und eine Konsolidierung einzuleiten. Nachdem führende Vertreter der Richtung in den Reihen der "Republikaner", die sich für eine Öffnung gegenüber anderen rechtsextremistischen Organisationen ausspricht, aus der Partei ausgetreten sind, und SCHLIERER zum Bundesvorsitzenden wiedergewählt worden ist (siehe unten), scheint der jahrelange Machtkampf in der Partei bis auf weiteres ein Ende gefunden zu haben. SCHLIERER hat seinen Abgrenzungskurs gegen seine Gegner in der Partei durchgesetzt. 28 Die "Republikaner" liefern nach wie vor Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen. So kritisieren sie die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Bundesrepublik mit Argumenten, die sich gegen Ausländer und eine demokratische Staatsform richten oder revisionistisch geprägt sind. Sie diffamieren ausländische Mitbürger in aggressiver Weise und machen sie pauschal für gesellschaftliche Probleme verantwortlich. Sie sprechen abfällig von einer "Afrikanisierung unserer Gesellschaft" und von einer systematisch betriebenen "Umvolkungspolitik". Sie suggerieren sowohl die Zerstörung unserer Heimat durch "Massenzuwanderung" als auch die "Ausplünderung unserer Sozialkassen" und beschwören einen "Kampf der Kulturen" herauf. Gegen ihre Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden hat die Partei mehrfach erfolglos geklagt. Für die Aufnahme in den Verfassungsschutzbericht und dessen Verbreitung sei nicht Voraussetzung, urteilten die Gerichte, dass sich die tatsächlichen Anhaltspunkte zur Gewissheit im Sinne tatsächlich festgestellter verfassungsfeindlicher Bestrebungen verdichtet haben müssten. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts (VG) Berlin ergeben sich solche tatsächlichen Anhaltspunkte für Bestrebungen der "Republikaner" gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung insbesondere aus ihrer fremdenfeindlichen Ausrichtung und Haltung, die unter Missachtung zentraler Verfassungsgrundsätze Ausländern und Menschen mit nicht weißer Hautfarbe ihr Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Lebensgemeinschaft abspreche und sie als minderwertige Wesen behandle. Die "Republikaner" beschließen neues Grundsatzprogramm Am 11./12. Mai fand in Künzell/Hessen der Programmparteitag der "Republikaner" statt, auf dem unter dem Motto "Für unsere Zukunft" ein neues Grundsatzprogramm beschlossen wurde. Mit diesem "modernisierten Programm", das das Programm von 1993 ersetzt, verfolgt die Partei das Ziel, sich als "patriotische Alternative" zu den Altparteien zu positionieren. Das Programm tritt für den Nationalstaat ein, in dem die Partei den "Garant für die Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit" sieht. Es fordert, den Heimatvertriebenen Fürsorge angedeihen zu lassen und den deutschen Volksgruppen im Ausland mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Schließlich zielt das Programm dahin, die Multikultur zugunsten der deutschen Identität zurückzudrängen, das Grundrecht auf Asyl zu streichen und das Sozialsystem mit Hilfe einer restriktiven Zuwanderungspolitik zu entlasten. Bundesparteitag der "Republikaner" am 2./3. November in Deggendorf/Bayern Am 2./3. November hielten die "Republikaner" in Deggendorf/Bayern einen Bundesparteitag ab, an dem etwa 300 Delegierte mitwirkten. Der Thüringer Landesverband wurde von mehreren Mitgliedern aus verschiedenen Kreisverbänden vertreten. An dem Parteitag nahmen auch etwa 40 Gäste teil, darunter ein Abgeordneter der "Freiheitlichen Partei Österreichs" (FPÖ), der Grußworte des Kärntener Landeshauptmanns HAIDER überbrachte. SCHLIERER wurde im Amt des Bundesvorsitzenden bestätigt, nachdem rund 72 % der Delegierten für ihn gestimmt hatten. Er hatte keinen Gegenkandidaten. In seinem Rechenschaftsbericht ging der Bundesvorsitzende der "Republikaner" kritisch auf die Lage der Partei ein, die von einer depressiven Stimmung an der Basis geprägt sei. Die Landesverbände litten unter den schlechten Strukturen und verfügten in der Regel über wenig qualifizierte Kräfte. Die schlechten Ergebnisse, die die Partei bei den zurückliegenden Wahlen erzielt hatte, führte SCHLIERER auf die seit zwei Jahren andauernde, undifferenzierte Verunglimpfungskampagne "gegen rechts" zurück, die den "Republikanern" massiv gescha29 det habe. Die "Republikaner" müssten sich verstärkt, mahnte der Bundesvorsitzende, der Öffentlichkeit als Partei "mit Gesicht und vorzeigbaren Persönlichkeiten" präsentieren, wollten sie wieder Wahlerfolge erringen. Einer der Schwerpunkte seiner nächsten Amtsperiode seien die Straffung und Reform der Parteistrukturen sowie die eingehende Schulung der kommunalen Mandatsträger. Ihre personellen und finanziellen Ressourcen, die knapper geworden seien, würden die "Republikaner", kündigte SCHLIERER an, künftig auf die für sie wichtigsten Wahlen konzentrieren. Zu ihnen rechne in jedem Fall die Landtagswahl in Bayern im Herbst 2003. Die "Republikaner" formulieren ihre politischen Grundsätze In einer Resolution, die der Parteitag verabschiedete, formulierten die "Republikaner" ihre politischen Ansichten. Sie lehnen die Beteiligung Deutschlands an internationalen Kriegseinsätzen, insbesondere im Irak, ab. Sie fordern, alle Bundeswehreinheiten aus der Golfregion, Afghanistan und dem Balkan abzukommandieren, die Bundeswehr allein zur Verteidigung des Landes einzusetzen und zu stärken sowie alle Massenvernichtungswaffen auf deutschem Boden zu beseitigen. Die "Republikaner" rufen auf, die amerikanischen Truppen abzuziehen, um die militärische und politische Souveränität Deutschlands und Europas zu stärken. Sie verurteilen die Abkehr der Bundesregierung vom "deutschen Weg" in der Außenpolitik, den sie im Wahlkampf verkündet hatte, und fordern, "jede außenpolitische Entscheidung...an den Interessen des deutschen Nationalstaates und des deutschen Volkes aus(zu)richten". Der Thüringer Landesverband der "Republikaner" Der Landesverband Thüringen der "Republikaner" wurde 1992 gegründet. Er gliederte sich 2002 in zehn Kreisverbände, von denen jedoch nur vier aktiv sind. Dr. Heinz-Joachim SCHNEIDER aus Jena fungiert seit August 1998 als Landesvorsitzender; auf dem letzten Landesparteitag am 21. April 2001 in Fehrenbach/Lkrs. Hildburghausen wurde er in seinem Amt bestätigt. In der Partei spielt der Landesverband Thüringen, dem lediglich 140 Mitglieder (2001:170) angehören, eine nur untergeordnete Rolle. Dem Landesverband fehlen Mitglieder, die zu politischem Denken fähig sind und strategische Visionen entwerfen können. Die Ideen, die der Bundesvorstand für die Parteiarbeit vorgibt, kann der Landesverband nicht umsetzen, weil ihm engagierte Mitglieder und finanzielle Mittel fehlen. Daher kam die Parteiarbeit in manchen Regionen völlig zum Erliegen, was wiederum unter den verbliebenen Mitgliedern Resignation hervorrief. Die geringe Anzahl von Aktivisten wirft Probleme struktureller Art auf und lähmt die Parteiarbeit. Die Arbeit des Landesverbands Thüringen wurde im Jahr 2002 von den Bundestagswahlen dominiert. Die aktiven Kreisverbände konzentrierten sich engagiert auf den Wahlkampf und legten einen bisher ungewohnten Aktionismus an den Tag.12 Bundesweit geplante Veranstaltung der "Republikaner" zum Gedenken an den 17. Juni 1953 in Thüringen Am 16. Juni führten etwa 80 "Republikaner" aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg eine vom stellvertretenden Bundesvorsitzenden Frank ROHLEDER und dem REP-Funktionär aus Nordrhein-Westfalen Reinhard RUPSCH organisierte "Sternfahrt" zum Kyffhäuser-Denkmal durch. Die Teilnehmer reisten mit mehreren 12 Siehe Exkurs Bundestagswahlen 2002, S. 32 f. 30 Fahrzeugen an, die mit Werbeund Wahlplakaten der "Republikaner" versehen waren. Aufgrund einer Allgemeinverfügung des Kyffhäuserkreises wurde ihnen jegliche parteipolitische Veranstaltung am Denkmal verboten. 3.6 Exkurs: Bundestagswahlen 2002 An den Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag nahmen die NPD und die Partei "Die Republikaner" (REP) teil. Den rechtextremistischen Parteien gelang es nicht, genug Stimmen auf sich zu vereinen, um in den Bundestag einzuziehen. Wie die Wahlergebnisse zeigen, sind die Rechtsextremisten eine kleine, wenn auch deutlich wahrnehmbare Minderheit geblieben. Ihre Ansichten und Ziele, die den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zuwiderlaufen, werden von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Gegenüber den Bundestagswahlen 1998 verloren die rechtsextremistischen Parteien knapp 500.000 Stimmen bzw. zwei Drittel ihrer Wähler. NPD Ergebnisse Im Unterschied zu 1998 trat die NPD 2002 in allen Bundesländern mit Landeslisten zur Wahl an. Darüber hinaus hatte sie in allen Bundesländern bis auf Bayern insgesamt 49 Direktkandidaten nominiert. Für die NPD stimmten bundesweit 215.232 Wähler, was einem Anteil von 0,4 % entspricht. Somit konnte sie im Vergleich zu 1998 88.661 Stimmen oder 0,1 % hinzugewinnen. In allen Bundesländern, Mecklenburg-Vorpommern ausgenommen, entschieden sich 2002 mehr Wähler für die NPD als 1998. Ihre höchsten Ergebnisse erzielte sie in Brandenburg (1,5 %), Sachsen (1,4 %) und Sachsen-Anhalt (1,0 %). Am schlechtesten schnitt sie in Bayern, NordrheinWestfalen und Hamburg (je 0,2 %) ab. Auf die Direktkandidaten der Partei entfielen insgesamt 103.209 Stimmen. In Thüringen wählten 13.572 Männer und Frauen die NPD, was 0,9 % der Zweitstimmen entspricht. 1998 war sie im Freistaat zu den Bundestagswahlen nicht angetreten. Am besten schnitt die NPD im Wahlkreis Gera/Saale-Holzland-Kreis ab, wo 1.965 Zweitstimmen (1,6 %) auf sie entfielen. Die wenigsten Stimmen gewann die Partei in Erfurt (648 Zweitstimmen bzw. 0,5 %). Im Wahlkreis Gera/Saale-Holzland-Kreis erhielt der Direktkandidat der NPD, Martin SOA, 2.539 Stimmen, die einem Anteil von 2,1 % an den Erststimmen entsprachen. Wahlprogramm In ihrem Wahlprogramm griff die NPD Ansichten auf, die sie seit langem vertritt. In seinen Mittelpunkt stellte sie das Ziel, "für die Befreiung unseres Vaterlandes vom Joch des Kapitalismus und der Fremdherrschaft" und gegen die "Folgen der Zerstörung der Volksgemeinschaft" kämpfen zu wollen. Sie forderte zugleich, die "Idee der Volksgemeinschaft" dem "gesellschaftszerstörenden Liberalismus" entgegenzustellen, ein "Ausländergesetz zur Aufenthaltsbeschränkung" strikt anzuwenden, die Ausländer aus dem deutschen Sozialund Rentenversicherungssystem auszugliedern und in ihre Heimatländer zurückzuführen. Die herrschen31 den "Kartellparteien" hätten, heißt es in dem Programm, durch "bewusst herbeigeführten, fortgesetzten Ausländerzustrom" die allein identitätsstiftende deutsche Volksgemeinschaft zerstört. Schließlich sprach sich die NPD in ihrem Wahlprogramm gegen eine " 'neue Weltordnung' der US-Ostküste"13 aus. Wahlkampfaktivitäten Der Thüringer Landesverband der NPD kündigte an, unter dem Motto "NPD als einzige Oppositionspartei auch in Thüringen wählbar" einen aktionsbetonten Wahlkampf zu führen und unter der Losung "Deutschland den Deutschen" mit den anderen Parteien um die Wählergunst zu konkurrieren. Letzten Endes beschränkten sich ihre Aktivitäten jedoch darauf, Informationsstände zu errichten und Wahlplakate mit den Aufschriften "Deutschland uns Deutschen", "Ausländer-Rückführung statt Integration" zu kleben. Mit den Informationsständen verfolgte die Partei die Absicht, an der "Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit(zu)wirken und so die öffentliche Meinung mit(zu)gestalten", über ihre politischen Ziele zu informieren und Unterschriften für die Landesliste der NPD Thüringen zu sammeln. Die Informationsstände fanden wenig Resonanz in der Bevölkerung, trugen jedoch möglicherweise zu den relativ hohen Wahlergebnissen im Wahlkreis Gera/SaaleHolzland-Kreis bei. Reaktion auf die Wahlergebnisse Der Versuch der NPD, sich den Wählern mit Erfolg als "die Systemalternative" anzubieten, ist fehlgeschlagen. Ebenso gelang es ihr weit weniger als erhofft, aus dem Verbotsverfahren Vorteil zu ziehen. Dennoch erklärte sich der Vorsitzende der NPD, Udo VOIGT, mit dem Stimmenzuwachs, den die Partei erreicht hat, zufrieden. Das Wahlergebnis stimme, urteilte das Parteipräsidium, zuversichtlich, "in den kommenden Jahren die Struktur der Partei insbesondere in den mitteldeutschen Ländern gezielt ausbauen zu können". Zugleich appellierte dieses Gremium an die Spitzen der "Republikaner" und der DVU, "Abgrenzungen der Vergangenheit zu überwinden und in der Zukunft verstärkt den Schulterschluß aller Deutschen, die es heute noch sein wollen, zu suchen". Konkurrenzwahlkämpfe sollten im "nationalen Lager" künftig unterbleiben. Obwohl die NPD mit einem Ergebnis von 0,4 % mehr als deutlich an der 5 %-Hürde scheiterte und auch nicht an der Wahlkampfkostenerstattung partizipierte, wird sie von VOIGT nach wie vor als Wahlpartei angesehen. Wahlkämpfe müssten in Zukunft jedoch weniger unter dem Aspekt gesehen werden, wie viel Prozentpunkte zu erreichen seien. Vielmehr sollten sie darauf ausgerichtet werden, die Programme der NPD in einem starken Maße in der Öffentlichkeit zu präsentieren, Mitglieder anzuwerben und zu schulen sowie Strukturen aufzubauen. Ihren Stimmenanteil habe die NPD vor allem deshalb steigern können, meinte VOIGT, weil sie sich für junge Menschen geöffnet, auf die Jugend und Zukunft gesetzt, über Jahrzehnte Standfestigkeit bewiesen und zu innerer Geschlossenheit zurückgefunden hätte. Sie habe im Vergleich zu 1998 Stimmen hinzugewinnen können, weil sie die aktivste, am besten organisierte und widerstandsfähigste nationale Organisation in Deutschland darstelle. Die Partei "Die Republikaner" (REP) 13 Die Verwendung der Bezeichnung "Ostküste" oder auch "US-Ostküste" wird von Rechtsextremisten häufig als Synonym für die angebliche Macht amerikanischer jüdischer Bankiers genutzt und offenbart eine latent antisemitische Haltung. 32 Ergebnisse Die "Republikaner" beteiligten sich in 14 Bundesländern an der Wahl. In sieben Bundesländern boten sie zusammen 21 Direktkandidaten auf. Als Spitzenkandidat trat der Bundesvorsitzende der Partei, Dr. Rolf SCHLIERER, an. Auf die "Republikaner" entfielen bundesweit 280.671 Stimmen. Verglichen mit den Bundestagswahlen des Jahres 1998 ging ihr Stimmenanteil von 1,8 auf 0,6 % zurück. Somit büßten die "Republikaner" mehr als zwei Drittel der 906.383 Zweitstimmen, die sie 1998 erhalten hatten, ein. Die größten Verluste verzeichnete die Partei in ihren ehemaligen Hochburgen Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz. In Bremen, Hamburg, SchleswigHolstein, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und dem Saarland schnitt sie schlechter ab als die NPD. Somit setzte sich der Abwärtstrend fort, der nach der Abwahl der Partei in Baden-Württemberg im März 2001 begonnen hatte. In Thüringen bekamen die "Republikaner" 11.348 Stimmen. Ihr Anteil an den Zweitstimmen belief sich damit auf 0,8 %, nachdem er 1998 noch 1,6 % betragen hatte. Das beste Resultat erzielten die "Republikaner" im Wahlkreis Jena-Weimar-Weimarer Land, wo sich 1,1 % der Wähler für sie entschieden. Am schlechtesten schnitten sie in Erfurt sowie den Wahlkreisen Eichsfeld-Nordhausen und Gera/Saale-Holzland-Kreis ab, wo sie je 0,6 % der Zweitstimmen erhielten. Wahlprogramm Das Wahlprogramm der "Republikaner" war vor allem darauf ausgerichtet, die "Zuwanderungsfrage...in allen ihren Facetten" herauszustellen. "Kein Arbeitsmarktprogramm, keine Gesellschaftsreform, keine Bildungsreform" werde nach Ansicht der Partei Erfolg haben, "wenn ein Problem nicht gleichzeitig angefaßt wird: Daß viel zu viele Menschen in dieses Land kommen, die sich nicht integrieren wollen, sondern statt dessen dem Sozialstaat auf der Tasche liegen". Deshalb forderten die "Republikaner" "Rückführung statt Zuwanderung, um zu verhindern, dass Deutschland ein Multi-Konflikt-Land wird. Um den Import von Kriminalität zu stoppen..." Nach dem Willen der Partei soll es in Deutschland künftig weder "Parallelgesellschaften" noch "Ghettos", noch "Multi-Kulti" geben. Wahlkampfaktivitäten Die "Republikaner" führten in Thüringen so genannte Steckaktionen vorzugsweise in Erfurt, Weimar und Jena durch, um die benötigten 2.000 Unterstützungsunterschriften zu sammeln. Sie organisierten mehr als 10 Informationsstände, verteilten Flugblätter, klebten zahlreiche Plakate und warben im Internet für sich. Sie konnten jedoch nur wenige Parteimitglieder für den Wahlkampf mobilisieren. Sie präsentierten sich als Protestpartei, die die wahre "Alternative zum Einerlei aus Altparteien und Altkommunisten im Bundestag" verkörpere. Die Partei rief auf, Deutschland neu zu "organisieren", die Zuwanderung von Ausländern zu stoppen und sie in ihre Heimatländer abzuschieben, Überfremdung abzuwehren und sich dem "Machtmißbrauch der Altparteien und der EU-Bevormundung" zu widersetzen. Reaktion auf die Wahlergebnisse 33 Die schwere Niederlage führte die Partei darauf zurück, dass der Wahlkampf auf die "Scheinalternative" Kanzler oder Kandidat zugespitzt worden und sie von einer "Medienblockade" betroffen gewesen sei. "Wir sind natürlich sehr enttäuscht", stellte der Bundesvorsitzende der Partei, Dr. Rolf SCHLIERER, fest, "daß sich viele Wähler unter dem Eindruck einer angeblichen Richtungsentscheidung offenbar für das vermeintlich kleinere Übel Union entschieden haben." Leider sei es nicht gelungen, bedauerte SCHLIERER, "die eigenen Mitglieder in diesem von Polarisierung und inszenierten Phantomdebatten dominierten Wahlkampf im erforderlichen Umfang zu mobilisieren". "Die Zeit für Protest ist nicht vorbei", kündigte SCHLIERER an. Auch der Thüringer Landesverband reagierte enttäuscht auf die Wahlniederlage der Partei. Der Landesverband habe sein Möglichstes getan, die Basis jedoch versagt. Die Partei brauche, schätzte der Landesvorstand ein, neue Visionen und Strategien sowie eine stärkere Disziplin und Kameradschaft ihrer Mitglieder. Die Wahlniederlage vertiefte die Krise der Partei und schmälerte ihre Bedeutung sowohl auf Bundeswie auf Landesebene. Vermutlich führten die Auseinandersetzungen über den Kurs, den die "Republikaner" gegenüber anderen rechtsextremistischen Parteien verfolgen sollten, dazu, dass sich viele ihrer Wähler von ihr abwandten.14 3.7 Organisationsübergreifende Bündnisbestrebungen in Thüringen Auf Bundessowie Landesebene gibt es Bestrebungen, alle nationalen Kräfte zu bündeln, um somit den gesamten "Nationalen Widerstand" zu stärken. Diese Versuche scheiterten bisher auf Bundesebene vor allem an den Abgrenzungsbestrebungen der Führungskräfte des rechtsextremistischen Lagers und gipfelten vielfach in Unvereinbarkeitsbeschlüssen. Trotzdem wurden Anstrengungen unternommen, die rechtsextremistischen Kräfte zu bündeln. Meist gingen diese Bemühungen von der Basis aus. Auch in Thüringen wurden im Jahr 2002 Versuche unternommen, alle Kräfte des "nationalfreiheitlichen Lagers" zu gemeinsamen Aktionen zusammenzuführen, wie beispielsweise die Demonstration vom 23. März in Erfurt zeigt.15 Dennoch konnte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch kein organisationsübergreifendes Bündnis mit thüringenweiter Bedeutung festgestellt werden. Schulungsveranstaltung in Erlau Am 16. November hielten Rechtsextremisten aus dem Spektrum der "Freien Nationalisten" in Erlau bei Suhl eine Schulungsveranstaltung ab, an der rund 140 Personen aus Thüringen, Bayern und Hessen teilnahmen. Im Vorfeld mobilisierten die Organisatoren, darunter der Thüringer Rechtsextremist und e- hemalige stellvertretende DVU-Landesvorsitzende, Kurt HOPPE, auf Internetseiten der rechtsextremistischen Szene für das Treffen. 14 Siehe Abschnitt Die Partei "Die Republikaner" (REP) 15 Siehe S. 27 34 Als Redner traten u.a. Gerd ITTNER von der rechtsextremistischen "Bürgerinitiative Ausländerstopp" aus Nürnberg und der ehemalige stellvertretende Bundesvorsitzende der "Republikaner", Otmar WALLNER, auf. Forum des "Bündnisses für Thüringen" in Ronneburg Am 14. Dezember veranstaltete das dem rechtsextremistischen Spektrum zuzuordnende "Bündnis für Thüringen" in Ronneburg ein Diskussionsforum für "national-freiheitliche Kräfte". An der Veranstaltung nahmen etwa 40 Personen, darunter auch Funktionsträger und Mitglieder aus dem rechtsextremistischen Spektrum, u.a. aus Thüringen, Hessen, Sachsen und Bayern, teil. Anlass und Zweck der Veranstaltung waren laut Selbstbekundung des "Bündnisses" Bestrebungen verschiedener Protagonisten aus dem rechtsextremistischen Lager, eine bundeseinheitliche Sammlungsbewegung "National-freiheitliche Kräfte" ins Leben zu rufen. Die Initiatoren16 dieser Aktion wollen sich somit als "Bündnisalternative" zu den derzeitigen Volksparteien etablieren. Nach eigener Aussage waren Vertreter verschiedener Parteien und Gruppierungen sowie Personen aus dem Bundesgebiet, die in der Politik tätig waren oder es noch sind, eingeladen worden. Vorrangig sollte bei dieser Zusammenkunft über das künftige Programm diskutiert werden; Strukturen und Personalfragen könne man später klären. 4. Neonazis 4.1 "Neuer Nationalsozialismus" (Neonazismus) Die Neonationalsozialisten (Neonazis) fordern die Errichtung einer Staatsform und einer "Volksgemeinschaft", die dem Programm der historischen "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) von 1920 entsprechen. Sie orientieren sich ideologisch am 25-Punkte-Programm der NSDAP und HITLERs Buch "Mein Kampf". Sie propagieren einen totalitären Staat auf der Grundlage des Eliteund Führerprinzips, der die eigene Rasse als höherwertig gegenüber anderen erachtet und das deutsche Volk vor rassisch minderwertigen Ausländern und vor einer "Volksvermischung" bewahren will. Die Neonazis streben nach der Wiederzulassung der NSDAP, um ein "Viertes Reich" zu gründen, das unter Ausschluss von Ausländern und Juden sowie nach Angliederung der ehemaligen deutschen Ostgebiete das "Großdeutsche Reich" wieder auferstehen lässt. Das Leitbild der deutschen Neonazis stellte bis Anfang der achtziger Jahre HITLER dar. Seither gibt es nicht wenige Neonazis, die Kritik an HITLER üben. Diese "Nationalrevolutionäre" orientieren sich an den NSDAP-Ideologen Dr. Otto STRAßER und Gregor STRAßER sowie dem SA-Stabschef Ernst RÖHM (SA= Sturmabteilung).17 Die hieraus resultierenden ideologischen Meinungsverschiedenheiten trugen zur Zersplitterung des Neonazismus bei. So existieren heute neben weitgehend unorganisierten Neonazis auch Gruppierungen/Personenzusammenschlüsse, die sich u.a. bei Demonst16 Für die Einladung zeichnete der DVU-Funktionär Christian BÄRTHEL aus Ronneburg (Landkreis Greiz) verantwortlich. Gegen BÄRTHEL läuft derzeit ein Parteiausschlussverfahren. Nach Aussage im Einladungsschreiben besuchte er in der Vergangenheit bereits verschiedene Zusammenkünfte, wo das weitere Vorgehen als einheitliche national-freiheitliche Kraft besprochen worden war. 17 Die Brüder STRAßER repräsentieren in der Frühzeit des Nationalsozialismus den linken Flügel der NSDAP. Gregor STRAßER und RÖHM wurden 1934 auf Befehl HITLERs bei der Niederschlagung des so genannten RÖHM - Putsches ermordet. Dr. Otto STRAßER emigrierte 1933. 35 rationen unter das "legale Dach" der NPD begeben und auf diese Weise deren "Kampf um die Straße", "Kampf um die Köpfe" und "Kampf um die Parlamente" unterstützen. 4.2 "Thüringer Heimatschutz" (THS)/"Nationales und Soziales Aktionsbündnis Westthüringen" (NSAW) Der Hamburger Neonazi Christian WORCH gründete 1992 die so genannte Anti-Antifa, um auf die wachsenden Angriffe militanter Linksextremisten zu reagieren. Ihre Propaganda richtet sich sowohl gegen den politischen Gegner als auch gegen Institutionen des demokratischen Rechtsstaats. Die "Anti-Antifa" organisiert den Aufbau informeller Gruppen, d. h. den Zusammenschluss von Rechtsextremisten ohne formale Mitgliedschaft und hierarchisch gegliederte Strukturen. Sie werden von regional anerkannten Führungsfiguren gegründet und angeleitet, stehen aber untereinander in Kontakt. Dieses Konzept scheint auch im übrigen rechtsextremistischen Lager Akzeptanz zu finden. Die auf diese Weise erzielte Konzentration auf einen gemeinsamen Gegner macht es möglich, die Rechtsextremisten "organisationslos" zu verflechten. In Thüringen wurde im Oktober 1994 erstmals eine Gruppierung "Anti-Antifa Ostthüringen" bekannt. Seit Mai 1995 veranstaltete sie wöchentlich Treffen, an denen sich zu Anfang 20, später etwa 120 Personen beteiligten. Diese Gruppierung bildete ein Sammelbecken für Neonazis, die vor allem aus dem Raum Saalfeld/Rudolstadt, Gera, Jena, Sonneberg, Weimar, Ilmenau, Gotha, Kahla und Nordbayern kamen. Ab Anfang 1997 trat die "Anti-Antifa Ostthüringen" hauptsächlich unter dem Namen "Thüringer Heimatschutz" (THS) auf. Dem THS waren die Sektionen Jena (früher "Kameradschaft Jena"), Saalfeld und Sonneberg, die "Freie Kameradschaft Gera" und seit Juni 2000 die Sektion Eisenach, die auch unter der Bezeichnung "Nationales und Soziales Aktionsbündnis Westthüringen" (NSAW) auftritt, zuzuordnen. Der THS unterhielt Verbindungen zu anderen Organisationen oder Parteien in Thüringen und außerhalb des Freistaats. Im Jahr 2002 wurden keine Aktivitäten des THS oder seiner Sektionen, das NSAW ausgenommen, festgestellt. Da auch die Wortführer des THS in diesem Zeitraum weitgehend untätig geblieben sind, scheint dieser Personenzusammenschluss in der oben dargestellten Form nicht mehr zu bestehen. Allerdings verfügte das NSAW im Berichtszeitraum nach wie vor über aktive Strukturen. Eigenen Angaben nach setzte es sich aus der "Kameradschaft Eisenach", dem "Nationalen Widerstand Schmalkalden", der "Kameradschaft Unstrut-Hainich", dem "Skinhead Club Friedrichroda", dem "Nationalen Widerstand Gotha", dem "Kameradenwerk Eichsfeld Südharz", der "Zukunft Perspektive Heimat" (ZPH) Bad Salzungen, der "Anti-Antifa Eisenach", dem "Nationalen Widerstand Rennsteig", der "Arbeitsgemeinschaft Propaganda Westthüringen", der "Jungen Kameradschaft Breitungen" und dem "Nationalen Widerstand Nordhausen" zusammen.18 "Skinhead Club Friedrichroda" Unter den Gliederungen des NSAW trat der "Skinhead Club Friedrichroda", der seit Januar 2001 auf der Website des NSAW aufgeführt wird, im Jahr 2002 mehrmals hervor. Seine Anhänger verteilten Flugblätter und Handzettel, meldeten Mahnwachen an und beteiligten sich an überregionalen Veranstaltungen des rechtsextremistischen Spektrums. Seit Spätherbst 2001 intensiviert der Club seine Aktionen, was für das Ende seiner Gründungsund Konsolidierungsphase und den Beginn einer angestrebten Expansionsphase sprechen könnte. Er griff 18 Die tatsächliche Existenz aller Gruppierungen wird bezweifelt. 36 aktuelle, "volksnahe" Themen wie den Krieg in Afghanistan, die Einführung des Euro und die Ausländerbzw. Zuwanderungsdebatte auf, um in der Bevölkerung Aufmerksamkeit hervorzurufen und neue Anhänger zu gewinnen. Aktivitäten des NSAW Nachdem der Anführer des NSAW am 26. Juni inhaftiert worden war, gingen auch die Aktivitäten des NSAW zurück. Einige Aktionen können jedoch Aktivisten des NSAW zugeschrieben werden. An der seit 2001 verfolgten Praxis, nicht mehr Organisationen oder Bürgerinitiativen, sondern natürliche Personen als Veranstalter zu benennen, wurde 2002 festgehalten Im Jahr 2002 führte der "Skinhead Club Friedrichroda" drei Mahnwachen in Friedrichroda durch, an denen sich jeweils etwa 15 Personen beteiligten. Sie richteten sich gegen "Kriminalität und Schweinejournalismus", "Preiswucher und Steuergeldverschwendung" sowie "sinnlose Kriegseinsätze". In der Nacht vom 1. auf den 2. März wurden in Friedrichroda Flugblätter mit fremdenfeindlichem Hintergrund verteilt, die die Überschrift "Angst - Hass - Wut" trugen. Als Herausgeber zeichnete der "Skinhead Club Friedrichroda" verantwortlich. In den Flugblättern warf der Club den Asylbewerbern vor, auf Kosten des Steuerzahlers zu leben sowie Einwohner von Friedrichroda zu bedrohen, zu beleidigen und tätlich anzugreifen. Eine Woche später tauchten in Friedrichroda Postwurfsendungen auf, die sich auf die Flugblätter bezogen. Für sie zeichnete eine "Bürgerinitiative zur Wahrung der Bürgerrechte und zum Schutz der Bürger" verantwortlich, die den "Skinhead Club Friedrichroda" als Unterstützer benannte, mit ihm jedoch identisch zu sein schien. Die Verfasser der Postwurfsendungen riefen auf, sich an einer Unterschriftensammlung gegen den "sicherheitsgefährdenden Asylantenansturm" zu beteiligen. Die verfehlte Asylund Ausländerpolitik werde, hieß es in den Postwurfsendungen, noch zum Sprengstoff für das "BRD-System" werden. Demonstration am 23. Februar in Sangerhausen Unter dem Motto "Todesstrafe für Kinderschänder" fand am 23. Februar auf dem Marktplatz in Sangerhausen/Sachsen-Anhalt eine Kundgebung statt, an der etwa 200 Personen aus der rechtsextremistischen Szene teilnahmen. Einem Bericht der rechtsextremistischen Szene im Internet zufolge hielten drei Funktionäre der NPD aus Niedersachsen und Hessen Reden. Einige Teilnehmer der Demonstration riefen lautstark die Parole "Ruhm und Ehre der WaffenSS", ein Anhänger der "Kameradschaft Ostara" richtete nach der Kundgebung einen Kameradschaftsabend aus. Die Kundgebung war von einem Aktivisten der rechtsextremistischen Szene Nordhausens bei der Stadt Sangerhausen angemeldet worden. Ein Anhänger der im Raum Sangerhausen ansässigen "Kameradschaft Ostara" fungierte als stellvertretender Veranstaltungsleiter. Nachdem eine Verbotsverfügung ergangen war, legte der Anmelder Widerspruch beim Verwaltungsgericht Halle ein. Es hob das Verbot der Demonstration unter Auflagen auf. Im Internet hatten sowohl das NSAW als auch der "Nationale Widerstand Jena" aufgerufen, an der Demonstration teilzunehmen. 37 Kranzniederlegung am 14. April in Nordhausen Am 14. April wurde am Gedenkstein für die Opfer der Gewaltherrschaft auf dem städtischen Hauptfriedhof in Nordhausen ein Kranz mit zwei Spruchschleifen in den Farben schwarzweiß-rot und schwarz niedergelegt. An der Kranzniederlegung nahm auch die "Kameradschaft Ostara" teil. Die schwarz-weiß-rote Schleife trug die Aufschrift: "Wir gedenken der Opfer Nordhausens am 3./4. April 1945, die durch feigen alliierten Bombenterror zu Tode kamen." Die schwarze Schleife war mit den Worten versehen: "Kein Vergeben, kein Vergessen! Kameradschaft Ostara". Die "Kameradschaft Ostara" unterhält enge Kontakte zum rechtsextremistischen Spektrum in Nordthüringen. Ein Aktivist dieser Nordthüringer Szene hatte bereits im Februar unter dem Motto "Todesstrafe für Kinderschänder" eine Kundgebung in Sangerhausen/Sachsen-Anhalt angemeldet. Demonstration am 20. Juli in Gotha Am 20. Juli veranstaltete das rechtsextremistische Spektrum unter dem Motto "Stoppt den multikulturellen Wahn! - Volksbefragung statt Ignoranz deutscher Interessen!" in Gotha eine Demonstration, die sich gegen die Errichtung von Asylbewerberheimen in der Stadt richtete. An der Veranstaltung nahmen etwa 150 Rechtsextremisten teil; 250 bis 300 waren jedoch von den Initiatoren erwartet worden. Das NSAW und die fiktive "Bürgerinitiative Deutsches Eisenach" hatten für die Demonstration im Internet geworben. Auf einer Zwischenkundgebung traten zwei bekannte Rechtsextremisten aus Bayern und Niedersachsen als Redner auf. Als ein Rechtsextremist aus Bayern vom "völkischen Befreiungskampf" sprach und die Schließung aller Asylantenheime auf deutschem Boden forderte, unterbrach die Polizei die Abschlusskundgebung und nahm den Redner wegen des Verdachts der Volksverhetzung vorläufig fest. Die Demonstration war von einem Rechtsextremisten aus Gotha angemeldet und vom Landratsamt Gothas untersagt worden. Das Verbot wurde letzten Endes vom Oberverwaltungsgericht aufgehoben. Als Veranstalter und Leiter fungierte ein Rechtsextremist, der ebenfalls aus Gotha stammt. Demonstration am 26. Oktober in Suhl Am 26. Oktober führten in Suhl etwa 120 Rechtsextremisten eine Demonstration durch, deren Motto "Dem Antifa-Terror entgegentreten - Für eine gleichberechtigte, nationale Jugendkultur" lautete. Sie zeigten Transparente, die mit den Aufschriften "Meinungsfreiheit für die nationale Opposition" sowie "Gegen multikulturellen Wahn. Jetzt und überall" versehen waren, und skandierten "Deutschland den Deutschen". Die Anzahl der Teilnehmer entsprach nicht den Erwartungen der Organisatoren, die mit einem Zulauf von 250 bis 300 Personen gerechnet hatten. 38 Als Redner traten zwei bekannte Rechtsextremisten aus Bayern, der Hamburger Neonazi Christian WORCH und eine Rechtsextremistin aus Meiningen auf. Sie verbreiteten ausländerfeindliche Klischees und wandten sich gegen die Ausländerpolitik der Bundesregierung, die auf eine "Massenüberfremdung" hinauslaufe. Die Veranstaltung war von einem Rechtsextremisten aus Gotha angemeldet, von der Stadt Suhl jedoch untersagt worden. Das Verwaltungsgericht Meiningen stellte aber die aufschiebende Wirkung des gegen das Verbot gerichteten Widerspruchs wieder her, nachdem um vorläufigen Rechtsschutz ersucht worden war. Das Thüringer Oberverwaltungsgericht wies die Beschwerde der Stadt Suhl, die sich gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts richtete, zurück. Als Veranstalter und Veranstaltungsleiter fungierte ein Neonazi aus Breitungen. Mahnwachen Am 12. Mai und 3. August fanden in Saalfeld/Remschütz und Eisenach unter den Mottos "Ruhm und Ehre dem Deutschen Soldaten" bzw. "Vielfalt erhalten - gegen Multi-KultiEinheitsbrei" zwei Mahnwachen statt, an der sich 15 bzw. 8 Personen beteiligten. Neonazi-Demonstration am 20. April in Weimar Am 20. April demonstrierten im Industriegebiet von Weimar unter der Losung "Meinungsfreiheit für Deutsche! - Jetzt und überall! - Ick will blot dat Recht hemm, min Meenung to seggen" etwa 250 Rechtsextremisten. Das "Nationale und Soziale Aktionsbündnis Westthüringen" (NSAW), nahm an der Demonstration ebenso teil wie die "Freien Nationalisten Dessau/Anhalt" und die "Freien Nationalisten Magdeburg". Mit Transparenten forderten die Rechtsextremisten, "den Volkszorn auf die Straße (zu) tragen" und "Solidarität mit allen politischen Gefangenen" zu üben. Mit einer roten Fahne riefen sie zum Widerstand auf. Während des Aufmarschs, der in der Bevölkerung wenig Resonanz fand, riefen die Rechtsextremisten Parolen wie "Hier marschiert die deutsche Jugend", "Widerstand lässt sich nicht verbieten", "Frei, sozial und national", "Globalisierung ist Völkermord" und "Meinungsfreiheit auch für Deutsche". Auf Kundgebungen traten Steffen HUPKA und Christian WORCH, der die Veranstaltung auch leitete, sowie drei andere Rechtsextremisten aus Bayern als Redner auf. Sie wandten sich nicht nur heftig gegen das politische System der Bundesrepublik und deren Außenbzw. Innenpolitik, sondern auch gegen die USA und Israel. Sie erinnerten an das Deutsche Reich, das ihrer Ansicht nach immer noch in den Grenzen von 1937 fortbestehe, sagten den Untergang der Bundesrepublik voraus und forderten für die "nationale Opposition" Meinungsund Versammlungsfreiheit. Insgesamt wertete das rechtsextremistische Spektrum die Veranstaltung als einen Erfolg, obwohl es mit 1.500 bis 2.000 Teilnehmern gerechnet hatte. Seiner Meinung nach habe die Aktion bewiesen, dass an einem solchen Tag19 und auch in Weimar20 demonstriert werden könne. 19 Am 20. April 1889 wurde Adolf HITLER geboren. 20 Weimar stellte für die Nationalsozialisten eine wichtige Stadt dar. Hier hielt die NSDAP 1926 ihren ersten Parteitag ab, nachdem sie 1923 verboten und 1925 wieder gegründet worden war. Hier gründeten die Nationalsozialisten die Hitlerjugend. Im Konzentrationslager Buchenwald, das sich in der Nähe von Weimar befindet, ließen sie mehr als 50.000 Menschen ermorden. 39 Das von der Stadt Weimar erlassene Demonstrationsverbot war vom Verwaltungsgericht bestätigt worden. Das Thüringer Oberverwaltungsgericht hob das Verbot jedoch auf und gestattete die Veranstaltung unter Auflagen. Für die Demonstration wurde insbesondere im Internet mobilisiert. Neonazitreff in Fretterode In einem ehemaligen Altenpflegeheim in Fretterode, das seit dem 1. Oktober von dem Rechtsextremisten Thorsten HEISE bewohnt wird, finden wöchentlich "Kameradschaftsabende" statt. HEISE ist aus Niedersachsen zugezogen und führt dort die "Kameradschaft Northeim" an. Zentrale "HEß-Gedenkveranstaltung" in Wunsiedel/Bayern Der ehemalige Stellvertreter HITLERs, Rudolf HEß, wurde 1946 in Nürnberg vom Internationalen Militärtribunal wegen Verbrechens gegen den Frieden zu lebenslanger Haft verurteilt. Seine Strafe verbüßte er im alliierten Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau, wo er sich am 17. August 1987 das Leben nahm. Seitdem versuchen rechtsextremistische Gruppierungen immer wieder, Rudolf HEß zum "Märtyrer des Friedens" zu stilisieren, um auf diese Weise einen einigenden Identifikationsfaktor in der zersplitterten Szene zu etablieren. Auch 2002 nutzten die Rechtsextremisten den 17. August, um sich am 15. Todestag des Kriegsverbrechers medienwirksam in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Am 17. August fand in Wunsiedel/Bayern die zentrale "Rudolf HEß-Gedenkveranstaltung" statt, an der sich rund 2.500 Rechtsextremisten beteiligten. Unter ihnen befanden sich auch Teilnehmer aus Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich, Schweden und der Schweiz. Auch Thüringer Rechtsextremisten nahmen an der Demonstration teil. Den Mittelpunkt der Veranstaltung bildete ein etwa eineinhalbstündiger "Trauermarsch" durch Wunsiedel. Als Redner traten der Hamburger Rechtsanwalt Jürgen RIEGER, der als Veranstaltungsleiter fungierte, der Hamburger Neonazi Thomas WULFF und der stellvertretende Bundesvorsitzende der NPD, Holger APFEL, auf. Im Vorfeld hatte die rechtsextremistische Szene bundesweit im Internet sowie mit HEßAufklebern, -Plakaten und -Transparenten zur Teilnahme an der Veranstaltung aufgerufen. Gegen das Verbot der Demonstration hatte der Veranstalter mit Erfolg Rechtsmittel eingelegt. "HEß-Gedenkveranstaltung" Thüringen Am 17. August fand in Rudolstadt eine HEß-Veranstaltung statt, die ein Rechtsextremist aus dieser Stadt angemeldet hatte. Acht Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum legten unter dem Motto "Kein Vergeben - kein Vergessen - Rudolf HEß - es war Mord" einen Kranz nieder. Weitere "HEß-Gedenkveranstaltungen" wurden in Thüringen nicht registriert. In mehreren Thüringer Orten wurden jedoch Aufkleber und Plakate angebracht und Handzettel verteilt, die sich auf HEß bezogen. 40 5. Skinheads Entstehung der Subkultur Die Wurzeln der Skinheadbewegung liegen in Großbritannien, wo sie sich Ende der 60er Jahre in den Arbeitergegenden der Großstädte zunächst als eine unpolitische Gegenbewegung zu den Hippies und den Modernists herausbildete. Diese erste Skinheadbewegung ebbte zu Beginn der 70er Jahre vorübergehend ab. Erst in den Jahren 1976/77 wurden ihre Kleidung, ihre Musik und ihr Verhalten wieder von Jugendlichen aufgegriffen und kopiert. Im Unterschied zu den 60er Jahren wurden nun aber aufgrund steigender sozialer Probleme Teile der Bewegung politisch aktiv. Jetzt bekannten sie sich demonstrativ zu ihrer sozialen Herkunft und leiteten daraus einen subkulturellen Stolz, ja sogar eine Art elitären Anspruch ab. Ende der 70er Jahre griff die Skinheadbewegung auch auf die Bundesrepublik über. Anders als in Großbritannien, wo die soziale Not für die Entwicklung der Skinheads ausschlaggebend war, lag die Ursache für das Entstehen der westdeutschen Skinheadszene jedoch in der Auflehnung einiger Jugendlicher gegen vermeintliche gesellschaftliche Missstände. Schon bald richteten sich gewalttätige Aktionen - zumeist nach Alkoholexzessen - gegen die Feindbilder "Ausländer" und "Linke". Größtenteils übernahm die Szene rechtsextremistisches Gedankengut, das sich fortan zum grundlegenden Bestandteil ihres Selbstverständnisses entwickelte. In der ersten Hälfte der 80er Jahre bildete sich auch in der DDR eine Skinheadszene heraus. So entwickelten sich etwa ab 1980 in verschiedenen ostdeutschen Großstädten aus den Reihen jugendlicher Rowdies und Hooligans Gruppen, deren grundsätzliche Opposition zum SEDStaat sich in der Übernahme des typischen Skinhead-Outfits äußerte. Diese Jugendcliquen wiesen bereits deutliche Bezüge zum Rechtsextremismus auf und machten sehr bald durch Gewalttaten auf sich aufmerksam. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands kam es bei Konzerten und anderen Veranstaltungen erstmals zu breiten Kontakten von Skinheads aus Ost und West. Die gesamtdeutsche Skinheadszene weitete sich sprunghaft aus. In der Folge bildete sich eine gesamtdeutsche Skinhead-Subkultur21 heraus, die zunehmend diffuser wurde und sich mehr und mehr politisierte. Parallel hierzu stieg auch die Gewaltbereitschaft der Szene beträchtlich an. Bundesweit geht der weitaus größte Teil der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten von Skinheads aus. Ein großer Teil der subkulturell geprägten und sonstigen gewaltbereiten Rechtsextremisten, deren Anzahl sich bundesweit auf etwa 10.700 Personen (2001: 10.400) beläuft, setzt sich aus Skinheads zusammen. Besonders hoch ist das Personenpotenzial der rechtsextremistischen Skinheadszene in Ostdeutschland. Bei einem Bevölkerungsanteil der ostdeutschen Bundesländer von rund einem Fünftel lebt hier über die Hälfte der rechtsextremistischen Skinheads der Bundesrepublik. In Thüringen ist die Zahl der rechtsextremistisch geprägten Skinheads von 350 Personen im Jahr 2001 auf nunmehr 380 Personen angewachsen. Skinheads agieren im Freistaat überwiegend in regionalen Cliquen. Es bestehen jedoch auch überregionale und vereinzelt sogar internationale Kontakte. Am stärksten treten die Skinheads in Ostund Südthüringen in Erscheinung. Die Anzahl der Personen, die den Skinheadcliquen 21 Seit der Wiedervereinigung verzeichnet die Szene einen in etwa gleichbleibenden Anstieg von etwa 10 % jährlich. 41 zugehören, schwankt auch in Thüringen. Einige Gruppen streben festere Strukturen an, die von langjährigen Angehörigen der Szene - die ein relativ gefestigtes Weltbild haben - geführt und aufrechterhalten werden. Für viele Jugendliche ist es zwar normal, dieser Jugendkultur anzugehören und sich entsprechend zu kleiden, ihr Interesse an politischen Zusammenhängen ist allerdings eher gering. Erscheinungsbild Skinheads drücken ihre Ablehnung gegen Staat und Gesellschaft besonders augenfällig durch ihr äußeres Erscheinungsbild aus. Ihre "Markenzeichen" sind kahlrasierte Köpfe ("Glatzen"), Springerstiefel (auch schwere, manchmal mit Stahlkappen versehene Arbeitsschuhe) und Bomberjacken (meist grün, blau oder schwarz). Dieses Outfit allein ist jedoch noch kein Beleg für eine Zugehörigkeit zur rechtsextremistischen Skinheadszene. Die simple Gleichung: "Glatze + Springerstiefel + Bomberjacke = Skinhead" gilt daher genau wie die Gleichung: "Skinhead = Rechtsextremist" nicht in jedem Falle. Sehr oft verwenden Skinheads Synonyme, die nur Insidern bekannt sind. Häufig werden Zahlen an Stelle von Buchstaben, wie z.B. "14" oder "88", verwendet. 22 Ideologie Die Ideologie der Skinheads ist heterogen. Sie verschmilzt Elemente wie Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, obwohl rechtsextremistische Skinheads meist keine gefestigte Weltanschauung haben. Ihre Einstellung offenbart sich in der Verachtung von Ausländern, Juden, Andersdenkenden oder so genannten Undeutschen, zu denen z.B. Obdachlose und Homosexuelle gezählt werden. Ihre Anschauung ist außerdem von einem überbetonten Männlichkeitskult gekennzeichnet. Obwohl sich Symbolik und weltanschauliche Äußerungen dieser Skinheads unübersehbar am Nationalsozialismus orientieren, sollte hieraus nicht voreilig auf eine Verfestigung dieser Weltanschauung geschlossen werden.23 Die ab Mitte der 80er Jahre in der Bundesrepublik aufkommenden Skinheadbands trugen erheblich dazu bei, diese Gesinnung zum szenespezifischen Allgemeingut zu verfestigen. Sie verarbeiteten in ihren Liedtexten zunehmend rechtsextremistisches Gedankengut, das weite Teile der Skinheadbewegung dazu brachte, "farbige Rassen" strikt abzulehnen und nur den "nordisch-arischen Rassen" eine Existenzberechtigung zuzugestehen. Etwa zur gleichen Zeit wurden auch erste Fanzines24 als szeneinternes Kommunikationsmittel publiziert. 22 Die Zahl 14 wird in Anlehnung an die "14 Words" des amerikanischen Rechtsextremisten David LANE verwendet: "We must secure the existence of our people and a future for white children". Dies bedeutet übersetzt: "Wir müssen das Leben unserer Rasse und eine Zukunft für unsere weißen Kinder sichern". Die Zahl 88 verwenden Rechtsextremisten als Synonym für die Parole "Heil HITLER". Die Zahl 8 steht in diesem Falle für H, den achten Buchstaben des Alphabets. Die Zahl 88 entspricht somit HH oder: "Heil HITLER". 23 Eine Ausnahme davon bilden die "Blood & Honour"-Skins sowie die "Hammerskins", welche sich als eine elitäre politische Vorhut der "weißen Rasse" verstehen. 24 Kunstwort, das sich aus dem engl. "Fan" und "Magazine" zusammensetzt und neben der einschlägigen Musik einen weiteren bedeutenden Kommunikationsfaktor innerhalb der Skinheadszene darstellt. Es bezeichnet in der Regel kleinformatige Szenepublikationen, in denen Nachrichten, Termine, Konzertbesprechungen usw. veröffentlicht werden. Die redaktionelle und layouttechnische Qualität der Broschüren, die meist in kleinerer Anzahl verbreitet werden, ist sehr unterschiedlich. 42 Strömungen innerhalb der Szene Innerhalb der Skinheadszene lassen sich verschiedene Strömungen voneinander unterscheiden, so zum Beispiel "Boneheads", "Hammerskins" und "White-Power-Skins". Der Begriff "Bonehead" steht für den harten, militanten Kern der rechtsextremistischen Skinheadbewegung.25 Die "Hammerskins" stellen eine weltweit aktive Bewegung dar, die 1986 in den USA gegründet worden und seit Mitte der 90er Jahre auch in Deutschland mit Sektionen vertreten ist. Die Bewegung versteht sich als Elite innerhalb der Skinheadszene und verherrlicht bzw. propagiert rassistisches, antisemitisches und in Anklängen nationalsozialistisches Gedankengut. Diese "Hammerskin-Bewegung" verfolgt das Ziel, weltweit alle "weißen, nationalen" Kräfte in einer "Hammerskin-Nation" zu vereinen. Ihr Erkennungsmerkmal - zwei gekreuzte Zimmermannshämmer in einer Raute - soll die Kraft und Stärke der "weißen Arbeiterklasse" symbolisieren. Ein "White-Power-Skin" ist meist fremdenfeindlich und antisemitisch eingestellt. Er trägt an seiner Jacke für gewöhnlich eine weiße Faust, das Emblem der "White-Power-Bewegung", die sich für eine "ethnisch reine Rasse der Weißen" einsetzt. Die so genannten 14 Words spielen hierbei eine wichtige Rolle. Darüber hinaus gibt es noch die "Fascho-Skins". So werden in der Szene nationalistische Skinheads oder Skinhead-Sympathisanten bezeichnet, die durch ihren "Scheitel", d.h. durch kurzgeschnittene Haare mit Seitenscheitel, auffallen. Außerhalb dieser Szene gibt es auch unpolitische Skinheads, deren Beobachtung nicht in die Zuständigkeit der Verfassungsschutzbehörden fällt. Auch sie suchen den Rückhalt in der Gruppe und neigen bei Zusammenkünften zu Alkoholexzessen, zu Provokationen und zu Gewaltausbrüchen, denen eine politische Motivation meist jedoch fehlt. Auch politisch eher links orientierte Skinheads, wie z.B. die antirassistischen "Sharp-Skins" oder "Redskins", kommen in der Szene vor. Weibliche Skinheads spielen in der traditionell von Männern geprägten und beherrschten rechtsextremistischen Szene eine eher unbedeutende Rolle. Jedoch besuchten sie öfter als früher Skinheadkonzerte. Dies konnte auch in Thüringen bei den aufgelösten Veranstaltungen festgestellt werden. Die Frauen in der Skinheadszene werden "Renee" oder "Skingirl" genannt. Sie haben oft am Hinterkopf geschorenes Haar sowie im Stirnbereich meist einen Strang längeren Deckhaars. Die sehr jungen "Mitläufer" der Szene, die zum Teil jünger als 16, im Einzelfall sogar jünger als 14 Jahre alt sind, nennt man "Babyskins". Sie werden häufig von den älteren Skins ("Altglatzen") zu rechtsextremistischen Straftaten angestiftet. 25 Von der "linken" Szene werden diese auch als "Nazi-Skins" bezeichnet. Zu ihren Kennzeichen gehören häufig tätowierte NS-Symbole. 43 Strukturen der Skinheadszene "Blood & Honour"-Bewegung Ab Mitte der 90er Jahre wurden in Deutschland in der rechtsextremistischen Skinheadszene erste Organisationsansätze festgestellt. Seit 1995 gab es in der Bundesrepublik eine deutsche "Division" der in Großbritannien entstandenen "Blood & Honour"-Bewegung.26 Das Ziel dieser Bewegung ist es, auf internationaler Ebene eine autonome Struktur für die Skinheadszene zu schaffen. Um die Szene durch das Medium Musik ideologisch zu beeinflussen, richtet die "B&H"-Bewegung ihren Tätigkeitsschwerpunkt auf die Organisation von Partys und Konzerten, insbesondere mit nationalistischen und rassistischen Bands. Ende des Jahres 1997 wurde in Thüringen die bundesweite "B&H"-Jugendorganisation "White Youth" gegründet. Deren Ziel war es, jüngere Szeneangehörige zu organisieren und an ältere Kameraden zu binden. Die Organisation von Konzerten und Partys in Zusammenarbeit mit der "B&H"-Sektion Thüringen standen im Mittelpunkt der Aktivitäten der "White Youth". Am 12. September 2000 verbot der Bundesminister des Innern die deutsche Division der Skinhead-Gruppierung "Blood & Honour" sowie deren Jugendorganisation "White Youth", da sich beide Vereinigungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richteten. Zu diesem Zeitpunkt gehörten etwa 200 Personen in 15 Sektionen - darunter auch eine thüringische - der "Blood & Honour"-Division Deutschland an. Zudem gab es bundesweit rund 50 "White Youth"-Mitglieder. Das Verbot, das im Juni 2001 rechtskräftig wurde, schwächte die Szene. Die meisten früheren Mitglieder zogen sich aus der Skinheadszene zurück und sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum wieder in Erscheinung getreten. Am 25. April führte die Polizei Exekutivmaßnahmen durch, die sich gegen 32 Personen in den Bundesländern Bayern, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt richteten. Sie standen größtenteils in Verdacht, die verbotene Skinhead-Organisation "Blood & Honour" fortzuführen. Infolge der Durchsuchung von 43 Objekten wurden u.a. Computer, Mobiltelefone, Notizbücher und Kontounterlagen sichergestellt. Darüber hinaus beschlagnahmte die Polizei nicht nur Propagandamaterial von "Blood & Honour" und etwa 1.200 CDs, sondern auch Kriegswaffen und Waffenteile. In Thüringen wurden im Jahre 2002 keine direkten Nachfolgeaktivitäten der "Blood & Honour"-Bewegung festgestellt; Reaktivierungsbestrebungen können jedoch nicht ausgeschlossen werden. "Hammerskin"-Bewegung Auf ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Dresden wegen Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung hin durchsuchte die Polizei am 16. Juli in sieben Bundesländern 40 Objekte, darunter auch einen Treffpunkt der rechtsextremistischen Szene und ein Ladengeschäft in Ostthüringen. 26 Nach der nationalsozialistischen Parole "Blut und Ehre" benannt und vom Frontmann der englischen Skinheadband "Skrewdriver", Ian Stuart DONALDSON, 1987 in England gegründet. 44 Die Exekutivmaßnahmen richteten sich gegen 29 mutmaßliche Angehörige der "Hammerskins", die strafrechtlich relevante CDs vertreiben und verkaufen sollen. Im Verlauf der Durchsuchungen wurden bundesweit insgesamt mehrere hundert CDs, Munitionsund Waffenteile, Abzeichen, Embleme der "Hammerskins", Hardund Software, Videos, umfangreiches Schriftgut und Schreckschusswaffen beschlagnahmt. Verflechtungen mit anderen rechtsextremistischen Gruppierungen und Parteien Die rechtsextremistische Skinheadszene lehnt eine Einbindung in feste und auf Dauer angelegte Organisationsstrukturen weitgehend ab. Rechtsextremistische Parteien wie die DVU und die "Republikaner" stehen den Skinheads mit Vorbehalten gegenüber. Für die NPD und die Neonazis hingegen stellt die Skinheadszene insbesondere bei Demonstrationen ein ergiebiges Mobilisierungspotenzial dar. So werden Skinheads bei derartigen Veranstaltungen oft als Ordner eingesetzt. Für die Motivation der Skinheads, sich in diese Aktivitäten einbinden zu lassen, spielt auch der gebotene Aktionismus eine nicht unwesentliche Rolle. Während sich die Neonaziund die Skinheadszene früher voneinander abgrenzten, bewegen sie sich heute aufeinander zu.27 Die Gründe hierfür liegen zum einen in den offenen Strukturen der Neonazis, die in "unabhängigen Kameradschaften" agieren und damit der Organisationsunwilligkeit vieler Skinheads entgegenkommen. Zum anderen tragen auch Strukturierungsversuche wie "Blood & Honour" oder "Hammerskins" zur steigenden Politisierung und damit zur Annäherung der Skinheadan die Neonaziszene bei. Skinheadkonzerte Die Skinheadmusik und -konzerte bilden entscheidende Elemente, um die Szene zusammenzuhalten. Von ihnen geht nach wie vor eine starke Sogwirkung auf die Szene aus. Das Gemeinschaftsgefühl, das die Konzerte stiften, und die aggressiven Rhythmen der Skinheadmusik fördern bei bisher noch unpolitischen Jugendlichen oftmals den Einstieg in die rechtsextremistische Szene. Die oft als überregionale Treffen organisierten Konzerte dienen als Forum, um Kontakte zu pflegen, Informationen auszutauschen und die Vernetzung der eher strukturschwachen Szene voranzubringen. Am Rande der Konzertveranstaltungen werden von Skinhead-Vertrieben oder Einzelpersonen häufig auch szenetypische Artikel wie Skinhead-Bekleidung oder rechtsextremistisches Propagandamaterial wie Tonträger und Fanzines verkauft. Die überregionalen Vertriebe mit einem großen Einzugsbereich verloren zugunsten regionaler Kleinvertriebe und Bauchwarenhändler an Bedeutung. Die Szene reagiert mit konspirativen Methoden auf die restriktive Verbotspraxis der Behörden, durch die in den letzten Jahren in vielen Fällen bereits im Vorfeld Konzerte verhindert werden konnten. Für die Konzerte wirbt die Szene vor allem per SMS, über Telefonketten, Mailinglisten und durch Mundpropaganda. Sie gibt in der Regel nur einen Vorabtreffpunkt bekannt, von dem aus die Teilnehmer zum eigentlichen Veranstaltungsort weitergeleitet werden. Die Szene macht die Veranstaltungstermine nicht öffentlich bekannt und zeigt die Konzerte den Ordnungsämtern oft als "Geburtstagsfeier mit Livemusik" an. Sehr häufig nutzen die Skinheads Gaststätten und alte Industriegelände für Konzertveranstaltungen. Sehr oft 27 Der in den letzten Jahren zu verzeichnende Trend einer Verflechtung hat sich fortgesetzt, obwohl nach wie vor zwischen Skinhead-Cliquen und neonazistischen Kameradschaften Unterschiede bestehen. 45 nehmen Konzertbesucher weite Anfahrtswege in Kauf, obwohl sie mit der Auflösung der Veranstaltung oder mit Platzverweis rechnen müssen. Einen relativ hohen Stellenwert in der Szene haben Konzerte mit ausländischen Bands, da diese Gruppen ihre antisemitische und rassistische Einstellung in den Texten ihrer Lieder häufig offener als deutsche Bands propagieren. Die Anzahl der Skinheadkonzerte ist in der Bundesrepublik 2002 mit 112 Veranstaltungen gegenüber dem Vorjahr wieder angestiegen (2001: 80).28 Skinheadkonzerte in Thüringen In Thüringen wurden 2002 vier Skinheadkonzerte von der Polizei aufgelöst. Zwei Konzerte verhinderte die Polizei im Vorfeld. Im Jahr 2001 hatten dagegen noch fünf Konzerte stattgefunden. Zu den unterbundenen Konzerten reisten durchschnittlich 120 Personen (2001: durchschnittlich 80), darunter zahlreiche Besucher aus den angrenzenden Bundesländern, an. Konzertbesucher leisteten Vollstreckungsbeamten häufig Widerstand oder verstießen gegen den SS 86a des Strafgesetzbuchs (StGB), der das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen unter Strafe stellt. Gewalttaten von Besuchern der Skinheadkonzerte Die Gewalttätigkeit der Skinheadszene kam beispielhaft bei der Aufklärung von Konzerten am 15. März in Erfurt und am 13. Juli in Elgersburg zum Ausdruck. Am 15. März löste die Polizei in Erfurt ein als Geburtstagsfeier getarntes Skinheadkonzert mit der Band "Garde 18" sowie den US-amerikanischen Gruppen "Max Resist" und "Intimidation One" auf. Anlass für diese Maßnahme war der Verdacht, dass im Rahmen der Veranstaltung verfassungsfeindliches Liedgut gespielt und Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gezeigt wurden. Ein Teil der Konzertbesucher leistete Widerstand gegen die polizeilichen Maßnahmen. Dabei wurden drei Beamte verletzt. Die Polizei stellte die Personalien von insgesamt 168 Personen fest, die überwiegend aus Thüringen, Sachsen, Hessen und Bayern stammten. 138 Personen wurden zur Feststellung ihrer Identität festgenommen. Gegen zwei Personen wurden Ermittlungen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung aufgenommen. Am 13. Juli wurde in Elgersburg ein Skinheadkonzert, in dessen Verlauf die Bands "Blutstahl" aus Jena und "Selection" aus Leipzig aufgetreten waren, von der Polizei aufgelöst. Die Veranstaltung war von einem Angehörigen der Skinheadszene aus Arnstadt als Geburtstagsfeier angemeldet worden. Die Konzertteilnehmer, die mehrfach "Sieg Heil" gerufen hatten, verbarrikadierten sich in dem Gebäude und bewarfen die Polizei mit Gläsern und Flaschen. So wollten sie verhindern, dass die Polizei in das Gebäude eindringt. Vier Polizeibeamte wurden verletzt; es entstand erheblicher Sachschaden. 158 Teilnehmer, überwiegend aus Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Berlin und Hessen, wurden vorläufig festgenommen. Gegen die festgenommenen Personen leitete die Polizei Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Landfriedensbruchs, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, des Verstoßes gegen das Waffengesetz sowie des Verwendens von Kennzeichen verfassungswid28 Konzerte auf Bundesebene 1995: 35; 1996: 70; 1997: 106; 1998: 128; 1999: 109; 2000: 82 46 riger Organisationen ein. Darüber hinaus stellte sie Musikinstrumente, Tontechnik und -träger sicher. Im Vorfeld verhinderte bzw. aufgelöste Skinheadkonzerte Am 19. Juli wurde in Porstendorf bei Jena der Versuch unternommen, ein als Geburtstagsfeier deklariertes Skinheadkonzert durchzuführen, zu dem etwa 65 Angehörige des rechtsextremistischen Spektrums - überwiegend aus Thüringen - erschienen waren. Es spielte die Band "Eugenik" aus Gera. Als Ansprechpartner für die Veranstaltung fungierte der Vorsitzende des NPD - Kreisverbands Jena, Ralf WOHLLEBEN. Nachdem angetrunkene Teilnehmer vor dem Kino mit Flaschen geworfen hatten, erklärte der Hausrechtsinhaber die Veranstaltung für beendet. Eine "Spontandemonstration", die WOHLLEBEN und ein weiteres Mitglied der NPD daraufhin in Jena durchführen wollten, wurde von der Polizei untersagt. Beide Personen versuchten jedoch, die Teilnehmer der Veranstaltung für eine Demonstration zu mobilisieren. Als sie in Gewahrsam genommen werden sollten, leisteten sie Widerstand. Die anderen Teilnehmer verließen den Veranstaltungsort; zu weiteren Störungen kam es nicht. Am 14. September sollte in Greiz-Dölau ein Skinheadkonzert stattfinden, das nicht angezeigt worden war. Polizeibeamte aus Thüringen und Sachsen lösten die Veranstaltung auf. 80 Personen wurden festgestellt und identifiziert. Drei von ihnen wurden in die zuständige Polizeidienststelle verbracht, um ihre Personalien zu ermitteln. Gegen alle anwesenden Personen erging Platzverweis. Fünf Personen wurden vorläufig festgenommen, weil sie Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verwendet bzw. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet hatten. Gegen den Veranstalter wurde ein Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet, da er der ordnungsrechtlichen Anzeigepflicht nicht nachgekommen war. Am Veranstaltungsort wurden darüber hinaus Musikinstrumente sichergestellt. Am 2. Oktober untersagte die Verwaltungsgemeinschaft "Leubatal" ein als "Begegnungstreffen zwischen Ost und West zum Tag der Deutschen Einheit" getarntes Skinheadkonzert, an dem in Hohenleuben etwa 300 Personen teilnehmen wollten. Aufgrund polizeilicher Maßnahmen wurden zahlreiche Kraftfahrzeuge aus Thüringen, Sachsen und Bayern festgestellt. Gegen die Rechtsextremisten, die trotz des Verbots zu der Veranstaltung anreisten, sprach die Polizei Platzverweise aus. Platzverweise erlegte die Polizei ebenfalls den etwa 20 Rechtsextremisten auf, die sich am 3. Oktober erneut vor dem geplanten Veranstaltungsort in Hohenleuben versammelten. Sie hatten die Absicht, eine Nachfolgeveranstaltung für das am Vortag verbotene "Begegnungstreffen" unter dem Vorwand einer "Geburtstagsparty mit Livemusik" durchzuführen. Am 16. November sollte in Gleichamberg ein Skinheadkonzert stattfinden, zu dem etwa 400 Teilnehmer erwartet wurden. In Abstimmung mit den zuständigen Verwaltungsbehörden untersagte die Polizei die Durchführung des Konzerts, noch bevor es begonnen hatte. Sie stellte Kraftfahrzeuge aus Thüringen, Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen fest, unterband die Anreise von weiteren Personen, die das Konzert besuchen wollten, und sprach gegen etwa 80 Rechtsextremisten vor Ort Platzverweise aus. Zwei Personen wurden in Gewahrsam genommen, als sie sich der Anordnung widersetzten. Gegen den Veranstalter, einen bekannten Rechtsextremisten aus Bayern, wurde ein Ermittlungsverfahren gemäß SS 86 StGB (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen) eingeleitet. 47 Außerdem stellte die Polizei am Veranstaltungsort diverse Tonträger, mehrere Fahnen und zahlreiche Plakate sicher, die rechtsextremistisches Gedankengut wiedergaben oder Rudolf HEß und Adolf HITLER darstellten. Reaktion der Szene auf das restriktive Vorgehen der Thüringer Behörden gegen Skinheadkonzerte Auf den Internetseiten des "Nationalen und Sozialen Aktionsbündnisses Westthüringen" (NSAW) wurde die Auflösung von Konzerten wiederholt als "eindeutiger Missbrauch der politischen Staatsmacht" gewertet. Die Szene lastete dem "System BRD" - in diesem Falle repräsentiert durch die Thüringer Polizei - an, Musikveranstaltungen von "friedlichen Jugendlichen" aufgelöst zu haben. Die Polizeibeamten diffamierte sie häufig als "Systemknechte". Gegen solche "repressiven Maßnahmen" sei die Gegenwehr bzw. der Widerstand gerechtfertigt. Auch in Zukunft wolle sich das rechtsextremistische Spektrum diese Einschränkung der Meinungsund Versammlungsfreiheit nicht gefallen lassen und sich wehren. Skinheadbands Im September 2001 hatte der Generalbundesanwalt wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung ein Ermittlungsverfahren gegen die Mitglieder der rechtsextremistischen Berliner Skinheadband "Landser" eingeleitet. Daraufhin hatte die Polizei vier Mitglieder der Band und eine Person, die deren Tonträger produzierte und vertrieb, festgenommen. Gegen sie wurde Haftbefehl erlassen. Die Polizei hatte zahlreiche Wohnungen und Häuser in mehreren Bundesländern, so auch in Thüringen, durchsucht und umfangreiches Beweismaterial sichergestellt. Am 9. September hat der Generalbundesanwalt beim Kammergericht Berlin gegen vier der Inhaftierten Anklage erhoben. Das Verfahren gegen ein Mitglied der Band, das bis März 1996 aktiv gewesen war, wurde abgetrennt. Den vier Angeklagten im Alter zwischen 27 und 37 Jahren werden u. a. die Bildung und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung und Volksverhetzung, die Aufforderung zu Hass und Gewalt gegen Teile der Bevölkerung sowie Verunglimpfung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland vorgeworfen. Dem Selbstverständnis ihrer Mitglieder nach verfolgt die 1992 gegründete Band das Ziel, den "Soundtrack zur arischen Revolution" zu liefern. Ihre indizierten CDs propagieren Rassismus und Antisemitismus. So rufen sie zu schweren Straftaten gegen Ausländer, Juden und politische Gegner auf. Innerhalb der Skinhead-Musikszene findet eine internationale Kooperation statt, die auf der gemeinsam empfundenen Zugehörigkeit zur "White-Power"-Bewegung und weitgehend ü- bereinstimmenden Feindbildern basiert. Skinheadbands aus dem Ausland - insbesondere aus Großbritannien und den USA - und deren CDs sind bei deutschen Skinheads beliebt; entsprechende Gruppen treten regelmäßig bei Konzerten in Deutschland auf. Im Gegenzug spielen deutsche Bands bei Veranstaltungen im Ausland und produzieren zum Teil auch Tonträger speziell für diesen Markt in englischer Sprache. Volksverhetzende fremdsprachige Tonträger finden auch in Deutschland weiterhin eine starke Verbreitung. Dementsprechend ist der Einfluss der rechtsextremistischen Musik aus dem Ausland - trotz möglicher Sprachbarrieren - hoch, da die durch die Musik propagierten Feindbilder überwiegend denen der deutschen rechtsextremistischen Skinheadszene entsprechen. 48 Im Jahr 2002 traten folgende Thüringer Skinheadbands in Erscheinung: - "Blutstahl" (vormals "Division Wiking"), Jena - "Eugenik" (frühere Schreibweise "Oigenik"), Gera - "Kreuzfeuer" (frühere Schreibweise "Kroizfeuer"), Altenburg - "Radikahl", Weimar Auch die Black-Metal-Gruppe "Totenburg" aus Gera trat im Jahr 2002 mehrfach auf Skinheadkonzerten auf. Vertrieb von Skinheadmaterial Tonträger mit Skinheadmusik, die inzwischen häufig im Ausland produziert werden, können Angehörige der Szene entweder durch den Verkauf von Hand zu Hand auf Konzerten und Szenetreffen oder durch Bestellungen bei Vertrieben im Ausland erwerben. So bieten zum einen im Internet zahlreiche, namentlich US-amerikanische, Vertriebe in Deutschland verbotene CDs an. Zum anderen besteht aber auch im europäischen Ausland die Möglichkeit, illegale CDs zu bestellen. Rechtsextremistisches Liedgut wird insbesondere durch das Internet einem großen Interessentenkreis zugänglich gemacht. Angebote ausländischer Anbieter können abgefragt und miteinander verglichen werden. Auf diese Weise wurde es für die Konsumenten derartiger Musik in den vergangenen Jahren weitaus einfacher, sich mit strafbarer/indizierter Musik zu versorgen. In diesem Zusammenhang wurde im Laufe der letzten Jahre vor allem die Möglichkeit des (kostenlosen) Herunterladens so genannter MP3-Dateien29 von diversen InternetTauschbörsen immer wichtiger für die Szene. Vergleichbare Online-Musikangebote finden sich mittlerweile auch auf privaten Homepages aus dem Bereich der subkulturellen Skinheadszene. Auf manchen dieser Internet-Seiten werden Hunderte im MP3-Format gespeicherte Daten angeboten. Ganze Musikalben können in digitalisierter Form heruntergeladen und mit entsprechender Hardund Software durch potenzielle Kunden über PC abgespielt und dann beliebig oft in digitaler Qualität vervielfältig werden. Damit verfügt die Szene über ein Instrument, das mit verhältnismäßig geringem Kostenaufwand einen hohen Verbreitungsgrad gewährleistet. In Thüringen gibt es u. a. in Altenburg, Jena, Weimar und Erfurt diverse Szeneläden, in denen Skinheadmaterialen erworben werden können. Skinheadartikel werden auch über das Internet vertrieben. Weiterhin werden Fanzines herausgegeben. 6. "Deutsche Heidnische Front" (DHF) Die DHF wurde 1998 als eine Art Vermittler zwischen national denkenden Heiden und heidnisch fühlenden Nationalisten gegründet. Ihre Mitglieder rekrutieren sich u.a. aus der Metalund Skinheadszene. Gruppierungen der DHF existieren in mehreren Bundesländern. Bis 2000 zählten vor allem Thüringer zu den Aktivisten der "neuheidnisch-völkischen Bewegung". 29 MP3 - Format für Audiodateien, das bei hoher Komprimierung gute Tonqualität bietet 49 Zu Anfang wurde die "Existenzsicherung für alle germanischen Völker" als Hauptziel propagiert. Das Leitmotiv bildeten die "14 words" des amerikanischen Rechtsextremisten David LANE. Zunächst war die Ideologie der DHF offenkundig völkisch-rassistisch, nationalistisch und insbesondere antisemitisch geprägt. Nach einem Führungswechsel erfolgte 2001 auch ein Imagewechsel. Damit verfolgte die DHF das Ziel, eine größere Akzeptanz zu erreichen. Die DHF trat danach zwar nach außen moderater auf, propagierte jedoch weiter ariosophische und völkisch-kollektivistische Anschauungen. Diese kommen vor allem in einer Überbewertung der nordischen (arischen) Rasse zum Ausdruck. Die DHF feiert alte Feste an traditionellen Orten, um germanische Mythologie und heidnisches Brauchtum zu pflegen. So veranstaltete sie zum Beispiel auf der Burgruine Rothenburg/Kyffhäuserkreis am 22. Juni eine Sonnenwendfeier, bei der etwa 70 Personen verschiedene Rituale des Sonnenwendkults zelebrierten. 7. Exkurs: Nutzung moderner Kommunikationsmedien durch Rechtsextremisten Von der rasanten Entwicklung der modernen Informationsgesellschaft profitieren auch deutsche Rechtsextremisten. In dem Maße, wie die so genannten Neuen Medien an Bedeutung für zahlreiche Lebensbereiche gewinnen, nimmt auch ihre Nutzung durch Rechtsextremisten zu. Mobiltelefone sind heute sehr weit verbreitet. Parteiunabhängige "Nationale Info-Telefone" (NIT), über die auf der technischen Basis eines Anrufbeantworters aktuelle Ansagetexte angeboten werden, sind in verschiedenen Bundesländern geschaltet. Das Internet mit seinen vielfältigen Möglichkeiten als Informationsund Kommunikationsmittel erfreut sich stetig wachsender Akzeptanz. Dagegen verloren "Mailbox-Netze" weiter an Bedeutung. Teilweise werden die Medien miteinander kombiniert. Ansagetexte von NITs werden auch ins Internet gestellt. Verflechtungen kommen insbesondere bei der Mobilisierung für Veranstaltungen und der Koordinierung der Anreisenden zum Tragen. Über das Internet wird bereits frühzeitig und allgemein auf entsprechende Termine hingewiesen. Unmittelbar im Vorfeld der Veranstaltungen können dann per "Handy" aktuelle Informationen zur Rechtslage oder über die zum Teil anonym gehaltenen Veranstaltungsorte über "Info-Nummern" eingeholt werden. Unter den von Rechtsextremisten genutzten Kommunikationsmitteln kommt dem Internet eine besondere Bedeutung zu. Das "World Wide Web" (WWW) wird als komfortables, kostengünstiges, grenzüberschreitendes Medium zur Selbstdarstellung, Agitation und Propaganda genutzt. Aktuelle Ereignisse werden aus der Sicht der Szene kommentiert. Nutzer des Internets werden schnell mit Informationen zu geplanten Veranstaltungen, Kampagnen, Schulungen etc. versorgt. Das Web dient ferner als Plattform für Werbung und Handel mit einschlägigen Devotionalien. Gewaltverherrlichende und volksverhetzende Musik, Videosequenzen oder Computerspiele lassen sich problemlos über das Netz beziehen. Weitere Dienste des Internets dienen zur individuellen Kommunikation. So werden Informationen als "Rundbriefe" per E-Mail zeitgleich an einen geschlossenen Adressatenkreis versandt. Über Diskussionsforen oder IRC30 kommunizieren Rechtsextremisten mittlerweile weltweit. Nicht zuletzt durch solche virtuellen Beziehungen wird ein Gefühl von Gemeinschaftssinn erzeugt, der eine Art von Zusammenhalt, Stärke und Macht suggeriert. 30 IRC (Internet Relay Chat) - Medium zur Kommunikation in Echtzeit über Texteingabe 50 Auch die Thüringer Rechtsextremisten nutzen die gesamte Palette der sich aus dem Internet ergebenden Möglichkeiten zur Kommunikation, Information, Selbstdarstellung, Werbung, Agitation und Propaganda oder zum Handel mit Musik, Literatur und anderen Szeneutensilien. Im Jahr 2002 wurden ca. 30 rechtsextremistische Websites von Thüringern betrieben. 2000 lag diese Zahl noch bei ca. 20. Die Zahl der Websites stieg zwar an, ihre "Attraktivität" ging jedoch zurück. Nur wenige der Web-Angebote von Thüringer Rechtsextremisten werden ständig auf dem aktuellen Stand gehalten. Ein Großteil wird nur sporadisch bzw. gar nicht gepflegt. Einige verschwanden bereits gänzlich aus dem Netz. Die regelmäßig aktualisierten Websites bieten allerdings ein umfangreiches Repertoire an Informationen, meist mit klarem Regionalbezug. Der Berichterstattung der "Systemmedien" wird eine Art von Gegendarstellung entgegengesetzt, in der man sich als Opfer verschiedener Kampagnen beschreibt. Ihre Internetauftritte nutzen rechtsextreme Parteien und Neonazigruppierungen aus Thüringen vorwiegend zur Selbstinszenierung, als Agitationsund Propagandamedium oder als Mobilisierungsinstrument. Für besondere Ereignisse, wie für die so genannten HEß-Aktionswochen oder die sommerliche Hochwasserkatastrophe, wurden eigens "Sonderseiten" eingerichtet. Die redaktionellen Bereiche der Websites übertreten meist nicht die Strafgesetze. Dagegen werden in den interaktiven Bereichen wie Chats oder Diskussionsforen, die auch von Thüringer Extremisten angeboten werden, von den Nutzern zum Teil auch strafbare Inhalte eingestellt. Websites aus dem Bereich rechtsextremistischer Musik werden insbesondere durch audiovisuelle Elemente geprägt. Musik steht dort im MP3-Format zur Verbreitung zur Verfügung. Es werden Textproben, Rezensionen von Tonträgern sowie Informationen zu Bands und Konzerten präsentiert. Gleich mehrere Musikproduzenten und Vertriebsdienste aus Thüringen nutzen das Internet als Plattform für den gewerblichen Handel mit Musik, Literatur und anderem Szenematerial. Mit der Etablierung von Rechtsextremisten im Internet wächst die Gefahr, dass immer mehr Menschen mit rechtsextremistischem Gedankengut in Berührung kommen können. Insbesondere auf Jugendliche wirkt der Reiz des Verbotenen und die Integration multimedialer Elemente wie Spiele, Bilder, Musik und Videosequenzen in den rechtsextremistischen Websites anziehend. Exekutivmaßnahmen gegen Betreiber von Websites mit strafbarem Inhalt, Sperrung, Löschung oder Filtersoftware leisten nur einen begrenzten Beitrag zum Schutz der Jugend vor Meinungsmanipulation. Darüber hinaus muss über öffentliche Diskussion, staatsbürgerliche Aufklärung und Medienerziehung ein qualifizierter Umgang mit rechtsextremistischer Hasspropaganda angestrebt werden. 51 8. Politisch motivierte Kriminalität - Rechts - im Überblick Die im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - Rechts - im Jahr 2002 in Thüringen begangenen Straftaten lassen sich wie folgt darstellen31: Straftaten 2001 2002 insgesamt: 1.313 913 davon im Einzelnen: Propagandadelikte 1.066 745 Landfriedensbruch 6 6 Volksverhetzung 116 82 Körperverletzung 61 41 Sachbeschädigung 20 12 Sonstige 44 27 Im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - Rechts - ist insgesamt ein Rückgang der Straftaten festzustellen. Diese Entwicklung wird auch mit Blick auf die Delikte, die der "Gewaltkriminalität" zugerechnet werden (insbesondere Körperverletzung und Landfriedensbruch), bestätigt. Diese sind auf 57 (2001: 72) gesunken und wurden überwiegend vor einem extremistischen Hintergrund begangen. Ein beträchtlicher Rückgang ist bei den Propagandadelikten (vorwiegend Hakenkreuzschmierereien) zu verzeichnen. Bei diesen Delikten kann auf Grund der bisherigen Erfahrungen davon ausgegangen werden, dass etwa 75 % einen extremistischen Hintergrund aufweisen. Auch die fremdenfeindlichen und antisemitischen Straftaten, welche sich auf die unterschiedlichen Delikte verteilen, sind zurückgegangen. Die Zahl der fremdenfeindlichen Straftaten betrug im Berichtsjahr 89 (2001: 116), die antisemitischen Straftaten haben sich auf 60 verringert (2001: 65). 31 Quelle: Thüringer Landeskriminalamt (LKA) 52 III. Linksextremismus 1. Überblick Bundesweit schließt das Potenzial der revolutionären Marxisten etwa 26.000 Personen ein. Hinzu kommen etwa 5.500 Personen, darunter ca. 5.000 Autonome, die die Verfassungsschutzbehörden der gewaltbereiten linksextremistischen Szene zurechnen. Noch im Vorjahr betrug die Anzahl der gewaltbereiten Linksextremisten ca. 7.000 Personen, von denen 6.000 der autonomen Szene zugerechnet wurden. Bundesweit ist somit die Anzahl der Personen, die der gewaltbereiten Szene zugehören, im Vergleich zu den Vorjahren deutlich zurückgegangen. Unverändert gelingt es jedoch gewaltbereiten Linksextremisten oftmals, bei anlassbezogenen, überregionalen Aktionen und Demonstrationen zusätzlich mehrere tausend Sympathisanten zu mobilisieren. Im Freistaat Thüringen umfasste das mobilisierungsfähige Umfeld der autonomen Szene im Jahr 2002 Schätzungen nach bis zu 300 Personen. Von ihnen gelten etwa 150 Autonome als gewaltbereit. Damit ist sowohl für das autonome Umfeld als auch für den gewaltbereiten Teil der Szene eine rückläufige Tendenz zu verzeichnen. Noch im Vorjahr war von 300 bis 350 Personen, von denen 150 bis 200 als gewaltbereit galten, auszugehen. Den marxistisch-leninistischen Parteien und Organisationen, die sich in Thüringen betätigen, gelang es nicht, das Potenzial ihrer Mitglieder bzw. Anhänger wie gewünscht zu erhöhen, obwohl sie sich bemühten, vor allem jüngere Menschen für eine Mitarbeit oder Mitgliedschaft zu gewinnen. Mitgliederzahlen linksextremistischer Gruppierungen in Thüringen: 2000 2001 2002 KPF der PDS 120 100 100 DKP 50 50 50 MLPD 50 50 50 KPD wenige Mitgl. wenige Mitgl. wenige Mitgl. Autonome 300 bis 350 300 bis 350 bis 300 Obwohl das autonome Spektrum Anhänger verloren hat, ist es ihm gelungen, sich zu konsolidieren. Im Jahr 2001 beteiligte sich das Netzwerk "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG) nur gelegentlich an den Aktivitäten, die von der autonomen Szene ausgingen. Im Verlauf des Jahres 2002 dagegen war das Netzwerk, in dem sich die maßgeblichen Gruppen und Zusammenschlüsse der Thüringer Autonomen organisiert haben, zunehmend in die relevanten Aktionen der Szene involviert. Nunmehr repräsentiert dieses Netzwerk das autonome Spektrum in Thüringen. Die Zahl, die Art und die Intensität der Aktivitäten, die auf die Autonomen zurückgingen, die der Szene immanente Neigung zu Strafund Gewalttaten, die von ihr eingesetzten Kommunikationsmittel und die von ihr bevorzugten thematischen Schwerpunkte änderten sich im Wesentlichen nicht. Akzentverschiebungen in Hinsicht auf die jeweils gewählten, letzten Endes jedoch traditionellen Themenfelder ergaben sich aus der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung. Ebenso wenig veränderten sich im Kern die Aktivitäten der marxistisch-leninistischen Parteien. Ihre Aktionen wurden, sofern sie in der Öffentlichkeit überhaupt in Erscheinung traten, kaum wahrgenommen. Sowohl Angehörige 53 des autonomen Spektrums als auch kommunistische Gruppen unterhielten auch im Jahr 2002 Kontakte, die über Thüringen hinausgingen. 2. Ideologischer Hintergrund Das in sich breit gefächerte linksextremistische Spektrum vertritt Positionen, die im Einzelnen ideologisch erheblich voneinander abweichen. Seine Anhänger teilen entweder Theorien, die auf eine sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaft abzielen, oder zählen zu den Sozialrevolutionären, Anarchisten oder Autonomen. Die unterschiedlichen Anschauungen und theoretischen Gebilde gründen auf den Werken von MARX, ENGELS und LENIN, von STALIN, TROTZKI und MAO TSE-TUNG. Die Linksextremisten eint das Ziel, die Staatsund Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen. Ihre - wie auch immer gearteten - Bestrebungen richten sich letzten Endes gegen grundlegende Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In jedem Falle wollen sie die bestehenden Verhältnisse beseitigen und durch Strukturen ersetzen, die ihre jeweiligen Vorstellungen widerspiegeln. Ein marxistisch-leninistisches Staatsgebilde streben sie ebenso an wie eine "herrschaftsfreie Gesellschaft". Die Ansichten der Linksextremisten weichen erheblich voneinander ab. Sie verbindet jedoch das Bekenntnis zur revolutionären Gewalt, zum Klassenkampf und zur Klassengesellschaft. Ihr Grundsatz, dass gesellschaftliche Veränderungen nur mit Hilfe von Gewalt erreicht werden können, wird aus taktischen Erwägungen oft verschwiegen. Bei tagespolitischen Auseinandersetzungen greifen sie häufig zu legalen, gewaltfreien Formen des politischen Engagements. Das erleichtert es ihnen, auf bestimmten Politikfeldern Bündnispartner zu gewinnen, die dem Extremismus abgeneigt sind. Die eigene extremistische Ausrichtung wird bewusst verschleiert. 3. Marxistisch-leninistische Parteien und Organisationen 3.1 "Kommunistische Plattform (KPF) der Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) Das Statut der PDS eröffnet die Möglichkeit, innerhalb der Partei Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften zu bilden. Sie sind integraler Bestandteil der Partei und bieten der sich als linke "Strömungspartei" verstehenden PDS Ansatzpunkte, eine breite Bündnisund Integrationspolitik zu verfolgen. Einen Zusammenschluss dieser Art stellt die KPF dar. Am 30. Dezember 1989 in der damaligen SED-PDS gegründet, definiert sie sich in ihrer Satzung als "ein offen tätiger Zusammenschluss von Kommunistinnen und Kommunisten in der PDS". Als marxistisch-leninistische Organisation, die sich deutlich zum Kommunismus bekennt, arbeitet sie eng mit der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) und der "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) zusammen. Sie ist "offen für alle, unabhängig von parteilicher und sonstiger politischer Bindung", sofern "Mehrheitsbeschlüsse der KPF" und das Statut der PDS akzeptiert werden. Im Rahmen des von ihr angestrebten "breiten linken Bündnisses" geht es ihr insbesondere um "die Zusammenarbeit mit allen..., die mit dem Ziel einer sozialistischen Alternative zum bestehenden kapitalistischen System aktiv in politischen, sozialen und anderen Auseinandersetzungen der Gegenwart stehen". Auf Bundesebene wird die KPF von einem Bundeskoordinierungsrat geleitet und vom Bundessprecherrat vertreten. Auf Landesebene sind Landeskoordinierungsund Landessprecherräte tätig. Das höchste Gremium der KPF stellt die Bundeskonferenz dar, die mindestens einmal jährlich einberufen wird. Sie beschließt die politischen Leitlinien der KPF und wählt den Bundeskoordinierungsund Bundessprecherrat. Die KPF hat bundesweit ca. 1.500 Anhänger. Die "Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der PDS" bilden ihr Publikationsorgan, 54 das bundesweit monatlich erscheint. In Thüringen, wo sie sich im März 1993 konstituierte, beläuft sich die Anzahl ihrer Anhänger nach eigener Aussage auf etwa 100 Personen. Die KPF kritisiert die Politik der PDS Im Mittelpunkt einer Beratung des Bundeskoordinierungsrats, die am 2. März in Berlin stattfand, stand das Thema "Zum Stand der Vorbereitung des Rostocker Parteitages und zum Verlauf der Programmdebatte". Während der Beratung brachte der Bundeskoordinierungsrat die Absicht zum Ausdruck, auf die inhaltliche Entwicklung des neuen Programms der PDS aktiv einzuwirken. Die KPF wolle sich publizistisch engagieren und thematisch einschlägige Veranstaltungen organisieren, um vor allem auf die Friedensfrage und den Umgang mit dem "vergangenen sozialistischen Versuch" einzuwirken. Fast die gesamte Führungsspitze der KPF und prominente Mitglieder des "Marxistischen Forums" unterzeichneten vor der 3. Tagung des 7. Parteitages der PDS am 16./17. März 2002 in Rostock einen Appell, der sich unter der Überschrift "Schluss mit der Unterwürfigkeit" an die Delegierten richtete. Die 270 Unterzeichner kritisierten den Koalitionsvertrag, der in Berlin nach den Wahlen zum Senat zwischen der PDS und SPD unterzeichnet worden war, und zeigten sich im "höchsten Grad über eine Politik beunruhigt", die als Fernziel eine sozialistische Gesellschaftsordnung nicht mehr anstrebe. Die Reformpolitik gegen die neoliberale und militarisierte Gangart des Kapitalismus werde zunehmend konturloser, hieß es in dem Appell. Wesentliche Aussagen des Koalitionsvertrags stellten eine Totalabsage an das Projekt "Sozialismus" dar; nichts solle vom alternativen Ansatz in der DDR bewahrt bleiben. Eine Alternative zum Kapitalismus sei jedoch notwendig. Die KPF lehnt einen Krieg gegen den Irak ab Am 7. September 2002 fand in Berlin die 11. Bundeskonferenz der KPF statt, in deren Mittelpunkt "der Kampf um den Erhalt der Antikriegspartei PDS" stand. Die KPF verabschiedete einen offenen Brief an den Parteivorstand und -rat der PDS sowie einen Wahlaufruf für die PDS. In ihrem Brief forderte die KPF die Führung der PDS auf, über den Vorstand und den Parteirat der SPD "öffentlichen Druck auf die Bundesregierung auszuüben". Noch vor den Bundestagswahlen solle diese deutlich erklären, im Falle eines Kriegs gegen den Irak keine Kosten zu übernehmen und es der US-Armee in einer solchen Situation zu verbieten, Militärbasen auf deutschem Boden zu nutzen und den deutschen Luftraum für Angriffe zu überfliegen. Außerdem müsse die Bundesregierung sowohl die ABC-Spürpanzer aus Kuwait als auch die Seefernaufklärer vom Horn von Afrika sofort abziehen. Der Parteivorstand und -rat der PDS sollten überdies ankündigen, "die SPD-PDS-Koalition auf der Stelle" zu beenden, falls die rotgrüne Bundesregierung einen Krieg gegen den Irak unterstütze. Ungeachtet der zuvor an der Partei geübten Kritik rief die KPF zur Wahl der PDS auf. Sie stelle die einzige Antikriegspartei im Parlament dar und vertrete dort konsequent die Interessen der neuen Bundesländer. Außerdem wäre es "auch für außerparlamentarische Bewegungen ein großer Verlust, würde der parlamentarische Kampf in diesen substantiellen Fragen nicht mehr stattfinden". Die KPF zieht aus den Bundestagswahlen Schlüsse Die "eklatante Wahlniederlage" der PDS bei den Bundestagswahlen führte die KPF in der Erklärung "Kraftproben hat es genug gegeben!" vom 26. September u.a. darauf zurück, dass sie sich in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung beteiligt sowie die SPD55 Regierung in Sachsen-Anhalt toleriert habe. "Eine sozialistische Partei beteiligt sich nicht koalierend oder tolerierend an unsozialen Maßnahmen, ohne einen hohen Preis dafür zu bezahlen." Auch innerparteiliche Auseinandersetzungen, um Regierungsfähigkeit zu erlangen und "vom Establishment voll und ganz akzeptiert" zu werden, hätten dazu beigetragen, bei den Bundestagswahlen schlecht abzuschneiden. Als würdelos kritisierte die KPF den von der PDS gegenwärtig verfolgten Weg der Anpassung. In Zukunft soll der Grundsatz "Veränderung beginnt mit Opposition" wieder stärker die Politik der Partei bestimmen. Infolge der Wahlniederlage müsse der für 2003 vorgesehene Programmparteitag nicht nur "auf die Zeit nach 2006" verschoben werden, sondern stattdessen auch ein Parteitag stattfinden, "auf dem ein Aktionsprogramm diskutiert und angenommen wird, das uns für sozialistisches Handeln Richtschnur ist". Sahra WAGENKNECHT zum Mitglied des Parteivorstandes der PDS gewählt Auf dem 8. Parteitag der PDS in Gera wurde Sahra WAGENKNECHT, die dem Bundeskoordinierungsrat angehört, von 71,8 % der Delegierten zum Mitglied des Parteivorstands gewählt. Infolge der Politik, die die PDS in den letzten Jahren betrieben habe, kritisierte WAGENKNECHT, sei die Partei "für viele nicht mehr als klarer und eindeutiger Widerpart zum neoliberalen Kurs" der Bundesregierung erkennbar gewesen. "Viel zu oft haben wir uns zu seinem Mitakteur gemacht." Die Partei habe "mit der irrealen Rolle des Kanzler-Machers kokettiert", Vertrauen und Glaubwürdigkeit verspielt. Niemand verlange, dass die Partei jetzt Hals über Kopf die Koalitionen verlassen soll. "Aber wenn unser Profil als sozialistische Partei und soziale Widerstandskraft nicht erkennbar bleibt, dann haben wir verloren." In den "Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der PDS" zogen Sahra WAGENKNECHT und Ellen BROMBACHER, Bundessprecherin der KPF, aus dem Geraer Parteitag Schlüsse. "Die Ergebnisse des Geraer Parteitages", stellte WAGENKNECHT fest, "sind ganz sicher ein Sieg all jener, die die PDS als linke sozialistische Partei und soziale Widerstandskraft erhalten und das durch Anpassung, Lavieren und Taktieren verspielte Vertrauen für unsere Partei zurückgewinnen wollen. Die Beschlüsse von Gera...bieten eine gute Grundlage, die existentielle Krise unserer Partei zu überwinden." BROMBACHER betonte die Solidarität der "Kommunistischen Plattform" mit dem neugewählten PDS-Vorstand. 3.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Die DKP, die 1968 in Frankfurt am Main gegründet worden ist, hat ihren Sitz in Essen und setzt die Politik der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen KPD fort. In einem Leitantrag, der im Juni 2001 auf dem 15. Parteitag verabschiedet worden ist, bekannte sich die Partei wie bisher dazu, eine sozialistische Gesellschaft anzustreben. Sie bilde auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft die erste Stufe. Es sei die Aufgabe der Arbeiterklasse, den Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnissen zu vollziehen, da sie die entscheidende gesellschaftsverändernde Kraft darstelle. MARX, ENGELS und LENIN liefern die theoretischen Grundlagen, auf die sich die Partei bezieht und die sie, sofern notwendig, weiterentwickele. Eigenen Angaben nach gehören der DKP bundesweit 4.700 Mitglieder an, von denen ca. 250 aus den neuen Bundesländern stammen. In Thüringen zählt die Partei, deren Landesorganisation im Januar 1996 gegründet worden ist, schätzungsweise etwa 50 Mitglieder. Sie ist in die fünf Regionalgruppen Mittel-, Ost-, Süd-, Nordund Westthüringen untergliedert. Der Koordinierungsrat, der von der Landesmitgliederversammlung gewählt wird, bildet das Führungsgremium. 56 Bundesweit gibt die Partei die Wochenzeitschrift "Unsere Zeit" (UZ) heraus. STEHR kritisiert auf dem 16. Parteitag den schlechten Zustand der DKP Auf dem 16. Parteitag, der vom 30. November bis zum 1. Dezember in Düsseldorf stattfand, wurden der Vorsitzende Heinz STEHR sowie die stellvertretenden Vorsitzenden Nina HAGER und Rolf PRIEMER in ihren Ämtern bestätigt. Im 35-köpfigen Parteivorstand ist auch ein Parteimitglied aus Thüringen vertreten. In einem Referat ging STEHR vor allem auf die aktuelle politische und wirtschaftliche Situation, den Kampf gegen den "weiteren Sozialund Demokratieabbau" sowie den Zustand der Partei ein. Er begrüßte die sich entwickelnde internationale, globalisierungskritische Bewegung als potenziellen Verbündeten. "Wir..., die DKP", rief er auf, "sollten Teil dieser Bewegung sein. Wir sollten in diese Bewegung Standpunkte einbringen und damit einen Beitrag zur politischen Orientierung leisten." Die Partei befinde sich, beklagte der Vorsitzende, in einer problematischen Lage. Sie habe derzeit 4.700 Mitglieder, die im Durchschnitt "knapp 58 Jahre" alt seien. Das Finanzaufkommen der DKP sichere die zentrale Führungsarbeit nicht ausreichend ab. Beitragsrückstände, ausbleibende Großspenden, stagnierende Mitgliedsbeiträge und unregelmäßige Abrechnungen verursachten jährlich wiederkehrende dramatische Finanzkrisen. Die innerparteiliche Demokratie habe sich, rügte STEHR, "nicht genügend entsprechend den politischen Herausforderungen entwickelt". Die Diskussion, die die Ausarbeitung des neuen Parteiprogramms betrifft, sei durch Kontroversen, Polarisierungen und mangelnde Streitkultur geprägt. Wahlkampfaktionen der Partei wären oft öffentlich kaum wahrzunehmen gewesen, die Präsenz der Partei bei politischen Großveranstaltungen sei unzureichend. In den neuen Bundesländern habe es die Partei bisher weitgehend versäumt, konkrete örtliche Politik zu entwickeln und umzusetzen. Die DKP trete dort kaum in Erscheinung. Die Mitgliederentwicklung stagniere insgesamt; in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sei sie sogar rückläufig. "Gelingt es nicht bald, mehr als bisher junge Mitglieder zu gewinnen, so wird dies ein Problem der Politikunfähigkeit und der Existenzgefährdung der DKP..." Auch in Hinsicht auf die Neufassung des Programms, das noch aus dem Jahre 1978 stammt, konnte die Partei keine Fortschritte erzielen. In der Diskussion, die sich auf die Erarbeitung des neuen Programms bezog, traten auf dem Parteitag in wesentlichen Fragen tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten zu Tage. Ein erster Entwurf soll nun vom Vorstand der Partei Ende 2003 diskutiert und beschlossen, ein neues Parteiprogramm auf dem 17. Parteitag im Jahr 2004 beraten werden. In dem Aktionsaufruf "Nein zum Krieg für Öl, Profit und Machtinteressen! Keine deutsche Beteiligung, keine Unterstützung eines Krieges gegen den Irak!" verlangte der Parteitag von der Bundesregierung, die Panzer und Soldaten aus Kuwait sowie die Marineeinheiten aus der Krisenregion sofort abzuziehen und den USA Überflugrechte, die Nutzung von Militäreinrichtungen der US-Armee und jegliche militärische, finanzielle, logistische oder politische Unterstützung für einen Krieg gegen den Irak zu verweigern. Die Mitglieder der DKP wurden aufgerufen, Aktionen der Friedensbewegung und globalisierungskritischer Gruppen zu unterstützen. In ebenfalls verabschiedeten "Forderungen für Ostdeutschland" zeichnete die DKP ein Bild von den neuen Bundesländern, das von Massenarbeitslosigkeit, anhaltender Abwanderung, 57 fortdauernder Delegitimierung und Diffamierung der DDR sowie politischer, ökonomischer, sozialer und juristischer Ungleichbehandlung der früheren DDR-Bürger gekennzeichnet ist. Seit August warb die DKP unter dem Motto "Wertpapier sucht Geldgeber. Dringend!" kontinuierlich um "individuelle Spenden und Darlehen von LeserInnen und Freunden", um die finanziellen Probleme - die insbesondere die parteieigene Wochenschrift "Unsere Zeit" betreffen - zu lösen. "Durch eine große Spendenbereitschaft" sei es gelungen, gab STEHR auf dem 16. Parteitag bekannt, die benötigten finanziellen Mittel für die Absicherung der "UZ" einzunehmen. Bliebe die Entwicklungstendenz jedoch weiterhin negativ, müssten jährlich ähnliche Appelle an die Öffentlichkeit gerichtet werden. Eine Lösung des Problems sei bisher nicht in Sicht. Die DKP will die Gewerkschaftsarbeit verstärken Auf der jährlichen Konferenz der DKP zur Gewerkschaftsund Betriebsarbeit, die am 12. Januar in Berlin stattfand, wurden die Arbeitnehmerorganisationen scharf kritisiert. Angesichts des massiven Abbaus sozialer Rechte und einer Verschärfung der imperialistischen Konflikte müsse, meinte STEHR, eine linke Gewerkschaftsoffensive wiederbelebt werden. Auch unter komplizierten Bedingungen wolle die DKP in den Gewerkschaften, in denen etwa 25 Prozent ihrer Mitglieder Funktionen innehätten, aktiv sein. Ein Schwerpunkt werde daher der Vernetzungsinitiative der Gewerkschaftslinken gelten, die aus 14 verschiedenen Gruppen besteht. Die DKP will die Jugend für sich gewinnen Im Mittelpunkt des "Jugendpolitischen Ratschlags", den die Partei am 2. Februar in Hannover veranstaltete, standen vor allem die soziale und politische Lage der Arbeiterjugend sowie die Jugendpolitik der DKP in den Betrieben. Gegenwärtig könne, fasste der Leiter der DKPJugendorganisation die Ergebnisse des "Ratschlags" zusammen, nicht von einer breiten und geschlossenen Jugendbewegung gesprochen werden. Zu wenige Jugendliche beteiligten sich an den Aktivitäten der Friedensund Antiglobalisierungsbewegung. Es reiche nicht aus, nur in den Betrieben zu agieren, um die Arbeiterjugend für die DKP zu gewinnen. Vielmehr müsse die Partei zusätzlich weltanschauliche und kulturelle Angebote machen und sich an den Aktionen der Gewerkschaftsjugend beteiligen. Die DKP spricht sich gegen die Globalisierung aus Am 29. und 30. Juni nahmen in Berlin Vertreter von 33 Parteien aus 31 Ländern an einer Konferenz teil, die die DKP unter dem Motto "Kapitalistische Globalisierung - Alternativen - Gegenbewegungen - Rolle der Kommunistinnen und Kommunisten" ausgerichtet hatte. Die Weltlage stelle, wurde auf der Konferenz hervorgehoben, das Resultat der "konkreten politischen Entscheidung undemokratischer Gremien wie Weltwährungsfonds, Weltbank oder G 8" dar. Die "Diktatur der transnationalen Konzerne" bedeute einen Angriff auf Aufklärung und Menschenrechte. Der als "Globalisierung" bezeichnete ökonomische, kulturelle und politische Prozess, äußerte STEHR, werde durch die Interessen des transnationalen Monopolkapitals geleitet und bilde eine neue Phase im Internationalisierungsprozess des Kapitals. Die Bourgeoisie könne jedoch die Globalisierung im Sinne der Menschheit nicht konstruktiv lösen. Aus der imperialistischen, neoliberalen Globalisierung gäbe es nur einen Ausweg - den Sozialismus. Die Konferenzteilnehmer verabschiedeten eine Resolution, die den Titel "Herausforderung annehmen: Gegen kapitalistische Globalisierung internationale Solidarität und Zusammenarbeit der Parteien der marxistischen Linken" trug. Sie entsprach den Zielen der DKP, 58 die dafür eintritt, die Zusammenarbeit der kommunistischen und Arbeiterparteien zu vernetzen. Die DKP in Thüringen Die DKP trat auch in diesem Jahr in Thüringen öffentlich kaum in Erscheinung. Ihr bundesweit vertriebenes Informationsblatt "Thüringenreport", das "immer mehr die Existenz und die Arbeit der DKP in Thüringen unterstreichen" wollte, ist im April zum letzten Mal erschienen, was auf personelle und finanzielle Probleme der Partei zurückzuführen ist. Die DKP Jena und der "Rote Tisch Ostthüringen"32 richteten am 12. März in Jena-Lobeda eine Vortragsund Diskussionsveranstaltung aus, die der Publikation "Imperialismus im 21. Jahrhundert. Sozialismus oder Barbarei" des in Großbritannien lebenden Autors Harpal BRAR galt. Auf dem "8. landesweiten Friedensfest" der PDS am 1. September in Gera waren - wie bereits im letzten Jahr - DKP und "Roter Tisch Ostthüringen" mit einem Informationsstand vertreten. 3.3 "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) Die Jugendorganisation SDAJ ist mit der DKP eng verbunden und wurde 1968 in Essen gegründet. Sie versteht sich als unabhängiger Jugendverband, der keiner Partei zugehört und allen Schülern, Studenten, Auszubildenden sowie jungen Arbeitern offen steht. Sie fordert den "revolutionären Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnissen" und strebt den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung an, wozu es des "bewussten Klassenkampfes der Arbeiterklasse" bedürfe. Daher stelle es für die SDAJ eine wesentliche Aufgabe dar, in der Arbeiterjugend Klassenbewusstsein zu verbreiten. Bundesweit gehören dieser Organisation Schätzungen zufolge etwa 350 Mitglieder an. In Thüringen ist sie nur mit wenigen Mitgliedern vertreten. Im Freistaat Ende 1996 gegründet, verband sie sich 1998 mit der SDAJ Sachsen zur Landesgruppe Thüringen/Sachsen. Am 20./21. April hielt die SDAJ in Essen unter dem Motto "Fight, Unite, Attack, Win! Die Zukunft muss sozialistisch sein! Wir fordern unsere Rechte!" ihren 16. Bundeskongress ab. An dem Kongress sollen 100 Delegierte teilgenommen haben, um die gegenwärtige politische Situation zu analysieren, die Arbeit der SDAJ auszuwerten und Schlussfolgerungen für die kommenden zwei Jahre zu ziehen. Auf dem Kongress wurde ein 29-köpfiger Bundesvorstand gewählt und Tina SANDERS als Bundesvorsitzende bestätigt. Das Ziel der SDAJ müsse es sein, betonte sie, sich in den Interessenvertretungen der Schulen und Betriebe aktiver einzusetzen. Daher soll in den nächsten Monaten - erstmals seit 10 Jahren - wieder eine SDAJBetriebsgruppe gegründet werden. In der letzten Zeit habe sich die Organisation leicht vergrößert. Es gelte jedoch weiterhin, den Verband auszuweiten und zu stärken. Der Kongress verabschiedete eine Handlungsorientierung, die die Arbeiterjugendund Schülerpolitik, Antimilitarismus, Antifaschismus sowie eine "Positions"-Abokampagne betrifft. Nachdem die SDAJ 2001 vier regionale Pfingstcamps ausgerichtet hatte, organisierte sie im Berichtsjahr wieder ein zentrales Camp, das vom 17. bis 20 Mai in Stadthagen/Niedersachsen durchgeführt wurde. Das Camp, das unter dem Motto "If the kids are united..." stand, besuchten ca. 300 Jugendliche. Über den Konflikt zwischen Israel und Palästina wurde ebenso disku32 Siehe dazu das Kapitel 3.7. Der "Rote Tisch Ostthüringen" nennt sich auch "Roter Tisch in Ostthüringen". 59 tiert wie über die Bildungspolitik, die Situation Jugendlicher in der Ausbildung und ihre organisatorischen Möglichkeiten. 24 Jugendliche sollen in die SDAJ aufgenommen worden sein. Die SDAJ trat in Thüringen öffentlich kaum in Erscheinung. Sie unterstützte den 12. "Antirassistischen/Antifaschistischen Ratschlag" am 9./10. November in Weimar, wo sie ein Forum durchführte. 3.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Die MLPD, deren Sitz sich in Gelsenkirchen befindet, wurde 1982 in Bochum als "politische Vorhutorganisation der Arbeiterklasse" gegründet. In ihrem Parteiprogramm bekennt sie sich zum Sozialismus und zur Diktatur des Proletariats: "Erst durch den Sturz der kapitalistischen Herrschaft und den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung werden alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung der werktätigen Massen abgeschafft." Die Ideologie der MLPD gründet auf den Lehren von MARX, ENGELS, LENIN, STALIN und MAO TSETUNG und deren schöpferische Anwendung auf die aktuelle Situation. Im linksextremistischen Lager ist die MLPD angesichts ihres sektiererischen Auftretens isoliert. Bundesweit zählt die MLPD schätzungsweise weniger als 2.000 Mitglieder. Etwa 50 Thüringer gehören dem Landesverband Elbe-Saale (Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen) an. Auch der Jugendverband "REBELL" und die Kinderorganisation "ROTFÜCHSE", die Nebenorganisationen der Partei darstellen, sind in Thüringen vertreten. Organisatorische Schwerpunkte der Partei stellen im Freistaat die Städte Eisenach und Sonneberg dar. Die Zeitschrift "Rote Fahne", die wöchentlich erscheint, bildet das Zentralorgan der Partei. Die MLPD feiert den 20. Jahrestag ihrer Gründung Am 18. Juni feierte die MLPD im Gelsenkirchener Arbeiterbildungszentrum den 20. Jahrestag ihrer Gründung. Wie die "Rote Fahne" berichtete, sollen an der Veranstaltung 250 Personen teilgenommen haben. In einer Festrede des Parteivorsitzenden Stefan ENGEL und in einer ergänzenden Presseerklärung der MLPD wurde die Besonderheit der Partei hervorgehoben. Deren Gründung im Jahre 1982 sei nicht nur eine Reaktion auf die bürgerlich-revisionistische Entartung der KPD, sondern auch auf den revisionistischen Kurs der KPdSU nach dem XX. Parteitag 1956, die damalige Krise der marxistisch-leninistischen Gruppen sowie den Verrat der SED-Führung am Sozialismus in der DDR gewesen. Die Spitzen der SED hätten nicht die Herrschaft der Arbeiterklasse und eine breite Demokratie für die Bevölkerung, sondern eine kapitalistische Bürokratenherrschaft errichtet. Seit ihrer Gründung habe die MLPD ihren Einfluss kontinuierlich steigern können. Heute stelle sie die einzige Partei in Deutschland dar, die eine systematische politische Arbeit mit Betriebsgruppen in den wichtigsten Großbetrieben durchführe. Die MLPD organisierte drei Veranstaltungen, um des 10. Todestags von Willi DICKHUT - ihres Mitbegründers und theoretischen Vordenkers - zu gedenken. Sie bereitete eine Großveranstaltung am 9. Mai in Wuppertal vor, führte in Gelsenkirchen am 11./12. Mai ein Seminar durch, und eröffnete am 9. Mai im Haus der Partei in Gelsenkirchen ein Willi-DICKHUTMuseum. An diesen Veranstaltungen sollen insgesamt 3.000 Personen teilgenommen haben. Einen Schwerpunkt der Aktivitäten der MLPD stellte in diesem Jahr die Landtagswahl am 21. April in Sachsen-Anhalt dar. Auf die Landesliste der Partei entfielen 2.620 Zweitstimmen, was einem Anteil von 0,2 % entspricht. Die Direktkandidaten gewannen insgesamt 795 Stimmen. 60 Die aufwändig geführte Wahlkampagne und der frühzeitige Beginn der Wahlkampfvorbereitungen - in deren Verlauf Wählerinitiativen gegründet wurden - diente zugleich dazu, die MLPD in diesem Bundesland aufzubauen. An einigen Orten wurden Ortsverbände der MLPD und ihrer Jugendorganisation gegründet. Die Partei sei jetzt in 20 der 23 Städte SachsenAnhalts mit mehr als 20.000 Einwohnern vertreten.33 Aus Anlass des Besuchs des Präsidenten der USA, George W. BUSH, in Berlin rief die MLPD bundesweit für den 22. Mai zu Kundgebungen, Demonstrationen und Aktionen auf. In Eisenach stand die Kundgebung unter dem Motto: "Aktiver Widerstand gegen Bush's New War". Nachdem eine kurze Rede gegen die "Kriegspolitik" der USA gehalten worden war, verteilten Mitglieder der MLPD Informationsbroschüren der Partei. In der Eisenacher Bevölkerung fand die Veranstaltung nur wenig Resonanz. Darüber hinaus trat die Partei in Thüringen öffentlich kaum in Erscheinung. Im thüringischen Truckenthal/Landkreis Sonneberg erwarb der Gelsenkirchener "Vermögensverwaltungsverein Koststraße 8 e.V." ein Grundstück, das in der DDR als Pionierlager genutzt und mit Gemeinschaftsgebäuden, Blockhütten sowie diversen Freizeiteinrichtungen bebaut worden ist. Der Verein, dessen Vorsitzender ENGEL ist, verwaltet das Vermögen der MLPD. Die derzeit ungenutzte und reparaturbedürftige Immobilie soll zu einem Bildungs-, Freizeitund Jugendzentrum umgebaut werden. Die MLPD strebt einen Mitgliederzuwachs an Anlässlich der Neugestaltung des MLPD-Zentralorgans "Rote Fahne" ging ENGEL im November in diesem Blatt unter dem Titel "Die Parteiarbeit der MLPD segelt in einem günstigen Wind" auf die Entwicklung seiner Partei ein. Die MLPD, die sich selbst als die echte sozialistische Alternative in Deutschland betrachtet, und ihre Jugendorganisation "REBELL" hätten sich positiv entwickelt und ihre Mitgliederzahlen deutlich erhöht. Der Zuwachs liege etwa doppelt bis dreifach so hoch wie in den letzten Jahren und betrage bei der MLPD 14 %. Zum VII. Parteitag strebe die MLPD an, die Anzahl ihrer Mitglieder gegenüber dem letzten Parteitag um 25 % zu steigern. Das Haupthindernis für die Jugendarbeit der MLPD sei die "Wirkung des kleinbürgerlichen Antiautoritarismus unter der Masse der Jugendlichen". Dieser würde von den Herrschenden gezielt eingesetzt, "um einen nachhaltigen Aufschwung der Jugendbewegung und ihre Zuwendung zum Marxismus-Leninismus zu unterminieren". 3.5 "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD/Ost) Von ehemaligen Mitgliedern der SED im Januar 1990 in Berlin "wiedergegründet", knüpft die KPD/Ost bewusst an die 1919 gegründete KPD der Weimarer Republik und ihre THÄLMANNsche Tradition an. Ebenso bezieht sie sich auf die SED, die infolge der erzwungenen Vereinigung von KPD und SPD 1946 in der damaligen sowjetischen Besatzungszone entstanden ist. In den auf dem 18. Parteitag im Dezember 1994 beschlossenen "Grundsätzen und Zielen" bekennt sie sich "vorbehaltlos zu den Lehren von MARX, ENGELS, LENIN und zu ihren Gründern und Führern Rosa LUXEMBURG, Karl LIEBKNECHT, Ernst THÄLMANN und Wilhelm PIECK". Sie sei "eine Partei der Arbeiterklasse und der Ausgebeuteten und Unterdrückten", die den Kapitalismus auf "revolutionär-demokratischem" Wege überwinden und letzten Endes eine sozialistische Gesellschaft errichten wolle. Sie leiste ihre Arbeit auf der Grundlage des Grundgesetzes und kämpfe "an der Seite aller demokratischen Kräfte für die vollständige Verwirklichung der im Grundgesetz verbrieften Rechte für alle Bürger". Gleich33 Zu den Bundestagswahlen siehe den Exkurs auf S. 64 61 zeitig tritt sie dafür ein, für das vereinigte Deutschland eine neue Verfassung auszuarbeiten. Das zentrale Publikationsorgan der Partei ist die monatlich erscheinende Zeitschrift "Die Rote Fahne". Bundesweit gehören der KPD/Ost schätzungsweise etwa 200 Mitglieder an, die hauptsächlich aus den neuen Bundesländern kommen. Die Landesorganisation Thüringen, die seit 1993 besteht, zählt nur wenige Mitglieder. Die KPD gründet "Kommunistischen Jugendverband Deutschlands" (KJVD) wieder34 Die Wiedergründung des "Kommunistischen Jugendverbands Deutschlands" (KJVD), die auf dem 21. Parteitag der KPD-Ost im März 2001 beschlossen worden war, stellte einen Höhepunkt der diesjährigen Aktivitäten der Partei dar. Die Hauptaufgabe und das Hauptziel des Verbands sei es, wurde auf dem Gründungskongress am 27. April in Berlin betont, "die politische Macht durch die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten auf revolutionär-demokratischer Grundlage" zu erobern. Als weitere Ziele wurden die Überführung des Privateigentums in Volkseigentum sowie der Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit genannt. Der KJVD bekenne sich zum Marxismus-Leninismus, hob der Vorsitzende der KPD/Ost, Werner SCHLEESE, in einer Rede hervor, und betrachte die DDR als das Beste und Wirksamste, was das deutsche Proletariat hervorgebracht habe. Der Verband sei sowohl die Jugendorganisation als auch die Kampfreserve der KPD und solle sich für eine "linke Einheitsfront" der jungen Menschen engagieren. Vom 10. bis 12. Mai fand in Porstendorf bei Jena das 1. Verbandstreffen des wiedergegründeten KJVD und zugleich das "IV. Treffen der Jugend" statt, die als "voller Erfolg" gewertet wurden. Die Strukturen des Verbands seien gefestigt und der KJVD-Landesverband Thüringen konstituiert worden. An der Versammlung soll neben KJVD-Mitgliedern aus Thüringen, Sachsen und Niedersachsen auch Werner SCHLEESE teilgenommen haben. Die KPD strebt Aktionseinheit mit der DKP an In einem offenen Brief, den Werner SCHLEESE am 6. Februar an den Vorsitzenden und den Parteivorstand der DKP richtete, warb er dafür, zwischen den beiden Parteien eine Verständigung, Zusammenarbeit und Aktionseinheit anzustreben. Insbesondere im Hinblick auf die bevorstehenden Bundestagswahlen sei es nötig, gemeinsam zu handeln. In politischen Grundforderungen wie der sofortigen Abkehr von der Kriegspolitik der USA, der Abwehr neofaschistischer Umtriebe und dem Kampf gegen die Einschränkung der Volksfreiheiten bestehe zwischen der KPD/Ost und der DKP Übereinstimmung. Bereits in den Jahren 2000 und 2001 hatte die KPD mehrmals Briefe an den Parteivorstand der DKP gerichtet, um eine Aktionseinheit mit dieser Partei herzustellen. Von 1990 bis 1996 hatte es zwischen beiden Parteien einen inhaltlichen Dialog, ab 1996 jedoch eine strikte Trennung gegeben. Die KPD beteiligte sich am 9. Februar in Brüssel an einer "Konferenz europäischer Kommunisten und Arbeiterparteien für den Kampf gegen die imperialistische Globalisierung und die Verteidigung des sozialistischen Korea", auf der führende Vertreter kommunistischer und Arbeiterparteien über "die imperialistische Bedrohung der ganzen Menschheit durch die monopolistische Globalisierung" und "die kriegerischen militärischen Aggressionen unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus" diskutierten. In mehreren Beschlüssen 34 Ein Kommunistischer Jugendverband Deutschlands (KJVD) bestand bereits von 1925 bis 1933. Er ging aus der "Kommunistischen Jugend Deutschlands" hervor und wurde 1933 von den Nationalsozialisten verboten. 62 wurde der Wille bekräftigt, alle antiimperialistischen Kräfte auf der Welt solidarisch zu unterstützen und sich nicht nur auf Protestresolutionen und Solidaritätserklärungen zu beschränken. In Thüringen trat die KPD öffentlich kaum in Erscheinung. Wie in den vergangenen Jahren führte sie am 18. August im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald eine Gedenkveranstaltung durch, um an die Ermordung von Ernst THÄLMANN zu erinnern. Am 28. September veranstaltete die Landesorganisation Thüringen in Viernau das 7. Leserforum des KPDZentralorgans "Die Rote Fahne", an dem auch der stellvertretende KPD-Vorsitzende und Chefredakteur der Zeitung, Hans WAUER, teilnahm. Im Mittelpunkt des Forums standen u. a. die Bundestagswahlen, die Situation im Nahen Osten sowie "die Haltung der BRD-Regierung zum Krieg". Anlässlich des "Tages der Grenztruppen der DDR" lud die Landesorganisation der Partei zu einer Kranzniederlegung auf dem Erfurter Hauptfriedhof ein. 3.6 Exkurs: Bundestagswahlen 2002 DKP Die DKP, die sich 1998 erfolglos an den Bundestagswahlen beteiligt hatte, stellte in fünf alten Bundesländern und in Berlin ausschließlich Direktkandidaten auf. Unter ihnen befanden sich der Vorsitzende der DKP, Heinz STEHR, sowie weitere Spitzenfunktionäre der Partei bzw. der ihr nahe stehenden SDAJ. Die Kandidaten der DKP erhielten 3.953 Erststimmen, was bundesweit einem Stimmenanteil von weniger als 0,1 % entspricht. In den Wahlkreisen, in denen sie sich um ein Mandat bewarben, errangen sie zwischen 0,1 und 0,3 % der Stimmen. KPD Nachdem sich die KPD 1998 nicht an den Bundestagswahlen beteiligt hatte, trat sie in diesem Jahr allein in Berlin mit einer Landesliste und einem Direktkandidaten zu den Wahlen an. Für die Landesliste wurden 1.624 Zweitstimmen (0,1 %), für den Direktkandidaten 687 Erststimmen abgegeben. In Thüringen wurde die Partei zu den Wahlen nicht zugelassen, da sie die notwendige Anzahl von Unterstützungsunterschriften nicht hatte sammeln können. In verschiedenen Städten hatte die Thüringer KPD seit Ende Mai Informationsstände durchgeführt, um ihre Ziele zu propagieren. Die Parteigliederungen in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen hatten den Wahlkampf der Landesorganisation Thüringen unterstützt. MLPD Die MLPD hatte sich 1998 an den Bundestagswahlen und im Berichtsjahr an den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt beteiligt, jedoch nur eine geringe Anzahl von Stimmen auf sich vereinen können. An den Bundestagswahlen nahm sie 2002 nicht teil, weil es ihren eigenen Erklärungen zufolge darauf ankomme, die "Kampffähigkeit der Massen" zu entwickeln. Eine Wahlbeteiligung hätte nach Überzeugung der Parteiführung von dieser zentralen Aufgabe abgelenkt. Im Juli und August hatte sie zum aktiven Wahlboykott aufgerufen, da ihrer Meinung nach keine der bei den Bundestagswahlen kandidierenden Parteien eine wählbare Alternative darstelle. Gegen die herrschenden Verhältnisse und den "breit inszenierten Wahlbetrug" könne wirksamer protestiert werden, wenn der Wahlzettel bewusst ungültig gemacht würde. 63 3.7 "Roter Tisch Ostthüringen" Der "Rote Tisch Ostthüringen" stellt einen Zusammenschluss von Mitgliedern verschiedener Parteien, Vereinigungen und einzelnen Personen dar. In ihm sind die DKP, SDAJ, KPD, MLPD und die KPF der PDS vertreten. In einer Selbstdarstellung, die er im Jahr 2001 auf seiner damals noch vorhandenen Website verbreitete, bekannte er sich zu dem Ziel, den Kapitalismus/Imperialismus abzuschaffen und eine klassenlose, kommunistische Gesellschaft zu formen, die "frei von Ausbeutung und Unterdrückung jeglicher Art" ist. Da es Deutschland einer starken Organisation ermangele, die diese Ideen in die Tat umsetzen könne, sehe er seine Zielsetzung darin, "eine solche...aufbauen zu helfen". Zu Anfang müsse es gelingen, "eine gemeinsame Praxis der unterschiedlichen...linken Gruppen und Einzelpersonen" herzustellen. Der "Rote Tisch Ostthüringen" tritt für Aktionseinheiten ein, die zum Beispiel den Antifaschismus und Antirassismus, den Kampf gegen den imperialistischen Krieg und staatliche Repression betreffen, um die Zersplitterung der linken Szene zu überwinden. Aktivitäten des "Roten Tischs Ostthüringen" wurden im Jahr 2002 öffentlich kaum wahrgenommen. 3.8 "Rote Hilfe e. V." (RH) Die "Rote Hilfe e. V." versteht sich als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation". Sie organisiere "die Solidarität für alle, unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Weltanschauung, die in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden". Darüber hinaus gelte die Solidarität "den von der Reaktion politisch Verfolgten in allen Ländern der Erde". Die Organisation gliedert sich bundesweit in etwa 36 Ortsbzw. Regionalgruppen. In Thüringen existieren in Erfurt eine Ortsgruppe und in Südthüringen eine Regionalgruppe, deren Sitz sich in Zella-Mehlis befindet. Darüber hinaus trat auch in Jena eine Ortsgruppe in Erscheinung. Bundesweit gehörten der "Roten Hilfe" 2002 mehr als 4.300 Mitglieder an. Vierteljährlich erscheint die Publikation "Die Rote Hilfe" mit einer Auflage in Höhe von 5.000 Exemplaren. Im Juni 2002 fand in Thüringen die Fünfte Bundesdelegiertenkonferenz der "Roten Hilfe" statt, auf der u. a. ein neuer Bundesvorstand gewählt und mehrere Satzungsänderungen beschlossen wurden. 4. Autonome 4.1 Allgemeines Die ersten autonomen Gruppen bildeten sich in der Bundesrepublik Ende der siebziger Jahre heraus. Heute agieren Autonome in fast allen größeren Städten, insbesondere in Ballungsgebieten wie Berlin oder dem Rhein-Main-Gebiet. Bundesweit beläuft sich die Anzahl der gewaltbereiten Autonomen auf etwa 5.000. Die Autonomen erheben den Anspruch, nach eigenen Gesetzen zu leben. Sie verfolgen das Ziel, ein selbstbestimmtes Leben ohne fremde Vorgaben, Anordnungen und Gesetze zu füh64 ren. Staatliche und gesellschaftliche Zwänge lehnen sie ab. "Keine Macht für niemand!" lautet ihre paradoxe Devise. Ihre individuelle Befindlichkeit mündet in eine generelle AntiHaltung. Fest umrissene ideologische Vorstellungen haben die Autonomen daher nicht. Ihre Ansichten setzten sich aus anarchistischen Elementen ebenso zusammen wie aus nihilistischen, sozialrevolutionären oder marxistischen Versatzstücken. Autonome wollen alles, was sie zu hemmen oder einzuengen scheint, zerschlagen. Aufgrund ihres ausgeprägten Individualismus verlangen sie nicht nach in sich geschlossenen, theorielastigen Konzeptionen zur Veränderung der Gesellschaft. Verschiedene Schwerpunktthemen, deren Intensität und Bedeutung schwanken, bilden für die Diskussionen und Aktionen der autonomen Szene die Grundlagen: * Antifaschismus, * Antirassismus, * Dritte Welt, * Neoliberalismus und Globalisierung, * "Häuserkampf"/Umstrukturierung von Wohnvierteln, * Widerstand gegen das Ausländerund Asylrecht, * Anti-Atomkraft-Bewegung, insbesondere Castor-Transporte, * Proteste gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Mit ihren Themen setzen sich die Autonomen auf friedliche oder gewalttätige Art und Weise auseinander. Ihre Aktionen schließen einerseits Diskussionen, Vortragsveranstaltungen und Demonstrationen, andererseits Straßenkrawalle, Sachbeschädigungen, Brandund Sprengstoffanschläge ein. Gewalt gegen Personen wenden Autonome vor allem bei Protestaktionen an, die sich gegen Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene richten. Hier suchen Autonome die direkte Konfrontation mit dem politischen Gegner bzw. mit den Einsatzkräften der Polizei. Sachbeschädigungen, die zum Teil ein erhebliches Ausmaß erreichen, und Körperverletzungen, die oft auch Polizeibeamte treffen, sind die Folge. Fest strukturierte, auf Dauer angelegte und übergreifende Organisationsformen widersprechen dem Grundverständnis der Autonomen. Sie handeln meist in kleinen, unverbindlichen, lokal begrenzten, dezentralen Personenzusammenschlüssen. Da die Wirkungsmöglichkeiten solcher Gruppen allein schon wegen ihres niedrigen Organisationsstands begrenzt sind, unternahmen die Autonomen entgegen ihrem eigenen Grundverständnis Versuche, übergreifende Organisationsformen zu finden. Integrative Möglichkeiten eröffnet ihnen vor allem das Aktionsthema "Antifaschismus". Das Verständnis, das Linksextremisten vom Antifaschismus haben, reduziert sich nicht auf die gegenwärtig aktuellen Traditionslinien von Nationalsozialismus und Faschismus. Es schließt die "Auseinandersetzung mit dem imperialistischen System" ein, das ihrer Ansicht nach das Dritte Reich in modifizierter Form fortsetzt. Nachdem die seit 1992 bestehende "Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation" (AA/BO) im April 2001 aufgelöst worden ist, ist der bisher bedeutendste Ansatz fehlgeschlagen, autonome Strukturen bundesweit zu organisieren. Auch der daraufhin von maßgeblichen autonomen Gruppen unternommene Versuch, die Krise der AntifaBewegung gemeinsam zu diskutieren, um sie inhaltlich und organisatorisch zu erneuern, blieb bisher ohne Erfolg. Ebenso wenig konnte die bundesweit verbreitete Schrift "Phase 2. zeitschrift gegen die realität", die ein Diskussionsforum der Antifa-Bewegung darstellen soll, im Jahr 2002 dazu beitragen, die Isolierung, die Begrenztheit des Aktionsradius und die zahlenmäßige Schwäche der Szene zu überwinden. Das Ziel, die autonome Szene bundesweit zusammenzuführen, wurde nicht erreicht, weil es dem Selbstverständnis der Autonomen zuwiderläuft. 65 Absprachen zwischen den Gruppen sind in der Regel informeller Art. Insbesondere kommunizieren sie über das Internet, mit E-Mails und Infotelefonen. Dies ermöglicht eine überregionale Vernetzung, Agitation und Mobilisierung. Herkömmliche Formen der Verständigung werden jedoch weiterhin intensiv genutzt. So erscheint bundesweit weiterhin eine Reihe von Szeneblättern, die z. T. konspirativ verbreitet werden. Durch ihre überregionale Verbreitung hat die Zeitschrift INTERIM, die vierzehntägig in Berlin erscheint, die größte Bedeutung erlangt. Als Anlaufpunkte für die Szene und Interessenten sind so genannte Infoläden von besonderer Bedeutung. Sie bieten Kontaktmöglichkeiten, dienen zugleich als Treffpunkt und vertreiben linksextremistische Schriften und Flugblätter. Mit Plakaten und Aushängen informieren sie über aktuelle Aktivitäten und geplante Aktionen. Literatur, die sie auslegen, und kleine Bibliotheken, die sie eingerichtet haben, können von allen genutzt werden. In den Infoläden finden Interessierte Literatur zu Themen, die die Szene betreffen. Sie verfügen auch über Räume, um Aktionen und Demonstrationen vorzubereiten und um sich mit Anhängern des linksextremistischen Spektrums auszutauschen. Faxgeräte, Computer oder Kopierer, die sich in den Infoläden befinden, stehen den Mitgliedern der Szene zur Verfügung. 4.2 Bundesweite Aktionen Protestaktionen gegen die 38. Konferenz für Sicherheitspolitik in München Aus Anlass der 38. Konferenz für Sicherheitspolitik, die vom 1. bis 3. Februar in München stattfand, kam es vereinzelt zu Protestaktionen. Sie waren von dem "Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz" vorbereitet und auch von Gruppen aus dem autonomen Spektrum unterstützt worden. Der Aufruf stand unter dem Motto "Von Genua nach München - Stoppt die Kriegspolitik der NATO! Gegen das Treffen der Weltkriegselite!" Am 1. Februar versammelten sich etwa 1.500 Personen auf dem Marienplatz. Nachdem sie der Aufforderung, die verbotene Kundgebung aufzulösen, nicht nachgekommen waren, räumten mehrere hundert Polizeibeamte den Platz. Am 2. Februar fand eine Demonstration auf demselben Platz statt, an der sich annähernd 1.000 Personen beteiligten. Als der Platz geräumt wurde, wuchs die Anzahl der Teilnehmer auf 6.000 bis 7.000 Personen an. Sie formierten sich zu einem Aufzug, der von Sicherheitskräften in Höhe des Isartorplatzes angehalten und aufgelöst wurde. Als etwa 800 Personen versuchten, die Demonstration fortzusetzen, wurden auch Einsatzfahrzeuge der Polizei beschädigt. Die Polizei nahm 747 Personen in Gewahrsam; 66 nahm sie fest. In Thüringen hatte die im Netzwerk "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG) organisierte Erfurter Gruppe "yafago" unter dem Motto "Kampf dem herrschenden Frieden" zu Protestaktionen aufgerufen. Der Aufruf wurde u. a. durch die "Autonome Antifa Südharz", die "Antifaschistische Jugendgruppe Nordhausen" sowie das "Hausplenum des besetzten Topfund Söhne-Geländes in Erfurt", die ebenfalls der ATAG angehören, unterstützt. Die NATO könne, meinten die Verfasser des Aufrufs, nicht ohne Reflexion der machtpolitischen Interessen Deutschlands kritisiert werden. Diese stimmten durchaus nicht immer mit denen der NATO überein. Nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen sei, strebe man innerhalb der Europäischen Union danach, eine eigene Militärstruktur zu gestalten. Die Bundesrepublik Deutschland wolle in dieser Hinsicht - so wird unterstellt - eine Führungsrolle übernehmen. Da die USA ein militärisches Übergewicht besitze, bändige die NATO diese Bestrebungen. Folglich müsse jede Kritik, die sich gegen die weltpolitische und machtstrate66 gische Rolle der NATO richte, eine klare Absage einschließen, dass Europa, besonders Deutschland, aus der NATO ausschere. Ebenso verwiesen die Verfasser auf das 14. Weltwirtschaftsforum, das gleichzeitig in New York stattfand. Dort würden sich 1.000 selbst ernannte "Global Leaders" treffen, um an der kulturellen Hegemonie der kapitalistischen Ideologie zu arbeiten. Ihnen müsse entgegengehalten werden, dass der Kapitalismus keineswegs gewonnen habe, sondern lediglich übrig geblieben sei. Eine auf Emanzipation bedachte Linke, urteilte die Gruppe "yafago", könne in München und New York gegen Kapitalismus und (Neo)liberalismus demonstrieren. Sie solle dabei deutlich machen, dass das Problem nicht 1.000 reiche Leute darstellten, sondern in einem Prinzip liegt, das die Gesellschaft im Ganzen beherrsche. Es gehe um die Aufhebung der Verhältnisse. Es gehe darum, das Prinzip des Kapitalismus ein für alle mal zu durchbrechen und auf Kapitalismus und Krieg weltweit mit einer sozialen Revolution zu antworten. "Revolutionärer 1. Mai" in Berlin Wie in den Jahren zuvor kam es auch 2002 in Berlin im Rahmen des "Revolutionären 1. Mai" zu schweren Gewaltausbrüchen. Die Ausschreitungen begannen bereits am Abend des 30. April. Gewalttäter schlugen die Scheiben eines Supermarkts ein und plünderten dessen Auslagen, nachdem ein von der militanten "Antifaschistischen Aktion Berlin" (AAB) veranstaltetes Punk-Konzert auf dem Oranienplatz (Kreuzberg) stattgefunden hatte. Einsatzkräfte der Feuerwehr und der Polizei, die dagegen einschritten, wurden mit Steinen und Feuerwerkskörpern angegriffen. Im Mauerpark (Prenzlauer Berg), wo sich bis zu 10.000 Personen versammelt hatten, wurden Polizeibeamte von Randalierern mit Flaschen, Steinen und pyrotechnischen Gegenständen beworfen. Teilweise setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um weitere schwere Übergriffe zu unterbinden. Am 1. Mai fanden erstmals drei "revolutionäre" Demonstrationen statt, die im Wesentlichen ohne nennenswerte Zwischenfälle verliefen. Unter den ca. 1.000 Teilnehmern der "13:00 UhrDemo", die von maoistisch und internationalistisch orientierten Gruppen organisiert worden war, befanden sich auch zahlreiche ausländische Linksextremisten. Anschließend schlossen sich Teilnehmer dieser Demonstration der Kundgebung eines "Linksradikalen und Autonomen 1. Mai Bündnisses" an. An diesem Aufzug beteiligten sich etwa 4.000 Personen, von denen sich an die 300 vermummt hatten. Am Abend fand schließlich in den Bezirken Mitte und Kreuzberg eine Demonstration statt, die von einem Bündnis linker Gruppen - u. a. von der "Antifaschistischen Aktion Berlin" - getragen wurde. Unter den mehr als 5.500 Teilnehmern befanden sich etwa 1.500 gewaltbereite Personen. Ein Transparent trug die Parole "Macht verrückt, was euch verrückt macht! Kapitalismus abschaffen! Deutschland auflösen!" Im Verlauf des Aufmarschs begannen Personen, sich zu vermummen und Steine aufzunehmen. Da es gleichzeitig im Bereich Oranienplatz/Mariannenplatz zu heftigen Ausschreitungen kam, wurde der Aufzug nach Aufforderung der Polizei von den Veranstaltern am Michaelkirchplatz vorzeitig beendet. So konnte verhindert werden, dass sich die Störerpotenziale zusammenschlossen. Die Ausschreitungen im Bereich Mariannenplatz/Oranienplatz und in angrenzenden Straßen dauerten bis gegen Mitternacht an. Die überwiegend jugendlichen Gewalttäter bewarfen Polizeibeamte mit Steinen und Flaschen, errichteten Barrikaden und setzten Autos in Brand. Der am Vorabend geplünderte Supermarkt wurde abermals ausgeraubt. 67 Für den "Revolutionären 1. Mai" in Berlin war auch in der linksextremistischen Szene Thüringens geworben worden. Mit einer Erklärung, die im April in der Erfurter Szenezeitschrift "Spunk" veröffentlicht worden war, hatte sich das Netzwerk "Autonome Thüringer AntifaGruppen" (ATAG) gegen einen "Palästina-Solidaritätsblock" auf der "18.00 Uhr-Demo" ausgesprochen und gleichzeitig die Teilnahme von ATAG-Gruppen angekündigt.35 Zu weiteren gewalttätigen Protestaktionen von Linksextremisten kam es am 1. Mai im Zusammenhang mit Aufmärschen von Rechtsextremisten u. a. in Göttingen, Fürth, Ludwigshafen, Mannheim und Frankfurt am Main. Linksextremisten protestieren gegen US-Präsident BUSH am 21./22. Mai in Berlin Am 21. und 22. Mai fanden in Berlin Großdemonstrationen eines Bündnisses "Achse des Friedens" statt, die sich gegen den Besuch von George W. BUSH richteten. An ihnen beteiligten sich auch Angehörige der linksextremistischen Szene. Am 21. Mai verlief die Demonstration, der sich etwa 17.000 Personen angeschlossen hatten, friedlich. Unter den Teilnehmern befanden sich auch mehrere hundert Angehörige des autonomen Spektrums. Am 22. Mai kam es jedoch zu Ausschreitungen, nachdem eine friedliche Demonstration - an der sich ca. 20.000 Personen beteiligten - stattgefunden hatte. Aus einer Gruppe von mehreren hundert Personen heraus, die sich zum Teil vermummt hatten, wurden Polizeibeamte mit Flaschen beworfen. Ebenso wurden Flaggen der USA verbrannt. Im Bereich des Lustgartens zündeten Demonstranten Feuer an und bewarfen Polizisten erneut mit Flaschen sowie Steinen. Am Alexanderplatz wurden Scheiben von mehreren Bankfilialen und Kaufhäusern eingeworfen. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein, sprach Platzverweise aus und nahm 58 Personen wegen schweren Landfriedensbruchs vorläufig fest. 44 Polizeibeamte wurden verletzt. Am 22. Mai fanden auch in zahlreichen anderen Städten der Bundesrepublik Protestaktionen statt. In Thüringen hatte die MLPD eine Kundgebung in Eisenach angemeldet. Gegen den Besuch des Präsidenten der USA hatten Linksextremisten unterschiedlicher Ausrichtung agitiert. Sie beabsichtigten, dem "Warlord" einen "gebührenden Empfang" zu bereiten. Teile des Berliner autonomen Spektrums sahen in den Protesten einen zweiten Höhepunkt nach den Aktionen am "Revolutionären 1. Mai" in Berlin. Autonome Gruppen bekannten sich zu einer versuchten Brandstiftung auf eine Berliner Filiale der amerikanischen Supermarktkette "Wal-Mart", wo am 16. Mai zwei funktionsfähige, unkonventionelle Sprengund Brandvorrichtungen aufgefunden wurden. Der Anschlag sollte die Proteste gegen den Besuch des amerikanischen Präsidenten ergänzen. 5. Antirassistisches Grenzcamp in Jena Vom 12. bis 19. Juli fand in Jena das "5. Antirassistische Grenzcamp" statt, an dem Personen des linksextremistischen Spektrums - überwiegend Autonome - aus dem gesamten Bundesgebiet mitwirkten. Auch Personen und Zusammenschlüsse der hiesigen autonomen Szene beteiligten sich an dessen Vorbereitung und Durchführung. Wie bei den Grenzcamps in den Jahren zuvor stand auch 2002 die "Grenzund Flüchtlingsproblematik" im Mittelpunkt. Die 35 Siehe dazu die so genannte 2. Revolutionäre Mai-Demonstration in Thüringen am Vortag des 1. Mai in Nordhausen, S. 74 68 Initiatoren griffen dabei die "innere Grenze" in Form der Residenzpflicht und der Isolation von Flüchtlingen auf. Die Residenzpflicht schreibt Asylbewerbern vor, den Landkreis bzw. die kreisfreie Stadt nicht ohne Genehmigung zu verlassen. Im Camp in Jena hielten sich täglich bis zu 300 Personen auf, womit die Erwartungen der Initiatoren - die mit 500 bis 1.000 Teilnehmern gerechnet hatten - nicht erfüllt wurden. Im Gegensatz zu den Grenzcamps, die 1998 in Rothenburg/Sachsen bzw. 2000 in Forst/Brandenburg stattgefunden hatten, verlief die Veranstaltung in Jena ohne größere Zwischenfälle. Im Camp fanden Diskussionsund Informationsveranstaltungen, an anderen Orten Kundgebungen, Demonstrationen und Mahnwachen statt. Am 13. Juli fand in der Innenstadt von Jena eine "Begrüßungsdemonstration" statt, der sich 180 bis 200 Personen anschlossen. Am 14. Juli beteiligten sich nahe der Gemeinschaftsunterkunft in Markersdorf bei Gera etwa 200 Personen an einem "Aktionshappening", das sich gegen Rassismus und Diskriminierung von Flüchtlingen richtete. Später schlossen sich etwa 300 Personen einer Demonstration in Gera an, die vom Netzwerk "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG) ausging und unter dem Tenor "Den nationalen Konsens brechen - Antifaschistische Strukturen aufbauen - jetzt, hier und überall" angekündigt worden war. Am 15. Juli fand vor der "Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber" (ZAST) in Jena-Forst unter dem Motto "Gegen Abschiebung und soziale Ausgrenzung" eine Kundgebung statt, an der etwa 100 Personen teilnahmen. Für den 16. Juli hatten die Veranstalter eine Demonstration in Jena organisiert, die sich unter dem Tenor "Tatortbesichtigung" gegen die Firmen Carl-Zeiss Jena und Jenoptik richtete. Die 150 Teilnehmer warfen den beiden Firmen vor, Rüstungsgüter und Geräte für die Überwachung von Grenzen herzustellen. Zu einer spontanen Protestaktion kam es am 17. Juli in Jena, als die Polizei die Identität von zwei Asylbewerbern überprüfte. Etwa 50 Personen betraten die Polizeidirektion der Stadt und forderten die Freilassung der beiden Asylbewerber. Nachdem sie sich mehreren Aufforderungen, die Dienststelle zu verlassen, widersetzt hatten, wurden sie von Einsatzkräften der Polizei aus dem Gebäude gedrängt. Daraufhin kam es zu einer kurzen Straßenblockade, aus der sich spontan ein Demonstrationszug formierte, in den sich etwa 80 Personen einreihten. Am 18. Juli fanden in Jena mehrere friedliche Aktionen und eine Kundgebung statt, die u. a. die Aktivitäten und Strukturen der örtlichen rechtsextremistischen Szene thematisierten. Das Grenzcamp endete am 19. Juli. Etwa 80 bis 100 Teilnehmer reisten anschließend im Konvoi zum internationalen "Noborder-Camp" nach Strasbourg/Frankreich weiter. "Antirassistische Grenzcamps", an denen sich das autonome Spektrum beteiligt, finden in der Bundesrepublik seit 1998 jährlich statt. Nachdem für die ersten drei Camps äußere Grenzregionen in den Bundesländern Sachsen und Brandenburg ausgewählt worden waren, fand das "4. Antirassistische Grenzcamp" 2001 an einer "inneren Grenze" - am Rhein-Main-Flughafen - statt. An diesem Camp - an dem sich bis zu 800 Personen beteiligten - wirkten mehr Teilnehmer als an den anderen Camps mit, was nicht zuletzt auf die Metropole Frankfurt am Main und die dort stark vertretene Szene zurückzuführen war. Das Camp in der Nähe des RheinMain-Flughafens hatten dessen Teilnehmer und Organisatoren für sehr erfolgreich gehalten. An dieses Camp, das die "innere Grenze" thematisiert hatte, wollten die Veranstalter 2002 anknüpfen. Als Veranstaltungsort stand nicht nur Jena, sondern auch Hamburg zur Wahl. Die Entscheidung, das Camp in Jena durchzuführen, stieß in der linksextremistischen Szene auch auf starke Kritik. Die Kritiker befürchteten, dass die Flüchtlingsproblematik Themenfelder der Autonomen wie "Anti-Kapitalismus", "Antifaschismus", "Innere Sicherheit", "Krieg" und "Bundestagswahlen" in Jena in den Hintergrund drängen würde. Sie riefen daher auf, an einem zweiten Camp in Hamburg ("Land in Sicht - Ordnungswidrige Aktionstage") teilzuneh69 men. Unabhängig davon wurde ein weiteres Camp, das "Crossover Summer Camp", in Cottbus veranstaltet. Außer diesen Veranstaltungen in Jena, Hamburg und Cottbus fand ein internationales Grenzcamp in Strasbourg/Frankreich statt, das das so genannte european noborder network organisiert hatte. Die Durchführung mehrerer Camps zeigt, wie zersplittert die heterogene Grenzcampbewegung ist. Dieser Zustand ist auch darauf zurückzuführen, dass die Interessen der autonomen Gruppen und der Organisationen, die die Migranten in Deutschland vertreten, nur zum Teil übereinstimmen. 4.3 Die autonome Szene in Thüringen Das autonome Umfeld wird im Freistaat Thüringen auf bis zu 300 Personen beziffert. Davon gelten etwa 150 Autonome als gewaltbereit. Das Potenzial zeigt damit im Vergleich zum Vorjahr bzw. den Vorjahren (300 bis 350 Personen, davon 150 bis 200 gewaltbereite Autonome) erstmals wieder eine rückläufige Tendenz. Die Zahl, die Art und die Intensität der Aktivitäten, die auf die Autonomen zurückgingen, änderten sich im Wesentlichen nicht. In mehreren Fällen blieben "traditionelle" Aktionen und Aktivitäten, die seit mehreren Jahren stattfinden, jedoch aus. So kam es 2002 nicht zu Gegenaktivitäten von Linksextremisten, als das rechtsextremistische Spektrum ihres "Märtyrers" Sandro WEILKES gedachte. Seit Jahren blieben auch erstmals Aktionen aus, die sich gegen das Treffen der Burschenschaften in Eisenach richteten, obwohl die "Antifaschistische Aktion Eisenach" (AAe) im Internet dazu aufgerufen hatte. Ebenso wenig Beachtung schenkte die autonome Szene Thüringens in diesem Jahr auch dem Antifa-Workcamp, das vom 20. bis 27. Juli im Bereich der Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar veranstaltet wurde. Der "2. Revolutionären Mai-Demonstration in Thüringen", die "ein weiterer Ausdruck der kontinuierlichen Praxis des Organisationsansatzes ATAG" sein sollte, schlossen sich am 30. April in Nordhausen nicht - wie erwartet - 600, sondern lediglich 150 Personen an.36 An der "1. Revolutionären Mai-Demonstration in Thüringen" hatten sich im letzten Jahr in Erfurt immerhin 400 bis 500 Per sonen beteiligt. Die Ursachen für diese Entwicklung dürften vor allem darin zu suchen sein, dass die Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene zurückgegangen sind und es vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Nahost-Konflikts in der bundesweiten und auch Thüringer linksextremistischen Szene zu kontroversen Diskussionen um die Bewertung der politischen und militärischen Ereignisse kommt, wobei sich pro-israelische und pro-palästinensische Positionen gegenüberstehen. Einzelne Thüringer Gruppierungen distanzierten sich im Rahmen dieser Diskussionen voneinander. Die Konfrontation führte in einem Falle sogar zur Auflösung eines "antideutschen" Zusammenhangs in Erfurt. Die Irritationen der Szene dürften andauern und davon abhängen, wie sich der Nahost-Konflikt entwickelt. Regionale Schwerpunkte der Thüringer Szene bilden Erfurt und Jena. Weitere Regionen, in denen Autonome aktiv sind, stellen Eisenach, Gera, Meiningen/Suhl/Zella-Mehlis, Nordhausen und Weimar dar. Die regionalen Gruppen und Zusammenhänge der Autonomen sind fast ausschließlich in dem Netzwerk "Thüringer Autonome Antifa-Gruppen" (ATAG) organisiert. Dessen Ziel besteht darin, durch "einen gemeinsamen organisatorischen Rahmen" autonome Antifa-Strukturen zu 36 Siehe zu der Veranstaltung im Einzelnen die Darstellung im Exkurs: "Innere Sicherheit" - ein wichtiges Themenfeld der Autonomen in Thüringen 70 stärken und "alltäglich Widerstand gegen das kapitalistische System zu praktizieren". In dieser Hinsicht dürfte in dem Netzwerk die Erfurter anarchistisch-kommunistische Gruppe "yafago" eine führende Rolle spielen. Das Thüringer autonome Spektrum strebte nicht an, sich organisatorisch noch fester zu verbinden; es konsolidierte sich jedoch. Darüber hinaus unterhielt das Netzwerk Verbindungen zu der bundesweit bekannten Gruppierung "Autonome Antifa [M]" in Göttingen. Zusammen initiierten sie eine "Solitour für antifaschistische Projekte", in deren Rahmen u.a. in Erfurt und Nordhausen Konzerte stattfanden. Als Jugendgruppen der Szene sind in Erfurt die "Antifascist Youth Erfurt" (aye) und in Nordhausen die "Antifaschistische Jugendgruppe Nordhausen" (AJGN) aktiv. Zu den relevanten Szeneschriften, die in Thüringen herausgegeben werden, gehört "Vertigo - Zeitung gegen den alltäglichen Wahn" aus Erfurt. Sie erscheint seit Oktober monatlich und soll offensichtlich die Szeneschrift "Spunk", die zum letzten Mal im Mai herausgekommen ist, ersetzen. Überwiegend nutzt die Szene jedoch das Internet und E-Mail-Anschlüsse, um untereinander Kontakt zu halten, zu agitieren und für Veranstaltungen zu mobilisieren. Zusätzlich wartete die Erfurter Szene im Jahr 2002 mit der eigenen Radiosendung "LeftBeat" auf, um alle zwei Wochen über "News und Infos rund um Antifa und linke Politik" zu informieren. Die Sendung geht offensichtlich auf die Erfurter Jugendgruppe "Antifascist Youth Erfurt" zurück, die Anfang Juli ein lokales Radio "für News und Termine aus und für den antifaschistischen und antikapitalistischen Widerstand" angekündigt hatte. Die Ausstrahlung erfolgt über die Frequenz des lokalen Radiosenders "Radio F.R.E.I.". Wie autonome Gruppen in anderen Bundesländern betreibt auch die Szene in Thüringen Infoläden, die sich in den folgenden Städten befinden: * Erfurt - Infoladen "Sabotnik" * Jena - Infoladen Jena und Infoladen "Schwarzes Loch & Archiv" * Meiningen - Infoladen "Notausgang" * Weimar - Infoladen Gerberstraße 1. Der Infoladen "Sabotnik", der in das bundesweite Infoladen-Netz eingebunden ist, übt eine zentrale Funktion aus. Darüber hinaus dient der Szene seit April letzten Jahres ein Gebäude als Kontaktund Treffpunkt, das sie auf dem Betriebsgelände der ehemaligen Firma "Topf & Söhne" in Erfurt "besetzt" hält. Nach wie vor stellt der "Antifaschismus" auch für die Linksextremisten in Thüringen, insbesondere für das gewaltbereite Spektrum, das wichtigste Aktionsfeld dar. Das Verständnis, das die Linksextremisten vom Antifaschismus haben, reduziert sich jedoch nicht auf die heute aktuellen Traditionslinien von Nationalismus und Faschismus. Es schließt vielmehr die "Auseinandersetzung mit dem imperialistischen System" ein, das ihrer Ansicht nach das Dritte Reich in modifizierter Form fortsetzt. Die autonome Szene Thüringens trat in diesem Jahr durch zahlreiche, gegen die rechtsextremistische Szene gerichtete demonstrative Aktionen in Erscheinung. In vielen Fällen, in denen Parteien oder Gruppierungen aus dem rechtsextremistischen Spektrum Demonstrationen oder andere öffentliche Veranstaltungen angekündigt hatten, mobilisierten die Autonomen für Gegenveranstaltungen. Mit ihren Aktionen verfolgten sie das Ziel, den "Naziaufmarsch" zu verhindern oder wenigstens zu behindern. Ebenso strebten die Autonomen an, Protest gegen die Politik der Bundesregierung und vermeintliche gesellschaftliche Missstände zum Ausdruck zu bringen. Ihrer Ansicht nach förderten "staatlicher Rassismus" und "Kriminalisierung des antifaschistischen Kampfes" auch in der Bevölkerung die Entwicklung rechtsextremistischer Tendenzen. 71 Bei Demonstrationen konnten Ausschreitungen zwischen den beiden verfeindeten Lagern in der Regel nur durch Einsatzkräfte der Polizei verhindert werden. Bereits im Vorfeld mobilisierten die Autonomen für Blockadeaktionen, die sie zum Teil auch mit Erfolg durchsetzten konnten. Oft suchten sie auch den unmittelbaren Kontakt zum politischen Gegner, um den "Naziaufmarsch" mit allen Mitteln zu verhindern. Mitunter missachteten sie dabei bewusst Vorgaben und Auflagen der Behörden. Das autonome Spektrum wertete seine Gegenaktionen als positiv, wenn es ihm gelungen war, die Umleitung eines Aufzugs oder eine vorzeitige Beendigung der Veranstaltung zu erreichen. Eine geringe Resonanz in der Szene und mangelnde Beteiligung von Angehörigen der Szene wurden hingegen kritisch angemerkt. Die autonomen Gruppen wandten sich in Thüringen nicht nur den Themenbereichen "Antifaschismus" und "Antirassismus" zu. Sie griffen auch zunehmend die verschärften Sicherheitsgesetze und deren Umsetzung - folglich das Themenfeld "Innere Sicherheit" - auf.37 Ferner waren die Bundestagswahlen Anlass für sie, Aktivitäten zu entfalten.38 Ebenso thematisierte die autonome Szene in Thüringen die Intervention, die dem Irak von Seiten der USA bzw. der NATO drohte. Die Szene plante, sich "am Tag X" unter dem Motto "Krieg dem imperialistischen Krieg" an Protestkundgebungen zu beteiligen. 4.3.1 Exkurs: "Innere Sicherheit" - ein wichtiges Themenfeld der Autonomen in Thüringen Die "Innere Sicherheit" stellt für die autonome Szene in Thüringen ein wichtiges Themenfeld dar. Ihre Kritik richtet sich gegen die "strukturelle Gewalt" des Staats und der Gesellschaft. Der "strukturellen Gewalt" sehen die Autonomen diejenigen ausgesetzt, die durch das Raster der "kapitalistischen Verwertungslogik" fallen oder sich dem "Verwertungsprozess" entziehen. In den vergangenen Jahren betraf die Kritik insbesondere den "staatlichen Repressionsapparat", im Jahr 2002 auch die "Denunziation" aus der Bevölkerung. Die Aktivitäten der Szene zielen dahin, das "System von Zwang, Ausbeutung und Unterdrückung" zu überwinden. Die Szene ist sich darin einig, zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele Gewalt einzusetzen. Die Aktionsformen schließen öffentlichen Protest in Gestalt von Kundgebungen und Demonstrationen ebenso ein wie Sachbeschädigungen und andere Straftaten. Im Jahre 2002 wurde das Thema "Innere Sicherheit" überwiegend von den Gruppen des Netzwerks "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG) aufgegriffen. So nahmen am 30. März in Eisenach etwa 120 Personen an einer Demonstration teil, die sich gegen "Überwachungsgesellschaft und Sicherheitswahn" richtete. Die Teilnehmer, die überwiegend der autonomen Szene angehört haben dürften, trugen u.a. Transparente mit der Aufschrift "Wo wir am Leben gehindert werden - Fängt unser Widerstand an" mit sich. Nach einer Zwischenkundgebung wich der Zug von der genehmigten Route ab, woraufhin es zu Rangeleien mit den Polizeibeamten kam. Die Polizei nahm drei Demonstranten fest. Ein weiterer Demonstrant, der gegen das Vermummungsverbot verstoßen hatte, wurde während der Abschlusskundgebung vorläufig festgenommen. 37 Siehe dazu den Exkurs: "Innere Sicherheit" - ein wichtiges Themenfeld der Autonomen in Thüringen 38 Siehe dazu den Exkurs: Aktivitäten des autonomen Spektrums im Zusammenhang mit den Bundestagswahlen 72 Die Demonstration war von der in ATAG organisierten "Antifaschistischen Aktion Eisenach" (AAe) initiiert worden. In einem Aufruf, den die Gruppe im Internet verbreitete, bezog sie sich auf die Situation nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September in den USA. "Der Krieg nach außen", argumentierten die Verfasser, "findet sein innenpolitisches Pendant in der Hochrüstung staatlicher Repressionsapparate, die sämtliche Entwicklungen der letzten Jahre in den Schatten stellen." In der jetzigen Situation sei Widerstand überhaupt nur möglich, wenn an den antikapitalistischen Diskurs weiter angeknüpft werde. Er entlarve die "Innere Sicherheits"-Politik als das, was sie sei - "die Durchsetzung kapitalistischer Verwertungsinteressen". "Es wird sich zeigen", heißt es abschließend in dem Aufruf, "dass Kapitalismus angreifbar ist! Die Antwort auf Kapitalismus und Krieg heißt soziale Revolution weltweit! Eure Sicherheit kotzt uns an! Zusammen kämpfen - Gegen Polizeistaat und Überwachungsgesellschaft!! Gegen Deutschland!" Am 30. April fand in Nordhausen die "2. Revolutionäre 'Mai'-Demonstration in Thüringen" statt, die unter dem Motto "Euer System ist Gewalt, eure Gewalt hat System - Es gibt keine Alternative zur sozialen Revolution" stand. Etwa 150 Teilnehmer, die überwiegend dem autonomen Spektrum angehörten, zogen zum Teil szenetypisch vermummt durch die Innenstadt. Sie führten Transparente mit sich, die u.a. mit den Aufschriften "Nazis - Staat - Kapital - Da wo wir am Leben gehindert werden, fängt unser Widerstand an! Autonome Thüringer Antifa Gruppen", "Es gibt keine Alternative zur sozialen Revolution. Euer System ist Gewalt! Eure Gewalt hat System!", "Eine Initiative der ATAG - Kampf dem faschistischen NSAW - Nazistrukturen zerschlagen - get organized - zusammen gehört uns die Zukunft" und "Mach 'ne Faust aus deiner Hand - Kampf dem nationalen Widerstand" versehen waren. Die Demonstranten traten der Polizei gegenüber äußerst aggressiv und provozierend auf. Vereinzelt kam es zwischen ihnen und Polizeibeamten zu Rangeleien, woraufhin vier Teilnehmer der Veranstaltung vorläufig festgenommen wurden. Die Kundgebung war von Angehörigen und Gruppen des Netzwerkes ATAG initiiert worden. In einem Aufruf wendete sich die "Autonome Antifa Südharz", die in diesem Netzwerk organisiert ist, insbesondere gegen die "gesellschaftliche strukturelle" Gewalt. "Während der Kapitalismus immer noch machen kann, was er muss und Deutschland immer noch nicht abgeschaltet ist", meinte die Gruppe, "bleibt es auch weiterhin die Aufgabe der radikalen Linken, diese Verhältnisse zu kritisieren und anzugreifen. In die Schussbahn der Kritik gehören nicht nur die offensichtlichsten Symptome, sondern die immanenten Bestandteile des Systems. Die Durchsetzbarkeit der kapitalistischen Verwertungslogik bedarf explizit gewaltförmiger Prozesse und Institutionen." Die Verfasser erachten es für notwendig, an der Gewalt als politischem Mittel festzuhalten: "Das Recht auf physische Gewaltsamkeit haben Einzelpersonen oder Personengruppen nur soweit, wie es der Staat ihnen zuspricht. Die Gewaltsamkeit ist solange legal, wie die staatliche Ordnung sie toleriert, genehmigt oder vorschreibt. Eine Sitzblockade etwa kann so zu einer illegalen Gewaltanwendung denunziert werden, wobei der Schlagstockeinsatz, um eine Auflösung durchzusetzen, wiederum legal ist. Ebenso kann einem die Anwendung der organisierten Ausbildung zum Töten bei der BW39 zu höchsten Auszeichnungen verhelfen. Klammheimliche Freude...kann dagegen schon als terroristischer Akt gewertet werden. Diese Differenzierung hat System. Wird sich dieser nicht entzogen, verkommt jegliche Kritik an bestehenden Verhältnissen zu einer autoritären Rebellion und es bleibt nicht mehr als das Bekenntnis zur gewaltförmigen Gewalt Staat übrig." Den Schusswaffeneinsatz eines Polizeibeamten in Nordhausen, bei dem am 28. Juli ein Täter tödlich verletzt wurde, nahmen Angehörige des Netzwerks ATAG erneut zum Anlass, gegen 39 BW bedeutet Bundeswehr. 73 die "strukturelle Gewalt" des Staats und der Gesellschaft zu agitieren. Im konkreten Fall wandten sie sich gegen Polizeigewalt und "Denunziation" aus der Bevölkerung zur Sicherung von Eigentum. In einem Aufruf der Gruppe "yafago", sich unter dem Motto "Stoppt Polizeigewalt - gegen Sicherheitswahn und Überwachungsgesellschaft" am 9. August in Erfurt an einer Demonstration zu beteiligen, hieß es u.a.: "Wer Eigentum mißachtet (so dachten es sich wahrscheinlich auch die Denunzianten, die die Polizei anriefen) wird zum Freiwild für Polizei-Beamte. Das sich Menschen in solchen Situationen dagegen zur Wehr setzen wollen ist mehr als verständlich!!" Dem Aufruf folgten etwa 150 Personen, die überwiegend dem autonomen und AntifaSpektrum entstammten. Sie zogen durch die Innenstadt vor das Thüringer Innenministerium, da nach Ansicht der Initiatoren des Aufmarschs die "Mitverantwortlichen" für den Vorfall in Nordhausen dort zu finden seien. Ihre Forderungen lauteten: "Rückhaltlose Aufklärung des Mordes in Nordhausen! Keine Polizeibegleitung in Demonstrationsnähe! Auflösung der Beweissicherungsund Festnahmeeinheit! Gegen Sicherheitswahn und Überwachungsgesellschaft!" Während der Demonstration soll eine Rednerin der Gruppe "yafago" einem Presseartikel zufolge auf die Verstrickung von Polizeigewalt und Kapitalismus aufmerksam gemacht und sich wie folgt geäußert haben: "Wenn der Verdacht nach einem Diebstahl letzten Endes den Tod eines Menschen nach sich zieht, dann wird deutlich, daß die Funktion des staatlichen Gewaltmonopols es immer ist, mit dem Eigentum einen Grundpfeiler der kapitalistischen Gesellschaft zu erhalten. Wer dagegen Widerstand leistet muss immer mit einer gewalttätigen Reaktion des Staates rechnen." Der Infoladen Jena, der ebenfalls dem Netzwerk ATAG angehört, griff den Vorfall auf, um einen öffentlichen Diskussionsprozess gegen die momentanen Verhältnisse einzufordern. Für den 30. Juli kündigte er eine öffentliche Versammlung auf dem Marktplatz in Jena an, zu der er u. a. mit den Worten aufrief: "Schreckliche Zeiten in denen ein Mensch, dessen Verbrechen es war arm zu sein, erschosen wird. Nach den gesellschaftlichen Ursachen die es nötig machen, daß Menschen "klauen" gehen wird nicht gefragt. Stattdessen wird gegen sie gehetzt." Mit einem Anschlag auf das Gebäude der Polizeidirektion Erfurt, das in der Nacht zum 8. August mit roter Farbe bespritzt wurde, brachten Unbekannte ihre Haltung zu den bestehenden Verhältnissen unmissverständlich zum Ausdruck. In einem Bekennerschreiben wähnten die Verfasser die deutsche Bevölkerung in einem Denunziationswahn. Er sei aus den Jahren des Nationalsozialismus übernommen und besonders von Menschen in der DDR gern benutzt worden, um sich anzupassen: "Werden Menschen gesehen, die in Deutschland aufgrund ihrer Hautfarbe, Kleidung oder anderer äußerlicher Merkmale als nicht zur Nation gehörig befunden werden, greifen Deutsche besonders schnell zum Hörer und wählen 110. Besonders in Ostdeutschland haben Menschen ihren Denunziationswahn gern benutzt, um angepaßt zu bleiben und sich in der autoritären Struktur einzuordnen. Doch dieses ist kein Phänomen der DDR, sondern wurde aus nationalsozialistischen Zeiten einfach von der Bevölkerung beibehalten. Wahlweise richtet er sich gegen alles, was dem Volkskörper, der öffentlichen Sicherheit und Ordnung widerspricht. So auch gegen unangepaßte Jugendliche und Linke. Einer der Gründe, dafür ist sicherlich darin zu suchen, daß hierzulande Revolutionen und gesellschaftliche Unordnung nicht als Möglichkeit zum Fortschritt gesehen wird, sondern als Gefährdung des konservativen Weltbildes."40 40 Abgedruckt in INTERIM, Nr. 555 vom 29. August 2002 74 Auf die Vorgänge in Nordhausen gingen die Verfasser abschließend mit diesen Worten ein: "Rene, der selbst zu einer links-alternativen Szene gehörte, hat versucht, der Gewalt, die ihm hier in Form eines Polizeibeamten gegenüberstand, etwas entgegenzusetzen und sich nicht widerstandslos festnehmen zu lassen. Unabhängig davon, was Rene sonst zu gesellschaftlicher Gewalt gedacht hat und wie er die Zusammenhänge sieht, ist sein Tod für uns ein Anlass gewesen, über gesellschaftliche Gewalt nachzudenken und zumindest einer der exekutierenden Institutionen, der Polizei vor Ort, einen Sachschaden zuzufügen. Für ein Ende der Gewalt! Kapitalismus abschaffen!" Die "Innere Sicherheit" wird auch künftig von der autonomen Szene in Thüringen thematisiert werden. In ihrem gegen die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung gerichteten Kampf stellt sie ein wichtiges Themenfeld dar. Autonome werden auch weiterhin Gewalt anwenden, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Aus ihrer Sicht stellt die Gewalt ein erforderliches Mittel dar, um der "strukturellen Gewalt" eines "Systems von Zwang, Ausbeutung und Unterdrückung" entgegenzuwirken. 4.4 Aktionen autonomer Gruppen in Thüringen Thüringer Autonome beteiligen sich am 12. Januar und 1. Juni an Protesten gegen Demonstrationen der "Nationalen Jugend Jena" Zeitgleich zu der Veranstaltung, die Rechtsextremisten am 12. Januar41 in Jena durchführten, um ein nationales Jugendzentrum zu fordern, fand eine Gegendemonstration statt. Sie war von verschiedenen demokratischen Kräften organisiert worden und stand unter dem Motto "Jenaer Friedensinitiative und Aktionsbündnis gegen Rechts - Gegen Gewalt für ein friedliches Zusammenleben!" An der aus Mahnwache, Schweigemarsch und Kundgebung bestehenden Veranstaltung beteiligten sich bis zu 250 Personen, unter denen sich neben den demokratischen Organisatoren auch gewaltbereite, dem autonomem Antifa-Spektrum zuzuordnende Personen befunden haben. Als im Verlauf der Veranstaltung aufgerufen wurde, die Zugänge zur Veranstaltung der Rechten auf dem Jenaer Marktplatz zu versperren, hielten sich dort bereits 200 dem antifaschistischen Spektrum zuzurechnende Personen auf. Nachdem die Gegenkundgebung beendet worden war, verursachten Angehörige der autonomen Szene, die in der Nähe des Markts geblieben waren, massive Störungen. So wurde u. a. der Anmelder der rechtsextremistischen Kundgebung tätlich angegriffen. Nur durch den Einsatz der Polizei konnte ein weiteres Aufeinandertreffen von Angehörigen der autonomen Antifa-Szene und mutmaßlichen Rechtsextremisten verhindert werden. Gegen 13 Personen, die überwiegend aus Jena, Gera und Erfurt kamen, wurden freiheitsentziehende Maßnahmen erlassen, weil sie Platzverweise nicht befolgt, gegen das Versammlungsgesetz verstoßen und Körperverletzungen begangen hatten. Ein Polizeibeamter wurde während der Einsatzmaßnahmen durch Glassplitter verletzt, als ein Gegendemonstrant mit Flaschen warf. Bereits vor der Demonstration waren in der Innenstadt von Jena verschiedene Sprühund Plakataktionen festgestellt worden. "Keine Räume für Nazis" lautete eine der thematisch einschlägigen Losungen. In der Nacht vom 11. zum 12. Januar kam es zu einer demonstrativen Aktion im Stadtteil Winzerla, wo eine Gruppe von etwa 15 Personen Hauswände und Container u.a. mit der Parole "Ralf-Wohlleben-Faschist" beschmierte.42 Die Polizei nahm vier Tatbeteiligte vorläufig fest. 41 Siehe S. 21 42 WOHLLEBEN ist Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes Jena. 75 Die autonome Szene Jenas hatte im Internet unter dem Motto "Faschisten verjagen - Marktplatz besetzen! Nationales Jugendzentrum? Weg mit dem Dreck!" zur Teilnahme an den Protestaktionen gegen ein "selbstbestimmtes nationales Jugendzentrum" aufgerufen. "Wir setzen dem unseren Widerstand und unsere Utopie eines herrschaftsfreien Zusammenlebens ohne Nationalismus, Rassismus und Krieg entgegen!" hieß es dazu in einen Internetbeitrag des Infoladens Jena. Auch der Erfurter Infoladen "Sabotnik" wies auf den Termin hin. Aus Anlass des "1. Tages der Thüringer Jugend" kam es am 1. Juni43 in Jena erneut zu Protesten, die einem "nationalen Jugendzentrum" entgegengerichtet waren. Unter dem Motto "Kein Fußbreit den Faschisten!" demonstrierten etwa 150 Personen, unter ihnen auch Angehörige der autonomen Szene, gegen die von der NPD angemeldete Veranstaltung. Einem starken Polizeiaufgebot gelang es, die Teilnehmer der beiden Demonstrationen voneinander fern zu halten, um gewalttätige Auseinandersetzungen zu vermeiden. Im Vorfeld der Demonstration hatte die Polizei eine Reihe von Platzverweisen ausgesprochen. Am Rande der Veranstaltung kam es vereinzelt zu Verstößen gegen das Versammlungsgesetz, in deren Folge die Polizei freiheitsentziehende Maßnahmen durchführte. Zu Aktionen, die sich gegen die Kundgebung der Rechtsextremisten richteten, hatte vor allem der im Netzwerk "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG) organisierte Infoladen Jena im Internet und mit Flyern aufgerufen. Straßenblockade gegen den Aufmarsch von Rechtsextremisten in Erfurt am 23. März44 Am 23. März fand in der Innenstadt von Erfurt eine Demonstration von Rechtsextremisten statt, deren Motto "Kein Blutvergießen deutscher Soldaten in fremden Ländern für amerikanische Interessen" lautete. Etwa 350 Personen, die großenteils dem Antifa-Spektrum angehörten, versammelten sich mit dem Ziel, den Aufmarsch der Rechtsextremisten mit einer Straßenblockade aufzuhalten. Nach vergeblichen Deeskalationsversuchen löste die Polizei die Blockade auf. Fünf Gegendemonstranten, die sich an der Blockade beteiligt hatten, nahm sie fest. Ein Polizeibeamter wurde leicht verletzt. Zu nennenswerten Ausschreitungen kam es jedoch nicht. Einer im Internet verbreiteten Erklärung der Gruppe "yafago" nach hätten überwiegend autonome Gruppen und Menschen aus der alternativen Szene gezeigt, dass sie und nicht Parteien in der Lage wären, den Nazis entschlossen entgegenzutreten. "Dies (sei) eine klare Absage an eine Zivilgesellschaft", meinte "yafago", "die sich in ihrem Anti-Amerikanismus und Antisemitismus in vielen Punkten nicht viel von den Nazis unterscheidet." Insgesamt wertete die Gruppe, die den Einsatz der Polizei als "brutal" bezeichnete, die Gegenaktion als einen Erfolg. Es sei ein Erfolg für alle Antifaschistinnen und Antifaschisten, dass Faschisten in Erfurt nur unter verschärftem Polizeischutz, Buhrufen, Eierwürfen und Blockaden aufmarschieren könnten. Neben "yafago" hatte auch die Gruppe "Antifascist Youth Erfurt" im Internet unter dem Motto "Erfurt: Naziaufmarsch in Erfurt verhindern! Kein Fußbreit den Antisemiten!" aufgerufen, 43 Siehe S. 21 f. 44 Siehe S. 27 76 sich am 23. März nicht an den "zivilgesellschaftlichen Bürgerfesten" zu beteiligen, sondern den "Faschisten" entschlossen entgegenzutreten. Autonome Szene Thüringens beteiligt sich an Aktionen gegen den Aufmarsch von Rechtsextremisten am 20. April in Weimar45 Am 20. April fanden in der Innenstadt von Weimar zahlreiche friedliche Aktionen statt, die sich gegen den Aufmarsch der Rechtsextremisten richteten. Sie standen unter dem Motto "Weimar zeigt sich - bunte Vielfalt statt braune Einfalt" und waren von einem breiten gesellschaftlichen Spektrum angemeldet worden. Den Protestaktionen schlossen sich bis zu 3.000 Personen an. Das autonome Antifa-Spektrum Thüringens, vor allem das Netzwerk "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG), hatte in Szeneschriften zu Gegenaktionen aufgefordert. In einem Aufruf kündigte die ATAG im Internet an, dem Aufmarsch des rechtsextremistischen Spektrums ein "Blockade-Konzept" entgegenzustellen. Im Verlauf der Veranstaltung nahm die Polizei 69 Gegendemonstranten, unter denen sich auch Anhänger der autonomen Szene befanden, vorläufig in Gewahrsam. 62 von ihnen hatten Platzverweisen nicht Folge geleistet. Sieben weitere Personen nahm die Polizei wegen gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung und Verstößen gegen das Versammlungsgesetz vorläufig fest. Bereits im Vorfeld der Aktionen hatten die Polizeibeamten nicht nur Messer und Transparentstangen sichergestellt, sondern auch verhindert, dass sich die Gegendemonstranten mit Steinen bewaffneten. Vermummte greifen Informationsstand der NPD am 19. Juni in Erfurt an Etwa zehn, mit Stöcken und Knüppeln bewaffnete, vermummte Personen, die vermutlich der örtlichen autonomen Szene angehören, griffen am 19. Juni in Erfurt einen Informationsstand der NPD an. Sie riefen "Tod dem nationalen Widerstand" und warfen den Stand um. Ein Mitglied des Landesvorstands der NPD erlitt dabei Verletzungen. Bevor die unbekannten Angreifer die Flucht ergriffen, beschädigten sie noch mehrere Scheiben eines Kraftfahrzeugs. In der Szene wurde die Aktion begrüßt. So hieß es in einem im Internet verbreiteten Beitrag: "Nach dem missglückten Fascho-Aufmarsch im März mussten die Nazis ein weiteres Mal einsehen, dass sie hier keinen Fuss auf den Boden kriegen werden." Demonstration "Für das Ende der Gewalt! Es gibt tausend Gründe, Deutschland zu hassen!" am 2. Oktober in Erfurt Am 2. Oktober marschierten unter dem Motto "Für das Ende der Gewalt! Es gibt tausend Gründe, Deutschland zu hassen!" etwa 200 Personen, unter denen die Angehörigen des autonomen Spektrums überwogen, ohne nennenswerte Störungen durch die Erfurter Innenstadt. Ihr Protest richtete sich gegen den "Tag der Deutschen Einheit", den die Organisatoren der Demonstration mit Einverleibung der DDR, nationalem Größenwahn, Pogromen wie in Rostock-Lichtenhagen, mit Antisemitismus und Geschichtsentsorgung gleichsetzen. In einem Redebeitrag, der vom Infoladen Jena unter der Überschrift "Auf in den Krieg" im Internet verbreitet wurde, war vom "deutschen Imperialismus" die Rede, der "erneut erwacht" sei und derzeit versuche, "eine Vorreiterund Führungsrolle in Europa zu übernehmen". Der Beitrag 45 Siehe S. 40 f. 77 endete mit den Parolen: "Krieg dem imperialistischen Krieg! Es gibt mehr als tausend Gründe Deutschland zu hassen!" Das Interesse an der Demonstration war weit geringer, als die Organisatoren erwartet hatten. Sie waren nicht von 200, sondern von 500 Teilnehmern ausgegangen. Die Szene selbst berichtete von etwa 350 Personen und bezeichnete den Aufmarsch als einen Erfolg. So hieß es in einem über die Website des Netzwerks "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG) verbreiteten Beitrag u.a.: "Für eine Demonstration, die ausschließlich von linksradikalen Zusammenhängen vorbereitet wurde, ist die große öffentliche Wirkung und die Darstellung der Hintergründe der Demonstration (in diesem Jahr) als Erfolg einzuschätzen, insbesondere weil es gelungen ist, über die 'Hassund Gewalt'-Etikettierung hinaus Inhalte wie die radikale Ablehnung von Antisemitismus, deutschem Grossmachtstreben und Kapitalismus zu vermitteln." Die Demonstration war von Angehörigen und Gruppen des Netzwerkes ATAG initiiert und organisiert worden. Sie wurden u.a. von der "Autonomen Antifa (M)" aus Göttingen unterstützt. In den Aufrufen, mit denen die Organisatoren für die Veranstaltung mobilisierten, verwiesen sie auf die Demonstration, die von der Erfurter Gruppe "yafago" im letzten Jahr geplant worden war. Auch sie sollte unter dem Motto "Es gibt tausend Gründe, Deutschland zu hassen!" am Vorabend des "Tages der Deutschen Einheit" in Erfurt stattfinden. In diesem Jahr ergänzten die Organisatoren die Losung der Demonstration um den Satz "Für das Ende der Gewalt!", worunter ein Ende der Zumutung des kapitalistischen Systems verstanden wird. Die Veranstaltung war wie im Jahr 2001 zunächst verboten worden. Wie im Vorfeld angekündigt, schöpften die Organisatoren die Rechtsmittel in diesem Jahr aus, woraufhin die Demonstration durchgeführt werden konnte. Das Motto der Veranstaltung hatte bereits im Jahre 2001 in Gewerkschaften, Parteien und Friedensinitiativen heftige Kritik hervorgerufen, was offensichtlich nicht ohne Wirkung auf die Szene blieb. "Wir sind uns einig", hieß es in dem oben angeführten Beitrag auf der Website von ATAG, "daß das Auftreten der Demonstration die Vermittlung von Inhalten erschwert hat. Keinen Konsens konnten wir darüber herstellen, wie wir diese Tatsache beurteilen. Wir streben an, in Zukunft auch mit anderen organisierten Gruppen verstärkt über Ziele, Inhalte und Auftreten bei Demonstrationen zu diskutieren." Im Internet war nicht nur für den Aufmarsch mobilisiert, sondern auch für den 15. September ein Vorbereitungstreffen in Erfurt und für den 20. September eine "Soli-Party" im "besetzten" Haus auf dem ehemaligen Firmengelände "Topf & Söhne" angekündigt worden. Thüringer Autonome beteiligen sich an Protesten gegen Demonstration der Rechtsextremisten am 26. Oktober in Suhl46 Am 26. Oktober fand in Suhl eine Demonstration statt, die sich gegen den Aufmarsch der Rechtsextremisten richtete. An der Veranstaltung nahmen etwa 200 Personen, darunter auch Angehörige der autonomen Szene Thüringens, teil. Die Veranstaltung wurde von einem starken Polizeiaufgebot abgeschirmt, um gewalttätige Auseinandersetzungen zu verhindern. Gegen zehn Jugendliche sprach die Polizei Platzver46 Siehe S. 39 f. 78 weise aus, elf weitere Gegendemonstranten nahm sie vorläufig fest. Nachdem die Demonstration beendet worden war, kam es zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Gegendemonstranten. Die Polizei nahm 69 Personen in Gewahrsam. Innerhalb der linksextremistischen Szene Thüringens hatte die "Revolutionäre Linke Zella-Mehlis" (RLZM) zum Widerstand gegen die Demonstration der Rechtsextremisten mobilisiert und eine Kampagne angekündigt. Die Gegenaktivitäten unterstützten auch die Regionalgruppe Südthüringen der "Roten Hilfe e.V.", die DKP Suhl, der Erfurter Infoladen "Sabotnik" und ein Verband "Junger Antifas Zella-Mehlis". Ebenso hatte das Netzwerk "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG) im Internet aufgerufen, sich an der Gegendemonstration zu beteiligen. Am 26. Oktober hatte die "Freie Union Revolutionärer AnarchistInnen" (F.U.R.A.) aus Meiningen, die ATAG zugehört, eine Kundgebung in Meiningen vorbereitet, die unter dem Motto "Faschisten entschlossen entgegentreten - jetzt, hier und überall" stand. Anschließend beabsichtigte man, "mit so vielen Menschen wie möglich gemeinsam nach Suhl zu fahren", um in der Stadt die Aktionen gegen den Aufmarsch der Rechtsextremisten zu unterstützen. Im Internet wurde auf die unbefriedigende Resonanz hingewiesen, die die Gegendemonstration in der linken Szene gefunden hatte. Die "Nazi-Demo" und "das Potenzial der Nazis in Suhl" würden, hieß es auf einer Website, "von den Antifa-Strukturen in Thüringen nicht ernst genommen". Autonome Szene beteiligt sich an Aktionen gegen den Aufmarsch der NPD am 9. November in Weimar47 Gegen den Aufmarsch der Rechtsextremisten richteten sich verschiedene Veranstaltungen und Demonstrationen, die von dem Aktionsbündnis "Weimarer Bürger gegen Rechtsextremismus" angemeldet worden waren. An diesen Gegenveranstaltungen sollen sich bis zu 1.500 Personen, darunter auch Anhänger der autonomen Szene Thüringens, beteiligt haben. Die DKP, die SDAJ, die KPD und die KJVD hatten ebenso wie der "Rote Tisch Ostthüringen" angekündigt, mit einem Transparent an den Gegenaktionen teilzunehmen. Dank eines großen Polizeiaufgebots konnten Versuche von Gegendemonstranten, zum Aufmarsch der Rechtsextremisten vorzudringen, vereitelt und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den beiden politischen Lagern verhindert werden. 23 Personen, die die Gegenaktionen unterstützten, wurden in Gewahrsam genommen. Sie hatten gegen das Vermummungsverbot verstoßen oder sich mit Messern, Ketten und Stachelbändern ausgerüstet. Gegen weitere 73 Gegendemonstranten sprach die Polizei Platzverweise aus. Die autonome Szene, insbesondere das Netzwerk "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG), hatte in Thüringen und bundesweit u.a. unter dem Leitspruch "Nazis den Weg nach Hause zeigen!" zur Teilnahme aufgefordert. Aufrufe und Terminhinweise konnten auch von der Website der "Antifascist Youth Erfurt", von den Internetseiten der "Autonomen Antifa [M]" aus Göttingen und von "left-action" aus Leipzig abgerufen werden. Nachdem die Demonstration in Weimar beendet worden war, veranstaltete das "Jenaer Aktionsbündnis gegen Rechts" vor einem ehemaligen Gaststättengebäude in Jena-Lobeda, in dem es den bekannten Rechtsextremisten Horst MAHLER vermutete, eine Spontandemonstration. Die etwa 20 Personen, die sich an der Aktion beteiligt haben, sollen Flugblätter verteilt und 47 Siehe S. 23 f. 79 ein Transparent mit der Aufschrift "Kein Fußbreit den Faschisten" gezeigt haben. Danach brachen zwischen Angehörigen der Antifa-Szene, unter denen sich auch Anhänger des autonomen Spektrums Jenas befanden, und den Rechtsextremisten gewalttätige Auseinandersetzungen aus. Außerdem kam es zu Sachbeschädigungen. 4.4.1 Exkurs: Aktivitäten des autonomen Spektrums im Zusammenhang mit den Bundestagswahlen Wahlen, Wahlkampfauftritte von Politikern sowie Plakatierungen der beteiligten Parteien gehören zum traditionellen Betätigungsund Agitationsfeld von Linksextremisten. "Ideensammlungen" regen Aktionen an Im Internet und in Szeneschriften riefen Angehörige des autonomen Spektrums im Vorfeld zu Aktionen gegen die Bundestagswahlen am 22. September auf. Sie appellierten nicht nur, wie in der Vergangenheit, die Wahlen zu boykottieren. Sie veröffentlichten auch "Ideensammlungen", in denen Aktionen vorgeschlagen wurden, die sich gegen die Wahlen richteten. Die "Ideensammlungen" regten an, Wahlveranstaltungen nicht nur durch Pfiffe und Buhrufe, sondern auch durch zustimmende "Jubelparaden" und "Klatschorgien" zu sprengen, Wahlplakate zu verändern, zu beschädigen oder zu zerstören. Unter dem Motto "Widerstand ist mehr als Wahlboykott" propagierten sie auch für den Wahltag Aktionen, um auf die wählenden Bürger einzuwirken. Sie sahen vor, Wahlkabinen und -lokale zu besetzen, falsche Hinweise für die Stimmabgabe zu verteilen, Wahlkabinen zu "verschönern" oder sogar Wahlurnen anzuzünden. Diese Aktionen zielten dahin, einen "Erregungskorridor" zu schaffen, der genutzt werden sollte, um Diskussionen über "Wahlund Demokratiekritik" anzustoßen. Die Teilnahme des Kanzlerkandidaten Dr. Edmund STOIBER an einer Parteiveranstaltung der CDU in Gera sowie Wahlversammlungen der CDU/CSU, von Bündnis 90/Die Grünen und der "Partei Rechtsstaatliche Offensive" - der so genannten SCHILL-Partei - nahm das autonome Spektrum in Thüringen zum Anlass, zu Störaktionen und Gegenaktivitäten aufzurufen. Infolge der Polizeimaßnahmen wurden die Veranstaltungen nur in wenigen Fällen durch Pfiffe, Sirenen, Trillerpfeifen, Tomaten-, Eierund Büchsenwürfe gestört. Wahlplakate und Gebäude beschmiert Darüber hinaus kam es zu Sachbeschädigungen an Wahlplakaten und Gebäuden. Wahlplakate wurden mit Parolen wie "Nazis raus" und "Kein Adolf Stoiber - wir brauchen keinen Führer" beschmiert. Einigen abgebildeten Kandidaten wurde ein "Hitlerbart", einem Kandidaten auf der Stirn ein Einschussloch aufgemalt. Wenigstens ein Teil der von unbekannten Tätern landesweit an Wahlplakaten verübten Sachbeschädigungen dürfte vermutlich von Linksextremisten herrühren. Auch Thüringer Autonome erklären sich gegen Wahlen Auf der Homepage der "Autonomen Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG) verbreitete die in diesem Netzwerk organisierte Meininger Gruppe "Freie Union Revolutionärer AnarchistInnen" (F.U.R.A.) einen Text, der den Titel "Herrschaft erkennen! Stimme erheben statt abgeben!" trug. Die Gruppe rief dazu auf, "Wahlen und Herrschaft nicht mehr anzuerkennen". 80 Die Weimarer Szenezeitschrift "Gerberei" gab ebenfalls Beiträge heraus, um gegen die Bundestagswahlen zu agitieren. Schon im Juli/August machte sie auf einschlägige Websites aufmerksam. Im September veröffentlichte sie unter dem Titel "Achtung! Bundespropagandaministerium klaert auf! Schmiroel für Herrschaft läuft aus: Bundestaxwahl voraus!" einen Artikel, in dem mögliche Aktionen gegen die Bundestagswahlen beschrieben wurden. In dem Text wurde betont: "Kapitalismus und Herrschaft (lassen sich) nicht durch Wahlen beseitigen; das und die dafür notwendige Organisation muessen wir schon selbst in die Hand nehmen. In der Tat z.B. durch Aktionen zur Demaskierung von Herrschaft und dem Anzetteln von Debatten, sei es durch Symbolik, sei es durch Sabotage." Erkenntnisse, dass die empfohlenen Aktionsformen über das bereits Ausgeführte hinaus gegen die Bundestagswahlen 2002 in Thüringen durchgeführt wurden, liegen nicht vor. 5. Terroristische Gruppierungen Terrorismus ist der nachhaltig geführte Kampf für politische Ziele, die mit Hilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen durchgesetzt werden sollen, insbesondere durch schwere Straftaten wie Mord, Totschlag, erpresserischer Menschenraub, Brandstiftung, Sprengstoffanschläge oder durch andere Gewalttaten, die der Vorbereitung solcher Straftaten dienen. Auch im Jahre 2002 blieben Aktivitäten linksterroristischer Gruppen aus. Die Rote Armee Fraktion hatte bereits 1998 ihre Auflösung erklärt. 6. Exkurs: Nutzung moderner Kommunikationsmittel durch Linksextremisten Linksextremisten verwenden nicht nur klassische Mittel der Agitation und Kommunikation, wie Flugschriften, Handzettel und Szeneschriften. Sie setzten auch im Jahr 2002 verstärkt auf das Medium Internet. Es bietet der linken Szene die Möglichkeit, sich über die regionalen Grenzen hinweg auf nationaler und internationaler Ebene zu verständigen bzw. zu vernetzen. Die mit dem Internet verbundene Möglichkeit, E-Mail-Anschlüsse zu nutzen, sehen die Angehörigen der linksextremistischen Szene als einen wesentlichen Vorteil an. Informationen können so schnell und kostengünstig weitergegeben und auch Verschlüsselungsprogramme eingesetzt werden. Unerwünschten Mitlesern kann so in der Regel verwehrt werden, am diskreten und konspirativen Informationsfluss zu partizipieren. In speziell angelegten Archiven können zur Unterstützung von linksextremistischen Aktivitäten jederzeit Informationen abgerufen werden. Die marxistisch-leninistischen Parteien und Organisationen sind fast ausnahmslos im Internet vertreten. In Thüringen trifft das auf die Landesorganisationen der DKP und des SDAJ zu. Beide sind über Links untereinander und mit den jeweiligen Bundesgliederungen verbunden. Landesund bundesweite Termine sowie parteieigene Publikationen werden eingestellt, die Seiten jedoch nur zögerlich aktualisiert. Auch die autonome Szene Thüringens unterhält eigene Websites. Besondere Bedeutung kommen der Homepage des Erfurter Infoladens "Sabotnik", die seit dem Jahr 2000 betrieben wird, sowie den in diesem Jahr neu erstellten Homepages des Netzwerks "Autonome Thüringer Antifa-Gruppen" (ATAG) und der "Antifascist Youth Erfurt" zu. Seit Mitte 2002 kündigte die "Antifaschistische Aktion Gera" eine Homepage an, deren umfangreiche Seiten im November des Jahres in das Netz gestellt wurden. Zeitnah und aktuell wird auf diesen Seiten 81 über geplante bzw. bereits durchgeführte Aktionen der Autonomen berichtet. Mobilisierungsaufrufe, Diskussionsbeiträge und Presseerklärungen werden in den Archiven der Homepages abgelegt. Für fast alle demonstrativen Aktionen nutzte die autonome Szene Thüringens in diesem Jahr das Internet zur Mobilisierung. Dort wurden nicht nur Ablauf und die Namen der Gruppen, die die Aktionen unterstützten, bekannt gegeben, sondern auch die Hintergründe der geplanten Aktionen ausführlich dargestellt. Dies erfolgte bisher meist über die Homepages der Gruppierungen. Für Ereignisse, denen die Szene besondere Bedeutung beimisst, werden jedoch auch spezielle Webseiten erstellt, die nach Abschluss der Aktion nicht weiter betreut oder wieder aus dem Netz genommen werden. Als ein wichtiger Knotenpunkt hat sich die internationale Internetplattform "indymedia" etabliert. Sie wird auch von Thüringer Linksextremisten genutzt, um Beiträge zu veröffentlichen. Diese Internetplattform bietet jedermann die Möglichkeit, eigene Beiträge zu publizieren sowie eingestellte Beiträge zu ergänzen. 7. Politisch motivierte Kriminalität - Links - im Überblick Die im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - Links - im Jahr 2002 in Thüringen begangenen Straftaten lassen sich wie folgt darstellen48: Straftaten 2001 2002 insgesamt: 41 39 davon im Einzelnen: Körperverletzung 5 6 Sachbeschädigung49 17 8 Landfriedensbruch 2 0 Brandstiftung 2 0 Sonstige 15 25 Im Rahmen der politisch motivierten Kriminalität - Links - haben sich im Vergleich zum Jahr 2001 keine nennenswerten Veränderungen ergeben. 48 Quelle: Thüringer Landeskriminalamt (LKA) 49 Hierzu zählen auch Schmierereien mit politischem Inhalt 82 IV. Ausländerextremismus 1. Allgemeines Mit dem Begriff "Ausländerextremismus" werden Bestrebungen von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen die innere Sicherheit oder auswärtige Belange gefährden. Auch Bestrebungen ausländischer Organisationen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung Deutschlands gerichtet sind, fallen unter den Begriff des Ausländerextremismus. Die Motive und die ideologische Ausrichtung der extremistisch aktiven Ausländergruppen sind vielfältig. Oftmals werden politisch motivierte Aktivitäten in der Hoffnung entwickelt, in den jeweiligen Heimatländern Veränderungen der politischen Verhältnisse herbeizuführen. Außerdem wird versucht, die Bundesrepublik mit entsprechenden Aktionen unter Druck zu setzen. Die große Mehrheit der über sieben Millionen Ausländer, die in Deutschland lebt, lehnt extremistische Verhaltensweisen ab und distanziert sich von politisch-extremistischen Gruppierungen und Parteien. Dies gilt auch für die ca. 45.000 ausländischen Mitbürger, die in Thüringen leben. Das Zusammenleben mit ihnen gestaltet sich überwiegend friedlich und konfliktfrei. Bundesweit zählen ausländerextremistische Organisationen, deren Aktivitäten in erster Linie von den politischen und aktuellen Ereignissen in den Herkunftsländern bestimmt werden, 57.350 Anhänger. Nach wie vor verfügen die extremistisch-islamischen Gruppen über das größte Mitgliederbzw. Anhängerpotenzial (30.600). Linksextremistischen Ausländergruppierungen werden 17.850 Personen zugeordnet, extrem-nationalistischen Gruppen 8.900. Auch im Jahre 2002 waren ausländerextremistische Organisationen in Thüringen schwach vertreten. Nur der "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK), die Nachfolgeorganisation der PKK, verfügt in Thüringen über gefestigte Strukturen. Die "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) wird lediglich von wenigen Anhängern vertreten, die nicht organisiert sind. In Thüringen beläuft sich die Anzahl der Ausländer, die dem Extremismus zuneigen, auf etwa 100. Im Vergleich zu den anderen Bundesländern fällt diese Zahl weiterhin sehr gering aus. Dies ist einerseits auf den geringen Anteil von Ausländern an der Bevölkerung in Thüringen (unter 2 %), andererseits auf die spezifische Zusammensetzung dieser Ausländer hinsichtlich ihrer Nationalitäten zurückzuführen. Im Zusammenhang mit den schrecklichen Ereignissen vom 11. September 2001 rückten islamistische50 Bestrebungen in Deutschland, vor allem solche, die der Unterstützung des arabischen Terrorismus dienen, verstärkt in das Blickfeld der Medien. Insbesondere stellt der Islamismus in Deutschland ein Problem in den alten Bundesländern dar, da dort der Anteil der Ausländer im Allgemeinen und der Muslime im Besonderen weit höher als im Beitrittsgebiet ist. Weiterhin überwiegen jene unter ihnen, die extremistischen Ideen fern stehen. 50 Islamistisch (= Islamismus, Islamisten) bedeutet islamisch-extremistisch und ist nicht mit islamisch (= religiös am Islam orientiert) zu verwechseln. 83 2. Die wichtigsten extremistischen Ausländerorganisationen in Deutschland Kurdische Gruppen Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) Teilund Nebenorganisationen des KADEK: - Kurdische Demokratische Volksunion (YDK) - Union der Jugendlichen aus Kurdistan (YCK) - Partei der freien Frauen (PJA) - Union der StudentInnen Kurdistans (YXK) Patriotische Union Kurdistans (PUK) Demokratische Partei Kurdistans/Irak (DPK/I) Türkische Gruppen mit linksextremistischer Ausrichtung Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) - "Partizan"-Flügel - "DABK"-Flügel (Ostanatolisches Gebietskomitee) Basisorganisationen: - Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) - Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V. (ATIF) - Föderation für demokratische Rechte in Deutschland (ADHF) - Konföderation für demokratische Rechte in Europa (ADHK) Nebenorganisation: - Türkischer Marxistisch-Leninistischer Jugendbund (TMLGB) Revolutionäre Linke (Devrimci Sol, Abk. Dev Sol) - Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) - Türkische Volksbefreiungspartei/-Front - Revolutionäre Linke (THKP/-C) Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) Basisund Nebenorganisationen: - Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei in Deutschland (AGIF) - Kommunistische Jugendorganisation (KGÖ) Türkische Gruppen mit nationalistischer Ausrichtung Föderation der türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Europa e. V. (ADÜTDF) Türkische Gruppen mit islamistischer Ausrichtung Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) 84 Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V. Köln (ICCB, sog. Kalifatsstaat) Iranische Gruppen Anhänger der iranischen Regierung (islamistisch): - Union islamischer Studentenvereine (U.I.S.A.) Gegner der iranischen Regierung (linksextremistisch): - Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) Arabische Gruppen islamistischer Ausrichtung Sunnitisch: - Muslimbruderschaft (MB) - Islamischer Bund Palästinas (IBP) - Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS) - Islamische Heilsfront (FIS) - Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) Schiitisch: - Partei Gottes (Hizb Allah) - Gruppen des libanesischen Widerstandes (AMAL) 3. "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK) 3.1 Ziele und Strategie Der 8. Parteikongress der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) beschloss, mit Wirkung vom 4. April 2002 sämtliche Aktivitäten im Namen der PKK einzustellen. Als einzige legitime Nachfolgeorganisation wurde der "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (Kongreya A- zadi u Demokrasiya Kurdistan - KADEK) gegründet und die "historische Mission" der PKK als erfüllt erklärt. Die PKK, die seit ihrer Gründung im Jahre 1978 von Abdullah ÖCALAN geführt wurde, hatte in ihrem Gründungsmanifest den "revolutionären Kampf" für einen "freien, unabhängigen und demokratischen Kurdenstaat" festgeschrieben. Ab 1984 führte sie im Südosten der Türkei einen Guerillakampf gegen die türkische Armee, um dieses Ziel zu erreichen. Auch in Deutschland machte die PKK mit äußerst gewalttätigen, gegen türkische Einrichtungen gerichteten Aktionen auf ihr Anliegen aufmerksam. Dies führte schließlich im November 1993 dazu, dass der Bundesminister des Innern gegen die PKK und einige ihrer Teilund Nebenorganisationen ein Betätigungsverbot verhängte. Ihre Handlungsfähigkeit konnte die Organisation dennoch auch in Deutschland erhalten, da sie ihre Strukturen veränderte. Nachdem ÖCALAN verhaftet und gegen ihn wegen Hochverrats die Todesstrafe verhängt worden war, zeichnete sich ab Sommer 1999 ein grundlegender Strategiewandel der Partei ab. ÖCALAN erklärte den bewaffneten Kampf gegen die Türkei für beendet; die Guerillaeinheiten zogen sich aus dem Südosten der Türkei in den Nordirak zurück. Fortan forderte die PKK nicht mehr einen eigenen Kurdenstaat, sondern die kulturelle Autonomie der Kurden innerhalb der Grenzen der Türkei. 85 Die Vorgaben ÖCALANS wurden auf dem außerordentlichen 7. Parteikongress, der Anfang 2000 stattfand, bestätigt. Sie bildeten den Grundstein für eine neue Strategie des demokratischen Wandels hin zu einer "legalen und politischen Organisation" - die so genannte 1. Friedensinitiative. Im Mai 2001 wurde mit der "Identitätskampagne" die 2. Friedensinitiative eingeleitet, die auf die Anerkennung der kurdischen Identität, die Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland und Großbritannien sowie die gesetzliche Anerkennung der Kurden in der Türkei abzielte. Als 3. Friedensinitiative galt schließlich die Ausweitung des "politischen Aufstandes" auf die Türkei ab September 2001. Die Partei behielt sich vor, den neuen Kurs umzukehren, falls sie angegriffen würde oder ihr die Türkei nicht genug entgegenkäme, um die Kurdenfrage zu klären. Die Führung des KADEK setzt sich aus dem Generalvorsitzenden Abdullah ÖCALAN, einem Präsidialrat mit elf Mitgliedern und einem Vorstand von 51 Personen zusammen. Die Aufgabe des neu gegründeten KADEK sei es, heißt es in der vom "Kurdistan Informationszentrum" (KIZ) veröffentlichten Abschlusserklärung des 8. Parteikongresses, bei "einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage" eine koordinierende Funktion auszuüben, indem er insbesondere "Organisationen für alle Teile Kurdistans" in den dazugehörigen Ländern (Türkei, Syrien, Iran, Irak) gründete. Gültige Staatsgrenzen sollten nicht in Frage gestellt werden. Jede Form des Terrorismus werde verurteilt. Die einzige Aktionsform, um den demokratischen Wandel herbeizuführen, bilde der "friedliche demokratische Volksaufstand" (Serhildan). Im Zuge einer demokratischen Lösung sei es richtig, "jegliche Art von militärischer Auseinandersetzung zu beenden". Der Ausbau der Guerilla als "legitime Selbstverteidigungsposition" sei jedoch notwendig, um den Erfolg einer demokratischen Lösung zu gewährleisten. Darüber hinaus wurde in der Abschlusserklärung verlangt, in der Türkei die Todesstrafe vollständig abzuschaffen, das Recht auf muttersprachlichen Unterricht sowie auf freie politische Meinungsäußerung einzuräumen. Im August verabschiedete die türkische Regierung umfangreiche Gesetzesreformen, die die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, die Ausweitung der Rechte von Minderheiten sowie die Stärkung der Meinungsfreiheit und des Demonstrationsrechts vorsehen. Der Präsidialrat des KADEK bewertete diese Entscheidungen als historisch bedeutungsvolle Schritte, betonte aber zugleich, dass damit nicht alle Probleme vollständig gelöst seien. Der KADEK und prokurdische Organisationen halten Abdullah ÖCALAN für den Wegbereiter dieser Entwicklung, da er durch "seine Weitsicht und die Tatsache, dass er die neue Strategie und den Friedensprozess zum Thema gemacht hat", hierfür erst die Basis geschaffen habe. Die Aufnahme der PKK in die EU-Liste terroristischer Organisationen51, die im Mai erfolgte, sahen die Kurden als eine Missachtung der friedlichen Linie an, die seit 1999 von der PKK proklamiert und vom KADEK fortgesetzt wird. Trotz der scharfen Äußerungen des KADEK, denen zufolge die Entscheidung der Europäischen Union eine "neue Kriegsphase" einleite, wurde ausschließlich mit gewaltfreien, demonstrativen Aktionen gegen diesen Beschluss protestiert. 3.2 Aufbau und Organisation Auf dem Gründungskongress des KADEK wurden ein neues Programm, eine Satzung und eine neue Organisationsform beschlossen. Sowohl signifikante Veränderungen der Führungsstruktur als auch eine tiefgreifende personelle Erneuerung blieben jedoch im Jahr 2002 aus. Abdullah ÖCALAN wurde als Generalvorsitzender des KADEK in seiner Führungsfunktion bestätigt. Da er sich in Haft befindet, wird der KADEK maßgeblich vom Präsidialrat geleitet. 51 In diese Liste ist nur die PKK, nicht jedoch der KADEK aufgenommen worden. 86 Dieser setzt sich aus einem Kreis hochrangiger Funktionäre zusammen, die sich in den Kurdengebieten des Nahen Ostens aufhalten. Für die politischen Aktivitäten in Europa tragen weiterhin die führenden Funktionäre der "Kurdischen Demokratischen Volksunion" (YDK) die Verantwortung. Die regionalen Einheiten des KADEK werden von Funktionären betreut, die von der europäischen Leitungsebene eingesetzt werden und überwiegend konspirativ agieren. Die Umgestaltung der früheren Gliederung europäischer Staaten in Regionen (vormals acht) mit jeweiligen Gebieten (vormals mindestens 35) und Teilgebieten wirkte sich bislang auf die Organisationsstruktur, die in Thüringen besteht, nicht nennenswert aus. Das Teilgebiet Erfurt (Großraum Thüringen) deckt sich mit der früheren PKK-Gliederung; die Anbindung an das Gebiet Kassel blieb im Berichtszeitraum ebenfalls bestehen. Anhänger des KADEK, die in Nordthüringen ansässig sind, werden nach wie vor von Organisationseinheiten in Niedersachsen, einzelne Orte in Ostthüringen von solchen in Sachsen betreut. Dem Teilgebiet Erfurt werden ca. 60 Mitglieder und Anhänger zugerechnet. Für die diesjährige NEWROZVeranstaltung konnten jedoch 120 Teilnehmer mobilisiert werden. 3.3 Finanzierung Der KADEK benötigt Mittel in Millionenhöhe, um seinen Führungsapparat, seine Propagandaeinrichtungen und Vereine sowie seine Guerillaeinheiten zu unterhalten. Wie die PKK führt auch der KADEK eine Spendensammlung unter seinen Anhängern durch. Seit die Strategie des friedlichen Wandels propagiert worden ist, sanken die jährlichen Spendeneinnahmen der PKK unter 10 Millionen Euro. Was die Zahlungsmotivation der Anhänger des KADEK anbelangte, zeichnete sich bis zum Jahresende kein wesentlicher Umschwung ab. Darüber hinaus werden Einnahmen durch monatliche Mitgliedsbeiträge sowie den Verkauf von Publikationen und Eintrittskarten für Großveranstaltungen erzielt. 3.4 Propagandamittel Für seine Propagandaaktionen bedient sich der KADEK der Medien, die bereits von der PKK genutzt worden sind. Der Fernsehsender MEDYA-TV, der über Satellit auch in Deutschland empfangen werden kann, sendet Nachrichten und politische Magazine, die vor allem die Ansichten des KADEK wiedergeben. Führende Funktionäre, so z. B. die Mitglieder des Präsidialrats, nutzen den Sender, um aktuelle politische Entwicklungen darzustellen oder zu kommentieren. Die türkischsprachige Tageszeitung "Özgür Politika" (Freie Politik) veröffentlicht Verlautbarungen der Führungsgremien des KADEK, Interviews mit dessen Funktionären oder Veranstaltungshinweise, was auf ihre Nähe zum KADEK deutet. Die Zeitschrift "Serxwebun" (Unabhängigkeit) richtet sich vorwiegend an die Kader und Aktivisten der Organisation. Für weitere Publikationen der so genannten Massenorganisationen des KADEK, die die Möglichkeit bieten, verschiedene Zielgruppen (z.B. Frauen, Jugendliche, Intellektuelle, Arbeitgeber etc.) anzusprechen, steht beispielhaft die Verbandszeitschrift "Sterka Ciwan" (Stern der Jugend) der "Union der Jugendlichen aus Kurdistan" (YCK). Ihre meisten Berichte gehen auf die Guerilla-Kämpfer, die kurdische Kultur und den KADEK , aber auch auf dessen Teilund Nebenorganisationen ein. Auch die "Partei der freien Frauen" (PJA) verfügt mit der "Jina Serbilind" (Die stolze Frau) über eine eigene Zeitschrift. 87 Der KADEK agitiert auch über das Internet. Zahlreiche Homepages der Teilund Nebenorganisationen geben die Erklärungen der Führungsgremien des KADEK wieder. Auf den Internetseiten des Berliner "Kurdistan Informations-Zentrums" (KIZ) werden Erklärungen des KADEK veröffentlicht. 3.5 Der KADEK engagiert sich in einem prokurdischen Bündnis bei den Parlamentswahlen in der Türkei Anfang Juli geriet die türkische Regierungskoalition, die sich aus der "Demokratischen Linkspartei" (DSP), der "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) und der "Mutterlandspartei" (ANAP) zusammensetzte, in eine schwere Krise, als mehrere Minister ihren Rücktritt erklärten. Die Regierung verlor ihre parlamentarische Mehrheit, nachdem mehrere Minister ihren Rücktritt und 50 Abgeordnete ihren Austritt aus der von Premierminister Bülent ECEVIT angeführten DSP erklärt hatten. Auf die Regierungskrise hin einigte man sich, am 3. November Neuwahlen durchzuführen. Für die Wahlen formierte sich das prokurdische Wahlbündnis "Block für Arbeit, Frieden und Demokratie", auch "linker Block" genannt. In diesem Bündnis hatten sich die "Demokratische Volkspartei" (DEHAP), die "Arbeitspartei" (EMEP) und die "Revolutionäre Sozialistische Partei" (SDP) zusammengeschlossen. Die prokurdische "Demokratische Partei des Volkes" (HADEP) nahm wegen eines laufenden Parteiverbotsverfahrens an der Wahl nicht teil. Nachdem das Wahlbündnis gegründet worden war, sollen führende Politiker der HADEP, der EMEP und der SDP aus ihren Parteien ausgetreten sein und sich der als "Sammelbecken" dienenden DEHAP angeschlossen haben.52 Der KADEK bzw. seine Unterund Nebenorganisationen riefen die Kurden in Europa auf, ihre Verwandten und Bekannten zu mobilisieren, damit diese den "linken Block" wählen. Da das türkische Wahlrecht keine Briefwahl kennt, sollten die im Ausland lebenden Wahlberechtigten zur Stimmabgabe in die Türkei reisen. Der prokurdische "linke Block" unter der "Führung" der DEHAP konnte keinen Erfolg verbuchen, da er lediglich 6,2 % der Stimmen auf sich vereinigte. Hierauf äußerten die prokurdischen Parteien, die nicht in das Parlament einziehen konnten, am Wahlsystem und insbesondere an der 10-Prozent-Hürde Kritik. Osman ÖCALAN, Mitglied des Präsidialrats des KADEK, räumte der regierenden "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) eine Frist von sechs Monaten ein, um das Kurdenproblem zu lösen und einen auf Demokratie ausgerichteten Kurs zu gestalten. Er verlangte zugleich, binnen drei Monaten die gegen seinen Bruder Abdullah ÖCALAN verhängte Isolationshaft aufzuheben und für Guerillakämpfer eine Generalamnestie zu erlassen.53 3.6 Aktivitäten Thüringer KADEK-Anhänger im Jahr 2002 3. Jahrestag der Festnahme Abdullah ÖCALANs Am 15. Februar gedachten Kurden in Europa und der Türkei des 3. Jahrestages der Festnahme ÖCALANs und dessen Verbringung in die Türkei. 52 "Özgür Politika", 6. September 2002 53 "Özgür Politika", 19. November 2002 88 Der "Kurdisch-Deutsche Freundschaftsverein Erfurt e.V." betrieb an diesem Tag in der Innenstadt von Erfurt einen Informationsstand, der mit Bildern ÖCALANs versehen war. Unter dem Motto "Völker existieren mit ihrer Identität - Unsere politische und nationale Identität ist unsere Würde" verteilten die Teilnehmer der Aktion Flugblätter und sammelten Unterschriften. Mit friedlichen Aufzügen, Kundgebungen, Mahnwachen, Informationsständen und Versammlungen in kurdischen Vereinen, die der PKK nahe stehen, verurteilten Kurden in Deutschland das "internationale Komplott"54 und erklärten ihre Verbundenheit mit ihrem Anführer. Im Vorfeld hatte die Führung der PKK zu friedlichen Aktionen aufgerufen. Die Zentralveranstaltung, für die europaweit mobilisiert worden war, fand unter dem Motto "Freiheit für ÖCALAN, Frieden in Kurdistan" in Strasbourg/Frankreich statt. An der Demonstration nahmen etwa 6.000 Sympathisanten teil. Die Veranstaltungen dienten auch dazu, die "Kampagne zur Anerkennung der Muttersprache" zu thematisieren. PKK-Präsidialratsmitglied Osman ÖCALAN bezeichnete in einer Erklärung55 das Jahr 2002 als Jahr des "demokratischen Serhildan" (Volksaufstand). Nach wie vor habe die Lösung der Kurdenfrage mit Hilfe eines demokratischen "Kampfes für die Freiheit" höchste Priorität. Das kurdische Volk müsse seinen Beitrag mit "politischen, rechtlichen und kulturellen Aktionen" leisten. NEWROZ Alljährlich begehen die Kurden am 21. März ihr traditionelles Neujahrsfest "NEWROZ", in dem sie ein Symbol für Unabhängigkeit und Freiheit sehen, mit zahlreichen Veranstaltungen im Bundesgebiet. In der Innenstadt von Erfurt fand am 20. März ein vom "Kurdisch-Deutschen Freundschaftsverein Erfurt e.V." veranstalteter Fackelzug statt, an dem sich ca. 120 Personen - in der Mehrzahl Kurden - beteiligten. In dessen Mittelpunkt standen kulturelle Darbietungen mit Tänzen und Gesängen. Die Teilnehmer führten die traditionellen Fackeln mit sich und dokumentierten ihre Verbundenheit mit ÖCALAN durch Bildnisse und Transparente. Diese trugen Aufschriften wie "Freiheit für ÖCALAN", "Es lebe ÖCALAN", "Freiheit und Frieden für Kurdistan" oder "Es lebe NEWROZ 2002". Die Teilnehmer skandierten Parolen gleichen Inhalts in ihrer Landessprache. Während des Aufzugs wurden Flugblätter der "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM) an Passanten verteilt, um unter der Überschrift "NEWROZ 2002 ist unsere Hoffnung auf Frieden, Freiheit und Anerkennung der kurdischen Identität" von neuem auf die "Muttersprachekampagne" hinzuweisen. Das Flugblatt endete mit den Worten: "Die Kurdinnen und Kurden hoffen auf Frieden und Anerkennung! Es lebe NEWROZ! Frieden in Kurdistan!" Die zentrale europaweite NEWROZ-Veranstaltung, die wie in den Vorjahren von der YEKKOM angemeldet worden war, fand unter dem Motto "NEWROZ - Fest des Friedens, der Freiheit und der Völkerverständigung" am 23. März in Düsseldorf statt. An dem friedlichen Aufzug, an den sich eine Kundgebung anschloss, nahmen etwa 38.000 Personen, unter denen sich auch in Thüringen ansässige Kurden befanden, teil. 54 Als Komplottstaaten gelten die Türkei, Griechenland, Israel, Kenia und die USA 55 "Özgür Politika", 20. Februar 2002 89 Veranstaltungen im Rahmen der Kampagne "Kurden fordern Gerechtigkeit - die PKK soll aus der Terrorliste gestrichen werden" Am 11. Mai führte der "Kurdisch-Deutsche Freundschaftsverein Erfurt e.V." in der Fußgängerzone von Erfurt eine Mahnwache durch. An der Kundgebung beteiligten sich etwa 80 Kurden, von denen einige Bilder des Parteivorsitzenden Abdullah ÖCALAN mit sich trugen. Die Demonstranten verteilten auch Flugblätter, mit denen sie gegen die Maßnahme der EU protestierten. Die PKK sei, hoben die Flugblätter hervor, seit längerer Zeit eine demokratische Partei, da sie auf Gewalt verzichtet habe. Im Rahmen der Protestaktionen in Thüringen veranstaltete der "Kurdisch-Deutsche Freundschaftsvereins Erfurt e. V." am 29. Juni unter dem Motto "Kurden sind keine Terroristen" einen Fahrradkorso. An der Tour, die von Kühnhausen nach Erfurt führte, nahmen ca. 30 Personen teil. Sie trugen T-Shirts, die mit dem Abbild Abdullah ÖCALANs und der Aufschrift "Kurden sind keine Terroristen" versehen waren. Zudem führten sie auch zwei Fahnen mit sich, auf denen ÖCALAN abgebildet war. Nach Abschluss der Fahrt fand eine Saalveranstaltung statt, die der kurdische Fernsehsender MEDYA-TV live übertrug. Wie die "Özgür Politika" vom 30. Juni berichtete, hatten auch in Rüsselsheim und Darmstadt Radtouren stattgefunden, um die Kampagne zu unterstützen. Hunderte von Jugendlichen sollen sich an den Aktionen beteiligt haben, um die Aufnahme der PKK in die EU-Terrorliste zu verurteilen und die Aufhebung der gegen Abdullah ÖCALAN verhängten Todesstrafe zu fordern. Darüber hinaus organisierte der "Kurdisch-Deutsche Freundschaftsverein Erfurt e. V." in den Monaten Juli, August und November "Infostände über Kurdistan". Auf dem Erfurter Anger zeigten die Kurden Abbildungen von ÖCALAN sowie Transparente, die denen der MaiVeranstaltung glichen. Eine Person trug ein T-Shirt mit dem Abbild ÖCALANs und dem Text "Es lebe KADEK". Das von der "Konföderation kurdischer Vereine in Europa" (KONKURD), die dem KADEK nahe steht, verfasste Infoblatt mit dem Titel "Kurden fordern Gerechtigkeit. PKK von der Terrorliste streichen!" wurde an Passanten verteilt. In ausliegenden Unterschriftenlisten konnten sich Passanten eintragen. Internationales Kurdistan-Kulturfestival am 7. September in Gelsenkirchen Am 7. September fand unter dem Motto "Frieden braucht Gerechtigkeit" in der "Arena auf Schalke" in Gelsenkirchen das diesjährige Kurdistan-Kulturfestival statt. An der Veranstaltung beteiligten sich etwa 45.000 Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet und dem europäischen Ausland. Die Besucher, darunter auch Kurden aus Thüringen, reisten überwiegend mit der Bahn - teilweise mit Sonderzügen - und mit Bussen an. Neben der "Demokratisierung in der Türkei" (Gesetzreform) stellten die Parlamentswahlen in der Türkei ein Hauptthema dar. Die Anwesenden wurden aufgerufen, die "Demokratische Partei des Volkes" (HADEP) bzw. die "Demokratische Volkspartei" (DEHAP) zu unterstützen. 4. Linksextremistische türkische Organisationen Auch im Jahre 2002 thematisierten linksextremistische türkische Organisationen die Hungerstreikaktionen, die seit Oktober 2000 in türkischen Haftanstalten durchgeführt werden. Sie 90 richteten sich gegen die Verlegung von Häftlingen aus Großraumzellen in neue Gefängnisse mit Einzelzellen, spitzten sich bis zum "Todesfasten" zu und forderten bislang über 100 Todesopfer. Im Jahr 2002 ließ die Intensität der Protestaktionen, die die "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML), die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) durchführten, nach. Mit Ausnahme der DHKP-C erklärten acht Organisationen im Mai das "Todesfasten" für beendet. Als Begründung führten sie an, das "Todesfasten" habe seine revolutionäre Aufgabe erfüllt; ideologisch und moralisch sei ein Sieg errungen worden. Sie betonten jedoch, dass zwar das "Todesfasten", nicht aber der Widerstand gegen die Gefängnisreform beendet worden sei. Weitere gemeinsame Aktionen richteten sich gegen den "amerikanischen Imperialismus" sowie gegen die Politik, die Israel unter der Schirmherrschaft der USA gegen die Palästinenser verfolgt. Im Internet und in einer von mehreren revolutionär-marxistischen Gruppierungen, unter ihnen die MLKP und beide Flügel der TKP/ML, veröffentlichten Flugschrift wird dem "US-Imperialismus" und Israel unterstellt, in Palästina Völkermord zu begehen. "Der USImperialismus, der Zionismus und der Schlächter Scharon", lauteten u. a. die gemeinsamen Forderungen, "müssen Palästina sofort verlassen." In organisatorischer Hinsicht sind linksextremistische türkische Parteien in Thüringen bisher nicht vertreten. Die wenigen Mitglieder und Anhänger der TKP/ML, die im Freistaat leben, beteiligten sich sporadisch an Veranstaltungen und Aktivitäten der verschiedenen linksextremistischen Organisationen im Bundesgebiet. 4.1 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) Ziele und Strategie Die TKP/ML, die in der Türkei verboten ist, orientiert sich sowohl an den Lehren von MARX, ENGELS und LENIN als auch von MAO TSE-TUNG. Seit 1994 in zwei Flügel gespalten strebt sie an, das gegenwärtige Staatsgefüge der Türkei gewaltsam zu zerschlagen, um eine marxistisch-leninistisch orientierte, "demokratische Volksherrschaft" zu errichten. Beide Flügel unterhalten in der Türkei voneinander getrennte, bewaffnete Gruppierungen unter der identischen Bezeichnung "Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" (TIKKO), die vorwiegend auf türkische Sicherheitseinrichtungen terroristische Anschläge verüben. In Deutschland gingen in der jüngsten Vergangenheit von der TKP/ML keine Gewalttaten mehr aus. Alljährlich führt sie Spendenkampagnen durch, um den Guerillakampf in der Türkei zu unterstützen. In einer Broschüre, die aus Anlass des 30. Jahrestags ihrer Gründung am 24. April herausgegeben worden ist, erläuterte die TKP/ML ihre Ziele und Strategie. Die Partei strebt in der Türkei den Sturz des "Imperialismus", "Feudalismus" und "Kapitalismus" an und propagiert den Bürgerkrieg als strategisches Mittel. Ihre Hauptaufgabe sieht sie darin, die Massen zu organisieren und auf ein "Kriegsklima" vorzubereiten. In Deutschland vertreibt die Partei, die mit einer eigenen Homepage im Internet vertreten ist, die Publikationen "Isci Köylü Kurtulusu" (Arbeiterund Bauernbefreiung) und "Devrimci Demokrasi" (Revolutionäre Demokratie), um für ihre Ziele zu werben. 91 Aufbau und Organisation Im April 1972 von Ibrahim KAYPAKKAYA gegründet ging die TKP/ML aus der marxistisch-leninistischen "Kommunistischen Partei der Türkei" (TKP) und der "Türkischen Volksbefreiungspartei" (THKP) hervor. Der streng hierarchisch organisierten Kaderpartei TKP/ML gehören in Deutschland ungefähr 1.500 Mitglieder an. Seit ihrer Gründung ist die Partei von zahlreichen Zusammenschlüssen, Spaltungen und Wiedervereinigungen geprägt worden, zuletzt 1994 durch die Spaltung in den "Partizan"-Flügel und das "Ostanatolische Gebietskomitee" (DABK). Der "Partizan"-Flügel herrscht sowohl wegen der Anzahl seiner Anhänger als auch seiner Aktivitäten in der Partei vor. Beide Flügel unterhalten Basisorganisationen, die ihre Zugehörigkeit zur Partei weitestgehend verschleiern. Zum "Partizan"-Flügel gehören in Deutschland die "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V." (ATIF), auf europäischer Ebene die "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK). Das "Ostanatolische Gebietskomitee" unterhält die "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland" (ADHF) sowie die "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK). Veranstaltungen zum Gedenken an Ibrahim KAYPAKKAYA und zum 30. Gründungsjahr der TKP/ML Die alljährlichen Gedenkveranstaltungen zu Ehren des Parteigründers Ibrahim KAYPAKKAYA bildeten in diesem Jahr anlässlich des 30. Gründungsjahrs einen besonderen Höhepunkt. So führte der "Partizan"-Flügel am 25. Mai in Wuppertal eine Großveranstaltung durch, an der sich mehr als 6.000 Personen beteiligten. Nach Angaben der "Özgür Politika" wurde nicht nur KAYPAKKAYAs gedacht, sondern auch anderer Persönlichkeiten des revolutionären Kampfes in der Türkei. In ihrer Ausgabe vom 8. Mai rief die "Özgür Politika" zu einer Gedenkveranstaltung anlässlich des "30. Gründungsjahres der Sonne des April 1972 - Ibrahim KAYPAKKAYA" am 18. Mai in der Eissporthalle in Frankfurt am Main auf. Als Veranstalter des kulturell umrahmten Fests, das ca. 3.500 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet besuchten, wurde die ADHF genannt. Die TKP/ML beendet das "Todesfasten" In einer gemeinsam veröffentlichen Erklärung von Gefangenenvertretern acht türkischer Organisationen, zu denen beide Flügel der TKP/ML zählen, wurde am 28. Mai das Ende des "Todesfastens" bekannt gegeben. Dennoch riefen die Organisationen dazu auf, mit anderen Mitteln die "Forderungen zu unterstützen und gegen den Terror in Form von Einzelzellen und Isolationshaft zu kämpfen". "Internationales Solidaritätskomitee mit den politischen Gefangenen" (UPOTUDAK) Der "Partizan"-Flügel der TKP/ML gründete das "Internationale Solidaritätskomitee mit den politischen Gefangenen" (UPOTUDAK) mit Hauptsitz in Paris, um die in der Türkei inhaftierten Anhänger der Partei zu unterstützen. In einer Broschüre, die das UPOTUDAK im Mai herausgab, nahmen die Verfasser zu den vorherrschenden Haftbedingungen und zu den Hintergründen Stellung, die zum Bau der so genannten F-Typ-Gefängnisse führten. 92 ATIK und ATIF gehen auf den Nahost-Konflikt ein Auf Flugblättern und im Internet äußerte sich sowohl die ATIK als auch die ATIF über die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern. "Die Barbarei und die Massaker des israelischen Zionismus", urteilten sie, "können den berechtigten Kampf des palästinensischen Volkes nicht verhindern." "Wie auch zu Hitlerszeiten, als auch die Juden ermordet wurden", hieß es an anderer Stelle, "wird nun das palästinensische Volk ermordet." 4.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) Überblick Die "Devrimci Sol" (Dev Sol; Revolutionäre Linke), die in Deutschland seit 1983 verboten ist, spaltete sich nach internen Führungsstreitigkeiten in zwei Flügel. Mitte der 90er Jahre gingen aus ihnen die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und die "Türkische Volksbefreiungspartei/-Front - Revolutionäre Linke" (THKP/-C) hervor. Die THKP/C, die bundesweit etwa 50 Mitglieder zählt, wurde in Deutschland im August 1998 mit einem Betätigungsverbot belegt. Im Berichtsjahr entwickelte sie keine nennenswerten Aktivitäten. Die wesentlich bedeutendere, von Dursun KARATAS gegründete DHKP-C verfügt in der Bundesrepublik, wo sie seit 1998 gleichfalls verboten ist, über etwa 750 Mitglieder. In Deutschland bedient sie sich u. a. der Publikationen "Devrimci Sol" (Revolutionäre Linke) und "Ekmek ve Adalet" (Brot und Gerechtigkeit), um ihre Ziele und Ideen zu propagieren. Ebenso nutzt sie intensiv das Internet, um Berichte über aktuelle Ereignisse, Aufrufe usw. zu verbreiten. Ziele und Strategie Die militante DHKP-C orientiert sich an den Lehren des Marxismus-Leninismus, strebt die Zerschlagung des türkischen Staats und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft an. Sie bedient sich der Gewalt, um ihre Ziele durchzusetzen. In der Türkei wurden in der Vergangenheit zahlreiche Terroranschläge verübt, zu denen sich deren militärischer Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC), bekannte. In Deutschland hingegen hielt die DHKP-C an ihrer friedlichen Linie fest. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Flügeln DHKP-C und THKP/-C fanden auch im Jahr 2002 nicht statt. Die DHKP-C reagierte erstmals auf die Jahresberichte der Verfassungsschutzbehörden. Ihr Amsterdamer Büro leitete mehreren Verfassungsschutzbehörden per E-Mail eine umfassende Gegendarstellung zu den Jahresberichten 2001 zu. Am 17. Juni ging im Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz ein Bericht mit der Überschrift "AUF DEM BERICHT 2001 DES VERFASSUNGSSCHUTZES"56 ein, der 55 Seiten umfasste. Darin wies die DHKP - C Teile des Berichts als unwahre Beschuldigung zurück und bestritt eine von ihrer Organisation ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Deutschland. Gleichwohl bekannte sie sich zu Gewalttaten gegen türkische Sicherheitskräfte und ihrer dominanten Rolle während des Hungerstreiks in den türkischen Haftan56 Fehler im Original 93 stalten. "Es ist ganz klar, dass man aufgrund gewisser Vorurteile unserer Organisation gegenüber besorgt ist. Dieses Besorgtsein verleitet den Verfassungsschutz zu falschen Schlussfolgerungen", lautete das Fazit des Berichts. "Komitee gegen Isolationshaft" (IKM) erklärt die Fortsetzung des "Todesfastens" Das von der DHKP-C gesteuerte "Komitee gegen Isolationshaft" (IKM) verbreitete seit dem 4. Juni im Internet die Nachricht, acht türkische Organisationen - mit Ausnahme der DHKP-C - hätten am 28. Mai das "Todesfasten" für beendet erklärt. Unter der Überschrift "Die Gefangenen der DHKP-C setzen das Todesfasten fort" übte das Komitee zugleich massiv Kritik am Verhalten der anderen Gruppierungen und rief erneut auf, gemeinsam zu handeln. Die DHKP-C reagiert auf ihre Aufnahme in die EU-Liste der Terrororganisationen Am 2. Mai beschloss der EU-Rat in Brüssel, u.a. auch die DHKP-C in die Liste der terroristischen Organisationen aufzunehmen. Daraufhin wurden Konten der Organisation "eingefroren" und Büros geschlossen. Der türkischen Tageszeitung "Hürriyet" vom 3. Mai zufolge wurden auf einer Pressekonferenz der DHKP-C Drohungen gegen die EU ausgesprochen. Die Türkei solle sich nicht in Sicherheit wiegen; der "bewaffnete Widerstand" sei durch die Aufnahme in die Liste nicht zu Ende. Anderen Berichten nach bewertete die Organisation die Maßnahme des EU-Rats als "einfach lächerlich". Die Aufnahme in die Terrorliste würde keinerlei Einschränkung der Aktivitäten nach sich ziehen. Im Zuge der Proteste wandten sich am 27. Oktober auf einem weltweiten Aktionstag in Brüssel verschiedene antiimperialistische Gruppen gegen die "Kriminalisierung" linker Bewegungen durch die USA und die Europäische Union. Unter den etwa 250 Personen, die sich an der Demonstration beteiligten, waren die Anhänger der DHKP-C stark vertreten. 5. Islamistische Organisationen Die islamistischen Organisationen verfügen mit 30.600 Mitgliedern und Anhängern über das größte Personenpotenzial unter den extremistischen Ausländerorganisationen. Dennoch stellen ihre Anhänger im Verhältnis zu den in Deutschland lebenden Ausländern muslimischen Glaubens lediglich eine verschwindend kleine Minderheit dar. Überwiegend verfolgen diese Organisationen das Ziel, die Regierungssysteme in ihren Heimatländern durch eine auf Koran und Scharia gründende islamistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen. Ihren Ursprung haben sie in Ländern mit starken islamistischen Bewegungen - so in Ägypten, Algerien, im Libanon, in den von Israel besetzten und nun unter Selbstverwaltung der Palästinenser stehenden Gebieten, in der Türkei sowie in der Theokratie der Islamischen Republik Iran. Islamisten gehen davon aus, dass mit den im Koran/in der Scharia, in der Sunna und in den Hadithen enthaltenen Bestimmungen eine alle Lebensbereiche regelnde Ordnung vorgegeben sei, die es überall zu verwirklichen gelte. Daher bemühen sich islamistische Organisationen, ihren Anhängern auch in Deutschland Räume für ein Leben nach der Scharia zu schaffen. 94 5.1 Verbotsmaßnahmen gegen islamistische Vereine Bundesinnenminister Otto SCHILY verbietet islamistischen Verein "Al-Aqsa e.V." Der Bundesminister des Innern hat den in Aachen ansässigen Verein "Al-Aqsa e.V." am 5. August verboten. Die Verbotsmaßnahme beruht auf der Rechtsgrundlage der SSSS 3 und 14 des Vereinsgesetzes (VereinsG) und stellt den ersten Anwendungsfall der durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz neu eingeführten Verbotsgründe des SS 14 VereinsG dar57. Im Rahmen des Vollzugs wurden auch die Vereinsräume und die Wohnungen zweier Vorstandsmitglieder durchsucht und das Vereinsvermögen beschlagnahmt. Bei den Ermittlungen der Polizei in den Vereinsräumen und den Wohnungen der Vereinsvorsitzenden Mahmoud AMR und Saif THABET wurden umfangreiche Unterlagen und Materialien, darunter Computer, diverse Datenträger, Videos und Publikationen, sichergestellt. Darüber hinaus wurden von Konten des Vereins in Köln und Aachen rund 300.000 Euro Vereinsvermögen eingezogen. Der Verein, wurde in der Verbotsverfügung unter anderem ausgeführt, unterstütze und befürworte Gewaltanwendung, um politische, religiöse oder sonstige Belange durchzusetzen. Er fördere darüber hinaus mit der palästinensischen HAMAS eine Vereinigung außerhalb des Bundesgebiets, die Anschläge gegen Personen oder Sachen veranlasse. Außerdem richteten sich die Aktivitäten von "Al-Aqsa e.V." gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Als Leiter und erster Vorsitzender des Vereins, der 1991 gegründet wurde, fungierte der jordanische Staatsangehörige Mahmoud Mousa AMR. Laut Satzung umfassten die Ziele des Vereins Hilfeleistungen für in der Bundesrepublik lebende Palästinenser, die Durchführung von humanitären Projekten für bedürftige Landsleute in der Herkunftsregion sowie die Unterstützung und Förderung von Bildungsstätten in den palästinensischen Autonomiegebieten. Die bundesweit, vornehmlich in Moscheen und "Islamischen Zentren" (IZ) oder während öffentlicher - durch den Nahost-Konflikt motivierten - Kundgebungen und Demonstrationen sowie bei Zusammenkünften in nicht-religiösen Einrichtungen gesammelten Spendengelder flossen auch an Organisationsstrukturen in den teilautonomen palästinensischen Gebieten, die der palästinensisch-islamistischen Terrororganisation HAMAS zuzurechnen sind oder unter deren Einfluss stehen. Das erklärte Ziel der HAMAS ist es, den Staat Israel zu zerstören und Palästina zu "befreien". In den Spendenaufrufen warb der Verein ausdrücklich auch um die Unterstützung der "Märtyrerfamilien"58, womit er die Selbstmordattentate der HAMAS in Israel und in den besetzten Gebieten zumindest mittelbar billigte. Der "Al-Aqsa e.V." und dessen Vorsitzender unterhielten auch Verbindungen zu den Organisationen "Islamischer Bund Palästina" (IBP) und "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD), die in Deutschland von Angehörigen der islamistischen "Muslimbruderschaft" (MB) gegründet wurden. 57 Hierbei handelt es sich u. a. um die Unterstützung von Vereinigungen außerhalb des Bundesgebiets, die Anschläge gegen Sachen befürworten und/oder veranlassen, sowie um die Befürwortung und/oder Unterstützung von Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung politischer, religiöser oder sonstiger Belange. Durch das neue Vereinsgesetz können darüber hinaus auch Vereine, deren Tätigkeit sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, mit einem Verbot belegt werden. 58 Als solche werden im Sprachgebrauch u. a. der HAMAS die Familienangehörigen der bei Selbstmordanschlägen umgekommenen HAMAS-Aktivisten bezeichnet. 95 Am 9. September fand vor dem Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf eine Kundgebung statt, an der sich lediglich etwa 30 Personen beteiligten. Sie verteilten Flugblätter, die die Verbotsverfügung als willkürlich und unrechtmäßig angriffen. Inzwischen hat der Verein beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig gegen das Verbot Klage eingereicht. Weitere Teilorganisationen des "Verbandes der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. Köln" - ICCB (sog. Kalifatsstaat) verboten Am 16. September 2002 hat der Bundesminister des Innern weitere Teilorganisationen des "Kalifatsstaats" verboten. Diese Entscheidung betraf 16 Vereine. Etwa 100 Objekte - darunter Moscheen, Vereinslokale und Wohnungen von Vorstandsmitgliedern - wurden in BadenWürttemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz durchsucht. Bei dieser Aktion, die am 19. September erfolgte, wurde nicht nur das Vermögen von Vereinen, sondern auch umfangreiches Beweismaterial sichergestellt. Die im März 1994 von Cemaleddin KAPLAN ausgerufene, ab 1995 von dessen Sohn Metin KAPLAN gelenkte islamistische Vereinigung "Der Kalifatsstaat" war bereits mit Verfügung vom 8. Dezember 2001 vom Bundesminister des Innern, Otto SCHILY, verboten worden. Diese extremistische Vereinigung, der zuletzt etwa 1.100 Mitglieder in 19 Teilorganisationen zugerechnet wurden, strebte letzten Endes die Weltherrschaft des Islam unter Führung eines einzigen Kalifen an. Somit verstieß sie gegen das Demokratieund Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Ebenso gefährdete sie deren innere Sicherheit und außenpolitischen Belange. Das Verbot des "Kalifatsstaats" und einiger seiner Teilorganisationen wurde mit Urteil vom 27. November 2002 durch das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig bestätigt. Ungeachtet des Verbots ist die Vereinigung weiterhin publizistisch aktiv. Nachdem die Herausgabe der verbandseigenen Zeitschrift "Ümmet-i Muhammed" (Die Gemeinde Mohammeds) eingestellt worden ist, erschien die ebenfalls dem "Kalifatsstaat" zuzuordnende Zeitschrift "Beklenen ASR-I SAADET" (Das erwartete Jahrhundert der Glückseligkeit). Sie veröffentlicht nicht nur Erklärungen des "Kalifen" Metin KAPLAN, sondern agitiert auch aggressiv gegen das Verbot der Vereinigung und die andauernde Inhaftierung von KAPLAN59. Hingegen betreibt die Zeitschrift "Der Islam als Alternative" (D.I.A.), die ebenfalls neu erschienen und auch dem "Kalifatsstaat" zuzurechnen ist, eine etwas gemäßigtere Propaganda. Organisationen, die dem "Kalifatsstaat" zuzuordnen sind, wurden in Thüringen bisher nicht bekannt. 6. Islamistischer Terrorismus Die Bedrohung, die vom international agierenden arabisch/islamistischen Terrorismus ausgeht, ist weiterhin groß. Nach den Terroranschlägen vom 11.September 2001 kam es auch im Jahre 2002 weltweit zu Bedrohungen und Bombenanschlägen durch islamistisch/terroristische Gruppen. Die Anschläge auf Djerba vom 11. April, wo 14 deutsche Touristen ums Leben kamen, und auf Bali 59 KAPLAN wurde am 15. November 2000 wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten zu vier Jahren Haft verurteilt. Eine von KAPLAN beantragte vorzeitige Haftentlassung wurde im Mai dieses Jahres durch das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf abgelehnt. Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte am 11. Juli den ablehnenden Entscheid durch das OLG, in dem eine günstige Täterprognose verneint wurde. 96 am 12. Oktober, wo ein überwiegend von australischen Staatsbürgern besuchtes TouristenZentrum das Ziel war, ragten am stärksten heraus. Die Anschläge werden der Organisation Usama Bin LADENs, der "AL QAIDA"60, bzw. mit ihr in Verbindung stehenden radikalen islamistischen Gruppen zugerechnet. Die Anschläge zeigen, dass die "AL QAIDA" zunehmend auch weniger abzusichernde Einrichtungen - so genannte weiche Ziele - in das Kalkül ihrer Anschlagsplanungen einbezieht. In Videound Tonbandaufzeichnungen, die vom katarischen Fernsehsender "Al Dschasira" ausgestrahlt wurden, erneuerten sowohl Bin LADEN als auch sein Stellvertreter Aiman alZAWAHIRI ihre Drohungen, gegen die USA und ihre Verbündeten weitere Anschläge durchzuführen. Erstmals wurde auch Deutschland als Verbündeter der USA an die Seite des Feinds Amerika gestellt. Aufgrund dieser Aussagen scheinen Terroranschläge gegen Einrichtungen der USA und ihrer Verbündeten in Deutschland oder gegen deutsche Einrichtungen im Ausland vermehrt in das Blickfeld der "AL QAIDA" zu geraten und können nicht mehr ausgeschlossen werden. Das Kontaktnetz der "Arabischen Mujahedin"61 erstreckt sich auf alle Kontinente, gründet jedoch nicht auf festen, geschlossenen Strukturen. Im Rahmen der weltweiten Fahndungsmaßnahmen nach terroristischen Gewalttätern, potenziellen Gefährdern oder Unterstützern terroristischer Gruppen kam es auch in Deutschland zu zahlreichen Ermittlungsverfahren. Deren Ziel ist es vorrangig, Einzelpersonen oder islamistische Gruppen mit mutmaßlichen Verbindungen zu den Attentätern des 11. September aufzuklären. Anhänger einzelner, den arabischen Mujahedin zuzurechnenden Kleinund Kleinstgruppen konnten inzwischen auch in Deutschland identifiziert werden. In Einzelfällen wurden bereits Gerichtsverfahren eröffnet. Zum Teil erhielten die festgestellten Personen in afghanischen Lagern der "AL QAIDA" eine ideologische und militärische Ausbildung, die sie in die Lage versetzt, terroristische Anschläge durchzuführen. In Thüringen haben sich bisher keine Hinweise auf Personen ergeben, die dem Bereich der arabischen Mujahedin oder sonstigen international agierenden Terrorgruppen zugeordnet werden können. Zur Bündelung des Informationsaufkommens sowie zur Koordinierung der gegebenenfalls zu ergreifenden Maßnahmen besteht seit dem 13.09.2001 auf Erlass des Thüringer Innenministeriums eine "Koordinierungsstelle Terrorismus". Diese setzt sich aus Vertretern des Landeskriminalamts, des Landesverwaltungsamts, der Generalstaatsanwaltschaft, der Polizeidirektion Erfurt und des Landesamts für Verfassungsschutz zusammen. 60 "AL QAIDA" bedeutet übersetzt "Die Basis".Sie ist eine in den 80er Jahren als Widerstandsgruppe gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan entstandene Organisation der Mujahedin, die sich überwiegend aus Freiwilligen arabischer Herkunft zusammensetzt. Seit 1993 verübte die "AL QAIDA" mehrere terroristische Anschläge gegen US-amerikanische Einrichtungen. 61 Panislamisch orientierte "Gotteskrieger" meist arabischer Herkunft, die an Kämpfen in Afghanistan, BosnienHerzegowina, Tschetschenien oder in Kaschmir teilgenommen haben und dazu religiöse wie auch paramilitärische und terroristische Unterweisungen in afghanischen, sudanesischen oder pakistanischen Trainingslagern erhalten haben. Dazu zählen Anhänger nahezu aller militanten islamistischen Organisationen aus den Ländern des Maghreb, aus Libyen, Ägypten, Sudan, Saudi-Arabien und aus dem Nahen Osten. 97 V. Scientology-Organisation (SO) 1. Scientology - ein Fall für den Verfassungsschutz Die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) stellte mit Beschluss vom 5./6. Juni 1997 fest, dass in Hinsicht auf die Scientology-Organisation (SO) tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bestehen und somit die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden gegeben sind. Das Menschenund Gesellschaftsbild der weltweit operierenden SO widerspricht demnach elementaren Prinzipien des Grundgesetzes. Der von der SO erhobene Absolutheitsanspruch, die totalitäre Ausrichtung der Organisation sowie die von ihr angestrebte Gesellschaftsordnung sind mit den Mechanismen einer parlamentarischen Demokratie unvereinbar. Die Auffassung, wonach nur den nach SO-Methoden "geklärten" und damit "perfekten" Menschen Grundrechte zustehen, widerspricht sowohl den in Artikel 1 Grundgesetz (GG) festgeschriebenen Menschenrechten als auch dem Gleichheitsgrundsatz (Artikel 3 GG). Das strikte Untersagen jeglicher Kritik an der SO gefährdet die in Artikel 5 GG verbriefte Meinungsfreiheit. Gegenüber so genannten Gegnern angewandte Verfolgungspraktiken stehen im Widerspruch zu dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 GG). 2. Hintergrund und Methoden Die erste "Church of Scientology"62 wurde 1954 von dem Science-Fiction Autor Lafayette Ronald HUBBARD (1911-1986) in den USA gegründet. Als Fundament der scientologischen Ideologie gilt das von HUBBARD bereits 1950 publizierte Buch "Dianetik - Die moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit". Diese ständig "weiterentwickelte" Lehre wird seither in eigens dazu eingerichteten so genannten DianetikZentren verbreitet. Dabei bedient man sich auch spezieller, von HUBBARD entwickelter Verfahren zur Persönlichkeitsveränderung. Dazu gehört u. a. die "Oxford-Persönlichkeitsanalyse", ein 200 Fragen umfassender Persönlichkeitstest, der oft den Einstieg in das Kurssystem von Scientology bedeutet. Weitere, darauf aufbauende Trainings sollen zunächst den Eindruck erwecken, die SO wolle helfen, die persönliche Situation des Einzelnen zu verbessern. Sie strebt jedoch vielmehr an, einen nach scientologischer Ideologie "perfekten Menschen" zu formen, einen Menschen der "clear" ist im Sinne ihrer Lehre und der sich auf der "Brücke zur völligen Freiheit" befindet. Dieser "ClearZustand", in dem der Mensch frei sei von "allen körperlichen Schmerzen und schmerzlichen Emotionen", soll mit einem nach festen Regeln durchgeführten Verfahren, dem Auditing, erreicht werden. Durch diese Fragetechnik - eine Mischung aus Verhör, Beichte und Therapie - sollen Scientologen angeblich die geistige Selbstbefreiung erfahren und sich zu Verfehlungen bekennen. Sofern dabei schmerzhafte Erinnerungen/Erlebnisse bekannt werden, nutzt sie die Organisation, um auf den jeweiligen SO-Anhänger gezielt Druck auszuüben bzw. ihn nach Belieben zu manipulieren. Diese Selbstoffenbarungen während einer Auditing-Sitzung werden von einem so genannten Auditor protokolliert. Mit derartigen, für die Teilnehmer sehr kostspieligen "Verfahren zur Persönlichkeitsveränderung" bindet die SO ihre Mitglieder strategisch an sich und beutet sie darüber hinaus finanziell aus. Letzten Endes 62 Der Begriff "Scientology" setzt sich aus den Worten "sciere" (lateinisch: wissen) und "logos" (griechisch: Lehre, Studium) zusammen. Er bedeutet demnach soviel wie "Studium der Weisheit". 98 strebt die SO an, eine Führungsrolle in der Gesellschaft zu übernehmen, um sie insgesamt zu "clearen". Der scientologische Erkenntnisweg führt von der Stufe "Clear" über die derzeit von I bis VIII reichenden Stufen eines "Operierenden Thetan" (OT). Ein Ziel besteht darin, durch Beschreiten der OT-Stufen scientologische Übermenschen zu produzieren, die durch Erschaffung einer neuen Weltordnung zur Rettung der Menschheit beitragen. Erst wenn der Scientologe diese "OT-Stufen" durchläuft, wird er auch mit der eigentlichen Zielsetzung der SO, der Welteroberung, konfrontiert.63 Organisationsstruktur Nach HUBBARDs Tod im Jahr 1986 und einer Reihe von internen Machtkämpfen entwickelte sich die SO unter David MISCAVAGE zu einem streng hierarchisch strukturierten, weltweit agierenden Netzwerk aus "Kirche", Wirtschaftsunternehmen und einer Vielzahl von Unterorganisationen. Eigenen Angaben zufolge wird Scientology in 129, über alle Kontinente verteilten Ländern von etwa 8 Millionen Mitgliedern praktiziert. Die SO mit ihren Unterorganisationen ist ähnlich einem Wirtschaftskonzern organisiert. Das Managementzentrum, die oberste Leitungsebene, die strategische Planungsebene und das i- deologische Hauptquartier des Imperiums befinden sich in Clearwater (Florida/USA). Die Europazentrale ist in Kopenhagen (Dänemark), die "Scientology Kirche Deutschland e.V." in München ansässig. Daneben existieren in einzelnen Bundesländern so genannte Kirchen, Missionen, Dianetik-Zentren oder Celebrity Centres. Die Befehlszentrale der SO, das "Religious Technology Center" (RTC), wird seit Mitte der achtziger Jahre von MISCAVAGE geleitet. Es ist im Besitz aller urheberrechtlich geschützten Zeichen und Produkte der SO und kontrolliert deren Lizenzvergabe und Verwendung. Für die Überwachung einzelner SO-Sektoren sind das "Watchdog Comittee" und das "International Scientology Management" verantwortlich. * Die wichtigste Teilorganisation und tragende finanzielle Säule der SO ist der 1979 zur Verbreitung der HUBBARDschen "Technologie" gegründete internationale Wirtschaftsverband "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE). Ihm sind alle Unternehmen, die nach scientologischen Lizenzen wirtschaften, angeschlossen. * Die "Church of Scientology International" bildet die "Mutterkirche", der alle Organisationen ("Missionen", "Kirchen" etc.) zugeordnet sind. Sie betreibt den Verkauf von Kursen, Materialien und Dienstleistungen. * Mit der "Association for Better Living and Education" (ABLE) sollen insbesondere Schüler und junge Erwachsene angesprochen werden.64 Diese Vereinigung widmet sich der SO nach den "Lösungen für eine belastete Gesellschaft", um auch in sozialen Bereichen eine Verbesserung der Lebenssituation nach dem Verständnis von Scientology zu ermöglichen. Zu ABLE zählen beispielsweise: 63 "Das System Scientology" - Broschüre des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, 2. Auflage, 2000 64 "Die Scientology-Organisation" - Broschüre des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 99 - "Narconon", Therapieangebot zur angeblichen Rehabilitierung von Drogenund Alkoholabhängigen (Nach Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg war bis 1993 kein einziger erfolgreicher Drogenentzug nachgewiesen worden.65), - "Criminon", Programm zur Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft, - die "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) zur Aufdeckung und Bekämpfung angeblicher Missstände in der Psychiatrie und - das "Zentrum für individuelles und effektives Lernen" (ZIEL), das Nachhilfeprogramme für lernschwache Schulkinder anbietet. Die SO versteht sich als "Kirche" und behauptet von sich selbst, eine Religionsgemeinschaft (Erlösungsreligion) in der Tradition des Buddhismus zu sein. Bereits im Jahre 1995 hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt, dass ein Auftreten der SO als "Kirche" lediglich ein Vorwand ist, der zur Verfolgung ihrer wirtschaftlichen Interessen dient.66 Durch rücksichtsloses Gewinnstreben werden Mitarbeiter ständig zu neuen Höchstleistungen angetrieben, um die politischen und wirtschaftlichen Ziele dieses Unternehmens zu maximieren. Die "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD) stellt eine von mehreren Organisationen der SO dar. Nach eigenem Bekunden verbreitet die SKD den religiösen Glauben der Scientology Kirche. In Schreiben an verschiedene Innenministerien verweist die SKD auf eine neue Vereinssatzung, die ein klares Bekenntnis zur rechtsstaatlichen und demokratischen Grundordnung der SO belegen soll. Die überarbeitete Satzung wurde im März dieses Jahres beim Amtsgericht München eingetragen. Dennoch enthalten veröffentlichte Schriften und Kursunterlagen der SO sowie Einstellungen im Internet weiterhin verfassungsfeindliche Aussagen ihres Gründers L. Ron HUBBARD, nach dessen Diktion Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abgeschafft und durch neue, seiner Vorstellung entsprechenden Regeln in einer "neuen" oder "geretteten Zivilisation" ersetzt werden müssen. 3. SO in Thüringen "Ehrenamtliche Geistliche" der SO in Thüringen unterwegs Die Ereignisse am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, in deren Verlauf ein von der Schule verwiesener Gymnasiast 16 Personen und schließlich sich selbst erschossen hatte, machte sich die SO zunutze, um mit den Trauernden und Hinterbliebenen Kontakt aufzunehmen. So genannte Ehrenamtliche Geistliche (Volunteer Ministers) erschienen vorwiegend auf Plätzen mit größeren Menschenansammlungen - so vor dem Gutenberg-Gymnasium, vor dem Rathaus und auf dem Domplatz - und boten den Trauernden Gespräche zur Bewältigung der schwierigen Situation an. Zugleich verteilten sie die SO-Broschüre "Der Weg zum Glücklichsein - Ein Leitfaden zum besseren Leben, der auf gesundem Menschenverstand beruht". Die Broschüre geht angeblich auf L. Ron HUBBARD zurück und gliedert sich in 21 Verhaltensregeln, die ein konfliktfreies Zusammenleben möglich machen sollen. Sie ist so abgefasst, dass Außenstehende eine Verbindung zur SO nicht unbedingt erkennen können. Die Broschü65 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.5.1993 66 Beschluss vom 22.3.1995 - 5 AZB 21/94 100 re dient wohl mehr einer ersten Kontaktaufnahme für spätere weiter gehende Werbemaßnahmen. Bereits während der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York rühmte sich die Organisation, mit "Ehrenamtlichen Geistlichen" im unmittelbaren Katastrophenbereich Hilfe für traumatisierte Opfer und Helfer geleistet zu haben. Die SO trat mit ihren "Ehrenamtlichen Geistlichen" auch bei der Flugzeugkatastrophe am Bodensee sowie in den vom diesjährigen Hochwasser besonders betroffenen Gemeinden in Erscheinung. Ansonsten beschränkten sich die Aktivitäten der SO in Thüringen wie bisher darauf, über ihre Münchener Zentrale gelegentlich "Werbematerial" wie Zeitschriften, Magazine und Bücher an Einzelpersonen, Stadtverwaltungen, Polizeibehörden oder Redaktionen von Regionalblättern zu versenden. Darüber hinaus bietet die SO mehrsprachige Seiten im Internet an, mit denen sie sich selbst darstellen bzw. Mitglieder werben will. SO-Niederlassungen ("Kirchen", "Missionen", "Dianetik-Zentren") existierten im Freistaat auch im Jahre 2002 nicht. 101 VI. Ereigniskalender extremistischer Bestrebungen in Thüringen 5. Januar Thüringer Landesverband der KPD führt Mitgliederversammlung durch 12. Januar Demonstration der "Nationalen Jugend Jena" in Jena für ein "nationales Jugendzentrum"/Thüringer Autonome beteiligen sich an Gegendemonstrationen 14. Januar Patrick WIESCHKE tritt als stellvertretender Landesvorsitzender der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) zurück 19. Januar Demonstration von Neonazis unter dem Motto "Meinungsfreiheit für den Nationalen Widerstand" in Sondershausen/"Antifas" nehmen an Gegenveranstaltungen teil 26. Januar Schulungsveranstaltung von rechtsextremistischen Jugendlichen in Weimar 8., 13., 23. Februar Mahnwachen des rechtsextremistischen Spektrums in Jena, Bad Salzungen und Gotha/Autonome beteiligen an Demonstration gegen die Mahnwache in Jena 15. Februar Informationsstand des "Kurdisch-Deutschen Freundschaftsvereins Erfurt e.V." erinnert an Festnahme Abdullah ÖCALANS 1999 1./2. März "Skinhead Club Friedrichroda" verteilt in Friedrichroda gegen Ausländer gerichtete Flugblätter und Postwurfsendungen 5. März Autonome Szene Geras beteiligt sich in Gera an Demonstration für selbstverwaltetes Jugendzentrum 12. März DKP Jena und "Roter Tisch Ostthüringen" organisieren in Jena Vortragsund Diskussionsveranstaltung mit Harpal BRAR 15. März Skinheadkonzert in Erfurt aufgelöst 20. März "KurdischDeutscher Freundschaftsverein Erfurt e.V." veranstaltet aus Anlass des Neujahrsfestes NEWROZ Fackelzug in Erfurt 22. März Autonome Szene Geras beteiligt sich an Aktionen für selbstverwaltetes Jugendzentrum in Gera 102 22. März Hausbesetzung durch Angehörige der linksextremistischen Szene Geras 22. - 24. März Schulungsveranstaltung des "Deutschen Kollegs" in Mosbach bei Eisenach 22. - 24. März Frühjahrsfest der "Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." in Ilfeld bei Nordhausen 23. März Aufmarsch des rechtsextremistischen Spektrums unter dem Motto "Kein Blutvergießen deutscher Soldaten in fremden Ländern für amerikanische Interessen" in Erfurt/ Autonome nehmen an Straßenblockaden gegen den Aufmarsch teil 30. März Demonstration der autonomen Szene Eisenachs gegen "Überwachungsgesellschaft und Sicherheitswahn" in Eisenach 6. April Landesparteitag der NPD; Frank SCHWERDT als Landesvorsitzender im Amt bestätigt 11. April Mahnwache des "Skinhead Clubs Friedrichroda" unter dem Motto "Gegen Kriminalität und Schweinejournalismus" in Friedrichroda 14. April "Kameradschaft Ostara" beteiligt sich an Kranzniederlegung in Nordhausen 19. April NPDKreisverband Gera wählt neuen Vorstand 20. April Demonstration von Neonazis unter dem Motto "Meinungsfreiheit für Deutsche! - Jetzt und überall! - Ick will blot dat recht hemm, min Meenung to seggen" in Weimar/Autonome beteiligen sich an Gegenaktionen 27. April Informationsstand der "Republikaner" wirbt in Weimar um Unterstützungsunterschriften für Bundestagswahlen 30. April 2. Revolutionäre Mai-Demonstration der autonomen Szene unter dem Motto "Euer System ist Gewalt, eure Gewalt hat System - Es gibt keine Alternative zur sozialen Revolution" in Nordhausen April "Ehrenamtliche Geistliche" der ScientologyOrganisation werben in Erfurt für ihre Ziele 10. - 12. Mai 1. Verbandstreffen des KJVD in Porstendorf 103 11. Mai Informationsstand der "Republikaner" wirbt um Unterstützungsunterschriften für die Bundestagswahlen in Sömmerda 11. Mai Mahnwache des "Kurdisch-Deutschen Freundschaftsvereins Erfurt e.V." gegen Aufnahme der PKK in EU-Liste terroristischer Organisationen 11. Mai "Sandro-WEILKES-Gedenkmarsch" der NPD in Neuhaus am Rennweg 12. Mai Mahnwache von Neonazis unter dem Motto "Ruhm und Ehre dem Deutschen Soldaten" in Saalfeld 14./21. Mai Informationsstände der KPD werben in Gera und Arnstadt um Unterstützungsunterschriften für die Bundestagswahlen 21./22. Mai Informationsstände der "Republikaner" in Gotha und Erfurt 22. Mai Kundgebung der MLPD gegen Kriegspolitik der USA in Eisenach 24./25. Mai Informationsstände der NPD in Gera 29. Mai Patrick WIESCHKE u.a. wegen Anstiftung zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und einer Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt Mai NPD - Landesverband Thüringen schafft neue Struktur der Kreisverbände 1. Juni Demonstration des rechtsextremistischen Spektrums für "nationales Jugendzentrum" in Jena/Autonome Szene nimmt an Protesten gegen rechtsextremistische Veranstaltung teil 7., 8., 15. Juni Informationsstände der "Republikaner" sammeln in Gera, Eisenach und Gotha Unterstützungsunterschriften für die Bundestagswahlen 17. Juni Mahnwache der NPD unter dem Motto "Wir gedenken den Opfern des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953" in Jena 17. Juni "Republikaner" führen "Sternfahrt" zum KyffhäuserDenkmal durch 18. Juni Informationsstand der NPD in Gera 104 19./20.Juni Informationsstände der NPD sammeln in Erfurt und Jena Unterstützungsunterschriften für die Bundestagswahlen/ Vermummte greifen Informationsstand in Erfurt an 21. - 23. Juni Sonnenwendfeier der "Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." in Ilfeld bei Nordhausen 22. Juni Sonnenwendfeier der "Deutschen Heidnischen Front" (DHP) in der Burgruine Rothenburg 24. Juni - 6.Juli Informationsstände der NPD in Gera, Greiz und Zeulenroda 29. Juni "KurdischDeutscher Freundschaftsverein Erfurt e.V." protestiert mit Fahrradtour in Erfurt gegen Aufnahme der PKK in die EU-Liste der terroristischen Organisationen 12. - 19. Juli Autonome Szene Thüringens beteiligt sich am "5. Antirassistischen Grenzcamp" in Jena 13. Juli Skinheadkonzert in Elgersburg/Ilmkreis aufgelöst 19. Juli "KurdischDeutscher Freundschaftsverein Erfurt e.V." protestiert mit Informationsstand gegen Aufnahme der PKK in die EU-Liste der terroristischen Organisationen 19. Juli Skinheadkonzert in Porstendorf bei Jena abgebrochen 19. Juli Mahnwache des "Skinhead Clubs Friedrichroda" unter dem Motto "Gegen Preiswucher und Steuergeldverschwendung" in Friedrichroda 20. Juli Demonstration von Neonazis unter dem Motto "Stoppt den multikulturellen Wahn! - Volksbefragung statt Ignoranz deutscher Interessen" in Gotha/Angehörige des autonomen und Antifa-Spektrums beteiligen sich an "Antirassistischer Demonstration" gegen rechtsextremistischen Aufmarsch 2. August Autonome beteiligen sich an Spontandemonstration gegen Besuch Dr. STOIBERs in Gera 2. August "KurdischDeutscher Freundschaftsverein Erfurt e.V." fordert mit Informationsstand, PKK von der EU-Liste der terroristischen Organisationen zu streichen 3. August Mahnwache von Neonazis unter dem Motto "Vielfalt erhalten - gegen Multi-Kulti-Einheitsbrei" in Eisenach 105 6. August Mahnwache der NPD unter dem Motto "Hiroshima 45 und Israel 2002 - Amerikanischer Staatsterror" in Jena 8. August Farbbeutelanschlag gegen Polizeidirektion Erfurt 8. August "Antifascist Youth Erfurt" strahlt über lokalen Sender "Radio F.R.E.I" Sendung aus 9. August Demonstration des linksextremistischen Spektrums in Erfurt gegen Schusswaffeneinsatz eines Polizeibeamten in Nordhausen 17. August Kranzniederlegung von Neonazis unter dem Motto "Kein Vergeben - kein Vergessen - Rudolf HEß - es war Mord" in Rudolstadt 18. August Gedenkfeier der KPD in Buchenwald bei Weimar aus Anlass des 58. Jahrestages der Ermordung Ernst THÄLMANNs 23. August Autonome Szene beteiligt sich an Protesten gegen Wahlkampfauftritt SCHILLs in Erfurt und Jena 24. August Aufmarsch der NPD unter dem Motto "Repression hat viele Gesichter - vor allem in der Republik der kleinen Lichter" in Sondershausen 31. August Informationsstand der "Republikaner" in Eisenach 1. September DKP und "Roter Tisch Ostthüringen" mit Informationsstand auf "8. landesweiten Friedensfest" der PDS in Gera vertreten 7. September Informationsstand der "Republikaner" in Weimar 14. September Skinheadkonzert in Greiz aufgelöst 14. September Wahlkampfveranstaltung der NPD in Jena 18. - 20. September Informationsstände der "Republikaner" in Weimar 20. - 22. September Gemeinschaftstag der "Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." in Ilfeld bei Nordhausen 22. September In Thüringen erhalten die NPD und die "Republikaner" bei den Bundestagswahlen 0,9 % bzw. 0,8 % der Stimmen 28. September 7. Leserforum des Zentralorgans der KPD "Die Rote Fahne" in Viernau/Landkr. Schmalkalden-Meiningen 106 1. Oktober Erstausgabe der linksextremistischen Szeneschrift "Vertigo - Zeitung gegen den alltäglichen Wahn" 2. Oktober Autonome demonstrieren unter dem Motto "Für das Ende der Gewalt! Es gibt tausend Gründe, Deutschland zu hassen!" gegen "Tag der Deutschen Einheit" in Erfurt 2. Oktober Skinheadkonzert in Hohenleuben verhindert 3. Oktober Mahnwache des "Skinhead Clubs Friedrichroda" unter dem Motto "Für Solidarität im Volk und gegen sinnlose Kriegseinsätze" in Friedrichroda 3. Oktober Linksextremistisches Spektrum veranstaltet "Antirassistisches Fußballturnier" in Zella-Mehlis 6. Oktober Protestkundgebung von Hausbesetzern gegen angeblich geplanten Verkauf des Geländes der ehemaligen Firma "Topf & Söhne" in Erfurt 6./7. Oktober ATAG und "Autonome Antifa (M)" Göttingen veranstalten im Rahmen einer "Solitour für antifaschistische Projekte" Konzerte in Erfurt und Nordhausen 19./20. Oktober Schulungskurs "Geschichte" des "Deutschen Kollegs" in Mosbach bei Eisenach 24. Oktober Radiosendung "LeftBeat" der autonomen Szene Erfurt von lokalem Sender "Radio F.R.E.I." ausgestrahlt 26. Oktober Demonstration von Rechtsextremisten unter dem Motto "Dem Antifa-Terror entgegentreten - Für eine gleichberechtigte, nationale Jugendkultur" in Suhl/Autonome beteiligen sich an Gegenaktionen 7. November Radiosendung "LeftBeat" der autonomen Szene Erfurt von lokalem Sender "Radio F.R.E.I." ausgestrahlt 9. November Kundgebung der NPD unter dem Motto "Deutschlands Selbstbestimmung endlich vollenden" in Weimar/Autonome Szene beteiligt sich an Gegenaktionen 9. November Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremisten und Angehörigen des linken Spektrums in Jena 9./10. November Antifa-Gruppen und SDAJ beteiligen sich am "12. Antirassistischen/Antifaschistischen Ratschlag" in Weimar 16. November Skinheadkonzert in Gleichamberg/Landkr. Hildburghausen verhindert 107 16. November Schulungsveranstaltung von Rechtsextremisten in Erlau bei Suhl 17. November Gedenkveranstaltungen von Rechtsextremisten aus Anlass des Volkstrauertags auf der Schmücke bei Oberhof, in Gera und Jena 27. November "Kurdisch - Deutscher Kulturverein" feiert in Erfurt Gründung der PKK im Jahre 1978 29. November/1. Dezember "Staatspolitisches Winterseminar" der "Deutschen Akademie" in Mosbach bei Eisenach 30. November Gedenkfeier der KPD aus Anlass des "Tages der Grenztruppen" in Erfurt 6. - 8. Dezember "Juleingangsfeier" der "Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." in Ilfeld bei Nordhausen 14. Dezember Rechtsextremistisches "Bündnis für Thüringen" führt erstes Programmtreffen in Ronneburg durch 108 VII. Organisierte Kriminalität (OK) Der Freistaat Thüringen hat durch eine Änderung des Thüringer Verfassungsschutzgesetzes (ThürVSG) vom 20.06.2002 die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, um das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz als ein weiteres Instrument zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) einsetzen zu können. Organisierte Kriminalität ist die von Gewinnund Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind, durch mehr als zwei Beteiligte begangen werden, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig 1. unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen oder 2. unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohung oder 3. unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft tätig sind. Durch die langfristig angelegte Beobachtung krimineller Strukturen und Personen im Vorfeld konkreter Straftaten kann eine wirksamere Bekämpfung der OK erfolgen. Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz kann seine Erfahrungen in der Aufklärung konspirativ operierender Gruppierungen unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel in den Aufgabenbereichen der Spionageabwehr, der Beobachtung früherer, fortwirkender unbekannter Strukturen und Tätigkeiten der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen DDR in Thüringen sowie im Bereich der Extremismusbekämpfung in die Beobachtung der OK einbringen. 109 VIII.Spionageabwehr 1. Überblick Deutschland - weiterhin Aufklärungsziel fremder Nachrichtendienste Die Aufgabe der Spionageabwehr des TLfV besteht darin, geheimdienstliche Tätigkeiten fremder Nachrichtendienste auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland - insbesondere in Thüringen - zu erkennen und zu verhindern. Obwohl sich die weltpolitische Lage erheblich verändert und sich ehemals feindlich gesinnte Staaten einander angenähert haben, ist Deutschland seiner zentralen Lage in Europa und seiner Wirtschaft wegen unverändert ein Aufklärungsziel für eine Vielzahl von Nachrichtendiensten fremder Staaten geblieben. Dafür spricht der nach wie vor hohe Anteil von Nachrichtendienstmitarbeitern, die an halbstaatlichen oder staatlichen Vertretungen der jeweiligen Länder in Deutschland (Legalresidenturen) in unterschiedlicher Personalstärke auf Tarndienstposten eingesetzt sind. Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten, die sich gegen die Interessen Deutschlands richten, umfassen nach wie vor die "klassischen" Gebiete der Spionage: Politik, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik. Die Sicherheitsinteressen Deutschlands werden durch nachrichtendienstliche Aktivitäten verschiedener Staaten berührt. Einige von ihnen richten ihr Interesse vornehmlich auf die Ausspähung und Unterwanderung von Personen und Gruppen, die in Deutschland leben und in Opposition zur Regierung ihres Heimatlands stehen. Andere nutzen die Nachrichtendienste, um mittels Scheinfirmen und Umweglieferungen Güter zu beschaffen, die als Komponenten zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen genutzt werden können. Schließlich gilt es auch, den Blick nicht von vornherein vor Aktivitäten von Nachrichtendiensten jener Länder zu verschließen, die mit Deutschland politisch verbunden sind. Proliferation Proliferation bedeutet die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen bzw. der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen. Um ihre politischen Absichten durchsetzen zu können, bemühen sich Länder aus Krisenregionen, in den Besitz von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen zu gelangen und die zu ihrem Einsatz erforderlichen Trägertechnologien zu beschaffen. Gegenstand der Proliferation dieser so genannten ABC-Waffen sind technische Komponenten, Verfahren und Know-how zu ihrer Entwicklung und Fertigung. Da bestimmte Produkte häufig sowohl militärisch als auch zivil genutzt werden können, ergibt sich ihre Proliferationsrelevanz zumeist erst aus der Kenntnis des Einsatzzwecks. Die Beschaffungsaktivitäten der um Proliferation bemühten Staaten sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sehr konspirativ und folglich nur schwer erkennbar abgewickelt werden. Auf diese Weise sollen die Exportgenehmigungsund Exportkontrollmechanismen in Deutschland unterlaufen und verhindert werden, dass die deutschen Behörden den Endempfänger und -verwendungszweck eines bestimmten zu exportierenden Guts erkennen. Dabei 110 spielen insbesondere auch Lieferungen, die über Drittländer an ihr Ziel gelangen, eine wichtige Rolle. Es gilt daher nicht nur, klassische Spionageaktivitäten abzuwehren und aufzuklären, sondern auch diesen Proliferationsbemühungen entgegenzuwirken. Wirtschaftsspionage Die Wirtschaftsspionage zählt zu den klassischen Spionageaktivitäten fremder Nachrichtendienste. Unter Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte oder gestützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen und Betrieben zu verstehen. Sie unterscheidet sich von der "Konkurrenzausspähung" (umgangssprachlich Industriespionage), die konkurrierende Unternehmen gegeneinander betreiben und deren Beobachtung nicht in den Aufgabenbereich der Spionageabwehr fällt. Wirtschaftsspionage kennt keine einheitlichen Ziele. Sie konzentriert sich auch nicht allein auf hochsensible Informationen oder Neuentwicklungen. Vielmehr richten sich die Aufklärungsziele und Methoden nach dem jeweiligen technologischen Stand der handelnden Staaten. Hochentwickelte Staaten versuchen vor allem Unternehmensund Marktstrategien auszuforschen. Technisch weniger entwickelte Staaten legen den Schwerpunkt auf die Beschaffung technischen Know-hows, um Entwicklungsoder Lizenzgebühren zu sparen. Einige Nachrichtendienste sind per Gesetz und damit nach heimischem Recht dazu verpflichtet, die Wirtschaft ihres Landes zu unterstützen. Dabei entfalten sie entsprechende Aktivitäten sowohl in ihrem Heimatland gegenüber Niederlassungen ausländischer Unternehmen als auch hier in Deutschland. Konkrete Anhaltspunkte, die auf eine Zunahme der Wirtschaftsspionage im Freistaat Thüringen deuten, haben sich in diesem Jahr nicht ergeben. In Hinsicht auf die präventive Spionageund Sabotageabwehr in sensiblen Bereichen der Wirtschaft gibt es zwischen dem TLfV und dem Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Infrastruktur enge Kooperationsbeziehungen, die vor allem das Gebiet des personellen und materiellen Geheimschutzes betreffen. Der Schutz vor Spionage hat für das TLfV einen hohen Stellenwert. Der Verfassungsschutz bietet der gewerblichen Wirtschaft und der Wissenschaft einen vertrauensvollen Dialog über Wirtschaftsspionage und Proliferation im Rahmen einer Sicherheitspartnerschaft an. Das Ziel dieser Partnerschaft soll es sein, die Bedarfsträger auf Wunsch über Wirtschaftsspionage sowie Proliferationsgefahren zu informieren, um sie zu befähigen, Konzepte zum Schutz vor Spionage zu entwickeln und Verdachtsfälle frühzeitig zu erkennen. Dabei berücksichtigt das TLfV das Interesse an einer vertraulichen Behandlung von Hinweisen und Fragen. 2. Spionage und neue Medien Die rasante technische Entwicklung, die sich auf dem Gebiet der Datenverarbeitung vollzogen hat, sowie der offene und weltweite Zugang zu Informationen kommen dem allgemeinen Bedürfnis nach einem schnellen und unkomplizierten Informationsaustausch entgegen. Auch in der nachrichtendienstlichen Kommunikation spielt die moderne Informationstechnik eine große Rolle. 111 Neben programmierbaren Taschenrechnern und elektronischen Notizbüchern als Speichermedien mit Verschlüsselungsmöglichkeiten, die schon eine lange Zeit verwendet werden, kommen PCs und Notebooks zunehmend zum Einsatz. Sie dienen zur Sammlung sowie Bereitstellung von Informationen und zur schnellen Informationsübertragung in Datennetzen. Weiterhin ist davon auszugehen, dass mit dem Computer, über Modem und Telefonnetz (auch weiterhin verstärkt über Mobiltelefon), nachrichtendienstliche Meldungen (verschlüsselt) versandt werden. Risiken moderner Kommunikationsmittel Die Nutzung moderner Kommunikationsmittel, z. B. E-Mail, ist mit dem Risiko verbunden, dass fremde Nachrichtendienste mitlesen. Der Einsatz einer leistungsstarken Informationstechnik ermöglicht es den Nachrichtendiensten durch automatisierte Suche nach Schlüsselworten und Wahlverbindungen die angefallenen Daten nach ihrer Relevanz zu selektieren. Diese so genannte Fernmeldeaufklärung wird von den Kommunikationspartnern in der Regel gar nicht wahrgenommen. Schutz hiergegen versprechen sichere und zuverlässige Verschlüsselungssysteme. Eine große Bedrohung für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft stellen die für potenzielle Angreifer leicht zugänglichen, nahezu ungeschützten Informationsund Kommunikationssysteme dar. Entsprechende Risiken beziehen sich sowohl auf virtuelle Angriffe als auch auf physische Schädigungen von Informationsund Kommunikationssystemen. Der Einsatz technischer Methoden zur Spionage führte zwar zur Effizienzsteigerung, insbesondere hinsichtlich des Tempos nachrichtendienstlicher Informationsgewinnung. Die "menschlichen" Informationsquellen (Agenten) werden ihren nachrichtendienstlichen Wert jedoch keinesfalls verlieren. Methoden der Nachrichtendienste Zu den Arbeitsmethoden der fremden Aufklärungsdienste gehören sowohl die offene Informationssammlung als auch die konspirative, verdeckte Nachrichtenbeschaffung. So nutzen die Dienste Informationsquellen, die der Allgemeinheit zur Verfügung stehen, wie Fachinformationszentren, Bibliotheken, Datenbanken, Industriemessen oder das Internet. Bei ihren konspirativen Beschaffungsaktivitäten, zu denen auch die "Gesprächsabschöpfung" gehört, verschleiern die Geheimdienstangehörigen ihre wahren Absichten und versuchen "unter falscher Flagge" - z. B. als Diplomat oder Journalist getarnt - an nachrichtendienstlich interessante Informationen zu gelangen. Zusätzlich erfolgt die verdeckte Informationsbeschaffung in den Zielländern durch geheime Mitarbeiter, die als Agenten angeworben wurden. Es kommen aber auch Nachrichtendienstmitarbeiter zum Einsatz, die unter einer falschen Identität als so genannte Illegale in das Zielland eingeschleust werden. Die Zentralen fremder Dienste nutzen außerdem die Möglichkeit, hauptamtliche Mitarbeiter - als Privatoder Geschäftsreisende getarnt - mit nachrichtendienstlichen Aufträgen in die Zielländer zu entsenden. Darüber hinaus können die fremden Aufklärungsdienste auf hauptamtliche Mitarbeiter zurückgreifen, die an Legalresidenturen - die es in Thüringen nicht gibt - eingesetzt werden. Zusätzlich werden Nachrichtendienstoffiziere in der Privatwirtschaft, z. B. in Handelsunternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung oder -mehrheit, verdeckt untergebracht. 112 Neben diesen Aktivitäten auf deutschem Territorium wird auch das eigene Hoheitsgebiet in die nachrichtendienstliche Strategie einbezogen. Im Blickfeld fremder Inlandsdienste befinden sich auch deutsche Staatsangehörige, z. B. das Personal deutscher diplomatischer und konsularischer Vertretungen, Geschäftsleute und Firmenvertreter, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit oder ihres persönlichen Umfeldes in der Lage sind, geheimdienstlich interessante Informationen oder Produkte zu beschaffen. 3. Fortwirkende Strukturen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR Die Tätigkeit des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit hat nicht nur bei den Menschen Spuren hinterlassen, die unmittelbar oder mittelbar von ihr betroffen waren. So überrascht es keineswegs, dass das Thema "Stasi" auch in Politik, Medien und Justiz noch immer gegenwärtig ist. Nach wie vor befasst sich auch das TLfV mit dieser Thematik. Sein Auftrag lautet, "...frühere, fortwirkende unbekannte Strukturen und Tätigkeiten der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen DDR..." zu beobachten. Aktivitäten, die in der Gegenwart von ehemaligen Angehörigen des MfS ausgehen und sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, sollen auf diese Weise im Ansatz erkannt und unterbunden werden. Zu diesem Zweck sammelt das TLfV Informationen, vorzugsweise sachund personenbezogene Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen, die Bestrebungen oder Tätigkeiten solcher Art betreffen, und wertet sie aus. 113 IX. Geheimschutz 1. Allgemeines Geheimnisse sind Tatsachen, deren Kenntnis auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt ist. Sie bedürfen in einem unterschiedlichen Umfang einer wirksamen Abschirmung. Im Interesse der Funktionsfähigkeit und -tüchtigkeit staatlicher Einrichtungen haben Behörden im Rahmen ihrer Organisationsgewalt Vorkehrungen zu treffen, um geheimhaltungsbedürftige Umstände vor unbefugter Kenntnisnahme zu schützen. Zu den Aufgaben des TLfV gehört gemäß SS 2 Abs. 5 ThürVSG die Mitwirkung im Bereich des personellen und materiellen Geheimschutzes. 2. Personeller Geheimschutz Unter dem Begriff "Geheimschutz" werden sämtliche Vorkehrungen im weiteren Sinne verstanden, die dem Schutz von Geheimnissen dienen. Nicht jede beliebige Person, nicht jeder Amtsträger ist geeignet, mit Geheimnissen umzugehen. Folglich gilt es, Personen, die aufgrund bestimmter Verhaltensweisen für Verrat, Erpressung oder Spionage anfällig sein könnten, von vornherein vom Zugriff zu Geheimnissen fernzuhalten. Diesem Ziel dient die Sicherheitsüberprüfung. Mit ihr wird festgestellt, ob der Überprüfte seiner Vergangenheit, seinem Charakter, seinen Gewohnheiten und seinem Umgang nach Anlass bietet, an seiner persönlichen Vertrauenswürdigkeit zu zweifeln, ob er somit ein Sicherheitsrisiko darstellt. Dabei kommt es nicht auf ein Verschulden im Sinne persönlicher Vorwerfbarkeit an. Die Sicherheitsüberprüfungen erfolgten auf der Grundlage der Sicherheitsrichtlinien (SiR) für das Land Thüringen (Thüringer Staatsanzeiger Nr. 19/1991, S. 338 ff.). Diese Sicherheitsrichtlinien wurden nunmehr durch das Thüringer Sicherheitsüberprüfungsgesetz (ThürSÜG) vom 17. März 2003 ersetzt (GVBl. S. 185 - abgedruckt im Anhang des Verfassungsschutzberichts). Das ThürSÜG schließt die Landesbehörden, die landesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie die kommunalen Gebietskörperschaften ein. Für folgende Personen werden Sicherheitsüberprüfungen durchgeführt: * Personen, die eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit ausüben sollen, die Zugang zu oder Umgang mit Verschlusssachen der Geheimhaltungsgrade "STRENG GEHEIM", "GEHEIM" oder "VS-VERTRAULICH" haben, * Personen, die sich auf technischem Wege Zugang zu Verschlusssachen verschaffen können und * Personen, die in Sicherheitsbereichen oder in Dienststellen tätig sind, die in besonderem Maße Ziel fremder Nachrichtendienste sind. Ihrer besonderen Stellung wegen sind u.a. Richter und Abgeordnete des Thüringer Landtags von einer Sicherheitsüberprüfung grundsätzlich ausgenommen. Für eine Sicherheitsüberprüfung ist der Geheimschutzbeauftragte (GSB) der jeweiligen Dienststelle bzw. der zuständigen obersten Landesbehörde zuständig. Das TLfV wirkt an der Sicherheitsüberprüfung mit. 114 Die Sicherheitsüberprüfung wird je nach Geheimhaltungsgrad abgestuft. Gemäß der SSSS 8 - 10 ThürSÜG wird sie als einfache (Ü 1), erweiterte (Ü 2) oder als erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit Sicherheitsermittlungen (Ü 3) durchgeführt. Sie bedarf der Zustimmung des Betroffenen ebenso wie der gegebenenfalls einzubeziehenden Person (z.B. Ehegatte, Lebenspartner). Sicherheitsüberprüfungen werden turnusmäßig wiederholt. Wiederholungsüberprüfungen sollen Aufschluss darüber erbringen, ob sich nach Abschluss der Sicherheitsüberprüfung Umstände ergeben haben, welche die Vertrauenswürdigkeit des Ermächtigten in Zweifel ziehen können. Das TLfV hat im Jahr 2002 in 302 Fällen an Sicherheitsüberprüfungen mitgewirkt und sein Votum gegenüber dem GSB der einleitenden Dienststelle abgegeben. Davon entfielen 201 Sicherheitsüberprüfungen auf eine Ü 1, 65 auf eine Ü 2 und 36 auf eine Ü 3. Darüber hinaus wird das TLfV gemäß SS 12 b Abs. 2 Nr. 2 Atomgesetz (AtG) und SS 29 d Abs. 2 Nr. 2 Luftverkehrsgesetz (LuftVG) an Zuverlässigkeitsüberprüfungen beteiligt. Nach den Ereignissen des 11. September 2001 sind insbesondere die Zuverlässigkeitsüberprüfungen im Bereich der Flughäfen in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. So wurde die Frist zur Wiederholung dieser Überprüfungen durch die novellierte Verordnung zur Regelung des Verfahrens der Zuverlässigkeitsüberprüfungen auf dem Gebiet des Luftverkehrs vom 8. Oktober 2001 (Bundesgesetzblatt Teil I 51/2001, S. 2625 ff.) von fünf Jahren auf ein Jahr verkürzt. Das TLfV wurde im Jahr 2002 an 913 Zuverlässigkeitsüberprüfungen im Rahmen des LuftVG beteiligt, während es noch im Jahr 2001 lediglich 545 Überprüfungen waren. 3. Materieller Geheimschutz Der materielle Geheimschutz betrifft die Entwicklung, Planung und Durchführung technischer Maßnahmen, die dem Schutz geheimhaltungsbedürftigen Materials vor Entwendung oder Kenntnisnahme durch Unbefugte dienen. Zu technischen Sicherheitsmaßnahmen sind auch organisatorische Vorkehrungen zu rechnen, die den Geheimschutz verbessern. Als Rechtsgrundlagen dienen die "Verschlusssachenanweisung für den Freistaat Thüringen" (VSA), die am 15. Dezember 1999 in Kraft gesetzt worden ist, sowie sie ergänzende Richtlinien. Die VSA richtet sich an Landesbehörden und landesunmittelbare öffentlich-rechtliche Einrichtungen, die mit Verschlusssachen befasst sind und somit Vorkehrungen zu deren Schutz zu treffen haben. Darüber hinaus betrifft sie Personen, die Zugang zu Verschlusssachen erhalten oder eine Tätigkeit ausüben, die ihnen den Zugang zu Verschlusssachen eröffnet und bei der sie bestimmte Schutzvorkehrungen zu beachten haben. Verschlusssachen sind im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, und zwar unabhängig von ihrer Darstellungsform. Schriftstücke, Zeichnungen, Karten, Fotokopien, Lichtbildmaterial, elektronische Datenträger, elektrische Signale, Geräte und technische Einrichtungen oder auch nur das gesprochene Wort können ebenso zu den Verschlusssachen rechnen wie Zwischenmaterial, das im Zusammenhang mit Verschlusssachen anfällt (z.B. Entwürfe). Entsprechend der Schutzbedürftigkeit der Verschlusssache nehmen die herausgebenden Stellen die erforderliche Einstufung in einen bestimmten Geheimhaltungsgrad vor. 115 Niedrigster Geheimhaltungsgrad ist "VS-Nur für den Dienstgebrauch". Diese Einstufung erfolgt, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte den Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder zum Nachteil gereichen kann. Als "VS-VERTRAULICH" ist eine Verschlusssache einzustufen, deren Kenntnis durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder von Schaden sein kann. Die Einstufung mit dem Grad "GEHEIM" wird vorgenommen, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann. Den höchsten Geheimhaltungsgrad, "STRENG GEHEIM", erhalten Verschlusssachen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann. Aus der jeweiligen Einstufung ergeben sich die notwendigen personellen und materiellen Sicherheitsvorkehrungen. In Hinsicht auf den materiellen Geheimschutz enthält die VSA eine Reihe von Vorschriften, welche die Herstellung, Kennzeichnung und Vervielfältigung von Verschlusssachen, den Zugang zu Verschlusssachen, die Dienstpflichten zum Schutze von Verschlusssachen, die Aufbewahrung, Verwaltung und Mitnahme außerhalb des Dienstgebäudes sowie Maßnahmen bei Verletzung von Geheimschutzvorschriften betreffen. Nur eine sachund situationsgerechte Einstufung stellt den wirksamen Schutz geheimhaltungsbedürftiger Informationen sicher und vermeidet unnötigen Aufwand und Kosten. Daher ist der Geheimhaltungsgrad einer Verschlusssache zu ändern oder aufzuheben, sobald die Gründe für die bisherige Einstufung entfallen sind. Die Verantwortung für den materiellen Geheimschutz obliegt dem Dienststellenleiter. Darüber hinaus trägt jeder, dem eine Verschlusssache anvertraut oder zugänglich gemacht worden ist, die persönliche Verantwortung für ihre sichere Aufbewahrung und vorschriftsmäßige Behandlung sowie für die Geheimhaltung ihres Inhaltes gemäß den Bestimmungen der VSA, unabhängig davon, wie er von der Verschlusssache Kenntnis genommen hat oder diese in seinen Besitz gekommen ist. Das TLfV berät sicherheitsempfindliche Behörden, Einrichtungen und Unternehmen über technische Sicherheitsmaßnahmen wie etwa Alarmsysteme oder "Verwahrgelasse" (Stahlschränke). Es berät sie auch über den Umgang mit Verschlusssachen und sichere Organisationsabläufe. Daneben erteilt das TLfV den ersuchenden Behörden technische Sicherheitsempfehlungen, die zugleich Aspekte der Wirtschaftlichkeit berücksichtigen. Auskünfte zur Geheimschutzbetreuung von Firmen erteilt das: Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Infrastruktur (TMWAI) Der Geheimschutzbeauftragte für die Wirtschaft Postfach 10 05 52 Max-Reger-Straße 4-8 99005 Erfurt 99096 Erfurt Telefon: (0361) 3797-9 99 Telefax: (0361) 3797-9 90 116