Ministerium für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport Verfassungsschutzbericht 2023 Schleswig-Holstein Verfassungsschutzbericht 2023 Schleswig-Holstein Impressum Herausgeber: Ministerium für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport des Landes Schleswig-Holstein Düsternbrooker Weg 92 24105 Kiel April 2024 Der Verfassungsschutzbericht 2023 ist auch über das Internet abrufbar unter: www.schleswig-holstein.de/DE/Themen/V/verfassungsschutz.html Diese Broschüre ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Landesregierung. Sie wird kostenlos abgegeben und ist nicht zum Verkauf bestimmt. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern und Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwandt werden. Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis X Vorwort XVIII I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick 3 1 Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema: Reaktionen der extremistischen Szenen in Schleswig-Holstein auf die terroristischen Angriffe der HAMAS gegen Israel 3 1.1 Rechtsextremistische Szene 3 1.2 Islamistische Szene 4 1.3 Linksextremistische Szene 5 1.4 Szene des auslandsbezogenen Extremismus 8 2 Überblick: Rechtsextremistische Bestrebungen 11 3 Überblick: Islamismus und islamistischer Terrorismus 15 4 Überblick: Linksextremistische Bestrebungen 19 5 Überblick: Extremismus mit Auslandsbezug 23 6 Überblick: Reichsbürger und Selbstverwalter 25 7 Überblick: Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 26 II Politisch motivierte Kriminalität (PMK) 31 1 Allgemeines 31 1.1 Definition 31 1.2 Phänomenbereiche 34 2 Entwicklung der PMK 35 2.1 PMK in den Phänomenbereichen 36 2.2 Entwicklung der Politisch motivierten Gewaltkriminalität in den Phänomenbereichen 37 Seite I 2.3 Politisch motivierte (Gewalt-)Kriminalität in den Kreisen und kreisfreien Städten 38 3 Phänomenbereiche der Politisch motivierten Kriminalität 39 3.1 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - rechts - 39 3.2 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - links - 50 3.3 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -ausländische Ideologie (AI)55 3.4 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -religiöse Ideologie60 3.5 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -Sonstige Zuordnung63 4 Phänomenübergreifende PMK 74 4.1 Straftaten gegen Amtsund Mandatsträger 74 4.2 Antisemitische Straftaten 78 III Rechtsextremistische Bestrebungen 85 1 Organisationen und Gruppierungen des rechtsextremistischen Spektrums 85 1.1 Die Heimat/Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 85 1.2 HEIMAT/NPD-Bundesverband 86 1.3 HEIMAT/NPD-Landesverband Schleswig-Holstein 88 1.3.1 Entwicklungen und Aktivitäten 88 1.4 Junge Nationalisten (JN) Schleswig-Holstein 94 1.4.1 Entwicklungen und Aktivitäten 94 1.4.2 Ausblick 96 1.5 Weitere rechtsextremistische parteigebundene Strukturen 96 2 Neonazistische Szene 96 2.1 Entwicklungen und Aktivitäten 97 Seite II 2.2 Ausblick 98 2.3 "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." (AG-GGG) 99 2.3.1 Entwicklung 102 2.3.2 Ausblick 102 3 Subkulturell geprägte Szene 103 3.1 Entwicklungen und Aktivitäten 104 3.2 Ausblick 105 3.3 Rechtsextremistische Musikszene 106 3.3.1 Entwicklungen und Aktivitäten 107 3.3.2 Ausblick 108 3.4 Kampfsport 108 3.4.1 Entwicklungen und Aktivitäten 109 3.4.2 Ausblick 109 4 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) 110 4.1 Identitäre Bewegung 110 4.2 Identitäre Bewegung Schleswig-Holstein (IBSH) 112 4.2.1 Entwicklung und Aktivitäten 112 4.2.2 Ausblick 115 5 Rechtsextremistische Verlage 115 5.1 Entwicklung und Aktivitäten 116 5.2 Ausblick 118 6 Rechtsextremistisches Personenpotenzial in Schleswig-Holstein 119 IV Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 125 1 Entwicklung und Aktivitäten 126 2 Ausblick 128 3 Personenpotenzial im Bereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates 129 Seite III V Reichsbürger und Selbstverwalter 133 1 Reichsbürger 133 1.1 Entwicklung und Aktivitäten 135 1.2 Ausblick 135 2 Selbstverwaltergruppierungen 136 2.1 Königreich Deutschland (KRD) 137 2.1.1 Entwicklungen und Aktivitäten 137 2.1.2 Ausblick 138 2.2 "Indigenes Volk Germaniten" (IVG) 139 2.2.1 Entwicklungen und Aktivitäten 140 2.2.2 Ausblick 140 2.3 Wahlkommission der Königlich Preußischen Provinz Schleswig-Holstein (WKSH) 141 2.3.1 Entwicklung und Aktivitäten 141 2.3.2 Ausblick 142 3 Unstrukturiertes Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter 142 4 Personenpotenzial der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene 143 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 147 1 Salafistische Bestrebungen/Salafismus 147 1.1 Entwicklungen und Aktivitäten 148 1.2 Missionierungsarbeit (da'wa) 152 1.3 Ausblick 158 2 Terroristische Organisationen 158 2.1 Der Islamische Staat (IS) 165 2.1.1 Entwicklungen und Aktivitäten 166 2.1.2 Ausblick 167 2.2 Das al-Qaida-Netzwerk 168 2.2.1 Entwicklungen und Aktivitäten 169 2.2.2 Ausblick 170 2.3 HAMAS 171 Seite IV 2.3.1 Entwicklungen und Aktivitäten 172 2.3.2 Ausblick 174 2.4 Hizb Allah 175 2.4.1 Entwicklungen und Aktivitäten 176 2.4.2 Ausblick 177 3 Legalistische und sonstige islamistische Organisationen 178 3.1 Die Muslimbruderschaft/Muslimbrüder (MB) 179 3.1.1 Entwicklungen und Aktivitäten 180 3.1.2 Ausblick 181 3.2 Die Furkan-Gemeinschaft 181 3.2.1 Entwicklungen und Aktivitäten 182 3.2.2 Ausblick 184 3.3 Die Hizb ut-Tahrir (HuT) und ihr nahestehende Gruppierungen 184 3.3.1 Entwicklungen und Aktivitäten 186 3.3.2 Ausblick 187 3.4 Schiitischer Extremismus/Einfluss des Islamischen Zentrums Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus 188 3.4.1 Entwicklungen und Aktivitäten 189 3.4.2 Ausblick 190 3.5 Tablighi Jama'at (TJ) 190 3.5.1 Entwicklungen und Aktivitäten 191 3.5.2 Ausblick 192 4 Personenpotenzial im Islamismus/islamistischem Terrorismus 193 Seite V VII Linksextremistische Bestrebungen 199 1 Organisationen und Gruppierungen 199 1.1 Dogmatischer Linksextremismus 199 1.1.1 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 199 1.1.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) 202 1.2 Undogmatischer Linksextremismus 204 1.2.1 Autonome 206 1.2.2 Postautonome 209 1.3 Rote Hilfe e. V. (RH) 212 2 Linksextremistische Schwerpunkte 215 2.1 Antifaschismus und Antirassismus 215 2.1.1 Entwicklungen und Aktivitäten 217 2.1.2 Ausblick 220 2.2 Beteiligung im Rahmen der Klimabewegung 220 2.2.1 Entwicklungen und Aktivitäten 221 2.2.2 Ausblick 223 2.3 Reaktionen auf den Antifa Ost-Prozess um Lina E. sowie die Urteilsverkündung 224 3 Mitgliederentwicklung der linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen 227 VIII Extremismus mit Auslandsbezug 231 1 Organisationen 231 1.1 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 231 1.1.1 Aktuelle Entwicklungen 232 1.1.2 Ausblick 235 1.2 Türkischer Linksextremismus, insbesondere Marxistische Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) 236 1.2.1 Entwicklungen und Aktivitäten 237 1.2.2 Ausblick 238 1.3 Türkischer Rechtsextremismus/Ülkücü-Bewegung 239 1.3.1 Aktuelle Entwicklungen 239 Seite VI 1.3.2 Ausblick 240 1.4 Säkularer palästinensischer Extremismus 241 2 Entwicklungen und Aktivitäten im Berichtsjahr 242 2.1 Aktivitäten der PKK 242 2.1.1 Finanzierung PKK-naher Organisationen 243 2.1.2 Reaktionen auf Ereignisse in der Türkei 243 2.1.3 Wirken der PKK in die deutsche Öffentlichkeit, Rekrutierung 245 2.2 Aktivitäten der Ülkücü-Bewegung 248 2.3 Aktivitäten der MLKP 249 2.4 Reaktionen aus dem säkularen auslandsbezogenen Extremismus auf internationale Konflikte 251 3 Mitgliederentwicklung 252 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr 257 1 Überblick 257 2 Spionageabwehr 259 2.1 Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine 261 2.2 Desinformation/Deepfakes 263 3 Proliferationsbekämpfung 265 3.1 Mehrjährige Haftstrafe wegen Verstoß gegen das Iran-Embargo der EU 267 3.2 Gastwissenschaftler und Know-How-Transfer 267 4 Wirtschaftsschutz und Wirtschaftsspionage 269 4.1 Wirtschaftsschutztag durchgeführt 270 4.2 Anbahnungsgespräche für eine Städtepartnerschaft zwischen Qingdao und Kiel 271 5 Cyberabwehr 272 5.1 Aktivitäten ausländischer Dienste: Phishing 274 5.2 Abgrenzung der Cyberspionage zur Internetkriminalität 276 6 Verfassungsschutz als Ansprechpartner 277 Seite VII X Hintergrund 283 1 Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein 283 1.1 Der Verfassungsschutz als Früherkennungsund Frühwarnsystem 283 1.2 Gesetzlicher Auftrag und Aufgaben 284 1.3 Organisation des Verfassungsschutzes 290 1.4 Kontrolle des Verfassungsschutzes 291 1.5 Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz 294 1.6 Informationsaustausch mit anderen öffentlichen Stellen 295 1.7 Geheimund Sabotageschutz, Zuverlässigkeitsüberprüfungen 296 1.7.1 Sicherheitsüberprüfungen 297 1.7.2 Zuverlässigkeitsüberprüfungen 298 1.8 Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde bei Aufenthaltsund Einbürgerungsverfahren 301 1.9 Kontakt 303 2 Merkmale verfassungsfeindlicher Bestrebungen 303 2.1 Merkmale des Rechtsextremismus 303 2.2 Merkmale des Islamismus und islamistischem Terrorismus 306 2.3 Merkmale des Linksextremismus 309 2.4 Merkmale extremistischer Bestrebungen mit Auslandsbezug 313 2.5 Merkmale der Reichsbürger und Selbstverwalter 317 2.6 Merkmale der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates 320 3 Deepfakes 322 Seite VIII XI Liste der im Bericht genannten extremistischen Organisationen 328 1 Rechtsextremistische Organisationen 328 2 Reichsbürger und Selbstverwalter 329 3 Islamistische und islamistisch-terroristische Organisationen 329 4 Linksextremistische Organisationen 331 5 Extremistische Organisationen mit Auslandsbezug (nicht islamistisch) 332 Seite IX Abkürzungsverzeichnis Abs. Absatz ABC-Waffen atomare, biologische und chemische Waffen AC Aryan Circle ADÜTDF Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine (Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu) AfD Alternative für Deutschland AKP Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) AGL Anarchistische Gruppe Lübeck ANF Firatnews Agency (Ajansa Nuceyan a Firate) APT Advanced Persistent Threat AQ al-Qaida ASWN Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft Norddeutschland e. V. BAB Bundesautobahn BAFA Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle BfV Bundesamt für Verfassungsschutz BKA Bundeskriminalamt BMI Bundesministerium des Inneren und für Heimat BRD Bundesrepublik Deutschland BSI Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik bspw. beispielsweise BVerfG Bundesverfassungsgericht bzw. beziehungsweise ca. circa CD Compact Disc CEM Council of European Muslims Seite X COVID-19 Coronavirus-Krankheit-2019 (coronavirus disease 2019) CSC China Scholarship Council DAAD Deutsch Akademischer Austauschdienst Da'wa Missionierung DDoS Distributed Denial of Service d. h. das heißt DiWiSH Digitale Wirtschaft Schleswig-Holstein e.V. DKP Deutsche Kommunistische Partei DKTM Kiel Kurdisches Gemeindezentrum Schleswig-Holstein e. V. (Demokratik Kürt Toplum Merkezi Kiel) DKTM Neumünster Demokratisch Kurdische Gemeinde Zentrum Neumünster e. V. (Demokratik Kürt Toplum Merkezi Neumünster) DMG Deutsche muslimische Gemeinschaft e. V. DMG-B Deutsche muslimische Gemeinschaft Braunschweig e. V. DS Deutsche Stimme DVD Digital Versatile Disc Ebd. Ebenda ECFR European Council for Fatwa and Research EM Einzelmitglieder EM-Qualifikationsspiel Europameisterschaft Qualifikationsspiel EU Europäische Union EUMAM UA European Union Military Assistance Mission Ukraine e. V. eingetragener Verein FAU Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union Seite XI FED-DEM Föderation Demokratisches Gesellschaftszentrum der Kurdinnen in Nord Deutschland e. V. (Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistaniyan le Bakure Alman) FFF Fridays for Future ff. fortfolgende G10 Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses GADMO German-Austrian Digital Media Observatory GBA Generalbundesanwalt GEAS Gemeinsames Europäisches Asylsystem GETZ Gemeinsames Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls GI Generation Islam GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GTAZ Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum HAMAS Harakat al-Muqawama al-Islamiyya (Islamische Wider-standsbewegung) HBDH Vereinte Revolutionäre Bewegung der Völker (Halklarin Bir-lesik Devrim Hareketi) HIA Hizb-i Islami Afghanistan (Islamische Partei Afghanistan) HPG Volksverteidigungskräfte (Hezen Parastina Gel) HSK Kurdischer Roter Halbmond (Heyva Sor a Kurdistane) HTS Hai'at Tahrir ash-Sham (Komitee zur Befreiung der Levante) HuT Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung) IB Identitäre Bewegung Seite XII IBD Identitäre Bewegung Deutschland IBSH Identitäre Bewegung Schleswig-Holstein IGS Islamische Gemeinschaft der Schiitischen Gemeinden Deutschlands e.V. IHK Industrieund Handelskammer IHK SH Industrieund Handelskammer Schleswig-Holstein IL Interventionistische Linke IS Islamischer Staat ISIS Islamischer Staat im Irak und Großsyrien ISPK Islamischer Staat Provinz Khorasan ISPK Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel IT Informationstechnologie IVG Indigenes Volk Germaniten IZH Islamisches Zentrum Hamburg JaN Jabhat an-Nusra JN Junge Nationaldemokraten/Junge Nationalisten KaDaRi Kauf das Richtige KCDK-E Demokratischer Gesellschaftskongress der Kurd*innen in Europa (Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen Li Ewropa) KCK Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (Koma Civa-ken Kurdistan) Kern-AQ Kern-Al-Qaida KMU Kleine mittelständische Unternehmen KON-MED Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland KPD Kommunistische Partei Deutschlands KRD Königreich Deutschland KRITIS Kritische Infrastrukturen Seite XIII LVerfSchG Gesetz über den Verfassungsschutz im Lande Schleswig-Holstein MB Muslimbruderschaft/Muslimbrüder MGB Milli Görüs-Bewegung MHP Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetci Hareket Partisi) MLKP Marxistische Leninistische Kommunistische Partei MLPD Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands NATO North Atlantic Treaty Organization Nr. Nummer NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands NSBS Nationalsozialisten Bad Segeberg o. g. oben genannte OLG Oberlandesgericht PFLP Volksfront für die Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine) PIJ Palästinensischer Islamischer Jihad PKG Parlamentarisches Kontrollgremium PKK Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistane) PKW Personenkraftwagen PLO Palestine Liberation Organization PMK AI politisch motivierte Kriminalität Ausländische Ideologie PMK - links - politisch motivierte Kriminalität - links - PMK - rechts - politisch motivierte Kriminalität - rechtsPMK RI politisch motivierte Kriminalität Religiöse Ideologie PYD Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekitiya Demokrat) RH Rote Hilfe e. V. Seite XIV RI Realität Islam S. Seite SAV Sozialistische Alternative SDAJ Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend SKB Bund Sozialistischer Frauen (Sosyalist Kadinlar Birligi) StGB Strafgesetzbuch TAK Freiheitsfalken Kurdistans (Teyrebazen Azadiya Kurdistan) TCS Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung (Tevgera Ci-wanen Welatparez u Soresger) TH Türkische Hizbullah THD Tanzim Hurras ad-Din (Organisation der Wächter der Religion) TJ Tablighi Jama'at (Missionierungsgesellschaft) TKKG TurboKlimaKampfGruppe u. a. unter anderem Ummah Gemeinschaft der Muslime vgl. vergleiche VR Vereinsregister VS Verschlusssache VStGB Völkerstrafgesetzbuch WHN Wählergemeinschaft Heimat Neumünster WKSH Wahlkommission der Königlich Preußischen Provinz Schleswig-Holstein YÖP Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik) YPG Volksverteidigungseinheiten (Yekineyen Parastina Gel) YS Young Struggle YSP Grüne Linkspartei (Yesil Sol Parti) Seite XV ZAC Zentrale Ansprechstelle Cybercrime z. B. zum Beispiel Ziff. Ziffer ZMD Zentralrat der Muslime in Deutschland Seite XVI Seite XVII Vorwort Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Foto: Frank Peter das Jahr 2023 war aus sicherheitspolitischer Sicht von zwei besonders dramatischen Ereignissen geprägt: Zum einen war es das erste volle Jahr, in dem Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine geführt hat. Die Auswirkungen sind bis nach Schleswig-Holstein zu spüren. Zum anderen wurden wir Zeugen des Überfalls der HAMAS aus dem Gazastreifen heraus auf Israel am 7. Oktober mit über 1.200 Toten. Die darauf folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen und die aktuellen Gefahren einer Ausweitung des Konflikts halten an. Die Beschaffung, Auswertung und Weitergabe von relevanten Erkenntnissen an die zuständigen Stellen bilden den Kernbereich der Arbeit der Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holsteins. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dienen im besten Sinne des Wortes mit Nachrichten. Wir verstehen Verfassungsschutz als Frühwarnsystem der Demokratie - gewarnt wird vor Bestrebungen im Innern gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und vor Angriffen von außen etwa durch Spionage oder Cyberattacken. Die notwendigen Schlussfolgerungen werden von anderen staatlichen Stellen gezogen, und müssen auf aktuellen und umfassenden Informationen beruhen. Der vorliegende Bericht dient der Information der Öffentlichkeit und des Landtags. Er zeigt, dass die Aktivitäten von Verfassungsfeinden in allen Phänomenbereichen anhalten und ein Hauptinteresse von Extremistinnen und Extremisten darin besteht, Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu finden und Einfluss auf bürgerliche Proteste zu nehmen. Der Bericht zeigt auch, dass in nahezu allen Phänomenbereichen in unterschiedlicher Ausprägung auf den anhaltenden Nahostkonflikt reagiert wird. Aus diesem Grund wurde dem Verfassungsschutzbericht 2023 ein Kapitel vorangestellt, in dem die Reaktionen Seite XVIII der extremistischen Szenen in Schleswig-Holstein auf den Nahostkonflikt dargestellt werden. Verfassungsschutz ist heute wichtiger denn je. Wir leben in einer Zeit, in der Desinformationen oftmals für bare Münze genommen werden und sich in den sozialen Medien Filterblasen bilden, die den Blick auf die Realität verstellen. Der gesellschaftliche Dialog verschiebt sich und bisher Unsagbares wird salonfähig, Geldbewegungen deuten auf verfassungsfeindliche Netzwerke hin und aus dem Ausland gesteuerte Kampagnen sollen Wahlen beeinflussen. In einer solchen Zeit braucht es eine wachsame und aufgeklärte Bürgerschaft, aber auch eine Institution, die auf das zeigt, was uns allen am Herzen liegen sollte: Den Erhalt und die Fortentwicklung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. In Schleswig-Holstein und in Deutschland. Wir brauchen einen starken Verfassungsschutz. Deshalb bin ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verfassungsschutzbehörde für ihren wichtigen Dienst zum Schutz unserer Demokratie ausgesprochen dankbar. Ihre Sabine Sütterlin-Waack Schleswig-Holsteinische Ministerin für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport Seite XIX Seite XX I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Seite 1 Seite 2 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick 1 Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema: Reaktionen der extremistischen Szenen in Schleswig-Holstein auf die terroristischen Angriffe der HAMAS gegen Israel 1.1 Rechtsextremistische Szene Die rechtsextremistische Szene in Schleswig-Holstein thematisierte den Angriff der HAMAS auf Israel, blieb dabei aber eher zurückhaltend und in ihren Reaktionen ambivalent. Rechtsextremistische Akteure können sich schon allein aufgrund ihrer ideologischen Überzeugung, wie Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus weder eindeutig auf die israelisch-jüdische Seite noch auf die palästinensisch-muslimische Seite stellen. Vielmehr nutzten sie situationsabhängig die unterschiedlichsten Narrative für ihre eigenen Zwecke. Diese waren zum Teil antisemitisch und -zionistisch geprägt, mit Israel als Staat der Juden, der zur Erreichung seiner Ziele Völkermord begehe oder fremdenfeindlich und anti-muslimisch gegen die Terrororganisation HAMAS. Eine klare Position bezogen Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten nicht. Rechtsextremistische Verlage bemühten sich erkennbar um eine vermeintlich neutrale Berichterstattung und ließen in den Kommentaren zu den entsprechenden Artikeln sowohl pro-palästinensische Narrative als auch pro-israelische Äußerungen zu. Seite 3 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Pro-russische Rechtsextremisten setzten darauf, dass der Angriff der HAMAS auf Israel den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine in den Hintergrund rücken ließe. 1.2 Islamistische Szene Der Islamismus und der islamistische Terrorismus werden in besonderem Maße von internationalen Ereignissen und Konflikten tangiert, bei denen Teile der muslimischen Gemeinschaft betroffen sind. In der islamistischen Szene in Deutschland, aber auch in Schleswig-Holstein, wurden die Angriffe der HAMAS auf Israel am 7. Oktober und die darauffolgenden Geschehnisse emotional aufgegriffen. Erwartungsgemäß begleiteten Solidaritätsbekundungen mit der palästinensischen Bevölkerung und anti-israelische Haltungen diese Reaktionen. In den sozialen Medien ist eine gestiegene Polemik zu beobachten, die Musliminnen und Muslime und aus Palästina stammende Person als Opfer des Westens darstellt und in Teilen deutlich antisemitische Beiträge enthält. Anhängerinnen und Anhänger der HAMAS und der Hizb Allah halten sich im Demonstrationsgeschehen und mit öffentlichen Solidaritätsbekundungen zurück, da sie einem deutlichen staatlichen Verfolgungsdruck ausgesetzt sind. Andere islamistische Gruppierungen hingegen instrumentalisieren die aktuelle Lage offensiv, um ein Opfernarrativ der Muslime in der westlichen Welt zu festigen und deutliche Kritik am deutschen Staat zu äußern. Die HAMAS und die Hizb Allah haben aufgrund des Gaza-Krieges eine Sogwirkung auf andere islamistische Organisationen, die über die regionalen Aktivitäten hinausgeht und auch Terrororganisationen mit panislamischer Ausrichtung beeinflusst, die auf die Errichtung eines weltweiten Kalifats abzielen. Trotz ideologischer Seite 4 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Gegensätze zwischen beispielsweise dem "Islamischen Staat" und seinen Ablegern einerseits sowie der aus der Muslimbruderschaft hervorgegangenen, vom Iran unterstützten HAMAS und der schiitischen Hizb Allah andererseits, teilen sie den Antisemitismus als einen gemeinsamen Nenner. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Europa und Deutschland. Obwohl der "Islamische Staat" die HAMAS aus ideologischen Gründen ablehnt, scheint für ihn eine Teilnahme an der anti-israelischen Kampagne als alternativlos betrachtet zu werden. Die Dimension des HAMAS-Angriffs auf Israel und die damit verbundene weltweite Wahrnehmung motivieren auch den "Islamischen Staat" und "Al Qaida" zu Unterstützungsbekundungen, die zuvor kaum denkbar erschienen. Das Gefahrenpotenzial für mögliche Terroranschläge gegen jüdische und israelische Personen sowie Einrichtungen, sowie gegen "den Westen" insgesamt, ist in der Folge deutlich angestiegen. Terrorpropaganda nutzt nun aktiv das Narrativ des vermeintlich notwendigen "Schutzes der Al Aqsa-Moschee" in Jerusalem für den Kampf gegen Israel und das Judentum, nachdem zuvor bereits die Koranverbrennungen insbesondere in Schweden als Anlass für eine Aufstachelung der jihadistischen Szene gegen alles "Westliche" dienten. Somit hat der Krieg im Nahen Osten auch direkte Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland und somit auch in Schleswig-Holstein. 1.3 Linksextremistische Szene Der Nahostkonflikt wird in der bundesweiten linksextremistischen Szene kontrovers diskutiert. Überwiegend wurde der Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober vor allem in seiner Ausprägung verurteilt. Es konnten in Schleswig-Holstein keine konkreten SoliSeite 5 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick daritätsbekundungen mit der HAMAS festgestellt werden, in den sozialen Medien wurden jedoch Stellungnahmen geteilt, die einen palästinensischen "Befreiungskampf" befürworten. Die linksextremistische Szene ist bundesweit wie auch in Schleswig-Holstein in ihrer Haltung zum Nahostkonflikt seit jeher gespalten. Es werden sowohl pro-israelische als auch pro-palästinensische Positionen vertreten. Dieser Konflikt innerhalb der Szene führte in Schleswig-Holstein dazu, dass sich das undogmatische Spektrum, oder auch nur einzelne Gruppen daraus, nicht eindeutig zu den Ereignissen äußerten und dementsprechend auch keine klare Positionierung innerhalb der Szene sowie in Richtung möglicher Bündnispartner auch aus dem bürgerlichen Spektrum erfolgte. Wegen des Spaltungspotenzials auch innerhalb einzelner Gruppierungen des undogmatischen Spektrums wurde der Nahostkonflikt in den meisten Regionen in Schleswig-Holstein in der politischen Diskussion komplett ausgeklammert. Auch der fortschreitende und andauernde israelische Militäreinsatz wirkte sich nicht auf diese Haltung aus. Das dogmatische Spektrum in Schleswig-Holstein positionierte sich hingegen in Teilen insbesondere gegen die Politik Israels. Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) veröffentlichte am 27. Oktober einen Beitrag mit dem Titel "Auf die Straßen für Frieden in Palästina"1, in dem sie ausführt: "Die Verantwortung für die Eskalation, für die Toten auf beiden Seiten, liegt bei der rechtsextremen israelischen Regierung und ihrer Apartheid-, Kolonialund Besatzungspolitik. Mitverantwortlich sind die imperialistischen Unterstützer dieser Politik, darunter auch die Bundesregierung." 1 Internetseite DKPSH, abgerufen am 20.11.2023. Seite 6 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Der Bundesvorsitzende der DKP, Patrik Köbele, veröffentlichte ein Video2, in dem er darstellt, dass nicht beurteilt werden könne, ob "Nachrichten über Massaker stimmen". Es könnten jedoch die "offiziellen Aussagen des Staates Israel" beurteilt werden und die völlige Blockade des Gazastreifens, aufgrund dessen die Einwohner keinen Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Elektrizität hätten. Dieses Vorgehen stelle ein Kriegsverbrechen Israels dar, so dass die Aussage der Bundesregierung, dass die Sicherheit Israels unsere Staatsräson sei, "grundfalsch" sei. Vielmehr müssten die Menschenrechte eingehalten und dem palästinensischen Volk eine Lebensperspektive gegeben werden. Sowohl die DKP Schleswig-Holstein als auch die DKP Kiel unterstützten die Aussagen ihres Bundesvorsitzenden und den Beitrag der Bundes-DKP auf ihren Internetpräsenzen. Am 27. Oktober fand in Flensburg eine friedlich verlaufende, pro-palästinensische Demonstration statt, an der neben Personen mit palästinensischen Verbindungen maßgeblich auch Mitglieder bzw. Unterstützerinnen und Unterstützer der DKP sowie der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) teilnahmen. Die DKP Flensburg veröffentlichte dazu einen Beitrag auf ihrer Internetseite3, in dem sie auf ihre Forderung "Für ein freies und sozialistisches Palästina" eingeht und darstellt, dass sie die "Kriegsführung der HAMAS keinesfalls unterstützt", jedoch auch die Kriegsverbrechen Israels nicht verschwiegen werden dürften. Die DKP stellt sich "gegen unsere Regierung [...], die die Kriegsführung Israels (und der Ukraine) unterstützt."4 2 Youtube-Kanal Unsere Zeit - Zeitung der DKP, abgerufen am 02.11.2023. 3 Internetseite DKP Flensburg, abgerufen am 15.01.2014. 4 Ebd. Seite 7 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Dogmatische Linksextremistinnen und Linksextremisten nahmen an weiteren pro-palästinensischen Veranstaltungen teil. Insgesamt verhielt sich die linksextremistische Szene, insbesondere das undogmatische Spektrum, in Bezug auf den Nahostkonflikt jedoch sehr zurückhaltend. 1.4 Szene des auslandsbezogenen Extremismus Der Phänomenbereich des auslandsbezogenen Extremismus umfasst ein breites Spektrum an Organisationen mit unterschiedlichen ideologischen Prägungen. Reaktionen auf die aktuelle Situation in Israel und dem Gaza-Streifen fallen daher in Art und Umfang durchaus unterschiedlich aus. Die türkisch-linksextremistische Marxistische Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) und insbesondere deren Jugendorganisation Young Struggle (YS) solidarisierten sich sehr früh mit der palästinensischen Seite. Sie betrachten die Terroranschläge der Hamas vom 7. Oktober ideologisch als Befreiungsschlag der unterdrückten palästinensischen Bevölkerung gegen die imperialistische Herrschaft Israels. Auch wenn einzelne Taten der Hamas verurteilt werden, befürworten MLKP und YS grundsätzlich die Terroranschläge.5 In einigen Bundesländern beteiligte sich YS sehr aktiv an dem pro-palästinensischen Demonstrationsgeschehen. Im Unterschied dazu war in Schleswig-Holstein keine Steuerung oder Organisation von Demonstrationen durch YS feststellbar. Jedoch veröffentlichte auch die YS Ortsgruppe Kiel auf ihrem Instagram Kanal eine Solidaritätsbekundung mit Bezugnahme zur Intifada, dem Aufstand gegen die israelische Besatzung.6 5 YS-Homepage, zuletzt abgerufen am 19.01.2024. 6 Instagram-Kanal YS Kiel, zuletzt abgerufen am 19.01.2024. Seite 8 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Die pro-palästinensische Terrororganisation Volksfront für die Befreiung Palästinas (Popular Front fort the Liberation of Palestine - PFLP) lehnt in erster Linie das Existenzrecht Israels ab und verfolgt bis heute das Ziel, mit Hilfe von Waffengewalt und terroristischen Anschlägen Israel zu schädigen oder sogar zu vernichten. In Deutschland agiert die PFLP klandestin und betätigt sich in der Regel nicht gewalttätig, sondern betreibt lediglich Propaganda im Sinne der eigenen Ideologie und versucht, politische Unterstützung sowie Spenden zur Unterstützung ihrer Strukturen und des bewaffneten Kampfes in Nahost zu generieren.7 Da in Schleswig-Holstein keine eigenen Strukturen der PFLP, sondern lediglich Einzelpersonen mit PFLP-Bezug existieren, konnten über die Teilnahme von PFLP-Anhängern an Demonstrationen in Schleswig-Holstein im Berichtszeitraum keine Erkenntnisse gewonnen werden. Von Seiten der türkisch-rechtsextremistischen, in drei Vereinen in Schleswig-Holstein organisierten Ülkücü-Bewegung gab es im Berichtszeitraum keinerlei öffentliche Äußerungen zur aktuellen Situation. Da den Vereinen und deren Dachverband, der ADÜTDF, durchaus eine Beobachtung durch deutsche Sicherheitsbehörden bewusst ist, wurde schon in der Vergangenheit darauf geachtet, keine antisemitischen Äußerungen öffentlich zu tätigen. Durch die klare hierarchische Ausrichtung des Dachverbandes kann sichergestellt werden, dass die örtlichen Vereine keinerlei Äußerungen tätigen, welche in Deutschland negative Auswirkungen auf den Verband hätten. Der Ülkücü-Ideologie wohnt allerdings eine grundsätzliche Ablehnung anderer Volksgruppen sowie Religionen inne, was zu einer 7 Auszug aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, siehe https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-979156, zuletzt abgerufen am 16.01.2024. Seite 9 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick weiten Verbreitung antisemitischer Überzeugungen innerhalb der Bewegung führt. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass aus antisemitischen ideologischen Gründen eine Position gegen Israel eingenommen wird. Zusätzlich wird die palästinensische Bevölkerung als muslimische Brüder und Schwestern wahrgenommen, was zu einer Solidarisierung mit der palästinensischen Seite führt. Erkenntnisse über die Teilnahme der türkischen Rechtsextremisten an Demonstrationen in Schleswig-Holstein fielen im Berichtszeitraum nicht an. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bestreitet nicht das Existenzrecht Israels. In ihren ideologischen Schriften finden sich durchaus antisemitische Stereotype, die PKK agiert jedoch nicht aggressiv antisemitisch. Zu Beginn der Eskalation nach dem Angriff der Hamas auf Israel veröffentlichte das weltweite Führungsgremium der PKK eine Erklärung, in der beide Konfliktparteien aufgerufen wurden, die Auseinandersetzungen umgehend einzustellen. Sowohl das Vorgehen der Hamas als auch die Haltung des israelischen Staates seien "inakzeptabel"8; eine Lösung des Konflikts sei allein durch die Überwindung nationalstaatlichen Denkens im Sinne der Ideen des PKK-Gründers Abdullah Öcalan zu suchen. Aus dem bundesweiten Veranstaltungsgeschehen mit Bezug zum Palästina-Krieg hielt die PKK-Anhängerschaft sich vollständig heraus; auch in Schleswig-Holstein ließ sie sich nicht für pro-israelische oder pro-palästinensische Versammlungen mobilisieren. Seitens der PKK-Anhängerschaft besteht die Besorgnis, dass die Situation in Israel und Palästina alle mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht, so dass die Anliegen der PKK und der Kurdenkonflikt stark in den Hintergrund rücken. 8 Internetseite ANFdeutsch, 13.10.2023: "KCK: Palästinensische Frage kann nicht durch Gewalt gelöst werden"; zuletzt abgerufen am 16.01.2024. Seite 10 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Insgesamt konnte eine maßgebliche Beeinflussung von pro-israelischen oder pro-palästinensischen Demonstrationen durch Organisationen des säkularen Extremismus mit Auslandsbezug in Schleswig-Holstein im Berichtszeitraum nicht festgestellt werden. Wenn die Kämpfe zwischen Israel und palästinensischen Milizen noch eskalieren oder sich die Kriegshandlungen gar auf weitere Akteure im Nahen Osten ausweiten, werden die unterschiedlichen Organisationen des säkularen Extremismus mit Auslandsbezug die Situation entsprechend ihrer jeweiligen grundsätzlichen ideologischen Ausrichtung und entsprechend ihrer jeweiligen auf ihr Heimatland bezogenen Interessen bewerten und sich ggf. stärker engagieren. Falls beispielsweise die Türkei in den Konflikt involviert wird, könnte dies zur Folge haben, dass sich auch die Ülkücü-Bewegung oder die PKK-Anhängerschaft in Deutschland an dem Versammlungsgeschehen beteiligen. 2 Überblick: Rechtsextremistische Bestrebungen Im Berichtsjahr sank das rechtsextremistische Personenpotenzial in Schleswig-Holstein um rund 1,6 Prozent auf insgesamt 1 200 Personen (2022: 1 220). Die Zahl der gewaltorientierten Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten blieb konstant bei 350 (2022: 350). Der Rückgang des Personenpotenzials war in der Kategorie der Parteien sowie bei den parteiunabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen zu verzeichnen. Seite 11 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Die Heimat (HEIMAT)/ Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Am 3. Juni stimmten auf einem Parteitag im sächsischen Riesa 77 Prozent der Delegierten einer Satzungsänderung zur Umbenennung der Partei in "Die Heimat" (Heimat) zu. Hintergrund der Satzungsänderung war nach Angaben der HEIMAT/NPD neben der Namensänderung auch eine strategische Neuausrichtung der Partei. Der Höhepunkt der Aktivitäten des schleswig-holsteinischen Landesverbandes der HEIMAT/NPD war im Berichtsjahr die Teilnahme an der Kommunalwahl, bei der die Partei jedoch nur in der kreisfreien Stadt Neumünster als "Wählergemeinschaft Heimat Neumünster" (WHN) antrat. Die WHN erhielt 5,6 Prozent der abgegebenen Stimmen (absolut: 1 404 Stimmen), 1, 7 Prozentpunkte mehr als bei der Kommunalwahl 2018 (3,9 Prozent, absolut 879 Stimmen). Der Stimmenzuwachs führte dazu, dass die WHN jetzt mit drei Mitgliedern (2018: zwei Mitglieder) und damit in Fraktionsstärke in der Neumünsteraner Ratsversammlung vertreten ist. Zwar stellte das Wahlergebnis in Neumünster einen punktuellen Erfolg für die HEIMAT/NPD dar, dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei über Neumünster hinaus im Berichtsjahr keinerlei Außenwirkung in Schleswig-Holstein erzielte. Von einer landesweit aktiven und vernetzten Partei kann keine Rede sein. Mit gerade einmal 80 Mitgliedern in ganz Schleswig-Holstein hat die HEIMAT/NPD im Berichtsjahr einen historischen Tiefpunkt erreicht. Gleichwohl kündigte die HEIMAT/NPD an, bei der Europawahl im Juni 2024 auch in Schleswig-Holstein antreten zu wollen. Seite 12 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Parteiunabhängige beziehungsweise parteiungebundene Strukturen In Bezug auf die neonazistische Szene manifestierte sich die Unfähigkeit, das politische Geschehen durch eigenständige Positionen öffentlich wahrnehmbar zu begleiten, zu instrumentalisieren oder gar zu kontrollieren. Die Szene hielt an etablierten Traditionen fest, darunter anlassbezogene Veranstaltungen wie dem sogenannten Heldengedenken sowie regelmäßigen Versammlungen und Feiern. Die Wahrscheinlichkeit für eine öffentlich wahrnehmbare Neugründung neonazistischer Gruppierungen erscheint vor dem Hintergrund des auch im Berichtsjahr andauernden staatlichen Repressionsdrucks auf den organisierten Teil des Rechtsextremismus, beispielsweise durch Vereinsverbote wie zuletzt gegen die "Artgemeinschaft", eher gering. Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial Angehörige dieser Kategorie, wie die subkulturell geprägte, weitgehend unstrukturierte Szene entfalteten im Berichtsjahr bis auf ein rechtsextremistisches Konzert am 4. März in Neumünster keine öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Die Veranstaltung wurde durch die Polizei vorzeitig beendet. Politische Aktivitäten beschränkten sich auf die Teilnahme Einzelner an neonazistischen Gedenkveranstaltungen oder Demonstrationen. Eine Besonderheit subkulturell geprägter Rechtsextremisten in festen Organisationsstrukturen bildeten die bundesweit, in sogenannten Chaptern organisierten Hammerskins, die in Schleswig-Holstein über keine regionale Gruppierung verfügen. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat hat die "Hammerskins Deutschland" einschließlich ihrer regionalen Chapter und ihrer Teilorganisation Seite 13 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick "Crew 38" auf Grundlage des Vereinsgesetzes mit Verfügung vom 19. September verboten. Dennoch prägt das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial das rechtsextremistische Gesamtspektrum entscheidend. Der Eventcharakter der Szene erzeugt insbesondere in den Bereichen Musik und Kampfsport eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Identitäre Bewegung (IB) Das hergebrachte, seit Bestehen der IB charakteristische gelb-schwarze Lambda als "Markenzeichen" wurde im Mai ausgetauscht und durch ein nunmehr lediglich angedeutetes Lambda in weiß-blauer Optik ersetzt. Die Identitäre Bewegung Schleswig-Holstein (IBSH) hatte sich bereits im Vorjahr die zunächst unauffällig wirkende Bezeichnung "Nordfeuer" zugelegt. Mittlerweile agiert die IBSH nahezu durchgängig unter diesem Namen. Inhaltlich fokussierte sich die IB im Berichtsjahr auf eines ihrer zentralen Themenfelder: Die Forderung nach einer sogenannten Remigration. Verschiedene Aktionen in Schleswig-Holstein fügten sich ein in eine Reihe vergleichbarer IB-Aktionen bundesweit, in Österreich und der Schweiz, die sich gegen Migration und die Unterbringung geflüchteter Menschen richteten. Flächendeckende Strukturen in ganz Schleswig-Holstein bestanden im Berichtsjahr weiterhin nicht. Dauerhafte Kontakte unterhielten die schleswig-holsteinischen Aktivisten indes nach Dänemark. Seite 14 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick 3 Überblick: Islamismus und islamistischer Terrorismus Der Islamismus, insbesondere der islamistische Terrorismus, stellt nach wie vor eine Bedrohung für die innere Sicherheit in Deutschland dar. Sowohl legalistische islamistische Gruppierungen als auch jihadistische Organisationen streben die Errichtung eines islamistischen Gottesstaates auf deutschem Boden an. Ihr Ziel ist es, den deutschen Rechtsstaat zu untergraben und die freiheitliche demokratische Grundordnung zugunsten eines islamistischen Rechtsund Wertekanons, der Scharia, abzuschaffen. Die Sicherheitslage in Schleswig-Holstein und Deutschland ist eng mit internationalen Krisen verbunden. Beispielsweise wurden die Angriffe der HAMAS auf Israel im Oktober von der islamistischen Szene in Deutschland emotional aufgenommen, begleitet von Solidaritätsbekundungen mit der palästinensischen Bevölkerung, aber auch von antiisraelischen und antisemitischen Haltungen. Die Schwerpunkte salafistischer Aktivitäten in Schleswig-Holstein liegen erneut auf einschlägigen Moscheevereinen, insbesondere in den Städten Kiel, Lübeck, Neumünster, Flensburg, Rendsburg und im Umland von Hamburg. Im Hamburger Randbereich richten sich Anhängerinnen und Anhänger salafistischer Bestrebungen vor allem auf die Hansestadt Hamburg aus. Eine neue Anlaufstelle in Schleswig-Holstein hat zwar Personen angezogen, jedoch handelt es sich größtenteils um bereits bekannte Akteurinnen und Akteure. Daher wird dies wahrscheinlich nicht zu einem Wachstum der Szene führen. Eine Schnittmenge zum Salafismus stellt ein Objekt im Hamburger Umland, das mutmaßlich mit der islamistischen Tablighi Jama'at (TJ) in Verbindung steht, dar. In Schleswig-Holstein verzeichnet das Personenpotenzial salafistischer Bestrebungen einen Rückgang Seite 15 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick um fast 7 Prozent, von 750 auf 700 Personen. Bundesweit gibt es ebenfalls einen Rückgang um circa 5Prozent, von 11 000 auf 10 500 Personen. Dieser Rückgang in Schleswig-Holstein wird teilweise auf die Corona-Pandemie zurückgeführt, die zu einem verstärkten Rückzug ins Private geführt hat. Aufgrund anhaltender Anziehungskraft der salafistischen Ideologie sind die meisten Anhängerinnen und Anhänger ideologisch gefestigt und besuchen bereits seit Jahren entsprechende Vereine. Neue Anlaufstellen haben somit nicht zu einem Wachstum, sondern eher zu einer Konzentration bekannter Akteurinnen und Akteure geführt. Die Missionierungsarbeit (Da'wa) spielt im Salafismus eine weiterhin bedeutende Rolle, insbesondere durch ein Netzwerk um die "Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft Braunschweig" (DMG-B), zu der bekannte Szenegrößen wie Pierre Vogel und Abul Baraa gehören. Dieses Netzwerk hat im aktuellen Berichtsjahr seine Missionierungsaktivitäten verstärkt, sowohl online über soziale Medien wie YouTube, Facebook, Instagram und TikTok als auch durch realweltliche Aktivitäten wie bundesweit stattfindende Islamseminare und das Street-Da'wa Projekt "Was danach?". Dieses Projekt zielt darauf ab, tausendfach Flyer in Haushalten, Moscheen und öffentlichen Räumen zu verteilen, um Nichtmuslime zur Konversion zu bewegen. Bisher wurden solche Aktionen in Schleswig-Holstein jedoch nicht festgestellt. Im Berichtsjahr ist eine Zunahme überregionaler Kontakte in Schleswig-Holstein sowie von Gastund Reisepredigern aus anderen Ländern festzustellen. Gleichzeitig reisten auch Imame aus Schleswig-Holstein als Gastprediger zu anderen Moscheevereinen und hielten dort Freitagspredigten oder Seminare ab. Es wurden drei Islamseminare mit Bezug zu Schleswig-Holstein identifiziert, bei denen salafistische Prediger teilnahmen und die über soziale Netzwerke beworben wurden. Seite 16 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Salafistische Influencer spielen in den sozialen Netzwerken eine bedeutende Rolle als Ausdruck jugendlicher Szenekultur. Neben den traditionellen, meist männlich dominierten salafistischen Szenegrößen, die sich als "Islamgelehrte" inszenieren, hat sich eine weitere Gruppe junger Influencer etabliert. Diese Gruppe, oft im jugendnahen Alter, verbindet alltägliche Themen mit dem Islam, verbreitet jedoch dabei ein salafistisches Weltbild. Ein bemerkenswerter Punkt ist die erstmalige Feststellung von Akteurinnen mit mutmaßlichen Bezügen zum Salafismus, die als Influencerinnen auftreten. Einige von ihnen thematisieren den Nahostkonflikt und verbreiten dabei antiisraelische und teilweise antisemitische Inhalte, wobei dabei zum Teil Israel mit dem Nationalsozialismus verglichen wird. Neben gewaltorientierten und terroristischen/jihadistischen Organisationen werden auch islamistische Gruppierungen, die offiziell gewalttätige Aktivitäten in der Bundesrepublik ablehnen, vom Verfassungsschutz beobachtet. Das Spektrum ihrer Einstellung zur Gewalt variiert dabei erheblich. Einige Organisationen wenden in ihren Ursprungsländern gezielt Gewalt an, verzichten jedoch in Deutschland und Schleswig-Holstein aus taktischen Gründen darauf. Andere Gruppen propagieren Gewalt zumindest als legitimes Mittel oder befürworten terroristische Aktivitäten anderer Akteure im islamistischen Spektrum, auch wenn sie selbst keine Gewalt ausüben. Schließlich gibt es islamistische Kräfte, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgen, aber die Anwendung von Gewalt grundsätzlich ablehnen. Diese sogenannten legalistischen Gruppierungen agieren innerhalb des gesetzlichen Rahmens in Deutschland und versuchen, ihre extremistischen Vorhaben mit legalen Mitteln umzusetzen. Im Phänomenbereich Islamismus in Schleswig-Holstein ist das Personenpotenzial innerhalb des Berichtsjahres von 868 auf 825 Anhänger um circa 5 Prozent zurückgegangen. Dieser Rückgang ist Seite 17 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick vor allem auf einen Rückgang im Personenpotenzial des Salafismus zurückzuführen. Die im Berichtsjahr neu etablierten Anlaufstellen haben bisher keinen signifikanten Einfluss auf das islamistische Gesamtpotenzial, da die dort agierenden Personen größtenteils bereits aus dem Phänomenbereich bekannte Akteurinnen und Akteure sind. Staatliche Maßnahmen gegenüber der bundesweiten islamistischen Szene könnten ebenfalls zu einer Stagnation oder zu Rückgängen im Personenpotenzial geführt haben. Bei den sonstigen islamistischen Organisationen in Schleswig-Holstein ist das Personenpotenzial im Berichtszeitraum nahezu unverändert, aber im Vergleich zu den letzten Jahren zeigt sich ein deutlicher Zuwachs. Dieser Zuwachs ist insbesondere auf Aktivitäten von Vereinen oder Gruppierungen im Umfeld der Tablighi Jama'at (TJ) und der Furkan-Gemeinschaft zurückzuführen. Die aktuellen Ereignisse des Nahostkonflikts werden von Islamistinnen und Islamisten gezielt genutzt, um neue Anhängerinnen und Anhänger zu gewinnen. Hierbei wird ein Freund-Feind-Weltbild konstruiert und verbreitet, wobei Muslime als Opfer dargestellt werden. Der Konflikt könnte dazu beitragen, eine Spaltung der Gesellschaft herbeizuführen, in der sich Teile der Musliminnen und Muslime nicht mehr mit ihren Meinungen wahrgenommen fühlen und sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft sehen. Seite 18 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick 4 Überblick: Linksextremistische Bestrebungen Das linksextremistische Personenpotenzial erhöhte sich im Berichtsjahr um 1,3 Prozent. Der linksextremistischen Szene in Schleswig-Holstein gehörten damit 745 Personen an (2022: 735). Das gewaltorientierte Personenpotenzial lag unverändert bei 340. Erstmals seit dem Jahr 2011 ließ sich ein leichter Personenrückgang im undogmatischen Spektrum feststellen. Dieser Rückgang ist eine Momentaufnahme, aus der sich trotz der über den Jahresverlauf zu beobachtenden zurückhaltenden Betätigung der undogmatischen Szene noch kein Trend ableiten lässt. Insbesondere die aktionsorientierte autonome Szene ist grundsätzlich in der Lage, anlassbezogen zumindest temporär Anhängerinnen und Anhänger zu gewinnen und für ihre Ziele zu vereinnahmen. Aufgrund ihrer aktionsorientierten und reaktiven Vorgehensweise insbesondere in ihrem gesellschaftlich anerkannten Hauptbetätigungsfeld Antifaschismus, prägt das undogmatische Spektrum auch weiterhin die öffentliche Wahrnehmung des Linksextremismus. Dem Personenrückgang im undogmatischen Spektrum stehen Zuwächse im parteiungebundenen dogmatischen Spektrum gegenüber, die zu einem Anstieg des Gesamtpersonenpotenzials führen. Das parteigebundene dogmatische Personenpotenzial änderte sich im Berichtsjahr wie auch schon im Vorjahr nicht. Diese Stagnation kann aber nicht über die Grundproblematik der Überalterung der Parteien sowie des Unvermögens, neue Mitglieder gewinnen zu können, hinwegtäuschen. Das dogmatische Spektrum insgesamt, aber insbesondere die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) steigerten ihre Aktivitäten und öffentliche Wahrnehmbarkeit bereits seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine im Vorjahr und im Berichtsjahr erneut seit dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel. Im Zusammenhang mit diesen Aktivitäten wurde einmal mehr deutSeite 19 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick lich, dass insbesondere die DKP mit ihren russlandfreundlichen und öffentlich geäußerten pro-palästinensischen Positionen selbst im linksextremistischen Spektrum isoliert dasteht. Zudem erreichten ihre politischen Positionen und Ziele auch im Berichtsjahr das bürgerliche Spektrum nicht. In der Gesamtbetrachtung ist die Intensität der Aktivität der linksextremistischen Szene in Schleswig-Holstein auf einem gemäßigten, aber über die verschiedenen Spektren hinweg deutlich öffentlich wahrnehmbaren Niveau. Auswirkungen des Nahostkonflikts auf die linksextremistische Szene Die linksextremistische Szene ist in ihrer Haltung zum Nahostkonflikt gespalten. Der konkrete Angriff der HAMAS auf Israel wird vor allem in seiner Ausprägung verurteilt, der palästinensische "Befreiungskampf" wird jedoch von Teilen der linksextremistischen Szene befürwortet. Auch in der schleswig-holsteinischen linksextremistischen Szene sind sowohl pro-israelische als auch pro-palästinensische Positionen vertreten. Dieser Konflikt führte im undogmatischen Spektrum dazu, dass es sich weder öffentlich noch innerhalb der Szene positionierte. Das dogmatische Spektrum hingegen stellte sich in Internet-Beiträgen und während Demonstrationen sehr deutlich auf die pro-palästinensische Seite und ganz klar gegen die als imperialistisch bezeichnete Politik Israels, die auch durch die Bundesregierung unterstützt wird. Antifaschismuskampf, Klimabewegung und das Ende des Antifa Ost-Verfahrens - Schwerpunkte linksextremistischer Betätigung Im linksextremistischen Basisthemenfeld Antifaschismus dominierte die Bekämpfung des politischen, aus linksextremistischer Sicht Seite 20 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick rechtsextremistischen, Gegners die Aktivitäten der Szene. Im Fokus standen hier weiterhin die Alternative für Deutschland (AfD) sowie die HEIMAT/NPD, insbesondere im Rahmen der für den Kommunalwahlkampf initiierten Kampagne "Die Rechten in die Schranken weisen" und bei Gegenprotesten zu rechtsextremistisch geprägten Veranstaltungen und Demonstrationen. Die linksextremistische Szene agierte wie gewohnt reaktiv-anlassbezogen und orientierte sich dementsprechend mit ihren Störaktionen und Gegendemonstrationen an der geringen Veranstaltungsintensität ihrer Gegner. Dabei reichten die verwirklichten Straftatbestände im Rahmen der Bekämpfung der AfD von Beleidigung und Sachbeschädigungen bis hin zu Brandstiftung und Körperverletzung. Der Themenbereich Klimabewegung hatte auch im Berichtsjahr eine hohe Relevanz. Hierbei war die beständige Herausforderung des Verfassungsschutzes, die Aktivitäten auf ihren Extremismusbezug zu prüfen. Feststellbar war eine Veränderung in der Intensität der durch Klimaaktivisten begangenen Taten, die eine strafbare Relevanz hatten. Eine hohe Schadenssumme weist jedoch noch keinen Extremismus nach, solange der Kernbereich des Grundgesetzes nicht ausgehebelt werden soll. Somit ist der Großteil der Klimabewegung verfassungsschutzrechtlich nicht relevant. In Schleswig-Holstein war im Berichtsjahr die linksextremistische Turboklimakampfgruppe (TKKG) die aktivste Gruppe im Bereich der Klimabewegung, die sich über die letzten Jahre zu einer festen Größe im schleswig-holsteinischen Linksextremismus entwickelt hat. Dabei gingen ihre Aktivitäten auch im Berichtsjahr über klimapolitische Forderungen hinaus, hin zu einer sich festigenden Zusammenarbeit mit weiteren linksextremistischen Akteuren. Das Prozessende am 31. Mai im Antifa Ost-Verfahren um Lina E. vor dem Oberlandesgericht Dresden rief auch Reaktionen der linksextremistischen Szene in Schleswig-Holstein hervor. Neben SolidariSeite 21 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick tätsaktionen und Graffiti im Vorfeld der Urteilsverkündung fanden an diesem Tag eine friedliche Solidaritätsdemonstration in Kiel sowie eine gewalttätig verlaufende, unangemeldete Demo in Lübeck statt. Zum sogenannten Tag X am 3. Juni reisten auch Personen aus dem linksextremistischen Spektrum Schleswig-Holsteins als Einzelpersonen oder Kleinstgruppen in Leipzig an. Insgesamt war die Beteiligung aus Schleswig-Holstein trotz der direkten Betroffenheit der Szene und der daraus resultierenden hohen emotionalisierenden Wirkung jedoch sehr verhalten. Ursächlich für die geringe Aktionsbereitschaft könnte der empfundene hohe Ermittlungsund Verfolgungsdruck der Behörden sein, der sich seit dem G 20-Gipfel im Jahr 2017 in Hamburg kontinuierlich auf die Aktionsbereitschaft der linksextremistischen Szene auswirkt. Weiterhin kein Erfolg bei der Vernetzung ins zivilgesellschaftliche Spektrum Auch im Berichtsjahr gelang es der linksextremistischen Szene über alle Spektren hinweg nicht, eine intensivierte Vernetzung und Zusammenarbeit mit dem zivilgesellschaftlichen Spektrum aufzubauen. Linksextremistinnen und Linksextremisten sind bestrebt, über die Besetzung gesellschaftlich relevanter Themen eine Anschlussfähigkeit ins breite bürgerliche Spektrum zu erreichen. Dafür soll über ein vorerst gemäßigtes Auftreten eine dauerhafte Annäherung an diese Kreise ermöglicht werden, um daraufhin ihre linksextremistischen Ziele implementieren und verbreiten zu können. Insbesondere die Interventionistische Linke (IL) scheint ihre Scharnierfunktion zwischen dem bürgerlichen Spektrum und linksextremistischen Akteuren nicht mehr erfüllen zu können. Im Berichtsjahr verlor die IL in Schleswig-Holstein aufgrund mangelnder Aktionsfähigkeit weiter an Bedeutung. Seite 22 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Gewaltpotenzial unverändert hoch, keine steigende Militanz ersichtlich Die Gewaltbereitschaft in der schleswig-holsteinischen linksextremistischen Szene ist unverändert hoch, eine zunehmende Radikalisierung ist entgegen dem Bundestrend der letzten Jahre jedoch nicht ersichtlich. Die Bereitschaft insbesondere des gewaltorientierten undogmatischen Personenpotenzials zur Gewaltausübung kam im Berichtsjahr im Zusammenhang mit Protesten gegen den politischen Gegner wie die AfD, aber auch gegen Polizisten als nach linksextremistischer Ansicht Repräsentanten des repressiven Staates konkret in Form von Körperverletzungen zur Umsetzung. Besonders die autonome Szene ist weiterhin durch eine hohe Neigung zu Aggression und Gewalt gekennzeichnet, die im Berichtsjahr spontan im Zusammenhang mit Demonstrationen oder Veranstaltungen des politischen Gegners, aber auch geplant, ausgeführt wurde. Auch wenn die Anzahl der Gewalttaten im Berichtsjahr im Vergleich zu den Vorjahren rückläufig war, sind die Strukturen und das Personenpotenzial unverändert vorhanden, so dass sich hieraus noch kein Abwärtstrend ableiten lässt. 5 Überblick: Extremismus mit Auslandsbezug Nach dem Ende der COVID-19-Pandemie nahmen die extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug in Deutschland ihre üblichen lokalen und überregionalen Veranstaltungsaktivitäten wieder auf. In der Gesamtschau dominierten für diese Organisationen im Berichtsjahr erneut Themen mit Bezug zur Situation in ihren Herkunftsländern. Für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) standen insbesondere türkische Militäroffensiven in den kurdischen Siedlungsgebieten in Syrien und im Irak im Zentrum der Aufmerksamkeit. Vermehrt sterben in diesen Kämpfen auch "internationalistische" Seite 23 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Kämpferinnen und Kämpfer ohne kurdische Volkszugehörigkeit und werden von der PKK und auch der Marxistischen Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) in den Märtyrerkult dieser Organisationen einbezogen. Ein verheerendes Erdbeben in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Gebieten der Türkei und Syriens am 6. Februar wurde sowohl von den linksextremistischen Parteien PKK und MLKP als auch von den türkisch-rechtsextremistischen Vereinen zum Anlass genommen, eigene Hilfsaktionen zu organisieren. Im Wahlkampf für die Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in der Türkei im Mai warben die extremistischen Organisationen mit Türkeibezug in Schleswig-Holstein jeweils in ihren Reihen für eine Stimmabgabe an dem Türkischen Generalkonsulat in Hamburg und gaben Wahlempfehlungen ab. Der erneute Wahlsieg der AKP/ MHP-Regierungskoalition löste aber insgesamt kaum öffentlich bemerkbare Reaktionen in Schleswig-Holstein aus. Am 1. Oktober verübte die PKK einen Selbstmord-Anschlag auf Regierungsgebäude in Ankara/Türkei. Obwohl außer den Attentätern selbst keine Menschen zu Tode kamen, reagierte die Türkei mit Luftangriffen auf PKK-Stellungen im Nordirak. Gegen diese Militäroperationen demonstrierten PKK-Anhänger und deutsche Linksextremisten in Schleswig-Holstein und bundesweit. Der großangelegte Terrorangriff der Hamas auf das Staatsgebiet Israels vom 7. Oktober und die militärische Reaktion Israels lösten bundesweit und in Schleswig-Holstein eine Vielzahl von - je nach politischer Ausrichtung - pro-israelischen und pro-palästinensischen Versammlungen und Meinungsäußerungen aus. Seite 24 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick 6 Überblick: Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürgerinnen und Reichsbürger gehen vom Fortbestand des Deutschen Reichs aus, dessen Staatsangehörigkeit sie für sich in Anspruch nehmen; die deutsche Staatsangehörigkeit lehnen sie ab. Der Bundesrepublik Deutschland sprechen Reichsbürgerinnen und Reichsbürger die Legitimität und Souveränität ab. Das Grundgesetz und die bestehende Rechtsordnung haben für sie keinen Bestand. Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter begründen ihre Rechtsauffassung mit historischen Gesetzestexten, einem selbst definierten Naturrecht oder mit aus dem Zusammenhang gerissenen Auszügen aus der Bibel. Nach dem Selbstverständnis der Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter sind ihre "selbst verwalteten Gebiete" exterritorial. Sie gehören somit nicht zu Deutschland. Und auch die bundesrepublikanische Rechtsordnung gelte folglich nicht. Die Behauptung, die Bundesrepublik Deutschland als Staat existiere nicht, und die Ablehnung der bundesdeutschen Rechtsordnung sind zwei zentrale gemeinsame Ideologieelemente von Reichsbürgern und Selbstverwaltern. Das Personenpotenzial der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene ist im Vergleich zum Vorjahr um rund neun Prozent auf 700 Personen (2022: 640) angewachsen. Das unstrukturierte Personenpotential stagnierte. Das Personenpotenzial in Gruppierungen stieg um dreißig Prozent auf 300 Personen (2022: 230). Dieser Anstieg hängt hauptsächlich damit zusammen, dass das "Königreich Deutschland" und das "Indigenes Volk Germaniten" mehr Zulauf erhielten. Seite 25 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Beide Gruppierungen traten öffentlich in Erscheinung, indem sie Seminare für interessierte Bürgerinnen und Bürger anboten und Informationsmaterial verteilten. Das unstrukturierte Personenpotential hob sich wie in den Vorjahren hauptsächlich dadurch hervor, dass es im Reichsbürger-Duktus verfasste Schreiben an Behörden schickte. Die zahlreichen und tiefgreifenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krisen im Berichtsjahr wie beispielsweise der fortdauernde Krieg in der Ukraine, der Terrorangriff der HAMAS auf Israel, die Klimaund Energiekrise sowie die Inflation haben Reichsbürgergruppierungen mit ihrem Angebot eines vermeintlichen Ausstiegs aus der Bundesrepublik Deutschland insbesondere in jenen Teilen der Bevölkerung attraktiv gemacht, die leicht beeinflussbar sowie stark esoterisch geprägt sind und zu Verschwörungstheorien neigen. 7 Überblick: Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Im Berichtsjahr konnte eine rückläufige Entwicklung im Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates festgestellt werden. Die Vielzahl unterschiedlicher Im Berichtsjahr konnte eine rückläufige Entwicklung im Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates festgestellt werden. Die Vielzahl unterschiedlicher Gruppierungen unterlag - wie bereits im Vorjahr - dynamischen Entwicklungsprozessen. Gruppierungen fanden sich in veränderter Konstellation neu zusammen, gaben sich andere Namen oder lösten sich auf. Das Personenpotenzial der verfassungsschutzrelevanten Delegitimiererszene lag bei rund 80 Personen (2022: 130 Personen). Seite 26 I Phänomenbereichsübergreifendes Schwerpunktthema und Überblick Akteurinnen und Akteure veranstalteten im Berichtsjahr erneut Demonstrationen. Sie riefen auch wieder zu so genannten Spaziergängen auf, um den Veranstaltungen einen vermeintlich privaten Charakter zu geben. Dadurch wurden offizielle Anmeldungen und die damit verbundenen Auflagen umgangen. Die Veranstaltungen behandelten sehr unterschiedliche, fast immer aktuelle Themen, die stets so aufbereitet wurden, dass Bundesund Landesregierungen sowie staatliche, demokratisch legitimierte Institutionen in verfassungsfeindlicher Absicht delegitimiert wurden. In der Argumentation fanden sich neben klassischen staats-delegitimierenden Elementen auch rechtsextremistische sowie antisemitische Narrative, Verschwörungstheorien und verstärkt Bezüge zu und Überschneidungen mit Gedankengebilden aus der Reichsbürgerszene. Verbindendes Element war stets das Ziel, das Vertrauen in die verfassungsmäßige Ordnung und ihre demokratischen Entscheidungsprozesse zu erschüttern, um darüber die geistigen Grundlagen für einen Umsturz des politischen Systems zu legen. Seite 27 Seite 28 II Politisch motivierte Kriminalität (PMK) Seite 29 Seite 30 II Politisch motivierte Kriminalität (PMK)9 1 Allgemeines 1.1 Definition Der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) werden Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Taten - den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen sollen, der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisierung politischer Entscheidungen richten, - sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerkmale, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben, - durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, gegen eine Person wegen ihrer zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung und/oder Engagements gerichtet sind bzw. auf- 9 Verfasser: Landeskriminalamt SH, Abteilung 3 Seite 31 II Politisch motivierte Kriminalität grund von Vorurteilen des Täters bezogen auf Nationalität, ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status, physische und/oder psychische Behinderung oder Beeinträchtigung, Geschlecht / sexuelle Identität, sexuelle Orientierung oder äußeres Erscheinungsbild begangen werden. Diese Straftaten können sich unmittelbar gegen eine Person oder Personengruppe, eine Institution oder ein Objekt / eine Sache richten, welche/s seitens des Täters einer der o. g. gesellschaftlichen Gruppen zugerechnet wird (tatsächliche oder zugeschriebene Zugehörigkeit) oder sich im Zusammenhang mit den vorgenannten Vorurteilen des Täters gegen ein beliebiges Ziel richten. Darüber hinaus werden Tatbestände gem. SSSS 80a-83, 84-86a, 8791, 94-100a, 102, 104, 105-108e, 109-109h, 129a, 129b, 130, 234a oder 241a Strafgesetzbuch (StGB) sowie des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) als Staatsschutzdelikte erfasst. Politisch motivierte Gewaltkriminalität ist die Teilmenge der Politisch motivierten Kriminalität, die eine besondere Gewaltbereitschaft der Straftäter erkennen lässt. Seite 32 II Politisch motivierte Kriminalität Sie umfasst folgende Deliktsbereiche: - Tötungsdelikte - Körperverletzungen - Brandund Sprengstoffdelikte - Landfriedensbruch - Gefährliche Eingriffe in den Schiffs-, Luft-, Bahnund Straßenverkehr - Freiheitsberaubung - Raub - Erpressung - Widerstandsdelikte - Sexualdelikte. Seite 33 II Politisch motivierte Kriminalität 1.2 Phänomenbereiche Die PMK wird zudem in verschiedene Phänomenbereiche unterteilt: - Politisch motivierte Kriminalität - rechts -, - Politisch motivierte Kriminalität - links -, - Politisch motivierte Kriminalität - ausländische Ideologie -, - Politisch motivierte Kriminalität - religiöse Ideologie - - Politisch motivierte Kriminalität - sonstige Zuordnung -10 10 Der bisherige Phänomenbereich PMK -nicht zuzuordnen(PMK -NZ-) wurde zum 01.01.2023 inhaltsgleich in PMK -sonstige Zuordnung(PMK -SZ-) umbenannt. Der Phänomenbereich PMK -sonstige Zuordnungweist des Öfteren Überschneidungen zu den übrigen Phänomenbereichen auf. Insbesondere lässt sich in der Bewertung der Sachverhalte immer wieder feststellen, dass sowohl in der deliktischen Kategorisierung als auch bei Betrachtung der subjektiven Leitlinien der handelnden Personen Bezüge zur PMK -rechtsvorliegen. Eine absolute Trennschärfe lässt sich demnach nicht immer herstellen. Seite 34 II Politisch motivierte Kriminalität 2 Entwicklung der PMK Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität 2.000 1.800 1.735 1.600 1.414 1.400 1.322 1.264 1.172 1.189 1.215 1.200 1.033 1.000 800 600 400 200 160 137 79 66 77 84 102 47 - 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 PMK PMK Gewalt Im Berichtsjahr wurden in Schleswig-Holstein 1 735 Straftaten der politisch motivierten Kriminalität insgesamt registriert. Diese bedeuten einen Anstieg um 413 Fälle (+31,24 Prozent) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die Zahl der erfassten Gewaltdelikte stieg im Erfassungszeitraum um +35 auf nunmehr 137 Fälle (+34,31 Prozent) und macht damit 7,90 Prozent der gesamten PMK aus. Seite 35 II Politisch motivierte Kriminalität 2.1 PMK in den Phänomenbereichen Politisch motivierte Kriminalität in den Phänomenbereichen 2.000 1.800 1.735 1.600 1.400 1.322 1.200 975 1.000 800 699 600 488 368 400 200 144 137 92 104 19 31 - PMK gesamt PMK rechts PMK links PMK sonstige PMK ausl. PMK relig. Zuordnung Ideologie Ideologie 2022 2023 Mit Ausnahme der PMK -linksist in allen Bereichen der PMK ein Anstieg der Fallzahlen zu verzeichnen. Seite 36 II Politisch motivierte Kriminalität 2.2 Entwicklung der Politisch motivierten Gewaltkriminalität in den Phänomenbereichen Entwicklung der Politisch motivierten Gewaltkriminalität in den Phänomenbereichen 160 140 137 120 102 100 81 80 60 46 40 31 21 24 20 12 10 7 4 3 0 PMK Gewalt PMK rechts PMK links Gewalt PMK nicht PMK ausl. PMK relig. gesamt Gewalt zuzuordnen Ideologie Gewalt Ideologie Gewalt Gewalt 2022 2023 In den Phänomenbereichen -rechts-, -sonstige Zuordnungund -ausländische Ideologiehaben die Gewaltdelikte zugenommen. Seite 37 II Politisch motivierte Kriminalität 2.3 Politisch motivierte (Gewalt-)Kriminalität in den Kreisen und kreisfreien Städten Politisch motivierte (Gewalt-) Kriminalität in den Kreisen und kreisfreien Städten 250 203 195 194 200 150 125 121 115 110 108 99 94 92 100 81 77 70 51 50 18 21 19 24 5 2 8 7 3 9 9 5 4 1 2 0 PMK PM Gewaltkriminalität Auch im Jahr 2023 waren die Städte Kiel und Lübeck sowie der Kreis Pinneberg am stärksten von Gewalttaten im Bereich der PMK -rechtsbetroffen. Eine signifikante Veränderung in den Fallzahlen hat sich für die Stadt Neumünster ergeben (2022: 42 PMK-Taten, 4 PM-Gewalttaten). Der Anstieg in der Stadt Neumünster erklärt sich im Wesentlichen mit Straftaten, die im Zusammenhang mit der Auflösung einer Rechtsrockveranstaltung im März 2023 stehen. Seite 38 II Politisch motivierte Kriminalität 3 Phänomenbereiche der Politisch motivierten Kriminalität 3.1 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - rechts - Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -rechts1200 1000 975 800 709 699 672 663 667 600 400 200 81 29 40 45 41 46 0 2018 2019 2020 2021 2022 2023 PMK rechts PMK rechts Gewalt Der PMK -rechtswurden im Betrachtunwwgszeitraum 975 Straftaten zugeordnet, was im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs von 276 Fällen bzw. 39,48 Prozent bedeutet. Die Zahl der erfassten Gewaltdelikte stieg im Erfassungszeitraum um 35 auf nunmehr 81 Fälle (+76,09 Prozent). Körperverletzungen (72 von 81 Fällen bzw. 88,89 Prozent) prägen die Gewaltkriminalität. Insgesamt konnten 65 Gewaltdelikte aufgeklärt werden (80,00 Prozent). Die Anzahl der rechten Gewalttaten erhöhte sich im Betrachtungszeitraum um 35 Taten auf 81 Taten (+76,09 Prozent), wodurch sie Seite 39 II Politisch motivierte Kriminalität nunmehr 8,31 Prozent aller gemeldeten Taten im Bereich der PMK -rechts(2022: 6,58 Prozent) ausmachen. Ein Schwerpunkt der rechten Gewalt im Jahr 2023 war mit 23 Taten die kreisfreie Stadt Neumünster. Hintergrund hierfür ist die Auflösung der Rechtsrockkonzertveranstaltung "Der Norden rockt" am 04.03.2023. Hier kam es zu insgesamt 19 Straftaten zum Nachteil von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, die sich entsprechend in der Statistik niederschlagen. In über zwei Drittel der Gewalttaten im Bereich PMK -rechts(56 Taten = 69,14 Prozent) wurde die Motivation als fremdenfeindlich bewertet. Im Jahr 2023 gab es weiterhin 2 versuchte Brandstiftungen, die der PMK -rechtszugeordnet werden konnten. Die Hintergründe dieser Taten konnten nicht aufgeklärt werden. Seite 40 II Politisch motivierte Kriminalität Delikte der Politisch motivierten Kriminalität -rechtsIm Wesentlichen prägten 2023 die folgenden Straftaten den Phänomenbereich PMK -rechts-: Delikte der Politisch motivierten Kriminalität -rechts600 491 500 400 300 198 200 116 100 44 31 31 28 6 0 SS 86a StGB SS 130 StGB SS 185 StGB SS 223 StGB SS 241 StGB SS 303 StGB SS 224 StGB SS 240 StGB Propagandadelikte bilden nach wie vor den Großteil (50,36 Prozent) der rechtsmotivierten Straftaten ab. Die Fallzahlen im Bereich Volksverhetzungen (SS 130 StGB) haben sich mit 198 Taten nahezu verdoppelt (2022: 102) und machen etwa ein Fünftel der gesamten festgestellten Kriminalität im Bereich der PMK -rechtsaus. 354 mit dem Tatmittel Internet begangene Straftaten belegen auch in der PMK die zunehmende Bedeutung des Internets und der Sozialen Medien. Durch die Zusammenarbeit mit der Zentralen Meldestelle Internet des BKA und der Medienanstalt Hamburg und Schleswig-Holstein konnten mehr Ermittlungsverfahren wegen strafrechtlich relevanter Inhalte im Internet initiiert werden. Bei rund der Hälfte der rechten Straftaten wurde das Motiv der Fremdenfeindlichkeit mit den exemplarischen Unterthemen FremSeite 41 II Politisch motivierte Kriminalität denfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit angenommen. Insbesondere der enorme Anstieg der Volksverhetzungen um 94,11 Prozent in der gesamten PMK -rechtszeigte sich in diesem Themenfeld (+90,90 Prozent im Bereich Fremdenfeindlichkeit). Während das Thema "Ukraine" scheinbar an Bedeutung verlor, ist mit dem Nahostkonflikt die Bedeutung der Themenfelder Israel und Palästina etwa gleichwertig gestiegen. Im Folgenden werden verschiedene Themenfelder der PMK -rechtsim Jahr 2023 behandelt. Delikte können je nach Motivation des Täters nur einem oder auch mehreren Themenfeldern wie "Fremdenfeindlichkeit" oder "gegen den Staat" zugeordnet werden. Fremdenfeindlichkeit In 460 von 975 Fällen (47,18 Prozent) ist eine fremdenfeindliche Motivation angenommen worden. Im Jahr 2022 wurden 297 fremdenfeindliche Taten registriert, wodurch sich ein Anstieg von 54,88 Prozent zum Vorjahr ergibt. Als Teil der Hasskriminalität wurden diese Delikte aus einer feindlichen Haltung des Täters gegenüber einer Ethnie, einer Staatsangehörigkeit oder einer Religion begangen. Von allen fremdenfeindlichen Taten konnten, genauso wie im Vorjahr, 75 Prozent aufgeklärt werden. Während Volksverhetzungen mit 189 Fällen (41,09 Prozent) und Beleidigungen mit 111 Fällen (24,13 Prozent) den größten Anteil fremdenfeindlicher Delikte bildeten, sind die Propagandadelikte mit 54 Delikten (11,73 Prozent) im Verhältnis zu allen Taten des Phänomenbereichs PMK -rechtsunterrepräsentiert. Mit +91 Prozent bei den fremdenfeindlichen Volksverhetzungen, +20 Prozent bei den Propagandadelikten und +22 Prozent bei den BeleidigunSeite 42 II Politisch motivierte Kriminalität gen sind aber im Vergleich zum Vorjahr in allen drei Deliktsbereichen Steigerungen festzustellen. Außerdem wurden 26 Bedrohungen und 9 Sachbeschädigungen mit fremdenfeindlichem Hintergrund bekannt. Bei 56 Gewalttaten (69,14 Prozent aller Gewalttaten in diesem Phänomenbereich) wurde eine fremdenfeindliche Motivation angenommen. Auch hier ist mit 16 Taten mehr als im Jahr 2022 (40) ein Anstieg von 40,00 Prozent festzustellen. Von den 56 fremdenfeindlichen Gewalttaten konnten 43 Delikte (76,79 Prozent) aufgeklärt werden. Die 56 fremdenfeindlichen Gewalttaten (davon 13 Versuchstaten) setzen sich aus 42 einfachen und 14 gefährlichen Körperverletzungen zusammen. Ursächlich für viele der fremdenfeindlichen Gewalttaten waren Streitigkeiten, einhergehend mit Beleidigungen. Gegen den Staat Von den 975 der PMK -rechtszugeordneten Taten im Jahr 2023 richteten sich 61 (8,10 Prozent) direkt gegen den deutschen Staat, dessen Einrichtungen und Symbole. Taten dieser Art konnten zu 75,95 Prozent aufgeklärt werden. Als größte Deliktsfelder bei Taten gegen den deutschen Staat, dessen Einrichtungen und Symbolen stellten sich Propagandaund Gewaltdelikte mit 27 (34,18 Prozent) und 23 (29,11 Prozent) Delikten heraus. Nachfolgend sind Volksverhetzungen und Beleidigungen mit 13 (16,46 Prozent) bzw. 9 (11,39 Prozent) Taten zu nennen. Zudem wurden jeweils 2 Sachbeschädigungen und das öffentliche Aufrufen zu Straftaten registriert. Im Vergleich zum Jahr 2022 (5) ist für das Jahr 2023 ein Anstieg von 18 auf insgesamt 23 rechte Gewalttaten gegen den Staat zu verzeichnen. Dieser Zuwachs resultiert aus Straftaten, die in VerbinSeite 43 II Politisch motivierte Kriminalität dung mit der Auflösung des rechtsextremen Konzerts "Der Norden rockt" vom 04.03.2023 im Vereinsheims einer Gartenkolonie in Neumünster begangen wurden. Diese Veranstaltung wurde durch Mitglieder der "Brigade 12 - Pommern" organisiert. Bei der nichtangemeldeten Veranstaltung, welche von etwa 300 bis 400 rechten Szenepersonen besucht wurde, kam es bei der Durchführung der umfangreichen polizeilichen Maßnahmen zum Bewurf der Einsatzkräfte mit Mobiliar, Bierdosen und einem Feuerlöscher. Zudem wurde durch einige Konzertteilnehmer mit Einrichtungsgegenständen eine Barrikade im Windfang des Haupteingangs erbaut, um den polizeilichen Zugriff zu erschweren. Die erkennungsdienstlichen Behandlungen von über 200 Personen trugen dazu bei, dass 19 Delikte gegen Polizistinnen und Polizisten aufgeklärt werden konnten. Während des Einsatzes kam es zu 4 Widerstandhandlungen und einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte. Bei den restlichen Delikten handelt es sich größtenteils um versuchte gefährliche Körperverletzungen zum Nachteil der eingesetzten Polizeibeamten. Jeder Bewurf der Einsatzkräfte mit Gegenständen wurde als einzelne Taten erfasst, wobei meist der Taterfolg aufgrund des Verfehlens der Ziele ausblieb. Außerhalb des Rechtsrockkonzerts kam es zu 4 weiteren rechten Gewalttaten gegen Repräsentanten des Staats. Hierbei handelte es sich in 2 Fällen um Widerstandshandlungen und in 2 Fällen um tätliche Angriffe auf Polizeibeamte im Rahmen ihrer Amtsausübung. In einem Fall musste der Täter nach einer Auseinandersetzung im häuslichen Umfeld zur Dienststelle verbracht werden. Dabei leistete er Widerstand, äußerte sich ausländerfeindlich und stellte reichsbürgertypisch die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland in Frage. In einem weiteren Fall wurde der Täter zwecks Vollstreckung eines Haftbefehls an seiner Meldeadresse aufgesucht. Der Täter war Seite 44 II Politisch motivierte Kriminalität zuvor wegen der Verharmlosung des Holocausts und des Verwendens von verfassungswidrigen Kennzeichen zu einer Geldstrafe verurteilt worden, welche er nicht zahlen wollte. Als der Täter aus seiner Wohnung gebracht werden sollte, schlug er einem Polizeibeamten in das Gesicht, wodurch dieser nach hinten stürzte und sich verletzte. Auch hier ließen sich beim Täter Tendenzen zur Reichsbürgerszene feststellen. Politische Gegner Im Jahr 2023 wurden "politische Gegner" 48 Mal (4,92 Prozent) das Ziel von rechts motivierten Delikten, wobei in 17 Fällen (35,42 Prozent) ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte. Von diesen 48 Delikten waren 9 direkt gegen eine linke politische Einstellung gerichtet. Neben 4 Sachbeschädigungen, 2 Taten des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen und einer Bedrohung wurden 2 Fälle der Gewaltkriminalität bekannt. Im Sommer 2023 kam es zu einem Angriff auf einen Fußgänger, welcher sich mit einem Bekannten auf der Straße über politische Themen unterhielt. Zwei dem Geschädigten unbekannte Täter erschienen und äußerten, dass "der Faschismus von links" komme. Der Täter versuchte den Geschädigten zu würgen und bedrohte ihn mit dem Tode. Weiter wurde sich in aggressiver Weise gegenüber politisch linken Einstellungen geäußert. In Bad Oldesloe wurde zudem eine Auseinandersetzung zwischen Personen der linken Szene und Mitgliedern der AfD bekannt, welche zur Tatzeit einen Infostand der Partei abbauten. Sie wurden von den linken Szenepersonen mit Reizgas attackiert, woraufhin die Mitglieder der AfD ebenfalls Reizgas einsetzten. Seite 45 II Politisch motivierte Kriminalität Bei den übrigen 39 Delikten gegen politische Gegner handelt es sich um 13 Propagandadelikte, 8 Volksverhetzungen, 8 Sachbeschädigungen, 7 Beleidigungen, eine Körperverletzung, eine Bedrohung und einen Diebstahl. Im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen vom 14.05.2023 kam es zur Registrierung von insgesamt 20 Straftaten im Bereich der PMK -rechts(Landtagswahl 2022: 14 Taten). Diese 20 Taten setzen sich aus 10 Propagandadelikten, 9 Sachbeschädigungen und einer Volksverhetzung zusammen. In 15 Fällen waren im öffentlichen Raum aufgestellte Wahlplakate betroffen. Neben der Zerstörung der Plakate wurden sie u.a. mit Hakenkreuzen oder der Abkürzung "AfD" versehen. Rechte Gewalttaten registrierte die Polizei während des Kommunalwahlkampfes nicht. Queerfeindlichkeit 1,33 Prozent aller PMK -rechtsTaten wurden aus Feindlichkeit bzgl. einer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität (queer) begangen. Die insgesamt 13 Taten (2022: 7) teilen sich in 7 Volksverhetzungen, 2 Propagandadelikte, 2 Beleidigungen, eine Bedrohung und einen Fall der Sachbeschädigung auf. 8 Delikte (2022: 2) konnten aufgeklärt werden. Gewalttaten wurden in diesem Zusammenhang im Jahr 2023 nicht registriert. Herausragend war ein Fall, bei welchem bei dem homosexuellen Geschädigten mit ausländischer Herkunft ein Schreiben mit den Worten "Wir kriegen Dich noch" mit den Initialen des Geschädigten und einem Hakenkreuzsymbol in den Briefkasten geworfen wurde. Seite 46 II Politisch motivierte Kriminalität Frauenfeindlichkeit Im Jahr 2023 wurden 8 frauenfeindliche Delikte registriert, welche sich in 5 Propagandadelikte, eine Volksverhetzung, eine Bedrohung und eine Körperverletzung unterteilten. Letztere ereignete sich auf dem Gelände einer Klinik, wo der Täter einen Rollstuhlfahrer und eine Frau trat. Die Frau wurde zudem in Bezug auf ihr Geschlecht beleidigt. Zudem wurde durch den Täter der Hitlergruß ausgeführt. Frauenfeindliche Taten der PMK -rechtsmachten 0,82 Prozent der gesamten Kriminalität in diesem Bereich aus und wurden in sieben von acht Fällen aufgeklärt. Ukraine Straftaten im Zusammenhang mit dem anhaltenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, die phänomenologisch der PMK -rechtszuzuordnen sind, weisen zum Vorjahr einen Rückgang um 46 Prozent auf. Das Themenfeld "Ukraine" wurde 2023 mit insgesamt 7 Fällen erfasst, von denen 6 als Volksverhetzungen und einer als Beleidigung erfasst wurden. Herausragend war dabei die Tat zweier Jugendlicher, die in einem Kirchenbüro, in dem für ukrainische Geflüchtete Geld gesammelt wurde, eine nationalsozialistische Parole riefen. Sie lobpreisten das russische Staatsoberhaupt Wladimir Putin und riefen zum Mord am ukrainischen Volk auf. Im gleichen Kirchenbüro kam es im Verlauf einer Woche zu insgesamt 3 gleichgelagerten Sachverhalten, bei denen jeweils verhetzende Äußerungen getätigt wurden, die sich auf die ukrainische Bevölkerung bezogen. Anhand der abgegebenen PersonenbeSeite 47 II Politisch motivierte Kriminalität schreibungen dürfte es sich jeweils um unterschiedliche Täter gehandelt haben. Propagandadelikte waren im Gegensatz zu 2022 (5) in dem Themenfeld "Ukraine" keine mehr zu verzeichnen. Israel / Palästina (Nahostkonflikt) In Bezug auf den Nahostkonflikt wurden seit dem Terroranschlag der Hamas auf den Staat Israel am 07.10.2023 bis Jahresende 5 Volksverhetzungen und ein Gewaltdelikt bekannt. Eine kopftuchtragende Schülerin im Kindesalter wurde wenige Tage nach dem Terrorakt auf dem Weg zum Schulunterricht von zwei Jugendlichen zunächst als "Terroristin" beschimpft und anschließend gestoßen, sodass die Geschädigte mit ihrem Fahrrad zur Seite auf den Boden fiel. Da sich die junge Muslimin beim Sturz nicht verletzte, ist die Tat als versuchte gefährliche Körperverletzung eingeordnet worden. Die übrigen Taten legten eine antisemitische Haltung des Täters bzw. der Täterin nahe. Tatmittel Internet Bei 172 Taten (17,54 Prozent) wurden im Jahr 2023 durch den Täter oder die Täterin das Internet als Tatmittel verwendet. Während es im Jahr 2022 noch 90 Taten (12,88 Prozent) waren, wurden im hier betrachteten Erfassungszeitraum wesentlich mehr versendete bzw. veröffentlichte Inhalte mit verhetzendem, beleidigendem oder verfassungswidrigem Charakter zur Anzeige gebracht. Hierunter sind auch die sogenannten "Hasspostings" zu fassen. Seite 48 II Politisch motivierte Kriminalität Der Anstieg in diesem Deliktsfeld um 91 Prozent erklärt sich durch die Zunahme von Volksverhetzungen (+ 111 Prozent) und Propagandadelikten (+ 87 Prozent). 2023 wurden insgesamt 48 Sachverhalte mehr mit volksverhetzenden Inhalten aus dem Internet bekannt, was eine Gesamtanzahl von 91 ergibt (2022: 43). In ähnlicher Weise konnte ein Zuwachs bei dem Versenden von strafrechtlich relevantem rechten Propagandamaterial festgestellt werden. Hier wurden insgesamt 60 Taten erfasst (2022: 32). In Zusammenarbeit mit der "Zentralen Meldestelle Internet" des BKA und der "Medienanstalt Hamburg und Schleswig-Holstein", die u.a. Bürgerhinweise zu strafrechtlich relevanten Beiträgen im Internet entgegennehmen, konnten im Jahr 2023 wesentlich mehr Ermittlungsverfahren gegen Hass und Hetze im Internet geführt werden. Von allen Straftaten aus dem Bereich PMK -rechtsmit dem Tatmittel Internet wiesen 105 (61,05 Prozent) einen fremdenfeindlichen Charakter auf. Zudem deuteten 31 Taten (18,02 Prozent) auf eine antisemitische Motivation des Täters bzw. der Täterin hin. Seite 49 II Politisch motivierte Kriminalität 3.2 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - links - Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -links450 400 383 350 337 300 253 250 230 200 144 137 150 100 50 22 30 21 5 10 12 0 2018 2019 2020 2021 2022 2023 PMK links PMK links Gewalt 137 der PMK -linkszuzuordnenden Straftaten im Jahr 2023 bedeuten im Vergleich zum Vorjahr eine Abnahme von sieben Fällen bzw. -4,86 Prozent. Die Zahl der erfassten Gewaltdelikte ging ebenfalls zurück (-9 Fälle bzw. - 42,86 Prozent). Im Vergleich zum Vorjahr (33,33 Prozent) sank die Aufklärungsquote auf 29,93 Prozent. fünf der zwölf Gewaltdelikte (41,67 Prozent) konnten aufgeklärt werden. Delikte der Politisch motivierten Kriminalität -linksDie Straftaten im Phänomenbereich wurden 2023 durch Sachbeschädigungen, Diebstähle und Nötigungen dominiert: Seite 50 II Politisch motivierte Kriminalität Delikte der Politisch motivierten Kriminalität -links80 70 70 60 50 40 30 20 14 10 10 6 6 0 SS 303 StGB SS 242 StGB SS 240 StGB SS 185 StGB SS 304 StGB Den regionalen Kriminalitätsschwerpunkt im Bereich der PMK -linksstellt 2023 die Landeshauptstadt Kiel mit 28 Taten dar. Sachbeschädigungen umfassen mit 70 Taten wie schon in den vergangenen zwei Jahren mehr als die Hälfte (51,09 Prozent) der erfassten Delikte. Das bedeutendste Themenfeld der Politisch motivierten Kriminalität -linkswar im Jahr 2023 erneut der Antifaschismus. Der von linksmotivierten Straftäterinnen und Straftätern verübte "Kampf gegen rechts" zeichnet sich vor allem durch Sachbeschädigungen aus. Den Themenfeldern Antifaschismus und "gegen rechts" sind 63 Taten (45,99 Prozent) zuzuordnen. In diesem Zuge wurden 3 Straftaten gem. SS 86a StGB begangen. In einem Fall wurde ein Wahlplakat der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) mit Hakenkreuzen versehen, um den politischen Gegner als Anhänger des Nationalsozialismus zu diskreditieren. Seite 51 II Politisch motivierte Kriminalität Insgesamt wurden 26 Taten in Zusammenhang mit der Partei AfD im Berichtsjahr 2023 erfasst, wobei 2 Taten zum Nachteil von Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten begangen wurden, die auf einer AfD-Veranstaltung eingesetzt waren. Die 24 übrigen Taten zum Nachteil der AfD weisen ein breites Spektrum an Deliktsfeldern auf (u.a. Beleidigung, Körperverletzung, Diebstahl). Ein weiteres bestimmendes Themenfeld der PMK -linksim Berichtsjahr 2023 stellen Straftaten gegen den Staat, seine Einrichtungen und Symbole dar. Darunter sind Straftaten zum Nachteil von politischen Parteien und der Polizei einzuordnen. Erwähnenswert ist, dass die Parteien Bündnis90/Die Grünen, SPD und FDP, welche die aktuelle Koalition der Bundesregierung stellen, vorrangig Ziele linksmotivierter Straftaten wurden. Hintergrund ist die in der Öffentlichkeit kritisierte Reform des "Gemeinsamen Europäischen Asylsystems" (GEAS). So wurden in der Nacht des 24.10.2023 die Fensterscheiben des Kieler SPD-Parteibüros mittels eines Steinwurfes beschädigt, die Fassade des Kieler Parteibüros von Bündnis90/Die Grünen mit Farbe und die Fassade eines Kieler FDP-Büros mit Kunstblut verunreinigt. Die Taten wurden später auf der einschlägigen Webseite "Indymedia.org" in den Kontext GEAS gebracht. Am 14. Mai 2023 fanden die Wahlen für die Gemeindeund Kreisvertretungen in Schleswig-Holstein statt. In diesem Zuge kam es, wie bereits skizziert, vor allem zu Straftaten zum Nachteil der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD). Dazu zählen Sachbeschädigungen an Wahlplakaten aber auch Beleidigungen von Funktionären der Partei AfD. Straftaten im Themenfeld Ökologie werden hauptsächlich im Rahmen von Versammlungen begangen. Nicht selten verwirken einige Teilnehmende ihr Recht auf Versammlung, da sie währenddessen Seite 52 II Politisch motivierte Kriminalität mit strafbaren Aktionen, wie beispielsweise Straßenblockaden, in Erscheinung treten. Am 03.03.2023 löste sich eine Gruppe von Personen aus dem Aufzug der Gruppierung "Fridays for Future" heraus und blockierte die Auffahrt der Bundeautobahn 215 in Kiel. Im Jahr 2023 ist wie in vielen anderen Bundesländern die Gruppierung "Letzte Generation" mit Aktionen in Schleswig-Holstein in Erscheinung getreten. Den Beginn einer Reihe von Blockadeund Farbaktionen markierte eine Blockade am 02.02.2023 in Flensburg, als sich mehrere Aktivistinnen und Aktivisten unangekündigt auf die Straße setzten und wiederum einige von ihnen ihre Hand mittels handelsüblichen Sekundenkleber auf den Fahrbahnbelag klebten. Im Juni 2023 kam es anschließend unter dem Motto "Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten" durch Aktivistinnen und Aktivisten der "Letzten Generation" zu Farbaktionen auf der Insel Sylt, die neben erheblichen Sachschäden auch eine bundesweite mediale Aufmerksamkeit auf sich zogen. Neben den insgesamt vier Farbaktionen auf Sylt wurde unter demselben Motto am 20.06.2023 eine Luxusyacht in Neustadt i.H. mit Farbe besprüht. Die Anzahl der Aktionen reduzierte sich sodann in der zweiten Jahreshälfte signifikant. Aufgrund der Aktionen auf Sylt und in Neustadt i.H. wird seit 2023 im Landeskriminalamt Schleswig-Holstein ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung gem. SS 129 StGB gegen ein Mitglied der "Letzten Generation" unter Leitung der Staatsanwaltschaft Flensburg geführt. Die 12 Gewalttaten beinhalten 3 gefährliche Körperverletzungen, 3 einfache Körperverletzungen, 2 tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, 2 Brandstiftungen, einen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und einen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr. Seite 53 II Politisch motivierte Kriminalität Eine Häufung der Gewalttaten ist in der Stadt Lübeck mit 4 und im Kreis Stormarn mit 3 Taten zu verzeichnen. In der Lübecker Innenstadt formierte sich am Tag der Urteilsverkündung des Oberlandesgerichts Dresden gegen eine bundesweit bekannte Linksextremistin wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung gemäß SS 129 StGB und anderer Delikte eine ca. 40 bis 50 Personen starke Gruppe, die einen spontanen Aufzug startete. In diesem Zuge kam es unter anderem zu einem tätlichen Angriff auf einen Polizeivollzugsbeamten in Form von Schlägen mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf und Tritten. Bei einer der 3 Gewalttaten im Kreis Stormarn handelte es sich um eine gefährliche Körperverletzung zum Nachteil von AfD-Mitgliedern. Beim Abbau eines angemeldeten Informationsstandes in Bad Oldesloe wurden vier Anhänger der Partei AfD von zwei Anhängern der linken Szene mit Reizgas besprüht, woraufhin sich die AfD-Anhänger ebenfalls durch das Sprühen von Reizgas wehrten. Es ist zu konstatieren, dass die Gesamtzahlen der Politisch motivierten Kriminalität -linkseinem leichten und die Gewaltdelikte einem stärkeren Abwärtstrend unterliegen. Dies kann vor allem mit dem Ausbleiben von Ereignissen erklärt werden, in deren Zusammenhang in der Vergangenheit wiederkehrend Straftaten begangen wurden, die diesem Phänomenbereich zugerechnet wurden. Nachdem die staatlichen Coronaschutzmaßnahmen gänzlich aufgehoben wurden, reduzierte sich z. B. die Anzahl von sog. Spaziergängen, also Demonstrationen, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich kritisch gegenüber den Coronamaßnahmen positionierten. In den Jahren 2021 und 2022 kam es auf solchen Spaziergängen mehrfach zu Straftaten durch linke Gegendemonstrantinnen und -demonstranten zum Nachteil von sogenannten Spaziergängern. Seite 54 II Politisch motivierte Kriminalität 3.3 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -ausländische Ideologie (AI)Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -ausländische Ideologie (AI)120 104 100 92 80 60 40 20 16 14 16 7 7 10 2 4 2 0 0 2018 2019 2020 2021 2022 2023 PMK ausländische Ideologie PMK ausländische Ideologie Gewalt Der PMK -ausländische Ideologiewurden im Jahr 2023 insgesamt 104 Straftaten zugeordnet. Hieraus ergibt sich im Vergleich zum Vorjahr ein Zuwachs von 12 Fällen bzw. 13,04 Prozent. Die Zahl der erfassten Gewaltdelikte stieg im Erfassungszeitraum von 7 Taten in 2022 auf nunmehr 10 Fälle (+42,86 Prozent), von denen 8 aufgeklärt werden konnten (80,00 Prozent). Die Aufklärungsquote der politisch motivierten Straftaten mit ausländischer Ideologie insgesamt lag bei 55,77 Prozent (2022: 36,96 Prozent). Seite 55 II Politisch motivierte Kriminalität Delikte der Politisch motivierten Kriminalität -ausländische IdeologieDelikte der Politisch motivierten Kriminalität -ausländische Ideologie (AI)25 20 20 15 14 13 10 9 8 8 6 5 5 5 0 SS 130 StGB SS 303 StGB SS 241 StGB SS 140 StGB SS 185 StGB SS 86a StGB SS 223 StGB SS 129b StGB SS 242 StGB Die Straftaten im Phänomenbereich wurden 2023 im Wesentlichen geprägt durch Volksverhetzungen, Sachbeschädigungen und Nötigungen: Trotz rückgängiger Fallzahlen im Kontext des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine (2023: 25 Taten; -64,28 Prozent) kam es 2023 zu einem erneuten Anstieg von Straftaten im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität -ausländische Ideologie-. Dieser Anstieg ist auf die Auswirkungen des Angriffs der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf israelisches Staatsgebiet seit dem Oktober 2023 mit insgesamt 41 Fälle zurückzuführen. Seite 56 II Politisch motivierte Kriminalität 3 der 10 bekannt gewordenen Gewaltdelikte fielen in den Kontext Russland-Ukraine Konflikt, von denen die beiden einfachen Körperverletzungsdelikte gemäß SS 223 StGB aufgeklärt werden konnten. Bei einer gemeinschaftlich begangenen Körperverletzung nach einem alkoholisierten Streitgespräch in einem Lokal konnten die Täter unerkannt fliehen. Im Themenzusammenhang Nahost wurde ein Gewaltdelikt festgestellt. Hierbei handelte es sich um einen syrischen Staatsangehörigen, der mit einem Supermarkt-Mitarbeiter aufgrund eines bestehenden Hausverbots in Streit geriet, in welchem es zu mehreren Handlungen der einfachen körperlichen Gewalt kam. In diesem Sachverhalt wurden außerdem auch zwei Supermarkt-Besucherinnen Opfer von Beleidigungen. Die verbleibenden 6 Gewalttaten lassen sich keinem dieser beiden Themenbereiche zuordnen. Hierbei handelt es sich um 5 einfache Körperverletzungen mit geringen Folgen, von denen 4 aufgeklärt werden konnten. Ein Fall einer einfachen Körperverletzung wurde im Zusammenhang mit einem Demonstrationsgeschehen aus Anlass der sich jährenden Machtübernahme der Taliban in Afghanistan bekannt. Ein Demonstrationsteilnehmer führte eine Fahne der Taliban offen mit sich und wurde aufgefordert, diese nicht weiter zu zeigen. Der Vorgang wurde von einer weiteren Person gefilmt. Diese wurde von dem Teilnehmer geschlagen, weil er mit dem Filmen seiner Person nicht einverstanden war. Opfer einer gefährlichen Körperverletzung wurde ein Bundeswehrsoldat auf dem Weg in seine Kaserne. Er wurde an einem Bahnhof von drei unbekannten männlichen Personen südländischer Herkunft zunächst beleidigt, dann geschlagen und getreten. Seite 57 II Politisch motivierte Kriminalität Das Opfer erlitt Verletzungen, die im Krankenhaus behandelt werden mussten. Die Motivlage konnte nicht abschließend ermittelt werden. Des Weiteren lassen sich im Erfassungszeitraum Bedrohungssachverhalte gemäß SS 241 StGB in 6 Fällen feststellen, die nicht den beiden genannten Themenbereichen zugeordnet werden können. Mitbürger aus dem Iran, Afghanistan und dem Kosovo wurden hauptsächlich über Social Media und per Telefon u.a. mit dem Tode bedroht, welches im Zusammenhang mit ihren regimekritischen Einstellungen und Verlautbarungen stehen dürfte. Delikte wie das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen/Beleidigung/Sachbeschädigung im Sinne der Tatbestände SSSS 86a, 185, 303 StGB, die nicht den beiden Themenkomplexen Nahost und Russland-Ukraine Konflikt zugeordnet werden konnten, spielten im Erhebungszeitraum mit jeweils zwei bekannt gewordenen Taten eine untergeordnete Rolle. Vor dem Hintergrund der kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen wurde im Berichtszeitraum ein Fall einer Sachbeschädigung durch das Aufbringen einer Öcalan-Abbildung auf eine Hauswand bekannt. Im Kontext Türkei wurden im Rahmen des Asylverfahrens 5 Fälle übermittelt, bei denen der Verdacht bestand, dass sich die jeweilige asylsuchende Person der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland (PKK: 4 / DHKP-C: 1) strafbar gemacht haben könnte. Seite 58 II Politisch motivierte Kriminalität Israel / Palästina (Nahostkonflikt) Seit Beginn des Terrorangriffs der Hamas am 07. Oktober wurden 41 Straftaten registriert, von denen sich knapp 40 Prozent (16 Taten) im Monat Oktober ereigneten. Den Schwerpunkt der Gesamtstraftaten in diesem Kontext bildeten 16 Volksverhetzungen (SS 130 StGB). Hierbei handelte es sich um Aussagen, die auf unterschiedlichste Art und Weisen öffentlich gemacht wurden. Am häufigsten wurden Plakate/Schilder während des Versammlungsgeschehens mit strafrechtlich relevantem Wortlaut gezeigt. Es folgten Hasspostings auf Social Media und Schriftzüge in Form von Graffiti oder das Aufbringen von Aufklebern mit volksverhetzendem Inhalt. Diese Fälle konnten fast ausschließlich dem Themenfeld Antisemitismus zugeordnet werden. In der Häufigkeit der Delikte folgten 11 Sachbeschädigungen (SS 303 StGB). Bei 9 der Fälle handelt es sich um das Aufbringen von Graffitis, die hauptsächlich den Schriftzug "Free Palastine" aufwiesen. Bei den 2 verbleibenden Fällen der Sachbeschädigung handelte es sich um Straftaten zum Nachteil von Personen, die zumindest als israel-freundlich beurteilt wurden. Lediglich in einem Fall gelang es, einen Tatverdächtigen zu ermitteln. Die 5 Diebstahltaten im Kontext Nahost wurden innerhalb der ersten Woche begangen. In diesem Zuge wurden ausschließlich israelische Flaggen/Fahnen entwendet, die an öffentlichen Einrichtungen gehisst oder bei einer pro israelischen Versammlung gezeigt wurden. Seite 59 II Politisch motivierte Kriminalität Russland-Ukrainekonflikt Den Schwerpunkt im Kontext Russland-Ukraine bildete, wie bereits im vorangegangen Jahr, die Billigung von Straftaten gemäß SS 140 StGB mit 9 Taten. Die Tatbegehung erfolgte zu einem hohen Anteil durch das Aufbringen und die Zurschaustellung von Z-Symboliken im öffentlichen Raum. 3.4 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -religiöse IdeologieEntwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -religiöse Ideologie40 37 35 31 30 25 24 20 19 16 15 10 9 6 5 4 3 3 2 0 0 2018 2019 2020 2021 2022 2023 PMK religiöse Ideologie PMK religiöse Ideologie Gewalt Der Bereich PMK -religiöse Ideologiewird seit dem Jahr 2017 gesondert erfasst. 31 der der PMK -religiöse Ideologiezuzuordnende Straftaten im Jahr 2023 bedeuten, bei traditionell absolut sehr geringen Fallzahlen, im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs von 12 Fällen bzw. Seite 60 II Politisch motivierte Kriminalität 63,16 Prozent. Alle Taten sind dem Themenfeld "Islamismus" zuzurechnen Die Zahl der Gewaltdelikte verringerte sich im Betrachtungszeitraum, bei absolut ebenfalls sehr geringen Fallzahlen, von vier auf drei (eine Körperverletzung gem. SS 223 StGB und 2 gefährliche Körperverletzung gem. SS 224 StGB). Delikte der Politisch motivierten Kriminalität -religiöse IdeologieDie Straftaten im Phänomenbereich wurden 2023, bei absolut sehr geringen Zahlen, im Wesentlichen geprägt durch Störungen des öffentlichen Friedens durch die Androhung von Straftaten und das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen: Delikte der Politisch motivierten Kriminalität -religiöse Ideologie- 8 7 7 6 6 5 4 3 3 3 3 2 2 1 0 SS 126 StGB SS 86 StGB SS 130 StGB SS 303 StGB SS 89a StGB SS 224 StGB 4 der 31 gemeldeten Straftaten sind der Deliktsgruppe des Terrorismus zuzuordnen (2022: 2). Bei den 4 Verfahren handelt es sich um ein Verfahren gemäß SS 129 a/b StGB (Mitgliedschaft/Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland) und 3 Verfahren Seite 61 II Politisch motivierte Kriminalität wegen SS 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat). Die restlichen 27 Delikte unterteilen sich in 7 Taten wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (SS 126 StGB), 6 Taten wegen Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (SS 86 StGB), je 3 Taten wegen Volksverhetzung (SS 130 StGB) und Sachbeschädigung (SS 303 StGB) und 2 gefährliche Körperverletzungen (SS 224 StGB). Weitere Delikte wie einfache Körperverletzung, Beleidigung oder Delikte im Zusammenhang von Demonstrationsgeschehen (SSSS 223, 185, 111, 140 StGB) wurden jeweils einmal registriert. Die 4 Terrorismus-Delikte sowie die 6 Propaganda-Delikte waren inhaltlich salafistisch motiviert und zielten im Wesentlichen auf eine Unterstützung des sogenannten "Islamischen Staates". Die anderen genannten Delikte betrafen zum großen Teil inhaltlich und auch in der Art der Ausprägung (z.B. gleichzeitig antisemitisch und/oder antiisraelisch) den aktuellen Nahost-Konflikt. In diesem Konflikt ist auch der überdurchschnittlich hohe Anstieg der Fallzahlen in diesem Phänomenbereich seit Oktober 2023 zu begründen. Grundsätzlich ist festzustellen, dass aufgrund der Erfassungsrichtlinien eine Vielzahl der im Phänomenbereich bearbeiteten Delikte und Gefahrenabwehrvorgänge im vorliegenden Berichtsjahr nicht miterfasst werden, so dass die Zahlen für den Bereich der PMK -religiösen Ideologienur eine begrenzte Aussagekraft aufweisen. Seite 62 II Politisch motivierte Kriminalität 3.5 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -Sonstige ZuordnungEntwicklung der Politisch motivierten Kriminalität -Sonstige Zuordnung600 500 488 471 400 368 300 200 153 134 115 100 24 31 5 9 8 11 0 2018 2019 2020 2021 2022 2023 PMK Sonstige Zuordnung PMK Sonstige Zuordnung Gewalt Mit 488 Straftaten der PMK -Sonstige Zuordnungim Jahr 2023 ist ein deutlicher Anstieg um 120 Fälle bzw. 32,61 Prozent im Vergleich zum Vorjahr feststellbar. In diesem Phänomenbereich konnten 231 (47,34 Prozent) der Straftaten aufgeklärt werden. 31 (6,35 Prozent) der insgesamt 488 in diesem Phänomenbereich begangenen Straftaten waren Gewaltdelikte (2022: 6,5 Prozent). Dies entspricht einer Zunahme von 7 Fällen und 29,17 Prozent. In 17 Fällen (54,84 Prozent) konnte eine Täterin bzw. ein Täter ermittelt werden. Den Großteil der Gewaltdelikte machten die einfachen Körperverletzungen gem. SS 223 StGB aus. Hier ist ein leichter Anstieg um +3 von 13 auf 16 Fälle in 2023 gegenüber 2022 zu verzeichnen. Seite 63 II Politisch motivierte Kriminalität Auch die Zahlen der gefährlichen Körperverletzungen gem. SS 224 StGB sind von 5 auf 7 Fälle leicht angestiegen. Die Zahl der Widerstandshandlungen und tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte ist um 3 auf einen Fall gesunken. In 2023 wurden 4 Fälle registriert, die unter das Deliktsfeld "Raub und Erpressung" zu subsumieren sind. In einem Fall wird wegen einer Nötigung/Erpressung im Rahmen einer Nachbarschaftsstreitigkeit mit einem Reichsbürger ermittelt. In 3 Fällen wurde die sexuelle Orientierung des Opfers ausgenutzt, um dieses in eine Falle zu locken und auszurauben. 2022 gab es keine derart gelagerten Fälle. Weiterhin kam es zu 2 Brandstiftungen gem. SS 306 StGB (Themenfeld: Tierschutz Jagd) und einem versuchten gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr. Die Tatorte befanden sich überwiegend in den Polizeidirektionen Bad Segeberg (103), Lübeck (84) und Itzehoe (72). Delikte der Politisch motivierten Kriminalität -Sonstige ZuordnungDie Straftaten im Phänomenbereich wurden 2023, wie auch in den Jahren zuvor, im Wesentlichen durch Sachbeschädigungen sowie Propagandaund Beleidigungsdelikte und weniger durch Körperverletzungsoder Bedrohungsdelikte geprägt: Seite 64 II Politisch motivierte Kriminalität Delikte der Politisch motivierten Kriminalität -Sonstige Zuordnung160 141 140 120 100 83 80 60 54 44 40 35 34 20 17 16 0 SS 303 StGB SS 86a StGB SS 185 StGB SS 242 StGB SS 130 StGB SS 188 StGB SS 241 StGB SS 223 StGB Der signifikante Anstieg der Fallzahlen (+120) resultiert demnach vor allem aus mehr Propagandadelikten (+89) und Sachbeschädigungen (+38). Besonders zu betrachtende Themenfelder in diesem Phänomenbereich waren: Straftaten im Zusammenhang mit Wahlen Insgesamt gab es 132 Taten (2022: 108), die im Zusammenhang mit der Kommunalwahl 2023 stehen. 117 Taten entfallen allein auf Diebstahls(28) und Sachbeschädigungsdelikte (89) mit dem Angriffsziel Wahlplakat. Weitere Delikte im Zusammenhang mit dem Wahlkampfgeschehen waren: Bedrohungen gegen den politischen Gegner in 4 Fällen sowie eine versuchte gefährliche Körperverletzung. Bei der versuchten KörSeite 65 II Politisch motivierte Kriminalität perverletzung handelt es sich um Eierwürfe auf Mitglieder der Partei Bündnis90/Die Grünen im Rahmen des Wahlkampfgeschehens. Insgesamt 5 Vorfälle im Wahlkampfgeschehen erfüllten den Tatbestand des SS 86a StGB. Hier wurden jeweils durch unbekannte Täter Wahlplakate mit verfassungsfeindlichen Zeichen aus dem Spektrum des Nationalsozialismus (z.B. Hakenkreuz) beschmiert. Es bleibt festzustellen, dass ein leichter Anstieg der Straftaten im Zusammenhang mit Wahlen zu verzeichnen ist. Aufgrund des Umstandes, dass es sich in diesem Jahr jedoch lediglich um Kommunalwahlen gehandelt hatte, in welchem parteipolitische Themen des Öfteren gegenüber Sachthemen "vor Ort" zurückstehen, ist dieser Anstieg der Fallzahlen gegenüber 2022, in welchem die Landtagswahlen stattfanden, bemerkenswert. Parteien mit exponiertem Konfliktpotenzial Dem aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskurs folgend, wurden zwei Parteien in die nähere Betrachtung einbezogen, die derzeit als polarisierend wahrgenommen werden und dadurch einer erhöhten Gefahr unterliegen, Ziel von politisch motivierten Straftaten zu werden. Neben der Betrachtung von Straftaten, welche sich gegen die Partei Alternative für Deutschland (AfD) und deren Repräsentanten richten, ist in der Jahresbetrachtung ein auffälliger Anstieg von Taten gegen die Partei Bündnis90/Die Grünen und deren Repräsentanten zu verzeichnen. Kam es 2022 noch zu insgesamt 23 Vorfällen gerichtet gegen Bündnis90/Die Grünen, lag in 2023 ein Anstieg von über 365 Prozent auf 107 Taten vor. Seite 66 II Politisch motivierte Kriminalität Bei 57 Taten wurden Wahlplakate durch Diebstahl oder Sachbeschädigung angegangen. Diese Taten sind damit unmittelbar dem Wahlkampfgeschehen 2023 zuzurechnen und machen den größten Anteil der Straftaten gegenüber dieser Partei und deren Repräsentanten aus. Es wurden 14 Verstöße nach SS 130 StGB festgestellt. Hierbei handelte es sich überwiegend um sog. Hasspostings, welche über soziale Netzwerke verbreitet wurden und aufgrund des jeweiligen Inhalts den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllten. Inhaltlich wurde in diesen Postings den Grünen zumeist eine faschistische Gesinnung unterstellt und teilweise Vergleiche mit dem Holocaust angestellt. Auch elf weitere Straftaten, die sich dem Deliktsbereich der Beleidigung zurechnen lassen, fanden im digitalen Raum in sozialen Netzwerken statt. Ergänzt wurden die Sachverhalte durch den bereits beschriebenen Eierwurf im Rahmen des Wahlkampfes und zwei weitere Bedrohungssachverhalte, die sich jeweils gegen Parteimitglieder richteten. Eine Bedrohung wurde durch ein Internetposting ausgesprochen und der weitere Sachverhalt spielte sich realweltlich im Rahmen einer Flyerverteilung ab. In 25 Fällen (2022: 16 Fälle) wurde die Partei AfD oder deren Vertreter Opfer von Straftaten. Diese Taten beziehen sich zum ganz überwiegenden Teil auf Angriffe gegen Wahlplakate (11x Diebstahl / 13x Sachbeschädigung). In einem Fall wurde eine Anzeige wegen Beleidigung erstattet, nachdem bei einer Kranzniederlegung in Itzehoe im Rahmen einer Rede gegen sämtliche AfD-Kandidaten der Kommunalwahl eine pauschale Beleidigung ausgesprochen worden war. Seite 67 II Politisch motivierte Kriminalität Straftaten, die sich gegen die sexuelle Orientierung und/oder geschlechtsbezogene Diversität richten Insgesamt wurden 51 Fälle bekannt, die sich auf die sexuelle Orientierung und/oder die geschlechtsbezogene Diversität beziehen. Hiervon wurden zehn Fälle aufgeklärt, was einer Quote von 19,6 Prozent entspricht. Es entfielen zwölf dieser Fälle auf die Deliktsgruppe der PM Gewaltkriminalität, acht Taten konnten aufgeklärt werden (66,67 Prozent). Einfache Körperverletzungsdelikte traten mit sechs bekannt gewordenen Fällen am häufigsten auf. In drei Fällen wurden die Opfer aus Personengruppen heraus gemeinschaftlich angegriffen. In drei Fällen kam es zu Raubtaten zum Nachteil von männlichen Geschädigten mit homosexueller Ausrichtung. Der Kontakt zwischen den Tätern und den späteren Opfern wurde jeweils über die Dating-Plattform "Romeo" hergestellt. Es wurde ein Treffpunkt an einem abgelegenen Ort verabredet, an dem in der Folge die Raubtat durch mehrere Täter unerkannt durchgeführt werden konnte. Die Geschädigten wurden hinsichtlich ihrer sexuellen Ausrichtung beleidigt und teils erheblich verletzt. Ermittlungen führten zu einer Gruppierung von mehreren Jugendlichen. Zwei der drei Fälle konnten bislang aufgeklärt werden. Aus dem Bereich der PMK ohne Gewaltbezug liegen weitere 39 Fälle vor, bei denen der Bezug zur sexuellen Orientierung und/ oder geschlechtsbezogener Diversität des Opfers herzuleiten war. Hier liegt der Schwerpunkt auf Beleidigungsdelikten (15 Beleidigungen, 2 verhetzende Beleidigungen, eine üble Nachrede). 11 Seite 68 II Politisch motivierte Kriminalität dieser Fälle wurden im realweltlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer begangen, und 6 Taten fanden im digitalen Raum über soziale Medien oder das Internet allgemein statt. In einem Sachverhalt wurde die Beleidigung in einem Brief ausgesprochen. Ergänzt wurden diese Delikte durch 3 Hasspostings in sozialen Netzwerken, die den Tatbestand des 86a StGB erfüllen, sowie ein Sachverhalt, der eine Volksverhetzung im Sinne des SS 130 StGB darstellte und eine Bedrohung, die realweltlich stattgefunden hat. Russland-Ukrainekonflikt Auf das Themenfeld Ukraine bezogen sich 41 Fälle. Einen Großteil machten hier wieder Hasspostings (15) aus, welche durch den jeweiligen Inhalt den Delikten der Beleidigung und der üblen Nachrede (10), der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger oder terroristischer Organisationen (2) und der Billigung von Straftaten (2) und Volkverhetzung (1) zugerechnet wurden. Weitere zu erwähnende Delikte stellen die 3 einfachen Körperverletzungen sowie eine Nachstellung und eine Bedrohung dar. Israel / Palästina (Nahostkonflikt) Durch den Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina kam es zu 23 Fällen, von denen 13 als Diebstahlsund Sachbeschädigungsdelikte bekannt wurden. Zumeist handelte es sich hier um das Entwenden oder Beschädigen von israelischen Flaggen oder anderen Hoheitszeichen (11). Der Spruch "free palestine" wurde in 2 Fällen verbotswidrig verbreitet. Seite 69 II Politisch motivierte Kriminalität Weitere Verstöße in diesem Zusammenhang entfielen auf 5 Volksverhetzungen sowie jeweils einen Fall von Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, Beschimpfen von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen, Beleidigung, Bedrohung und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger oder terroristischer Organisationen. Covid19-Pandemie Auf den Themenbereich Covid19-Pandemie entfielen noch lediglich 9 Sachverhalte, denen allesamt Hasspostings im Internet zugrunde lagen. Reichsbürger und Selbstverwalter In 2023 wurden 14 Fälle strafrechtlich relevante Fälle unter dem Themenfeld "Reichsbürger und Selbstverwalter" subsumiert. Im Vergleich zum Jahr 2022 stellt dies eine Reduktion von 44 Prozent dar (2022: 25 Fälle). Die Aufklärungsquote liegt in diesem Phänomenbereich für 2023 bei 100 Prozent. Die festgestellten Sachverhalte verteilen sich über folgende Deliktsbereiche: - SS 267 StGB Urkundenfälschung (3) - SS 241 StGB Bedrohung (2) - SS 52 WaffG SS 52 WaffG Illegales Erwerben, Besitzen oder Führen einer Schusswaffe und/oder Munition (2) - SS 113 StGB Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (1) - SS 123 StGB Hausfriedensbruch (1) Seite 70 II Politisch motivierte Kriminalität - SS 185 StGB Beleidigung (1) - SS 201 StGB Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes (1) - SS 224 StGB Gefährliche Körperverletzung (Versuch) (1) - SS 240 StGB Nötigung (1) - SS 253 StGB Erpressung (Versuch) (1). Jeweils 8 der 14 Taten richteten sich gegen die Angriffsziele "Amtsoder Mandatsträger" und "Polizeiangehörige". Die Täter waren in 10 Fällen männlich und in 4 Fällen weiblich, wobei eine Täterin für insgesamt 3 Fälle verantwortlich zeichnet. Der Altersdurchschnitt der ermittelten Täterinnen und Täter liegt bei 52,5 Jahren. Waffen spielen in dem Ideologieverständnis von Reichsbürgern und Selbstverwaltern eine nicht zu unterschätzende Rolle. In 2023 wurden zwei Sachverhalte mit einem Bezug zum Waffenrecht bekannt, in denen Reichsbürgern ein diesbezüglicher Verstoß angelastet wurde. Folgende Sachverhalte aus dem Kontext der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" stachen in 2023 hervor: Seite 71 II Politisch motivierte Kriminalität Bei einer männlichen Person, die eindeutig der Reichsbürgerszene zuzuordnen ist, wurde im Rahmen von Durchsuchungsmaßnahmen u.a. ein scharfer Revolver samt Munition sichergestellt. Waffenrechtliche Erlaubnisse lagen hierfür nicht vor. Die Person ist einer Gruppierung zuzurechnen, die bundesweit vernetzt gewesen ist und für Umsturzpläne, die gegen den deutschen Staat gerichtet waren, verantwortlich gemacht wird. Bundesweit wurde der Gruppierung u.a. der Begriff "Kaiserreichgruppe" zugeschrieben. Erklärtes Ziel war es, einen landesweiten "Black Out" herbeizuführen und den Bundesgesundheitsminister Lauterbach zu entführen. Gegen die Haupttäter werden Gerichtsverfahren in Koblenz geführt. Im Rahmen eines Einsatzes wegen Ruhestörung kam es zu Beleidigungen und Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte sowie falscher Namensangabe durch eine männliche Person, deren Äußerungen eindeutig der Reichsbürgerszene zuzuordnen sind. Eine sechsköpfige, männliche Personengruppe hatte zuvor Alkohol konsumiert und gemeinsam den Abend verbracht. Der Tatverdächtige einer gefährlichen Körperverletzung sollte durch Mitarbeiter des Ordnungsamtes wegen eines Parkverstoßes kontrolliert werden. Unmittelbar nach der Ansprache der beiden Ordnungsamtsmitarbeiter beschimpfte der Tatverdächtige diese und fuhr unvermittelt mit dem PKW rückwärts. Dabei fuhr er einem der Mitarbeiter gegen die Beine. Dieser blieb jedoch unverletzt. Den anschließend eingesetzten Polizeibeamten gegenüber tätigte der tatverdächtige Reichsbürger typische Äußerungen und Beleidigungen. Der Beschuldigte ist bereits im Jahr 2021 und 2023 als Reichsbürger und Corona-Leugner in Erscheinung getreten. Ergänzend zu der Bearbeitung von Strafverfahren macht ein erheblicher Teil der polizeilichen Befassung mit diesem Phänomen die Bearbeitung von strafrechtlich irrelevantem Schriftverkehr aus. Seite 72 II Politisch motivierte Kriminalität "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" überziehen eine Vielzahl von Behörden mit pseudojuristischen Schreiben und fordern zu Einlassungen der Behörden zu den verschiedensten Sachthemen auf. Der Umstand, dass es in Schleswig-Holstein im vergangenem Jahr zu keinen herausragenden Gewaltdelikten im Kontext der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" gekommen ist, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass aufgrund der ideologischen Ausrichtung in Verbindung mit der Waffenaffinität in Einzelfällen gewaltsame Verhaltensweisen und Angriffe jederzeit in Betracht gezogen werden müssen, wenn sich staatliche Organe in den Kontakt mit "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" begeben. Seite 73 II Politisch motivierte Kriminalität 4 Phänomenübergreifende PMK 4.1 Straftaten gegen Amtsund Mandatsträger Delikt Gesamt Gesamt PMK PMK PMK PMK 2022 2023 -links-rechts-AI - -SZVerwenden von Kennzei- 3 7 4 3 chen verfassungswidriger Organisationen (SS86a StGB) Verunglimpfung des 1 0 Bundeskanzlers (SS90 StGB) Verfassungsfeindliche 0 1 1 Verunglimpfung von Verfassungsorganen (SS90b StGB) Nötigung von 5 0 Verfassungsorganen (SS105 StGB) Öffentliche Aufforde- 4 3 1 2 rung zu Straftaten (SS 111 StGB) Tätlicher Angriff auf 2 0 0 Vollstreckungsbamte (SS114 StGB) Hausfriedensbruch 0 1 1 (SS123 StGB) Seite 74 II Politisch motivierte Kriminalität Delikt Gesamt Gesamt PMK PMK PMK PMK 2022 2023 -links-rechts-AI - -SZStörung des öffentlichen 3 1 1 Friedens durch Androhung von Straftaten (SS 126 StGB) Volksverhetzung 8 11 9 2 (SS130 StGB) Belohnung und Billigung 5 3 3 von Straftaten (SS 140 StGB) falsche Verdächtigung 0 1 1 (SS164 StGB) Beleidigung 18 23 4 3 16 (SS 185 StGB) Verleumdung 2 1 1 (SS187 StGB) Üble Nachrede und 27 39 3 4 32 Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens (SS 188 StGB) Verhetzende Beleidi- 1 1 1 gung (SS192a StGB) Verletzung der Vertrau- 1 1 1 lichkeit des Wortes (SS201 StGB) Verletzung des höchst- 0 1 1 persönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen (201a StGB) Seite 75 II Politisch motivierte Kriminalität Delikt Gesamt Gesamt PMK PMK PMK PMK 2022 2023 -links-rechts-AI - -SZKörperverletzung 0 1 1 (SS 223 StGB) Gefährliche Körperver- 0 2 2 letzung (SS 224 StGB) Nötigung (SS 240 StGB) 0 1 1 Bedrohung (SS 241 StGB) 7 9 1 2 2 4 Sachbeschädigung 6 6 3 3 (SS 303 StGB) Gefährl. Eingriff in den 2 0 Strassenverkehr (SS315b StGB) Summe: 95 113 24 10 5 74 Im Bereich der Straftaten gegen Amtsund Mandatsträger/-innen ist für das Jahr 2023 ein Anstieg auf insgesamt 113 Delikte (2022: 95 Delikte) zu registrieren, was einer Steigerung von 18,95 Prozent entspricht. Von den insgesamt 113 Delikten wurden 24 Delikte der PMK -rechts-, 10 Delikte der PMK -links-, 5 Delikte der PMK -AIund 74 der PMK -sonstige Zuordnungzugeschrieben. Den deliktischen Schwerpunkt im Bereich PMK -rechtsbildete dabei der SS 130 StGB (Volksverhetzung) mit insgesamt 11 Delikten (2022: 8 Delikte), von denen 9 Delikte dem Phänomenbereich PMK -rechtssowie 2 dem Phänomenbereich PMK -SZzugeordnet werden konnten. Seite 76 II Politisch motivierte Kriminalität Der Großteil der Delikte (74) gegen Amtsund Mandatsträger/-innen war 2023 im Bereich des Phänomenbereiches PMK -sonstige Zuordnungzu registrieren. Hier stellten die Beleidigungsdelikte (SSSS 185, 187, 188 StGB) mit 49 Straftaten den größten Anteil dar, wobei im Bereich des spezielleren Straftatbestandes SS 188 StGB mit 32 Delikten gegenüber 25 Delikten im Jahr 2022 ein Anstieg von 28 Prozent zu verzeichnen ist. Im Bereich des Straftatbestandes SS 185 StGB wurden 23 Delikte registriert. In diesem Deliktsfeld ist eine Zunahme der Deliktszahlen (+ 5) gegenüber dem Jahr 2022 (18) festzustellen, was einem Anstieg um 27,78 Prozent entspricht. Auch im Bereich des SS 241 StGB (Bedrohung) konnte ein Anstieg auf 9 Delikte gegenüber 7 Delikten im Jahr 2022 dokumentiert werden. Dies entspricht einer Steigerung um 28,57 Prozent. Es ist zu konstatieren, dass insbesondere für Amtsund Mandatsträger/-innen fortgesetzt das Risiko besteht, im Rahmen öffentlicher Positionierungen und aktueller politischer Entscheidungen, Ziel verbaler Anfeindungen zu werden. Diese werden überwiegend in digitaler Form durch E-Mails, Aussagen / Kommentare in den sozialen Netzwerken (Facebook, X (Twitter), Telegram, etc.), in einem Web-Forum oder auf einer anderen Website mit öffentlichen Kommentarfunktionen getätigt. Seite 77 II Politisch motivierte Kriminalität 4.2 Antisemitische Straftaten Delikt Gesamt Gesamt PMK PMK PMK PMK 2022 2023 -AI-rechts-RI-SZVerwenden von 6 7 3 4 Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (SS86a StGB) Verletzung von 0 1 1 Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten (SS 104 StGB ) Öffentliche Auffor- 0 1 1 derung zu Straftaten (SS 111 StGB) Widerstand gegen 1 0 Vollstreckungsbeamte (SS 113 StGB) Tätlicher Angriff auf 1 0 Vollstreckungsbeamte (SS114 StGB) Störung des 0 7 3 4 öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (SS 126 StGB) Volksverhetzung 37 80 12 50 2 16 (SS130 StGB) Belohnung und Billi- 0 2 1 1 gung von Straften (SS 140 StGB) Seite 78 II Politisch motivierte Kriminalität Delikt Gesamt Gesamt PMK PMK PMK PMK 2022 2023 -AI-rechts-RI-SZStörung der Toten- 0 1 1 ruhe (SS 168 StGB) Beleidigung 3 3 2 1 (SS 185 StGB) SS 192a StGB Verhet- 0 1 1 zende Beleidigung Körperverletzung 2 0 (SS 223 StGB) Bedrohung 0 3 1 2 (SS 241 StGB) Diebstahl 0 1 1 (SS 242 StGB) Sachbeschädigung 3 8 1 4 1 2 (SS 303 StGB) Summe: 53 115 19 67 10 19 Im Jahr 2023 wurden insgesamt 115 antisemitische Straftaten erfasst. Dies stellt einen Anstieg um 116,98 Prozent gegenüber dem Vorjahr dar (2022: 53) dar. Die Aufklärungsquote lag bei 61,74 Prozent (2022: 58,90 Prozent). Von den insgesamt 115 Delikten ließen sich 67 Delikte dem Phänomenbereich PMK -rechts-, 19 Delikte dem Phänomenbereich PMK -ausländische Ideologie-, 19 Delikte dem Phänomenbereich PMK -sonstige Zuordnungund 10 Delikte dem Phänomenbereich -religiöse Ideologiezuordnen. Seit den Terrorangriffen der Hamas auf den Staat Israel am 07.10.2023 konnte in diesem Kontext eine überproportionale Zunahme von antisemitischen Straftaten registriert werden, hierbei handelte es sich überwiegend um Volksverhetzungen. Seite 79 II Politisch motivierte Kriminalität Im Berichtszeitraum wurden in Schleswig-Holstein keine Gewaltdelikte angezeigt (2022: 4). Jedoch wurden 3 Straftaten gem. SS 241 StGB (2022: 0) verzeichnet. Im Kreis Herzogtum Lauenburg wurde ein Mitarbeiter einer Kirchengemeinde durch eine Vielzahl von SMS-Textnachrichten und E-Mails direkt und mittelbar massiv bedroht. Einige dieser Nachrichten enthielten antisemitische Passagen. Den 2 verbleibenden Sachverhalten lagen Beleidigungen zugrunde, in deren Folge körperliche Übergriffe angekündigt wurden. Der deliktische Schwerpunkt liegt bei den Volksverhetzungen (SS 130 StGB) mit 80 Fällen (2022: 37) und stellt mit einem Anstieg von 116,22 Prozent exemplarisch die Zunahme in diesem phänomenübergreifenden Bereich dar. In diesem Deliktsbereich ist eine Serie von 11 Taten in den sozialen Medien hervorzuheben, in denen eine Partei der Bundesregierung mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht und der Holocaust relativiert wurde. Im Weiteren wurden zwei nennenswerte Straftaten im Zusammenhang mit jüdischen Gedenkstätten und Erinnerungsorten festgestellt werden. Im Kreis Ostholstein wurde das Delikt Störung der Totenruhe (SS 168 StGB) zur Anzeige gebracht. Auf einem jüdischen Friedhof wurden Gegenstände religiöser Bedeutung beschädigt. Einem Fall der Sachbeschädigung (SS 303 StGB) lag das Übersprühen einer Gedenktafel für die Opfer des Holocaust mit schwarzer Farbe zugrunde. Seite 80 II Politisch motivierte Kriminalität Seite 81 Seite 82 III Rechtsextremistische Bestrebungen Seite 83 Seite 84 III Rechtsextremistische Bestrebungen 1 Organisationen und Gruppierungen des rechtsextremistischen Spektrums 1.1 Die Heimat11/Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Logo der HEIMAT und Logo der NPD Gründung: 1964 Mitglieder in Schleswig-Holstein: 80 (2022: 90) Die NPD, die sich auf ihrem Bundesparteitag am 3. Juni im sächsischen Riesa in "Die Heimat" (HEIMAT) umbenannt hat, ist trotz der seit Jahren rückläufigen Mitgliederzahl immer noch die bedeutendste und mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland. Sie wurde 1964 gegründet und hat ihren Sitz in Berlin. Seit November 2014 ist der Saarländer Frank Franz Bundesvorsitzender der Partei. Die HEIMAT/NPD vertritt nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) "ein auf die Beseitigung der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtetes politisches Konzept" und "will die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten "Volksgemeinschaft" 11 Siehe Internetseite des Bundeswahlleiters, abgerufen am 15.11.2023. Seite 85 III Rechtsextremistische Bestrebungen ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen. Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde und ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar."12 Mit geschichtsrevisionistischen Äußerungen unterstreicht die HEIMAT/NPD darüber hinaus ihre grundsätzlich bejahende Haltung gegenüber dem Regime der NS-Zeit. Einmal monatlich gibt die HEIMAT/NPD die Zeitschrift "Deutsche Stimme" (DS) heraus, die in einem Zeitschriftenformat erscheint und auch für HEIMAT/NPD-Mitglieder kostenpflichtig ist. Zudem betreibt sie den Youtube-Kanal "DS-TV", der überwiegend Inhalte der jeweils neu erschienenen DS vorstellt. 1.2 HEIMAT/NPD-Bundesverband Nachdem die NPD auf ihrem Parteitag im vergangenen Jahr noch mit einer Umbenennung der Partei gescheitert war, stimmten am 3. Juni auf einem weiteren Parteitag im sächsischen Riesa 77 Prozent der Delegierten einer Satzungsänderung zur Umbenennung der Partei in "Die Heimat"13 zu. Hintergrund der Satzungsänderung war nach Angaben der HEIMAT/NPD neben der Namensänderung auch eine strategische Neuausrichtung der Partei. Als Fazit des Parteitags ließ der Parteivorsitzende Frank Franz und maßgebliche Verfechter eines neuen Parteinamens verlautbaren: "Die Heimat soll eine Sammlungsbewegung für alle schaffen, die ihre Heimat behalten wollen, die nicht nur meckern, sondern aktiv werden wollen. Die Proteste der letzten Jahre, ob gegen die Asyl12 Siehe Internetseite des Bundesverfassungsgerichts, Pressemitteilung Nr. 4/2017 vom 17.01.2017. 13 Siehe Internetseite HEIMAT/NPD, abgerufen am 08.06.2023. Seite 86 III Rechtsextremistische Bestrebungen welle, gegen die Corona-Maßnahmen oder gegen die politisch hausgemachte Energiekrise, haben gezeigt, dass der Widerstand wächst. Dieser Widerstand muss vernetzt werden. An diesem Netzwerk für die Heimat wollen wir mitwirken."14 Zwar gelang es dem Parteivorstand der HEIMAT/NPD, den überwiegenden Teil seiner Mitglieder vom neuen Kurs einschließlich Umbenennung der Partei zu überzeugen, allerdings hielten die seit Aufkommen der Diskussion über einen neuen Parteinamen entfachten innerparteilichen Querelen und Streitigkeiten an. Insbesondere der hamburgische NPD-Landesvorsitzende ignorierte die erfolgte Umbenennung der Partei und behauptete, dass der Parteivorsitzende "(...) erstinstanzlich aus der NPD ausgeschlossen" worden sei, "(...) unter anderem, weil er sich fälschlicherweise weiterhin als Vorsitzender der NPD ausgab, nachdem er aus Furcht vor einer Abwahl ordnungsgemäße Neuwahlen verhinderte."15 Da die Fronten zwischen Befürwortern und Gegnern derart verhärtet waren, war eine friedliche Lösung des Konflikts nahezu ausgeschlossen, insbesondere nachdem es am 26. November zu einem zweiten "Bundesparteitag" der "neu gegründeten NPD"16 durch die Gegner gekommen sei, wie es beim NPD-Landesverband Hamburg hieß. Über die Frage, ob der Parteitag und die Verwendung des Parteinamens NPD überhaupt rechtens waren, dürfte es noch gerichtliche Auseinandersetzungen geben. Am 23. Januar 2024 verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil im so genannten Parteienfinanzierungverfahren.17 Da14 Siehe Internetseite HEIMAT/NPD, abgerufen am 08.06.2023. 15 Siehe Internetseite NPD-Hamburg, abgerufen am 11.10.2023. 16 Siehe Internetseite NPD-Hamburg, abgerufen am 08.12.2023. 17 Siehe Internetseite des Bundesverfassungsgerichts, Pressemitteilung Nr. 9/2024 vom 23.01.2024. Seite 87 III Rechtsextremistische Bestrebungen nach wird die HEIMAT/NPD für die nächsten sechs Jahre von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen. Die drei Verfassungsorgane Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung hatten 2019 einen entsprechenden Antrag in Karlsruhe gestellt. Bei der mündlichen Verhandlung am 4./5. Juli vor dem Bundesverfassungsgericht waren keine Vertreter der HEIMAT/NPD erschienen. Die HEIMAT/NPD begründete dies auf ihrer Internetseite: "Der Parteivorstand hat sich dazu entschlossen, an der mündlichen Verhandlung nicht teilzunehmen, weil nach der Einschätzung unseres Bevollmächtigten (...) ein faires Verfahren nicht zu erwarten ist, das Urteil bereits feststeht und durch unsere Teilnahme an der Verhandlung inhaltlich nicht mehr beeinflusst werden kann. (...)" Es "(...) besteht keine Veranlassung, eine solche Justizsimulation durch unsere Anwesenheit aufzuwerten. Für Schauprozesse stehen wir nicht zur Verfügung."18 Der Ausschluss von der staatlichen Parteienfinanzierung und weniger Beiträge aufgrund rückläufiger Mitgliederzahlen werden den Handlungsspielraum der Partei weiter einschränken und die Frage der Überlebensfähigkeit als Organisation noch brennender machen. 1.3 HEIMAT/NPD-Landesverband Schleswig-Holstein 1.3.1 Entwicklungen und Aktivitäten Der Höhepunkt der Aktivitäten des schleswig-holsteinischen Landesverbandes der HEIMAT/NPD war im Berichtsjahr die Teilnahme an der Kommunalwahl, bei der die Partei jedoch nur in der kreisfreien Stadt Neumünster als "Wählergemeinschaft Heimat 18 Siehe Internetseite HEIMAT/NPD, abgerufen am 12.10.2023. Seite 88 III Rechtsextremistische Bestrebungen Neumünster" (WHN) antrat. Der Name klang - im Vergleich zu dem allgemein negativ konnotierten Namen NPD - bürgerlich, historisch nicht vorbelastet und signalisierte lokale Verbundenheit. Gleichzeitig wollte die WHN den Wählerinnen und Wählern suggerieren, dass es sich bei ihr um eine Gruppe von parteiungebundenen Bürgern aus Neumünster handelte. Tatsächlich bestand die WHN überwiegend aus HEIMAT/NPD-Mitgliedern und -Sympathisanten, sodass bei der WHN vielmehr von einer Tarnorganisation der HEIMAT/NPD gesprochen werden konnte. Dennoch ging die Strategie der WHN letztlich auf: Sie erhielt 5,6 Prozent der abgegebenen Stimmen (absolut: 1 404 Stimmen)19, 1,7 Prozentpunkte mehr als bei der Kommunalwahl 2018 (3,9 Prozent, absolut 879 Stimmen).20 Der Stimmenzuwachs führte dazu, dass die WHN jetzt mit drei Mitgliedern (2018: zwei Mitglieder) und damit in Fraktionsstärke in der Neumünsteraner Ratsversammlung vertreten ist. Die Namensänderung war jedoch nicht der alleinige und ausschlaggebende Grund für das vergleichsweise gute Ergebnis der WHN. Weitere vier Ursachen sind zusätzlich zu nennen: 1. Die WHN trat - im Gegensatz zu potentiellen Konkurrenten um ideologisch ähnlich gelagerte Klientel - in allen 22 Wahlkreisen an. 2. Sie konzentrierte ihre gesamten noch vorhandenen Kräfte - ganz im Sinne ihrer Strategie der Schwerpunktsetzung - auf Neumünster. 3. Sie führte in der Stadt einen aktiven und im Stadtbild sichtbaren Wahlkampf mit Plakaten, Flugblattverteilaktionen, 19 Siehe Internetseite Statistikamt Nord, abgerufen am 12.10.2023. 20 Siehe Internetseite Statistikamt Nord, abgerufen am 30.11.2023. Seite 89 III Rechtsextremistische Bestrebungen Postwurfsendungen und Info-Tischen im Stadtzentrum; sie zeigte sich für Wählerinnen und Wähler als präsente Partei vor Ort. 4. Sie profitierte einmal mehr von der im Vergleich zur Kommunalwahl 2018 (35 Prozent)21 zwar gestiegenen, aber dennoch insgesamt geringen Wahlbeteiligung von nur 40,0 Prozent.22 Zwar stellte das Wahlergebnis in Neumünster einen punktuellen Erfolg für die HEIMAT/NPD dar, dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei über Neumünster hinaus im Berichtsjahr keinerlei Außenwirkung in Schleswig-Holstein erzielte. Selbst in Neumünster war sie nach dem Kommunalwahlkampf bis auf wenige Ausnahmen öffentlich kaum noch wahrnehmbar. Zu den wenigen öffentlichkeitswirksamen Aktionen der HEIMAT/ NPD im Berichtsjahr zählte eine Anfang Februar von führenden Funktionären durchgeführte Protestaktion im Zuge eines Trauergottesdienstes zum Gedenken an die Opfer der Messerattacke von Brokstedt.23 Eine weitere öffentlichkeitswirksame Veranstaltung stellte die von einer führenden HEIMAT/NPD-Protagonistin angemeldete und am 21. Oktober durchgeführte Demonstration zum Thema "AKTION HEIMATSCHUTZ! STOPPT DIE GEWALT! KRIMINELLE AUSLÄNDER RAUS!"24 mit rund 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Neu21 Siehe Internetseite Statistikamt Nord, abgerufen am 07.12.2023. 22 Siehe Internetseite Statistikamt Nord, abgerufen am 07.12.2023. 23 Am 25.01.2023 wurden bei einem Messerangriff eines Mannes auf Passagiere einer Regionalbahn zwischen Kiel und Hamburg zwei Menschen getötet und fünf weitere verletzt. Siehe Internetseite vom NDR, abgerufen am 09.01.2024. 24 Siehe Facebookseite Heimat Neumünster, abgerufen am 19.10.2023. Seite 90 III Rechtsextremistische Bestrebungen münster dar. Der HEIMAT-Landesvorsitzende und seine Stellvertreterin hielten Reden und trugen währenddessen weiße Westen mit der Aufschrift "Heimatschützer". Auslöser für die Demonstration war eine Gewalttat in der Holsten-Galerie in Neumünster.25 Die HEIMAT/NPD nutzte auch eine von rechtspopulistischen Strömungen initiierte Demonstration am 4. November in Neumünster, die sich gegen die vermeintlich ausufernde "Migrantenkriminalität" und Asylbewerberinnen und -bewerbern ohne Bleibeperspektive in der Hindenburg-Kaserne richtete. An der Veranstaltung nahmen rund ein Dutzend Mitglieder und Sympathisanten der HEIMAT/ NPD mit einem eigenen Transparent teil.26 Auch wenn diese Demonstration nicht von der HEIMAT/NPD selbst angemeldet worden war, nutzte sie den Anlass, einzelne Demonstrationsteilnehmer mit "Heimatschützer"-Westen auszustatten, um Präsenz zu zeigen und öffentlich wahrnehmbar in einem Teilnehmerfeld von etwa 300 Personen mitzulaufen. Dabei wurde auch ein Transparent mit der Aufschrift "Gemeinsam für Deutschland Volkswillen umsetzen!" wiederverwendet, das bereits im Vorjahr bei einer Demonstration der NPD am 22. Oktober 2022 in Neumünster genutzt worden war. Am 19. November reihte sich die HEIMAT/NPD Neumünster in das jährlich von Rechtsextremisten begangene "Heldengedenken" (siehe auch Kapitel 2) mit einer Aktion in Neumünster ein. 25 Am 07.10.2023 wurde ein Wachmann in der Holsten-Galerie in Neumünster von jungen Männern zusammengeschlagen und -getreten, nachdem der Wachmann einen der jungen Männer zuvor aus dem Einkaufszentrum verwiesen hatte, weil dieser dort unerlaubterweise mit einem Roller unterwegs war. Siehe Internetseite der Kieler Nachrichten, abgerufen am 09.01.2024. 26 Siehe Berichterstattung NDR i.V.m. pixelarchiv.org, abgerufen am 05.12.2023. Seite 91 III Rechtsextremistische Bestrebungen Die HEIMAT/NPD knüpfte mit ihrer Aktion geschichtsrevisionistisch an die NS-Zeit an, in der der Volkstrauertag durch den "Heldengedenktag" ersetzt und inhaltlich im nationalsozialistischen Sinne verändert wurde. Der in der Bundesrepublik Deutschland entstandene Sinn des Volkstrauertags, aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken, wurde hier bewusst ignoriert. Die HEIMAT/NPD setzte im Berichtsjahr ihre seit Jahren betriebene Anti-Asyl-Agitation fort, indem sie diesmal Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine instrumentalisierte: "Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine erhalten vorübergehenden Schutz. Dieser Aussage könnten wir noch zustimmen. Entscheidend ist hier das Wort VORÜBERGEHEND. Nach dem Krieg wird jede helfende Hand benötigt, um die Ukraine wieder aufzubauen. Eine Studie ergab jetzt, daß fast jeder zweite Flüchtling langfristig in Deutschland bleiben möchte. Also wieder einmal Einwanderung durch die Hintertür?! Wir brauchen ja Fachkräfte, aber nur 18Prozent der Ukrainer arbeiten, der Rest ruht sich in der sozialen Hängematte aus. Das passt nicht zusammen und muss unterbunden werden!"27 Das Bild von der "sozialen Hängematte" gehört für die HEIMAT/ NPD seit Jahren zum festen Bestandteil einer fremdenfeindlichen Kampagne, mit der Flüchtlinge pauschal als faul und schmarotzend diskriminiert werden. Dies stellt eine gezielte Verletzung der Menschwürde dar. Propagandistisch und inhaltlich auf der gleichen Linie liegt ein Eintrag auf der Facebookseite der HEIMAT/NPD, der sich mit der geplanten Erweiterung der Landesunterkunft für Flüchtlinge in Neumünster beschäftigt: 27 Facebookseite HEIMAT/NPD-SH, abgerufen am 13.07.2023. Seite 92 III Rechtsextremistische Bestrebungen "Fast täglich spürt Neumünster die Auswirkungen der Überfremdung durch Straftaten von Migranten. Erst vor ein paar Tagen kam es zu einem brutalen Angriff im Einkaufszentrum "Holsten-Galerie" Es reicht! Keine weiteren Migranten nach Neumünster! Kriminelle Ausländer konsequent abschieben!"28 Mit der Verwendung des Begriffs "Überfremdung" versuchte die HEIMAT/NPD, Ängste und Vorurteile gegenüber Zugewanderten zu schüren. Migrantinnen und Migranten werden dabei nicht mehr als individuelle Persönlichkeiten geschildert, sondern verallgemeinernd als bedrohliches Kollektiv dargestellt, das nur ein Ziel hat: Sicherheit, Lebensqualität und eine vermeintliche Identität der einheimischen Bevölkerung zu gefährden und zu zerstören. 1.3.2 Ausblick Der Erfolg der HEIMAT/NPD bei der Kommunalwahl in Neumünster blieb ein singulärer Vorgang. Er entfaltete keine Wirkung ins Land hinein. Von einer landesweit aktiven und vernetzten Partei kann daher auch in Zukunft keine Rede sein. Mit gerade einmal 80 Mitgliedern in ganz Schleswig-Holstein hat die HEIMAT/NPD im Berichtsjahr einen historischen Tiefpunkt erreicht. Es gibt keine Anhaltspunkte für eine nennenswerte Trendumkehr in den nächsten Jahren. Der Erosionsprozess der Partei in Schleswig-Holstein dürfte sich eher weiter fortsetzen. Gleichwohl kündigte die HEIMAT/NPD an, bei der Europawahl im Juni 2024 auch in Schleswig-Holstein antreten zu wollen. Voraussetzung dafür sind jedoch laut Wahlrecht eine bestimmte Anzahl an Unterstützungsunterschriften.29 28 Facebookseite HEIMAT/NPD-SH, abgerufen am 12.10.2023. 29 Facebookseite HEIMAT/NPD-SH, abgerufen am 29.08.2023. Seite 93 III Rechtsextremistische Bestrebungen 1.4 Junge Nationalisten (JN) Schleswig-Holstein Logo der Jungen Nationalisten Die NPD unterhält die 1969 gegründete Jugendorganisation "Junge Nationalisten" (JN) Bei den JN Schleswig-Holstein handelt es sich um eine kleine Gruppe von rund 10 JN-Angehörigen. 1.4.1 Entwicklungen und Aktivitäten Die Umbenennung der Mutterpartei NPD in Heimat (siehe auch unter Kapitel 1.1 HEIMAT/NPD-Bundesverband) auf ihrem Bundesparteitag Anfang Juni nahm die JN zum Anlass, die Änderung des Parteinamens wohlwollend auf ihrer Internetseite zu kommentieren, aber auch, um ihre Erleichterung besonders zu betonen, insbesondere nachdem sie im vergangenen Jahr angekündigt hatte, dass ihr Verbleib in der Mutterpartei von der Umbenennung der Partei abhängig sei. In Schleswig-Holstein fanden auch in diesem Berichtsjahr nur vereinzelte öffentlichkeitswirksame Aktivitäten der JN statt. Die Messerattacke Ende Januar in Brokstedt instrumentalisierte die JN für eine im neonazistischen Stil aufgeladene Aktion: Auf ihrer Internetseite veröffentlichte sie einen Beitrag mit dem Titel "Messermord in Brokstedt"30 und illustrierte ihn mit einem Foto, auf dem JN-Anhänger maskiert mit einem Transparent "Wir gedenken der Opfer von Migration und Multikulti", vor zwei Holzkreuzen Position bezogen: 30 Internetseite Aktion-Widerstand, abgerufen am 30.01.2023. Seite 94 III Rechtsextremistische Bestrebungen "Erneut haben die Einwanderungsfanatiker den Tod von zwei jungen Menschen zu verantworten. (...) Das Parteienkartell hat unser Land mit tickenden Zeitbomben geflutet. Der nächste Mord ist nur eine Frage der Zeit. Sicherheit und geordnete Verhältnisse sind mit den BRD-Marionetten nicht zu erreichen." In diesem Beitrag finden sich gleich mehrere szenetypische Ideologieund Agitationsmuster: Verunglimpfung demokratisch gewählter Politiker, Aversion des Mehrparteienstaats, Anti-Pluralismus und eine pauschale Diskriminierung von Migranten als potenzielle Mörder. Am 18. März,31 dem internationalen Tag der politischen Gefangenen, führten JN-Aktivisten eine Klebebild-Aktion unter dem Motto "Freiheit für alle politischen Gefangenen"32 in Lübeck durch und posierten ebenfalls maskiert vor ihren aufgeklebten Bildern. Diese beiden Aktivitäten der JN zeigen die eigentliche Intention solcher Aktionen: Es wird zwar vordergründig versucht, öffentlichkeitswirksame Aufmerksamkeit zu erzielen, aber im Wissen der begrenzten Adressaten der im Internet veröffentlichen Aktionen geht es vielmehr darum, innerhalb der Szene einen erhöhten Aktionismus der JN zu suggerieren. 31 Die KPD führte den Tag in den 1920er Jahren ein. Heute ist es ein Tag der Solidarität des gewaltorientierten Linksextremismus, vgl. Internetseite der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus, abgerufen am 06.11.2023. 32 Internetseite Aktion-Widerstand, abgerufen am 20.03.2023. Seite 95 III Rechtsextremistische Bestrebungen 1.4.2 Ausblick Die Zukunftsaussichten der JN in Schleswig-Holstein sind wie die der Mutterpartei HEIMAT/NPD nach wie vor schlecht. Ihre Mitgliederzahl stagniert auf einem sehr niedrigen Niveau, sodass auch in Zukunft kaum öffentlich wahrnehmbare politische Aktivitäten zu erwarten sind. Ihr Einfluss in der Mutterpartei dürfte weiterhin gering bleiben. 1.5 Weitere rechtsextremistische parteigebundene Strukturen Zu dieser Kategorie zählen verfassungsfeindliche unorganisierte Gruppierungen innerhalb von Parteien wie der ehemalige "Flügel", eine völkisch-nationalistische Bestrebung innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD), als auch die bundesweit agierenden rechtsextremistischen Parteien wie "Der III. Weg" und die "Die RECHTE", die jedoch keine eigenen Landesverbände in Schleswig-Holstein unterhalten. Politische Aktivitäten von öffentlich relevanter Bedeutung entfalteten diese parteigebundenen Strukturen im Berichtsjahr in Schleswig-Holstein nicht. 2 Neonazistische Szene Die neonazistische Szene gehört zu den parteiunabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen innerhalb rechtsextremistischer Personenzusammenschlüsse. Bei diesen Gruppierungen ist eine zweckund zielgerichtete organisierte Zusammenarbeit erkennbar. Neonazis agieren eher aktionistisch und sind ideologisch am historischen Nationalsozialismus ausgerichtet. Die wesentlichen Ideologieelemente sind übersteigerter Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Antipluralismus. Es Seite 96 III Rechtsextremistische Bestrebungen wird ein am Führerprinzip ausgerichteter Staat angestrebt, dessen Grundlage eine im rassistischen Sinne verstandene Volksgemeinschaft bildet, die Menschen anderer Herkunft oder Kultur ausgrenzt und abwertet. Ethnische Vielfalt und eine pluralistische Gesellschaft werden als Bedrohung für die Existenz des eigenen Volks angesehen. Solche Auffassungen stehen in unüberbrückbarem Gegensatz zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 2.1 Entwicklungen und Aktivitäten Im Berichtsjahr setzte sich der Trend der Vorjahre fort, demzufolge die neonazistische Szene in Schleswig-Holstein nicht in der Lage war, mit ihrer Ideologie einen nennenswerten Einfluss auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu aktuellen politischen Themen zu nehmen. Im neonazistischen Teil des rechtsextremistischen Spektrums entstanden keine neuen Gruppierungen. Das Personenpotenzial ging leicht zurück. Eine Mobilisierung der Szene für öffentlich wahrnehmbare Aktionen gelang häufig nur zu den immer gleichen, jährlich wiederkehrenden Anlässen des rechtsextremistischen Veranstaltungskalenders. Dazu gehörte die Teilnahme einzelner Rechtsextremisten aus Schleswig-Holstein an einem Gedenkmarsch am 11. Februar in Dresden (Sachsen), der an die Bombardierung der Stadt durch Alliierte Streitkräfte während des Zweiten Weltkriegs erinnern sollte. Im Sinne einer Schuldumkehr wird dabei geschichtsrevisionistisch die Verantwortung des Dritten Reiches für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bewusst ausgeblendet. Ein weiteres Beispiel für sich wiederholende Aktionen der Szene ist das sogenannte "Heldengedenken", das im Berichtsjahr am 19. November stattfand. Beim "Heldengedenken" deuten Rechtsextremisten den Volkstrauertag geschichtsrevisionistisch um und gedenken Seite 97 III Rechtsextremistische Bestrebungen statt aller Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft ausschließlich der "heldenhaft" gefallenen deutschen Soldaten, insbesondere des Zweiten Weltkrieges. Das sogenannte "Heldengedenken" war für die rechtsextremistische Szene im Berichtsjahr erneut ein planbares und gemeinschaftsstiftendes Erlebnis (siehe auch Kapitel HEIMAT/NPD und IB). Ansonsten beschränkten sich die öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten von Neonazis im Berichtsjahr überwiegend auf die Teilnahme an verschiedenen rechtsextremistisch ausgerichteten Demonstrationen. Neonazis versuchten darüber hinaus, auch Demonstrationen beziehungsweise Proteste aus dem bürgerlich-konservativen Milieu für ihre Zwecke zu instrumentalisieren (siehe dazu Kapitel HEIMAT/ NPD). Zu den neonazistischen Gruppierungen "Aryan Circle", "Nationalsozialisten Bad Segeberg" und "Bollstein Kiel" gab es im Berichtsjahr erneut keine öffentlich wahrnehmbaren Aktionen. 2.2 Ausblick Allein die etablierten Strukturen und Kennverhältnisse innerhalb der neonazistischen Szene dürften deren Fortbestehen in Schleswig-Holstein sichern. Mit einer Wende zu nennenswerter öffentlicher Aktivität und Agitation der bestehenden neonazistischen Gruppierungen ist jedoch kurzfristig eher nicht zu rechnen. Dies gilt in besonderer Weise auch für programmatische, ideologische Impulse. Die neonazistische Szene in Schleswig-Holstein bleibt auch in Zukunft weit davon entfernt, am inhaltlichen Diskurs innerhalb des Rechtsextremismus intellektuell teilzunehmen, geschweige denn ihn innovativ zu gestalten. Die Wahrscheinlichkeit für eine öffentlich wahrnehmbare Neugründung neonazistischer Gruppierungen erscheint vor dem Hintergrund des auch im Berichtsjahr Seite 98 III Rechtsextremistische Bestrebungen andauernden staatlichen Repressionsdrucks auf den organisierten Teil des Rechtsextremismus, beispielsweise durch Vereinsverbote wie zuletzt gegen die "Hammerskins" und die "Artgemeinschaft" (siehe auch Kapitel Subkultur) oder die polizeiliche Auflösung des rechtsextremistischen Konzerts am 4. März in Neumünster (siehe Kapitel Subkultur) eher gering. Gleichwohl dürften realweltliche Kontakte auch weiterhin bei Treffen und Feiern geknüpft und gepflegt werden, die insbesondere für den freizeitorientierten Teil der neonazistischen Szene auch in Zeiten zunehmender digitaler Kommunikationsmöglichkeiten von großer Bedeutung sind. 2.3 "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." (AG-GGG) Logo der AG-GGG (verboten) Gründung: 1951 Sitz: Berlin Mitglieder: Bundesweit etwa 150, in Schleswig-Holstein im unteren zweistelligen Bereich. Vereinsverbot der AG-GGG durch Bundesinnenministerium am 27. September 2023. Die AG-GGG war eine neonazistische Gruppierung, die eine völkische, rassistische, antisemitische sowie antichristliche Ideologie vertrat. Ihre Mitglieder sollten die "überwiegend nordische-fälische Seite 99 III Rechtsextremistische Bestrebungen Menschenart verkörpern".33 Sie stammten aus der neonazistisch geprägten Szene unter Einschluss rechtsextremistischer Parteien, militanter Kameradschaften sowie verbotener neonazistischer Organisationen. Nach ihren eigenen Angaben wollte die AG-GGG als Glaubensbund der Bewahrung, Erneuerung und Weiterentwicklung der Kultur der nordeuropäischen Menschenart dienen und an die Wertvorstellungen der heidnischen Vorfahren anknüpfen. Die ideologischen Grundlagen waren das sogenannte Artbekenntnis, das "Sittengesetz unserer Art" und eine neu-heidnische Religiosität mit völkisch-rassistischem und antisemitischem Weltbild, klarem Freund-Feind-Schema und eindeutigen Ausgrenzungsabsichten. Was unter "Artbekenntnis" und dem "Sittengesetz unserer Art" zu verstehen ist, veröffentlichte die AG-GGG in ihrer regelmäßig erschienenen, vereinseigenen Publikation "Nordische Zeitung". Das "Sittengesetz" fordere "Mut [...] und Wehrhaftigkeit bis zur Todesverachtung gegen jeden Feind von Sippe, Land, Volk, germanischer Art und germanischem Glauben, [...] Opfer für ein großes Ziel [...], Gefolgschaft dem besseren Führer [...] und "gleichgeartete Gattenwahl"". Das "Artbekenntnis" verkündete als "höchstes Lebensziel" die Erhaltung und Förderung "unserer Menschenart" und als höchsten Sinn unseres Daseins "die reine Weitergabe unseres Erbes". Die AG-GGG betrieb eine vereinseigene Webseite, einen eigenen Buchdienst und Präsenzen in sozialen Medien. Ein wesentliches Ziel dieser Öffentlichkeitsarbeit war dem Versuch gewidmet, auch Personen außerhalb des Vereins für seine Ideen und für eine Mitgliedschaft zu gewinnen. 33 Nordische Zeitung der AG-GGG, Heft 2/78. Jahrgang. Seite 100 III Rechtsextremistische Bestrebungen Mit immer wiederkehrenden Veranstaltungen, den sogenannten Gemeinschaftstagen, zu denen unter anderem ein Frühlingsfest, ein sogenanntes Julfest und die Sonnenwendfeiern im Sommer und Winter gehörten, einem eigenen Glaubensbekenntnis und eigenem Brauchtum bot die Artgemeinschaft eine soziale Plattform, durch die insbesondere Familien mit ihren Kindern an die Szene gebunden und rassistische Überzeugungen weitergegeben werden sollten. Der Einsatz für die eigene "Art" und "Rasse" wurde idealisiert und die Jugend beispielsweise durch den "Germanischen Sechskampf" zur körperlichen Ertüchtigung angehalten. Die AG-GGG verbreitete unter dem Deckmantel eines pseudoreligiösen germanischen Götterglaubens ihr gegen die Menschenwürde gerichtetes Weltbild. Zentrales Ziel war die Erhaltung und Förderung der eigenen "Art", welche mit dem nationalsozialistischen Terminus der "Rasse" gleichzusetzen ist. Neben der Ideologie der Rassenlehre wiesen Symbolik, Narrative und Aktivitäten des Vereins zudem weitere Parallelen zum Nationalsozialismus auf. So gab der Verein seinen Mitgliedern Anweisungen zu einer richtigen "Gattenwahl" innerhalb der nordund mitteleuropäischen "Menschenart", um das der rassistischen Ideologie des Vereins entsprechend "richtige" Erbgut weiterzugeben. Menschen anderer Herkunft wurden dagegen herabgewürdigt. Die AG-GGG bildete die ideologische Grundlage weiterer, inzwischen vom Bundesinnenministerium verbotener rechtsextremistischer Organisationen wie der "Sturm-/Wolfsbrigade 44" und der "Heimattreuen Deutschen Jugend e.V.". Deren ehemalige Mitglieder waren danach zum Teil in der AG-GGG aktiv. Ihren Mitgliedern, oftmals Anhänger verbotener Organisationen, war die AG-GGG immer auch ein Zufluchtsort für neonazistische Ideologie und für ein soziales Gemeinschaftsleben im Kreise Gleichgesinnter. Seite 101 III Rechtsextremistische Bestrebungen Die AG-GGG verfügte über eine Teilorganisation ("Familienwerk e.V.") sowie selbständige regionale sogenannte Gefährtschaften und Freundeskreise, die sich zu einer Gilde zusammenschließen konnten. 2.3.1 Entwicklung Am 27. September wurde die rechtsextremistische, rassistische und antisemitische Vereinigung AG-GGG einschließlich aller Teilorganisationen durch das Bundesinnenministerium verboten. Das Vereinsverbot untersagt jede Fortführung der Vereinsaktivität durch die bisherigen Mitglieder und jede Aktivität Dritter zugunsten des verbotenen Vereins. Im Rahmen des Vereinsverbots erfolgten Durchsuchungen in zwölf Bundesländern, unter anderem in Schleswig-Holstein. Insgesamt wurden Devotionalien, Gold, Armbrüste und andere Waffen und Munition beschlagnahmt. Auch waffenrechtliche Erlaubnisse wurden im Zuge der Vollstreckung aberkannt. In Schleswig-Holstein gab es im Berichtsjahr keine Erkenntnisse über feste Strukturen der AG-GGG. Allerdings wohnen hier Personen, die in der Vergangenheit an Veranstaltungen der AG-GGG teilgenommen haben. Das Personenpotenzial der Artgemeinschaft liegt in Schleswig-Holstein im unteren zweistelligen Bereich. 2.3.2 Ausblick Es ist nicht auszuschließen, dass sich die einstigen Mitglieder und Unterstützer der Artgemeinschaft nach dem Verbot weiter, vornehmlich konspirativ und eher in kleineren Kreisen treffen und ihre völkische, rassistische, antisemitische sowie antichristliche Weltanschauung in Anlehnung an das "Artbekenntnis" und das Seite 102 III Rechtsextremistische Bestrebungen "Sittengesetz unserer Art" praktizieren. Ebenso denkbar sind Zusammenkünfte zum Zwecke der Pflege gemeinsamer heidnischer Bräuche. Ein größerer Wechsel von Mitgliedern und Anhängern der AG-GGG in rechtsextremistische Parteien dürfte unwahrscheinlich sein, da "Artgemeinschaftler" als Glaubensbund eher nicht an klassischer Parteiarbeit interessiert sind. 3 Subkulturell geprägte Szene Die subkulturell geprägte Szene gehört in die Kategorie des weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Personenpotenzials. Darüber hinaus gehören in diese Kategorie organisationsungebundene Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten, rechtsextremistische Internetaktivistinnen und Internetaktivisten sowie sonstige Einzelpersonen und Gewalttäterinnen und Gewalttäter. Subkulturell geprägte Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten gehören in der Regel keiner festen Organisationsstruktur an. Eine Ausnahme bilden beispielsweise die Hammerskins. Angehörige der subkulturellen Szene haben meist kein in sich geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild. An die Stelle einer gefestigten ideologischen Grundhaltung treten einzelne Versatzstücke rechtsextremistischer Weltanschauung wie beispielsweise rassistische, fremdenfeindliche und antisemitische Positionen, die in der Regel mit einer hohen Gewaltbereitschaft einhergehen. Subkulturell geprägte Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten sind an inhaltlicher politischer Arbeit in Parteien oder anderen rechtsextremistischen Gruppierungen wenig interessiert. Die subkulturelle Szene eint ein erlebnisorientierter Lebensstil, der sich hauptsächlich in der Teilnahme an rechtsextremistischen Demonstrationen, internen Szenefeiern sowie Musikund Kampfsportveranstaltungen ausdrückt. Seite 103 III Rechtsextremistische Bestrebungen 3.1 Entwicklungen und Aktivitäten Angehörige der subkulturell geprägten, weitgehend unstrukturierten Szene entfalteten im Berichtsjahr bis auf ein rechtsextremistisches Konzert am 4. März in Neumünster keine öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Die Veranstaltung wurde durch die Polizei vorzeitig beendet. Politische Aktivitäten beschränkten sich auf die Teilnahme Einzelner an neonazistischen Gedenkveranstaltungen oder Demonstrationen, wie zum Beispiel dem Gedenkmarsch am 11. Februar in Dresden anlässlich des Jahrestages der Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945 (s. Kap. Neonazistische Szene) oder an einer rechtsextremistischen Kundgebung des örtlichen Kreisverbands der HEIMAT/NPD am 21. Oktober in Neumünster (s. Kap. HEIMAT/NPD). Eine Besonderheit subkulturell geprägter Rechtsextremisten in festen Organisationsstrukturen bildeten die bundesweit, in sogenannten Chaptern organisierten Hammerskins, die in Schleswig-Holstein über keine regionale Gruppierung verfügen. Sie trugen ihr verfassungsfeindliches Weltbild regelmäßig öffentlich zur Schau, indem sie rechtsextremistische Konzerte organisierten, rechtsextremistische Tonträger und Merchandise-Artikel vertrieben und an Veranstaltungen anderer Akteure des rechtsextremistischen Spektrums teilnahmen. In der rechtsextremistischen Szene in Europa nehmen die "Hammerskins Deutsch-land" eine herausragende Rolle ein. Weltweit bezeichnen sie sich als "Brüder" und verstehen sich als elitäre "Bruderschaft", die ihre subkulturelle Lebensweise innerhalb einer Gruppe praktizieren möchte, die sich als Elite der rechtsextremistischen Subkultur-Szene versteht. Kernelement des Gedankenguts der Gruppierung ist die Propagierung einer an die NS-Ideologie angelehnten Rassenlehre. Zweck Seite 104 III Rechtsextremistische Bestrebungen der Vereinigung "Hammerskins Deutschland" ist es, ihre rechtsextremistische Weltanschauung auszuleben und zu festigen. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat hat die "Hammerskins Deutschland" einschließlich ihrer regionalen Chapter und ihrer Teilorganisation "Crew 38" auf Grundlage des Vereinsgesetzes mit Verfügung vom 19. September verboten. Von 28 der etwa 130 bekannten Vereinsmitglieder wurden die Wohnungen durchsucht. Keiner der Betroffenen stammt aus Schleswig-Holstein. Das Verbot der Vereinigung stützt sich auf alle drei in SS 3 des Vereinsgesetzes genannten Verbotsgründe. Der Verein richtet sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung sowie gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Zweck und Tätigkeit laufen den Strafgesetzen zuwider. 3.2 Ausblick Es ist zu erwarten, dass sich die ehemaligen Mitglieder von "Hammerskins Deutsch-land" aufgrund ihrer ideologischen Überzeugung, insbesondere ihres elitären Selbstverständnisses, nicht komplett aus der rechtsextremistischen Subkultur-Szene zurückziehen werden. Eine Fortführung der verbotenen Vereinigung ist aktuell nicht anzunehmen. Subkulturell geprägte Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten dürften auch künftig das rechtsextremistische Gesamtspektrum entscheidend mitprägen. Sie bilden weiterhin den harten Kern des gewaltorientierten Spektrums, dessen Potenzial von 350 Personen auf dem Niveau des Vorjahres geblieben ist und sich - wie in den Jahren zuvor - größtenteils aus Anhängerinnen und Anhängern der subkulturell geprägten Szene zusammensetzte. Innerhalb der Politisch motivierten Kriminalitätrechts (PMK-rechts) wurden KörperverSeite 105 III Rechtsextremistische Bestrebungen letzungsdelikte, Sachbeschädigungen, Volksverhetzung, aber auch Propagandadelikte häufig von subkulturell geprägten Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten verübt. Der Eventcharakter der Szene erzeugt eine nicht zu unterschätzende Wirkung insbesondere auf heranwachsende Menschen und dient somit als "Köder" für die Rekrutierung neuer Anhängerinnen und Anhänger. Dass diese Szene selbstverständlich auch in der virtuellen Welt unterwegs ist, macht sie für eine internetaffine Jugend zusätzlich attraktiv. 3.3 Rechtsextremistische Musikszene Für die subkulturell geprägte und weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Szene sind Musikveranstaltungen das verbindende Element. Dort werden Kontakte gepflegt und teils internationale Vernetzungen etabliert. Rechtsextremistische Musik transportiert das Lebensgefühl der Szene, verbreitet ihre Ideologien und bietet einen schnellen Einstieg in die Szene. Die Verfassungsschutzbehörden unterscheiden in der rechtsextremistischen Musikszene drei Veranstaltungsformen: Konzerte, Liederabende und sonstige Musikveranstaltungen. Letztere sind Veranstaltungen mit Live-Musik, bei denen der Versammlungscharakter gegenüber der Musikdarbietung überwiegt, wie beispielsweise im Rahmen von Parteiversammlungen. Seite 106 III Rechtsextremistische Bestrebungen 3.3.1 Entwicklungen und Aktivitäten Bundesweit wurden wieder mehr rechtsextremistische Musikveranstaltungen mit durchschnittlich höheren Besucherzahlen festgestellt als in den beiden Vorjahren. In Schleswig-Holstein gab es, im Gegensatz zum Bundestrend, weniger Darbietungen. Im Berichtsjahr fanden drei Veranstaltungen statt, davon ein Konzert, ein Liederabend sowie eine sonstige Musikveranstaltung. Im Vergleich zum Vorjahr sank die Anzahl der Musikdarbietungen von sieben (2022: kein Konzert, zwei Liederabende, fünf sonstige Musikveranstaltungen) auf drei. Die Teilnehmerzahlen variierten zwischen 20 und etwa 350 Personen. Alle drei Veranstaltungen wurden konspirativ geplant, wobei das Konzert am 4. März eine große mediale Außenwirkung erzielte. Maßgeblich initiiert wurde es von einem Bundesvorstandsmitglied der HEIMAT/NPD. Geplant waren Auftritte der rechtsextremistischen Bands "Radikahl" (Thüringen), "Endstufe" (Bremen) und "Hard & Smart" (Baden-Württemberg). Die Veranstaltung sollte unter dem Motto "Der Norden rockt" in einer Kleingartenanlage in Neumünster stattfinden. Die Polizei erklärte den Veranstaltungsbereich gemäß Landesverwaltungsgesetz zum "gefährlichen Ort" und begann, kurz nachdem die erste Band aufspielte, mit der Auflösung des Konzerts. In der Folge verließen etliche Teilnehmende den Veranstaltungsort. Die über 220 Verbliebenen der etwa 350 bundesweit angereisten Konzertbesuchenden widersetzten sich teilweise gewalttätig den polizeilichen Maßnahmen. Neben Identitätsfeststellungen wurden Anzeigen wegen schweren Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung, Widerstandes und Verstoßes gegen SS 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) gefertigt. Seite 107 III Rechtsextremistische Bestrebungen In Schleswig-Holstein gab es im Berichtsjahr eine aktive rechtsextremistische Musikgruppe sowie eine mehrfach bundesweit aufgetretene Liedermacherin mit dem Alias "Wut aus Liebe" aus Neumünster. 3.3.2 Ausblick Ein wesentlicher Faktor für die geringe Anzahl an Musikveranstaltungen in Schleswig-Holstein waren unter anderem die seit Jahren festzustellende Mobilisierungsschwäche der hiesigen Szene sowie der offenkundige Mangel an geeigneten Veranstaltungsobjekten. Insbesondere das polizeiliche Eingreifen am 4. März wird potentielle Veranstalter, auch aufgrund finanzieller Risiken, zumindest in naher Zukunft davon abhalten, Musikveranstaltungen in dieser Größenordnung in Schleswig-Holstein zu realisieren. 3.4 Kampfsport In fast allen rechtsextremistischen Strukturen, insbesondere in der Subkultur, ist Kampfsport ein zunehmend wichtiger Faktor. Zumeist junge Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten werden durch Kampfsporttraining an die Szene herangeführt und können sich unter Gleichgesinnten weiter vernetzen. Indem die Kämpferinnen und Kämpfer in Abwehrund Angriffstechniken geschult werden, sind sie auch für gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei und dem politischen Gegner gerüstet. Seite 108 III Rechtsextremistische Bestrebungen 3.4.1 Entwicklungen und Aktivitäten Die rechtextremistische Kampfsportszene ist, ähnlich wie die rechtsextremistische Musikszene, eine Facette der rechtsextremistischen Subkultur. Zwischen 2013 und 2018 konnten sich im Bundesgebiet Kampfsportformate wie der "Kampf der Nibelungen" in der Szene etablieren. Nach Verboten und beschränkenden behördlichen Maßnahmen zwischen 2019 und 2022 fand am 6. Mai in Ungarn erstmals wieder eine Art Ersatzveranstaltung, die "European Fight Night", statt. An dem von etwa 150 Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten besuchten Turnier beteiligten sich etwa 30 Kämpfer aus etlichen europäischen Ländern in verschiedenen Kampfsportarten. 3.4.2 Ausblick Es ist zu erwarten, dass die Zahl kampfsporttrainierender Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten weiter steigen wird. Die Ausübung von Kampfsport gewinnt besonders bei jungen Rechtsextremisten mehr und mehr an Popularität. Es ist zu beobachten, dass verstärkt kommerzielle Trainingsstätten, sogenannte Gyms, von Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten aufgesucht werden, um unterschiedliche Kampfsporttechniken zu erlernen. In Schleswig-Holstein liegt die Zahl kampfsporterprobter Rechtsextremisten im unteren zweistelligen Bereich. Seite 109 III Rechtsextremistische Bestrebungen 4 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) 4.1 Identitäre Bewegung Logo der Identitären Bewegung Schleswig-Holstein Die Identitäre Bewegung (IB) verfolgt eine subtile, auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs abzielende Strategie der Beeinflussung. Das wesentliche Leitmotiv der Identitären Bewegung ist die sogenannte Metapolitik, die sich auf die Thesen des neurechten Vordenkers Alain de Benoist stützt. Ziel dieser Kommunikationsstrategie ist es, durch das Besetzen und Prägen von Begriffen die "Grenze des Sagbaren" zu erweitern und so die Akzeptanz für extremistische Positionen in der Gesellschaft zu erhöhen. Ihre Wirkmacht ist jedoch in hohem Maße abhängig von der virtuellen Reichweite und medialen Resonanz ihrer Aktionen. In ideologischer Hinsicht bekennt sich die IBD zum Prinzip des Ethnopluralismus. Diese Theorie gehört zu der so genannten Neuen Rechten und entspricht den antiliberalen und anti-egalitären Überzeugungen der Konservativen Revolution der 1920er Jahre. Dies bedeutet, dass die Idealvorstellung einer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung in einem ethnisch und kulturell homogenen Staat besteht. Hierbei wird die Kultur fest an Ethnien gekoppelt und insbesondere Muslimen die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft verwehrt. Diese Ideologie verstößt gegen die grundgeSeite 110 III Rechtsextremistische Bestrebungen setzlich verankerte Menschenwürde sowie das Demokratieprinzip und ist somit mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Eng damit verbunden ist das Konzept der "Reconquista", womit die Zurückdrängung ethnisch fremder Personen aus dem europäischen Raum gemeint ist. Im Berichtsjahr hat sich die strategische und personelle Neuausrichtung der IBD weiter fortgesetzt. Das hergebrachte, seit Bestehen der Identitären Bewegung charakteristische gelb-schwarze Lambda als "Markenzeichen" wurde im Mai ausgetauscht und durch ein nunmehr lediglich angedeutetes Lambda in weiß-blauer Optik ersetzt. Logo Lambda Außerdem hat die IB einen stärkeren Schwerpunkt auf öffentlichkeitswirksamen Aktionismus gelegt. Schon die Internetseite der IBD lässt dies mit dem Slogan "identitär - Analyse - Kampagne - Aktion" deutlich erkennen. Seite 111 III Rechtsextremistische Bestrebungen 4.2 Identitäre Bewegung Schleswig-Holstein (IBSH) 4.2.1 Entwicklung und Aktivitäten Die Identitäre Bewegung Schleswig-Holstein (IBSH) hatte sich bereits im Vorjahr die eher unauffällig wirkende Bezeichnung "Nordfeuer" zugelegt. Logo Nordfeuer Mittlerweile agiert die IBSH nahezu durchgängig unter diesem Namen. Mit entsprechenden Profilseiten in sozialen Medien wird versucht, reichweitenstarke Multiplikatoren zu schaffen, die ihre Aktionen und ihre Ideologie digital streuen. Über die lediglich indirekten Bezüge zur IB sollen auch unbedarfte Userinnen und User an die Ideologie der Gruppierung herangeführt werden. Tatsächlich ist es im Berichtsjahr gelungen, eine gewisse Wirkung zu erzielen und weitere Sympathisantinnen und Sympathisanten beziehungsweise Mitglieder in Schleswig-Holstein zu gewinnen. Inzwischen ist häufig festzustellen, dass die IB die klassische Funktion eines "Türöffners" für Rechtsextremismus wahrnimmt, in etwa vergleichbar mit rechtsextremistischer Skinhead-Musik in den 1990-er Jahren. Durch die verschleierten Bezüge zu rechtsextremistischer Ideologie, verbunden mit der professionellen und abgestimmten Nutzung sozialer Medien, bestehen kaum Schwierigkeiten, Interessenten an die Gruppe heranzuführen beziehungsSeite 112 III Rechtsextremistische Bestrebungen weise punktuell für gemeinsame Aktionen zu gewinnen. In Schleswig-Holstein zeigten sich diese Mechanismen bei zahlreichen gemeinsamen Aktivitäten von IBSH und Jugendorganisationen aus dem rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Parteienspektrum. Dieser Trend war insbesondere in der zweiten Jahreshälfte zu beobachten. Inhaltlich fokussierte sich die IB im Berichtsjahr auf eines ihrer zentralen Themenfelder, die Forderung nach einer sogenannten Remigration. Die IB reagiert mit ihren verstärkten Aktionen gegen Flüchtlinge auch auf die erneut gestiegene Bedeutung der Themen Flucht und Migration in der öffentlichen Debatte. Mit ihren Aktionen beabsichtigte sie, möglichst breite mediale Aufmerksamkeit zu erlangen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und den öffentlichen Diskurs in ihrem Sinne zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang agitierte die IB insbesondere gegen die in Aufnahmeeinrichtungen untergebrachten Flüchtlinge, indem sie diese pauschal als kriminell und gewalttätig verunglimpfte. Zugleich sollte suggeriert werden, dass der demokratische Rechtsstaat keine geeigneten Antworten auf die aktuelle Flüchtlingskrise besäße. Insbesondere die Partei Bündnis 90/Die Grünen wurde dabei in den Fokus genommen. Charakteristisch hierfür steht eine Propagandaaktion am 26. März vor einem Parteibüro in Heide (Dithmarschen), die die IBSH ganz im Sinne ihrer Öffentlichkeitsstrategie im Nachhinein in den sozialen Netzwerken verbreitete. Verschiedene Aktionen in Schleswig-Holstein fügten sich ein in eine Reihe vergleichbarer IB-Aktionen bundesweit, in Österreich und der Schweiz, die sich gegen Migration und die Unterbringung geflüchteter Menschen richteten. So verteilten IBSH-Aktivisten am 15. Februar Flugblätter, die sich auf die kurz zuvor verübten Tötungsdelikte eines Asylbewerbers in Brokstedt (Steinburg) bezogen. Mehrfach beteiligten sich Aktivisten der IBSH an KundgebunSeite 113 III Rechtsextremistische Bestrebungen gen gegen die Unterbringung von Asylbewerbern in Upahl (Mecklenburg-Vorpommern). Am 26. September entrollten Angehörige der IBSH ein Banner vor dem Holstentor in Lübeck, das sich mit "Migrantengewalt" befasste. Zeitgleich wurden Flugblätter verteilt, in denen unter anderem gefordert wurde, "Kriminelle Immigranten konsequent" abzuschieben und "den linksgrünen Bonzen ihre 'Goldstücke' in ihr Weißbrotparadies" zu schaffen. Diese öffentliche Aktion unterstreicht in großer Deutlichkeit erneut die fortgesetzte Menschenund Demokratieverachtung der IB. Die jüngsten Aktionen zeigten, dass die IBSH vor allem im südlichen Schleswig-Holstein öffentlich aktiv ist. Flächendeckende Strukturen in ganz Schleswig-Holstein bestanden im Berichtsjahr weiterhin nicht. Dauerhafte Kontakte unterhielten die schleswig-holsteinischen Aktivisten indes nach Dänemark. Im Berichtsjahr führten Identitäre aus beiden Ländern gemeinsame Veranstaltungen durch. So fand im Frühjahr nach Eigenangaben der IBSH eine gemeinsame "Osterwanderung" in Dänemark statt, im Dezember trafen sich dänische und schleswig-holsteinische IB-Angehörige in der Nähe von Schleswig. Regelmäßige Weiterleitungen von Artikeln der dänischen "Generation Identitaer Danmark" auf dem Telegram-Kanal der IBSH belegen diese Verbindung ebenfalls. Seite 114 III Rechtsextremistische Bestrebungen 4.2.2 Ausblick Die Identitäre Bewegung wird ein Stein im rechtsextremistischen Mosaik bleiben. Sie hat im Berichtsjahr gezeigt, dass sie personell und organisatorisch in der Lage ist, regelmäßig Aktionen auf die Beine zu stellen und strategisch auf öffentliche Wahrnehmbarkeit und einen Zuwachs an Mitgliedern beziehungsweise Sympathisanten ausgerichtet ist. Mit der IB dürfte daher weiterhin zu rechnen sein, auch wenn im Spektrum der "Neuen Rechten" inzwischen andere rechtsextremistische Akteure weite Teile des Geschehens bestimmen. 5 Rechtsextremistische Verlage Rechtsextremistische Verlage liefern der Szene über gedruckte und elektronische Medien ideologische Grundlagen. Sie haben die Wirkungsweise der Metapolitik, einer langfristig angelegten Strategie der Einflussnahme im vorpolitischen Raum und auf die öffentliche Meinungsbildung erkannt und nutzen sie professionell in breiter Form. Die Verfasserinnen und Verfasser stellen in ihren Beiträgen nicht nur die demokratischen und gesamtgesellschaftspolitischen Normen und Werte in Frage, sie definieren sie vielmehr im Sinne rechtsextremistischer Ideologie um, das heißt, sie entkernen ihren originären Inhalt, indem die äußere Hülle als scheinbar demokratische, rechtsstaatliche Fassade erhalten bleibt, jedoch mit rechtsextremistischen Begriffen und Narrativen befüllt wird. Ihre Aktivitäten tragen dazu bei, den politischen Diskurs nach rechts zu verschieben. Ihr Ziel ist die Etablierung einer rechtsextremistischen Gegenkultur in der Gesellschaft. Die Autorinnen und Seite 115 III Rechtsextremistische Bestrebungen Autoren betrachten sich als sogenannte Mittler für Aufklärung und Enthüllung. Ihre Zielgruppe sind neben Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten insbesondere Gruppierungen aus dem Bereich des Rechtspopulismus. Rechtsextremistische Publikationen vereinnahmen Themen des politischen Zeitgeschehens ideologisch. Gleichzeitig bezeichnen sie die Medien, die dem Prinzip der Demokratie und des Rechtsstaats verpflichtet sind, oft als "Lügenpresse". Diese würden bewusst Tatsachen verschweigen oder falsch darstellen. Jährlich erscheinen zudem zahlreiche Bücher mit geschichtsrevisionistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Inhalten. Bücher und regelmäßig erscheinende andere Publikationen der rechtsextremistischen Verlage haben stets ein zentrales Ziel: Bei der Leserschaft Zweifel und Vorbehalte gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu schüren und lebendig zu halten, damit der Nährboden für eine Beeinträchtigung und letztlich Beseitigung der Bundesrepublik Deutschland als freiheitlicher, demokratischer und sozialer Rechtsstaat fruchtbar bleibt. 5.1 Entwicklung und Aktivitäten Rechtsextremistische Verlage vertrieben auch in diesem Berichtsjahr wieder Schriften mit geschichtsrevisionistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Inhalten. Damit beabsichtigten sie, die Lebenswelt und ideologische Ausrichtung ihrer Leserschaft zu festigen und gleichzeitig neue Leserinnen und Leser aus einem eher konservativ-rechten Milieu zu gewinnen. Im Angebot waren unter anderem Publikationen zur Pflege völkischer Bräuche, wie die als Standardwerk zum Weihnachtsfest beworbene Schrift "Brauchtum im Artglauben", der verbotenen rechtsextremistischen, rassistischen und antisemitischen Vereinigung "Die ArtgemeinSeite 116 III Rechtsextremistische Bestrebungen schaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V.". Mit dem Ziel, eine möglichst große Reichweite zu erlangen und ein kontinuierlich wachsendes, überwiegend junges internetaffines Publikum anzusprechen, nutzten rechtsextremistische Verlage eine Vielzahl digitaler Kanäle zur Verbreitung ihrer Inhalte. Dabei wurde inhaltlich in zahlreichen Beiträgen zur Asylpolitik in Europa und in diesem Zusammenhang über den sogenannten Großen Austausch sowie über Maßnahmen zur sogenannten Remigration34 berichtet. "Der Begriff Großer Austausch bezeichnet ein Narrativ der Neuen Rechten, das auf den französischen Autor Renaud Camus zurückgeht und insbesondere die strukturelle Substitution der "autochthonen" Bevölkerung Europas durch Zuwanderer aus Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten beinhaltet. Innerhalb der Neuen Rechten wird dies sowohl als bewusst gesteuerter Prozess, oftmals einhergehend mit verschwörungstheoretischen Aufladungen, aber auch als Ergebnis demographischer Entwicklungen dargestellt. Durch die "ethnische Zersetzung" der europäischen Gesellschaften würden kulturelle und ethnische Grenzen erodieren. Mit der langfristigen Abschaffung jeglicher Unterschiede ethnischer und kultureller Art entstehe laut Camus eine entwurzelte Masse an Individuen, die globalen Profitund Kapitalinteressen meist nicht näher definierter Eliten zum Vorteil gereichen solle. Oftmals werden die Begriffe "Große Transformation", "Umsiedlung", "Bevölkerungsaustausch" und "Ersetzungsmigration" als Synonyme verwendet. Insbesondere die synonym verwendete Formulierung "Umvolkung" stellt eine direkte 34 Unter dem Begriff Remigration setzen sich Rechtsextremisten der Neuen Rechten dafür ein, Maßnahmen zur Umkehrung von Flüchtlingsströmen und zur Rückführung von Migranten zu ergreifen. Seite 117 III Rechtsextremistische Bestrebungen Referenz auf den gleichlautenden nationalsozialistischen Terminus dar."35 Die Berichterstattung und insbesondere die Kommentare in den einschlägigen rechtsextremistischen Medien zu den migrationspolitischen Themen waren von einer Abwertung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung geprägt. Sie zielten darauf ab, eine rechtsextremistische Kultur zu schaffen, die die intellektuelle Basis für einen politischen Systemwandel hin zu einem letztlich undemokratischen, autoritären Regime ermöglicht. 5.2 Ausblick Die rechtsextremistischen Verlage mit Sitz in Schleswig-Holstein werden weiterhin ihre bundesweite Wirkkraft behalten. Sie dürften ihre Anstrengungen zur geistigen Unterwanderung des demokratischen und rechtsstaatlichen Konsenses in der Gesellschaft verstärken. Bevorzugte Zielgruppe bleibt die bürgerliche Mitte, und hier besonders die jüngere Generation. Im Mittelpunkt der rechtsextremistischen Agitation, die teils direkt offen, aber zunehmend auch unterschwellig und verschleiert betrieben wird, steht weiterhin der Versuch, eine völkische Gesellschaftsordnung und einen autoritären Führerstaat in Deutschland zu etablieren. 35 Quelle: https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/rechtsextremismus/begriff-und-erscheinungsformen/begriff-und-erscheinungsformen_node.html; aufgerufen am 29.01.2024. Seite 118 III Rechtsextremistische Bestrebungen 6 Rechtsextremistisches Personenpotenzial in Schleswig-Holstein Das rechtsextremistische Personenpotenzial wird in drei Kategorien erfasst. Unterscheidungsmerkmal ist dabei der Organisationsgrad. Die erste Kategorie bildet das Potenzial in den Parteien ab, einschließlich des sonstigen rechtsextremistischen Personenpotenzials in Parteien, wie beispielsweise rechtsextremistische Bestrebungen innerhalb einer Partei. In der zweiten Kategorie wird das rechtsextremistische Personenpotenzial in partei-unabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen erhoben. Dazu zählen unter anderem rechtsextremistische Gruppierungen, bei denen eine zweckund zielgerichtete organisierte Zusammenarbeit erkennbar ist, wie beispielsweise bei neonazistischen Zusammenschlüssen, Gruppierungen der Neuen Rechten oder auch bei rechtsextremistischen Vereinen. Zum weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Personenpotenzial als dritter Kategorie gehören subkulturell geprägte Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten, organisationsungebundene Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten ebenso wie rechtsextremistische Internetaktivistinnen und Internetaktivisten und sonstige Einzelpersonen. Im Berichtsjahr sank das rechtsextremistische Personenpotenzial in Schleswig-Holstein leicht um rund 1,6 Prozent auf insgesamt 1 200 Personen (2022: 1 220). Die Zahl der gewaltorientierten Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten blieb konstant bei 350 (2022: 350). Seite 119 III Rechtsextremistische Bestrebungen Der Rückgang des Personenpotenzials war in der Kategorie der Parteien sowie bei den parteiunabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen zu verzeichnen. Rechtsextremistisches Personenpotential Jahr 2021 2022 2023 in Parteien darunter 235 230 220 NPD/JN - HEIMAT 100 90 80 Der III. Weg - 5 5 DIE RECHTE 5 5 5 sonstiges rechtsextremistisches 130 130 130 Personenpotenzial in Parteien in parteiunabhängigen bzw. par370 380 370 teiungebundenen Strukturen weitgehend unstrukturiertes 595 610 610 rechtsextremistisches Personenpotenzial Gesamt Land 1200 1220 1200 davon als gewaltorientiert einge350 350 350 schätzte Rechtsextremisten Seite 120 III Rechtsextremistische Bestrebungen Seite 121 Seite 122 IV Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Seite 123 Seite 124 IV Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Die Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Bereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates können nicht eindeutig dem Rechtsextremismus oder der Reichsbürgerbewegung zugeordnet werden. Sie sind ein eigenständiger Phänomenbereich. Die Demokratiefeindlichkeit der Delegitimiererinnen und Delegitimierer resultiert aus der Überzeugung, der Staat handele autoritär-autokratisch gegenüber dem Volk. Zur Zeit der staatlichen Beschränkungsmaßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie nannte die Szene als Beleg unter anderem eine vermeintliche Impfpflicht. Mittlerweile werden immer wieder neue, zum Teil tagesaktuelle politische Themen angeführt, um zu unterstreichen, dass die vorgebliche staatliche Unterdrückung nicht auf die Corona-Pandemie beschränkt, sondern ein allgegenwärtiges Problem sei. Daher sehen die Akteurinnen und Akteure sich in der Pflicht, die nach ihrer Auffassung außer Kraft getretene verfassungsmäßige Ordnung und die demokratischen Werte wiederherzustellen. Dabei greifen sie - paradoxerweise und zugleich entlarvend - zu Methoden, die auf die Delegitimierung von Demokratie und Rechtsstaat gerichtet sind. Ihr Widerstand richtet sich in der Regel gegen demokratische Institutionen und ihre Entscheidungsträger. Die Delegitimiererszene ist eine verfassungsfeindliche, aggressiv-kämpferische Bestrebung, die auf die Beeinträchtigung und Beseitigung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland gerichtet ist. Hierzu propagiert sie nahezu durchgängig Versatzstücke unterschiedlicher Verschwörungstheorien. Oftmals weisen diese antisemitische Narrative und Ressentiments auf, aber auch rechtsextremistische Ideologie. Ebenso findet eine in Seite 125 IV Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates diffamierender Absicht vorgenommene Gleichsetzung des parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaats mit der NS-Diktatur statt. Außerdem werden Reichsbürgerund Selbstverwalter-Stereotype zur Delegitimierung demokratischer Prozesse und ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten propagiert. 1 Entwicklung und Aktivitäten Typisch für die Szene war nach wie vor ihre ausgeprägte Agitation im Internet. Der Schwerpunkt lag auf der Kommunikation über soziale Netzwerke, insbesondere über den Online-Messengerdienst Telegram. Auf diversen Kanälen und in teils nicht öffentlich einsehbaren Gruppen fand ein reger Austausch von Fotos, Videos und Artikeln mit verfassungsfeindlichen Inhalten sowie Hetze gegen staatliche Einrichtungen und ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten statt. Darüber hinaus wurden über den Messengerdienst Protestveranstaltungen organisiert und beworben. Der Telegramkanal "Freie Schleswig-Holsteiner" war weiterhin Taktgeber und verbindendes Element der Delegitimiererszene, obwohl er von einst bis zu 11 000 Abonnenten im Jahr 2022 zum Ende des Berichtsjahres nur noch rund 5 990 Nutzerinnen und Nutzer verzeichnete. Über diesen Kanal wurden regelmäßig Nachrichten und Verschwörungstheorien veröffentlicht, die erkennbar geeignet waren, Wut, Verdruss und Misstrauen gegen Demokratie und Rechtsstaat zu schüren und neue Sympathisanten und Mitläufer für weitere verfassungsfeindliche Agitation im Netz und "auf der Straße" zu gewinnen. Wie bereits im Vorjahr wurden beispielsweise die hohen Energiekosten sowie die steigende Inflation als Zeichen der Unfähigkeit der Regierung propagiert. Die regierungsamtliche Klimaschutzpolitik und eine vermeintlich damit einhergehende Verarmung der Seite 126 IV Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Bevölkerung stellten aus Sicht der Delegitimiererinnen und Delegitimierer ein staatliches Mittel der Unterdrückung dar. Nahezu alle von der Delegitimiererszene propagierten Themen, vor allem aber der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wurden vorrangig genutzt, um gleichmäßig in allen sozialen Schichten der Bevölkerung existenzielle Ängste und Widerstand hervorzurufen. Auf diesem emotionalen Fundament sollte ein Wir-gegen-die-Gefühl erzeugt werden. Mit "die" war die Regierung gemeint, die in der Gedankenwelt der Delegitimiererszene aber immer auch die grundlegenden Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wie das Demokratieund Rechtsstaatsprinzip repräsentiert. Daher mag die Agitation der Szene bisweilen vordergründig wie legitime Kritik an Regierungen und ihren Entscheidungen erscheinen, substantiell ist sie jedoch zutiefst verfassungsfeindlich. Im Berichtsjahr gab es weiterhin landesweit Demonstrationen und so genannte Spaziergänge der Delegitimiererszene. Die Zahl der Veranstaltungen und die Zahl der Menschen, die daran teilnahmen, gingen jedoch zurück. Im Berichtsjahr nahmen an entsprechenden Szene-Veranstaltungen durchschnittlich nicht mehr als 50 Menschen teil, in den Vorjahren gab es hingegen noch Demonstrationen mit oft über 1 000 Personen. Die Veranstaltungen wurden nicht nur von Angehörigen der Delegitimiererszene, sondern oft auch von Personen besucht, die dem bürgerlichen Spektrum zuzuordnen waren. Am 30. September fand eine Demonstration mit 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Kiel statt. Bereits im Vorfeld wurde dafür intensiv über den Telegramkanal "Freie Schleswig-Holsteiner" geworben. Dabei war bemerkenswert, dass ausdrücklich der Wunsch nach einer engen Zusammenarbeit mit einer bestimmten parlaSeite 127 IV Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates mentarisch vertretenen Partei aus dem rechtspopulistischen Spektrum formuliert wurde. Der dahinterstehende Versuch der Delegitimiererinnen und Delegitimierer der "Freien Schleswig-Holsteiner" als außerparlamentarische und verfassungsfeindliche Bewegung erstmals offen den Schulterschluss mit "...der parlamentarischen Opposition (AfD)..."36 zu vollziehen, war erfolgreich: Als Redner traten bundesweit bekannte Politiker dieser in Teilen rechtsextremistischen Partei auf. Auch Angehörige der Reichsbürgerbewegung erkannten in Veranstaltungen der Delegitimiererinnen und Delegitimierer sowie in der Kommunikation über soziale Medien eine geeignete Möglichkeit, um für eigene Vortragsveranstaltungen zu werben. Als Anknüpfungspunkt nutzten sie vorhandene ideologische Überschneidungen zur Delegitimiererszene. Reichsbürgerinnen und Reichsbürger gaben an, einen Weg aus dem System der vermeintlich staatlichen Unterdrückung hin zu einem befreiten Deutschland aufzeigen zu können. Im Laufe des Berichtsjahrs entwickelte sich eine Mischszene aus Delegitimiererinnen und Delegitimierern sowie Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern. Gemeinsames Ziel war stets das Bestreben nach einem Umsturz des politischen Systems. 2 Ausblick Die Entwicklung im Berichtsjahr zeigte, dass die extremistische Delegitimierung des Staates auch über die Corona-Pandemie hinaus Bestand hat. Indem diese Bestrebung rasch aktuelle politische Themen aufgreift, in delegitimierender Absicht umdeutet, instrumen36 Telegramkanal Freie Schleswig-Holsteiner vom 21.09.2023, zuletzt abgerufen am 24.01.2024. Seite 128 IV Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates talisiert und neue Bündnisse versucht zu schmieden, wird sie das verfassungsschutzrelevante Geschehen weiter mit beeinflussen. Je massiver und existenzieller Sorgen, unbestimmte Zukunftsängste und allgemeine Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung Platz greifen, desto leichter dürften es Delegitimiererinnen und Delegitimierer haben, mit ihrer Propaganda ein solides Fundament zu errichten, um darauf ihre verfassungsfeindliche Agitation gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in breitere Kreise der Bevölkerung zu tragen. 3 Personenpotenzial im Bereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates Jahr 2022 2023 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierer 130 80 des Staates davon: gewaltorientiertes Personenpotenzial 10 Seite 129 Seite 130 V Reichsbürger und Selbstverwalter Seite 131 Seite 132 V Reichsbürger und Selbstverwalter 1 Reichsbürger Reichsbürgerinnen und Reichsbürger beziehen sich auf den Fortbestand des historischen Deutschen Reiches, wobei das Datum, auf das sie sich fokussieren, variiert. Häufig werden 1919, 1937 oder auch eine andere Jahreszahl genannt. Diese Reichsbürgerinnen und Reichsbürger sehen sich als "Bürger und Staatsangehörige des Deutschen Reiches", "Preußens" oder des "Königreich Preußen". Alles schließt nach ihrem Selbstverständnis eine Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland aus. Sie negieren die Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und gehen davon aus, dass das Grundgesetz und die bestehende Rechtsordnung keinen Bestand haben. Reichsbürgergruppierungen haben eigene Reichsregierungen, Reichsministerien, Reichsministerinnen und Reichsminister und Reichsbehörden gebildet. Einige geben Dokumente wie Reichspässe und Reichsführerscheine heraus, die die Mitglieder kaufen können. Gegen Geld bieten sie Seminare an, in denen sie verschiedene Rechtsfragen aus Sicht der jeweiligen Reichsregierung darstellen. Mit ihren Bezügen auf das historische Deutsche Reich weist die Ideologie der sogenannten (Staats-)Bürger des Deutschen Reichs Überschneidungen zu revisionistischen und teils völkischen Ideologieelementen des Rechtsextremismus auf. Dies spiegelt sich auch in personellen Überschneidungen zwischen der Reichsbürgerbewegung und dem Rechtsextremismus wider. Im Berichtszeitraum kam es auch in Schleswig-Holstein zu mehreren Exekutivmaßnahmen gegen Einzelpersonen und Gruppierungen der Reichsbürgerszene. So wurde im November ein Seite 133 V Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürger im Kreis Segeberg festgenommen und sein Anwesen durchsucht. Die Person stand im Verdacht, an einer bundesweiten Gruppierung beteiligt gewesen zu sein, die sich zur Entführung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach verschworen hatte. Zudem soll die Gruppe geplant haben, durch Sprengstoffanschläge auf die Energieinfrastruktur einen bundesweiten Stromausfall auszulösen und in der Folge eine autoritäre Regierung nach dem Vorbild der Reichsverfassung von 1871 aufzubauen. Nur wenige Tage zuvor kam es in einer anderen Sache bereits zu polizeilichen Durchsuchungen in den Kreisen Dithmarschen und Segeberg. In den Fällen ging es um eine ebenfalls bundesweit agierende Gruppierung von Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern, die vor dem Hintergrund vermeintlich gültigen Besatzungsrechts staatliche Einrichtungen und Behördenvertreter beleidigten und bedrohten. Auf diesen Weise sollte Einfluss auf rechtmäßiges staatliches Handeln genommen und Verwaltungsvorgänge beeinträchtigt werden. Die genannten Exekutivmaßnahmen belegten erneut nicht nur die bundesweite Vernetzung von Angehörigen der Reichsbürgerbewegung, sondern auch deren Gefahr für Einzelne, die öffentliche Sicherheit und die freiheitliche demokratische Grundordnung. In beiden Fällen organisierten sich die Angehörigen der jeweiligen Gruppierungen über Messengerdienste. Die Nutzung Sozialer Medien erleichterte die (inter-)nationale Vernetzung der Reichsbürgerbewegung. Seite 134 V Reichsbürger und Selbstverwalter 1.1 Entwicklung und Aktivitäten Das Berichtsjahr war gekennzeichnet durch einen erneuten Schub von Schreiben mit eindeutig reichsbürgertypischen Inhalten an staatliche Behörden und kommunale Verwaltungen. Unter den Absendern waren bereits hier bekannte so genannte Vielschreiber, aber auch zahlreiche neue Namen. Nahezu immer wurden staatliche Forderungen, häufig finanzieller Art, unter Hinweis auf die angebliche Nicht-Existenz der Bundesrepublik Deutschland und mit abwegigen pseudojuristischen Argumenten als rechtswidrig zurückgewiesen. 1.2 Ausblick Solange die Krisen und Kriege aus dem Berichtsjahr in ihrer Schärfe fortbestehen und überwiegend als persönlich existenzgefährdend betrachtet werden, wird die Reichsbürgerund Selbstverwalterszene auf mittlere Sicht weiterhin gesamtgesellschaftlich günstige Voraussetzungen vorfinden, um neue Mitglieder und Anhänger zu akquirieren. Die hohe und professionelle Präsenz von Gruppierungen aus dem Reichsbürgerund Selbstverwaltermilieu in den sozialen Medien und eine offensive, in die Breite der Bevölkerung abzielende Öffentlichkeitsarbeit mit größtenteils delegitimierender Agitation dürfte ihre Wirkung nicht verfehlen, neue Gleichgesinnte zu finden und zu vernetzen. Teile der Protagonisten und Anhänger der Reichsbürgerund Selbstverwalterbewegung werden auch in Zukunft versuchen, die Ideologie für sich ganz persönlich zu nutzen, um etwa finanzielle Vorteile herauszuschlagen beziehungsweise sich staatlichen Forderungen zu entziehen. Die Bereitschaft, dabei auch Gewalt anzuwenden dürfte eher nicht kleiner werden, insbesondere wenn der staatliche Druck auf die Szene weiter anhält. In Kombination mit Seite 135 V Reichsbürger und Selbstverwalter der großen Affinität der Reichsbürgerinnen und Reichsbürger und Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter zu Waffen bleibt die Szene eine gleichbleibend hohe Gefahr für die öffentliche Sicherheit und die freiheitliche demokratische Grundordnung. 2 Selbstverwaltergruppierungen Bei Selbstverwalterinnen und Selbstverwaltern ist die ideologische Ausrichtung ebenfalls nicht einheitlich. Sie berufen sich unter anderem auf ein selbst definiertes Naturrecht als Grundlage ihres Zusammenlebens oder beziehen ihre Rechtsauffassung aus Gesetzestexten vergangener Jahrhunderte sowie von aus dem Zusammenhang gerissenen Auszügen aus der Bibel. Sie propagieren die Vorstellung einer besseren, harmonischeren und menschlicheren Welt, in der sich jeder frei von Bindungen entfalten kann. Ihre "selbst verwalteten Gebiete" erklären sie für exterritorial, also nicht zu Deutschland gehörend und somit nicht den Landesgesetzen unterworfen. Diese Gebiete können eigene Grundstücke aber auch ganze Gemeinden und Städte sein. Allen gemeinsam ist, dass sie die Bundesrepublik Deutschland und ihre Rechtsordnung ablehnen beziehungsweise deren Existenz bestreiten. Wenn aus diesem irrationalen Ideologiekonstrukt eine Legitimation zur Selbstverteidigung abgeleitet wird, kann daraus eine reale Gefahr für die öffentliche Sicherheit erwachsen. Seite 136 V Reichsbürger und Selbstverwalter 2.1 Königreich Deutschland (KRD) Logo des Königreich Deutschland Das Königreich Deutschland (KRD) ist eine bundesweit aktive Gruppierung, die einen sogenannten autarken Gemeinwohlstaat aufbauen will. Dazu etabliert das KRD eigene Strukturen wie die "Königliche Reichsbank", die "Gemeinwohlkasse", das "Meldeamt", die "Deutsche Heilfürsorge", die "Deutsche Rente" und den Online Marktplatz "Kauf das Richtige (KaDaRi)". Das KRD hat sich eine eigene Verfassung gegeben, in der es sich selbst zum "Staat" mit der Bezeichnung "Königreich Deutschland" erklärt. Das Oberhaupt des Staates trägt den Titel "König von Deutschland". Der König wird auf Lebzeiten gewählt, kann seinen Nachfolger bestimmen, untersteht nicht der Gerichtsbarkeit, und jedes Gesetz bedarf der Zustimmung des Königs. Auch vertritt der sogenannte König den Staat gegenüber auswärtigen Staaten. 2.1.1 Entwicklungen und Aktivitäten Das KRD verfolgte im Berichtsjahr erneut das Ziel, weitere Anhänger zu gewinnen. Das sogenannte LEUCHT-TURM-Team37 des KRD 37 Das "LEUCHT-TURM-Team" ist eine Gruppe von Mitgliedern des KRD, die für die Organisation und Durchführung der Veranstaltungen (z. B. Seminare und Wanderungen) verantwortlich ist. Die Veranstaltungen werden bundesweit angeboten und dienen dem Aufbau des Königreich Deutschland. Seite 137 V Reichsbürger und Selbstverwalter bot dazu im Internet kostenpflichtige Informationsseminare an, die an unterschiedlichen Orten, verteilt über das gesamte Bundegebiet, stattfanden, auch in Schleswig-Holstein. Hinter diesem Angebot standen neben der Mitgliederakquise auch kommerzielle Interessen. Beide Aspekte lassen vermuten, dass die Seminare voraussichtlich in Regionen angeboten wurden, in denen aus Sicht des KRD ausreichend Interessenten zu erwarten waren, verbunden mit der Absicht, dort gezielt Strukturen aufzubauen beziehungsweise zu erweitern. Am 29. November wurden wegen des Verdachts, eine Krankenkasse gegründet und seit mindestens zwei Jahren betrieben zu haben, ohne über die dafür entsprechende Genehmigung zu verfügen, elf Durchsuchungsund Arrestbeschlüsse gegen acht beschuldigte Personen aus Sachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Hessen vollstreckt. Hauptbeschuldigter war der selbsternannte "König von Deutschland". Dieser gab direkt nach den polizeilichen Maßnahmen eine Erklärung per Video über die Internetseite des KRD ab. In der Videobotschaft versuchte er, seine Anhänger darauf einzuschwören, dass das KRD der einzige rechtmäßige Staat in Deutschland sei und man daran festhalte, diesen weiterhin aufzubauen. Die staatlichen Aktionen seien unrechtmäßig gewesen. 2.1.2 Ausblick Schleswig-Holstein dürfte auch künftig im Fokus des KRD stehen. Das KRD wird versuchen, hier Strukturen zu etablieren, zu festigen und auszubauen, da insbesondere ländliche Regionen bevorzugtes Ziel für KRD-Ansiedlungen sind. Es ist daher mit weiteren Aktivitäten des KRD in Schleswig-Holstein zu rechnen. Seite 138 V Reichsbürger und Selbstverwalter 2.2 "Indigenes Volk Germaniten" (IVG) Logo des Indigenen Volks Germaniten (IVG) Die Gruppierung "Indigenes Volk Germaniten" wurde 2007 in Baden-Württemberg gegründet und hat bundesweit Ableger, die sogenannten Missionen, etabliert. Sie nimmt für sich in Anspruch, das Volk der "Germaniten" zu vertreten. Dabei handele es sich um Nachkommen der Bewohner eines bestimmten Gebietes ("Germanitien"), die dort bereits vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland lebten. Als vermeintliche Angehörige eines nativen Volkes beanspruchen die Mitglieder der IVG Sonderrechte, die ihnen auf der Grundlage diverser nationaler und internationaler Abkommen zum Schutz indigener Völker zustünden. Die Mitglieder der IVG fühlen sich nicht an die Gesetzte der Bundesrepublik Deutschland gebunden, da diese für sie als Angehörige des Ur-Volkes keine Gültigkeit hätten. Das Bundesverwaltungsgericht hat den Status der Gruppierung als indigenes Volk im Jahr 2017 abschließend verneint. Seite 139 2.2.1 Entwicklungen und Aktivitäten Im Berichtszeitraum bildete der Versand von typischen Schreiben an eine Vielzahl von Behörden den Schwerpunkt der Aktivitäten der Gruppierung in Schleswig-Holstein. In diesen Schreiben wurden in der Regel ablehnende Verwaltungsoder Gerichtsentscheide beklagt oder die Gewährung vermeintlich bestehender "Indigenen-Rechte" eingefordert. Auch in diesem Jahr fiel erneut eine Protagonistin aus Schleswig-Holstein auf, die Vorträge im gesamten Bundesgebiet hielt. Ihre Vortragsreisen widmete sie der Gewinnung neuer Interessenten und Anhänger. Ebenfalls der Öffentlichkeitsarbeit und der Anwerbung neuer Mitglieder diente eine Hochglanzbroschüre der Germaniten, die im letzten Quartal des Jahres in Schleswig-Holstein verbreitet wurde. Darin wurde auf wenigen Seiten die vermeintliche Existenz Indigener Völker in Deutschland begründet und gleichzeitig eine Nähe zur Bewegung der Reichsbürger und Selbstverwalter bestritten. Anderseits wurde die Behauptung aufgestellt, man könne sich durch ein Bekenntnis zum "Volk" aus den "Zwängen des Staatssystems" befreien. 2.2.2 Ausblick Die Aktivitäten des IVG werden sich auf hohem Niveau fortsetzen. Vereinzelt ist auch mit öffentlichkeitswirksamen Aktion zu rechnen. Weiterhin wird man im Rahmen von Vortragstätigkeiten offensiv um neue Mitglieder werben, um auf diesem Weg gleichzeitig zusätzliche Einnahmen zu generieren. Seite 140 2.3 Wahlkommission der Königlich Preußischen Provinz Schleswig-Holstein (WKSH) Die sogenannten Wahlkommissionen sind ein bundesweit auftretendes Phänomen. In der Annahme, dass das Wilhelminische Kaiserreich von 1871 weiterhin bestehe, jedoch derzeitig aufgrund mangelnder Verwaltungsstrukturen nicht handlungsfähig sei, herrscht nach Ansicht der Anhänger der Wahlkommissionen ein staatlicher Notstand. Dieser Staat, das sogenannte 2. Deutsche Reich, umfasst ein Gebiet in den Grenzen des Deutschen Kaiserreichs von 1871. Durch bundesweit dezentral agierende Wahlkommissionen sollen die Verwaltungsstrukturen wiederhergestellt werden. In Schleswig-Holstein übernimmt diese Aufgabe die Wahlkommission der Königlich Preußischen Provinz Schleswig-Holstein (WKSH). Da Deutschland nach wie vor ein besetztes Land sei, in dem Militärgesetze gelten würden, ist es ihr selbsterklärtes Ziel, an der Rückkehr Deutschlands in die Souveränität mitzuwirken und Schleswig-Holstein als Teil des Staates Preußen innerhalb Deutschlands in die Zukunft zu führen. 2.3.1 Entwicklung und Aktivitäten Die WKSH wurde nach eigenen Angaben am 5. August 2022 gegründet. Ihr Ziel sei es, den Bürgerinnen und Bürgern in der Region zu helfen, ihre - nach Auslegung der WKSH - ererbte Staatsangehörigkeit innerhalb eines Ewigen Bundes deutscher Staaten wiederzugewinnen. Darüber hinaus sollten Gemeinden vor Ort reaktiviert und Gemeindewahlen parteiunabhängig organisiert werden. Die WKSH gab auf ihrer Internetseite an, im Berichtsjahr in Schleswig-Holstein eine Seite 141 V Reichsbürger und Selbstverwalter Gemeinde reaktiviert zu haben (Vergleich bundesweit reaktivierte Gemeinden im Berichtsjahr: 162). Hierbei handelt es sich um die Gemeinde Sarlhusen im Kreis Steinburg. 2.3.2 Ausblick Die WKSH wird ihre Aktivitäten auch zukünftig fortführen und die eigenen Strukturen weiter ausbauen. Sie wird sich mit anderen, bereits bestehenden Wahlkommissionen vernetzen und versuchen, ein flächendeckendes Konstrukt zu errichten. Wenn auch die Chancen auf Realisierung als aussichtslos gelten, so machen die Leugnung der Existenz der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Staatlichkeit und insbesondere ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, verbunden mit einem nach außen, zielund zweckgerichteten Handeln zur Aushöhlung und Abschaffung dieses Staates und seiner Wertordnung die WKSH zu einer verfassungsfeindlichen Bestrebung im Phänomenbereich der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene. 3 Unstrukturiertes Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter Neben den in Gruppierungen organisierten Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern und Selbstverwalterinnen und Selbstverwaltern gab es im Berichtsjahr wieder einen großen Anteil (57 Prozent) von Personen, die nicht in feste Strukturen eingebunden waren. Seite 142 V Reichsbürger und Selbstverwalter 4 Personenpotenzial der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene Jahr 2021 2022 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter 480 640 700 davon: in Personenzusammenschluss 200 230 300 eingebunden unstrukturiertes Reichsbürger und 280 410 400 Selbstverwalter Personenpotenzial darunter: rechtsextremistische 15 13 20 Reichsbürger und Selbstverwalter gewaltorientierte Reichsbürger 17 21 30 und Selbstverwalter Seite 143 Seite 144 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Seite 145 Seite 146 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Der Islamismus als extremistische Ideologie und insbesondere der islamistische Terrorismus stellen nach wie vor eine Gefahr für die innere Sicherheit des Landes dar. Denn sowohl vorwiegend auf politischer und gesellschaftlicher Ebene agierende islamistische Gruppierungen als auch jihadistische, gewaltorientierte und terroristische Organisationen teilen das gemeinsame Ziel der Errichtung eines islamistischen Gottesstaates u. a. auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Dementsprechend versuchen sie hierzulande auf unterschiedliche Art und Weise, den deutschen Rechtsstaat zu untergraben und die freiheitliche demokratische Grundordnung zugunsten eines rein religiösen und islamistischen Rechtsund Wertekanons, der Scharia, abzuschaffen. Die Sicherheitslage in Schleswig-Holstein und Deutschland lässt sich nicht losgelöst von internationalen Krisen betrachten. Die menschenverachtenden Angriffe der HAMAS auf Israel am 7. Oktober und die darauffolgenden Geschehnisse wurden innerhalb der islamistischen Szene in Deutschland emotional aufgegriffen und erwartungsgemäß mit Solidaritätsbekundungen mit der palästinensischen Bevölkerung in Gaza und antiisraelischen und antisemitischen Haltungen begleitet. 1 Salafistische Bestrebungen/Salafismus Anhängerschaft in Schleswig-Holstein: 700 (2022: 750) Anhängerschaft bundesweit: 10 500 (2022: 11 000) Der Salafismus als besonders dynamische islamistische Strömung ist ideologisch rückwärtsgerichtet und arbeitet auf die Islamisierung der Gesellschaft und langfristig auf die Etablierung eines islamischen Gottesstaates hin. Somit ist er mit der freiheitlichen Seite 147 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus demokratischen Grundordnung gänzlich unvereinbar und seine Anhängerschaft steht unter dem Sammelbegriff "Salafistische Bestrebungen" unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Durch die Sicherheitsbehörden wird innerhalb des Salafismus zwischen politischem Salafismus und dem salafistischen Jihadismus unterschieden. Ersterer ist dabei der Versuch, durch Missionierung (da'wa) eine gesellschaftliche Durchdringung der salafistischen Ideologie zu erreichen. Die Propaganda und Handlungen des Jihadismus sind hingegen vorwiegend durch den bewaffneten Kampf (Jihad) gegen vermeintliche Ungläubige geprägt. Die Übergänge vom politischen zum jihadistischen Salafismus sind jedoch oft fließend. Denn auch wenn ersterer in der Regel auf die aktive Anwendung von Gewalt verzichtet, zeigt er durch seine strikte Ausrichtung an Sunna (Prophetentradition) und Koran - der bei unreflektierter Lesart beispielsweise auch die Züchtigung von Ehefrauen erlaubt - sowie der Forderung nach der Scharia mit ihren oft gewaltbehafteten Strafelementen zumindest eine Toleranz gegenüber Gewalt als legitimem Instrument. 1.1 Entwicklungen und Aktivitäten Schwerpunkte salafistischer Aktivitäten in Schleswig-Holstein bildeten im Berichtsjahr erneut einschlägige Moscheevereine vor allem in den kreisfreien Städten Kiel, Lübeck, Neumünster und Flensburg sowie in Rendsburg und dem Umland von Hamburg. Im Hamburger Randbereich orientieren sich die Anhängerinnen und Anhänger salafistischer Bestrebungen vorwiegend in die Hansestadt Hamburg selbst. Im Randgebiet von Hamburg hat sich darüber hinaus eine neue Anlaufstelle in Schleswig-Holstein etabliert. Die sich dort treffenden Personen sind jedoch bereits vorher aus dem Phänomenbereich Salafismus bekannte Akteurinnen und Akteure. Seite 148 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Zu einem Wachstum der Anhängerschaft führte diese neue Anlaufstelle somit nicht. Schnittmengen zum Salafismus bietet darüber hinaus weiterhin ein Objekt, bei dem es sich mutmaßlich um einen Verein der islamistischen Tablighi Jama'at (TJ) im Hamburger Umland handelt, dessen Protagonistinnen und Protagonisten bereits seit einigen Jahren auch Bezüge in die salafistischen Szene aufweisen. In Schleswig-Holstein verzeichnet das Personenpotenzial der Salafistischen Bestrebungen im Berichtsjahr einen Rückgang um fast 7Prozent von 750 auf 700 Personen. Bundesweit ist eine Abnahme der Anhängerzahlen um circa 5 Prozent von 11 000 auf 10 500 Personen festzustellen. Obwohl die salafistische Ideologie nach wie vor eine entsprechende Anziehungskraft besitzt, kann für Schleswig-Holstein hinsichtlich des Personenpotenzial festgestellt werden, dass die meisten von ihnen ideologisch gefestigte Salafistinnen und Salafisten sind, die salafistische Vereine bereits seit Jahren aufsuchen. Der Rückgang des Personenpotenzials in Schleswig-Holstein insgesamt ist zum Teil noch auf die Corona-Pandemie zurückzuführen, die zu einem verstärkten Rückzug ins Private führte. Insgesamt haben die neuen Anlaufstellen nicht zu einem Wachstum der Szene geführt, vielmehr handelt es sich zumeist bei den dortigen Besucherinnen und Besuchern um bereits bekannte Agierende. Seite 149 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Salafistisches Personenpotenzial in Deutschland und Schleswig-Holstein 800 14000 700 12000 600 Schleswig-Holstein 10000 500 Deutschland 8000 400 6000 300 4000 200 100 2000 0 0 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 Schleswig-Holstein 200 200 210 230 300 370 500 600 650 750 750 750 700 Deutschland 3800 4500 5500 7000 8350 9700 10800 11300 12150 12150 11900 11000 10500 Der aktuelle Nahostkonflikt hatte im Berichtsjahr Auswirkungen auf die Aktivitäten im Phänomenbereich Salafismus. Einige Salafistinnen und Salafisten solidarisierten sich mit den Palästinensern in Gaza und befürworteten die Teilnahme an pro-palästinensischen Demonstrationen. In den meisten salafistischen Anlaufstellen wurde der Nahostkonflikt öffentlich aber kaum thematisiert. Insgesamt zeigte sich in der Szene eine große Zurückhaltung, mutmaßlich aus Sorge vor staatlichen Maßnahmen gegen Einzelpersonen oder Vereine. Direkte Aufrufe zu Teilnahmen an Demonstrationen sowie öffentliche Sympathiebekundungen mit der Terrororganisation HAMAS konnten nicht festgestellt werden. Einen starken Einfluss hat der Nahostkonflikt jedoch insbesondere auf die Spendenaktivitäten einiger Vereine für den Gazastreifen. So hat eine von Salafistinnen und Salafisten besuchte Moschee in Kiel diese Tätigkeiten ausgebaut. Seite 150 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Eine große Spendengala für vermeintlich Kinderhilfsprojekte mit salafistischen Akteurinnen und Akteuren wie dem Influencer Sheikh Ibrahim El Azazzi fand Ende Oktober in Hamburg statt und lockte salafistisches und islamistisches Publikum vermutlich auch aus Schleswig-Holstein nach Hamburg. Bei dieser Art von Veranstaltung ist es wahrscheinlich, dass auch Personen aus der salafistischen Szene an den Spendengalas teilnehmen. Die Spendenkampagne mit musikalischer Untermalung und HipHop-Jugendkultur unter Zuhilfenahme salafistischer Prediger entfaltete eine besondere Attraktivität in der Szene, insbesondere bei jungen Islamistinnen und Islamisten. Neben Salafistinnen und Salafisten haben auch Anhängerinnen und Anhänger der islamistischen Bewegung Furkan und der islamistischen Hizb-ut-Tahrir-Bewegung (HuT) an der Veranstaltung teilgenommen. Spendengala mit salafistischen und islamistischen Szenestars wie dem salafistischen Influencer Sheikh El-Azizzi. Seite 151 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 1.2 Missionierungsarbeit (da'wa) Missionierungsarbeit (da'wa) spielt im Salafismus weiterhin eine große Rolle zur Gewinnung neuer Anhängerinnen und Anhänger. Im aktuellen Berichtsjahr war eine Zunahme von Missionierungsaktivitäten bundesweit bekannter Szenegrößen festzustellen. Insbesondere ein Predigernetzwerk um die "Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft Braunschweig" (DMG-B), zu welcher Szenegrößen wie Pierre Vogel und Abul Baraa sowie weitere bundesweit populäre Akteure gehören, hat seine Missionierungsaktivitäten intensiviert und nutzt dafür nicht nur die sozialen Medien, sondern führt auch stärker realweltliche Aktivitäten wie bundesweit stattfindende Islamseminare aus. So zum Beispiel auch das StreetDa'wa Projekt namens "Was danach?", das beabsichtigt, bundesweit tausendfache Flyerverteilungen an Haushalten, in Moscheen oder sonstigen öffentlichen Räumen durchzuführen, um damit zu missionieren und möglichst Nichtmuslime zum Konvertieren zu bewegen. Im Berichtsjahr konnten solche Aktionen in Schleswig-Holstein allerdings noch nicht festgestellt werden. In sozialen Netzwerken wurde weiterhin intensiv durch Pierre Vogel für eine Beteiligung und Spenden für dieses Projekt geworben. Vereinzelt soll es in anderen Bundesländern bereits zu solchen Verteilaktionen gekommen sein. Die Verbreitung der Ideologie erfolgt teilweise professionell und visuell ansprechend aufgearbeitet über das Internet, über soziale Medien wie YouTube, Facebook und Instagram, sowie über Messenger-Dienste, hauptsächlich WhatsApp und Telegram. Zunehmend wird inzwischen auch die Videoplattform TikTok von der salafistischen Szene genutzt, um vor allem Jugendliche anzusprechen. Zum anderen wird versucht, durch Street-Da'wa und somit durch Aktionen und Präsenz an öffentlichen Orten, wie z.B. durch Informationsstände und Büchertische, Interesse bei potenziellen neuen Seite 152 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Mitgliedern zu wecken, einen persönlichen Kontakt aufzubauen und sie dadurch an die Szene zu binden. Diese sogenannte StreetDa'wa ist in Schleswig-Holstein in den vergangenen Jahren jedoch stark rückläufig. Flyer der Instagram-Seite "wd_dawa" (Pierre Vogel Da'wa-Kampagne) Ein weiterer wichtiger Bereich der Da'wa-Aktivitäten sind Reiseprediger, die eingeladen werden, um die salafistische Missionierung zu verstärken, indem sie zum Beispiel Islamseminare abhalten. Es handelt sich dabei ausschließlich um männliche, oft national oder international bekannte islamistische Prediger oder Gelehrte, die bei Salafistinnen und Salafisten eine hohe Reputation genießen und damit eine große Anziehungskraft auf Angehörige der lokalen Szene ausüben. So sollen neue Mitglieder gewonnen und Stammmitglieder stärker für die Vereinsmitgliedschaft motiviert werden. Im Berichtsjahr ist die Zahl der überregionalen Kontakte in Schleswig-Holstein sowie der Gastund Reiseprediger aus anderen Ländern wieder angestiegen. Seite 153 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Gleichzeitig reisten auch Imame aus Schleswig-Holstein als Gastprediger zu anderen Moscheevereinen und hielten dort Freitagspredigten oder Seminare ab. Im Berichtsjahr sind vor allem drei Islamseminare mit Bezug nach Schleswig-Holstein festgestellt worden, die offensiv über soziale Netzwerke beworben wurden und bei denen Prediger festgestellt werden konnten, die der salafistischen Szene zugeordnet werden können. Ahmed A. alias Abul Baraa in Kiel Im Berichtsjahr war auch der überregional bekannte salafistische Prediger Abu Alia in Schleswig-Holstein zu Besuch. Abu Alia ist den Verfassungsschutzbehörden als Aktivist der salafistischen Szene bekannt und gehörte dem salafistischen Missionierungsnetzwerk "Einladung zum Paradies" an, welches im Jahr 2010 aufgelöst wurde. Weiterhin hat Abu Alia eine hohe Reichweite und ein stark ausgebautes Netzwerk an Internetaktivitäten in sozialen Medien. Seite 154 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Salafistischer Prediger mit vielen Szenekontakten namens Abu Alia in Kiel Die Rolle weiblicher Mitglieder in der salafistischen Szene Die bereits im vergangenen Jahr festgestellten Vernetzungsaktivitäten zwischen verschiedenen salafistischen Anlaufstellen sowohl innerhalb Schleswig-Holsteins als auch in anderen norddeutschen Bundesländern und Dänemark bestehen unverändert fort. Im Berichtsjahr fanden darüber hinaus im überwiegenden Teil der salafistisch beeinflussten Moscheevereine in Schleswig-Holstein Frauenund Kinderunterrichte statt. Hierin zeigt sich in einigen einschlägigen Moscheevereinen eine generelle Zunahme der Aktivitäten weiblicher Mitglieder. Verstärkt werden auch Frauengruppen hierbei gegründet, die eigene Treffen oder Unterrichte organisieren, die auf Frauen abgestimmt sind und wo Frauen im Regelfall unter sich bleiben und von den Männern getrennte Aktivitäten durchführen. Seite 155 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Zudem wurden unter jungen Mitgliedern in einigen einschlägigen Moscheevereinen mittlerweile separate Jugendgruppen etabliert, sowohl für weibliche als auch für männliche Jugendliche und junge Erwachsene, die ein auf sie zugeschnittenes Programm anbieten: angefangen von gemeinsamen Veranstaltungen, bis zu Islamseminaren, Freizeitaktivitäten oder Konversionen junger Nichtmuslime, die hierbei inszeniert werden. Diese Jugendgruppen sind sowohl in sozialen Netzwerken als auch mit realen Veranstaltungen aktiv. Salafistische Influencer als Ausdruck jugendlicher Szenekultur Salafistische Influencende in den sozialen Netzwerken nehmen mittlerweile einen großen Stellenwert für junge Menschen ein. Aktuell sind eine Vielzahl solcher Influencer in sozialen Netzwerken aktiv. Neben den meist männlich dominierten salafistischen Szenegrößen, die sich oft als "Islamgelehrte" inszenieren, hat sich hier eine weitere Gruppe etabliert, die selbst zumeist im jugendnahen Alter sind und in jugendgerechter Sprache alltägliche Themen mit dem Thema Islam verbinden, hierbei jedoch ein salafistisches Weltbild verbreiten. Das Auftreten dieses Typs salafistischer Influencer zeigt sich als Einfluss auf Gleichaltrige, bei der Salafisten eher modern auftreten, sich "kumpelhaft" ausdrücken und verhalten und dabei dennoch junge Menschen salafistisch beeinflussen. Auch das Format ist eher auf junge Menschen angepasst. Dabei werden Inhalte meist in Form von Bildern oder sogenannten "Memes" sowie in kurzen Videoclips wiedergegeben. Die Inhalte sind auf gängigen Social-Media-Plattformen leicht zugänglich und stehen somit einem großen Publikum zur Verfügung. Im etwas kleineren Rahmen und mit weniger Publikum lassen sich in Schleswig-Holstein ebenfalls einige junge Akteurinnen und Akteure feststellen, die mit Social-Media-Aktivitäten andere junge Menschen beeinflussen und dabei zuweilen auch salafistisch geprägte Ansichten verbreiten. Einige dieser Akteure weisen Bezüge zur Gamingszene auf, so Seite 156 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus dass auch solche Themen aus der Lebenswelt von Jugendlichen aufgenommen werden. Zudem sind unter den Benutzerinnen und Benutzern dieser Angebote etliche Personen, die bereits eine salafistische Weltanschauung verinnerlicht haben. Im Berichtsjahr konnten erstmals Akteurinnen festgestellt werden, die mutmaßlich Bezüge zum Salafismus aufweisen und die Rolle junger Influencerinnen gegenüber Gleichaltrigen einnehmen. Bei einigen wurde der Nahostkonflikt zum dominanten Thema und es kam in der Folge zu antiisraelischen und zum Teil antisemitischen Veröffentlichungen. Sehr oft wurde dabei Israel mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt und es wurden Holocaustvergleiche gezogen, bei denen Israel im Sinne einer Täter-Opfer-Umkehr als Täter dargestellt wurde. Allzu viele der Influencerinnen und Influencer richten ihr Islambild an der salafistischen Weltanschauung des Frühislam aus, der jedwede Reform ablehnt und ein intolerantes Weltbild gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen verfolgt. Moscheevereine, welche meist durch eine ältere Generation betrieben werden, stehen Personen in den sozialen Netzwerken scheinbar neutral gegenüber. Das Bewusstsein für die sozialen Medien scheint hier noch nicht im selben Maße gewachsen zu sein. Dennoch haben dort auch bereits Veranstaltungen, wie vorherig schon erwähnt, durch bekannte salafistische Influencer bzw. entsprechende Prediger, stattgefunden. Inwiefern hier eine langfristige Strategie der Einflussnahme unter Zuhilfenahme der sozialen Medien angedacht ist, bleibt abzuwarten. Seite 157 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 1.3 Ausblick Die salafistische Szene ist in Schleswig-Holstein weiterhin bemüht, durch verschiedene Formate junge Anhängerinnen und Anhänger zu gewinnen. Vermutlich werden die Vernetzungsaktivitäten der hiesigen einschlägigen Moscheevereine weiter ausgebaut. Damit wird möglicherweise eine Zunahme von Veranstaltungen mit bundesweit bekannten Gastpredigern zu erwarten sein. Da populäre Prediger wie Abul Baraa besonders unter jungen Menschen beliebt sind, ist mit weiteren entsprechenden Veranstaltungen zu rechnen, die insbesondere ein junges Publikum ansprechen. Zudem deutet das Gründen von Jugendgruppen und ihre eigenständigen Aktivitäten darauf hin, dass sich die Da'wa-Arbeit noch stärker an ein junges Publikum richten wird. Durch öffentliche Konversionen wird mutmaßlich auch gezielter um Nichtmuslime in einigen Moscheevereinen geworben werden, um die "Ummah" (islamische Gemeinschaft) zu vergrößern. Neben den jugendspezifischen Angeboten und dem Ausbau von Jugendaktivitäten wird vermutlich auch die Frauenarbeit einen größeren Stellenwert erhalten. So entstehen Angebote für die ganze Familie für Gleichgesinnte, bei denen ein geschlossenes salafistisches Weltbild für die gesamte Familie entwickelt wird. 2 Terroristische Organisationen Innerhalb der Kategorie der terroristischen Organisationen lassen sich verschiedene Ausrichtungen und Ziele der einzelnen Gruppierungen feststellen. Einige von ihnen vertreten eine vorwiegend regionale Agenda und fokussieren sich auf die Errichtung eines islamistischen Staates innerhalb ihrer Aktionsgebiete. Besonders jedoch Organisationen, die global agieren, über zahlreiche lokale Ableger verfügen und in ihrer Handlungsfähigkeit keine territoriSeite 158 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus alen Grenzen kennen, verschärfen die Sicherheitslage in Europa, Deutschland und Schleswig-Holstein in besonderer Weise. Gefährdungslage durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland Der islamistische Terrorismus stellte im Berichtsjahr unverändert eine erhebliche Bedrohung für die Sicherheit in Europa und in Deutschland dar. Auch wenn die Terrororganisationen "Islamischer Staat (IS)" und "Kern-Al-Qaida (Kern-AQ)" logistisch derzeit kaum noch in der Lage zu sein scheinen, komplexe Anschlagsszenarien in Westeuropa durchführen zu können, können die virtuellen Propagandaaktivitäten insbesondere regional aktiver Jihadistinnen und Jihadisten sowie möglicherweise psychisch labile Personen zu terroristischen Anschlägen verleiten. Im Unterschied zu den komplexen Anschlägen der Vergangenheit mit hohem logistischem und planerischem Aufwand zeichnen sich die Anschläge der letzten Jahre durch einen einfachen und leicht umzusetzenden Modus Operandi aus. Häufig werden dabei leicht zu beschaffende Tatwaffen wie beispielsweise Messer benutzt. Nicht zuletzt die Geschehnisse im Nahost-Konflikt und öffentlichkeitswirksame islamkritische Ereignisse, die sich direkt auf den Propheten Mohammed oder den Koran beziehen - wie die Koranverbrennungen u. a. in Schweden, Dänemark und in den Niederlanden - sorgten für ein hohes Gefährdungsund Bedrohungspotenzial. So haben der IS und auch Kern-AQ im August auf die Koranschändungen mittels propagandistischer Internetverlautbarungen reagiert und diverse Racheaufrufe veröffentlicht, die neben Verlautbarungen an sämtliche Muslime, die sich in westlichen Ländern befinden, auch konkrete Aufrufe zum Angriff auf schwedische und dänische Botschaften beinhalteten. In Deutschland kam es nur zu vereinzelten Koranschändungen. So wurde etwa am 8. Juli in Seite 159 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Maulbronn/Baden-Württemberg auf einem Parkplatz ein verbranntes Koranexemplar aufgefunden. In Schleswig-Holstein wurden keine vergleichbaren Aktionen bekannt. Die Reaktionen der hiesigen islamistischen Szene auf die menschenverachtenden Terroranschläge der HAMAS am 7. Oktober gegen Israel haben große Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland. Unterschiedliche extremistische Akteure nehmen diese zum Anlass, zu weiteren terroristischen Aktionen in eigener Sache aufzurufen. So wird im jihadistischen Spektrum auch von Seiten Kern-AQ und des IS im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt zu Anschlägen aufgerufen. Die abstrakt hohe Gefährdungslage kann sich in Deutschland dabei jederzeit in Form von gefährdungsrelevanten Ereignissen bis hin zu jihadistisch motivierten Anschlägen durch mutmaßliche Anhängerinnen bzw. Anhänger oder Sympathisantinnen bzw. Sympathisanten islamistisch-terroristischer Gruppierungen manifestieren. Am 9. und 18. April fanden in Duisburg zwei Messerattacken durch einen syrischen Einzeltäter statt. Dabei wurde ein Mann getötet und vier weitere schwer verletzt. Im Prozess äußerte der Angeklagte, der sich im Vorfeld zum IS bekannt haben soll, dass er die Gesetze Deutschlands nicht respektiere, den Lehren des IS folge und für ihn ausschließlich die Gesetze des Islam gelten würden. Daher betrachtete er alle Menschen, auch Muslime, die sich an die deutschen Gesetze hielten, als "Ungläubige". Sein Motiv sei gewesen, möglichst viele "Ungläubige" als Rache für die Verbrechen der westlichen Staaten zu töten. Am 19. Dezember wurde der 27-Jährige vom Oberlandesgericht in Düsseldorf zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Dieser Anschlag verdeutlicht die anhaltende Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus und insbesondere die Gefahr von radikalisierten Einzeltätern. Seite 160 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Allerdings ist bei entsprechenden Gewalttaten nicht in jedem Fall eine mögliche islamistische Motivation unmittelbar erkennbar oder tatsächlich auch gegeben. So wurden bei einer Messerattacke am 25. Januar im Regionalzug Kiel-Hamburg zwei Personen mit Messerstichen bei Brokstedt getötet, weitere drei Personen wurden lebensgefährlich bis schwer und zwei Personen leichter verletzt. Mutmaßlicher Täter soll ein Ausländer mit ungeklärter Staatsangehörigkeit sein. Der Täter soll sich im Vorwege der Tat im August 2022 mit Anis Amri, dem islamistischen Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz im Jahr 2016, verglichen haben. Inwiefern die Messerattacke tatsächlich einen terroristischen Hintergrund haben könnte, ist hierbei im weiteren Gerichtsverfahren zu klären. Generell zeigten in der Vergangenheit vergleichbare Anschläge, dass auch psychisch kranke Attentäter zuweilen jihadistisch-motivierte Anschlagsbegehungen instrumentalisieren und für ihre eigene Tatbegehung als Motiv angeben. Hieraus ergibt sich ein mögliches Potenzial an Nachahmungstätern, die den Modus Operandi jihadistischer Akteure übernehmen und imitieren. Im Dezember erhielten die deutschen Sicherheitsbehörden Hinweise auf einen möglichen Anschlagsplan einer islamistischen Gruppierung, der sich u.a. gegen den Kölner Dom richtete. Der Plan soll sich auf den Silvestertag bezogen haben. Die Sicherheitsvorkehrungen rund um den Kölner Dom wurden deswegen bereits für die Weihnachtsfeierlichkeiten massiv erhöht und so das mögliche Anschlagsgeschehen vereitelt. Darüber hinaus ereigneten sich im Berichtsjahr in Europa im Herbst und in der Vorweihnachtszeit mehrere mutmaßlich islamistisch motivierte Anschläge: Seite 161 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus * Am 13. Oktober tötete in Arras/Frankreich ein jihadistischer Salafist einen Lehrer mit mehreren Messerstichen und verletzte weitere Personen schwer. Die französische Anti-Terror-Staatsanwaltschaft gab an, dass sich der Täter vor dem Anschlag ausdrücklich zur jihadistischen Terrororganisation IS bekannt habe. Diese Tat war bereits das zweite Attentat auf einen Lehrer an einer französischen Schule. Vor drei Jahren war der Lehrer Samuel Paty in einem Pariser Vorort von einem Jihadisten ermordet worden. * Am 16. Oktober wurden in Brüssel zwei schwedische Staatsangehörige von einem mutmaßlichen Islamisten erschossen. Die Schweden starben rund fünf Kilometer vom Brüsseler Fußballstadion entfernt, wo die Nationalmannschaften Belgiens und Schwedens in einem EM-Qualifikationsspiel gegeneinander spielten. Ein weiteres Opfer, ein Taxifahrer, überlebte den Angriff. * Am 2. Dezember wurde in Paris ein deutscher Staatsangehöriger mutmaßlich durch eine Messerattacke eines bekannten Islamisten getötet. Der Täter wurde festgenommen. Nach seiner Tat soll er geäußert haben, "er könne es nicht ertragen, dass Muslime in Afghanistan und Palästina getötet würden". Die nationale, französische Anti-Terror-Staatsanwaltschaft übernahm die Ermittlungen. Bei diesen aktuellen Anschlagsgeschehen ist erneut feststellbar, dass die Tatverdächtigen in der Regel keine direkte Einbindung in konkrete Strukturen der Terrororganisationen hatten und über keine tiefgreifenden ideologischen oder religiösen Kenntnisse verfügten. Seite 162 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Der anscheinend bewusst gewählte Angriff in Belgien in Zusammenhang mit einer sportlichen Großveranstaltung zeigt insbesondere vor dem Hintergrund diverser sportlicher Großereignisse im kommenden Jahr - wie die olympischen Sommerspiele in Frankreich vom 26. Juli bis zum 11. August 2024 oder der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland vom 14. Juni bis zum 14. Juli 2024 - dass die anhaltende abstrakt hohe Gefährdung durch spontane oder geplante Angriffe islamistisch motivierter Personen jederzeit in eine konkrete Gefährdungslage umschlagen kann. Nach wie vor stellen sogenannte weiche Ziele wie Weihnachtsmärkte, Konzerte oder Sportevents, die kaum oder nur schwer zu schützen sind, für Jihadistinnen und Jihadisten besonders symbolische Ziele für terroristische Anschläge dar. Wie in den vergangenen Jahren wird die Sicherheitslage im Bereich des Islamistischen Terrorismus in Deutschland und in Schleswig-Holstein durch folgende vier Faktoren bestimmt: Getarnt einreisende Jihadisten, "Homegrown terrorists", Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus Jihadgebieten und die Gefahr durch entlassene islamistische Strafgefangene. Aktuell gehen die deutschen Sicherheitsbehörden von insgesamt rund 1.700 Personen bundesweit aus, die dem islamistisch-terroristischen Spektrum in Deutschland angehören. Auch diese Zahl zeigt, vor welchen Herausforderungen die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder weiterhin stehen. Staatliche Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung Im Berichtsjahr wurden in Deutschland Strafund Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem islamistischen Terrorismus geführt, von denen einige zurzeit noch nicht abgeschlossen sind. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um Verfahren mit dem Seite 163 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Tatvorwurf der Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland (SSSS 129a, 129b StGB) oder der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (SSSS 89a, 89b StGB). Zudem werden Fälle mit dem Verdacht auf Terrorismusfinanzierung (SS 89c StGB) strafrechtlich verfolgt. So wurde beispielsweise im Dezember gegen eine deutsche Staatsangehörige der Prozess wegen der Mitgliedschaft in zwei terroristischen Vereinigungen im Ausland eröffnet. Im Mai 2013 soll die aus dem Rheinland stammende Frau zu ihrem Mann nach Syrien ausgereist sein. Im Februar 2014 dann soll sich das Ehepaar dem IS angeschlossen haben. Der Ehemann sei im September 2014 ums Leben gekommen, woraufhin die Frau erneut einen IS-Kämpfer geheiratet haben soll. Seit September 2017 habe sie sich um eine Rückkehr nach Deutschland bemüht und reiste im Mai 2018 über Ankara nach Bonn. Im September 2022 verzog die Frau nach Schleswig-Holstein, wo sie im Frühsommer 2023 festgenommen wurde und bis zum Ende des Berichtsjahres in Untersuchungshaft saß. Das Urteil wird im Frühjahr 2024 erwartet. Im Vergleich zu 2022 hat der Generalbundesanwalt im Jahr 2023 deutlich mehr Ermittlungsverfahren mit Bezug zu terroristischen Aktivitäten eingeleitet. Vom 1. Januar bis zum 30. September wurden alleine 356 Verfahren (2022: 236 Verfahren) mit Bezug zum islamistischen Terrorismus geführt. In erster Linie ging es dabei meist um den Tatvorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Seite 164 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 2.1 Der Islamische Staat (IS) Flagge des IS (Islamischer Staat; arabisch: al-Dawla al-Islamiyya) Gründung: Ausrufung des Kalifats am 29. Juni 2014 Aktueller Anführer: Abu Hussein al-Husseini al-Qurashi Aktionsgebiet: weltweit Anhängerschaft in Schleswig-Holstein: Einzelmitglieder (2022: Einzelmitglieder) Der IS entwickelte sich ab 2011 während des syrischen Bürgerkrieges aus dem irakischen Regionalableger der Terrororganisation al-Qaida, der sich schließlich zu einer eigenständigen terroristischen Gruppierung formierte ("Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (ISIS)"). 2014 wurde durch den damaligen ISIS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi ein Kalifat unter der Bezeichnung "Islamischer Staat (IS)" ausgerufen, dem es anschließend gelang, in Syrien und Irak ein Herrschaftsgebiet mit pseudo-staatlichen Strukturen unter jihadistischer Ideologie zu errichten. Durch eine professionelle Propaganda-Maschinerie erreichte er tausende Anhängerinnen und Anhänger weltweit. Aufgrund von Anti-IS-Operationen lokaler und internationaler Allianzen konnte der IS bis Ende 2017 zu weiten Teilen aus seinem Kerngebiet in Syrien und dem Irak verdrängt werden. Mit dem endgültigen Gebietsverlust des IS ging eine Restrukturierung der Organisation einher, bei der viele Aktivitäten in den Untergrund sowie in die virtuelle Welt verlegt wurden. Aus einer dezentralen Zellenstruktur heraus beweist der IS seither in asymmetrischer Kriegsführung kontinuierlich seine Schlagkraft - im Nahen Osten und weltweit. Es gelang der jihadistischen OrganisaSeite 165 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus tion in den letzten Jahren kontinuierlich, ihre Propagandaprodukte über das Internet zu verbreiten, darunter die Kampf-Botschaften des IS-Anführers, durch die der Einheitsgedanke des "Kalifats" weiter aufrechterhalten werden soll. 2.1.1 Entwicklungen und Aktivitäten In den vergangenen Jahren kam es durch den Tod der jeweiligen Anführer zu häufigen Führungswechseln an der Spitze der jihadistisch-salafistischen Organisation. Nachdem Ende des Jahres 2019 der erste "Kalif" des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, bei einer US-Militäroperation ums Leben kam, wurden sowohl im Februar 2022 sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurashi durch einen Drohnenangriff getötet als auch im Oktober oder November 2022, nach nur etwa neun Monaten Amtszeit, dessen Nachfolger Abu al-Hassan al-Hashimi al-Qurashi. Im April kam der seit 30. November 2022 unter dem Kampfnamen Abu Hussein al-Husseini al-Qurashi bekannte Anführer des IS ums Leben. Als fünfter und aktueller Kalif der Terrororganisation folgte ihm Abu Hafs Al-Hashimi Al-Qurashi im August, zu dessen Identität jedoch bisher keine Informationen vorliegen. Im Berichtsjahr bestand in Deutschland die konstant hohe abstrakte Gefährdungslage durch den IS fort. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der afghanische Ableger: die Terrororganisation "Islamischer Staat Provinz Khorasan - (ISPK)". Der ISPK hat seine Medienund Propagandaarbeit zentralisiert und professionalisiert. Indem es dem ISPK nach dem Vorbild des IS-Kalifats gelungen ist, das Online-Magazin "Voice of Khorasan" in verschiedenen Sprachen zu veröffentlichen, produzierte der ISPK innerhalb eines Jahres hunderte von Audiound Videobotschaften. Der ISPK nutzt für seine Operationen zudem terroristische Netzwerke außerhalb AfghaSeite 166 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus nistans. In der Vergangenheit wurden mehrfach Verbindungen zu Terrorgruppen in Europa und den ISPK-Netzwerken in Afghanistan vermutet. Mit einer Razzia Anfang Juli in Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden mit festgenommenen ISPK-Anhängern wurde sichtbar, dass diese Netzwerke auch bis nach Deutschland reichen können. 2.1.2 Ausblick Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden zeigt sich der IS auch im Berichtszeitraum an diversen Kriegsund Krisenschauplätzen der Welt weiterhin handlungsfähig. Sowohl in Syrien, Irak als auch in Afghanistan gibt es regelmäßig terroristische Anschläge mit zum Teil hohen Opferzahlen. Trotz anhaltender staatlicher und militärischer Verfolgung gelingt es dem IS, eigene Strukturen weiter zu festigen und seine überregionale terroristische Handlungsfähigkeit wieder weiter auszubauen. Komplexe Anschlagsszenarien sind dabei ebenso wie die Anschläge nicht organisierter Einzeltäter in Europa und Deutschland jederzeit denkbar. Nach wie vor befinden sich außerdem etwas mehr als 265 deutsche IS-Sympathisantinnen und -Sympathisanten im Ausland, die teilweise in Haftlagern in Syrien und Nordirak interniert sind. Es muss jederzeit damit gerechnet werden, dass es einzelnen von ihnen gelingen könnte, selbstständig und gegebenenfalls unerkannt nach Deutschland zurückzukehren, oder dass diese aufgrund neuer politischer Entwicklungen in ihre Heimatländer ausgewiesen werden könnten. Seite 167 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 2.2 Das al-Qaida-Netzwerk Flagge von al-Qaida (arabisch für "die Basis") Gründung: ca. 1988 u. a. durch Osama bin Laden Aktueller Anführer: mutmaßlich Saif al Adel Aktionsgebiet: weltweit Anhängerschaft in Schleswig-Holstein: Einzelmitglieder (2022: Einzelmitglieder) Al-Qaida entstand Ende der 1980er Jahre während des Krieges Afghanistans gegen sowjetische Besatzertruppen aus einer Vision Osama bin Ladens hinsichtlich eines internationalen Jihads und der Vereinigung jihadistischer Gruppierungen in einer Organisation heraus. Durch ein enges Netzwerk von regionalen Ablegern und kleineren Zellen wurden seit Gründung al-Qaidas weltweit immer wieder tödliche Attentate vor allem auch gegen zivile Ziele begangen, darunter die verheerenden Anschläge vom 11. September 2001 in den USA. Seit der Entstehung des IS befindet sich al-Qaida zudem in einem stetigen Konkurrenzkampf um die Vormachtstellung als führende Organisation des globalen Jihad. Auch die lokalen Ableger al-Qaidas sowie des IS stehen sich in verschiedenen Regionen vor allem Afrikas und Asiens sowie in al-Qaidas Ausbildungsund Rückzugsorten im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet militärisch gegenüber und kämpfen um Einfluss und Territorien. Seite 168 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 2.2.1 Entwicklungen und Aktivitäten In den letzten Jahren musste al-Qaida durch die Tötungen von mehreren wichtigen Führungskadern - auch von mehreren Regionalablegern - herbe personelle Rückschläge kompensieren. Nach dem Tod des langjährigen Anführers von al-Qaida Ayman al-Zawahiri am 31. Juli 2022 gehen Sicherheitsbehörden aktuell davon aus, dass der langjährige, sich im Iran aufhaltende Extremist al-Adel aus Ägypten die Terrororganisation anführt. Al-Adel soll allerdings bislang nicht offiziell zum "Emir" des islamistischen Terrornetzwerks ausgerufen worden sein. Grund sei zum einen, dass die in Afghanistan herrschenden radikalislamischen Taliban bislang nicht eingestehen sollen, dass al-Zawahiri tatsächlich von den USA in einem Haus in Kabul getötet worden sei. Zum anderen soll al-Adel im Iran leben und damit in einem mehrheitlich schiitischen Land, wohingegen al-Qaida eine sunnitische Gruppierung ist. Nach wie vor verbreitet al-Qaida Online-Botschaften in alle Welt. Solche überregionalen Veröffentlichungen der Organisation richten sich meist allgemein an die internationale Unterstützerszene und rufen in der Regel zu Einzeltäteranschlägen gegen "den fernen Feind" im Westen auf. So hat Al-Qaida nach den Koranverbrennungen in Schweden im Juli in einer Stellungnahme zu Anschlägen auf Botschaften von Schweden und Dänemark aufgerufen. Europa habe die Botschaft nach Charlie Hebdo nicht verstanden, so der Tenor der Veröffentlichung. Anlässlich des aktuellen Nah-Ost-Konflikts veröffentlichte die offizielle Medienstelle von al-Qaida im Dezember ein Video mit einer kompletten Anleitung von Anschlägen für Einzeltäter. Muslime in Amerika und Europa werden hierin zu Anschlägen in ihren Ländern aufgerufen. Für mediale Aufmerksamkeit sorgte auch eine Verlinkung zu einer 20 Jahre alten Botschaft von Osama bin Laden auf TikTok. Hierin erklärt bin Laden seine damalige Sicht auf den Nahost-Konflikt und stellt antisemitische Seite 169 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Verschwörungstheorien auf. Im Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg in Nahost wurde diese Verknüpfung tausendfach geteilt. Zwischenzeitlich wurde der Link zu Bin Ladens "Brief an Amerika" gelöscht. 2.2.2 Ausblick Im engen Zusammenhang mit der weiteren Entwicklung al-Qaidas stehen der Aufund Ausbau staatlicher Strukturen der Taliban in Afghanistan. Da die Taliban der Terrororganisation ideologisch sehr nahestehen, könnten sie erheblichen Einfluss darauf nehmen, inwieweit Kern-al-Qaida in ihrem Rückzugsgebiet im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet agieren kann. Auch wenn offizielle Taliban-Sprecher verlautbaren lassen, dass al-Qaida keine Präsenz in Afghanistan habe und die Taliban nicht erlauben würden, afghanischen Boden gegen die Sicherheit eines anderen Landes zu nutzen, gehen Sicherheitsbehörden davon aus, dass al-Qaida auch nach der Machtergreifung der Taliban im Jahr 2021 weiterhin verdeckt in Afghanistan agiert. Sowohl al-Qaida und als auch der IS reagierten im Zusammenhang mit dem aktuellen Nahost-Konflikt mit Anschlagsdrohungen gegen den Westen. Diese ausdrückliche Bezugnahme kann als motivierendes Element die Gefahr einer Anschlagsumsetzung durch mögliche Einzeltäter auch in Deutschland deutlich erhöhen. Seite 170 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 2.3 HAMAS Logo der HAMAS (kurz für: Harakat al-Muqawama al-Islamiyya - "Islamische Widerstandsbewegung") Gründung: 1987 Aktueller Anführer: Ismail Haniyya (HAMAS), Jahia Sinwar (HAMAS Gaza) Aktionsgebiet: Palästinensische Gebiete, Israel Anhängerschaft in Schleswig-Holstein: 10 (2022: 5) Die "Islamische Widerstandsbewegung" entstand 1987 nach der sogenannten "Ersten Intifada" (Aufstand der Palästinenser gegen Israel) aus einem Zusammenschluss palästinensischer Anhängerinnen und Anhänger der "Muslimbruderschaft" (MB) unter der Führung Ahmad Yasins. Neben der säkular ausgerichteten PLO (Palestine Liberation Organization) sowie der Fatah-Partei unter Yasser Arafat etablierte sich die HAMAS als religiöse und radikalere Initiative mit dem Ziel der Errichtung eines islamistischen Staates auf dem gesamten von der HAMAS als "Palästina" festgelegten Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan, einschließlich israelischem Staatsgebiet. Voraussetzung hierfür ist aus Sicht der Organisation die vorherige Vernichtung des Staates Israel, welchen die HAMAS als unrechtmäßige Besatzungsmacht "historischen islamischen Erbes" sieht. Als Ausdruck eines extremen Antisemitismus bekämpft die HAMAS das gesamte jüdische Volk, das für sie als Unterdrücker des palästinensischen Volkes gilt. Seite 171 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus In der Gründungscharta der HAMAS ist der Jihad als Pflicht und der Märtyrertod als ehrbarstes Ziel für alle Muslime verankert. Außerdem heißt es in einem Strategiepapier aus dem Jahr 2017: "Der Widerstand gegen die Besatzung mit allen Mitteln und Wegen ist ein legitimes Recht, das durch göttliche Gesetze und internationale Normen und Gesetze garantiert wird. Im Kern davon liegt der bewaffnete Widerstand." Die HAMAS lehnt den israelisch-palästinensischen Friedensprozess ab und beging in der Vergangenheit eine Vielzahl an Selbstmordattentaten und anderen terroristischen Aktionen. Die HAMAS setzt sich aus mehreren Unterorganisationen zusammen, die sich politisch, sozial und bildungspolitisch in der Region engagieren und dabei stets versuchen, ihre islamistische Agenda und strikten religiösen Vorschriften in der Gesellschaft durchzusetzen. Der militärische Flügel verfügt zudem über mehrere Exekutiv-Einheiten, die ausschließlich terroristische Mittel anwenden, z. B. die sogenannten "Izz-al-Din-al-Qassam-Brigaden", welche seit dem Jahr 2001 auf der EU-Terrorliste aufgeführt werden. Seit 2003 steht die HAMAS auf der EU-Terrorliste. In Deutschland wurde die HAMAS 2003 als ausländische Terrororganisation eingestuft und im Berichtsjahr erfolgte dann das Betätigungsverbot der Organisation sowie zugehöriger Vereine und Teilorganisationen. Außerdem wurde auch die säkulare Organisation "Samidoun" verboten, welche sich selbst als "Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene" bezeichnet. 2.3.1 Entwicklungen und Aktivitäten Der HAMAS dienten Deutschland und weitere europäische Staaten bisher vorrangig als Rückzugsraum. Dennoch wurde die Organisation in Deutschland als Ganzes seit 2003 als terroristisch eingestuft Seite 172 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus und letztendlich im November verboten. Bisher versuchte die Gruppierung hierzulande, vor allem in der palästinensischen Szene neue Anhängerinnen und Anhänger anzuwerben sowie ihre Ideologie zu verbreiten und Gelder über Spendenvereine zu sammeln. Die HAMAS und ihre Anhängerinnen und Anhängern verfolgen dabei Bestrebungen, welche sich gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richten und welche die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Ein gängiges Mittel des Versuches, Aufmerksamkeit und Solidarität der Bürgerinnen und Bürger für die Sache zu erwecken, sind Kundgebungen und Demonstrationen. Eskalationen im Nahostkonflikt wirkten sich in der Vergangenheit auf Häufigkeit sowie Verlauf von entsprechendem Demonstrationsgeschehen aus. Dies gilt auch für Veröffentlichungen in den sozialen Medien. Am 7. Oktober begann die HAMAS mit einem groß angelegten menschenverachtenden Angriff auf das Staatsgebiet Israels. Vom Gaza-Streifen ausgehend wurden zahlreiche Raketen abgefeuert und Terroristen überwanden die Grenze zwischen dem Gazastreifen und israelischem Staatsgebiet, um die dortigen Siedlungen zu überfallen. Im Zuge dessen wurden etwa 1 200 israelische Staatsbürger getötet und rund 250 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Als Reaktion auf den Angriff der HAMAS erklärte die israelische Regierung den Kriegszustand und begann im Rahmen eines Antiterroreinsatzes mit Luftangriffen sowie einer Bodenoffensive auf den Gazastreifen. In Reaktion auf den Krieg in Nahost kam es zu zahlreichen pro-palästinensischen Kundgebungen und Demonstrationen sowie Spendenaktionen, an denen sich auch Teile der islamistischen Szene beteiligten. Das Demonstrationsgeschehen verlief in Schleswig-Holstein weitestgehend friedlich. An verschiedenen Orten in Schleswig-Holstein kam es zu unterschiedlichen antisemitischen Seite 173 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Vorfällen. Bundesweit wird seit dem Betätigungsverbot der HAMAS gegen mutmaßliche Mitglieder sowie Mitglieder nahestehender Organisationen vorgegangen. Um das Verbot durchzusetzen, kam es auch in Schleswig-Holstein zu Hausdurchsuchungen. 2.3.2 Ausblick Die weiteren Entwicklungen der Sympathisantenszene der HAMAS ist abhängig vom Fortgang des Nahost-Konfliktes um Gaza. Dies bezieht sich insbesondere auch auf das pro-palästinensische Demonstrationsgeschehen. Beim Andauern des Konfliktes ist außerdem davon auszugehen, dass HAMAS-nahe Akteurinnen und Akteure, vor allem im digitalen Medienbereich, aber auch bei den genannten realweltlichen Ereignissen mit stark emotionalisierenden Inhalten versuchen, Interessierte zu beeinflussen. Die aus der Emotionalisierung folgende Ideologisierung des Konfliktes erzeugt wiederum den Nährboden für HAMAS-nahe Gruppierungen zur Platzierung entsprechender Inhalte. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass diese Gruppierungen in näherer Zukunft steigende Zustimmung sowie einen Zulauf an Anhängerinnen und Anhänger erfahren werden. Seite 174 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 2.4 Hizb Allah Logo der Hizb Allah ("die Partei Gottes") Gründung: 1982 Aktueller Anführer: Hassan Nasrallah (Generalsekretär) Aktionsgebiet: Libanon Anhängerschaft in Schleswig-Holstein: 20 (2022: 20) Die Hizb Allah ist eine 1982 auf Initiative des Iran gegründete schiitisch-islamistische Organisation. Die Gründung erfolgte als Zusammenschluss verschiedener schiitisch-extremistischer Milizen nach dem Einmarsch israelischer Truppen im Libanon. Nachdem es ihr 1990 gelungen war, Israel mit terroristischen Guerilla-Taktiken, unter anderem mit Selbstmord-Attentaten, wieder aus dem besetzen Südlibanon zu verdrängen, entwickelte sich die Hizb Allah zunehmend zu einer institutionell und funktional vielschichtigen, sozial und politisch agierenden Bewegung, die jedoch weiterhin starke ideologische und strukturelle Bindungen zum Iran aufweist. Die Hizb Allah agiert nach wie vor aus dem Südlibanon heraus und propagiert den bewaffneten, auch mit terroristischen Mitteln geführten Kampf im "legitimen Widerstand" gegen Israel. Israel gilt für die Organisation als unrechtmäßiger Besatzer palästinensischen Bodens, wodurch dem Land das Existenzrecht abgesprochen werden soll. Ein damit einhergehender extremer Antisemitismus gehört seit jeher zu ihren Wesensmerkmalen. Seite 175 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Im Libanon umfasst die Hizb Allah eine politische Partei, verschiedene karitative und sozial engagierte Gruppierungen sowie paramilitärische Einheiten, die weiter terroristisch aktiv sind. Im Libanon wurde der Hizb Allah 2008 durch das libanesische Kabinett offiziell "das Recht zum Widerstand gegen Israel" zugestanden. So kann die Miliz ungehindert ihre Anlagen sowie materiellen und personellen Kapazitäten im Südlibanon aufrüsten. Weiterhin betreibt die Hizb Allah den Fernsehsender "Al-Manar" mit Sitz in Beirut. Dieser wurde ebenfalls 2008 durch das Bundesministerium des Inneren als verfassungsfeindliche Organisation verboten. In vielen Ländern ist die gesamte Organisation als Terrororganisation eingestuft und seit April 2020 besteht auch in Deutschland ein Betätigungsverbot gegen Vereine der Hizb Allah. 2.4.1 Entwicklungen und Aktivitäten Deutschland dient der Hizb Allah insbesondere als Rückzugsraum. In den der Hizb Allah nahestehenden Moscheegemeinden und Vereinen werden der soziale und ideologische Zusammenhalt gepflegt und auch Spenden gesammelt. Im Rahmen des aktuellen Krieges zwischen Israel und Hamas beteiligte sich auch die Hizb Allah an Kampfhandlungen gegen Israel und positionierte sich deutlich als Unterstützer der Handlungen der HAMAS. Ausgehend vom Libanon griff die Hizb Allah wiederholt israelische Militärstellungen an, was wiederum zu entsprechenden Gegenangriffen durch Israel geführt hat. In Reaktion auf die Eskalation im Nahost-Konflikt kam es auch in der schiitisch-extremistischen Szene innerhalb von Deutschland zu Solidaritätsbekundungen. Diese fanden sowohl in den sozialen Medien als auch auf Kundgebungen und Demonstrationen statt. Eine Seite 176 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Teilnahme von Hizb Allah-Anhängerinnen und -Anhängern aus Schleswig-Holstein ist hierbei naheliegend. In Schleswig-Holstein konnten bisher keine expliziten Vereinsstrukturen der Hizb Allah festgestellt werden. Jedoch sind Einzelpersonen mit einschlägigen Kontakten zur Organisation bekannt. 2.4.2 Ausblick Das Betätigungsverbot hat das Agieren der Terrororganisation in Deutschland deutlich erschwert. Dennoch existiert in Deutschland und somit auch in Schleswig-Holstein eine Sympathisantenszene, die abhängig von den Entwicklungen im Nahen-Osten mobilisiert werden kann. Eine weitere Eskalation des dortigen Konfliktes birgt die Gefahr, dass die Hizb Allah möglicherweise ihren regionalen Führungsanspruch verliert. Dies könnte dazu führen, dass sie sich genötigt fühlen könnte, symbolträchtige Aktionen bis hin zu Anschlägen auch in Europa durchführen zu müssen, um ihre Schlagkräftigkeit und ihren Führungsanspruch unter Beweis zu stellen. Seite 177 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 3 Legalistische und sonstige islamistische Organisationen Neben gewaltorientierten und insbesondere terroristisch/jihadistisch einzustufenden Organisationen gehören auch islamistische Gruppierungen, die innerhalb der Bundesrepublik gewalttätige Aktivitäten offiziell ablehnen, zu den Beobachtungsobjekten des Verfassungsschutzes. Das Spektrum ihrer Einstellung zur Gewalt bleibt dabei jedoch groß. Zum einen gibt es jene Organisationen, die in ihren Ursprungsländern gezielt gewaltsam vorgehen, in Deutschland und Schleswig-Holstein jedoch aus taktischen Gründen darauf verzichten. Andere Gruppierungen propagieren Gewalt zumindest als legitimes Mittel oder billigen Terrorakte anderer Akteurinnen und Akteure des islamistischen Spektrums, auch wenn sie selbst keine Gewalt anwenden. Und schließlich gibt es wiederum islamistische Kräfte, die zwar letztlich auch verfassungsfeindliche Ziele verfolgen, dabei aber die Anwendung von Gewalt grundsätzlich ablehnen. Diese sogenannten legalistischen Gruppierungen bewegen sich in Deutschland innerhalb des gesetzlichen Rahmens und versuchen, mit legalen Mitteln ihre angestrebten extremistischen Vorhaben umzusetzen. Die wichtigsten dieser Organisationen, die in Schleswig-Holstein zwar keine eigentlichen Strukturen haben, zu denen es jedoch Hinweise auf Einzelmitglieder, Sympathisantinnen und Sympathisanten oder strukturelle Bezüge zu angegliederten Vereinen gibt, werden nachfolgend erläutert. Neben diesen nachfolgend ausführlich beschriebenen Organisationen gibt es im Islamismus weitere Gruppierungen, die zwar Einzelmitglieder in Schleswig-Holstein haben, jedoch keine etablierten Vereinsstrukturen aufweisen. So sind im türkischen Islamismus besonders die extremistische Türkische Hizbullah (TH) und die Milli Görüs Bewegung zu erwähnen. Im schiitischen Extremismus gibt es neben der Hizb Allah auch die Seite 178 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus AMAL-Partei, die im Libanon aktiv ist und sowohl bundesweit als auch in Schleswig-Holstein Einzelmitglieder hat. Des Weiteren sind vereinzelt Mitglieder irakisch-schiitischer Milizen in Deutschland und Schleswig-Holstein aktiv. Außerdem existiert innerhalb der MB ein Ableger aus Tunesien namens An-Nahda, der ebenfalls Einzelmitglieder in Schleswig-Holstein hat. 3.1 Die Muslimbruderschaft/Muslimbrüder (MB) Logo der Muslimbruderschaft Al-Ikhwan al-Muslimun (arabisch für "Muslimbrüder") Gründung: 1928 Aktueller Anführer: Mohammed Badie (in Haft) Aktionsgebiet: weltweit Anhängerschaft in Schleswig-Holstein: 10 (2022: 14) Die Muslimbruderschaft (MB) wurde im Jahr 1928 von Hasan al-Banna in Ägypten gegründet und richtete sich mit religiösen Argumenten kritisch gegen die damalige ägyptische Politik, welche stark durch die britische Kolonialmacht geprägt war. Die Bewegung leistete viel karitative Arbeit, weshalb sie ein hohes Ansehen in der Bevölkerung ihres Heimatlandes genoss und rasch eine große Anhängerschaft gewann. Heute ist die MB die älteste und eine der einflussreichsten sunnitisch-islamistischen Bewegungen der Gegenwart und politisch in vielen Staaten vertreten. Sie verfügt über ein internationales Unterstützernetzwerk mit Zweigorganisationen in etwa 70 Ländern. Aufgrund ihrer Herkunft und des kariSeite 179 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus tativen Wirkens stehen große Teile der ägyptischen Bevölkerung der MB positiv gegenüber - auch solche, die nicht extremistisch eingestellt sind. Die legalistisch-islamistische Organisation strebt langfristig eine Staatsund Gesellschaftsform auf Grundlage der Scharia an und versucht dafür, z. B. durch Vereinsaktivitäten sowie soziales und gesellschaftspolitisches Engagement, ihre islamistische Agenda unter anderem in der deutschen Gesellschaft zu verfestigen. Sie verfolgt also eine legalistische Strategie. Dies beinhaltet weiterhin einen verdeckten Ausbau von Strukturen sowie die Leugnung von MB-Bezügen innerhalb der einzelnen Zweige ihres Netzwerkes. Außerdem lehnt die Organisation die Trennung von Religion und Staat ab und vertritt generell eine antidemokratische und antisemitistische Grundhaltung sowie ein äußerst ambivalentes Gewaltverhältnis, das sich zum Beispiel in ihrem palästinensischen Zweig, der HAMAS äußert. 3.1.1 Entwicklungen und Aktivitäten In Deutschland werden die Interessen der MB durch die Deutsche Muslimische Gesellschaft e. V. (DMG) vertreten. Offiziell wird jegliche Nähe zur Muslimbruderschaft von den deutschen MB-Ablegern bestritten und verneint. Obwohl die MB in Deutschland nicht offen agiert, wird sie durch die DMG repräsentiert und ist auf europäischer Ebene über das Council of European Muslims (CEM) und das European Council for Fatwa and Research (ECFR) als Teil einer globalen "Islamischen Bewegung" aktiv. Die DMG strebt in Deutschland durch politisches Engagement die Verwirklichung ihrer von der MB-Ideologie geprägten Ziele an. Die Anhänger der DMG bemühen sich, ihre Verbindung zur MB in öffentlichen Erklärungen nicht offenzulegen. Die Bemühungen der DMG richten sich gegen die GrundprinzipiSeite 180 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus en der freiheitlichen demokratischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. 3.1.2 Ausblick Die MB schafft es, trotz der verschiedenen Führungskrisen und internen Unstimmigkeiten in der Vergangenheit, weiterhin global uneingeschränkt funktionstätig zu sein. Dies gilt grundsätzlich auch für die regionalen Strukturen. Auch in Deutschland wird weiterhin der Versuch der gesellschaftlichen Einflussnahme verfolgt werden. Auch nach dem Ausschluss der DMG aus dem ZMD sind diese Möglichkeiten der MB lediglich formal eingeschränkt und es bleibt abzuwarten, inwiefern es einzelnen MB-Anhängerinnen und -Anhängern gelingen wird, auch weiterhin Einfluss auf den ZMD zu nehmen. 3.2 Die Furkan-Gemeinschaft Logo der Furkan-Gemeinschaft (türkisch: Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) Gründung: 1994 Aktueller Anführer: Alparslan Kuytul Aktionsgebiet: Türkei, regionale Ableger u. a. in Deutschland Anhängerschaft in Schleswig-Holstein: 35 (2022: 33) Seite 181 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Gründer und geistiges Oberhaupt der Furkan-Gemeinschaft ist Alparslan Kuytul. Neben der Mutterorganisation in der Türkei verfügt sie über weitere Ableger in ganz Europa. Der deutsche Zweig der Furkan-Gemeinschaft lehnt sich ideologisch an die in der südtürkischen Stadt Adana ansässige Mutterorganisation "Furkan Stiftung für Bildung und Fürsorge" ("Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi") an. Ihm gehören hierzulande mehrere Bildungszentren und eine überwiegend recht junge Anhängerschaft an. Die Furkan-Gemeinschaft strebt die Rückkehr einer "islamischen Zivilisation" an, die alle Musliminnen und Muslime in sich vereinigt und in der die Sunna (überlieferte Handlungsweisen des Propheten) und der Koran einzig wegweisend sind. Westliche Werte und die Staatsform der Demokratie werden daher strikt abgelehnt. Mit dem Selbstverständnis einer "Vorreiter-Generation" fokussiert sich die Furkan-Gemeinschaft auf eine intensive Missionierungsarbeit (da'wa) und starke Bildungsarbeit für alle Altersgruppen und soziokulturellen Hintergründe. Neben den verschiedenen von der Organisation betriebenen Kulturund Bildungszentren in Deutschland bildeten sich zunehmend auch einzelne Ortsgruppen heraus. Außer den Mitgliedern dieser Bezirksvereine sind zudem Einzelmitglieder feststellbar, die Bezüge zur Furkan-Gemeinschaft aufweisen. 3.2.1 Entwicklungen und Aktivitäten Die Furkan-Gemeinschaft, die öffentlich auch als "Furkan-Bewegung" auftritt, wirbt nicht nur um türkische Mitglieder, sondern setzt auch auf Missionierungsarbeit bei Menschen anderer Nationalitäten. Dabei bietet die Furkan-Gemeinschaft auch Veranstaltungen und Aktivitäten speziell für Frauen an. Seite 182 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Bevorzugt nutzt die Organisation zur Verbreitung ihrer Ideologie und zur Ansprache und Gewinnung neuer Mitglieder Social-Media-Kanäle des Internets. Hierbei werden regelmäßig Podcasts mit regionalen Führungspersonen produziert. Im aktuellen Berichtsjahr wurde die Führungsperson der Furkan-Gemeinschaft namens Kuytul nach circa einem Jahr aus der Haft in der Türkei entlassen, was auch von den Anhängerinnen und Anhängern in Deutschland gefeiert wurde, die zuvor eine Kampagne für seine Freilassung in ihren Medien inszenierten. Im Zuge des Nahostkonfliktes hat die Furkan-Gemeinschaft viele Beiträge zu diesem Themenkomplex veröffentlicht und für mehrere diesbezügliche Demonstrationen mobilisiert. Solche Demonstrationen fanden zum Beispiel in Hamburg statt, an der mutmaßlich auch Mitglieder aus Schleswig-Holstein teilnahmen. Mobilisierung für eine Demonstration in Hamburg im Dezember 2023 In Schleswig-Holstein gibt es weiterhin nur wenige Anhängerinnen und Anhänger, die sich vornehmlich nach Hamburg orientieren und schwerpunktmäßig im Hamburger Rand und Lübeck wohnhaft sind. Seite 183 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 3.2.2 Ausblick Die Furkan-Gemeinschaft wird in Deutschland voraussichtlich schwerpunktmäßig eine Jugendbewegung bleiben, die erfolgreich junge Menschen anspricht und umwirbt. Meist handelt sich dabei um sinnsuchende junge Menschen, die ideologisch noch nicht fest an eine Gruppe gebunden sind, sondern vielmehr ein allgemeines Interesse am Islamismus entwickelt haben. Abzuwarten bleibt, ob der Organisation gelingt, auch in Schleswig-Holstein dauerhaft feste Strukturen aufzubauen. 3.3 Die Hizb ut-Tahrir (HuT) und ihr nahestehende Gruppierungen Logo der Hizb ut-Tahrir (HuT, arabisch für: "Partei der Befreiung") Gründung: 1953 Aktueller Anführer: Ata Abu Rashta Aktionsgebiet: weltweit Anhängerschaft in Schleswig-Holstein: 10 (2022: 7) Die Hizb ut-Tahrir (HuT) ist eine islamistische Organisation mit palästinensischen Wurzeln und wurde im Jahr 1953 von Taqiaddin al-Nabhani in Jerusalem gegründet. Die ideologische Grundlage basiert auf "der Lebensordnung des Islam", in welcher ausschließlich der Islam alle sozialen, politischen und wirtschaftlichen AspekSeite 184 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus te des Lebens zu regeln hat. Die HuT strebt langfristig die "Befreiung" (arabisch: tahrir) aller (in ihrer Wahrnehmung) unterdrückten Musliminnen und Muslime und deren Vereinigung in einem weltweiten panislamischen Kalifat an, das alle islamisch geprägten Regionen umfassen und später in Richtung der Territorien der "Ungläubigen" hin erweitert werden soll - durch Missionierung und notfalls auch durch bewaffneten Kampf (Jihad). Als Rechtsform jenes Kalifats wird die Scharia angestrebt. Jede andere Rechtsoder Staatsform wird durch die HuT als "blasphemisch" abgelehnt. Um ihr Ziel zu erreichen, legitimiert die Organisation Gewalt als Mittel der "Selbstverteidigung" als ein Recht aller Musliminnen und Muslime. Aufgrund dieser Gewaltaffinität ist die HuT in vielen Staaten weltweit verboten, so auch seit dem Jahr 2003 in Deutschland. Zur Erfüllung ihrer Ziele bemüht sich die HuT um die Rekrutierung von Akademikerinnen und Akademikern zur perspektivischen Platzierung in Schlüsselpositionen bis hin zur möglichen Übernahme politischer Macht und der Möglichkeit der Errichtung des Kalifats. In Deutschland lassen sich keine festen Strukturen der HuT feststellen, jedoch gibt es Gruppierungen mit einer offensichtlichen ideologischen Nähe zur HuT, die vor allem über soziale Medien sehr aktiv Missionierungsarbeit betreiben. Dies sind unter anderem "Generation Islam" (GI), "Realität Islam" (RI) und "Muslim Interaktiv". Veröffentlichungen dieser Gruppierungen greifen häufig aktuelle politische oder gesellschaftliche Themen auf und unterstützen das HuT-Narrativ der "Unterdrückung" der Musliminnen und Muslime in Deutschland. Anhängerinnen und Anhängern wird hier suggeriert, allein durch Abgrenzung zur westlichen Gesellschaft und durch ein Leben nach den Vorgaben der Scharia sei die "wahre islamische Identität" zu wahren. Seite 185 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 3.3.1 Entwicklungen und Aktivitäten HuTMitglieder treten in Deutschland nicht offen in Erscheinung, sondern es wird versucht, über persönliche Kontakte in konspirativen Kleinstgruppentreffen, sogenannten "halaqat" (arabisch für "Studienzirkel"), ein Vertrauensverhältnis herzustellen, um so mittelbis langfristig Sympathisantinnen und Sympathisanten für sich zu gewinnen, an sich zu binden und in die Lehren des Gründers al-Nabhani einzuführen. Das Internet und die sozialen Medien spielen eine zunehmend bedeutende Rolle, die über öffentliche Kanäle oder Aktionen in der realen Welt hinausgeht. Besonders aktiv in den sozialen Medien sind die HuT-nahen legalistisch-islamischen Gruppierungen GI mit Sitz in Hamburg sowie RI mit Sitz in Hessen, dessen Kernideologie die Propagierung der angeblich "staatlich gesteuerten Islamfeindlichkeit" sowie eines fingierten Assimilationszwangs in die westliche "Wertediktatur" umfasst. Konform mit dem HuT-Narrativ soll suggeriert werden, dass das politische und gesellschaftliche System in Deutschland Menschen islamischen Glaubens zu unterdrücken versucht und letztendlich eine gänzliche Abkehr von ihrer Religion zum Ziel hat. Auch GI und RI propagieren daher die Abkehr und Abgrenzung von der westlichen Gesellschaft als einzigen Ausweg für die unbedingte und absolute Wahrung der durch sie streng definierten islamischen Identität. Hierbei verfestigt sich ein Überlegenheitsgedanke und Absolutheitsanspruch der eigenen islamistischen Ideologie gegenüber anderen - auch islamischen -Ideologien bzw. Bewegungen. Das Narrativ der angeblichen Unterdrückung der muslimischen Gläubigen hat im Berichtsjahr die HuT auch in Bezug auf den Krieg zwischen HAMAS und Israel propagiert und sich hier mit Palästina und der HAMAS solidarisiert. Weiterhin fand im Berichtsjahr eine erneute Koranverbrennung in Schweden die Beachtung der HuT sowie ihren affiliierten Gruppen Seite 186 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus und Mitgliedern, welche sowohl in den sozialen Medien als auch auf Demonstrationen ihre Kritik äußerten. Auch hierin sieht sich die HuT durch die Koranverbrennungen im Narrativ des islamfeindlichen Deutschland und Europa bestätigt. 3.3.2 Ausblick Im Rahmen der HuT-Propanda entstehen stark ideologisierende Inhalte, die gezielt an junge Menschen islamischen Glaubens gesteuert werden. Als gesellschaftskritisches Engagement getarnt, könnte die Ideologisierung dieser Personen das Risiko steigern, dass die Organisation auch nachhaltig eine desintegrierende Wirkung unter der Zielgruppe entfalten sowie eine tatsächliche Etablierung sowie Verfestigung des Feindbildes der deutschen Mehrheitsgesellschaft bewirken könnte. Es bleibt abzuwarten, ob das Narrativ der vermeintlichen Unterdrückung von Musliminnen und Muslimen auch Auswirkungen auf junge Menschen in Schleswig-Holstein nachhaltig verfangen und sich ggf. sogar verfestigen wird. Seite 187 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 3.4 Schiitischer Extremismus/Einfluss des Islamischen Zentrums Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus Imam Ali Moschee an der Hamburger Außenalster, Vereinssitz des IZH (Islamisches Zentrum Hamburg e.V. (IZH)) Gründung: 1960 Aktueller Leiter: Mohammed Hadi Mofatteh Aktionsgebiet: Deutschland, Europa Anhängerschaft in Schleswig-Holstein: Einzelmitglieder (2022: Einzelmitglieder) Als bedeutendste vom Iran beeinflusste Einrichtung in Europa gilt der Verein "Islamisches Zentrum Hamburg e.V." (IZH), dessen Leiter als direkter Vertreter des Revolutionsführers Khamenei in Europa von Teheran aus ernannt wird. Das IZH ist sowohl ein bedeutender Propagandaapparat des iranischen Regimes, als auch eine wichtige Schnittstelle zwischen Iran und Deutschland. Wie alle pro-iranischen Einrichtungen orientiert sich das IZH am Gedankengut der iranischen Revolution von 1979 mit dem Ziel der Expansion und Islamisierung der gesamten Welt. Das Beobachtungsobjekt umfasst sowohl die sogenannten regierungsoder regimetreuen Iranerinnen und Iraner als auch andere schiitisch-extremistische Gruppierungen, die deutschlandweit danach streben, auf hier lebende Schiitinnen und Schiiten Einfluss Seite 188 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus zu nehmen. Ziel des schiitischen Extremismus im Allgemeinen ist die Errichtung eines islamischen Gottesstaates - zumeist nach dem Vorbild Irans. Aufgrund der Historie und der politischen Situation in den schiitisch geprägten Heimatländern dieser Organisationen lässt sich außerdem eine ausgeprägte antiisraelische und antisemitische Grundhaltung feststellen. Diese zeigt sich unter anderem in der Teilnahme an der jährlichen antiisraelischen al-Quds-Demonstration in Berlin. 3.4.1 Entwicklungen und Aktivitäten Der aktuelle Nahostkonflikt hat auch Auswirkungen auf die schiitische Szene in Deutschland. Diese verhielt sich zum großen Teil in Norddeutschland jedoch ausgesprochen zurückhaltend. Dies betrifft auch das IZH in Hamburg sowie die wenigen schiitischen Vereine in Schleswig-Holstein. Während sich die meisten Vereine hier nicht öffentlich zum Nahostkonflikt äußerten, gab das IZH eine Stellungnahme ab, ging jedoch nur allgemein auf die dortige Lage ein, ohne die HAMAS direkt zu nennen oder zu kritisieren. Am 16. November kam es zu großangelegten Durchsuchungsmaßnahmen von 54 Objekten in insgesamt sieben Bundesländern im Zuge eines vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen das IZH durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI). Dem IZH wird vorgeworfen, gegen die Völkerverständigung und verfassungsmäßige Ordnung tätig zu sein und hierbei die libanesische Hizb Allah zu unterstützen. Alle durchsuchten Objekte stehen mutmaßlich mit dem IZH in Verbindung. So wurde auch bei der "Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands" (IGS), zu der das IZH gehört, durchsucht. Schleswig-Holstein war nicht von den Exekutivmaßnahmen betroffen. Seite 189 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 3.4.2 Ausblick Der schiitische Extremismus wird durch die Exekutivmaßnahmen gegen das IZH als wichtigste Anlaufstelle vermutlich erheblich geschwächt werden. Wenn das vereinsrechtliche Ermittlungsverfahren gegen das IZH zu einem Verbot führt, ist anzunehmen, dass dies auch erhebliche Auswirkungen auf die Tätigkeiten der extremistischen schiitischen Personen und Organisationen in Schleswig-Holstein haben wird. 3.5 Tablighi Jama'at (TJ) Beliebtes Symbol der Tablighi Jama'at, ein reisender Missionar Tablighi Jama'at (TJ - Urdu für "Missionierungsgesellschaft") Gründung: 1926 Aktueller Anführer: Nazar-ur-Rehman Aktionsgebiet: weltweit Anhängerschaft in Schleswig-Holstein: 20 (2022: 16) Als globale Frömmigkeitsbewegung hat die TJ den Anspruch, alle Musliminnen und Muslime weltweit zu einer strengen Religionsausübung zurückzuführen und letztendlich islamistische Gesellschaftssysteme zu etablieren. Dabei steht für die TJ die religiöse Praxis über allen intellektuellen Diskursen und ihr Ziel ist langfristig Seite 190 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus eine Islamisierung der Gesellschaft weltweit, die sie durch Missionierung gewaltlos erreichen will. Wie andere islamistische Organisationen orientiert sich die TJ dabei eng am Islamverständnis der islamischen Frühzeit. Die Scharia soll als Grundlage der Gesellschaft fungieren, säkulare sowie demokratische Prinzipien werden abgelehnt. Ihre Anhängerinnen und Anhänger grenzen sich gegenüber Andersdenkenden oder Nichtmuslimen ab. Diese Denkweise begünstigt die Entstehung von Parallelgesellschaften und birgt Radikalisierungspotenzial. Die zentrale Praxis der TJ zur Verbreitung ihrer Ideologie ist die aktive Missionierung (da'wa) durch Reisen (khuruuj). Jedes männliche Mitglied ist daher angehalten, sich - wann immer möglich - zu kurzen und längeren Reisen aufzumachen und an verschiedenen Orten im Inund Ausland einerseits die Lehren der Organisation zu predigen, sich andererseits aber auch selbst religiös fortzubilden. In Deutschland ist die Bewegung etwa seit den 1960er Jahren aktiv. 3.5.1 Entwicklungen und Aktivitäten Die TJ ist sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene in einzelnen geheimen und hierarchisch strukturierten Netzwerken organisiert, in denen Anhängerinnen und Anhänger vor allem über informelle Kontakte miteinander in Verbindung stehen. Die einzelnen regionalen Netzwerke handeln weitestgehend autark. In Europa hat sich das "Institute of Islamic Education" in Dewsbury /England als Hauptquartier der TJ etabliert, von dem vermutlich finanzielle Unterstützung für TJ-Anhängerinnen und Anhänger in ganz Europa ausgeht. Es werden von dort darüber hinaus eine intensive Netzwerkarbeit und Kontaktpflege zu anderen TJ-Gruppen in ganz Europa betrieben. Seite 191 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus In einigen Bundesländern, darunter seit 2021 auch in Schleswig-Holstein, konnten feste TJ-Anlaufstellen festgestellt werden. Trotz vermutlich hoher Kosten ist es in Schleswig-Holstein einer TJ-Gruppe gelungen, innerhalb eines Jahres ausreichend hohe Spenden zu akquirieren, um ein für einen Moscheekomplex geeignetes Objekt im Hamburger Randgebiet zu erwerben. Hierfür erfolgten einerseits persönliche Reiseaktivitäten in andere Moscheevereine, um sich um Spenden zu bemühen. Andererseits wurde eine bis nach Süddeutschland ausstrahlende Werbekampagne in den sozialen Netzwerken medial intensiv und professionell begleitet. Der Verein hat inzwischen den Moscheebetrieb in den eigenen Räumlichkeiten aufgenommen. 3.5.2 Ausblick Aufgrund der erfolgreichen Etablierung der TJ-Anlaufstelle in Schleswig-Holstein scheint ein weiterer Anstieg des lokalen Personenpotenziales wahrscheinlich. Dies könnte auch einen Bedeutungszuwachs im internationalen, aber mindestens europäischen Organisationsgeflecht der TJ nach sich ziehen. Infolgedessen ist zukünftig auch mit einer Zunahme der überregionalen sowie möglicherweise internationalen TJ-Kontakte nach Schleswig-Holstein zu rechnen. Das Objekt könnte aufgrund des konservativen Auftretens der TJ-Mitglieder außerdem auch für andere, insbesondere salafistisch geprägte Personen an Attraktivität gewinnen und durch die frequentiert werden. Seite 192 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus 4 Personenpotenzial im Islamismus/islamistischem Terrorismus In Schleswig-Holstein ist das Personenpotenzial im Phänomenbereich Islamismus innerhalb eines Jahres von 868 auf 820 Anhänger um ca. 5 Prozent zurückgegangen. Dieser Rückgang basiert insbesondere auf einem Rückgang im Personenpotenzial des Salafismus. Insofern ist ein leichter Rückgang, auf einem aber noch immer hohen Niveau, festzustellen. Bereits in den vergangenen Jahren war deutlich geworden, dass der Salafismus weiterhin eine anhaltende Anziehungskraft entfaltet, aber in Teilen an Dynamik verloren hat. Zugleich könnte der Rückgang der dokumentierten Zahlen mit der Corona-Pandemie zusammenhängen. Der damals verstärkte Rückzug ins Private macht salafistische Aktivitäten teils weniger sichtbar. Die im Berichtsjahr neu etablierten Anlaufstellen haben bisher keinen signifikanten Einfluss auf das islamistische Gesamtpotenzial, da die dort agierenden Personen überwiegend bereits aus dem Phänomenbereich bekannte Akteure sind. Möglicherweise führten daneben staatliche Maßnahmen gegenüber der bundesweiten islamistischen Szene und ihre damit verbundene abschreckende Wirkung zu einer Stagnation beziehungsweise zu Rückgängen im Personenpotenzial. Dadurch sind die entsprechenden Strukturen in Deutschland inzwischen insgesamt in einem nicht unerheblichen Maße beeinflusst und geschwächt. Darüber hinaus hat auch das Ende des sogenannten IS, als vermeintlicher Staat in Syrien/Irak, die Attraktivität des Salafismus und Jihadismus in gewissen Maße zurückgehen lassen. Bei den sonstigen islamistischen Organisationen ist das Personenpotenzial in Schleswig-Holstein im Berichtszeitraum nahezu unverändert. Im Vergleich zu den letzten Jahren ist allerdings ein deutlicher Zuwachs festzustellen (siehe Tabelle). Dieser resultiert insbesondere aus Aktivitäten von Vereinen oder Gruppierungen, Seite 193 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus die dem Umfeld der der Tablighi Jama'at (TJ) und der Furkan-Gemeinschaft zuzuordnen sind. Die aktuellen Ereignisse des Nahostkonfliktes können von Islamistinnen und Islamisten unter Umständen gezielt genutzt werden, um neue Anhängerinnen und Anhänger zu umwerben. Insbesondere wird hier ein Freund-Feind-Weltbild konstruiert und verbreitet sowie Musliminnen und Muslime werden dabei als Opfer dargestellt. Der Konflikt könnte dazu beitragen, eine Spaltung der Gesellschaft herbeizuführen, in der sich Teile der Musliminnen und Muslime nicht mehr mit ihren Meinungen wahrgenommen fühlen und sich nicht mehr als Teil dieser sehen. Organisation/Gruppierung 2020 2021 2022 2023 Salafismus (inkl. jihadistischem 750 750 750 700 Personenpotenzial) Sonstiger Islamismus: leer leer leer leer AMAL 5 5 EM EM Furkan-Gemeinschaft 30 32 33 35 HAMAS EM 5 5 10 Hizb Allah 16 25 20 20 Hizb-i Islami Afghanistan (HIA) EM EM 7 10 Hizb ut-Tahrir (HuT) EM 5 7 10 Irakisch-Schiitische Milizen - EM EM EM IZH und sonstiger schiitischer Extremis10 5 EM EM mus Milli Görüs-Bewegung (MGB) EM EM EM EM Muslimbruderschaft (MB) 10 12 14 10 an-Nahda EM EM EM EM Palästinensischer Islamischer Jihad (PIJ) - EM EM EM Tablighi Jama'at (TJ) 10 15 16 20 Türkische Hizbullah (TH) 15 12 11 10 Sonstiger Islamismus insgesamt 96 116 118 125 Gesamtes Personenpotenzial Islamismus 846 866 868 825 Seite 194 VI Islamismus und islamistischer Terrorismus Seite 195 Seite 196 VII Linksextremistische Bestrebungen Seite 197 Seite 198 VII Linksextremistische Bestrebungen 1 Organisationen und Gruppierungen 1.1 Dogmatischer Linksextremismus Dogmatische Linksextremistinnen und Linksextremisten richten ihr politisches Handeln an revolutionär marxistischen oder anarchistischen Lehren mit dem Ziel aus, die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung zu überwinden. In Schleswig-Holstein sind die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) aktiv. Im Berichtsjahr waren der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der durch den terroristischen Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober begründete aktuelle Nahost-Konflikt die beherrschenden Themen. Dabei wurde wiederholt deutlich, dass das dogmatische Spektrum sowohl auf Grund seiner russlandfreundlichen als auch gegen die Politik Israels gerichteten Positionen innerhalb der linksextremistischen Szene weitgehend isoliert ist. 1.1.1 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Logo der Deutschen Kommunistischen Partei Seite 199 VII Linksextremistische Bestrebungen Die DKP wurde im Jahr 1968 gegründet und bildet bis heute den größten Personenzusammenschluss im dogmatischen Linksextremismus. Sie baut auf den Strukturen und der Ideologie der im Jahr 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) auf und bekennt sich zu den Lehren von Marx, Engels und Lenin als Leitlinie ihres politischen Handelns. Das zentrale Ziel der Partei ist der "revolutionäre Bruch mit den kapitalistischen Machtund Eigentumsverhältnissen"38 zur Errichtung einer sozialistischen bis hin zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft, in der die "Macht des arbeitenden Volkes verwirklicht wird"39. Die DKP strebt langfristig einen Systemwechsel an und richtet sich folglich gegen die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung, die auf den Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung basiert. In Schleswig-Holstein sind die DKP-Kreisverbände Kiel, Lübeck/ Südost-Holstein, Pinneberg, Schleswig/Flensburg und Itzehoe/ Nordfriesland aktiv. Sie befassen sich hauptsächlich mit aktuellen gesellschafts-, sozialund friedenspolitischen Fragestellungen und werden in den Themenfeldern Antimilitarismus, Antikapitalismus und Antifaschismus tätig. Die DKP nimmt im Internet regelmäßig Stellung zu aktuellen regionalen und überregionalen Ereignissen und ruft zur Teilnahme an Demonstrationen auf. Im Berichtsjahr war zu erkennen, dass sie hierbei im Unterschied zu den Vorjahren zunehmend, insbesondere im Rahmen ihrer Positionierung im Nahostkonflikt, eigeninitiativ tätig wird, wenn auch noch immer auf einem niedrigen Niveau. Die Partei schließt sich weiterhin überwiegend Bündnissen an. 38 Internetseite DKP, abgerufen am 28.11.2023. 39 Internetseite DKP, abgerufen am 28.11.2023. Seite 200 VII Linksextremistische Bestrebungen Die DKP nimmt unregelmäßig an Wahlen teil. Dabei konnte sie bislang keine nennenswerten Ergebnisse erzielen. Zur im Berichtsjahr in Schleswig-Holstein durchgeführten Kommunalwahl trat lediglich die DKP Lübeck erfolglos an. Im Interview mit dem Vorsitzenden der DKP Lübeck in der DKP-Zeitung "Unsere Zeit" wurde auch im Berichtsjahr erneut deutlich, dass die Partei auf Seiten Russlands steht. Der Krieg in der Ukraine, welcher durch den Angriff Russlands verursacht wurde, wird als "NATO-Krieg(...) gegen Russland"40 bezeichnet. Mit den terroristischen Angriffen der HAMAS auf Israel am 7. Oktober entwickelte sich der aktuelle Nahostkonflikt zum Schwerpunktthema der DKP. Dabei positionierte sich die DKP insbesondere gegen die Politik Israels, der sie imperialistische Aggression vorwirft. Die palästinensische Seite wird überwiegend als Opfer dargestellt.41 Die DKP Schleswig-Holstein konnte auch im Berichtsjahr mit ihrer Programmatik weder das undogmatische linksextremistische Spektrum noch die Mitte der Gesellschaft überzeugen und in der Folge nicht an sie anknüpfen. Ausblick DKP Die DKP richtet sich mit ihren Positionen und Zielvorstellungen eindeutig gegen die Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie ist in Schleswig-Holstein auf Grund des hohen Durchschnittsalters ihrer Mitglieder jedoch kaum in der Lage dauerhaft aktionsorientiert zu arbeiten. Ihr klare, im Rahmen von Veranstaltungen wie Demonstrationen und Kundgebungen auch 40 Zeitung Unsere Zeit vom 14.04.2023, Ausgabe Nr. 15, 55. Jahrgang. 41 Weitere Ausführungen zum Nahostkonflikt vgl. I.1.3 Linksextremismus. Seite 201 VII Linksextremistische Bestrebungen öffentlich vermittelte und wahrnehmbare Positionierung zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sowie zum aktuellen Nahostkonflikt lässt die DKP präsenter wirken als noch vor einigen Jahren. Eine gesteigerte Einflussnahme auf die bürgerliche Gesellschaft oder das undogmatische linksextremistische Spektrum ist jedoch nicht feststellbar und langfristig nicht zu erwarten. 1.1.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Logo der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend Die SDAJ ist eine formal eigenständige Jugendbzw. Nachwuchsorganisation der DKP und strebt analog zur Mutterpartei die revolutionäre Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft an. Sie habe sich bundesweit zusammengeschlossen, um dieses Ziel mit einer "antikapitalistischen und revolutionären Organisation"42 zu erreichen. Die Beobachtung der SDAJ durch den Verfassungsschutz resultiert aus der Unvereinbarkeit ihrer Ziele mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die SDAJ bemüht sich regelmäßig um Mitarbeit in Bündnissen des extremistischen, aber auch des nichtextremistischen Spektrums, um ihren Einfluss zu erhöhen. In Schleswig-Holstein existieren Ortsgruppen unter anderem in Kiel und Flensburg. 42 Internetseite SDAJ, abgerufen am 28.11.2023. Seite 202 VII Linksextremistische Bestrebungen Analog zur Mutterpartei stellte sich die SDAJ im Zuge des aktuellen Nahostkonfliktes auf die Seite des palästinensischen Volkes und verurteilte das Vorgehen Israels. Israel wird beschuldigt für den Ausbruch des Konfliktes in Folge des terroristischen Angriffs der HAMAS am 7. Oktober verantwortlich zu sein. Israel wird das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen, der militärische Einsatz im Gazastreifen als Genozid bezeichnet. Am 8. November fand in Kiel eine Demonstration mit dem Tenor: "Frieden im Nahen Osten" statt, an der sich unter anderem die SDAJ Kiel und die DKP Kiel beteiligten. In den vor Ort gehaltenen Redebeiträgen wurde die Jahrzehnte "andauernde Besatzung Palästinas durch den israelischen Staat"43 verurteilt. Deutschland würde sich "rhetorisch, wirtschaftlich und durch Lieferung mit Waffen, auch aus Kiel," an den "Kriegsverbrechen Israels" beteiligen. Sowohl die palästinensischen als auch die israelischen "fortschrittlichen linken und antiimperialistischen Kräfte" müssten sich im "Kampf um die Befreiung Palästinas" zusammenschließen. Im Berichtsjahr beteiligte sich die SDAJ in Schleswig-Holstein an weiteren propalästinensischen Versammlungen. Der SDAJ gelang es wie der DKP nicht, ihren Einfluss auf die Mitte der Gesellschaft zu erweitern. Ausblick SDAJ Es ist zu erwarten, dass die SDAJ auch zukünftig zur Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele spektrenübergreifend eine Zusammenarbeit mit diversen Bündnispartnerinnen und Bündnispartnern anstreben wird. Die SDAJ ist deutlich aktionsorientierter und in der Öffentlichkeit stärker wahrnehmbar als die DKP. Dennoch 43 Internetseite Instagram SDAJ Kiel, abgerufen am 16.11.2023. Seite 203 VII Linksextremistische Bestrebungen wird sie auch weiterhin keine führende Rolle in der linksextremistischen Szene einnehmen, nicht zuletzt auf Grund ihrer offen gegen den Staat Israel gerichteten Positionen. 1.2 Undogmatischer Linksextremismus In Schleswig-Holstein sind aus dem Spektrum des undogmatischen Linksextremismus Autonome und Postautonome aktiv. Zudem sind auch antiimperialistische Gruppierungen diesem Bereich zuzuordnen, die bundesweit erste Ansätze für eine stärkere Präsenz zeigten. Abweichend von diesen Entwicklungen entfalteten antiimperialistische Gruppen in Schleswig-Holstein auch weiterhin keine eigenständige öffentlich wahrnehmbare Bedeutung. Der undogmatische Linksextremismus zeichnet sich im Kern durch seine wandlungsfähige Ideologie aus. Er wird insbesondere durch die Lehren des Anarchismus, Kommunismus und die Ideen des Marxismus geprägt. Im Gegensatz zum dogmatischen Linksextremismus werden sie jedoch nicht als starre Glaubenssätze angesehen, sondern bewusst hinterfragt. Eine Anpassung an die aktuelle politische Situation und die jeweils bestehende Lebenswirklichkeit ist ausdrücklich möglich und gewollt, allerdings ohne in Beliebigkeit zu verfallen. Die undogmatische linksextremistische Szene betätigte sich im Berichtsjahr auf einem gemäßigten Niveau. Nach dem Ende der Auswirkungen der Coronapandemie auf das öffentliche Leben wäre im Berichtsjahr eine starke Wiederbelebung der Szene möglich und auch zu erwarten gewesen. Jedoch blieb eine Steigerung der Aktivitäten weitgehend aus. Insbesondere bei den Postautonomen kann themenübergreifend sogar eine gewisse Lethargie festgestellt werden. Seite 204 VII Linksextremistische Bestrebungen Selbst die Terroranschläge der HAMAS am 7. Oktober gegen den Staat Israel führten lediglich zu einer vergleichsweise schwachen Reaktion. Dies ist zum großen Teil jedoch auf die unterschiedlichen Auffassungen im linksextremistischen Lager zurückzuführen. Große Teile des undogmatischen Spektrums sind traditionell grundsätzlich pro-palästinensisch eingestellt und solidarisieren sich mit dem palästinensischen Volk für einen Freiheitskampf von Palästinensern gegen einen imperialistischen Staat Israel, ohne jedoch die Terrorakte der HAMAS zu verteidigen. Auf der pro-israelischen Seite stehen die so genannten "Antideutschen"44, die den Schutz Israels auch durch Militäreinsätze als gerechtfertigte "antifaschistische Aktionen" befürworten. In dieser vielschichtigen Gemengelage, in der die unterschiedlichen Grundsätze auf eine widersprüchliche konkrete Situation trafen, fiel den undogmatischen Linksextremisten, wie schon beim russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, eine eindeutige Positionierung schwer. So war die Beteiligung an Demonstrationen und anderen nach außen wirkenden Aktionen sehr zurückhaltend. Auch innerhalb der Szene kam es zu keinen erheblichen Streitigkeiten, da das Thema Nahostkonflikt in der täglichen politischen Diskussion zumeist ausgeklammert wurde. 44 Antideutsche sind Angehörige einer im Zuge der Wiedervereinigung hervorgegangenen linksextremistischen Strömung, die sich insbesondere gegen einen von ihnen erwarteten erstarkenden deutschen Nationalismus richtet in Verbindung mit der Befürchtung der Errichtung eines großdeutschen "Vierten Reichs" und eines damit einhergehenden erneuten Holocausts. Sie lehnen einen deutschen Nationalstaat insgesamt ab. Antideutsche solidarisieren sich bedingungslos mit der Politik des Staates Israel und dem jüdischen Volk und stehen dessen Schutzmacht USA überwiegend positiv gegenüber. Die antideutsche Ideologie polarisiert dadurch stark innerhalb des klassischen Linksextremismus. Seite 205 VII Linksextremistische Bestrebungen Ausblick Aktuell scheint die undogmatische linksextremistische Szene nur bedingt in der Lage zu sein, dauerhaft eigene Initiativen von der Idee bis zur konkreten Umsetzung zu planen und durchzuführen. Langfristige Strategien wie insbesondere bei den Postautonomen zu erwarten, sind kaum erkennbar. Ein planvolles Vorgehen ist weiterhin nur kurzfristig von wenigen Gruppierungen für einzelne Aktionen oder Kampagnen möglich, wie zum Beispiel im Vorfeld der Kommunalwahlen im Mai. Das Personenpotenzial veränderte sich auch im Berichtsjahr nicht signifikant, so dass weiterhin davon ausgegangen werden muss, dass der Szene charismatische Protagonistinnen und Protagonisten fehlen, die die nötige Tatkraft und Konsequenz auf dem Weg zur linksextremistischen Zielerreichung erkennen lassen. Die undogmatische linksextremistische Szene prägt trotz ihrer zurückhaltenden Agitation weiterhin die öffentliche Wahrnehmung des Linksextremismus. Daran wird sich insbesondere auch wegen der bundesweit zunehmenden Radikalisierung im gewaltorientierten Linksextremismus in Zukunft nichts ändern, auch wenn diese Entwicklung in Schleswig-Holstein nicht feststellbar ist. 1.2.1 Autonome Logo der Antifa Die klassischen Autonomen stellen die große Mehrheit im Spektrum der undogmatischen Linksextremisten. Sie berufen sich im Seite 206 VII Linksextremistische Bestrebungen Gegensatz zu dogmatischen Linksextremisten auf keine einheitliche Ideologie, sondern bilden sich je nach Individualität und persönlicher Lebenssituation aus Fragmenten anarchistischer und kommunistischer Ideen ihr spezifisches Weltbild. Die autonome Weltanschauung ist durch eine grundsätzliche Ablehnung von festen Organisationsund Bündnisformen sowie hierarchischen Strukturen geprägt. Autonome treffen sich in losen, wenig verbindlichen Zusammenschlüssen, die zumeist sehr unbeständig sind. Zudem lehnen klassische Autonome Bündnisse mit szenefremden, insbesondere nichtextremistischen Gruppen und Organisationen grundsätzlich ab. Diese würden lediglich Reformen im System anstreben, während Autonome gerade das System überwinden wollen. Gesellschaftliche und rechtliche Normen stellen für Autonome keinen verbindlichen Rahmen dar. Zur Erreichung ihrer Ziele setzen sie uneingeschränkt die ihrer Meinung nach erforderlichen Mittel ein, was auch den Einsatz von Gewalt rechtfertigt. Autonome streben auf Grundlage dieser Merkmale die Verwirklichung eines selbstbestimmten herrschaftsfreien Lebens in Freiräumen ohne staatlichen Einfluss an. Sie verorten ihre eigene Subkultur außerhalb der Gesellschaft, deren Normen und Verpflichtungen sie sich grundsätzlich verweigern. Dadurch empfinden sie das durch die Polizei ausgeübte Gewaltmonopol des Staates als Repression, gegen die nach Ansicht der Szene Gegengewalt zulässig und geboten ist. Daraus folgt, dass die autonome Szene die bestehende Verfassungsordnung kategorisch ablehnt. Ihr politisches Handeln ist somit nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar. Autonome Szenen finden sich typischerweise in größeren Städten. In Schleswig-Holstein liegen die Schwerpunkte unverändert in Kiel und Lübeck. In beiden Städten existieren selbstverwaltete Zentren Seite 207 VII Linksextremistische Bestrebungen und Szenetreffpunkte, wie in Kiel die Alte Meierei sowie in Lübeck die Alternative e.V., kurz Walli genannt. Des Weiteren spielen insbesondere Wohngemeinschaften eine wichtige Rolle bei der Bildung subkultureller Strukturen linksextremistischer Autonomer. Seit mehreren Jahren fällt bei einer bundesweiten Betrachtung des linksextre-mistischen autonomen Spektrums auf, dass es äußerst unterschiedliche Entwick-lungen der einzelnen Szenen gibt. Während es in einigen Großstädten zunehmend aktive Gruppen gab, die zum Teil mit geplanter roher Gewaltausübung gegen Personen auffällig wurden, ging das Betätigungsniveau in anderen Regionen, so auch in Schleswig-Holstein, zurück. Einer der Gründe liegt darin, dass die Szene entgegen eigener Ansprüche überwiegend anlassbezogen-reaktiv agiert. Im Hauptbetätigungsfeld, der "Antifa-Arbeit", gab es aus Sicht der linksextremistischen Szene in Schleswig-Holstein allerdings nur wenige geeignete Angriffsziele aus dem tatsächlichen oder vermeintlichen rechtsextremistischen Spektrum. Die linksextremistische autonome Szene in Schleswig-Holstein war im Berichtsjahr nur bedingt fähig, eigene Initiativen konsequent durchzuführen. Ein Grund hierfür liegt auch in der Zersplitterung der Szene. Zu viele Einzelthemen und zu viele Erwartungshaltungen an Verhaltensweisen und Lebensstile führten zur Entfremdung von Gruppen der Szene untereinander. Ausblick Autonome werden auch zukünftig insbesondere in Abhängigkeit zum Auftreten des politischen Gegners aktiv sein. Ein Anlass für Aktionen im Jahr 2024 ist ein im Januar gestarteter Prozess mit Bezug zu den gewalttätigen Ausschreitungen bei den Protesten gegen den G 20-Gipfel im Jahr 2017 in Hamburg sowie die bevorstehende Europawahl im Juni. Seite 208 VII Linksextremistische Bestrebungen 1.2.2 Postautonome Logo der Interventionistischen Linken Viele ursprünglich aus dem autonomen Spektrum stammende Linksextremistinnen und Linksextremisten sahen in den 1990er Jahren die Notwendigkeit, die Unverbindlichkeit der autonomen Szene zu überwinden und eine kontinuierliche Arbeitsweise mit allgemeinpolitischer Ausrichtung aufzubauen, um nachhaltige Ergebnisse erreichen zu können. Die Anhängerinnen und Anhänger dieser Ausprägung der linksextremistisch-undogmatischen Szene werden als sogenannte Postautonome bezeichnet. Als bedeutendste Gruppierung aus diesem Spektrum entwickelte sich die Interventionistische Linke (IL). Der Zusammenschluss zu einer großen und auf Dauer angelegten Organisation, die weiterhin aus lokal geprägten Gruppierungen besteht, soll die öffentliche Wahrnehmbarkeit im Vergleich zu einer Kleingruppe deutlich erhöhen. Zu diesem Zweck forciert die IL auch ausdrücklich Bündnisse mit Personen und Organisationen des bürgerlichen, demokratischen Spektrums. Das derzeit bekannteste Bündnis, in dem die IL mitarbeitet, ist Ende Gelände. Dort werden systemkritische Positionen in die Klimaschutzbewegung hineingetragen. Langfristiges Ziel der IL ist es, dadurch neue Anhängerinnen und Anhänger für ihre verfassungsfeindlichen Ziele zur Vergrößerung der eigenen personellen Basis zu gewinnen. Anlassbezogen kann die IL zudem binnen kurzer Zeit auf ein gröSeite 209 VII Linksextremistische Bestrebungen ßeres Mobilisierungspotenzial für Aktionen und Demonstrationen zurückgreifen. Um diese Bündnisfähigkeit ins demokratische Spektrum zu erhalten, verzichtet die IL trotz grundsätzlich bestehender Gewaltorientierung aus taktischer Überlegung heraus meistens auf die Ausübung von Gewalt. Die IL ist eine bundesweite Organisation mit fast 30 Ortsgruppen. In Schleswig-Holstein existieren zwei Ortsgruppen in Kiel und Lübeck sowie eine kleine, eher unbedeutende in Norderstedt. Die verschiedenen Ortsgruppen eint zwar ein gemeinsames Grundverständnis über die Ziele der IL. In Detailfragen gibt es jedoch aufgrund der unterschiedlichen ideologischen und regionalen Herkunft heterogene Auffassungen. Diese Divergenzen verhinderten bisher ein endgültiges, einheitliches Grundsatzprogramm der IL. Am 11. Oktober 2014 veröffentlichte sie unter dem Titel "IL im Aufbruch - ein Zwischenstandspapier"45 ein "vorläufiges Ergebnis einer mehrjährigen Diskussion". Darin führt die IL aus: "Die Politik der IL orientiert sich am langfristigen strategischen Ziel einer radikalen Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse (...). Notwendiger Bestandteil einer solchen radikalen Transformation ist der revolutionäre Bruch (...). Um den Weg zu einer befreiten Gesellschaft freizumachen, braucht es die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Kapitalverwertung, auf denen die ökonomische Macht basiert, und die Überwindung des bürgerlichen Staatsapparates, als Garant dieser Eigentumsordnung."46 45 Internetseite "Interventionistische Linke-Ein Zwischenstandspapier" abgerufen am 28.11.2023. 46 Internetseite "Interventionistische Linke-Ein Zwischenstandspapier", Gliederungsnummer 8, abgerufen am 28.11.2023. Seite 210 VII Linksextremistische Bestrebungen Die IL strebt demnach die Überwindung des bestehenden Staates und des Kapitalismus durch einen revolutionären Bruch an. Antikapitalismus Der Kampf gegen den Kapitalismus ist das zentrale Element linksextremistischer Ideologien und kann u. a. auf Ideen von Karl Marx zurückgeführt werden. Dessen Theorie zufolge werden mit der Abschaffung der bestehenden Produktionsund Eigentumsverhältnisse als logische Folge auch die bisherigen Herrschaftsverhält-nisse überwunden. Linksextremistinnen und Linksextremisten üben nicht nur Kritik am Kapitalismus mit seinen Strukturen und Eigentumsverhältnissen, indem sie soziale Ungerechtigkeiten und Armut anprangern. Vielmehr sehen sie den Kapitalismus als Wurzel allen Übels und machen den Staat als solches für Faschismus, Repression und Krieg verantwortlich. Das Grundziel des Antikapitalismus ist demnach die Überwindung der kapitalistischen Staatsund Gesellschaftsordnung. Die IL erwarb sich durch die verlässliche Organisation vieler Demonstrationen und Kampagnen in der Vergangenheit den Ruf, ein Organisator und Dienstleister für das gesamte "linke" Spektrum zu sein. Dies lag durchaus im Interesse der IL, weil sich ein umspannender Einfluss vom linksdemokratischen Bereich bis zu den linksextremistischen Autonomen bot. Diesen Ruf hat die IL inzwischen komplett verspielt. Neben der beschriebenen strukturell eingeschränkten Handlungsfähigkeit kam es zusätzlich zu weiteren internen Spannungen mit Außenwirkung. Der Umgang mit der Aufklärung eines tatsächlichen oder vermeintlichen Sexismusvorfalls innerhalb der IL wurde zum großen Streitfall, der viel Zeit, Kraft und Einigkeit innerhalb der Organisation kostete. Das mündete darin, dass eine andere Gruppierung den Ausschluss der IL aus allen "linSeite 211 VII Linksextremistische Bestrebungen ken Strukturen" forderte. Dies führte zwar nicht zur Isolation der IL, aber doch zu schwindendem Einfluss. Ausblick Nach mehr als neun Jahren "Zwischenstandspapier" ist immer noch kein Grundsatzpapier veröffentlicht worden. Dies zeigt die Problematik innerhalb der Konstruktion der IL. Zu viele unterschiedliche und nicht vereinbare Positionen verhindern ein konkretes politisches Handeln. Hinzu kommt, dass viel Zeit und Kraft für die Beschäftigung mit sich selbst aufgewandt wird. Es ist nicht erkennbar, dass die IL in näherer Zukunft ihre internen und externen Probleme lösen könnte. Damit dürfte ein bisher wesentlicher Teil des Spektrums der Postautonomen kaum in der Lage sein, Impulse zu setzen. 1.3 Rote Hilfe e. V. (RH) Logo der Roten Hilfe e. V. Die RH ist gemäß ihrer Satzung eine "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation"47, die "politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum unterstützt"48. Sie betätigt sich in dem linksextremistischen Themenfeld Antirepressi47 Internetseite Rote Hilfe, abgerufen am 14.11.2023. 48 Internetseite Rote Hilfe, abgerufen am 14.11.2023. Seite 212 VII Linksextremistische Bestrebungen on. Dabei liegt ihr Arbeitsschwerpunkt sowohl auf der politischen als auch auf der finanziellen Unterstützung von Beschuldigten, Angeklagten und Straftätern aus dem gesamten linksextremistischen Spektrum. Damit bietet sie einen bedeutenden Rückhalt in der linksextremistischen Szene im Kampf gegen die vermeintliche staatliche Repression. Die RH stellt die Bundesrepublik Deutschland als willkürlich handelnden Staat dar, von dem eine politische Verfolgung ausgeht. Sie stellt das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Gerichte in Frage und erkennt die rechtsstaatliche Ordnung nicht an. Damit einher geht eine fundamentale Kritik an staatlich empfundener Repression, die im linksextremistischen Aktionsfeld Antirepression aufgeht. Antirepression Linksextremistinnen und Linksextremisten lehnen den vermeintlich repressiven Staat und seine Institutionen strikt ab und werten staatliches Handeln nahezu ausnahmslos als Repression. Die Legitimation des Staates für entsprechende Regelungen wird nicht anerkannt. Insbesondere Polizistinnen und Polizisten, die im Rahmen von begangenen Straftaten oder in einem Demonstrationsgeschehen einschreiten, werden als direkte Vertreter dieses "repressiven Staates" und somit als legitimes Ziel bei Auseinandersetzungen angesehen. Dabei sehen insbesondere die autonomen Linksextremistinnen und Linksextremisten die eigene ausgeübte Gewalt als Abwehr der durch Polizistinnen und Polizisten und das System ausgeübten strukturellen Gewalt. Auch in dieser Haltung kommt die Ablehnung des Staates in seiner Gesamtheit und demzufolge auch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ausdruck. Seite 213 VII Linksextremistische Bestrebungen Die RH verfolgt mit ihrer Tätigkeit keine eigene Ideologie, sondern leistet Unterstützungsarbeit für die gesamte linksextremistische Szene. Daneben versucht die RH durch eine ausgeprägte Öffentlichkeitsarbeit in die Meinungsbildung einzugreifen und den demokratischen Rechtsstaat als ihrer Ansicht nach repressiv darzustellen und somit zu delegitimieren. Dafür unterhält die RH unter anderem einen Literaturvertrieb mit Sitz in Kiel. Die Aktivitäten der RH werden durch Spenden, Mitgliedsbeiträge sowie weitere Einnahmen, die etwa durch Solidaritätsveranstaltungen generiert werden, finanziert. Im Berichtsjahr unterstützte die RH in Schleswig-Holstein entsprechend ihrer Ziele betroffene Einzelpersonen und Gruppen im Rahmen der Rechtshilfe sowie bei der Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Sie setzte ferner ihre alle linksextremistischen Spektren übergreifende Kampagnenarbeit unter dem Aspekt der Antirepression fort. Am 20. April veranstaltete die RH gemeinsam mit der ebenfalls linksextremistischen Turboklimakampfgruppe Kiel (TKKG) die Aufklärungsveranstaltung "If a Tree Falls" über militante Umweltschützer, wobei der Fokus auf die Repression gegen Umweltaktivisten und deren Widerstand gerichtet wurde. Ebenso ist die von der RH durchgeführte Informationsveranstaltung "Was tun wenn's brennt?" am 12. Oktober im Themenfeld Antirepression einzuordnen. Im Rahmen eines "Demo 1x1" sollte den Teilnehmenden vermittelt werden, was einem nach Ansicht der linksextremistischen Szene repressiver werdenden Staat entgegengesetzt werden könnte. Ausblick Es ist davon auszugehen, dass die RH ihren programmübergreifenden, vereinenden Ansatz im Bereich der Antirepression fortführen Seite 214 VII Linksextremistische Bestrebungen wird. Die RH wird auch zukünftig eine bedeutende Rolle in der Aktivistenbetreuung einnehmen. Damit gehört sie zu den relevanten linksextremistischen Akteuren in Schleswig-Holstein. 2 Linksextremistische Schwerpunkte 2.1 Antifaschismus und Antirassismus Die Aktionsfelder Antifaschismus und Antirassismus waren auch in diesem Berichtsjahr die Hauptbetätigungsfelder von Linksextremistinnen und Linksextremisten. Antifaschismus Die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist eines der wichtigsten linksextremistischen politischen Ziele. Feindbilder der Linksextremistinnen und Linksextremisten sind hierbei jedoch nicht nur rechtsextremistische Strukturen, sondern gerade auch der bestehende Staat selbst. Linksextremistinnen und Linksextremisten bewerten den Rechtsextremismus als ein systemimmanentes Merkmal der deutschen Gesellschaftsordnung. Dabei unterstellen sie dem politischen System, den Rechtsextremismus durch aus ihrer Sicht rassistische und faschistische Gesetzgebung bewusst zu fördern. Insbesondere die undogmatischen Linksextremistinnen und Linksextremisten sehen den Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel Seite 215 VII Linksextremistische Bestrebungen der politischen Auseinandersetzung im antifaschistischen Kampf und erkennen das staatliche Gewaltmonopol nicht an. Sie suchen allerdings auch bewusst die Nähe zum bürgerlichen Spektrum, um über das Zugpferd Antifaschismus linke Politikinhalte in die Gesellschaft zu tragen. Der revolutionäre Antifaschismus der dogmatischen Linksextremistinnen und Linksextremisten richtet sich primär gegen das als rein kapitalistisch empfundene System in Deutschland selbst. Er verfolgt das Ziel, die gesellschaftlichen Strukturen zu zerschlagen, die linksextremistischer Auffassung nach zwangsläufig Faschismus und Rassismus hervorbringen. Diese grundsätzliche Ablehnung des bestehenden Staatsgefüges bedeutet gleichzeitig auch eine Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Zwischen dem linksextremistischen Verständnis von Antifaschismus und Antirassismus gibt es eine große Schnittmenge, so dass eine klare Trennung nicht möglich ist. Antirassismus Das Themenfeld Antirassismus ist zunehmend mit dem Antifaschismus verknüpft und kann im Rahmen von linksextremistischen Aktivitäten kaum mehr isoliert dargestellt werden. Das linksextremistische Verständnis von Rassismus stützt sich auf die Überzeugung, dass der Staat in seiner Gesamtheit faschistisch und rassistisch sei. Dies zeigt sich in den Augen von Linksextremistinnen und Linksextremisten unter anderem in der Asylgesetzgebung wie auch in ausländerrechtlichen Regelungen. Als Ursache für den Rassismus wird die von Klassengegen-sätzen, Ausbeutung und Unterdrückung geprägte kapitalistische Gesellschaft ausgemacht. Das als rassistisch angesehene System könne nur durch eine neue, solidarische Gesellschaftsordnung nach kommunistischem Vorbild überwunden Seite 216 VII Linksextremistische Bestrebungen werden. Damit wird die freiheitliche demokratische Grundordnung abgelehnt. Aus ihrem Verständnis von Faschismus und Rassismus heraus legitimieren Linksextremistinnen und Linksextremisten ihren Antifaschismusund Antirassismuskampf. Dieser beinhaltet nach Ansicht von vor allem undogmatisch eingestellten Linksextremistinnen und Linksextremisten den Einsatz von Gewalt als gerechtfertigtem Mittel politischer Konfrontation. Gleichzeitig suchen Linksextremistinnen und Linksextremisten insbesondere über das Themenfeld Antifaschismus den Kontakt zur bürgerlichen Mitte, um linksextremistische Vorstellungen in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. 2.1.1 Entwicklungen und Aktivitäten Auch im Berichtsjahr bildete der linksextremistische Kampf gegen die von der linksextremistischen Szene als rechtsextrem deklarierte AfD und die rechtsextremistische Partei HEIMAT/NPD einen Schwerpunkt der Szene. Davon zeugt etwa die von Linksextremistinnen und Linksextremisten initiierte Kampagne "Die Rechten in die Schranken weisen" zum Kommunalwahlkampf der beiden Parteien im Frühjahr. In diesem Zuge mobilisierten sie wiederholt für Antifa-Proteste gegen AfD-Wahlkampfveranstaltungen und -Infotische. Zudem kam es am 21. April zu einer versuchten Brandstiftung am PKW eines bekannten AfD-Mitglieds in Lübeck. Auch im weiteren Jahresverlauf organisierte die linksextremistische Szene Proteste gegen AfD-Veranstaltungen oder beteiligte sich an der Organisation. Im Fokus stand hierbei der Landesparteitag der AfD am 16. September in Henstedt-Ulzburg. Neben der Antifa Kiel rief unter anderem die IL Kiel dazu auf, sich den Protesten anzuschlieSeite 217 VII Linksextremistische Bestrebungen ßen.49 Im Rahmen der Gegenproteste wurde ein Polizist tätlich angegriffen. Ferner kam es auch in Kiel am 30. September und in Neumünster am 4. November zu antifaschistisch geprägten Gegenprotesten, die zeigten, dass die linksextremistische Szene anlassbezogen durchaus in der Lage ist, Mobilisierungserfolge in der Szene und im bürgerlichen Spektrum zu erzielen. Im Zusammenhang mit den Aktivitäten gegen die AfD führte das linksextremistisch unterstützte "Bündnis Tatort Henstedt-Ulzburg"50 am Landgericht Kiel regelmäßig Kundgebungen durch. Dabei versuchte insbesondere die linksextremistische Szene, den Ausgang des Gerichtsverfahrens nicht nur zu beeinflussen, sondern gleichzeitig auch die Haltung Prozessinteressierter gegenüber der AfD im eigenen Interesse umzudeuten. Mitte Dezember verurteilte das Landgericht den Angeklagten neben Schmerzensgeldzahlungen zu drei Jahren Gefängnis. Die linksextremistische Szene im Land kritisierte, dass das Gericht das Tatgeschehen nicht als politische Tat einordnete und nahm das Urteil zum Anlass, die gesellschaftliche Entwicklung nach rechts anzuklagen. Das "Bündnis Tatort Henstedt-Ulzburg" verkündete anschließend, dass der Kampf gegen "rechte Gewalt" und die AfD auch weiterhin verfolgt werde. 49 X-Seite der Antifa Kiel sowie X-Seite der IL Kiel, abgerufen am 28.11.2023. 50 Der Angeklagte in diesem Prozess steuerte seinen PKW am 17.10.2020 in Henstedt-Ulzburg im Rahmen einer nicht angemeldeten Gegendemonstration gegen eine AfD-Veranstaltung in vier Teilnehmende dieser Demonstration. Der Fahrer war zum Tatzeitpunkt AfD-Mitglied. Die linksextremistische Szene ordnete den Fahrer ihrer Deutung entsprechend dem rechtsextremistischen Lager zu und bewertete die Tat als politisch motivierten Mordversuch. Seite 218 VII Linksextremistische Bestrebungen Ferner fanden verstärkt Proteste gegen die Asylpolitik und die Änderung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) statt. Hier zeigte sich neben anderen Gruppierungen besonders die Turboklimakampfgruppe (TKKG) aktiv. In einem Beitrag der Gruppe vom 21. September wurde die Migrationspolitik Europas und Deutschlands etwa pauschal als "rassistisch" bezeichnet. Diese müsse, so die TKKG, nicht nur beendet werden, sondern auch die Staaten als Ganzes und damit faktisch auch die freiheitliche demokratische Grundordnung abgeschafft werden.51 In Neumünster überwogen im Berichtsjahr neben linksextremistischen Aktionen gegen die AfD vor allem solche gegen die HEIMAT/NPD. Die Antifa Neumünster setzte hierbei in weiterhin hohem Maße soziale Medien ein, um etwa Outings von potentiellen Rechtsextremisten öffentlichkeitswirksam zu kommunizieren.52 Outing Bei Outing-Aktionen werden private Daten von politischen Gegnerinnen und Gegnern gesammelt und anschließend gezielt veröffentlicht. Die Veröffentlichung erfolgt entweder im digitalen Raum über soziale Plattformen und bekannte Webseiten oder in analoger Form durch Aufkleber im öffentlichen Raum oder das Verteilen von Flyern im Umfeld der geouteten Personen. Durch diese Outing-Aktionen wird auf der einen Seite versucht, Druck über das soziale Umfeld wie Nachbarschaft oder Arbeitsumgebung auf die betreffenden Personen aufzubauen. Auf der anderen Seite dienen die Veröffentlichungen auch dazu, andere Linksextremistinnen und Linksextremisten zu animieren, gegen diese Personen aktiv zu werden. 51 Internetseite TKKG, abgerufen am 28.11.2023. 52 X-Seite Antifa Neumünster, abgerufen am 28.11.2023. Seite 219 VII Linksextremistische Bestrebungen 2.1.2 Ausblick Die Themenfelder Antifaschismus und Antirassismus gehören zu den Kernelementen linksextremistischer Ideologie. So prägten im Berichtsjahr die Aktionen in beiden Themenfeldern das linksextremistische Geschehen. Dabei diente den Linksextremistinnen und Linksextremisten das gesellschaftlich anerkannte Vorgehen gegen Rechtsextremismus wiederholt als Einfallstor, um Anschluss an die gesellschaftliche Mitte zu suchen und so die eigene extremistische Ideologie verbreiten zu können. Doch auch wenn die linksextremistische Szene gemeinsam mit dem bürgerlichen Spektrum im dargestellten Rahmen an Veranstaltungen teilnahm und im Vorwege erfolgreich mobilisierte, kann nicht festgestellt werden, dass eine erfolgreiche Beeinflussung des bürgerlichen Spektrums erfolgte, bzw. im größeren Maße Personen für die eigene politische Arbeit gewonnen werden konnten. Trotzdem werden die Themenfelder Antifaschismus und Antirassismus auch in den nächsten Jahren Schwerpunkte der linksextremistischen Betätigung sein und haben grundsätzlich auch zukünftig das Potenzial, neue Anhängerinnen und Anhänger gewinnen zu können. 2.2 Beteiligung im Rahmen der Klimabewegung Im Umfeld multipler Krisen mit weltweiter Ausstrahlung hat das Thema Klimawandel weiterhin eine große Relevanz in der gesellschaftlichen Debatte. Neben den die Gesellschaft in den vorangegangenen Jahren und aktuell dominierenden Themen wie die Coronapandemie, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und der Nahostkonflikt blieb diesem beständigen Bereich viel Raum für eine öffentliche Wahrnehmung. Unterschiedlichste Gruppen und Organisationen führten wie in den Vorjahren vielfältige DemonsSeite 220 VII Linksextremistische Bestrebungen trationen und Aktionen zu den verschiedenen Aspekten des Klimawandels durch. Neu für Schleswig-Holstein war, dass es neben kleineren, eher unbedeutenden ordnungsrechtlichen Verfehlungen nun eine Vielzahl von Taten gab, die geplant strafbare Relevanz hatten. Das allein ist noch kein Hinweis auf Extremismus. Der Verfassungsschutz bewertet Aktionen ausschließlich danach, ob sich aus ihnen Anhaltspunkte für den Verdacht ergeben, dass es sich um eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung handeln könnte. Dies war hier in aller Regel nicht der Fall. Somit war der große Teil der Klimabewegung verfassungsschutzrechtlich im Berichtsjahr nicht von Bedeutung. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass sich aus dem Spektrum der eigentlich demokratischen Klimabewegung heraus Extremismus entwickelt. Einzelne Forderungen von Klimaaktivisten gingen bereits in die Richtung, dass etwa bei der Bundesregierung zugunsten anderer zu schaffender Institutionen außerhalb der staatlichen Ebene eigene Entscheidungsspielräume eingeengt werden sollten. Staatliches Handeln könnte so möglicherweise nicht mehr über eine ununterbrochene Legitimationskette auf das Volk zurückgeführt werden. An dieser Stelle könnte sich ein Konflikt mit dem Demokratieprinzip anbahnen. 2.2.1 Entwicklungen und Aktivitäten Linksextremistinnen und Linksextremisten nutzen häufig gesellschaftlich relevante Themen, um Einfluss zu nehmen und ihre Narrative in den Diskurs einzubringen. An dieser Stelle greift die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes. Bekannt ist z.B. die starke Mitarbeit der linksextremistischen IL bei dem Projekt "Ende Gelände". Wie im Kapitel 1.2.5 beschrieben, ist der Einfluss der IL allerdings bundesweit insgesamt zurückgegangen. Seite 221 VII Linksextremistische Bestrebungen In Schleswig-Holstein lagen im Berichtsjahr keine Erkenntnisse vor, dass die hier vorhandenen Ortsgruppen eine nennenswerte Rolle im Zusammenhang mit der Klimabewegung spielten. In Schleswig-Holstein war erneut die linksextremistische TKKG die aktivste Gruppe im Bereich der Klimabewegung. Und erneut zeigte sich, dass sie entgegen ihrer Namensbezeichnung nicht nur klimapolitische Forderungen vertrat, sondern darüber hinaus in vielen linksextremistischen Themenbereichen aktiv war. Das unterscheidet sie von anderen Klimagruppen. Im Berichtsjahr beteiligte sich die TKKG sowohl am 3. März als auch am 15. September am Antikapitalistischen Block der im Ganzen nicht extremistischen Fridays for Future (FFF)-Demonstrationen. Hier arbeitete sie mit anderen linksextremistischen Akteuren wie der Antifa Kiel zusammen, mit der sie offen in den sozialen Medien für die Demos warb.53 Die Kooperation zeigt, dass sich die TKKG nicht von den linksextremistischen Positionen der anderen Gruppen distanziert, sondern diese wenigstens billigt und somit unterstützt. Deutlich wurde dieser Zusammenhalt auch in ihrem veröffentlichten Redebeitrag54 zum Antikapitalistischen Block am 15. September. Darin hob die TKKG die Gemeinsamkeit der beteiligten politischen Akteure und damit auch der extremistischen Gruppierungen hervor und forderte, sich miteinander zum Schutz vor der "Repressionsmaschinerie" zu solidarisieren. Dabei unterstützt die TKKG Protestformen, die den legalen Rahmen verlassen und übertritt selbst auch rechtliche Grenzen. So beteiligte sich die TKKG am 3. März im Rahmen der FFF-Demonstration an einer Straßenblockade, die später durch die Polizei aufgelöst werden musste.55 53 X-Seite TKKG, Beitrag vom 05.03.2023, abgerufen am 16.11.2023. 54 Internetseite TKKG, abgerufen am 30.01.2024. 55 Internetseite TKKG, abgerufen am 16.11.2023. Seite 222 VII Linksextremistische Bestrebungen Die TKKG reklamiert für sich selbst ein "kämpferisches", sprich aktionistisches, Vorgehen. Dieses führt sie planvoll und koordiniert durch, wobei sie Auseinandersetzungen mit der Polizei und strafrechtliche Folgen für die Beteiligten der Aktionen von vornherein einkalkuliert. In diesem Zusammenhang ist auch das von der Gruppe angekündigte mehrtägige Prozesstraining vom 13.-15. Oktober zu sehen. Die Veranstaltung diente dem Zweck, Betroffene in juristischen Prozessen zu schulen, um sich gegen die erhobenen "Anschuldigungen zu wehren". Beworben wurde die Schulung unter anderem damit, kreativ "der Repression in Ordnungswidrigkeitund Strafprozessen solidarisch entgegenzutreten."56 2.2.2 Ausblick In den nächsten Jahren dürfte das Thema menschengemachte Klimaveränderung weiter an Bedeutung zunehmen. Für linksextremistische Gruppierungen kann diese Entwicklung der Antrieb sein, in diesem Bereich neue Mitglieder zu gewinnen und eigene Ideologien in die Klimabewegung zu implementieren. Hauptansatzpunkt ist hierbei die Verknüpfung von Klimaschutz und politischem System. Nach Ansicht von Linksextremistinnen und Linksextremisten seien Maßnahmen gegen den Klimawandel nur in einer veränderten, antikapitalistischen Gesellschaftsform erfolgsversprechend. Die TKKG hat sich als Akteur im linksextremistischen Spektrum etabliert. Vor dem Hintergrund der bisherigen politischen Entwicklung der Gruppierung kann davon ausgegangen werden, dass sich die bisher vertretenen linksextremistischen Positionen weiter verfestigen werden. Die TKKG ist ein sehr aktiver und öffentlichkeitsaffiner Akteur im linksextremistischen Spektrum in Schleswig-Holstein. Diese Rolle wird sie voraussichtlich auch zukünftig spielen. 56 Internetseite TKKG, abgerufen am 16.11.2023. Seite 223 VII Linksextremistische Bestrebungen 2.3 Reaktionen auf den Antifa Ost-Prozess um Lina E. sowie die Urteilsverkündung Seit September 2021 fand vor dem Oberlandesgericht (OLG) Dresden (Sachsen) der Prozess gegen die Linksextremistin Lina E. und drei weitere Linksextremisten wegen des Verdachts der Bildung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung gem. SS 129 StGB statt. Am 31. Mai verurteilte das OLG die vier Angeklagten zu Haftstrafen zwischen zwei Jahren, fünf Monaten und fünf Jahren, drei Monaten (Lina E.) unter anderem wegen der Mitgliedschaft und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung ("Eisenacher Gruppe") sowie mehreren gewalttätigen Angriffen auf tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten. Der Strafprozess hatte bundesweit eine anhaltend große Bedeutung für die linksextremistische Szene. Aufgrund der direkten Betroffenheit hatte er eine emotionalisierende Wirkung auf die Szene, so dass es bundesweit zu vielen Resonanzstraftaten wie Sachbeschädigungen und Brandstiftungen sowie zu fortlaufenden Solidaritätsaktionen kam. Im Prozessverlauf entwickelte sich der Name der Hauptangeklagten Lina E. dabei zu einer Symbolkraft für den "antifaschistischen Kampf" sowie die vermeintliche Repression des Staates gegen Antifaschistinnen und Antifaschisten. In Schleswig-Holstein fand im Vorfeld des Prozessendes hingegen nur eine beiläufige Thematisierung statt. Es konnten vereinzelte Graffiti wie "Free Lina E." und Solidaritätsgrüße im Internet festgestellt werden. Das Urteil wird von der linksextremistischen Szene als starke Repressalie wahrgenommen und als ein weiterer Angriff des Staates auf antifaschistische Strukturen gewertet. Es entspricht ihrem antifaschistischen Selbstverständnis, Gewalt gegen Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten im antifaschistischen Kampf Seite 224 VII Linksextremistische Bestrebungen anzuwenden, sobald der Staat ihrer Ansicht nach versagt und die rechtsextremistische Szene nicht ausreichend bekämpft. Anlässlich der Urteilsverkündung am 31. Mai fanden bundesweit Versammlungen statt, die zum Teil unfriedlich verliefen. In Kiel rief die Antifa Kiel zu einer Solidaritätsdemonstration für die Verurteilten auf, an der 130 Personen des linksextremistischen, aber auch des bürgerlichen Spektrums teilnahmen. Vereinzelt wurden Pyrotechnik und Rauchfackeln gezündet, die Demo blieb jedoch friedlich. In Lübeck kam es hingegen zu einer unfriedlichen Reaktion der linksextremistischen Szene. Hierbei formierte sich am Abend des 31. Mai ein unangemeldeter Demonstrationszug, der sich mit ca. 50 schwarz gekleideten, zum Teil vermummten Teilnehmenden überwiegend aus dem undogmatischen Spektrum durch die Lübecker Innenstadt bewegte. Hierbei kam es vermehrt zu Sachbeschädigungen und dem Einsatz von Rauchtöpfen und Feuerwerkskörpern gegen eingesetzte Polizeikräfte. Die Polizei nahm daraufhin Personenfeststellungen vor. Im Nachgang zu dieser Demonstration fanden in Lübeck mehrere Veranstaltungen statt, welche sich an die Teilnehmenden der Demonstration richteten. Die Anarchistische Gruppe Lübeck (AGL) organisierte gemeinsam mit dem Ermittlungsausschuss57 Hamburg einen Vortrag zum Thema "Was tun bei Kontakt mit der Polizei". Zusätzlich organisierten die Gruppen La Rage und Basisantifa Lübeck am 16. September eine Soliparty für die sogenannten Betroffenen der Demonstration am Tag der Urteilsverkündung. Einen weiteren Vortrag organisierte die AGL gemeinsam mit dem Ermittlungsausschuss Hamburg zum Thema "Verhalten bei Hausdurchsuchungen". 57 Ermittlungsausschüsse sind Strukturen im Themenbereich Antirepression, die insbesondere vor, während und nach konkreten Aktionen den Betroffenen von ihrer Ansicht nach staatlicher Repression unterstützend zur Seite stehen. Seite 225 VII Linksextremistische Bestrebungen Die bloße Menge an Veranstaltungen für die am 31. Mai polizeilich festgestellten Personen zeigt eindrücklich den intensiven Zusammenhalt der linksextremistischen Szene, wenn ein gewisser Verfolgungsdruck durch staatliche Stellen droht. Für den Samstag nach der Urteilsverkündung rief die linksextremistische Szene Monate vorher den Tag X aus, um mit starken Protesten und Solidaritätsaktionen zu reagieren. Frühzeitig war erkennbar, dass mit erheblichen Ausschreitungen zu rechnen sein würde. Die für den 3. Juni angemeldete zentrale Großdemonstration in Leipzig wurde verboten, eine kleine angemeldete Demonstration diente wie von den Sicherheitsbehörden erwartet als Ersatzveranstaltung insbesondere für gewaltorientierte Autonome. Dem Aufruf zu dieser Demo folgten 1 500 Personen. Aus dieser Versammlung heraus kam es zu massiven Angriffen auf die Polizei. Eine Gruppe von gut 1 300 Personen wurde in der Folge von der Polizei umschlossen, wodurch die Aktionsintensität der linksextremistischen Szene eingedämmt werden konnte. Auch aus Schleswig-Holstein beteiligten sich Kleinstgruppen und Einzelpersonen an diesem Protestgeschehen. In Schleswig-Holstein selbst fanden zum Tag X am 3. Juni keine dezentralen Aktionen wie in anderen Bundesländern statt. Ein Grund für das insgesamt zurückhaltende Aktionsgeschehen in Schleswig-Holstein um das Antifa Ost-Verfahren liegt in der von der linksextremistischen Szene befürchteten sogenannten Repression des Staates. Bereits nach dem G20-Gipfel in Hamburg im Jahr 2017 wirkte sich der drohende Ermittlungsund Verfolgungsdruck durch staatliche Stellen stark auf die Aktionsbereitschaft der linksextremistischen Szene aus. Seite 226 VII Linksextremistische Bestrebungen 3 Mitgliederentwicklung der linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen Jahr 2019 2020 2021 2022 2023 Marxisten-Leninisten und 375 405 410 410 430 sonstige revolutionäre Marxisten (dogmatischer Linksextremismus) Autonome, Postautonome 325 325 325 325 315 und sonstige undogmatische Linksextremisten Gesamt Land 700 730 735 735 745 Davon gewaltorientiert 335 340 340 340 340 Mitgliederentwicklung der linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen in Schleswig-Holstein 2019-2023 Seite 227 Seite 228 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Seite 229 Seite 230 VIII Extremismus mit Auslandsbezug 1 Organisationen 1.1 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Mitgliederstärkstes und aktivstes Beobachtungsobjekt im Bereich des Extremismus mit Auslandsbezug in Schleswig-Holstein ist die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) mit ihren Teilund Nebenorganisationen. Logo der PKK Die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistane - PKK) wurde 1978 gegründet. Ursprünglich kämpfte sie für einen eigenen Kurdenstaat in den traditionellen kurdischen Siedlungsgebieten, die innerhalb der Staatsgebiete der Türkei, Syriens, des Irak und des Iran liegen. Inzwischen setzt sich die PKK für eine unter dem Begriff "Demokratischer Konföderalismus" propagierte Selbstverwaltung der Kurdinnen und Kurden unter Vorherrschaft der PKK ein. In den traditionellen kurdischen Siedlungsgebieten unterhält die PKK eine mehrere tausend Personen starke Guerillatruppe, die sogenannten Volksverteidigungskräfte (Hezen Parastina Gel - HPG) und eine terroristisch agierende Splittergruppe, die Freiheitsfalken Kurdistans (Teyrebazen Azadiya Kurdistan - TAK). Die syrische Zweigorganisation der PKK, die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekitiya Demokrat - PYD) unterhält ebenfalls eine kämpfende Truppe, die Volksverteidigungseinheiten (Yekineyen Parastina Gel - YPG). Seite 231 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Die HPG liefern sich seit 1984 mit Unterbrechungen militärische Gefechte mit den türkischen Streitkräften, HPG und TAK verüben in der Türkei Anschläge auf Staatsbedienstete und Zivilisten. Zuletzt bekannte sich die PKK zu einem Selbstmordanschlag vor dem türkischen Innenministerium in Ankara am 1. Oktober des Berichtsjahres, bei dem zwei Polizisten verletzt wurden. Die Europaführung der PKK tritt unter der Organisationsbezeichnung Demokratischer Gesellschaftskongress der Kurd*innen in Europa (Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen Li Ewropa - KCDK-E) auf. Der PKK-Gründer, Abdullah Öcalan, verbüßt in der Türkei seit 1999 eine lebenslange Haftstrafe. Trotzdem bleibt er die wichtigste Identifikationsfigur der Partei und steht im Zentrum eines ausgeprägten Personenkults. In der Türkei hat sich die PKK seit 2016 mit anderen linksextremistischen Parteien - unter anderem der Marxistischen Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) - zu einem Bündnis namens Vereinte Revolutionäre Bewegung der Völker (Halklarin Birlesik Devrim Hareketi (HBDH)) zusammengeschlossen. Die "Stadtguerilla" der HBDH verübt in der Türkei regelmäßig Anschläge, zum Teil auch mit Todesopfern. 1.1.1 Aktuelle Entwicklungen Mit Verbotsverfügung nach dem Vereinsgesetz vom 22. November 1993 untersagte das Bundesministerium des Innern (BMI) die Betätigung der PKK sowie ihrer Teilund Nebenorganisationen in Deutschland. Seit 2002 steht die PKK auf der EU-Liste der terroristischen Organisationen. Am 11. Mai 2022 beantragten deutsche Seite 232 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Anwälte im Namen der PKK-Führung beim BMI förmlich die Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots. Über diesen Antrag wurde bis zum Ende des Berichtsjahres noch nicht entschieden. Deutsche Strafgerichte haben in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die PKK eine ausländische terroristische Vereinigung darstellt und sich in ihrem bewaffneten Kampf nicht auf völkerrechtliche Rechtfertigungsgründe berufen kann. Ermittlungen werden gegen Funktionäre der PKK wegen der Bildung terroristischer Vereinigungen (SSSS 129 a, b StGB) geführt. Ungeachtet des vereinsrechtlichen Betätigungsverbots und der Strafverfolgung hat es die PKK immer wieder verstanden, in Deutschland ihre Tätigkeit heimlich und in Form von Ersatzund Tarnorganisationen fortzusetzen. Deutschland hat für die PKK insbesondere eine Bedeutung als Rückzugsraum und Spendengeldquelle. In Deutschland verfügt die PKK über einen konspirativ und illegal operierenden, hierarchisch strukturierten Funktionärsapparat. Nach einem parteiinternen System ist die gesamte Fläche der Bundesrepublik aufgeteilt in Gebiete, denen in der Regel jeweils ein Kader als Gebietsverantwortlicher zugeteilt wird. Der größte Teil Schleswig-Holsteins bildet zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern das Gebiet Kiel. Der südliche Landesteil Schleswig-Holsteins rund um Pinneberg und Elmshorn wird dem PKK-Gebiet Hamburg zugerechnet. Zu den typischen Aufgaben der Gebietsverantwortlichen zählen zum Beispiel die Organisation des Verkaufs von Publikationen und Eintrittskarten für Propagandaveranstaltungen, die Spendensammlung und die Mobilisierung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern für parteibezogene Veranstaltungen. Um die Verfolgung durch Sicherheitsbehörden zu erschweren, wechseln diese Kader meist jährlich das Zuständigkeitsgebiet. Seite 233 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Insgesamt werden in Deutschland rund 15 000 Personen - davon 700 in Schleswig-Holstein - zum festen Anhängerstamm der PKK gezählt. Dieser ist in Deutschland nahezu flächendeckend in Vereinen organisiert. Als Dachorganisationen über die lokalen Vereine fungieren der bundesweite Dachverband Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland (KON-MED) und fünf regionale Föderationen. Die PKK-Basisvereine in Norddeutschland werden durch die Föderation Demokratisches Gesellschaftszentrum der Kurdinnen in Nord Deutschland e. V. (Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistaniyan le Bakure Alman - FED-DEM)58 betreut. In Schleswig-Holstein existieren zwei Vereine, die als örtliche Anlaufstellen für die Anhängerschaft und die Kader der PKK wirken: der Verein Kurdisches Gemeindezentrum Schleswig-Holstein e. V.59, der durch Namensänderung aus dem Verein Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Kiel e. V. (Demokratik Kürt Toplum Merkezi Kiel - DKTM Kiel) hervorgegangen ist (im Folgenden weiterhin als DKTM Kiel bezeichnet), sowie das Demokratische Kurdische Gemeinde Zentrum Neumünster e. V. (DKTM Neumünster).60 Das DKTM Kiel organisiert alljährlich Veranstaltungen wie Demonstrationen, Informationsstände, Feiern zu Jahresund Gedenktagen, die überwiegend Teil bundesoder europaweiter Kampagnen der PKK sind. Über die Veranstaltungen des DKTM Kiel wird regelmäßig in der PKK-nahen Tageszeitung Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik - YÖP) und auf den Internetseiten der Firat Nachrichtenagentur (Ajansa Nuceyan a Firate - ANF) berichtet. 58 VR 24091 beim Amtsgericht Hamburg. 59 VR 6464 KI beim Amtsgericht Kiel, Namensänderung eingetragen am 16.11.2018. 60 VR 6262 KI beim Amtsgericht Kiel. Seite 234 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Das DKTM Neumünster entfaltete, wie bereits in den Vorjahren, so auch im Berichtsjahr keine öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten. Eingebettet in den Verein DKTM Kiel existiert ein sogenannter Volksrat aus Aktivistinnen und Aktivisten, welche die Kader bei ihren Aufgaben unterstützen. Die syrische Schwesterorganisation der PKK, die PYD, hat in Deutschland eine eigene Struktur. In Schleswig-Holstein hat die PYD allerdings nach wie vor keine eigene Vereinsstruktur, ihre Vertreterinnen und Vertreter arbeiten angegliedert an den PKK-Basisverein in Kiel, dem DKTM. Die PKK-Jugendorganisation Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung (Tevgera Ciwanen Welatparez u Soresger -TCS) beteiligte sich im Berichtsjahr in Kiel an einem zweitägigen so genannten "Langen Marsch". Der "Lange Marsch" (Kurdisch: "Mesa Direj") ist eine Aktionsform der PKK-Jugendorganisation, bei der die Teilnehmenden unter Mitführen von Plakaten und Fahnen und Skandieren von Parolen mehrtägige Demonstrationsmärsche unternehmen. Enge Kontakte zum DKTM Kiel unterhält auch der Frauenverein Jiyana Jin - FrauenLeben in Kiel e. V.61 1.1.2 Ausblick Da die PKK auf die Situation der kurdischen Bevölkerung vorrangig in der Türkei und Nordsyrien, aber auch im Irak und Iran fokussiert ist, wird sie voraussichtlich auf internationale Konflikte nur reagieren, soweit diese Konflikte ihre eigenen Interessen tan61 VR 6561 KI des Amtsgerichts Kiel. Seite 235 VIII Extremismus mit Auslandsbezug gieren. Die Strategie der PKK wird also weiterhin maßgeblich von den politischen Entwicklungen im Nahen Osten abhängen. Sollten die oberste Parteiführung und die Guerillatruppen durch türkische Militäroperationen in existenzielle Bedrängnis geraten, könnte als mögliche Reaktion eine Radikalisierung von Teilen der PKK-Anhängerschaft drohen. Wie bisher wird sich die hiesige Anhängerschaft auch künftig an allen Protestkampagnen, Spendensammlungen und sonstigen Aktivitäten der Zentralorganisation beteiligen. Zu beobachten bleibt, ob und ggf. wie sich das Protestverhalten der PKK-Anhängerschaft in Deutschland verändern wird, sobald eine rechtskräftige Entscheidung über den Antrag auf Aufhebung des PKK-Betätigungsverbotes vorliegen wird. Sollte der inzwischen 75jährige PKK-Gründer Abdullah Öcalan in türkischer Haft versterben, rechnen die Sicherheitsbehörden mit einer flächendeckenden Protestwelle und Gewalttaten insbesondere gegen türkische Einrichtungen in ganz Europa. 1.2 Türkischer Linksextremismus, insbesondere Marxistische Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) In Deutschland sind diverse türkische linksextremistische Gruppierungen aktiv. Die meisten dieser Gruppen nutzen Deutschland als Rückzugsraum, um ihre Mutterorganisationen logistisch und finanziell zu unterstützen. Um diese Vorgehensweise nicht zu gefährden, agieren sie hierzulande weitgehend friedlich und unauffällig. Eine dieser Organisationen ist die Marxistische Leninistische Kommunistische Partei (MLKP). Seite 236 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Logo der MLKP Gegründet wurde die MLKP im Jahr 1994 in der Türkei. Ziel der Organisation ist ein revolutionärer Gesellschaftsumbruch in der Türkei und die Gründung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung. Sie beruft sich dabei auf die Lehren von Marx und Engels, ergänzt durch ideologische Leitlinien von Lenin und Stalin. Die Organisation bekennt sich bis heute zum bewaffneten Kampf in der Türkei und ist Teil des revolutionären Bündnisses HBDH (siehe Ziff. 1.1). 1.2.1 Entwicklungen und Aktivitäten Die MLKP entsandte unter anderem Freiwillige nach Nordsyrien, wo diese unter dem Oberkommando der YPG kämpften. Im Kampf Gefallene werden von der Organisation, auch in Deutschland, als Märtyrerinnen und Märtyrer gefeiert. Deutschlandweit verhält sich die MLKP weitestgehend konspirativ und gewaltfrei. In Schleswig-Holstein zeigt die MLKP immer wieder eine gewisse Verbundenheit zur PKK und zum deutschen Linksextremismus. Dies wird unter anderem an der gemeinsamen Teilnahme bei Demonstrationen und Veranstaltungen deutlich. Seite 237 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Logo Young Struggle Als Jugendverband der MLKP im europäischen Raum tritt seit 2010 die Organisation Young Struggle (YS) auf. YS verfolgt das Ziel, eine internationalistische revolutionäre Jugendorganisation aufzubauen. Während die Mutterorganisation MLKP zum überwiegenden Teil aus türkischstämmigen Mitgliedern besteht, spricht YS ein wesentlich breiteres Personenspektrum an. In Teilen wirkt YS daher als Bindeglied für Linksextremistinnen und Linksextremisten verschiedenster Herkunft. Auf ihrer Homepage schreibt YS unter anderem über sich selbst: "In unserem Kampf gegen das System ist die Konfrontation mit den Herrschenden und dem Kapital unausweichlich."62 1.2.2 Ausblick In einzelnen anderen Bundesländern, vor allem in Berlin, hat sich im Berichtsjahr vor allem die Jugendorganisation YS durch die Beteiligung an pro-palästinensischen Demonstrationen als aktive und intensiv mit anderen extremistischen Kräften vernetzte Teilorganisation der MLKP präsentiert. Da YS erst in der zweiten Jahreshälfte öffentliche Aktivitäten in Schleswig-Holstein entfaltete, bleibt abzuwarten, ob sich daraus mittelfristig für YS und die gesamte MLKP in Schleswig-Holstein ein stärkerer Zulauf und ein höheres Aktivitätsniveau entwickeln werden. 62 Internetseite YS, zuletzt abgerufen am 23.11.2023. Seite 238 VIII Extremismus mit Auslandsbezug 1.3 Türkischer Rechtsextremismus/Ülkücü-Bewegung Logo der Ülkücü-Bewegung Die Ülkücü-Bewegung - im Wortsinn: Idealistenbewegung - ist nicht homogen, sie umfasst die organisationsgebundenen und nicht-organisationsgebundenen Anhängerinnen und Anhänger des türkischen Rechtsextremismus. Ihre Anhängerschaft bezieht sich auf eine Ideologie, welche auf Nationalismus und Rassismus basiert. Die verschiedenen Ausprägungen dieser Ideologie haben sich über die Jahre und innerhalb der verschiedenen Organisationen in unterschiedlicher Weise entwickelt. Der übersteigerte Nationalismus wird deutlich durch eine ständige Forderung nach einer Vereinigung aller Turkvölker innerhalb eines muslimischen Großtürkischen Reiches Turan. Oft geht diese Forderung einher mit einer Herabwürdigung anderer religiöser und ethnischer Gruppen, insbesondere Kurden, Armenier und Juden. Die Ülkücü-Bewegung ist von einem ständigen Freund-Feind-Bild getrieben, in welchem für jedes negative Ereignis die "inneren" sowie "äußeren Feinde" der Türkei verantwortlich gemacht werden. 1.3.1 Aktuelle Entwicklungen In Schleswig-Holstein wird die Anhängerschaft des türkischen Rechtsextremismus auf 400 Personen geschätzt. Der größte Ülkücü-Dachverband in Deutschland ist die Föderation der Türkisch-DeSeite 239 VIII Extremismus mit Auslandsbezug mokratischen Idealistenvereine (Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu - ADÜTDF), die 1978 in Frankfurt am Main gegründet wurde. Es handelt sich hierbei um eine Auslandsvertretung der türkischen extrem-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetci Hareket Partisi - MHP). Die Vereine in Deutschland und deren Dachverbände kennzeichnet ein streng hierarchischer Aufbau. So ist die Umsetzung von Anweisungen aus der Türkei bis in die Vereine gewährleistet. Um ihre Ideologie weiter verbreiten zu können, sind die Vereine bemüht, breite Teile des sozialen Lebens ihrer Mitglieder abzudecken, beispielsweise durch regelmäßige, auch öffentliche Veranstaltungen in den Bereichen Kultur, Religion oder Sport. Die Vereine, welche häufig eigene Räumlichkeiten unterhalten, finanzieren sich durch Geldspenden und Mitgliedsbeiträge. Regionale Schwerpunkte des organisierten türkischen Rechtsextremismus in Schleswig-Holstein sind die Städte Kiel, Neumünster und Lübeck. Ein großer Teil der Ülkücü-Anhängerschaft ist unorganisiert und tritt öffentlich selten in Erscheinung. Hier findet oft ein Austausch über soziale Netzwerke statt, was häufig zu einer sehr durchmischten politischen und religiösen Weltsicht führt. 1.3.2 Ausblick Die in Verbänden organisierten türkischen Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten werden weiterhin bestrebt sein, der deutschen Öffentlichkeit keine Anlässe für eine erneute Verbotsdiskussion63 zu bieten, und sich in ihrer Außendarstellung unauffällig und gemäßigt präsentieren. Durch die Verbreitung rassistischen 63 Laut einem Bundestagsbeschluss vom 18. November 2020 wurde die Bundesregierung aufgefordert, Organisationsverbote gegen die Vereine der Ülkücü-Bewegung zu prüfen. Bislang sind keine entsprechenden Organisationsverbote ergangen. Seite 240 VIII Extremismus mit Auslandsbezug und antisemitischen Gedankenguts innerhalb ihrer Community erzeugen sie jedoch weiterhin Vorbehalte gegen andere Bevölkerungsgruppen in Deutschland und behindern die Integration türkisch-stämmiger Menschen in die deutsche Gesellschaft. Sollten sich im politischen Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei Differenzen ergeben, so könnte sich die Anhängerschaft des türkischen Rechtsextremismus dazu instrumentalisieren lassen, türkische Interessen in Deutschland vehement zu vertreten. 1.4 Säkularer palästinensischer Extremismus Der säkulare palästinensische Extremismus umfasst ein breites Spektrum an aktiven Organisationen und Parteien. Hierzu gehört unter anderem die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP). Gegründet wurde die PFLP im Jahr 1967 mit einer klar marxistisch-leninistischen Ideologie. In erster Linie lehnt die PFLP das Existenzrecht Israels ab und verfolgt bis heute das Ziel, mit Hilfe von Waffengewalt und terroristischen Anschlägen Israel zu schädigen oder sogar zu vernichten. In Deutschland agiert die PFLP klandestin und betätigt sich in der Regel nicht gewalttätig, sondern betreibt lediglich Propaganda im Sinne der eigenen Ideologie und versucht, politische Unterstützung sowie Spenden zur Unterstützung ihrer Strukturen und des bewaffneten Kampfes in Nahost zu generieren.64 Während die PFLP in den ersten Jahren durchaus auch in Europa terroristische Anschläge verübte, war die Organisation in den vergangenen Jahren kaum noch öffentlich oder gewalttätig wahrnehmbar. 64 Auszug aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, siehe https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-979156, zuletzt abgerufen am 16.01.2024: Seite 241 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Da in Schleswig-Holstein keine eigenen Strukturen der PFLP existieren, wird hier die PFLP voraussichtlich auch künftig öffentlich nicht in Erscheinung treten. 2 Entwicklungen und Aktivitäten im Berichtsjahr Sowohl die PKK-Anhängerschaft als auch die türkischen Linksund Rechtsextremistinnen und -extremisten in Deutschland beziehen ihre Themen im Wesentlichen aus der türkischen Innenund Außenpolitik. Da alle diese Beobachtungsobjekte durch europaweite, hierarchische Strukturen beeinflusst werden, muss die Situation in Schleswig-Holstein im internationalen Kontext betrachtet werden. Letzteres gilt auch für die PFLP. 2.1 Aktivitäten der PKK Die PKK-Anhängerschaft in Schleswig-Holstein beteiligte sich an den jährlichen Großveranstaltungen der PKK-nahen Organisationen in Deutschland und im benachbarten Ausland, insbesondere an Großdemonstrationen in Paris und Straßburg, an der zentralen Newrozfeier65 in Frankfurt am Main/Hessen am 25. März und am 31. Internationalen Kurdischen Kulturfestival am 9. September ebenda. Eine Großdemonstration gegen das PKK-Verbot am 18. November in Berlin, in deren Verlauf es einige kleinere Ausschreitungen gab, wurde ebenfalls von PKK-Anhängerinnen und Anhängern aus Schleswig-Holstein besucht. Das 45. Jubiläum der Parteigründung wurde am 26. November in einem Veranstaltungssaal in Kiel gefeiert. 65 Das kurdische Neujahrsfest Newroz wird von der PKK umgedeutet als Symbol des kurdischen Befreiungskampfes. Es wird von den PKK-nahen Organisationen in Deutschland traditionell mit einer zentralen Großveranstaltung gefeiert, bei der sich folkloristische Elemente mit politischer Propaganda vermischen. Seite 242 VIII Extremismus mit Auslandsbezug 2.1.1 Finanzierung PKK-naher Organisationen Die PKK finanziert sich durch monatliche Spenden ihrer Anhängerschaft, durch den Verkauf von Publikationen und von Eintrittskarten für Veranstaltungen, in erster Linie aber durch eine jährliche Spendenkampagne. Dabei schätzt die Organisation die jeweilige finanzielle Leistungsfähigkeit und legt im Voraus die Spendensumme für jede kurdisch-stämmige Familie fest. Das Einsammeln der Spenden - in Deutschland jährlich Gesamtsummen im unteren zweistelligen Millionenbereich - verläuft konspirativ, weil sowohl das Einsammeln als auch das Geben von Geldspenden an die PKK verboten und strafbewehrt sind. Gegenüber den potenziellen Spenderinnen und Spendern geben die Spendensammelnden häufig an, das Geld sei für die Ausrüstung und den Lebensunterhalt der Guerillatruppen in den Kampfgebieten im Nahen Osten bestimmt. Es wird allerdings auch für die Aufrechterhaltung der PKK-Strukturen in Europa und für die PKK-nahen Medien verwendet. 2.1.2 Reaktionen auf Ereignisse in der Türkei Bei den türkischen Parlamentsund Präsidentschaftswahlen im Mai konnten türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Deutschland in den diplomatischen Vertretungen der Türkei ihre Stimmen abgeben. Die Kieler Anhängerschaft der PKK, der MLKP und anderer türkischer oppositioneller Gruppen unterstützte im Wahlkampf die türkische Grüne Linkspartei (Yesil Sol Parti - YSP) mit Informationsständen in Kiel und Bustransfers zur Stimmabgabe im Türkischen Generalkonsulat Hamburg. Den knappen Wahlsieg des türkischen Staatspräsidenten Erdogan und seiner nationalistisch-rechtskonservativen Allianz feierte deren Anhängerschaft mit Autokorsos in Neumünster und Rendsburg, wobei in Rendsburg laut Angaben der Anwohnerschaft gegenüber der Polizei auch Flaggen der türkischen Rechtsextremisten gezeigt worden sein Seite 243 VIII Extremismus mit Auslandsbezug sollen. Die PKK-Anhängerschaft in Schleswig-Holstein äußerte hingegen keine öffentlich wahrnehmbaren Reaktionen. Überschattet wurden die Wahlen von einem verheerenden Erdbeben am 6. Februar, das vor allem in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Gebieten der Türkei und Syriens viele Städte zerstörte und annähernd 60 000 Todesopfer forderte. Die PKK-nahen Organisationen in Deutschland riefen umgehend zu Spenden für die Erdbebenopfer an den Kurdischen Roten Halbmond (Heyva Sor a Kurdistane - HSK) auf. Das oberste Führungsgremium der PKK verkündete wegen des Erdbebens einen vorübergehenden Waffenstillstand der Guerilla in der Türkei, der allerdings im Juni "aufgrund der ununterbrochenen Angriffe des türkischen Staates" wieder beendet wurde.66 Am 1. Oktober des Berichtsjahres verübten zwei Selbstmord-Attentäter mit Spreng-sätzen am Körper einen Anschlag auf Regierungsgebäude in Ankara/Türkei. Bei dem Angriff wurden zwei türkische Polizisten verletzt. Auf der Website der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF veröffentlichte die PKK eine Tatbekennung und drohte mit weiteren Anschlägen: "Heute (...) hat eine Einheit unserer 'Brigade der Unsterblichen' eine Aufopferungsaktion vor dem türkischen Innenministerium durchgeführt. Diese Aktion war ausdrücklich für die Eröffnung des Parlaments und gegen ein Gebäude in dessen Nähe vorgesehen, das als Massakerund Folterzentrum gilt. (...) Sollte das AKP/ MHP-Regime seine genozidal und faschistisch motivierten Verbrechen nicht einstellen, werden die legitimen Aktionen im Sinne der revolutionären Gerechtigkeit weitergehen."67 66 YÖP 13.06.2023, "KCK beendet Waffenruhe". 67 "NPG: Vorfall in Ankara 'Aktion von Fedai-Team' der Guerilla" vom 01.10.2023, in ANFdeutsch, abgerufen am 09.10.2023. Seite 244 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Als unmittelbare Reaktion auf den Anschlag intensivierten die türkischen Streitkräfte ihre grenzüberschreitenden Militäroperationen im Nordirak und in Nordsyrien gegen die Stützpunkte der PKK-Guerilla und der obersten PKK-Führungsebene. Erneut protestierten Anhängerinnen und Anhänger der PKK und der PYD mit zahlreichen Versammlungen in vielen europäischen Städten gegen diese türkischen Militäreinsätze. U. a. wurde auch in Kiel - gemeinsam mit Gruppen aus dem linken Spektrum - demonstriert. Obwohl die PKK-nahen Medien unverändert Siegesrhetorik verbreiten, beurteilt die PKK-Anhängerschaft in Deutschland die militärische Lage der Guerilla inzwischen eher pessimistisch. 2.1.3 Wirken der PKK in die deutsche Öffentlichkeit, Rekrutierung Wie in den Vorjahren richteten deutsche und kurdische Angehörige eines so genannten "Defend-Kurdistan-Bündnisses" gemeinsam eine Gedenkveranstaltung für einen jungen deutschen Kieler aus, der als Guerillakämpfer der HPG am 16. Oktober 2019 bei einem türkischen Luftangriff in Syrien getötet wurde. Das Märtyrergedenken an "Sehid Andok Cotkar", so der Kampfname dieses Gefallenen, gehört mittlerweile zu den festen Ritualen der Kieler PKK-Anhängerschaft und erfüllt diese augenscheinlich mit Stolz.68 Bei "Defend Kurdistan against Turkish Occupation" handelt es sich nach eigener Darstellung um eine internationale Initiative von "fast 150 Politikerinnen, Menschenrechtlerinnen, Journalistinnen, Akademikerinnen, Parlamentsabgeordnete[n], politische[n] Aktivistinnen, Ökologinnen und Feministinnen aus ganz Europa", die im Jahr 2021 gegründet wurde. In einer Deklaration im Internet 68 ANFdeutsch, 23.10.2023: "Würdiges Gedenken zum vierten Todestag von Andok Cotkar", zuletzt abgerufen am 16.01.2024.. Seite 245 VIII Extremismus mit Auslandsbezug fordert sie u. a. "Unterstützung aller kurdischen Parteien, Institutionen und der Gesellschaft für den Widerstand der Guerilla und ihre geschlossene Haltung gegen die türkische Besatzung"69; bekennt sich also ausdrücklich zum bewaffneten Kampf der PKK. In der PKK-nahen Presse wird häufig über Aktivitäten berichtet, bei denen Angehörige lokaler "Defend Kurdistan"-Gruppen mit der PKK-Anhängerschaft kooperieren. In Kiel waren dies im Berichtsjahr z. B. Demonstrationen gegen türkische Militäroperationen, ein Informationsstand mit Öcalan-Büchern und die Gedenkfeier für einen gefallenen PKK-Guerillakämpfer. Die Gedenkfeier für "Andok Cotkar" war im Berichtsjahr eingebunden in eine Veranstaltungsreihe "Kurdische Kulturwochen 2023 - Der andere Blick" in Kiel, die von einer Beratungsstelle für Migrantinnen und Migranten und anderen öffentlichen Stellen organisiert wurde. Einige der Ankündigungen im Veranstaltungsprogramm der "Kurdischen Kulturwochen 2023" zitierten Ideologieelemente der PKK, benannten Projekte und Guerillakämpfer der PKK als vorbildhaft und als repräsentativ für kurdische Lebensart und umschrieben die PKK verharmlosend als "kurdische Freiheitsbewegung" oder "kurdische Frauenbewegung". Neben der o. g. Gedenkveranstaltung betrifft dies insbesondere den Vortrag "Frauen in der kurdischen Guerilla" einer deutschstämmigen ehemaligen Guerillakämpferin, die aktuell als Autorin in Hamburg lebt, und eine Lesung aus den Lebenserinnerungen der PKK-Mitbegründerin Sakine Cansiz. Bei drei Veranstaltungen trat Asya Abdullah, die Mitbegründerin und Co-Vorsitzende der syrischen PKK-Schwesterpartei PYD, als prominente Gastrednerin auf. Die Sachverhalte zeigen, dass es der PKK immer wieder gelingt, unter Ausnutzung anschlussfähiger Themen Teile ihrer extremisti69 Internetseite defend-kurdistan, aufgerufen am 12.02.2024. Seite 246 VIII Extremismus mit Auslandsbezug schen Ideologie auch öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. Denn die Berichterstattung in der PKK-nahen Presse legt nahe, dass eine kritische Einordnung der jeweiligen Beiträge nicht stattfand, sondern die Narrative der PKK unwidersprochen verbreitet wurden. Es besteht die Gefahr, dass durch die Verharmlosung des terroristischen und militärischen Kampfes der PKK und durch die unkritische Darstellung der Herrschaft ihrer syrischen Schwesterpartei PYD in der Region Nord-/Ostsyrien ("Rojava") neue Interessentinnen und Interessenten an das Gedankengut der PKK herangeführt und im Extremfall für die PKK rekrutiert werden. Im Berichtsjahr häuften sich Todesmeldungen von Angehörigen der PKK-Guerilla, die seinerzeit in Deutschland rekrutiert worden waren, darunter auch mehrere so genannte "Internationalistinnen" und "Internationalisten". Dies zeigt, dass sich die Rekrutierungsbemühungen der PKK inzwischen nicht mehr allein auf kurdische Jugendliche richten, sondern an alle politisch links orientierten jungen Menschen, die für Ideale von Kameradschaft, Solidarität, Gerechtigkeit und Abenteuer ansprechbar sind. Beim "internationalistischen" Spektrum handelt es sich um Personen aus dem linksextremistischen bzw. anarchistischen Bereich aus zahlreichen Ländern, die sich entsprechend ihrer ideologischen Orientierung des "revolutionären Internationalismus" für unterdrückte Völker und soziale Gruppen weltweit engagieren. Im Rahmen der so genannten Kurdistan-Solidarität unterstützen sie die kurdischen Autonomiebestrebungen und solidarisieren sich mit der PKK, bis hin zu vereinzelten Beitritten zu den kämpfenden Guerillaeinheiten. "Internationalistische" Gefallene werden sowohl von der PKK als auch der MLKP als Märtyrer verehrt und intensiv in die Organisationspropaganda einbezogen. Seite 247 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Die Hinterbliebenen autochthoner deutscher "Märtyrerinnen" und "Märtyrer" werden durch die PKK-nahen Organisationen intensiv betreut und in deren Medien besonders herausgestellt, weil man sich durch sie einen stärkeren Einfluss auf die deutsche Öffentlichkeit erhofft und wohl auch kurdische Familien unter moralischen Druck setzen kann, sich erst recht für die kurdische Sache zu engagieren. 2.2 Aktivitäten der Ülkücü-Bewegung Für die in Vereinen organisierte Ülkücü-Szene ist ein aktives Vereinsleben von zentraler Bedeutung. Gemeinsame und öffentliche Aktivitäten dienen dazu, die Mitglieder auch weiterhin an den Verein zu binden und attraktiv für potenzielle neue Mitglieder zu wirken. Öffentliche Veranstaltungen sind für die Vereine unter anderem notwendig, um Spendengelder zu generieren. Im laufenden Berichtsjahr konnten die Vereine in Kiel und Lübeck nach Beendigung der Corona-bedingten Beschränkungen jeweils wieder ein Aktivitätsniveau erreichen wie in den Jahren vor der COVID-19-Pandemie. So konnte im Berichtsjahr beispielsweise wieder der "Türkische Tag" im Kieler Werftpark ausgerichtet werden. Hierbei handelt es sich um ein großes, allgemein wahrnehmbares Fest mit kulturellen und politischen Darbietungen. Solche Veranstaltungen sind eine Möglichkeit, die eigene Ideologie in einer harmlos wirkenden Form einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Ein in Neumünster beheimateter Verein, welcher im Jahr 2022 seine Räumlichkeiten aufgeben musste, konnte auch im Berichtsjahr keine neuen Räumlichkeiten zur Entfaltung der Vereinsaktivitäten anmieten. Da es bereits in den vergangenen Jahren zur Auflösung von organisationsgebundenen Ülkücü-Strukturen kam, hat die Schließung von Vereinsräumlichkeiten zu einer weiteren Zersplitterung der örtlichen türkisch-rechtsextremistischen Szene geführt. Aktivitäten müssen seitdem im privaten Raum in einem wesentlich Seite 248 VIII Extremismus mit Auslandsbezug kleineren Rahmen stattfinden. Dies führt zwar dazu, dass Teilen der Szene keine Räume für Versammlungen und Zusammenkünfte mehr zur Verfügung stehen, allerdings sinkt dadurch weder das Personenpotenzial der Szene, noch ändern sich die politischen Überzeugungen von Anhängerinnen und Anhängern des türkischen Rechtsextremismus. Da die in Kiel, Lübeck und Neumünster bestehenden Vereine allesamt dem Dachverband ADÜTDF angehören, bleibt der Neumünsteraner Verein auch ohne eigene Räumlichkeiten in die bundesweiten Strukturen eingebunden. Im Südosten der Türkei führte am 6. Februar ein Erdbeben zu einer massiven humanitären Katastrophe. Weil die Aktivitäten der Ülkücü-Szene zu einem erheblichen Teil von der aktuellen Situation in der Türkei abhängen, sorgte auch dieses Ereignis für eine Reaktion der organisierten Vereine. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen sammelten die Vereine aktiv Spenden für Hilfsmaßnahmen. Im Mai des Berichtsjahres fanden in der Türkei die Wahlen für das Parlament sowie das Präsidentenamt statt. Hierfür mobilisierten die organisierten Ülkücü-Vereine in Schleswig-Holstein hauptsächlich intern für eine Teilnahme an den Wahlen und für eine Stimmenabgabe zugunsten der Mutterpartei MHP. 2.3 Aktivitäten der MLKP Im Berichtsjahr entfalteten die MLKP-Anhängerinnen und -Anhänger ihre üblichen Aktivitäten, wie die Teilnahme an Demonstrationen zu Themen, welche durchaus eine gesellschaftliche Akzeptanz erfahren, und die Organisation von internen Veranstaltungen. So organisierte die MLKP auch im Berichtsjahr mehrere interne Veranstaltungen, bei denen der gefallenen Kämpferinnen und Kämpfer der Partei gedacht wurde. Alle Teilund Nebenorganisationen der MLKP beteiligen sich an der Märtyrerverehrung. Hierbei zeigt sich Seite 249 VIII Extremismus mit Auslandsbezug immer wieder, dass der bewaffnete Kampf für die Mitglieder einen erheblichen Stellenwert hat. Im September setzte sich der Bund Sozialistischer Frauen (SKB) mit einer öffentlichen Aktion für das Recht auf sichere Abtreibungen ein. Des Weiteren organisierte der SKB eine Spendenaktion für die Opfer des Erdbebens in der Türkei und Syrien im Februar des Berichtsjahres. Solche Spendensammlungen sorgen auf der einen Seite für ein starkes Gefühl des Zusammenhalts und dienen auf der anderen Seite dazu, dass die Partei in den betreffenden Regionen Hilfe leisten kann, welche von der örtlichen Bevölkerung daraufhin positiv mit der MLKP in Verbindung gebracht wird. In den vergangenen Jahren hatten immer wieder vom Jugendverband YS organisierte Sommercamps in Schleswig-Holstein stattgefunden, ohne dass YS darüber hinaus Aktivitäten in Schleswig-Holstein entfaltete. Im Berichtsjahr hingegen fand kein Sommercamp in Schleswig-Holstein statt. Allerdings mehrten sich die Aktivitäten von YS im Raum Kiel, was darauf schließen lässt, dass auch eine Ortsgruppe dieses Jugendverbandes in Schleswig-Holstein aktiv ist. Bei einer Betrachtung der Aktionen der MLKP sowie ihrer Vorfeldund Nebenorganisationen zeigt sich, dass bestimmte Themen, welche unverfänglich erscheinen, öffentlich präsent gemacht werden und andere Themen eher in internen Veranstaltungen thematisiert werden. So richteten sich Veranstaltungen zum Thema "Recht auf sichere Abtreibungen" oder das Gedenken an die Opfer eines Terroranschlags in Suruc/Türkei an die breite Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite organisierte die MLKP rein interne Veranstaltungen zum Gedenken an im Kampf gefallene oder zur Unterstützung von inhaftierten MLKP-Mitgliedern. Die MLKP entfaltet ihre Aktivitäten in Schleswig-Holstein seit mehreren Jahren konstant und mit einem regionalen Schwerpunkt auf den Großraum Kiel. Seite 250 VIII Extremismus mit Auslandsbezug 2.4 Reaktionen aus dem säkularen auslandsbezogenen Extremismus auf internationale Konflikte Auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagierte die PKK kaum und vermied eine einseitige Parteinahme. Auch aus der türkisch-rechtsextremistischen Szene in Schleswig-Holstein waren im Berichtszeitraum in diesem Kontext keine nennenswerten Reaktionen mehr zu beobachten. Durch die islamistische Terrororganisation Hamas kam es am Morgen des 7. Oktober zu einem Überraschungsangriff auf israelisches Territorium, begleitet von großangelegtem mehrtägigem Beschuss mit Raketen auf Israel. Hierbei tötete und folterte die Hamas zahllose Menschen und entführte Menschen jeden Alters als Geiseln. Die israelischen Streitkräfte reagierten daraufhin mit einer weitausgedehnten militärischen Operation in Gaza mit ebenfalls zahllosen Todesopfern und Verletzten. In Deutschland riefen die Ereignisse eine breiten Palette an Reaktionen hervor, auch aus den unterschiedlichsten extremistischen Kreisen. In Schleswig-Holstein wurden zahlreiche Demonstrationen zum Thema abgehalten, anfänglich größtenteils pro-israelisch. Im Laufe der militärischen Offensive der israelischen Streitkräfte wurden die Zahlen an Demonstrationen, welche sich pro-palästinensisch positionierten, umfangreicher. Eine maßgebliche Beeinflussung von pro-israelischen oder pro-palästinensischen Demonstrationen durch Organisationen des säkularen Extremismus mit Auslandsbezug konnte in Schleswig-Holstein im Berichtszeitraum nicht festgestellt werden. Seite 251 VIII Extremismus mit Auslandsbezug 3 Mitgliederentwicklung Jahr 2019 2020 2021 2022 2023 Linksextremistische 700 700 700 700 700 Personen kurdischer Volkszugehörigkeit Linksextremistische 15 15 15 15 15 Personen türkischer Volkszugehörigkeit Rechtsextremistische 400 400 400 400 400 Personen türkischer Volkszugehörigkeit Gesamt 1 115 1 115 1 115 1 115 1 115 Mitgliederentwicklung im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug in Schleswig-Holstein 2019-2023 Seite 252 VIII Extremismus mit Auslandsbezug Seite 253 Seite 254 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr Seite 255 Seite 256 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr 1 Überblick Ausländische Nachrichtendienste betreiben mit hohem organisatorischem und finanziellem Aufwand Spionage und Sabotage in Deutschland, denn das politisch gut vernetzte, wissenschaftsund wirtschaftsstarke Deutschland ist ein wichtiges Aufklärungsziel. Die Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein geht aufgrund ihres gesetzlichen Auftrages gemäß SS 5 Abs. 1 Nr. 2 LVerfSchG jedem Spionageverdacht nach, unabhängig, von welchem Staat er ausgeht. Alle sachund personenbezogenen Informationen über sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Geltungsbereich des Grundgesetzes werden gesammelt und ausgewertet. Hierbei arbeitet der schleswig-holsteinische Verfassungsschutz in länderübergreifenden Fällen mit dem Bundesamt und den Landesämtern für Verfassungsschutz, sowie der Wirtschaft zusammen. Regelmäßiger Austausch und Vernetzung gewährleisten eine koordinierte und professionelle Aufgabenerfüllung. Die schleswig-holsteinische Spionageabwehr ist in folgende Fachbereiche gegliedert und stellt dadurch eine zielgerichtete Bearbeitung ihrer umfangreichen Aufgaben sicher: * Spionageabwehr * Proliferationsbekämpfung * Wirtschaftsschutz * Cyberabwehr. Seite 257 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr Die Intervention ausländischer Staaten in Deutschland zur Beeinflussung und illegitimen Durchsetzung ihrer Interessen unterhalb der Schwelle einer offenen militärischen Auseinandersetzung wird als hybride Kriegsführung bezeichnet oder insgesamt auch unter dem Begriff der hybriden Bedrohung zusammengefasst. Dabei kommen unterschiedlichste Taktiken zum Einsatz, wie zum Beispiel Desinformationskampagnen und Cyberangriffe. Die Beobachtung und das Berichten über entsprechende Aktivitäten ist Teil der gemeinsamen Bearbeitung dieses komplexen Themengebietes durch deutsche Sicherheitsbehörden. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat dieses Arbeitsfeld besondere Bedeutung gewonnen (siehe 2). Die Spionageabwehr Schleswig-Holsteins bearbeitet außerdem das Thema der Proliferationsbekämpfung. Ziel ist die Aufklärung und Verhinderung von Versuchen sogenannter Risikoländer, Massenvernichtungswaffen (ABC-Waffen) und deren Trägersysteme zu beschaffen. Produkten, welche sowohl zivil als auch militärisch nutzbar sind, kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu (sog. Dual-Use Güter), da diese vermeintlich einfacher zu beschaffen sind. Aber auch wissenschaftlicher Fortschritt auf anderen Gebieten ist ein begehrtes Aufklärungsziel. Staaten wie der Iran, Nordkorea, Pakistan, Syrien, Russland und China bemühen sich nach wie vor, entsprechende Produkte, Technologien und wissenschaftliches Know-how zu erlangen. Die Verfassungsschutzbehörden tragen dazu bei, derartige Beschaffungsaktivitäten aufzuklären und zu verhindern (siehe 3). Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt der Spionageabwehr in Schleswig-Holstein ist der Wirtschaftsschutz. Eine der Hauptaufgaben in diesem Tätigkeitsfeld ist es, hiesige Unternehmen vor geheimen, Seite 258 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr illegalen Informationsabflüssen und Manipulationen durch ausländische Spionage zu bewahren. Der Fachbereich Wirtschaftsschutz ist durch regelmäßigen Austausch und Informationsangebote an die Wirtschaft ein gut vernetzter Ansprechpartner (siehe 4). Cyberspionage und -sabotage stellen eine besondere Herausforderung im Arbeitsfeld der Spionageabwehr dar. Entsprechende Aktivitäten gehören zum Standardwerkzeug zahlreicher Nachrichtendienste. Auch im Berichtsjahr war wieder eine Zunahme der Bedrohungen im Cyber-Raum zu beobachten. Dazu trugen nicht zuletzt auch die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine bei. Die Überprüfung von Hinweisen zu möglichen elektronischen Angriffen und insbesondere die Sensibilisierung von gefährdeten Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen in Schleswig-Holstein sind wichtige Aufgaben der Cyberabwehr (siehe 5). Insgesamt unterstützt der schleswig-holsteinische Verfassungsschutz in Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder die schleswig-holsteinischen Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Verbände durch Aufklärung und Information und leistet so einen Beitrag zum Schutz der heimischen Wirtschaft. Der fortlaufende Kontakt und Austausch mit Ansprechpartnern aus Behörden, Wirtschaft, Forschung und Militär gewährleistet eine effektive und bedarfsorientierte Aufgabenerfüllung und ist ein stetiges Anliegen der schleswig-holsteinischen Spionageabwehr (siehe 6). 2 Spionageabwehr Die Bedrohung durch Spionage endete nicht mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991. Spionage wird von einer Vielzahl von Staaten betrieben. Sie umSeite 259 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr fasst den Prozess der illegitimen Informationsbeschaffung durch den Einsatz menschlicher Quellen (Agenten), aber auch durch technische Mittel (Cyberangriffe). Im Fokus stehen dabei schützenswerte Informationen, die öffentlich nicht zugänglich sind. Spionage kann auch den Versuch beinhalten, Entscheidungsträger und Meinungsbildner zu beeinflussen, um die Interessen einer ausländischen Macht zu fördern. Zunächst ist das Sammeln von öffentlich zugänglichen Informationen eine Routinetätigkeit von ausländischem diplomatischem Personal, Militärattaches und Handelsorganisationen. Diese nutzen offene Quellen wie die Medien, Konferenzen, diplomatische Veranstaltungen und Messen sowie offene Kontakte mit Vertretern der Regierung des Gastlandes. Auf diese Weise können sie die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entwicklungen in ihrem Gastland verfolgen und ihre eigene Regierung informieren. Damit helfen sie ihren Regierungen bei der Gestaltung ihrer Außen-, Handelsund Militärpolitik. Bei der Spionage dagegen geht es darum, mit verdeckten Mitteln nichtöffentliche Informationen zu beschaffen. Ausländische Nachrichtendienste interessieren sich im Besonderen für sogenannte Verschlusssachen. Dabei handelt es sich um Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die im öffentlichen Interesse geheim gehalten werden müssen. Sie werden entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung als Verschlusssachen eingestuft. Verschlusssachen werden in erster Linie deshalb geheim gehalten, weil ihre Offenlegung die nationale Sicherheit beeinträchtigen, das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes gefährden oder den internationalen Beziehungen schaden könnte. Seite 260 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr 2.1 Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat Russland ein erhöhtes Aufklärungsinteresse auch an der Bundesrepublik Deutschland. Dies hängt sowohl mit der Rolle der Bundesrepublik Deutschland als offener Unterstützer der Ukraine, als auch mit den verhängten Sanktionen gegen Russland zusammen. Die Gefahr durch russische Spionage hat sich erheblich erhöht. Das Aufklärungsund Sabotageinteresse Russlands richtet sich sowohl gegen militärische und politische Ziele, aber auch Wirtschaftsunternehmen liegen dabei im Fokus. Seit Kriegsbeginn mehren sich Cyberangriffe, die Russland zugeschrieben werden. Der Cyberraum bietet eine große Angriffsfläche für die Vorbereitung und Durchführung von Spionageund Sabotageaktivitäten. Speziell für KRITIS-Unternehmen bedeuten die Ausforschung und die Instrumentalisierung der eigenen Internet-Infrastruktur durch fremde Nachrichtendienste eine immens hohe und stetig zunehmende Gefährdungslage. Unter Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) versteht man nach Definition des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) "Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere drastische Folgen eintreten würden". KRITIS-Unternehmen sind von wesentlicher Bedeutung für die Aufrechterhaltung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen aus den folgenden Sektoren und Branchen: Seite 261 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr - Energie - Informationstechnik und Telekommunikation - Transport und Verkehr - Gesundheit - Medien und Kultur - Wasser - Ernährung - Finanzund Versicherungswesen - Siedlungsabfallentsorgung - Staat und Verwaltung Sicherheitsexperten warnen, dass Kritische Infrastrukturen in Europa, insbesondere auch in Deutschland, potenzielle Ziele für mögliche Anschläge sein könnten. Zielobjekte können Pipelines, aber auch Stromund Internetleitungen sein. Die Folgen eines Angriffs auf kritische Infrastrukturen können weitreichend sein und zu schwerwiegenden Ausfällen und Versorgungsengpässen führen. In diesem Zusammenhang seien die Beschädigungen bzw. die Lecks an der Gaspipeline Balticconnector zwischen Estland und Finnland im Oktober des Berichtsjahres genannt. Auch wenn die genauen Ursachen für die Schäden ähnlich wie bei Nord-Stream 1 und 2 Ende September 2022 noch nicht einwandfrei verifiziert sind, ist zu befürchten, dass diese Vorfälle im Zusammenhang mit dem russisch-ukrainischen Krieg stehen. Seite 262 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr Im Rahmen der European Union Military Assistance Mission Ukraine (EUMAM UA) werden ukrainische Soldaten mit der Beteiligung von elf EU-Staaten ausgebildet. 24 EU-Staaten sind in dieser Mission aktiv. Deutschland stellt eines der beiden Ausbildungskommandos der Mission. Daher findet ein großer Teil der Ausbildung durch die Bundeswehr in Deutschland statt. So wurden in Schleswig-Holstein auf dem Truppenübungsplatz Putlos ukrainische Soldaten unter anderem auf den Flugabwehrpanzer Gepard geschult. Im September besuchten außerdem Air Chiefs (Kommandanten der jeweiligen Luftwaffe) von 19 NATO-Staaten den Truppenübungsplatz Todendorf, um an der Vorstellung des neuen hochmodernen Raketenabwehrsystems IRIS-T teilzunehmen. Im Zusammenhang mit diesen Ausbildungsmaßnahmen besteht die große Gefahr, dass Schleswig-Holstein noch stärker in den Fokus russischer Nachrichtendienste rückt. 2.2 Desinformation/Deepfakes Unter Deepfakes versteht man manipuliertes Bild-, Video-, oder Audiomaterial, das durch entsprechende Software, mit Hilfe künstlicher Intelligenz erzeugt wird und dadurch täuschend echt wirkt. Durch die stetige technische Weiterentwicklung wird es zunehmend schwieriger, das manipulierte Material von echtem Material zu unterscheiden.70 Durch Deepfakes können beispielsweise Videos von öffentlichen Personen, wie zum Beispiel Politikern erzeugt und ihnen Aussagen, die sie niemals getätigt haben, in den Mund gelegt werden. So können Deepfakes sehr gut zur Verbreitung von Falschinformationen und zur Manipulierung der öffentlichen Meinung genutzt werden. Durch Nutzung dieser Technologie können außerdem auch 70 Zum vertiefenden Hintergrund zu Deepfakes vgl. auch Kapitel X.3. Seite 263 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr demokratische Prozesse gezielt beeinflusst und die Bevölkerung verunsichert werden. Besonders über soziale Medien lassen sich diese manipulierten Videos schnell und einfach verbreiten und erreichen einen großen Personenkreis. Daher stellen sie eine große Gefahr für die öffentliche Meinungsbildung und die Gesellschaft dar. Ein medienwirksames Beispiel aus dem November ist ein Deepfake, in welchem Bundeskanzler Olaf Scholz angeblich über ein AfD-Verbotsverfahren spricht. Dieses Video wurde von einer Satireund Politikinitiative veröffentlicht. Im März wurde ein Video veröffentlicht, in dem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vermeintlich die ukrainischen Streitkräfte dazu aufruft, die Waffen niederzulegen und sich der russischen Armee zu ergeben. Beide Videos wurden zwar schnell als Deepfakes identifiziert, sind aber geeignet, schwerwiegende Folgen zu haben. Die Liste der Beispiele, dass Deepfakes von den verschiedensten Akteuren genutzt werden, könnte noch zahlreich fortgesetzt werden. Auch wenn die Ziele, die mit der Veröffentlichung solcher manipulierten Medien verfolgt werden, sehr unterschiedlich sein können, ist Desinformation zumindest immer eine Auswirkung des Einsatzes von Deepfakes, wenn nicht sogar genau das Ziel dessen. Desinformation wird das gezielte Verbreiten von Falschinformationen genannt, dessen Ziel ist, die Gesellschaft, einzelne Gruppen oder Einzelpersonen im Sinne politischer oder wirtschaftlicher Interessen zu täuschen. Selten bezeichnet "Desinformation" auch die beschriebene Falschinformation selbst. Seite 264 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr 3 Proliferationsbekämpfung Proliferation ist die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (atomar, biologisch und chemisch) und entsprechender Trägertechnologie sowie des zu deren Herstellung benötigten Wissens. Der Begriff Proliferationsbekämpfung bezieht sich demgemäß auf die Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägersystemen sowie der Gegenstände und Materialien, die zu ihrer Entwicklung beitragen können. Die Sicherheitsbehörden in der Bundesrepublik Deutschland konzentrieren ihre Bemühungen zur Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen auf die Regime, die als Bedrohung für die innere Sicherheit angesehen werden. So genannte proliferationsrelevante Staaten wie Iran, Nordkorea, Syrien und Pakistan versuchen, ihr konventionelles Waffenarsenal durch die Herstellung von Massenvernichtungswaffen zu erweitern. Dazu gehören aber auch die Länder, die sich weigern, den Atomwaffensperrvertrag71 zu unterzeichnen, Staaten, die geheime Waffenentwicklungsprogramme verfolgen, und diejenigen, die gegen die Resolutionen der Vereinten Nationen zur Begrenzung der Aufrüstung mit Atomwaffen verstoßen. In erster Linie geht es darum, die Lieferung von Waren, die für die Herstellung von Massenvernichtungswaffen benötigt werden, an proliferationsrelevante Staaten zu verhindern. Hierzu arbeiten die Sicherheitsbehörden in Deutschland mit einer Vielzahl anderer nationaler und internationaler Regierungsstellen sowie mit der Privatwirtschaft und akademischen Einrichtungen zusammen. Waren und 71 Im Atomwaffensperrvertrag verzichten die Unterzeichnerstaaten, die nicht im Besitz von Kernwaffen sind, auf den Erwerb von Atomwaffen. Seite 265 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr Ausrüstungen, für die eigentlich keine Ausfuhrgenehmigungen erforderlich sind, können dennoch durch Bestimmungen und nationale Rechtsvorschriften kontrolliert oder der Genehmigungspflicht unterworfen werden, wenn sie für ein Massenvernichtungswaffenprogramm verwendet werden oder verwendet werden könnten. Viele der bedenklichen Güter können sowohl für zivile als auch für militärische oder nukleare Zwecke verwendet werden. Sie werden als Dual-Use Güter, d.h. Güter mit doppeltem Verwendungszweck bezeichnet. Für die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle zuständig. Eine Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure haben mittlerweile aber illegale Beschaffungsnetzwerke gegründet und Methoden zur Umgehung von nationalen und internationalen Bekämpfungsstrategien entwickelt. Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es, die Risiken für schleswig-holsteinische Hersteller und Zulieferer aufzuzeigen, die unwissentlich an der Lieferung von Waren, Software oder Schulungen an Einrichtungen beteiligt sein könnten, die mit bedenklichen Regimen zusammenarbeiten oder auf deren Geheiß handeln. Dabei ist der Verfassungsschutz aber auch auf die Mithilfe von schleswig-holsteinischen Unternehmen angewiesen. Diese können durch sachdienliche Hinweise zu einer erfolgreichen Bekämpfungsstrategie beitragen. Deutsche bzw. schleswig-holsteinische Unternehmen und Forschungseinrichtungen sind in vielen Hochtechnologiesektoren, u.a. erneuerbare Energien, Biotechnologie, Luftund Raumfahrt und Oberflächentechnologie, weltweit führend. Auch das deutsche Hochschulsystem gehört zu den besten der Welt und bietet fortgeschrittene Abschlüsse und innovative Forschungsaktivitäten in den Naturund Ingenieurwissenschaften. All diese Faktoren machen Deutschland, aber auch Schleswig-Holstein zu einem potenziellen Seite 266 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr Ziel für Proliferateure. Der Modus Operandi ist dabei äußerst vielfältig und reicht von Anfragen für Forschungskooperationen oder Laborbesichtigungen über Aufträge für fachliche Gutachten bis hin zur Finanzierung von Studienprogrammen oder Stipendien. Nicht hinter jeder Kontaktanbahnung verbirgt sich ein unlauteres Ziel, doch eine gewisse Skepsis, ob ausländische Nachrichtendienste damit möglicherweise Spionage und Proliferation verfolgen, ist angebracht. 3.1 Mehrjährige Haftstrafe wegen Verstoß gegen das Iran-Embargo der EU Die EU hatte bereits 2015 im Zusammenhang mit dem iranischen Atomprogramm eine Reihe von Ausfuhrbeschränkungen erlassen. Einem deutsch-iranischen Unternehmer aus Norderstedt wurde vorgeworfen, Forschungsund Laborausrüstung im Wert von ca. einer halben Million Euro ohne die erforderliche Genehmigung des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) in den Iran ausgeführt zu haben. Nachdem am 30. August 2022 Anklage durch die Bundesanwaltschaft erhoben worden war, verurteilte der Staatsschutzsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts den Angeklagten am 11. Januar des Berichtsjahres zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte gewerbsmäßig gegen Ausfuhrbeschränkungen der EU verstoßen hatte. Den Gewinn aus dem rechtswidrigen Geschäft zog das Gericht als Tatertrag ein. 3.2 Gastwissenschaftler und Know-How-Transfer Für den wissenschaftlichen Fortschritt sind Forschungskooperationen und ein permanenter fachlicher Austausch von enormer Bedeutung. Deshalb ist die Bundesrepublik Deutschland an einer Seite 267 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr Vielzahl von internationalen Austauschprogrammen beteiligt. Dies beinhaltet auch zahlreiche Forschungsaufenthalte von Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftlern in deutschen Einrichtungen. Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler halten sich für einige Wochen, Monate, oder sogar mehrere Jahre an Forschungsinstituten und Hochschulen auf. In den Laboren der Institute und Hochschulen forschen sie eigenständig oder in Gruppen und nehmen an Fachbesprechungen teil. Sie gewinnen Einblicke in bislang nicht publizierte Forschungsansätze, Technologien oder Methoden. Somit besteht die Gefahr, dass die Wissenschaftsfreiheit und offene Forschungskultur in Deutschland von proliferationsrelevanten Staaten für einen illegalen Knowhow-Transfer durch Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler ausgenutzt wird. Das so erworbene Knowhow und innovative Technologien können dann in proliferationsrelevanten Ländern für militärische Zwecke genutzt werden. Illegale Wissensabschöpfungen sind nicht die Regel, jedoch ist die Gefahr eines illegalen Knowhow-Transfers für Hochschulen und Forschungsinstitute häufig nur schwierig abschätzbar. Um auf diese Gefahr aufmerksam zu machen, hat der Verfassungsschutz Schleswig-Holstein im Berichtsjahr 16 Sensibilisierungsgespräche mit betreuenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Forschungsinstituten, Hochschulen und Universitäten geführt. Im Rahmen der Sensibilisierungsgespräche wurde auch das China Scholarship Council (CSC) thematisiert. Das CSC untersteht dem chinesischen Erziehungsministerium und vergibt, analog zum Deutsch Akademischen Austauschdienst (DAAD) Stipendien an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studentinnen und Studenten. Chinesische Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler mit einem entsprechenden CSC-Stipendium sind in der Regel sehr gut ausgebildet und durch das Vollstipendium entSeite 268 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr stehen für die aufnehmenden Institute und Hochschulen keinerlei Kosten. Daher ist die Zusammenarbeit mit CSC Stipendiatinnen und Stipendiaten für viele deutsche, auch in Schleswig-Holstein ansässige Hochschulen und Forschungseinrichtungen sehr attraktiv. Ein CSC-Stipendium erhalten jedoch nur staatstreue, ideologisch geprägte Chinesinnen und Chinesen. Weitere verpflichtende Bestandteile des CSC-Stipendiums sind die Rückkehr nach China und ein Austausch mit der chinesischen Botschaft im Zielland. Dies bietet den chinesischen Nachrichtendiensten die Möglichkeit zur Abschöpfung dieses Personenkreises. In diesem Zusammenhang gibt es bereits die ersten Reaktionen. Demnach hat die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg nun die Zusammenarbeit mit dem CSC eingeschränkt, um einem möglichen Wissensabfluss nach China vorzubeugen. Auch wenn es in Schleswig-Holstein noch keine derartigen Vorkommnisse gab, sieht der Verfassungsschutz die Gefahr, dass entsprechendes Knowhow aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen nach China abfließen könnte. 4 Wirtschaftsschutz und Wirtschaftsspionage Der Wirtschaftsstandort Schleswig-Holstein ist vom Mittelstand geprägt. Der überwiegende Teil der hiesigen Unternehmen sind kleine und mittelständische (KMU) mit weniger als 250 Beschäftigten. Die KMU-basierte Wirtschaft hat den Ruf, innovationsfreudig zu sein und Spitzentechnologie in den Bereichen Medizintechnik, maritime Wirtschaft und Ernährungswirtschaft, Informationsund Kommunikationstechnologie, Maschinenbau, erneuerbare Energien und Gesundheitswirtschaft zu bieten. Im Lauf der vergangenen Seite 269 Jahre haben sich in Schleswig-Holstein auch international erfolgreiche "Hidden-Champions" etabliert. Hidden Champions sind relativ unbekannte, aber sehr erfolgreiche Unternehmen, die in ihrer Branche Marktführer sind. Sie sind oft Familienunternehmen, die in Nischenmärkten tätig sind und einzigartige Produkte herstellen. Das vorhandene Knowhow ist nicht nur für andere Unternehmen, sondern auch für ausländische Nachrichtendienste von großem Interesse. Um Daten und Informationen abzugreifen oder Systemausfälle zu erreichen, werden immer häufiger Cyberund Hackerangriffe auf die digitale Infrastruktur von Wirtschaftsunternehmen und Behörden verübt. Das Ziel von Wirtschaftsspionage ist es, durch diese Informationen und Störungen einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen, Kosten in der Produktion und Entwicklung einzusparen und Technologiedefizite aufzuholen. Davon sind nicht nur große Unternehmen, sondern besonders auch KMU betroffen. Um dem Informationsabfluss durch Wirtschaftsspionage vorzubeugen, setzt der Verfassungsschutz Schleswig-Holsteins besonders auf Präventionsund Sensibilisierungsmaßnahmen, sowie einen stetigen Austausch mit Wirtschaftsunternehmen und anderen relevanten Einrichtungen. Dies erfolgt beispielsweise durch Vorträge zu verschiedenen Themen rund um Wirtschaftsschutz, Wirtschaftsspionage und Cybersicherheit, in denen die fachliche Expertise des Verfassungsschutzes an Unternehmen weitergegeben wird. 4.1 Wirtschaftsschutztag durchgeführt Am 30. August fand in den Räumlichkeiten der IHK zu Kiel ein Wirtschaftsschutztag mit mehr als 110 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Ziel war es, Unternehmen und Organisationen für die Bedrohung durch Spionage und Sabotage zu sensibilisieren Seite 270 und eine Plattform für Austausch und Diskussion zu schaffen. Auch der schleswig-holsteinische Verfassungsschutz beteiligte sich mit einem Vortrag zum Thema "Elektronische Angriffe im Zeitalter der Globalisierung - Mittel und Methoden ausländischer Nachrichtendienste". Die Veranstaltung fand im Rahmen der Sicherheitspartnerschaft Schleswig-Holstein statt. Die Sicherheitspartnerschaft Schleswig-Holstein hat sich zum Ziel gesetzt, durch Kooperation und Zusammenarbeit zwischen der Wirtschaft und den staatlichen Sicherheitsbehörden, den Informationsaustausch und die Sensibilisierung zu Sicherheitsthemen und Gefahren in der Wirtschaft zu erhöhen. Die Partner der Sicherheitspartnerschaft sind die Arbeitsgemeinschaft der Industrieund Handelskammern Flensburg, zu Kiel und zu Lübeck (IHK SH), die Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft Norddeutschland e.V. (ASWN), die Digitale Wirtschaft Schleswig-Holstein e.V. (DiWiSH) sowie das Ministerium für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport des Landes Schleswig-Holstein mit der Verfassungsschutzund der Polizeiabteilung sowie dem Landespolizeiamt und dem Landeskriminalamt. 4.2 Anbahnungsgespräche für eine Städtepartnerschaft zwischen Qingdao und Kiel Relevant für den Wirtschaftsschutz war auch die im Frühjahr beginnende Diskussion über eine mögliche Städtepartnerschaft zwischen Kiel und der chinesischen Metropole Qingdao. Zwischen der chinesischen Hafenstadt Qingdao und Kiel besteht seit 2002 eine Städtefreundschaft. China äußerte den Wunsch, diese Beziehung zu einer formalen Städtepartnerschaft auszuweiten. Der Hauptausschuss der Stadt Kiel, sowie die Ratsversammlung stimmten dafür, Gespräche mit Qingdao zu führen und eine Kooperation in BereiSeite 271 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr chen wie Umweltund Meeresschutz, Nachhaltigkeit und Wissenschaft zu prüfen. Bisher beruhte die Städtefreundschaft im Wesentlichen auf dem gemeinsamen Thema Segelsport. Unter anderem das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) brachte Sicherheitsbedenken hinsichtlich einer solchen Städtepartnerschaft zum Ausdruck, da am Wirtschaftsstandort in Kiel eine Vielzahl an hochinnovativen und sensiblen Rüstungsunternehmen ansässig ist. China steht im Verdacht, solche Städtepartnerschaften für illegitime nachrichtendienstliche Aktivitäten zu missbrauchen und schützenswertes Know-How abzuschöpfen. Außerdem wiesen Kritiker darauf hin, dass Städtepartnerschaften in China nicht kommunal bestimmt, sondern strategisch von staatlicher Stelle gesteuert werden. In Kiel sind drei Ostsee-Marinestützpunktkommandos der Bundeswehr ansässig. Daneben werden High-Tech U-Boote gebaut und wird an neuen Technologien, unter anderem für die Marine, geforscht. Insofern besteht über den Segelsport hinaus eine Vergleichbarkeit zwischen Kiel und Qingdao, da sich dort der Stützpunkt der U-Boot-Flotte der chinesischen Marine, sowie das Zentrum der chinesischen Unterwasser-Kriegsführung befinden. Im August wurde von einer möglichen Städtepartnerschaft wieder Abstand genommen. 5 Cyberabwehr Im Rahmen der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder erhielt die Spionageabwehr des Landes Schleswig-Holstein auch im Berichtsjahr wieder Hinweise auf Verdachtsfälle von Wirtschaftsspionage und -sabotage durch elektronische Angriffe (Cyberangriffe) auf Unternehmen, Behörden und Bildungseinrichtungen aus Schleswig-Holstein. Diese Hinweise wurden geprüft und die Betroffenen im Rahmen des gesetzlichen Auftrages informiert bzw. sensibilisiert. Seite 272 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine finden auch vermehrt Cyberangriffe auf staatliche Stellen statt. Als Cyberangriffe werden gezielt durchgeführte Maßnahmen mit und gegen Infrastrukturen der Informationstechnologie (IT) bezeichnet. Auch schleswig-holsteinische Stellen waren davon betroffen. So fand im April ein DDoS Angriff auf das Landesportal Schleswig-Holstein statt. Dieser Angriff sorgte dafür, dass die Internetpräsenz aufgrund einer Überlastung der Server eine Zeit lang nicht mehr erreichbar war. Der Angriff konnte schnell unter Kontrolle gebracht werden. Pro-russische Hackergruppen wie "Noname057 (16)" und "Killnet" werden mit derartigen Angriffen in Verbindung gebracht. Bei Überlastungsangriffen (DDoS - Distributed Denial of Service) wird ein Server gezielt mit so vielen Anfragen geflutet, dass das angegriffene System die Aufgaben nicht mehr bewältigen kann und im schlimmsten Fall zusammenbricht. Hierbei kommen anstelle von einzelnen Systemen eine Vielzahl von unterschiedlichen Systemen in einem großflächig koordinierten Angriff zum Einsatz. Durch die hohe Anzahl der gleichzeitig angreifenden Rechner sind die Angriffe besonders wirksam. In der Folge sind die angegriffenen Server mit ihren Internetseiten oder -diensten nicht mehr erreichbar. Diese Entwicklungen zeigen, dass Bürgerinnen und Bürger, Behörden und Unternehmen gut beraten sind, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um erfolgreiche Angriffe auf ihre Daten und Systeme zu verhindern oder aber im Ernstfall vorbereitet zu sein, um nicht ausgeliefert und kopflos, sondern planvoll und besonnen zu handeln. Dafür empfiehlt sich beispielsweise ein geeignetes Risikomanagement sowie eine Notfallplanung. Risikomanagement zielt darauf ab, Risiken zu identifizieren, zu bewerten, zu bearbeiten und zu überwachen. Dafür muss zunächst analysiert werden, in welchen Bereichen akute Risiken bestehen und wo jeweils die wichtigen und sensiblen Bereiche liegen. Oftmals ist es beispielsweise das Seite 273 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr bestehende Knowhow, welches den Wert eines Unternehmens ausmacht und daher besonders schützenswert ist. Nachdem die wichtigsten Güter identifiziert sind, können Maßnahmen ergriffen werden, um diese Teile besonders zu schützen oder abzusichern. Solche Maßnahmen können sehr vielfältig sein und müssen regelmäßig dahingehend überprüft werden, ob sie noch effektiv sind oder an einen veränderten Schutzbedarf angepasst werden müssen. Beispiele können die Einrichtung technischer Analyseverfahren, die Festlegung von Meldewegen oder eine sehr restriktive Handhabung bei der Vergabe von Berechtigungen und Zugängen sein. Im Rahmen eines Notfallplans sollte außerdem vorher möglichst genau festgelegt werden, welche Maßnahmen im Falle eines Cyberangriffs zu treffen sind, um ein planvolles Handeln im Ernstfall sicherzustellen. 5.1 Aktivitäten ausländischer Dienste: Phishing In den letzten Jahren konnte eine deutliche Zunahme von Phishing-Angriffen beobachtet werden. Die am weitesten verbreitete Methode ist dabei das E-Mail-Phishing. Die Angreifer fälschen dafür den Absender der Mail, um ihr Legitimität zu verleihen. Häufig werden dafür E-Mailadressen von bekannten E-Mail-Anbietern verwendet. Die gefälschten Mails werden immer professioneller. Sie enthalten eine persönliche Anrede und sehen echten Mails der seriösen Anbieter sehr ähnlich. Sie sind oftmals nur an kleinen Fehlern oder einem ungewöhnlichem Schreibstil zu erkennen, aber auch am zweifelhaften Inhalt selbst, der allerdings oft erst bei näherer Betrachtung und nach reiflicher Überlegung deutlich wird. Unter Phishing versteht man den Diebstahl persönlicher, vertraulicher Daten durch gefälschte E-Mails, Textnachrichten, Telefonanrufe oder Websites. Dabei orientieren sich die Angreifer oft an Seite 274 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr aktuellen Ereignissen oder Themen, die Verunsicherung bei den Empfängern auslösen sollen. Es wird ein Vorwand wie Datenschutzanfragen, Sicherheitsüberprüfungen, Datenaktualisierung oder Kontoeinschränkungen genutzt, der den Empfänger dazu verleiten soll, auf den, in der Mail enthaltenen, maliziösen Link zu klicken. Die Empfänger sollen dann vertrauliche Daten wie Passwörter eingeben, um angeblich ihre Kundendaten zu aktualisieren. In den Mails wird beispielsweise damit gedroht, dass ansonsten eine Sperrung des Kundenkontos innerhalb eines kurzen Zeitraums erfolgen werde. So soll bei den Empfängern ein Handlungsdruck erzeugt werden, damit diese ohne vorherige Überprüfung auf die entsprechenden Links klicken. Auf diese Weise verschafft sich der Angreifer dann Zugriff auf die persönlichen Daten des Empfängers. Phishing ist aktuell die häufigste Methode für Cyberangriffe. Wenn die Angreifer Zugriff auf ein E-Mail-Konto bekommen, können sie von diesem aus weitere Phishing-Mails verschicken. Mails müssen daher auch dann nicht vertrauenswürdig sein, wenn man glaubt, den Absender der Mail zu kennen, weil es sich um die Mailadresse von Freunden oder Kollegen handelt. Darüber hinaus kann das erbeutete E-Mail-Konto zur Erlangung des Zugriffs auf weitere Dienste und Services im Internet genutzt werden (z.B. digitale Marktplätze oder soziale Medien). Dies ist insbesondere dann möglich, wenn dort die gehackte E-Mailadresse als Rücksetzadresse für das Passwort hinterlegt ist. Im Fokus stehen überwiegend politische Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, Unternehmensmitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sowie Kundinnen und Kunden von Banken, Bezahlsystemen und Online Händlern. Phishing-Angriffe werden sowohl von Cyberkriminellen, als auch staatlich gesteuert (im Auftrag fremder Nachrichtendienste) ausgeführt. Seite 275 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr Verschiedene staatlich gesteuerte Hackerund APT-Gruppierungen führen seit längerer Zeit anhaltende Phishing-Angriffe und Desinformationskampagnen durch und fallen daher in den Zuständigkeitsbereich des Verfassungsschutzes. APT (Advanced Persistent Threat, übersetzt: fortgeschrittene andauernde Bedrohung) bezeichnet nach der Definition des BSI einen gut ausgebildeten, typischerweise staatlich gesteuerten, Angreifenden, der zum Zweck der Spionage oder Sabotage über einen längeren Zeitraum hinweg sehr gezielt ein Netz oder System angreift, sich unter Umständen darin bewegt und/oder ausbreitet und so Informationen sammelt oder Manipulationen vornimmt. Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sind vermehrte Angriffswellen zu beobachten. Die Angreifer führen unter anderem auch sogenannte Hack and Leak-Operationen durch. Dabei werden persönliche Daten oder belastendes Material von beispielsweise politischen Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern erbeutet und im Original oder manipulierter Form online veröffentlicht. Der Verfassungsschutz Schleswig-Holsteins führte im Berichtsjahr zahlreiche Sensibilisierungsgespräche und Vortragsveranstaltungen durch, um auf die Gefahren von Phishing-Angriffen und weiteren Arten von Cyberangriffen durch staatlich gesteuerte Akteure hinzuweisen und für die Methoden der Angreifer zu sensibilisieren. 5.2 Abgrenzung der Cyberspionage zur Internetkriminalität Cyberangriffe werden sowohl von Kriminellen, zur Begehung von Straftaten, als auch von Nachrichtendiensten durchgeführt. Nachrichtendienste nutzen gezielte Cyberangriffe zur Cyberspionage, Seite 276 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr -sabotage und illegalen Devisenbeschaffung. Unabhängig vom Akteur sind die notwendigen technischen Gegenmaßnahmen meist identisch. Eine genaue Täterzuordnung ist für Betroffene oft schwierig, aber auch nachrangig, da zur Beseitigung des Schadens, unabhängig vom Verursacher, meist sehr ähnliche Maßnahmen getroffen werden müssen. Ohnehin steht für das Opfer nach einem Angriff die schnelle Wiederherstellung der geschäftlichen Handlungsfähigkeit an erster Stelle. Die Cyberabwehr des Verfassungsschutzes bearbeitet im Rahmen des Auftrags zur Spionageabwehr Cyberangriffe fremder Nachrichtendienste und wird beim Vorliegen konkreter Hinweise auf eine nachrichtendienstliche Beteiligung aktiv. Für Cyberangriffe im Bereich der Internetkriminalität (Cybercrime) ist die Polizei zuständig. Das Landeskriminalamt des Landes Schleswig-Holstein betreibt dafür die Zentrale Ansprechstelle Cybercrime (ZAC). Diese steht als Ansprechpartner für betroffene Behörden und Unternehmen zur Verfügung. 6 Verfassungsschutz als Ansprechpartner Die Fachbereiche Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr der Verfassungsschutzbehörde in Schleswig-Holstein fungieren als verlässliche Partner im Rahmen des nationalen Wirtschaftsschutzes. Neben individuellen Sensibilisierungsmaßnahmen für einzelne Unternehmen und Unternehmensverbände werden kostenfreie Vortragsveranstaltungen im Rahmen von Sensibilisierungskampagnen für Interessierte angeboten. Die Fachbereiche bieten darüber hinaus auch bei zahlreichen Veranstaltungen zu Sicherheitsthemen Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme. Seite 277 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr Zur umfassenden Erfüllung des gesetzlichen Auftrages sind die Fachbereiche Spionageabwehr, Proliferation, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr auch auf Hinweise von Einzelpersonen und Wirtschaftsunternehmen angewiesen. Um zur Erkenntnisgewinnung, Aufklärung und Täterzuordnung bei z.B. Cyber-Angriffen die notwendigen technischen Analysen durchführen zu können, ist es erforderlich, eine Vielzahl von konkreten Vorfällen auszuwerten. Leider scheuen sich insbesondere betroffene Wirtschaftsunternehmen immer noch davor, Cyber-Angriffe bei den Sicherheitsbehörden zu melden, weil die Furcht vor einem öffentlichen Bekanntwerden groß ist. Der damit möglicherweise verbundene Imageund Reputationsverlust birgt für die Unternehmen auch die Gefahr von zusätzlichem wirtschaftlichen Schaden. Die Hinweise und Fragen der Wirtschaft, der Wissenschaft oder anderer betroffener Stellen werden durch den Verfassungsschutz stets vertraulich behandelt und nicht ohne Zustimmung weitergegeben. Die Fachbereiche Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr stehen Einzelpersonen, Unternehmen und auch Behörden als vertrauliche Ansprechpartner jederzeit zur Verfügung. Weitere Informationen zum Verfassungsschutz und speziell zu den Arbeitsfeldern der einzelnen Fachbereiche erhalten Sie unter: www.schleswig-holstein.de/verfassungsschutz oder über die Telefonnummer: 0431/988-3500. Seite 278 IX Spionageabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr Seite 279 Seite 280 X Hintergrund Seite 281 Seite 282 X Hintergrund 1 Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein 1.1 Der Verfassungsschutz als Früherkennungsund Frühwarnsystem Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland - das Grundgesetz (GG) - gibt den Rahmen unseres demokratischen Rechtsstaates vor. Um die in ihr verankerten Werte wirksam verteidigen zu können, muss sich unsere Demokratie wehrhaft gegenüber Personen oder Organisationen zeigen, die bestrebt sind, wesentliche Verfassungsgrundsätze zu beseitigen. Den Verfassungsschutzbehörden der Länder und des Bundes kommt hierbei eine besondere Bedeutung und zentrale Aufgabe zu. Sie sollen Bedrohungen durch politischen Extremismus, Terrorismus sowie durch Spionageaktivitäten bereits im Vorfeld polizeilicher Zuständigkeiten erkennen, bewerten und die politisch Verantwortlichen, die Polizei, andere staatliche Stellen und die Öffentlichkeit darüber unterrichten. Hierdurch sollen diese Stellen in die Lage versetzt werden, rechtzeitig mögliche Gefahren für unser demokratisches System zu erkennen und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen. Der Verfassungsschutz wird daher auch als Früherkennungsund Frühwarnsystem der wehrhaften Demokratie bezeichnet. Dem Verfassungsschutz selbst stehen dabei keine polizeilichen Befugnisse zu. Er kann z. B. weder Durchsuchungen oder Festnahmen veranlassen, noch selbst durchführen. Im Rahmen der jeweils geltenden Rechtsvorschriften besteht jedoch die Möglichkeit und Seite 283 X Hintergrund gegebenenfalls die Verpflichtung, einzelne Erkenntnisse an Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften zu übermitteln. 1.2 Gesetzlicher Auftrag und Aufgaben Die Aufgaben und Befugnisse der Verfassungsschutzbehörden sind gesetzlich geregelt. Das Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (BVerfSchG) gibt den gesetzlichen Rahmen für die Zusammenarbeit von Bund und Ländern vor und ist außerdem Rechtsgrundlage für das Tätigwerden des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Darüber hinaus haben alle Länder eigene Verfassungsschutzbehörden und entsprechende Gesetze. Für Schleswig-Holstein ist dies das Gesetz über den Verfassungsschutz im Lande Schleswig-Holstein (LVerfSchG). Die Aufgabe der Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein ist in SS 1 LVerfSchG geregelt. Danach obliegt es ihr, die Landesregierung und andere zuständige Stellen über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie für den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu unterrichten. Freiheitliche demokratische Grundordnung Vereinfacht ausgedrückt beschreibt der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung die vom Grundgesetz vorgegebene demokratische Ordnung sowie die verfassungsmäßigen Prinzipien, die unveränderbar sind. Konkret benannt sind in SS 6 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 LVerfSchG unter anderem die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung sowie die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Unabhängigkeit der Gerichte. Seite 284 X Hintergrund Tätigkeiten der Verfassungsschutzbehörde Zur Erfüllung ihrer Aufgaben sammelt die Verfassungsschutzbehörde sachund personenbezogene Informationen über * Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziele haben, * sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, * Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden und * Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind, und wertet diese aus. Seite 285 X Hintergrund Begriff der Bestrebung Nach SS 6 Abs. 1 LVerfSchG sind Bestrebungen politisch motivierte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen oder Betätigungen einer Gruppierung oder Organisation, die sich unter anderem gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Zielund zweckgerichtet meint hierbei, dass eine gewisse Ernsthaftigkeit, Dauerhaftigkeit und Zielstrebigkeit im Hinblick auf die Beseitigung eines wesentlichen Elementes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vorliegen muss. Es muss also unter anderem erkennbar sein, dass das Ziel oder der Zweck einer Organisation beispielsweise die Abschaffung unseres demokratischen Systems, der Aufbau eines Gottesoder Führerstaates oder eine Anarchie ist. Der Begriff der Bestrebung kann auch das Verhalten von Einzelpersonen einschließen, allerdings nur dann, wenn dieses Verhalten auf die Anwendung von Gewalt gerichtet oder wenn es dazu geeignet ist, die in SS 5 LVerfSchG genannten Schutzgüter schwerwiegend zu gefährden. Zudem hat der Landesgesetzgeber in SS 6 Abs. 4 LVerfSchG die sogenannte Aggressionsklausel aufgenommen. Diese besagt, dass eine Bestrebung nach der Maßgabe dieses Gesetzes eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Verfassungsordnung voraussetzt. Die Bestrebung muss planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen und im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen. Seite 286 X Hintergrund Mitwirkungsaufgaben Weiterhin obliegen der Verfassungsschutzbehörde Mitwirkungsaufgaben, die in SS 5 Abs. 2 LVerfSchG festgelegt sind. Hierbei handelt es sich um die Überprüfung von Personen, * denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse anvertraut werden, * die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind. * Des Weiteren obliegt der Verfassungsschutzbehörde die Mitwirkung bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen. (Weitere Mitwirkungsaufgaben siehe 1.7 und 1.8 des Kapitels.) Die Verfassungsschutzbehörde ist nach den im LVerfSchG festgeschriebenen Aufgaben und den sich daraus ergebenden Befugnissen ein Nachrichtendienst. Sie versteht sich als Sicherheitsbehörde, die relevante Informationen sammelt, auswertet und diese den zuständigen Stellen zur Verfügung stellt. Vorfeldaufklärung Die Verfassungsschutzbehörde darf bereits im Vorfeld tätig werden, um die Gefahren der in SS 5 Abs. 1 LVerfSchG genannten Bestrebungen so rechtzeitig aufzuklären, dass durch die Weitergabe der dabei gewonnenen Informationen, beispielsweise an die Politik, geeignete Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren ergriffen Seite 287 X Hintergrund werden können. Entsprechend darf der Verfassungsschutz gemäß SS 7 Abs. 1 LVerfSchG bereits tätig werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht einer solchen Bestrebung oder Tätigkeit - etwa gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung - vorliegen. Im Gegensatz zur Polizei ist das Vorliegen eines Anfangsverdachts einer Straftat für das Tätigwerden der Verfassungsschutzbehörde nicht erforderlich. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Jede Maßnahme der Verfassungsschutzbehörde unterliegt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (SS 7 Abs. 2 LVerfSchG). So hat die Verfassungsschutzbehörde von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenige zu treffen, die nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Eine Maßnahme ist zudem nur so lange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann. Dies ist nötig, weil durch die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde in wesentliche Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wird. Durch die Regelungen in SS 7 Abs. 2 LVerfSchG wird sichergestellt, dass jede ergriffene Maßnahme der Verfassungsschutzbehörde im Einzelfall nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck - bspw. der rechtmäßigen Informationsgewinnung und Weitergabe zur Aufgabenerfüllung - steht. Befugnisse zur Informationsbeschaffung: Die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes Der Verfassungsschutz darf - so sieht es SS 8 Abs. 1 LVerfSchG vor - zur Erfüllung seiner Aufgaben Informationen erheben und verarbeiten. Hierfür stehen grundsätzlich zwei verschiedene MöglichkeiSeite 288 X Hintergrund ten der Informationserhebung zur Verfügung: die offene Informationsbeschaffung und die verdeckte Informationserhebung mithilfe sogenannter nachrichtendienstlicher Mittel. Der überwiegende Teil der vom Verfassungsschutz verarbeiteten Informationen wird offen erhoben. Informationen lassen sich vielfältig gewinnen, beispielsweise im Rahmen von Recherchen im Internet, über Printmedien und die Auswertung von Tonund Bildträgern (beispielsweise CDs und DVDs). Auch andere Behörden werden zu dort vorliegenden Informationen angefragt. Die verdeckte Informationsbeschaffung ist demgegenüber besonders geregelt. SS 8 Abs. 2 LVerfSchG legt fest, welche nachrichtendienstlichen Mittel der Verfassungsschutzbehörde zur Verfügung stehen und unter welchen Voraussetzungen sie eingesetzt werden dürfen. Zu den wesentlichen nachrichtendienstlichen Mitteln, die der Verfassungsschutz einsetzen kann, gehören demnach: * der Einsatz von verdeckten Ermittlern, Vertrauensund Gewährspersonen, * die Observation und damit verbunden die verdeckte Anfertigung von Bildund Videoaufnahmen, * das verdeckte Aufklären des Internets, * die Verwendung von Legenden (fingierten biografischen oder gewerblichen Angaben) sowie die Erstellung und Verwendung von Tarnpapieren und -kennzeichen, * die Beobachtung des Funkverkehrs und * die Postund Fernmeldeüberwachung nach dem Artikel 10-Gesetz. Seite 289 X Hintergrund Alle durch nachrichtendienstliche Mittel gewonnenen Informationen sind eng an den Zweck der Erhebung gebunden und müssen bei Wegfall des Zwecks unverzüglich gelöscht werden. Zudem gilt für alle diese Maßnahmen das oben bereits beschriebene Verhältnismäßigkeitsprinzip. Darüber hinaus ist der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel gemäß SS 8 Abs. 4 LVerfSchG unzulässig, wenn sich herausstellt, dass ausschließlich solche Informationen erhoben werden, die die Intimund Privatsphäre - im Gesetz als Kernbereich privater Lebensgestaltung bezeichnet - einer Person betreffen. Die Maßnahme muss dann entweder ausgesetzt oder beendet werden. 1.3 Organisation des Verfassungsschutzes Der Verfassungsschutzverbund der Bundesrepublik Deutschland umfasst insgesamt 17 Behörden: 16 Landesbehörden und das Bundesamt für Verfassungsschutz als Zentralstelle. Die Landesbehörden sind entweder als eigenständige nachgeordnete Landesämter organisiert oder Teil des jeweiligen Innenministeriums. Die Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein ist eine Abteilung des Ministeriums für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport mit Sitz in der Landeshauptstadt Kiel. Sie ist in 8 Referate untergliedert, die unter anderem für die Informationsbeschaffung, die Auswertung nach Phänomenbereichen, den Geheimschutz, die Observation und die sogenannten Massendatenverfahren sowie für Grundsatzfragen, Datenschutz, IT und Öffentlichkeitsarbeit der Abteilung zuständig sind. Insgesamt sind derzeit etwa 130 Mitarbeiter für die Verfassungsschutzabteilung tätig. Für Sachmittel und Investitionen standen im Berichtsjahr rund 1 213 500 Euro zur Verfügung. Seite 290 X Hintergrund 1.4 Kontrolle des Verfassungsschutzes Die Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein hat sich zum Ziel gesetzt, so viel Transparenz wie möglich zu gewährleisten und die Geheimhaltung auf das notwendige Maß zu beschränken. Zudem unterliegt sie einer mehrschichtigen, rechtsstaatlichen Kontrolle. Allgemeine Dienstund Fachaufsicht Ein Teil dieser Kontrolle ist die allgemeine Dienstund Fachaufsicht im Ministerium für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport. Dabei erstreckt sich die Dienstaufsicht gemäß SS 15 Abs. 1 Landesverwaltungsgesetz (LVerwG) auf die innere Ordnung, die allgemeine Geschäftsführung und die Personalangelegenheiten der Behörde, während die Fachaufsicht gemäß SS 15 Abs. 2 LVerwG die rechtmäßige und zweckmäßige Wahrnehmung der Verwaltungsangelegenheiten der Behörde umfasst. Parlamentarische Kontrolle Ein weiterer und wesentlicher Teil der Kontrolle des Verfassungsschutzes obliegt dem Schleswig-Holsteinischen Landtag. Sie umfasst zum einen die allgemeine parlamentarische Kontrolle durch alle Mitglieder des Landtages, die diese zum Beispiel durch Kleine und Große Anfragen ausüben. Zum anderen erfolgt die parlamentarische Kontrolle durch das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG) und die G10-Kommission. Die Aufgaben und die Zusammensetzung des PKG sind in SS 26 LVerfSchG festgelegt. Es besteht aus Abgeordneten des Landtages, die zu Beginn jeder Wahlperiode jeweils durch die Mehrheit der Mitglieder des Landtages gewählt werden. Diesen berichtet Seite 291 X Hintergrund die Innenministerin oder der Innenminister als Teil der Landesregierung sowohl über die allgemeinen Tätigkeiten der Verfassungsschutzbehörde, als auch über Vorgänge von besonderer Bedeutung. Die Aufgaben und die Zusammensetzung der G10-Kommission regelt SS 26a LVerfSchG in Verbindung mit SS 15 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (G10). Für die Dauer der Wahlperiode bestimmt der Landtag eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden mit der Befähigung zum Richteramt und zwei beisitzende Mitglieder. Die G10-Kommission prüft die Zulässigkeit und die Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen nach dem G10, also Maßnahmen der Überwachung des Brief-, Postund Telekommunikationsverkehrs, und ist bei weiteren gesetzlich geregelten Maßnahmen von vergleichbarer Eingriffstiefe zu beteiligen. Hierdurch wird sichergestellt, dass die Tätigkeit des Verfassungsschutzes nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern auch im Einzelfall vom Parlament überprüft wird. Kontrolle durch den Datenschutzbeauftragten und den Landesrechnungshof Neben den parlamentarischen Gremien obliegt die Kontrolle des Verfassungsschutzes noch zwei weiteren Stellen. Das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz kontrolliert auf eigene Initiative die Datenverarbeitung in schleswig-holsteinischen Behörden. Stellt es dabei Verstöße gegen das Datenschutzrecht fest, werden diese beanstandet und ggf. die Beseitigung der Mängel gefordert. Die Zusammenarbeit mit dem Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz wird durch die behördliche Datenschutzbeauftragte oder den behördlichen Datenschutzbeauftragten der VerfassungsschutzSeite 292 X Hintergrund behörde des Landes Schleswig-Holstein unterstützt. Die oder der behördliche Datenschutzbeauftragte hat zudem umfassende eigene Kontrollrechte und eine Beratungsfunktion, die zur Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen beitragen. Zum anderen erfolgt eine Aufsicht durch den Landesrechnungshof. Dieser hat nach Artikel 64 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein die Aufgabe, die gesamte Haushaltsund Wirtschaftsführung des Landes zu überwachen. Hierzu gehört auch die Verfassungsschutzbehörde als Teil des Ministeriums für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport. Kontrolle durch Gerichte und die Öffentlichkeit Daneben unterliegt die Verfassungsschutzbehörde als Teil der Landesverwaltung der gerichtlichen Kontrolle sowie der Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Letztere erfolgt dabei u. a. durch die Medien, die in ihrer Berichterstattung auch den Verfassungsschutz thematisieren. Darüber hinaus haben Bürgerinnen und Bürger selbst die Möglichkeit, nach SS 25 LVerfSchG eine Auskunft über die Speicherung von Informationen zur eigenen Person in Dateien des Verfassungsschutzes zu verlangen. Im Berichtszeitraum sind dem Verfassungsschutz Schleswig-Holstein in diesem Zusammenhang insgesamt 77 Auskunftsersuchen gestellt worden (2022: 107; 2021: 145). Die Anzahl der besonders arbeitsintensiven Fälle, in denen der Verfassungsschutzbehörde Erkenntnisse vorliegen, ist dabei allerdings, wie auch in den vergangenen Jahren, hoch. Nach wie vor wird vermehrt das Internet genutzt, um entsprechende Auskunftsersuchen zu stellen. Daneben ist eine steigende Anzahl anwaltlicher Vertretungen festzustellen, die mandatierte Auskunftsersuchen vorlegen. Seite 293 X Hintergrund 1.5 Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz Die Aufgaben und Befugnisse einer Verfassungsschutzbehörde unterscheiden sich von der einer Polizeibehörde. SS 2 Abs. 2 LVerfSchG legt fest, dass der Verfassungsschutz keiner polizeilichen Dienststelle angegliedert werden darf. Zudem ist in SS 9 LVerfSchG vorgeschrieben, dass der Verfassungsschutzbehörde keine polizeilichen Befugnisse zustehen. Außerdem darf die Verfassungsschutzbehörde die Polizei auch nicht um Maßnahmen bitten, zu denen sie selbst nicht befugt ist. Der Verfassungsschutz ist - im Gegensatz zu den Strafverfolgungsbehörden, insbesondere der Polizei - nicht dem Legalitätsprinzip unterworfen, nach dem Polizei und Justiz Straftaten verfolgen müssen, wenn sie von ihnen Kenntnis erlangen. Für den Verfassungsschutz gelten vielmehr das Opportunitätsprinzip und die damit verbundenen Mitteilungspflichten. Diese organisatorische und funktionelle Abgrenzung von Polizei und Verfassungsschutz wird als Trennungsgebot bezeichnet. Es ist ein Resultat aus den Erfahrungen mit der Arbeitsweise von Geheimdiensten in Diktaturen, z. B. im Dritten Reich. Um den Missbrauch von verdeckt erhobenen Informationen zu verhindern, sind Polizeibehörden seither nicht mit den gleichen gesetzlichen Befugnissen eines Nachrichtendienstes und umgekehrt die Verfassungsschutzbehörden nicht mit exekutiven, polizeilichen Befugnissen ausgestattet. Außerdem dürfen nachrichtendienstlich gewonnene Informationen nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen des SS 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2 LVerfSchG an die Polizei weitergegeben werden (sogenanntes informationelles Trennungsprinzip). Unter Beachtung dieser geltenden Rechtsgrundlagen arbeiten die Verfassungsschutzbehörde und die Polizei eng zusammen. Die Zusammenarbeit beschränkt sich dabei nicht nur auf Schleswig-Holstein, sondern erfolgt bundesweit in verschiedenen GremiSeite 294 X Hintergrund en, wie dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus sowie dem gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) zur Bekämpfung des Rechts-, Linksund Ausländerextremismus sowie der Spionage. GTAZ und GETZ sind dabei keine eigenen Behörden, sondern stellen Informationsund Kommunikationsplattformen für die beteiligten Sicherheitsbehörden dar. So sollen phänomenbezogene Bedrohungsund Gefährdungslagen erkannt und alle beteiligten Behörden in die Lage versetzt werden, entsprechend darauf zu reagieren. 1.6 Informationsaustausch mit anderen öffentlichen Stellen Zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes zählt neben der Unterrichtung der Landesregierung auch die Unterrichtung anderer zuständiger Stellen über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die Voraussetzungen für die Übermittlung von Informationen an andere Stellen sind in SS 19 LVerfSchG geregelt. Ganz grundsätzlich dürfen Erkenntnisse, die nicht personenbezogen sind, dann an andere Behörden oder Stellen übermittelt werden, wenn diese für die Aufgabenerfüllung der empfangenden Stellen erforderlich sein können (SS 19 Abs. 1 LVerfSchG). Hierbei könnte es sich beispielsweise um Erkenntnisse zu relevanten Vereinen und Organisationen handeln. Bei der Übermittlung personenbezogener Informationen an andere öffentliche oder sonstige Stellen gelten besondere Regelungen. SS 19 Abs. 2 Nr. 5 LVerfSchG sieht vor, dass diese Informationen nur dann übermittelt werden dürfen, wenn dies zum Schutz vor Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung unverzichtbar ist. Zusätzlich entscheidet über die Übermittlung die Leiterin oder der Leiter der Verfassungsschutzabteilung. Seite 295 X Hintergrund 1.7 Geheimund Sabotageschutz, Zuverlässigkeitsüberprüfungen Im Bereich Geheimund Sabotageschutz obliegen der Verfassungsschutzbehörde gesetzliche Mitwirkungsaufgaben. Sie führt Sicherheitsüberprüfungen im Auftrag von Landesbehörden durch, ist angefragte Stelle in Zuverlässigkeitsüberprüfungsverfahren und unterstützt auch durch Beratung und Normensetzung den Schutz staatlicher Verschlusssachen. Verschlusssachen sind Angelegenheiten aller Art, die eines besonderen Schutzes gegen Kenntnisnahme durch Unbefugte bedürfen. Daher ist die Verbreitung der Verschlusssachen nur auf einen eng begrenzten Personenkreis beschränkt, bei dem jeweils gewährleistet sein muss, dass keine Anhaltspunkte bestehen, die Zweifel an der Zuverlässigkeit bei der Wahrnehmung der sicherheitsempfindlichen Tätigkeit begründen. Hierzu werden im Rahmen des personellen Geheimschutzes Sicherheitsüberprüfungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchgeführt, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen eingesetzt sind. Weiterhin wird der Schutz von Verschlusssachen durch Maßnahmen des materiellen Geheimschutzes realisiert. Ziel ist die Absicherung von Arbeitsbereichen, in denen Verschlusssachen bearbeitet werden. Es werden bauliche, organisatorische, elektronische und informationstechnische Geheimschutzmaßnahmen für VS-Arbeitsbereiche, VS-IT-Räume/-Bereiche, VS-Aktensicherungsräume, VS-Sicherheitsbereiche und abhörgeschützte bzw. abhörsichere Räume festgelegt. Hierfür ist die Verfassungsschutzbehörde beratend hinzuzuziehen. Auf Veranlassung der Verfassungsschutzbehörde kann ergänzend das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) im Rahmen von Beratung, Schulung und technischer Prüfung mitwirken. Seite 296 X Hintergrund 1.7.1 Sicherheitsüberprüfungen Sicherheitsüberprüfungen sind Verfahren zur Überprüfung von Personen, die von den jeweils zuständigen Stellen mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen. Art und Umfang der Überprüfungen regelt hierbei das Landessicherheitsüberprüfungsgesetz. Im Berichtszeitraum betrug die Zahl der neu durchgeführten Sicherheitsüberprüfungen für Landesbehörden 212 (2022: 156). Der Gesamtbestand an sicherheitsüberprüften Personen innerhalb der Landesverwaltung und bei geheimschutzbetreuten Unternehmen stieg bis zum Jahresende auf 2 143 (2022: 2 078) an. Sicherheitsüberprüfungen 2019 bis 2023 2500 2078 2143 2057 1946 1955 2000 1500 1000 500 180 231 212 132 156 0 2019 2020 2021 2022 2023 Sicherheitsüberprüfte Personen insgesamt neu durchgeführte Sicherheitsüberprüfungen Sicherheitsüberprüfungen im personellen Sabotageschutz Ziel des personellen Sabotageschutzes ist, das Risiko von Sabotageakten an lebenswichtigen Einrichtungen durch potenzielle terroristische Innentäterinnen und Innentätern zu minimieren. Das Instrument der Sicherheitsüberprüfung soll verhindern, dass Seite 297 X Hintergrund Personen, von denen eine Gefährdung ausgeht, in sensiblen Bereichen beschäftigt werden. Die Überprüfung erfolgt jedoch nur bei Personen, die innerhalb von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen an sicherheitsempfindlichen Stellen beschäftigt werden sollen und die tatsächlich auf die Funktionsfähigkeit der Einrichtungen Einfluss nehmen können. Einrichtungen sind erst dann lebenswichtig, wenn deren Beeinträchtigung aufgrund der ihnen anhaftenden Eigengefahr die Gesundheit oder das Leben großer Teile der Bevölkerung erheblich gefährden können oder sie für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind. Dazu gehören z. B. Kommunikationsstrukturen von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten. 1.7.2 Zuverlässigkeitsüberprüfungen Am Beispiel der Zuverlässigkeitsüberprüfungen zeigt sich einmal mehr deutlich, dass ein moderner und leistungsstarker Verfassungsschutz eine wichtige Funktion innerhalb der deutschen Sicherheitsarchitektur wahrnimmt. Aktuelle Erkenntnisse, analytische Kompetenz und gut gepflegte Datenbanken sind hierfür eine zwingende Voraussetzung. Wie bei der Sicherheitsüberprüfung erfolgen auch die Überprüfungsverfahren aufgrund spezieller gesetzlicher Grundlagen. Zuverlässigkeitsüberprüfungen werden nach Maßgabe des Atomgesetzes, Luftoder Hafensicherheitsgesetzes, Sprengstoff-, Waffenund Jagdgesetzes sowie der Gewerbeordnung für das Bewachergewerbe durchgeführt. Die zuständigen (i. d. R. kommunalen) Fachbehörden entscheiden im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeiten über die Erteilung, Versagung oder Entziehung entsprechender Erlaubnisse. Seite 298 X Hintergrund Die normierten Mitwirkungspflichten der Verfassungsschutzbehörde verfolgen den Zweck, Sabotageakte abzuwehren und den Einsatz von extremistischen Personen in besonders sensiblen Bereichen zu verhindern oder diese zu entwaffnen. Kernkraftwerke und der Luftverkehr wurden nicht erst nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 als besonders sabotagegefährdete Bereiche betrachtet. Vor diesem Hintergrund wird das dort beschäftigte Personal seit jeher sogenannten Zuverlässigkeitsüberprüfungen unterzogen. Hiermit soll das Gefährdungsrisiko im Zusammenhang mit kritischen Infrastrukturen vermindert werden. Die Durchführung der Verfahren erfolgen jedoch nur teilweise automatisiert und sind daher z. T. sehr aufwändig. Seit dem Jahr 2020 werden alle Inhaberinnen und Inhaber waffenoder jagdrechtlicher Erlaubnisse auf Veranlassung der Waffenund Jagdbehörden sowohl bei Antragstellung als auch turnusmäßig unter Beteiligung des Verfassungsschutzes auf ihre Zuverlässigkeit hin überprüft. Die Anfragen der kommunalen Jagdund Waffenbehörden können vom Verfassungsschutz nur teilautomatisiert bearbeitet werden. Zum Jagdund Waffenrecht lagen dem Verfassungsschutz im Berichtszeitraum insgesamt 23 952 Anfragen der kommunalen Behörden vor (2022: 25 809; 2021: 27 438). In 68 Fällen wurde ein Prüffall ausgelöst und in 55 Fällen (2022: 43; 2021: 49) wurden den Jagdund Waffenbehörden verfahrensrelevante Erkenntnisse mitgeteilt. Zum sogenannten Bewacherregister nach SS 34a Gewerbeordnung, worin eine Regelabfrage von Bewachungspersonal vorgesehen ist, lagen dem Verfassungsschutz im Berichtszeitraum insgesamt 2 617 Anfragen vor (2022: 2 127; 2021: 1 864). In 8 Fällen wurde ein Prüffall ausgelöst und in 5 Fällen (2022 11; 2021: 11) wurden der Behörde verfahrensrelevante Erkenntnisse mitgeteilt. Seite 299 X Hintergrund Zum Luftsicherheitsrecht lagen dem Verfassungsschutz im Berichtszeitraum insgesamt 1 278 Anfragen (2022: 1 632) der Luftsicherheitsbehörde vor. In 4 Fällen wurde ein Prüffall ausgelöst und in 2 Fällen (2022: 8) wurden der Behörde verfahrensrelevante Erkenntnisse mitgeteilt. Zum Atomgesetz lagen dem Verfassungsschutz im Berichtszeitraum insgesamt 1 798 Anfragen (2022: 1 437) vor. In einem Fall (2022: 3) wurde ein Prüffall ausgelöst und dem Ministerium für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur des Landes Schleswig-Holstein verfahrensrelevante Erkenntnisse mitgeteilt. Zum Sprengstoffgesetz lagen dem Verfassungsschutz im Berichtszeitraum insgesamt 226 Anfragen (2022: 724) der kommunalen Waffenbehörden sowie der Staatlichen Unfallkasse Nord vor. Es gab im Berichtszeitraum keinen Vorgang, in dem einer zuständigen Behörde verfahrensrelevante Erkenntnisse mitgeteilt werden mussten. Zum Hafensicherheitsgesetz lagen dem Verfassungsschutz im Berichtszeitraum insgesamt 90 Anfragen (2022: 24) des Landespolizeiamtes vor. In keinem Fall mussten der Behörde verfahrensrelevante Erkenntnisse mitgeteilt werden. Darüber hinaus ist der Verfassungsschutz in diesem Zusammenhang auch unter gewissen Voraussetzungen in Akkreditierungsverfahren von (Groß-)Veranstaltungen beteiligt. Das Ziel eines Akkreditierungsverfahrens mit Zuverlässigkeitsüberprüfung ist es, einen sicheren und störungsfreien Verlauf von Veranstaltungen zu gewährleisten. Es soll verhindert werden, dass Personen in sicherheitsrelevanten Bereichen tätig werden, bei denen zu befürchten ist, dass sie eine Gefährdung für die Gesamtveranstaltung darstellen können, insbesondere da bei (Groß-)Veranstaltungen bereits geringe Ereignisse zur Schädigung einer Vielzahl von Personen Seite 300 X Hintergrund führen könnten (z.B. Massenpanik u.a.). Ein Beispiel für derartige Verfahren ist die Mitwirkung mittels gesondert eingerichteter Massendatenverfahren bei der Akkreditierung von Personen für die Fußball-Europameisterschaft EURO 2024 mit zehn Austragungsorten in sieben Bundesländern Deutschlands. 1.8 Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde bei Aufenthaltsund Einbürgerungsverfahren Das Aufenthaltsgesetz regelt die Einreise, den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Aufenthaltsbeendigung von Ausländern aus dem nichteuropäischen Ausland. Es dient damit der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländerinnen und Ausländern in die Bundesrepublik. Das Gesetz umfasst auch sicherheitsrelevante Vorschriften. Dazu gehören die Mitwirkungsaufgaben der Verfassungsschutzbehörde bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln (z. B. Visum, Aufenthaltsoder Niederlassungserlaubnis). Aus diesem Grund übermitteln die Ausländerbehörden in einem automatisierten technischen Beteiligungsverfahren die Daten von Personen, die einen Aufenthaltstitel beantragen, an die Sicherheitsbehörden. Durch dieses Mitwirkungsverfahren kann festgestellt werden, ob Versagungsgründe - beispielsweise seitens der Verfassungsschutzbehörde - gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder sonstige Sicherheitsbedenken vorliegen. Die gleichen Sicherheitsanforderungen werden an Einbürgerungsbewerberinnen und -bewerber gestellt. So fragen die Einbürgerungsbehörden bei den Verfassungsschutzbehörden an, ob gegen die Einbürgerungsbewerberin bzw. den -bewerber Erkenntnisse vorliegen, die zur Versagung der Einbürgerung führen könnten. Da die Einbürgerung politische Partizipation, rechtliche Gleichstellung und weitere Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe Seite 301 X Hintergrund ermöglicht und die Eingebürgerten gleichberechtigte Bürgerinnen oder Bürger werden, dient die Beteiligung des Verfassungsschutzes mit der Möglichkeit des Ausschlusses von Extremistinnen und Extremisten dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und des Landes Schleswig-Holstein. Im Rahmen des Aufenthaltsbzw. Einbürgerungsrechts lagen dem Verfassungsschutz im Berichtszeitraum insgesamt 54 643 Anfragen der kommunalen Behörden vor (2022: 44 732; 2021: 35 716). Hierbei handelte es sich um 47 642 Anfragen im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht und 7 001 Anfragen im Zusammenhang mit dem Einbürgerungsrecht. In 107 Fällen wurde ein Prüffall ausgelöst. In 37 Fällen (2022: 44; 2021: 112) wurden den Ausländerbehörden verfahrensrelevante Erkenntnisse mitgeteilt. In Schleswig-Holstein besteht seit 2007 eine regelmäßig tagende Arbeitsgruppe, an der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachaufsicht der Staatsangehörigkeits-, Zuwanderungsund Ausländerbehörden, der Polizei, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der Verfassungsschutzbehörde teilnehmen. Ziel der Arbeitsgruppe ist, diejenigen Einzelfälle einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, die besondere Sicherheitsrelevanz haben. Durch diese enge behördenübergreifende Zusammenarbeit soll - entsprechend der gesetzlichen Vorgaben - die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen geprüft und gegebenenfalls initiiert werden. Im Berichtszeitraum konnte festgestellt werden, dass sich der Schwerpunkt der Fälle mit sicherheitsrelevanten Erkenntnissen im Wesentlichen aus Personen zusammensetzt, die dem islamistischen Spektrum zuzurechnen waren. Seite 302 X Hintergrund 1.9 Kontakt Sie möchten Kontakt zur Verfassungsschutzbehörde aufnehmen, haben Anregungen, Fragen oder Kritik oder wollen sich über Bewerbungsmöglichkeiten informieren? Sie erreichen die Verfassungsschutzbehörde unter: Telefon: 0431 - 988 3500 Email: VerfassungsschutzSchleswig-Holstein@im.landsh.de . 2 Merkmale verfassungsfeindlicher Bestrebungen 2.1 Merkmale des Rechtsextremismus Unter dem Begriff Rechtsextremismus werden Bestrebungen verstanden, die sich gegen wesentliche Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten und die Abschaffung des demokratischen Staates zugunsten einer autoritär geführten "Volksgemeinschaft" verfolgen. Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten versuchen dieses Ziel auch unter Anwendung von Gewalt umzusetzen. Ablehnung des Demokratieund Rechtsstaatsprinzips Nach rechtsextremistischem autoritären Staatsverständnis soll der Staat intuitiv nach dem vermeintlich übereinstimmenden Willen des Volkes handeln. Das führt dazu, dass der Einzelne zugunsten der sogenannten Volksgemeinschaft zurückstehen und sich unterordnen muss, da Staat und Volk eine Einheit bilden. Seite 303 X Hintergrund Führerprinzip Die Vorstellung einer "Volksgemeinschaft" hebelt eine pluralistische Gesellschaft aus und ebnet dem Führerprinzip den Weg, wenn ein angeblicher Volkswille als Ideal vorgegeben wird und nicht im Diskurs gesellschaftlicher Gruppen demokratisch, pluralistisch gefunden wird. Das Mehrparteienprinzip sowie das Recht auf Ausübung einer parlamentarischen Opposition würden damit hinfällig. Wer zur Volksgemeinschaft gehört, ergäbe sich allein aus der biologisch-ethnischen Abstammung. Biologisch-ethnische Abstammung als zentrales Ideologieelement Diese Haltung ist ein zentrales Element rechtsextremistischer Ideologie, aus der gleichzeitig eine Legitimation hergeleitet wird, die biologisch-ethnische Abstammung über die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte zu stellen, und geht einher mit einer gleichzeitigen Abwertung anderer Ethnien. Ideologie der Ungleichwertigkeit Die eigene biologisch-ethnische Abstammung und das eigene Volk werden elitär überhöht, Angehörige anderer Ethnien oder auch Religionen werden abgewertet und ausgegrenzt. Geschichtsrevisionismus Neben einer antidemokratischen Grundhaltung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gehören Geschichtsrevisionismus, also die ideologisch motivierte Umdeutung historischer Fakten, sowie Antisemitismus zur rechtsextremistischen Weltanschauung. Seite 304 X Hintergrund Antisemitismus Antisemitismus ist die Ablehnung von Jüdinnen und Juden, die sich bis hin zum Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein. Antisemitismus umfasst alle Aspekte judenfeindlicher Ideologie. Er lässt sich seit mehr als 2 000 Jahren in unterschiedlicher Ausprägung geschichtlich nachweisen und findet sich neben dem Rechtsextremismus auch in anderen extremistischen Phänomenbereichen. Antisemitismus prägt viele Argumentationsmuster der Szene beziehungsweise schwingt mal offen, mal in subtiler Form stets mit. Er ist und bleibt wesentlicher Bestandteil rechtsextremistischer Bestrebungen. Seite 305 X Hintergrund 2.2 Merkmale des Islamismus und islamistischem Terrorismus Im Gegensatz zum Islam als Religion ist der Islamismus eine religiös begründete extremistische Ideologie und seine zahlreichen Strömungen sind grundsätzlich (in verschiedener Ausprägung) verfassungsfeindlich. Durch ihre extremistische Islamauslegung richten sich alle Islamistinnen und Islamisten klar gegen die Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wie Volkssouveränität, Trennung von Staat und Religion, freie Meinungsäußerung und allgemeine Gleichberechtigung. Absolutheitsanspruch Aus dem Universalitätsanspruch des Islams leiten Islamistinnen und Islamisten das übergeordnete Ziel einer Islamisierung der ganzen Welt ab. Zugrunde liegt dabei die tiefe Überzeugung, die einzige und überlegene Wahrheit zu kennen und verpflichtet zu sein, diese in Wort und Tat allen Menschen näherzubringen. Überdies betrachtet der Islamismus den Islam als ein absolutes und umfassendes Ordnungssystem, das alle Bereiche des Lebens - private wie öffentliche - durchdringt und regelt. Ziel eines islamischen Gottesstaates auf Grundlage der Scharia Islamistische Strömungen streben in letzter Konsequenz danach, den demokratischen Rechtsstaat durch einen Gottesstaat auf Basis der Scharia zu ersetzen - einer Sammlung islamischer Rechtsvorschriften, die unter anderem körperliche Strafen wie das Abtrennen von Gliedmaßen (Hadd-Strafen) enthält. Während jihadistisch motivierte Personen dies vorwiegend durch den bewaffneten Kampf erreichen wollen, agieren sogenannte legalistische Gruppierungen eher auf gesellschaftspolitischer Ebene und versuchen, ihrem Ziel durch eine ideologische Durchdringung der Gesellschaft mittels Seite 306 X Hintergrund religiöser Missionierung (da'wa), sozialem Engagement und politischer Einflussnahme auf längerfristige Sicht näherzukommen. Tauhid/Tawhid (Glaube an die Einheit Gottes) Das Tauhid-Konzept beschreibt die Lehre von der absoluten "Einheit und Einzigartigkeit Gottes". Daraus leiten islamistische Strömungen ab, dass Gott (Allah) der einzig legitime Souverän ist und die von ihm erschaffene und im Koran beschriebene Weltordnung als einzig "wahre" und absolute Ordnung über allen menschengemachten Gesetzen steht bzw. diese ersetzt. Ein bildlicher Ausdruck dieses Prinzips ist der nach oben weisende ausgestreckte Zeigefinger ("Tauhid-Finger"). Ausgrenzung und Takfir (Exkommunizierung) Viele islamistische Strömungen vertreten einen religiösen Exklusivitätsanspruch und grenzen andere Glaubensrichtungen strikt aus - mitunter sogar andere islamistische Strömungen, die von ihrer eigenen Ideologie abweichen. Das im Salafismus propagierte Konzept der "Loyalität und Lossagung" (al-wala' wa-l-bara') fordert u. a. dazu auf, den Umgang mit Nicht-Musliminnen und -Muslimen zu meiden und kann bei einer radikalisierten Einstellung auch zum takfir führen, d. h. dem systematischen Absprechen des Muslim-Seins. Der exklusive Absolutheitsanspruch im Islamismus kreiert darüber hinaus ein duales Weltbild, aus dem im jihadistischen Spektrum abgeleitet wird, dass alle Nicht-Musliminnen und -Muslime generell als Feinde zu bekämpfen seien. Jihad Der arabische Begriff "Jihad" bedeutet im originären Wortsinn etwa "Anstrengung, Mühe" und soll Musliminnen und Muslime zu verstärkter Religionsausübung motivieren ("großer Jihad"). Das Seite 307 X Hintergrund Konzept des "kleinen Jihad" (religionsrechtlich die Beschreibung von Möglichkeiten islamischer Gemeinschaften, sich im Angriffsfall gegen Feinde zu verteidigen) wird hingegen von jihadistisch motivierten Personen missinterpretiert. Sie leiten daraus eine universelle Legitimation ab, alle "Ungläubigen" und Andersgläubigen aktiv zu bekämpfen, da der Islam sowohl durch den "ungläubigen" Westen als auch durch nach ihrer Auffassung korrumpierte Regierungen islamischer Staaten einem ständigen Angriff ausgesetzt sei. Manche Islamistinnen und Islamisten deuten den militanten "kleinen Jihad" sogar als die individuelle Pflicht einer bzw. eines jeden muslimischen Gläubigen und bezeichnen ihn als die "sechste Säule" des islamischen Glaubens. Rückwärtsgewandtheit/Ideal der "frommen Altvorderen" Ein wesentliches, vorwiegend im Salafismus vorliegendes Merkmal ist die Glorifizierung der Frühzeit des Islams und die Orientierung an dieser aus salafistischer Sicht "reinen" und unverfälschten religiösen Ur-Gemeinschaft, indem wortgetreu die originäre heilige Schrift (Koran) und die Traditionen des Propheten Muhammad (sunna) befolgt werden. Die Bezeichnung der salafistischen Strömung leitet sich daher vom arabischen Terminus "as-Salaf as-Salih" ab - in etwa "die frommen Altvorderen". Antisemitismus und Israelfeindlichkeit Im Rahmen eines sogenannten sekundären Antisemitismus, dessen Grundelemente die Leugnung des Holocausts und die Negierung des Existenzrecht des Staates Israel darstellen, sind vor allem der Nahostkonflikt und das Ziel der in muslimischen Augen nötigen "Befreiung Palästinas" aus den Händen des "Okkupators" Israel bei allen islamistischen Strömungen ein wichtiges Thema. Die Geschichte des Konflikts wird dabei propagandistisch verklärt und als Beweis für eine Doppelmoral des Westens bzw. eine angebliche Seite 308 X Hintergrund jüdisch-christliche Unterdrückung des Islams angeführt. Islamistinnen und Islamisten vertreten daher immer auch eine antisemitische Grundauffassung, deren Ausprägung jedoch variieren kann. 2.3 Merkmale des Linksextremismus Linksextremismus ist ein Sammelbegriff für alle Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, die auf einer Verabsolutierung der Werte von Freiheit und sozialer Gleichheit beruhen, wie sie sich insbesondere in den Ideologien des Kommunismus und Anarchismus wiederfinden. Verfassungsfeindliche Zielsetzungen Linksextremistische Organisationen, Gruppierungen und Parteien stellen eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung dar. Ihre unterschiedlichen Strömungen und Ideologien haben das gemeinsame Ziel, die bestehende, durch das Grundgesetz vorgegebene Staatsund Gesellschaftsordnung revolutionär zu überwinden. An ihre Stelle soll eine sozialistische, kommunistische oder anarchistisch-herrschaftsfreie Gesellschaftsform treten. Linksextremisten erkennen die parlamentarische Demokratie als bestehende Staatsform nicht an. Vielmehr wird diese Staatsform als Ausformung des ihrer Ansicht nach kapitalistischen Systems angesehen. Ziel ist daher deren Abschaffung. Unterschiede bestehen, je nach ideologischer Ausrichtung in den Wegen, die zu diesem Ziel führen sollen. Alle Versuche, eine entsprechend angestrebte Gesellschaftsform in die Realität umzusetzen und zu etablieren, führten zu keinem dauerhaften Erfolg. Seite 309 X Hintergrund Linksextremistische Ideologie Der linksextremistischen Ideologie liegen Theorien von Leitfiguren zugrunde, die je nach Strömung in unterschiedlichem Ausmaß und zum Teil auch voneinander abweichenden Interpretationen einfließen. Im Linksextremismus lassen sich grob zwei Strömungen unterscheiden. Die undogmatischen, meist in losen Zusammenhängen und sich nur an Ideologiefragmenten bedienenden Linksextremisten stellen den Großteil des gewaltorientierten Personenpotenzials. Die Grundsätze der dieses Spektrum beeinflussenden Lehren, insbesondere des Anarchismus und Kommunismus sowie die Erkenntnisse des Marxismus, werden nicht als verbindliche Glaubenssätze verstanden. Vielmehr kann kontinuierlich eine Anpassung an die aktuelle politische Situation und die heute bestehende Lebenswirklichkeit erfolgen. Die dogmatisch ausgerichteten Linksextremisten in Parteien und parteiähnlichen Strukturen orientieren sich dagegen an starren Glaubenssätzen innerhalb ihrer Ideologie. Insbesondere den dogmatischen Personenzusammenschlüssen dient das Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus als "wissenschaftliche" Ableitung zum revolutionären Handeln. Damit folgen sie der vermeintlich wissenschaftlichen Lehre von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895), nach der der Kommunismus die endgültige und vollkommene aller Wirtschaftsund Gesellschaftsformen ist. Konkrete Hinweise und Vorgaben für die Ausgestaltung der neuen Gesellschaftsbzw. Wirtschaftsordnung gaben sie nicht. Infolgedessen entwickelten verschiedene kommunistische Politiker und Philosophen Theorien und Strategien, wie der Umsturz und die Neugestaltung der Gesellschaft gelingen könnten. Wladimir Iljitsch Uljanow - besser bekannt als Lenin (1870-1924) - begründete die These, nach der der Sozialismus als eine eigenständige Entwicklungsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus besteht. Seite 310 X Hintergrund Lenin passte den Marxismus an die Bedingungen im Russland des beginnenden 20. Jahrhunderts an und entwickelte ihn so weiter. Von entscheidender Bedeutung sind im Leninismus die Strategie und Taktik der Revolution. Eine kleine Gruppe von Berufsrevolutionären habe als zentrale Führung das Proletariat zu leiten und durch Agitation und Propaganda zum sozialistischen Klassenbewusstsein sowie zur bewussten revolutionären Aktion zu führen. In der praktischen Umsetzung zeigte sich die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Bewusstsein der Berufsrevolutionäre und dem Alltagsbewusstsein der Bevölkerung. Die Masse der Werktätigen wurde dadurch grundlegend von politischen Entscheidungen ausgeschlossen. In Schleswig-Holstein werden die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und ihre Umfeldorganisationen dieser grundlegenden Ideologie zugeordnet. Josef W. Stalin (1879-1953) propagierte nach Lenins Tod den "Aufbau des Sozialismus in einem Land". Er reduzierte die marxistische Theorie auf ein Dogmensystem, das hauptsächlich der Rechtfertigung der Herrschaftsverhältnisse im Sinne der Kommunistischen Partei diente. Dieses System führte zur Beseitigung aller bürgerlichen Freiheiten und Rechtsgarantien und damit zu einem umfassenden Terror gegen weite Bevölkerungskreise. Heute wird die stalinistische Politik von linksextremistischen Gruppierungen überwiegend kritisch gesehen und abgelehnt. Die von Leo Trotzki (1879-1940) vertretenen Ansichten stellten keine tatsächliche Abspaltung vom Kommunismus sowjetischer Prägung dar. Die Lehre Trotzkis betonte die sozialistische Weltrevolution und kritisierte das autoritäre Parteimodell in der Sowjetunion als "bürokratisch entartet". Die trotzkistische Lehre setzt dabei auf eine Seite 311 X Hintergrund direkte Demokratie durch die Errichtung der "Diktatur des Proletariats" in Gestalt der Rätedemokratie und das Beharren auf den proletarischen Internationalismus. Insgesamt spielte Trotzki für die politische Entwicklung in der Sowjetunion eine beträchtliche Rolle, er befürwortete offen die Anwendung von Gewalt als legitimes revolutionäres Mittel, auch gegen die eigenen Kampfgenossen. In Schleswig-Holstein existieren die trotzkistischen Gruppen Sozialistische Alternative (SAV) und Marx 21. Der Maoismus verband seit dem Sieg Mao Tsetungs (1893-1976) in China 1949 die grundlegenden Gedanken des Marxismus-Leninismus mit traditionell chinesischen Elementen. Im Gegensatz zu Lenin vertrat Mao die Strategie der "Umzingelung der Städte durch das Land". Mao schrieb den Bauern die tragende Rolle der Revolution und Hauptstütze des Kommunismus in China zu. Diese Ideen Mao Tsetungs werden heute nicht mehr als die alleinige Schöpfung Maos angesehen. Sie werden als "die Kristallisation der kollektiven Weisheit der Kommunistischen Partei Chinas" bezeichnet, um ihren Inhalt nach den politischen Erfordernissen jeweils neu bestimmen zu können. Die größte Gruppierung dieser ideologischen Ausrichtung ist die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschland (MLPD), die auch Anhänger in Schleswig-Holstein hat. Dem Anarchismus liegt eine philosophisch-politische Lehre zugrunde, die darauf zielt, die Gesellschaft vom Staat zu befreien. Jegliche politische Macht soll vernichtet werden. Dabei differenzieren Anarchistinnen und Anarchisten nicht zwischen demokratisch und diktatorisch organisierten Staaten. Der Staat an sich gilt als das Problem. Die Verweigerung von Hierarchie und Unterordnung führt zu einem prinzipiellen Misstrauen gegenüber jeder Organisationsform. Anarchistinnen und Anarchisten bilden deshalb zumeist lediglich lose strukturierte Gruppierungen. An die Stelle des Staates Seite 312 X Hintergrund soll künftig eine freie Vereinigung von Einzelpersonen und Gruppen ohne Zwangsorganisationen treten, ohne geschriebene Gesetze, Polizei, Militär, Gerichte oder Gefängnisse. In einer solchen Gesellschaft sollen die Menschen aufgrund freiwilliger Verträge harmonisch miteinander leben. Die anarchistische Gesellschaft ist auf der Basis völliger Freiwilligkeit geordnet. In Schleswig-Holstein gehören dazu die Graswurzelbewegung und die Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union (FAU). Besetzung von gesellschaftlich anerkannten Themenfeldern zur Zielerreichung Schwerpunkte linksextremistischer Agitation liegen grundsätzlich auf den Themenfeldern Antifaschismus und Antirassismus sowie Antikapitalismus und Antirepression. Entsprechende Begriffsbestimmungen nach linksextremistischem Verständnis befinden sich im Teil Linksextremismus72 dieses Berichts. Linksextremisten nutzen für ihre Themenfelder positiv besetzte Begriffe, die im zivilgesellschaftlichen Spektrum anerkannt sind und somit eine hohes Anschlusspotenzial an dieses Spektrum haben. Sie deuten diese positiv besetzten Begriffe auf ihre extremistische Zielsetzung und versuchen darüber, bürgerliches Personenpotenzial für ihre Zwecke zu gewinnen. 2.4 Merkmale extremistischer Bestrebungen mit Auslandsbezug Die Aktivitäten der extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug in Deutschland werden maßgeblich beeinflusst durch die aktuellen Ereignisse in den jeweiligen Herkunftsländern und durch 72 Vgl. Kapitel VII.1.2.2, 1.3, 2.1 Seite 313 X Hintergrund die Vorgaben der dortigen zentralen Organisationseinheiten. Das Handeln in Deutschland ist vorrangig darauf ausgerichtet, die jeweiligen Hauptorganisationen in den Heimatländern zu unterstützen, sei es durch Geldspenden, Rekrutierung neuer Mitglieder, Vorhalten eines Rückzugsraumes für politisch verfolgte Organisationsmitglieder sowie durch Lobbyarbeit und Einflussnahme auf die öffentliche Meinung. Der Begriff Extremismus mit Auslandsbezug fasst unterschiedliche Bestrebungen zusammen, die ihren Ursprung jeweils in politischen, sozialen oder ethnischen Konflikten in Ländern außerhalb Deutschlands haben, und die nicht primär aus islamistischer Motivation handeln. Es geht dabei also nicht um ein einheitliches, tendenziell untereinander bündnisfähiges Spektrum, sondern um sehr unterschiedliche, teilweise gegenläufige Bestrebungen. Einige dieser Bestrebungen sind geprägt durch Ideologieelemente aus dem Linksextremismus und beziehen sich auf universelle kommunistische bzw. sozialistische Vordenkerinnen und Vordenker wie Marx und Lenin, so beispielsweise die türkisch-linksextremistische Marxistische Leninistische Kommunistische Partei (MLKP). Bei einigen extremistischen Gruppierungen mit Auslandsbezug aus dem linken Spektrum ist die ursprüngliche sozialistische oder kommunistische Ausrichtung inzwischen in den Hintergrund getreten und durch eigene Ideologieelemente und Forderungen modifiziert worden, so beispielsweise bei der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Bei anderen extremistischen Bestrebungen mit Auslandsbezug finden sich Ideologieelemente des Rechtsextremismus in Form von Rassismus und einer nationalistischen Prägung, die der eigenen Volksgruppe einen deutlich höheren Wert beimisst als anderen Ethnien. Die Vordenkerinnen und Vordenker der jeweiligen Ideologie stammen in der Regel aus der jeweiligen Volksgruppe, die Seite 314 X Hintergrund sie ideologisch überhöhen, beispielsweise Nihal Atsiz für die Ülkücü-Bewegung. Der Begriff Ülkücü-Bewegung, umgangssprachlich auch oft als "Graue Wölfe" bezeichnet, wird hier synonym verwendet für türkischen Rechtsextremismus. Obwohl die Aktivitäten dieser extremistischen Organisationen sich nicht primär gegen die Bundesrepublik Deutschland richten, sind sie für die äußere und innere Sicherheit Deutschlands problematisch: Eine Unterstützung von Organisationen, die im Ausland gewalttätig und terroristisch agieren, von deutschem Boden aus gefährdet auswärtige Belange der Bundesrepublik und schadet der Völkerverständigung. Das gewaltsame Austragen von Konflikten verschiedener Migrantengruppen untereinander innerhalb der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt die innere Sicherheit, missachtet das staatliche Gewaltmonopol und gefährdet die verfassungsmäßigen Rechte der jeweiligen Opfer. In Schleswig-Holstein sind hinsichtlich des Extremismus mit Auslandsbezug vor allem die Wechselwirkungen der mitgliederstärksten Beobachtungsobjekte mit Bezug zur Türkei, nämlich der PKK und des türkischen Rechtsextremismus/Ülkücü-Bewegung relevant. Die PKK wird vom Verfassungsschutz in erster Linie beobachtet, weil sie auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Dies äußert sich dergestalt, dass sie im Ausland ihre politischen Ziele mit militärischer und terroristischer Gewalt verfolgt und diese Gewaltanwendung durch Spendensammlungen und Rekrutierungen in Deutschland fördert. Obwohl die PKK in Europa seit Jahren auf spektakuläre Gewaltaktionen verzichtet, um sich im politischen Raum als seriöse Interessenvertretung für kurdische Belange zu profilieren, gefährdet ihre Tätigkeit auch die innere Sicherheit Deutschlands: Durch einen flächendeckend vorhandenen Kaderapparat und eigene Medien kann die PKK kurzfristig Tausende Seite 315 X Hintergrund von Anhängerinnen und Anhängern zu Protestwellen vorgegebener Intensität mobilisieren. Nach dem Verständnis der PKK umfasst das von ihr sogenannte friedliche Protestverhalten auch Straftaten wie zum Beispiel Hausund Landfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und gefährliche Eingriffe in den Verkehr. Gewalttätige Ausschreitungen - vor allem gegen rechtsextremistische türkische Personen - im Rahmen von Versammlungslagen werden von den PKK-nahen Organisationen in Deutschland ebenso billigend in Kauf genommen wie Sachbeschädigungen und Brandanschläge gegen türkische Objekte durch sogenannte Apoistische Jugendinitiativen. Der Begriff "apoistisch" nimmt Bezug auf den PKK-Gründer Abdullah Öcalan, der von seinen Anhängern verehrend "Apo" - Kurdisch für "Onkel" und abkürzend für "Abdullah" - genannt wird. "Apoistisch" bedeutet folglich "Öcalan-treu". Der Begriff "Apoistische Jugendinitiative" wird regelmäßig in Bekennungen zu Straftaten auf der Internetseite der PKK-Jugendorganisation verwendet. Der türkische Linksextremismus umfasst ein breites Spektrum an verschiedenen Organisationen und Parteien. In Schleswig-Holstein ist vorwiegend die MLKP vertreten. Ihre Ideologie ist kommunistisch mit einer marxistisch-leninistischen Ausprägung. Für die meisten der türkisch linksextremistischen Organisationen gilt Deutschland als Rückzugsraum, weshalb dort grundsätzlich keine gewaltsamen Aktionen durchgeführt werden. Allerdings wird über die Mitglieder von Deutschland aus finanzielle und logistische Unterstützung für gewaltsame Aktionen in der Türkei geleistet. Dadurch gefährden sie auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Die Ülkücü-Bewegung zeichnet sich durch einen übersteigerten Nationalismus aus, welcher sich insbesondere in der Forderung Seite 316 X Hintergrund nach einer Vereinigung aller Turkvölker in einem gemeinsamen Staat auszeichnet. Die Anhänger der Ülkücü-Bewegung sehen im Türkentum eine Überlegenheit gegenüber anderen Völkern und Nationen. Damit geht eine rassistische Grundhaltung einher. Die Ülkücü-Bewegung richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker. Für die Bewegung sind vor allem Themen, welche ihren Ursprung in der Türkei haben, von Interesse. Hierzu spielen insbesondere außenpolitische sowie wirtschaftliche und historische Themen eine Rolle. Der säkulare palästinensische Extremismus in Form der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) ist durch eine marxistisch-leninistische Ideologie geprägt. Deutschland ist für die PFLP kein Operationsgebiet mehr für terroristische Aktionen, sondern wird lediglich als Raum für propagandistische Zwecke und Spendenwerbung genutzt, um die Organisation im Ausland zu unterstützen. Dadurch gefährden sie auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. 2.5 Merkmale der Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürgerinnen und Reichsbürger und Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter stellen eine eigene Form des politischen Extremismus dar. Sie weisen nur in Teilen Bezüge zum Rechtsextremismus auf. Reichsbürgerinnen und Reichsbürger und Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter erkennen aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen die Bundesrepublik Deutschland und damit auch die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht an. Seite 317 X Hintergrund Reichsbürgerinnen und Reichsbürger stützen ihre Argumentation auf das "Deutsche Reich", das nach ihrer Auffassung fortbesteht. Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter hingegen stellen nicht unbedingt auf das "Deutsche Reich" ab, verwenden aber ähnliche Argumentationsmuster. Teilweise beanspruchen sie eigene "Hoheitsgebiete", die sie "selbst verwalten". Ablehnung des Demokratieund Rechtsstaatsprinzips Für Reichsbürgerinnen und Reichsbürger sowie Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter gibt es den Staat Bundesrepublik Deutschland nicht. Seine Rechtsordnung, insbesondere das Grundgesetz seien unverbindlich. Demokratie, Parlamentarismus, das Mehrparteiensystem und das Gewaltmonopol des Staates werden abgelehnt. Aus ihrer Ideologie leiten sie ein umfassendes Widerstandsrecht gegen staatliche Maßnahmen ab. Diese nach außen auch aggressiv-kämpferisch getragene Grundhaltung macht die Reichsbürgerund Selbstverwalterszene zu einem Feind der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In Verbindung mit der auffällig hohen Affinität zu Waffen geht von der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene ein latent hohes Gefahrenpotenzial aus. In zahlreichen teilweise verbal-aggressiv formulierten Schreiben mit pseudojuristischen Argumenten an Behörden bestreiten sie die Existenz der Bundesrepublik. Stattdessen verwenden sie Bezeichnungen wie "BRiD"73 oder "BRD-GmbH"74 und erklären, staatliche Behörden und Kommunen seien privatrechtliche Firmen oder 73 Abkürzung für "Bundesrepublik in Deutschland" 74 Abkürzung für "Bundesrepublik Deutschland-GmbH". Mit solchen und ähnlichen Abkürzungen wollen Reichsbürger und Selbstverwalter unterstreichen, dass sie die Bundesrepublik Deutschland nicht für einen souveränen Staat, sondern für ein privates Unternehmen halten. Seite 318 X Hintergrund Unternehmen. Als vermeintliche Belege dieser Behauptungen wird auf entsprechende Auszüge aus öffentlichen Firmenregistern hingewiesen, in denen auch Behörden eingetragen sind. Mit derartigen Schreiben versuchen Reichsbürgerinnen und Reichsbürger und Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter, sich rechtlichen Pflichten gegenüber dem Staat zu entziehen, um hauptsächlich Steuern, Gebühren und Abgaben nicht zu zahlen. Darüber hinaus werden teilweise Behörden und gezielt deren Beschäftigte unter Druck gesetzt und eingeschüchtert, indem ihnen mit Schadenersatzforderungen, Bußgeldern oder Zwangsmaßnahmen gedroht wird, falls sie nicht machen, was in den einschlägigen Schreiben der Szene steht. Nicht selten berufen sich Reichsbürger und Selbstverwalter dabei auf eine eigene Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit, die bei Nichtbefolgung ihrer Anliegen tätig werde. Den Behörden werden zudem Fristen für eine Reaktion gesetzt. Lassen die Behörden die Frist verstreichen, wird dies als Zustimmung gewertet. Vermeintlich legitimiert aufgrund ihrer Ideologie nimmt die Szene ein Widerstandsund Notwehrrecht für sich in Anspruch. Behördliche (Vollstreckungs-) maßnahmen sind demzufolge rechtswidrige Angriffe, denen man auch mit Gewalt begegnen darf. Bürger sind nur "Personal" Anfänglich beriefen sich Reichsbürgerinnen und Reichsbürger und Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Staat sei und dessen Bürgerinnen und Bürger nur "Personal" einer unter Besatzung der Alliierten stehenden GmbH seien. Die "Betriebszugehörigkeit" zu dieser privatrechtlichen Firma würde mit dem Personalausweis dokumentiert. Gäbe man den Personalausweis bei den Behörden ab, so steige Seite 319 X Hintergrund man aus der Bundesrepublik aus. Das Innenministerium Schleswig-Holstein reagierte darauf bereits im Jahr 2017 mit der Einführung einer sogenannten Aufbewahrungsgebühr. Mit Einführung der Gebühr ging die Anzahl der zur Verwahrung abgegebenen Personalausweise drastisch zurück. Dennoch ist die Differenzierung zwischen dem "Menschen" auf der einen Seite und der durch Ausstellung einer Geburtsurkunde oder eines Personalausweises künstlich geschaffenen "juristischen Person" auf der anderen Seite weiterhin ein gängiges Argument der Szene. Regelmäßig wird geschlussfolgert, der "Mensch" sei nicht für Forderungen an die "juristische Person" zuständig. 2.6 Merkmale der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates Verunglimpfung demokratischer Prozesse Delegitimiererinnen und Delegitimierer machen den demokratischen Rechtsstaat, dessen Entscheidungen und seine Repräsentantinnen und Repräsentanten verächtlich. Die Szene verunglimpft demokratische Prozesse und setzt unter anderem in diffamierender Weise den parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat mit der NS-Diktatur gleich. Staatliche Maßnahmen werden als illegitim gesehen. Die Delegitimiererszene leitet daraus ein Widerstandsrecht ab, das die Androhung von Gewalt und Sabotageaktionen miteinschließt. Verbale Agitation, Drohungen und realweltliche Aktionen zielen auf eine Delegitimierung des Staates ab. Sie richten sich aktiv-kämpferisch gegen das Demokratieund Rechtsstaatsprinzip und gefährden die Sicherheit des Staates. Seite 320 X Hintergrund Keine einheitliche Ideologie und kein Gegenentwurf zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung Delegitimiererinnen und Delegitimierer verfügen über keine einheitliche neue oder hergebrachte Ideologie. Sie greifen auf einzelne Elemente unterschiedlicher Ideologien zurück und verfolgen keinen klar definierten politisch-gesellschaftlichen Gegenentwurf zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Dies unterscheidet sie im Kern von den bislang bekannten verfassungsfeindlichen Bestrebungen wie dem Rechtsextremismus, dem Linksextremismus, dem Salafismus, der Reichsbürgerbewegung oder dem Extremismus mit Auslandsbezug. Rekurs auf Verschwörungstheorien Die Szene nutzt nahezu durchgängig Versatzstücke verschiedenster Verschwörungserzählungen. Oftmals weisen diese Theorien antisemitische Narrative und Ressentiments auf. Delegitimiererinnen und Delegitimierer eint eine deutlich ausgeprägte Elitenfeindlichkeit und ein absolutes "Freund-Feind-Denken". Der Rückgriff auf Verschwörungstheorien entfaltet dabei eine erhebliche katalysatorische Wirkung. Einige Anhängerinnen und Anhänger halten zum Beispiel die Corona-pandemie für ein Konstrukt, eine internationale Verschwörung pädophiler Eliten, um eine weltweite Diktatur zu errichten. Fake News Zur vermeintlichen Nachvollziehbarkeit ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebung verbreiten Delegitimiererinnen und Delegitimierer in erheblichem Umfang falsche Nachrichten. Für die sogenannten Fake News nutzen sie in der Regel den Messenger-dienst Telegram. Diese Aufforderungen und Aussagen belegen, dass das Gewaltmonopol des Staates, das parlamentarische System und Seite 321 X Hintergrund rechtsstaatliche Verfahren verächtlich gemacht und abgelehnt werden. Die kontinuierliche Agitation der Delegitimiererinnen und Delegitimierer, die darüber hinaus auch Verstöße gegen den Gedanken der Völkerverständigung aufweist, zielt auf eine breite Akzeptanz in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft und damit im Ergebnis auf eine Destabilisierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 3 Deepfakes In einer Ära, in der digitale Innovationen unaufhaltsam voranschreiten, rückt die Thematik der Deepfakes in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion. Diese künstlich generierten Manipulationen stellen nicht nur einen technologischen Fortschritt dar, sondern bergen auch erhebliche Herausforderungen und Gefahren. Die Fähigkeit, real existierende Stimmen und Personen zu imitieren oder gar fiktive Identitäten zu schaffen, wirft Fragen nach Authentizität und Vertrauenswürdigkeit auf. Der Einsatz dieser Technologie in verschiedenen Lebensbereichen birgt Risiken im Kontext von Desinformation und politischer Destabilisierung. In dieser dynamischen Landschaft der digitalen Manipulation ist es auch für den Verfassungsschutz von entscheidender Bedeutung, einen umfassenden Einblick in die Entwicklungen und Implikationen der Deepfake-Technologie zu gewinnen. Deepfakes75 bezeichnen manipulierte Fotos, Videos oder Audio-Dateien, die durch künstliche neuronale Netzwerke oder vereinfacht künstliche Intelligenz (KI) verändert oder erstellt wurden. Diese Technologie ermöglicht die Imitation und Manipulation sowohl real existierender als auch fiktiver Stimmen und Personen. 75 Zusammensetzung aus der KI Technik "Deep learning" und "Fakes" (engl. Fälschung). Seite 322 X Hintergrund Dadurch können Veränderungen erzeugt werden, die von der Realität abweichen. Die manipulierten Bilder, Videos oder Tonaufnahmen sind dabei schwer als Fälschungen zu erkennen, wobei Videos die häufigste Form von Deepfakes sind. Das Thema Deepfakes erlangte 2017 auf Reddit große Aufmerksamkeit, als ein Nutzer einen Deep Learning Algorithmus veröffentlichte, der die Erstellung manipulierter Videos erleichterte.76 Es wird deutlich, dass Trends, die den sozialen Netzwerken schaden, häufig auch dort entstehen. Neben Deepfakes existieren auch sogenannte Cheap Fakes (auch Shallow Fakes genannt), die audiovisuelle Fälschungen darstellen, wie beispielsweise verlangsamte Videos oder durch Schnitttechnik manipulierte Inhalte, bei denen relevante Teile entfernt werden. Diese Fakes können im Gegensatz zu Deepfakes leicht hergestellt werden und werden vorrangig in sozialen Medien verbreitet.77 Durch die Manipulation können Aussagen und Szenerien verändert dargestellt werden und einen anderen kontextualen Schwerpunkt erhalten. Deepfakes werden dagegen durch die Anleitung von KI durch menschliche Hand und die Bereicherung mit kontextspezifischen Daten geschaffen, wie bereits existierende Bilder, Tonaufnahmen oder Videos einer Person. Auf diese Weise entstehen neue Versionen aus vorhandenem Material. Der Ursprung eines Deepfakes liegt daher immer im menschlichen Einfluss. 76 https://www.onlinesicherheit.gv.at/Services/News/Die-Entstehungvon-Deep-Fakes-auf-Reddit-und-ihre-Verbreitung.html; aufgerufen am 29.01.2024. 77 https://www.onlinesicherheit.gv.at/Services/News/Cheap-Fake--audiovisuelle-FProzentC3ProzentA4lschungen-mithilfe-einfacher-Mittel.html; aufgerufen am 29.01.2024. Seite 323 X Hintergrund Die vorherrschenden Bearbeitungsund Manipulationstechniken sind insbesondere "Face Swapping" (Ersetzen eines Gesichts durch das einer anderen Person), "Text-to-Speech" (künstliche Erzeugung einer Stimme, die einen vorgegeben Text spricht), "Face Reenactment" (Manipulation von Kopfbewegungen, Mimik oder Lippenbewegungen einer Person) und "Voice Conversion" (Veränderung einer Stimme zu der einer anderen Person). Bereits heute kommen Fakes durch neuronale Netzwerke in verschiedenen Lebensbereichen zum Einsatz. In der Filmindustrie ist es möglich, bereits verstorbene Schauspieler künstlich in Filmen auftreten zu lassen, Gesichter von Schauspielern auf andere Körper zu setzen oder die Akteure zu verjüngen oder altern zu lassen. Im Gesundheitswesen können beispielsweise Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS), die ihre Sprechfähigkeit verloren haben, durch technische Möglichkeiten weiterhin mit ihrer eigenen Stimme kommunizieren und auch im Marketingbereich gibt es zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten für Deepfakes. Trotz der positiven Anwendungen bergen Deepfakes auch erhebliche Risiken. Insbesondere bei schwer erkennbaren Deepfakes besteht ein erhöhtes Gefahrenpotenzial. Diese könnten in Desinformationskampagnen gezielt genutzt werden, um die Gesellschaft zu spalten und das Vertrauen in den Staat zu untergraben. Über soziale Medien verbreiten sich solche Desinformationen rasch und sind aufgrund ihrer Geschwindigkeit und Reichweite schwer zu korrigieren. Politische Deepfakes zielen oft darauf ab, den Staat zu destabilisieren, indem sie die Bevölkerung verunsichern.78 78 https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/umgang-mit-desinformation/was-ist-desinformation-1875148; aufgerufen am 29.01.2024. Seite 324 X Hintergrund Im Jahr 2023 gab es mehrere politisch relevante Deepfakes, die die Destabilisierung des Staates beabsichtigen: Ein Beispiel ist ein Deepfake-Video, das Olaf Scholz zeigt, in dem er die Absicht äußert, die AfD verbieten zu wollen. Obwohl Stimme und Bild zunächst täuschend echt wirken, lassen sich bei genauerer Betrachtung Asynchronitäten zwischen Lippenbewegungen und gesprochenem Wort sowie leichte Verzerrungen der Wangen feststellen.79 Im Nahostkonflikt wurden ebenfalls Deepfakes für propagandistische Zwecke verbreitet. Dabei wurden hauptsächlich künstlich generierte Bilder gezeigt, die Emotionen wie Mitleid verstärken sollen. Ein bekanntes Beispiel ist ein Bild eines Vaters der mit seinen fünf Kindern vor Trümmern steht. Dieses Bild wurde vorwiegend auf den Plattformen X und Instagram geteilt. Bei genauerer Betrachtung fallen Verzerrungen bei den Gliedmaßen auf, und es sind teilweise zu viele oder zu wenige Zehen zu erkennen.80 Der Umgang mit Deepfakes in den sozialen Medien, Rundfunk und Fernsehen erfordert eine breite in der Bevölkerung vorhandene Medienkompetenz. Es ist möglich, Deepfakes anhand von Verzerrungen im Gesicht, Körperteilen, Bekleidung oder unnatürlicher Mimik zu erkennen. Allerdings entwickelt sich die Technik stetig weiter, sodass es zunehmend schwieriger wird, Deepfakes eindeutig zu identifizieren. Meist werden sie im Rahmen von Desinformationskampagnen im Zusammenhang mit emotionalen Themen ein79 https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/panorama/scholz-deepfake-zentrum-politische-schoenheit-100.html; aufgerufen am 29.01.2024. 80 https://www.dw.com/de/faktencheck-ki-fakes-in-israels-krieg-gegendie-hamas/a-67356280; aufgerufen am 29.01.2024. Seite 325 X Hintergrund gesetzt, was es schwermacht, den audiovisuellen Inhalt zu Gunsten eines Faktenchecks zu ignorieren. Im privaten Gebrauch kann es hilfreich sein, Videos oder Fotos im Vollbildmodus auf Verzerrungen oder andere Unnatürlichkeiten zu überprüfen. Des Weiteren ist es wichtig, den Kontext zu betrachten und zu prüfen, ob das Material auch auf anderen Nachrichtenseiten ähnlich dargestellt wird. Rückwärtssuchen und Faktencheckseiten81 wie das German-Austrian Digital Media Observatory (GADMO) unter https://gadmo.eu oder der Verein Mimikama unter www.mimikama.org bieten zusätzliche Überprüfungsmöglichkeiten. Ein möglicher Lösungsansatz besteht darin, Videos von vertrauenswürdigen Quellen (Herstellerseitig) direkt mit Wasserzeichen zu versehen oder Blockchain-Technologien zu nutzen.82 Obwohl es derzeit mit begrenzten technischen Kenntnissen möglich ist, Deepfakes zu erstellen, lassen sich die einfach hergestellten Deepfakes bislang noch relativ gut identifizieren. Mit stetiger technischer Entwicklung ist zu erwarten, dass die Erkennung von Deepfakes zunehmend schwieriger wird, und häufiger wird es eine Herausforderung werden, echte Inhalte von gefälschten Videos, Fotos oder Tonaufnahmen zu unterscheiden. Die ständige Verfügbarkeit einer Vielzahl von Informationen kann bei einzelnen Nutzerinnen und Nutzern zu einer Informationsüberflutung führen, die die Unterscheidung der Nachrichtenqualität 81 https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/umgang-mit-desinformation/die-arbeit-der-faktenchecker-2081802; aufgerufen am 29.01.2024. 82 https://demokratie.niedersachsen.de/startseite/themen/digitalisierung/fake_news/deepfakes-von-kreierten-wahrheiten-und-geschaffenen-realitaten-193861.html; aufgerufen am 29.01.2024. Seite 326 X Hintergrund erschwert. Dabei bewegt sich die Konsumentin oder der Konsument häufig in seiner eigenen Komfortzone und konsumiert hauptsächlich Informationen, die auch seiner eigenen Wahrnehmung entsprechen. Es liegt hier an dem einzelnen Nutzer, seine Informationsquellen regelmäßig zu hinterfragen und zu überprüfen. Seite 327 XI Liste der im Bericht genannten extremistischen Organisationen 1 Rechtsextremistische Organisationen * Aryan Circle (AC) * Bollstein Kiel * Der III. Weg * Die Heimat (HEIMAT) * Die Rechte * Hammerskins * Identitäre Bewegung (IB) * Junge Nationalisten (JN) * Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) * Nationalsozialisten Bad Segeberg (NSBS) * Völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss (ehemals "Flügel") in der AfD * Wählergemeinschaft Heimat Neumünster (WHN) Seite 328 XI Liste der im Bericht genannten extremistischen Organisationen 2 Reichsbürger und Selbstverwalter * Indigenes Volk Germaniten (IVG) * Königreich Deutschland (KRD) * Königreich Preußen * Wahlkommission der Königlich Preußischen Provinz Schleswig-Holstein (WKSH) 3 Islamistische und islamistisch-terroristische Organisationen * al-Qaida/Kern-al-Qaida (AQ) * AMAL * an-Nahda * DMG-B Deutschsprachige muslimische Gemeinschaft Braunschweig e.V. * DMG Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V. * ECFR European Council for Fatwa and Research x * Furkan-Gemeinschaft (Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) * Generation Islam (GI) * HAMAS (Harakat al-Muqawama al-Islamiyya; "Islamische Widerstandsbewegung") Seite 329 XI Liste der im Bericht genannten extremistischen Organisationen * "Qassam-Brigaden" * HIA Hizb-i Islami Afghanistan (Islamische Partei Afghanistan) * Hizb Allah/Hisbollah * Hizb ut-Tahrir (HuT; Partei der Befreiung) * HTS Hai'at Tahrir ash-Sham (Komitee zur Befreiung der Levante) * IGS Islamische Gemeinschaft der Schiitischen Gemeinden Deutschlands e.V. Islamischer Staat (IS; vormals "Islamischer Staat im Irak und Großsyrien" - ISIS) * Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) * Islamisches Zentrum Hamburg (IZH) * Muslimbruderschaft/Muslimbrüder (MB; al-Ikhwan al-Muslimun) * Palestine Liberation Organization (PLO; Palästinensische Befreiungsorganisation) * Palästinensischer Islamischer Jihad (PIJ) * Realität Islam (RI) * Samidoun (Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene) * Tablighi Jama'at (TJ; Missionierungsgesellschaft) * Türkische Hizbullah Seite 330 XI Liste der im Bericht genannten extremistischen Organisationen 4 Linksextremistische Organisationen * Anarchistische Gruppe Lübeck (AGL) * Antifa Kiel * Antifa Neumünster * Basis Antifa Lübeck * Deutsche Kommunistische Partei (DKP) * Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union (FAU) * Graswurzelbewegung * Interventionistische Linke (IL) * La Rage * Marx21 * Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) * Rote Hilfe e.V. (RH) * Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) * Sozialistische Alternative (SAV) * TurboKlimaKampfGruppe (TKKG) Seite 331 XI Liste der im Bericht genannten extremistischen Organisationen 5 Extremistische Organisationen mit Auslandsbezug (nicht islamistisch) * Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistane, PKK) * Bund Sozialistischer Frauen (Sosyalist Kadinlar Birligi, SKB) * Demokratischer Gesellschaftskongress der Kurd*innen in Europa (Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen Li Ewropa, KCDK-E) * Demokratische Kurdische Gemeinde Zentrum Neumünster e. V. (DKTM Neumünster) * Föderation Demokratisches Gesellschaftszentrum der Kurdinnen in Nord Deutschland e. V. (Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistaniyan le Bakure Alman, FED-DEM) * Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine (Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu, ADÜTDF) * Freiheitsfalken Kurdistans (Teyrebazen Azadiya Kurdistan, TAK) * Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (Koma Civaken Kurdistan, KCK) * Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland (KON-MED) * Kurdisches Gemeindezentrum Schleswig-Holstein e. V. (DKTM Kiel) Seite 332 XI Liste der im Bericht genannten extremistischen Organisationen * Marxistische Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) * artei der Demokratischen Union (Partiya Yekitiya Demokrat, PYD) * Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetci Hareket Partisi, MHP) * Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung (Tevgera Ciwanen Welatparez u Soresger, TCS) * Vereinte Revolutionäre Bewegung der Völker (Halklarin Birlesik Devrim Hareketi, HBDH) * Volksfront für die Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine, PFLP) * Volksverteidigungskräfte (Hezen Parastina Gel, HPG) * Volksverteidigungseinheiten (Yekineyen Parastina Gel, YPG) * Young Struggle (YS) Seite 333 Seite 334 Seite 335