SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 19/2937 19. Wahlperiode 2021-05-04 Bericht der Landesregierung Verfassungsschutzbericht 2020 Federführend ist das Ministerium für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis ....................................................................................................I Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................ VI I Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein ..........................................................1 1 Der Verfassungsschutz als Früherkennungsund Frühwarnsystem ....................1 2 Gesetzlicher Auftrag und Aufgaben .....................................................................1 3 Organisation des Verfassungsschutzes ...............................................................6 4 Kontrolle des Verfassungsschutzes .....................................................................6 5 Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz ..........................................8 6 Informationsaustausch mit anderen öffentlichen Stellen ....................................10 7 Geheimund Sabotageschutz, Zuverlässigkeitsüberprüfungen .........................10 8 Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde bei Aufenthaltsund Einbürgerungsverfahren ....................................................................................13 9 Kontakt ...............................................................................................................16 II Politisch motivierte Kriminalität (PMK).............................................................17 1 Allgemeines .......................................................................................................17 1.1 Definition .....................................................................................................17 1.2 Phänomenbereiche .....................................................................................18 2 Gesamtüberblick der Entwicklung der PMK 2020 ..............................................19 3 Phänomenbereiche der Politisch motivierten Kriminalität ..................................21 3.1 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - rechts - ........................21 3.2 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - links -...........................24 3.3 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - ausländische Ideologie - ....................................................................................................................25 3.4 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - religiöse Ideologie - .....26 3.5 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - nicht zuzuordnen -.......27 4 Phänomenübergreifende PMK ...........................................................................29 4.1 Straftaten gegen Amtsund Mandatsträger ................................................29 4.2 Antisemitistische Straftaten .........................................................................30 4.3 Betrachtung Reichsbürger/Selbstverwalter .................................................31 5 Betrachtung Versammlungsgeschehen im Zusammenhang mit der CoronaPandemie ..........................................................................................................32 I Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode III Rechtsextremistische Bestrebungen...............................................................34 1 Überblick ............................................................................................................34 2 Wesensmerkmale des Rechtsextremismus .......................................................38 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Phänomenbereich Rechtsextremismus ...........................................................................................40 4 Rechtsextremistisches Personenpotenzial in Schleswig-Holstein ......................47 5 Organisationen und Gruppierungen des rechtsextremistischen Spektrums .......48 5.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD)....................................48 5.2 Weitere rechtsextremistische Parteien........................................................58 5.3 Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien ................59 5.4 Neonazistische, parteiunabhängige beziehungsweise parteiungebundene Strukturen ...................................................................................................60 5.4.1 Personenzusammenschlüsse ............................................................60 5.4.2 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) ...........................................64 5.4.3 Rechtsextremistische Verlage ...........................................................67 6 Subkulturell geprägtes, weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial.............................................................................................68 7 Rechtsextremistische Bestrebungen im Internet ................................................70 IV Reichsbürger und Selbstverwalter ..................................................................73 1 Überblick ............................................................................................................73 2 Wesensmerkmale der Reichsbürger und Selbstverwalter ..................................74 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Phänomenbereich Reichsbürger und Selbstverwalter ...........................................................................................76 4 Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter .................................76 5 Organisationen und Gruppierungen der Reichsbürger und Selbstverwalter ......77 5.1 "Staatenbund Deutsches Reich" .................................................................78 5.2 "Amt für Menschenrecht" ............................................................................79 5.3 Verfassungsgebende Versammlung für das Völkerrechtssubjekt Bund Deutscher Völker (VV) ................................................................................80 5.4 Geeinte Deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) .......................................80 6 Unstrukturiertes Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter ......81 V Islamismus und Islamistischer Terrorismus ...................................................83 1 Überblick ............................................................................................................83 2 Merkmale des Islamismus..................................................................................86 2.1 Islamismus ..................................................................................................86 II Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 2.2 Jihadismus ..................................................................................................87 2.3 Salafismus ..................................................................................................88 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Phänomenbereich Islamismus...90 3.1 Antisemitismus im Islamismus ....................................................................91 3.2 Verschwörungstheorien im Islamismus.......................................................95 3.3 Reaktionen der islamistischen Szene auf die Corona-Maßnahmen ...........96 4 Organisationen .................................................................................................101 4.1 Terroristische Organisationen ...................................................................101 4.1.1 Der Islamische Staat (IS) .................................................................101 4.1.2 Das al-Qaida-Netzwerk ...................................................................105 4.2 Weitere islamistische Organisationen .......................................................108 4.2.1 Die Muslimbruderschaft/Muslimbrüder (MB; arabisch: al-Ikhwan alMuslimun) .......................................................................................110 4.2.2 Die Furkan-Gemeinschaft (türkisch: Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) ..............................................................................................111 4.2.3 Die Hizb ut-Tahrir und ihr nahestehende Gruppierungen ................112 4.2.4 Die Hizb Allah (arabisch für: die Partei Gottes) ...............................114 4.2.5 Einfluss regierungstreuer Iraner auf in Deutschland lebende Schiiten ..........................................................................................115 5 Entwicklung der Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland und in Schleswig-Holstein ..........................................................116 5.1 Lageeinschätzung im Bereich des islamistischen Terrorismus .................117 5.2 Wesentliche Faktoren für die Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus ...............................................................................................121 5.3 Ausreiseund Rückkehrbewegungen von Jihadisten und ihren Familienangehörigen ins und aus dem Kampfgebiet ................................124 5.3.1 Bundesweite Entwicklungen ............................................................125 5.3.2 Aktuelle Situation in Schleswig-Holstein ..........................................127 6 Entwicklung salafistischer Bestrebungen in Schleswig-Holstein ......................128 6.1 Salafistisches Personenpotenzial .............................................................130 6.2 Salafistische Missionierungsaktivitäten und Schwerpunkte salafistischer Aktionen ....................................................................................................132 6.2.1 Vernetzung der Szene in Schleswig-Holstein ..................................132 6.2.2 Online-Seminare und Vorträge zur Verbreitung der salafistischen Ideologie .........................................................................................134 6.2.3 Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten der salafistischen Szene ..........135 III Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 7 Staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung des Islamismus und islamistischen Terrorismus .....................................................................................................136 7.1 Strafverfahren gegen islamistische Terroristen aus Schleswig-Holstein ...137 7.2 Präventionsund Beratungsstellen gegen religiös begründeten Extremismus in Schleswig-Holstein ..........................................................140 8 Mitgliederund Anhängerzahlen ......................................................................142 VI Linksextremistische Bestrebungen ...............................................................143 1 Überblick ..........................................................................................................143 2 Wesensmerkmale des Linksextremismus ........................................................147 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Phänomenbereich Linksextremismus............................................................................................149 4 Organisationen und Gruppierungen des linksextremistischen Spektrums .......151 4.1 Dogmatischer Linksextremismus ..............................................................151 4.1.1 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) ........................................151 4.1.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) .............................153 4.1.3 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) .................154 4.2 Undogmatischer Linksextremismus ..........................................................155 4.2.1 Autonome .......................................................................................156 4.2.2 Postautonome ................................................................................157 4.3 Rote Hilfe e.V. (RH) ..................................................................................159 5 Linksextremistische Aktivitäten ........................................................................162 5.1 Antifaschismus und Antirassismus............................................................162 5.2 Beteiligung im Rahmen der Klimabewegung ............................................167 5.3 Anti-Gentrifizierung ...................................................................................169 6 Mitgliederentwicklung der linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen ................................................................................................171 VII Extremismus mit Auslandsbezug .................................................................172 1 Überblick ..........................................................................................................172 2 Wesensmerkmale und Begriffsbestimmungen .................................................172 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug ..........................................................................................175 4 Organisationen .................................................................................................176 4.1 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ................................................................176 4.2 Türkischer Linksextremismus, insbesondere Marxistische Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) ................................................................180 IV Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 4.3 Türkischer Rechtsextremismus/Ülkücü-Bewegung ...................................180 5 Entwicklungen im Berichtsjahr .........................................................................181 5.1 Reaktionen auf Militäroperationen der Türkei im Nahen Osten ................182 5.2 Langer Marsch für Öcalan von Hannover nach Hamburg .........................184 5.3 Kampagne "Zeit für Freiheit" .....................................................................185 5.4 Reaktionen auf den Bergkarabach-Konflikt und auf das Verbot der ÜlkücüBewegung in Frankreich ...........................................................................186 5.5 Anknüpfen der PKK an die Umweltund Klimaschutzbewegung ..............187 6 Mitgliederentwicklung im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug 2016 bis 2020 ..................................................................................................189 VIII Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz und Proliferationsbekämpfung ......190 1 Überblick ..........................................................................................................190 2 Vorgehen ausländischer Nachrichtendienste ...................................................191 2.1 Klassische nachrichtendienstliche Aufklärung ..........................................191 2.2 Digitale nachrichtendienstliche Aufklärung ...............................................192 2.3 Desinformationskampagnen .....................................................................193 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Bereich Spionageabwehr.........194 4 Wirtschaftsspionage und Wirtschaftsschutz .....................................................196 5 Proliferationsbekämpfung ................................................................................197 6 Cyber-Spionage und -Sabotage .......................................................................199 6.1 Cyberangriffe ............................................................................................199 6.2 Erhöhte Angriffsgefahr im Homeoffice ......................................................201 6.3 Cyber-Crime .............................................................................................202 7 Verfassungsschutz als Ansprechpartner ..........................................................202 IX. Übersicht im Bericht genannter extremistischer Organisationen .............204 1 Rechtsextremistische Organisationen ..............................................................204 2 Reichsbürger und Selbstverwalter ...................................................................204 3 Islamistische und islamistisch-terroristische Organisationen ...........................205 4 Linksextremistische Organisationen.................................................................205 5 Extremistische Organisationen mit Auslandsbezug (nicht islamistisch) ...........205 V Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Abkürzungsverzeichnis Abs. Absatz ADÜTDF Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine (Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu) AfD Alternative für Deutschland ANF (1) Föderation der Weltordnung in Europa (Avrupa Nizam-i Alem Federasyonu) ANF (2) Firatnews Agency (Ajansa Nuceyan a Firate) Anmerk. d. Verf. Anmerkung des Verfassers AQAH al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel AQI al-Qaida im Irak AQM al-Qaida im Islamischen Maghreb APT Advanced Persistent Threats ATB Verband der türkischen Kulturvereine in Europa (Avrupa Türk Kültür Dernekleri Birligi) BfV Bundesamt für Verfassungsschutz BGH Bundesgerichtshof BKA Bundeskriminalamt BRD Bundesrepublik Deutschland BND Bundesnachrichtendienst BSI Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik bspw. beispielsweise BVerfG Bundesverfassungsgericht bzw. beziehungsweise B&H Blood & Honour CD Compact Disc db Dezibel DHKP-C Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi) DKP Deutsche Kommunistische Partei VI Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 DKTM Kiel Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Kiel e. V. (Demokratik Kürt Toplum Merkezi Kiel) DKTM Neumünster Demokratisch Kurdische Gemeinde Zentrum Neumünster e. V. (Demokratik Kürt Toplum Merkezi Neumünster) DS Deutsche Stimme DVD Digital Versatile Disc Ebd. Ebenda EGBGB Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche EU Europäische Union e. V. eingetragener Verein FETÖ Fethullahistische Terrororganisation ff. fortfolgende FSA Freie Syrische Armee (FSA) G10 Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Postund FernmeldeGeheimnisses G20 Gruppe der 20 wichtigsten Industrieund Schwellenländer GBA Generalbundesanwalt GdVuSt Geeinte Deutsche Völker und Stämme GETZ Gemeinsames Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum GG Grundgesetz GI Generation Identitaire GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GTAZ Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum GVG Gerichtsverfassungsgesetz HAMAS Islamische Widerstandsbewegung Harakat al-muqawama al-islamiya HDP Demokratische Partei der Völker (Halklarin Demokratik Partisi) HPG Volksverteidigungskräfte (Hezen Parastina Gel) VII Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode HTS Komitee zur Befreiung der Levante Haiyat Tahrir ash-Sham HUMINT Human Intelligence IB Identitäre Bewegung IBD Identitäre Bewegung Deutschland IBSH Identitäre Bewegung Schleswig-Holstein IL Interventionistische Linke IoT Internet of Things, Internet der Dinge IS Islamischer Staat ISIS Islamischer Staat im Irak und Großsyrien ISPK Islamischer Staat Provinz Khorasan ISPW Islamischer Staat Provinz Westafrika IT Informationstechnologie JaN Jabhat an-Nusra JfP Jugend für Pinneberg JN Junge Nationaldemokraten/Junge Nationalisten JVA Justizvollzugsanstalt KAST Kieler Antigewaltund Sozialtraining KCDK-E Demokratischer Gesellschaftskongress der Kurd*innen in Europa (Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen Li Ewropa) KCK Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (Koma Civaken Kurdistan) KPD Kommunistische Partei Deutschlands KSKK Kurdistan Solidaritäts-Komitee Kiel LDZ Landesdemokratiezentrum LVerfSchG Gesetz über den Verfassungsschutz im Lande Schleswig-Holstein MB Muslimbruderschaft / Muslimbrüder VIII Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 MHP Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetci Hareket Partisi) MIT Milli Istihbarat Teskilati MLPD Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands NAV-DEM Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Deutschland (Navenda Civaka Demokratik ya Kurden li Almanyaye) NCSC National Cyber Security Centre NGO Nichtregierungsorganisation NHSH Nationale Hilfe Schleswig-Holstein Nr. Nummer NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands NS Nationalsozialismus NSA National Security Agency OG Ortsgruppe OLG Oberlandesgericht OVG Oberverwaltungsgericht PKG Parlamentarische Kontrollgremium PKK Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistane) PMK - links - politisch motivierte Kriminalität - links - PMK - rechts - politisch motivierte Kriminalität - rechts - PYD Partei der Demokratischen Union (Partiya YekitA(r)ya Demokrat) RH Rote Hilfe e. V. RuStAG Reichsund Staatsangehörigkeitsgesetz S. Seite s. a. siehe auch SDAJ Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend SDF Syrian Democratic Forces SH-Stimme Schleswig-Holstein-Stimme IX Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode SIGINT Signals Intelligence StGB Strafgesetzbuch StGBl. Staatsgesetzblatt StPO Strafprozessordnung TAK Freiheitsfalken Kurdistans (Teyrebazen Azadiya Kurdistan) TATP Triacetontriperoxid TGSH Türkische Gemeinde Schleswig-Holstein TV Television u. a. unter anderem UETD Union Europäisch-Türkischer Demokraten UID Union Internationaler Demokraten UIG Union islamischer Gerichtshöfe UN United Nations US United States USA United States of America VF Völkischer Flügel vgl. vergleiche VwGO Verwaltungsgerichtsordnung VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz WRV Weimarer Reichsverfassung WÜD Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen YÖP Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik) YPG Volksverteidigungseinheiten (Yekineyen Parastina Gel) ZAC Zentrale Ansprechstelle Cybercrime z. B. zum Beispiel X Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 I Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein 1 Der Verfassungsschutz als Früherkennungsund Frühwarnsystem Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland - das Grundgesetz - gibt den Rahmen unseres demokratischen Rechtsstaates vor. Danach ist die Demokratie in unserem Land wehrhaft gegenüber Personen oder Organisationen, die bestrebt sind, wesentliche Verfassungsgrundsätze zu beseitigen. Den Verfassungsschutzbehörden der Länder und des Bundes kommt hierbei eine zentrale Aufgabe zu. Sie sollen Gefahren durch politischen Extremismus, Terrorismus sowie Bedrohungen durch Spionageaktivitäten bereits im Vorfeld polizeilicher Zuständigkeiten erkennen, einschätzen und die politisch Verantwortlichen, die Polizei, andere staatliche Stellen und die Öffentlichkeit darüber unterrichten. Hierdurch sollen diese Stellen in die Lage versetzt werden, rechtzeitig mögliche Gefahren für unser demokratisches System zu erkennen und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen. Der Verfassungsschutz wird daher auch als Früherkennungsund Frühwarnsystem der wehrhaften Demokratie bezeichnet. Dem Verfassungsschutz selbst stehen dabei keine polizeilichen Befugnisse zu. Er kann z. B. weder Durchsuchungen oder Festnahmen veranlassen noch selbst durchführen. Im Rahmen der jeweils geltenden Rechtsvorschriften besteht jedoch die Möglichkeit und gegebenenfalls die Verpflichtung, einzelne Erkenntnisse an Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften zu übermitteln. 2 Gesetzlicher Auftrag und Aufgaben Die Aufgaben und Befugnisse der Verfassungsschutzbehörden sind gesetzlich geregelt. Das Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (BVerfSchG) gibt den gesetzlichen Rahmen für die Aufgaben vor, die von Bund und Ländern gemeinsam zu erfüllen sind und ist außerdem Rechtsgrundlage für die Tätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Darüber hinaus haben alle Bundesländer eigene Verfassungsschutzgesetze. Für Schleswig-Holstein 1 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode ist dies das Gesetz über den Verfassungsschutz im Lande Schleswig-Holstein (LVerfSchG). Die Aufgabe der Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein ist in SS 1 des LVerfSchG geregelt. Danach obliegt es ihr, die Landesregierung und andere zuständige Stellen über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie für den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu unterrichten. Freiheitliche demokratische Grundordnung Vereinfacht ausgedrückt beschreibt der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) die vom Grundgesetz vorgegebene demokratische Ordnung sowie die verfassungsmäßigen Prinzipien, die unveränderbar sind. Konkret benannt sind in SS 6 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 LVerfSchG unter anderem die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung sowie die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Unabhängigkeit der Gerichte. Tätigkeiten der Verfassungsschutzbehörde Zur Erfüllung ihrer Aufgaben sammelt die Verfassungsschutzbehörde sachund personenbezogene Informationen über - Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziele haben, - sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, - Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden und - Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind, und wertet diese aus. 2 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Begriff der Bestrebung Nach SS 6 Abs. 1 LVerfSchG sind Bestrebungen politisch motivierte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen oder Betätigungen einer Gruppierung oder Organisation, die sich unter anderem gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Zielund zweckgerichtet meint hierbei, dass eine gewisse Ernsthaftigkeit, Dauerhaftigkeit und Zielstrebigkeit im Hinblick auf die Beseitigung eines wesentlichen Elementes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vorliegen muss. Es muss also unter anderem erkennbar sein, dass beispielsweise das Ziel oder der Zweck einer Organisation die Abschaffung unseres demokratischen Systems, der Aufbau eines Gottesoder Führerstaates oder einer Anarchie ist. Der Begriff der Bestrebung kann auch das Verhalten von Einzelpersonen einschließen, allerdings nur dann, wenn dieses Verhalten auf die Anwendung von Gewalt gerichtet oder wenn es dazu geeignet ist, die in SS 5 LVerfSchG genannten Schutzgüter schwerwiegend zu gefährden. Zudem hat der Landesgesetzgeber in SS 6 Abs. 4 LVerfSchG die sogenannte Aggressionsklausel aufgenommen. Diese besagt, dass eine Bestrebung nach der Maßgabe dieses Gesetzes eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Verfassungsordnung voraussetzt. Die Bestrebung muss planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen und im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen. Mitwirkungsaufgaben Weiterhin obliegen der Verfassungsschutzbehörde Mitwirkungsaufgaben, die ebenfalls in SS 5 LVerfSchG festgelegt sind. Hierbei handelt es sich um die Überprüfung von Personen, - denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse anvertraut werden, - die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind und - um die Mitwirkung bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen o- der Erkenntnissen. 3 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Die Verfassungsschutzbehörde ist nach den im LVerfSchG festgeschriebenen Aufgaben und den sich daraus ergebenden Befugnissen ein Nachrichtendienst. Sie versteht sich als Sicherheitsbehörde, die Informationen sammelt, auswertet und diese den entsprechend aufgeführten Stellen zur Verfügung stellt. Vorfeldaufklärung Die Verfassungsschutzbehörde darf bereits im Vorfeld tätig werden, um die Gefahren der in SS 5 Abs. 1 LVerfSchG genannten Bestrebungen so rechtzeitig aufzuklären, dass durch die Weitergabe der dabei gewonnenen Informationen beispielsweise an die Politik noch geeignete Maßnahmen ergriffen werden können. Entsprechend darf der Verfassungsschutz gemäß SS 7 Abs. 1 LVerfSchG bereits tätig werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht einer solchen Bestrebung oder Tätigkeit - etwa gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung - vorliegen. Im Gegensatz zur Polizei ist das Vorliegen eines konkreten Verdachts einer Straftat oder der Anschein einer konkreten Gefahr für Rechtsgüter für das Tätigwerden der Verfassungsschutzbehörde nicht erforderlich. Erweiterter Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Ergänzend zum allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterliegt jede Maßnahme der Verfassungsschutzbehörde gemäß SS 7 Abs. 2 LVerfSchG einem erweiterten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. So hat die Verfassungsschutzbehörde von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenige zu treffen, die nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Eine Maßnahme ist zudem nur so lange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann. Dies ist nötig, weil durch die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde in wesentliche Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wird. Durch die Regelungen in SS 7 Abs. 2 LVerfSchG wird sichergestellt, dass jede ergriffene Maßnahme der Verfassungsschutzbehörde im Einzelfall nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck - in der Regel der rechtmäßigen Informationsgewinnung und Weitergabe zur Aufgabenerfüllung - steht. 4 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Befugnisse zur Informationsbeschaffung: Die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes Der Verfassungsschutz darf - so sieht es das LVerfSchG in SS 8 Abs. 1 vor - zur Erfüllung seiner Aufgaben Informationen erheben und verarbeiten. Hierfür stehen grundsätzlich zwei verschiedenen Möglichkeiten der Informationserhebung zur Verfügung: die offene Informationsbeschaffung und die verdeckte Informationserhebung mithilfe sogenannter nachrichtendienstlicher Mittel. Offen erhobene Informationen bilden einen wesentlichen Bestandteil der nachrichtendienstlichen Tätigkeit und machen den überwiegenden Teil der Nachrichten aus, mit denen der Verfassungsschutz arbeitet. Sie lassen sich vielfältig gewinnen, beispielsweise im Rahmen von Recherchen im Internet, über Printmedien und die Auswertung von Tonund Bildträgern (beispielsweise CDs und DVDs). Auch andere Behörden werden zu dort vorliegenden Informationen angefragt. Die verdeckte Informationsbeschaffung ist demgegenüber besonders geregelt. Der SS 8 Abs. 2 LVerfSchG legt fest, welche nachrichtendienstlichen Mittel der Verfassungsschutzbehörde zur Verfügung stehen und in welchem Rahmen sie eingesetzt werden dürfen. Zu den wesentlichen nachrichtendienstlichen Mitteln, die der Verfassungsschutz einsetzen kann, gehören demnach: - der Einsatz von verdeckten Ermittlern, Vertrauensleuten und Gewährspersonen, - die Observation und damit verbunden die verdeckte Anfertigung von Bildund Videoaufnahmen, - das verdeckte Aufklären des Internets, - die Verwendung von Legenden (fingierten biografischen oder gewerblichen Angaben) sowie die Erstellung und Verwendung von Tarnpapieren und Tarnkennzeichen, - die Beobachtung des Funkverkehrs und - die Postund Fernmeldeüberwachung nach dem Artikel 10-Gesetz. Der Einsatz dieser nachrichtendienstlichen Mittel wird konkreter durch SS 8 Abs. 4 bis 6 LVerSchG geregelt. So sind alle durch nachrichtendienstliche Mittel gewonnenen Informationen eng an den Zweck der Erhebung gebunden und müssen ansonsten unverzüglich gelöscht werden. Zudem gilt für alle diese Maßnahmen das oben 5 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode bereits beschriebene Verhältnismäßigkeitsprinzip. Weiterhin ist der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel unzulässig, wenn sich herausstellt, dass ausschließlich solche Informationen erhoben werden, die die Intimsund Privatsphäre - im Gesetz als Kernbereich privater Lebensgestaltung bezeichnet - einer Person betreffen. Die Maßnahme muss dann entweder ausgesetzt oder beendet werden. 3 Organisation des Verfassungsschutzes Der Verfassungsschutzverbund der Bundesrepublik Deutschland umfasst insgesamt 17 Behörden: 16 Landesbehörden und das Bundesamt für Verfassungsschutz als Zentralstelle. Die Landesbehörden sind entweder als eigenständige nachgeordnete Landesämter organisiert oder Teil des jeweiligen Innenministeriums. Die Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein ist eine Abteilung des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung mit Sitz in der Landeshauptstadt Kiel. Sie ist in sieben Referate untergliedert, die unter anderem für die Informationsbeschaffung, die Auswertung nach Phänomenbereichen, Grundsatzfragen, den IT-Bereich und die Observation zuständig sind. Insgesamt sind derzeit etwa 130 Mitarbeiter für die Verfassungsschutzabteilung tätig. Für Sachmittel und Investitionen standen im Berichtsjahr rund 1.143.000 Euro zur Verfügung. 4 Kontrolle des Verfassungsschutzes Die Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein hat sich zum Ziel gesetzt, so viel Transparenz wie möglich zu gewährleisten und die Geheimhaltung auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Zudem unterliegt sie einer mehrschichtigen, rechtsstaatlichen Kontrolle. Allgemeine Dienstund Fachaufsicht Ein Teil dieser Kontrolle ist die allgemeine Dienstund Fachaufsicht im Ministerium für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung. Dabei erstreckt sich die Dienstaufsicht gemäß SS 15 Abs. 1 LVerwG auf die innere Ordnung, die allgemeine Geschäftsführung und die Personalangelegenheiten der Behörde, während die Fachaufsicht gemäß SS 15 Abs. 2 LVerwG die rechtmäßige und zweckmäßige Wahrnehmung der Verwaltungsangelegenheiten der Behörde umfasst. 6 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Parlamentarische Kontrolle Ein weiterer und wesentlicher Teil der Kontrolle des Verfassungsschutzes obliegt dem Schleswig-Holsteinischen Landtag. Sie umfasst zum einen die allgemeine parlamentarische Kontrolle durch alle Mitglieder des Landtages, die diese zum Beispiel durch Kleine und Große Anfragen ausüben. Zum anderen erfolgt die parlamentarische Kontrolle durch zwei vom Landtag eingesetzte Gremien: das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG) und die G10-Kommission. Auf diese Weise wird die Tätigkeit des Verfassungsschutzes nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern auch im Einzelfall vom Parlament überprüft. Die Aufgaben und die Zusammensetzung des PKG sind in SS 26 LVerfSchG festgelegt. Es besteht aus Abgeordneten des Landtages, die zu Beginn jeder Wahlperiode jeweils durch die Mehrheit der Mitglieder des Landtages gewählt werden. Diesen berichtet die Innenministerin oder der Innenminister als Teil der Landesregierung sowohl über die allgemeinen Tätigkeiten der Verfassungsschutzbehörde, als auch über Vorgänge von besonderer Bedeutung. Die Aufgaben und die Zusammensetzung der G10-Kommission regelt SS 26a LVerfSchG in Verbindung mit SS 15 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (G10). Für die Dauer der Wahlperiode bestimmt der Landtag einen Vorsitzenden mit der Befähigung zum Richteramt und zwei Beisitzer. Die G10-Kommission prüft die Zulässigkeit und die Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen nach dem G10, also Maßnahmen der Überwachung des Brief-, Postund Telekommunikationsverkehrs und ist bei weiteren gesetzlich geregelten Maßnahmen von vergleichbarer Eingriffstiefe zu beteiligen. Kontrolle durch den Datenschutzbeauftragten und den Landesrechnungshof Neben der parlamentarischen Aufsicht obliegt die Kontrolle des Verfassungsschutzes noch zwei weiteren Stellen. Das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz kontrolliert auf eigene Initiative die Datenverarbeitung in schleswig-holsteinischen Behörden. Stellt es dabei Verstöße gegen das Datenschutzrecht fest, werden diese beanstandet und ggf. die Beseitigung der Mängel gefordert. Die Zusammenarbeit 7 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode mit dem Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz wird vom behördlichen Datenschutzbeauftragten der Verfassungsschutzbehörde des Landes Schleswig-Holstein koordiniert. Der behördliche Datenschutzbeauftragte hat zudem umfassende eigene Kontrollrechte und eine Beratungsfunktion, die zur Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen beitragen. Zum anderen erfolgt eine Aufsicht durch den Landesrechnungshof. Dieser hat nach Artikel 64 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein die Aufgabe, die gesamte Haushaltsund Wirtschaftsführung des Landes zu überwachen. Hierzu gehört auch die Verfassungsschutzbehörde als Teil des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung. Kontrolle durch Gerichte und die Öffentlichkeit Daneben unterliegt die Verfassungsschutzbehörde als Teil der Landesverwaltung der gerichtlichen Kontrolle sowie der Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Letztere erfolgt dabei u.a. durch die Medien, die in ihrer Berichterstattung auch den Verfassungsschutz thematisieren. Darüber hinaus hat jeder Bürger selbst die Möglichkeit, nach SS 25 LVerfSchG eine Auskunft über die Speicherung von Informationen zur eigenen Person in Dateien des Verfassungsschutzes zu verlangen. Die Zahl der Auskunftsersuchen stieg im Berichtszeitraum im Vergleich zum Vorjahr auf 207 (2019: 199). Hierbei dürfte es sich um eine normale Schwankung handeln. Gleichzeitig ist die Anzahl der besonders arbeitsintensiven Fälle, in denen der Verfassungsschutzbehörde Erkenntnisse vorliegen, auf einem vergleichbaren Niveau geblieben. Nach wie vor wird vermehrt das Internet genutzt, um entsprechende Auskunftsersuchen zu stellen. Dieser Trend dürfte anhalten, so dass die Anzahl der Auskunftsersuchen voraussichtlich auf vergleichbar hohem Niveau bleiben wird. 5 Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz Die Aufgaben und Befugnisse einer Verfassungsschutzbehörde unterscheiden sich von der einer Polizeibehörde. SS 2 Abs. 2 des LVerfSchG legt fest, dass der Verfassungsschutz keiner polizeilichen Dienststelle angegliedert werden darf. Zudem ist in SS 9 des LVerfSchG vorgeschrieben, dass der Verfassungsschutzbehörde keine 8 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 polizeilichen Befugnisse zustehen. Außerdem darf die Verfassungsschutzbehörde die Polizei auch nicht um Maßnahmen bitten, zu denen sie selbst nicht befugt ist. Der Verfassungsschutz ist - im Gegensatz zu den Strafverfolgungsbehörden, insbesondere der Polizei - nicht dem Legalitätsprinzip unterworfen, nach dem Polizei und Justiz Straftaten verfolgen müssen, wenn sie von ihnen Kenntnis erlangen. Für den Verfassungsschutz gelten vielmehr das Opportunitätsprinzip und die damit verbundenen Mitteilungspflichten. Diese organisatorische und funktionelle Abgrenzung von Polizei und Verfassungsschutz wird als Trennungsgebot bezeichnet. Es ist ein Resultat aus den Erfahrungen mit der Arbeitsweise von Geheimdiensten in Diktaturen, z. B. im Dritten Reich. Um den Missbrauch von verdeckt erhobenen Informationen zu verhindern, sind Polizeibehörden seither nicht mit den gleichen gesetzlichen Befugnissen eines Nachrichtendienstes und umgekehrt die Verfassungsschutzbehörden nicht mit exekutiven, polizeilichen Befugnissen ausgestattet. Außerdem dürfen nachrichtendienstlich erworbene Informationen nur in besonders gelagerten Fällen - zum Beispiel zum Zweck der Terrorismusabwehr - und unter besonderen gesetzlichen Voraussetzungen an die Polizei weitergegeben werden (sogenanntes informationelles Trennungsprinzip). Unter Beachtung der geltenden Rechtsgrundlagen arbeiten die Verfassungsschutzbehörde und die Polizei eng zusammen (SS 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2 LVerfSchG). Die Zusammenarbeit beschränkt sich dabei nicht nur auf Schleswig-Holstein, sondern erfolgt bundesweit in verschiedenen Gremien, wie dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus sowie dem gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) zur Bekämpfung des Rechts-, Linksund Ausländerextremismus sowie der Spionage. GTAZ und GETZ sind dabei keine eigenen Behörden, sondern stellen eine Informationsund Kommunikationsplattform für die beteiligten Sicherheitsbehörden dar. So sollen phänomenbezogene Bedrohungsund Gefährdungslagen erkannt und alle beteiligten Behörden in die Lage versetzt werden, entsprechend darauf zu reagieren. 9 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 6 Informationsaustausch mit anderen öffentlichen Stellen Zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes zählt neben der Unterrichtung der Landesregierung auch die Unterrichtung anderer zuständiger Stellen über Gefahren für die fdGO. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Übermittlung von Informationen an andere Stellen sind in SS 19 LVerfSchG geregelt. Ganz grundsätzlich dürfen Erkenntnisse, die nicht personenbezogen sind, dann an andere Behörden oder Stellen übermittelt werden, wenn diese für die Aufgabenerfüllung der empfangenden Stellen erforderlich sein können (SS 19 Abs. 1 LVerfSchG). Hierbei könnte es sich beispielsweise um Erkenntnisse zu Vereinen und Organisationen, aber auch um Trefforte handeln. Bei der Übermittlung personenbezogener Informationen an andere öffentliche oder sonstige Stellen gelten besondere Regelungen. SS 19 Abs. 2 Nr. 5 LVerfSchgG sieht vor, dass diese Informationen nur dann übermittelt werden dürfen, wenn dies zum Schutz vor Bestrebungen gegen die fdGO unverzichtbar ist. Zusätzlich entscheidet über die Übermittlung die Leiterin oder der Leiter der Verfassungsschutzabteilung. 7 Geheimund Sabotageschutz, Zuverlässigkeitsüberprüfungen Im Bereich Geheimund Sabotageschutz obliegen der Verfassungsschutzbehörde gesetzliche Mitwirkungsaufgaben. Sie führt Sicherheitsüberprüfungen im Auftrag von Landesbehörden durch, ist angefragte Stelle in Zuverlässigkeitsüberprüfungsverfahren und unterstützt auch durch Beratung und Normensetzung den Schutz staatlicher Verschlusssachen. Verschlusssachen sind Angelegenheiten aller Art, die eines besonderen Schutzes gegen Kenntnisnahme durch Unbefugte, insbesondere durch ausländische Nachrichtendienste bedürfen. Daher ist die Verbreitung der Verschlusssachen nur auf einen eng begrenzten Personenkreis beschränkt, bei dem jeweils gewährleistet sein muss, dass keine Anhaltspunkte bestehen, die Zweifel an der Zuverlässigkeit bei der Wahrnehmung der sicherheitsempfindlichen Tätigkeit begründen. Hierzu werden im Rahmen des personellen Geheimschutz Sicherheitsüberprüfungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchgeführt, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen eingesetzt sind. 10 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Zudem sind Schutzmaßnahmen in materieller Hinsicht (Zugangskontrollen, Sicherheitsbereiche, IT-Schutz) erforderlich, die einen Informationsabfluss wirksam verhindern sollen. Hierbei berät und unterstützt die Verfassungsschutzbehörde. Auf deren Veranlassung kann ergänzend das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) im Rahmen von technischen Prüfungen und Schulungen bei der Umsetzung von materiellen Schutzmaßnahmen mitwirken. Sicherheitsüberprüfungen Sicherheitsüberprüfungen sind Verfahren zur Überprüfung von Personen, die von den jeweils zuständigen Stellen mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen. Im Berichtszeitraum ging die Zahl der neu durchgeführten Sicherheitsüberprüfungen für Landesbehörden auf 132 zurück (2019: 180). Dieser signifikante Rückgang ist hauptsächlich auf einen geringeren Personalwechsel während der Corona-Pandemie zurückzuführen. Der Bestand an sicherheitsüberprüften Personen innerhalb der Landesverwaltung und bei geheimschutzbetreuten Unternehmen verblieb bis zum Jahresende mit 1.955 (2019: 1.946) auf fast gleichem Niveau. Sicherheitsüberprüfungen 2016 bis 2020 2500 1946 1955 2000 1858 1714 1753 1500 1000 500 174 191 225 180 132 0 2016 2017 2018 2019 2020 Sicherheitsüberprüfte Personen insgesamt neu durchgeführte Sicherheitsüberprüfungen 11 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Sicherheitsüberprüfungen im personellen Sabotageschutz Ziel des personellen Sabotageschutzes ist es, das Risiko von Sabotageakten an lebenswichtigen Einrichtungen durch potenzielle terroristische Innentäterinnen und -täter zu minimieren. Das Instrument der Sicherheitsüberprüfung soll verhindern, dass Personen, von denen eine Gefährdung ausgeht, in sensiblen Bereichen beschäftigt werden. Die Überprüfung erfolgt jedoch nur bei Personen, die innerhalb von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen an sicherheitsempfindlichen Stellen beschäftigt werden sollen und die tatsächlich auf die Funktionsfähigkeit dieser Einrichtungen Einfluss nehmen können. Einrichtungen sind erst dann lebenswichtig, wenn deren Beeinträchtigung aufgrund der ihnen anhaftenden Eigengefahr die Gesundheit oder das Leben großer Teile der Bevölkerung erheblich gefährden kann oder sie für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind. Dazu gehören z. B. Kommunikationsstrukturen von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten. Zuverlässigkeitsüberprüfungen Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Atom-, Luftsicherheitsoder Hafensicherheitsgesetz wurden auch im Berichtszeitraum wie in den Vorjahren durchgeführt, dies jedoch nur teilweise vollautomatisiert. Aufgrund von Schwerpunktverschiebungen im Anfrageaufkommen bei den Zuverlässigkeitsüberprüfungen und Veränderungen in der statistischen Erfassung derselben werden detaillierte Zahlen nicht wiedergegeben. Die normierten Mitwirkungspflichten der Verfassungsschutzbehörde verfolgen den Zweck, Sabotageakte abzuwehren und den Einsatz von Extremisten in besonders sensiblen Bereichen zu verhindern. Kernkraftwerke und der Luftverkehr wurden nicht erst nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 als besonders sabotagegefährdete Bereiche betrachtet. Vor diesem Hintergrund wird das dort beschäftigte Personal seit jeher so genannten Zuverlässigkeitsüberprüfungen unterzogen. Mit den vorgesehenen Zuverlässigkeitsüberprüfungen soll das Gefährdungsrisiko im Zusammenhang mit kritischen Infrastrukturen vermindert werden. Auch diese Überprüfungsverfahren erfolgen wie bei der Sicherheitsüberprüfung nur mit Zustimmung der Betroffenen auf gesetzlicher Grundlage. 12 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Einen neuen Schwerpunkt im Bereich der Zuverlässigkeitsüberprüfungen bildet das sogenannte Bewacherregister nach SS 34a Gewerbeordnung, das unter bestimmten Voraussetzungen eine Regelabfrage von Bewachungspersonal vorsieht. Im Berichtsjahr sind 1.722 Personen überprüft worden. In sieben Fällen musste nach intensiver Prüfung für eine Ablehnung votiert werden. Im Februar des Berichtsjahres wurde die Regelüberprüfung nach SS 5 WaffG bzw. SS 17 BJagdG eingeführt. Alle Inhaberinnen und Inhaber waffenoder jagdrechtlicher Erlaubnisse werden auf Veranlassung der Waffenund Jagdbehörden bei Antragstellung und turnusmäßig auch vom Verfassungsschutz auf ihre Zuverlässigkeit hin überprüft. Im Berichtsjahr sind 17.071 Anfragen von den Waffenbehörden an die Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein gerichtet worden, die teilautomatisiert bearbeitet wurden. Mit noch größerem Arbeitsaufwand sind die 288 sogenannten Einzelauskünfte verbunden gewesen, bei denen Personenübereinstimmungen mit den Verfassungsschutzbehörden bekannten Extremistinnen und Extremisten im Einzelfall überprüft wurden. In 45 Fällen sind die vorhandenen Erkenntnisse als relevant zu bewerten gewesen und eine gesonderte Mitteilung an die Jagdund Waffenbehörden war zu veranlassen. Die Jagdund Waffenbehörden entscheiden im Rahmen ihrer Zuständigkeit über die Erteilung oder Versagung einer jagdoder waffenrechtlichen Erlaubnis. 8 Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde bei Aufenthaltsund Einbürgerungsverfahren Das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) regelt die Einreise, den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Aufenthaltsbeendigung von Ausländern aus Drittstaaten. Es dient damit der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland. Das Gesetz umfasst auch sicherheitsrelevante Vorschriften. Dazu gehören die Mitwirkungsaufgaben der Verfassungsschutzbehörde bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln (z. B. Visum, Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis). Aus diesem Grund übermitteln die Ausländerbehörden in einem automatisierten technischen Beteiligungsverfahren die Daten von Personen, die einen Aufenthaltstitel beantragen, an die Sicherheitsbehörden. Durch dieses Mitwirkungsverfahren kann festgestellt werden, ob Versagungsgründe gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder sonstige Sicherheitsbedenken vorliegen. 13 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Die gleichen Sicherheitsanforderungen werden an Einbürgerungsbewerber gestellt. So fragen die Einbürgerungsbehörden bei den Verfassungsschutzbehörden an, ob gegen den Einbürgerungsbewerber Erkenntnisse vorliegen, die zur Versagung der Einbürgerung führen könnten. Anfragen Aufenthalt 2016 bis 2020 30000 28880 28077 27500 25000 22500 19912 20000 17500 Anfragen 15000 12504 12500 Sicherheitsrelevante 9971 Erkenntnisse 10000 7500 5000 2500 11 70 109 132 80 0 2016 2017 2018 2019 2020 Im Berichtsjahr wurden in Aufenthaltsverfahren 28.077 (2019: 28.880) und in Einbürgerungsverfahren 3.049 (2019: 2.873) Anfragen durch die schleswig-holsteinischen Ausländerund Einbürgerungsbehörden an die Verfassungsschutzbehörde gestellt. Zu 80 (2019: 132) im Rahmen von Aufenthaltsverfahren sowie 27 (2019: 33) im Rahmen von Einbürgerungsverfahren angefragten Personen haben sicherheitsrelevante Erkenntnisse vorgelegen, d. h. es konnten Bezüge zu extremistischen Bestrebungen festgestellt werden. Die anhaltend hohe Zahl der Anfragen im Bereich der Aufenthaltsverfahren ist auf die weiterhin hohe Zahl von Geflüchteten zurückzuführen. Die Länge der asylrechtlichen Verfahren dürfte ein Grund dafür sein, dass entsprechende Auswirkungen auch in den kommenden Jahren noch anhalten. 14 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Anfragen Einbürgerung 2016 bis 2020 4000 3839 3500 2983 3049 2945 2873 3000 2500 2000 1500 1000 500 9 21 20 33 27 0 2016 2017 2018 2019 2020 Anfragen Sicherheitsrelevante Erkenntnisse In Schleswig-Holstein besteht seit 2007 eine regelmäßig tagende Arbeitsgruppe, an der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachaufsicht der Staatsangehörigkeitsund Ausländerbehörden, der Polizei, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der Verfassungsschutzbehörde teilnehmen. Ziel der Arbeitsgruppe ist es, diejenigen Einzelfälle einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, die besondere Sicherheitsrelevanz haben. Durch diese enge behördenübergreifende Zusammenarbeit soll - entsprechend der gesetzlichen Vorgaben - die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen geprüft und gegebenenfalls initiiert werden. Auch im Berichtsjahr konnte festgestellt werden, dass der Schwerpunkt der Fälle mit sicherheitsrelevanten Erkenntnissen sich im Wesentlichen aus Personen zusammensetzt, die entweder dem islamistischen Spektrum oder aber dem Umfeld der in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegten "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) bzw. deren Nachfolgeund Teilorganisationen zuzurechnen waren. Nach Bewertung der sicherheitsrelevanten Erkenntnisse erfolgt die Mitteilung an die anfragenden Behörden, die ihrerseits hierauf aufenthaltsrechtliche Maßnahmen stützen können. 15 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 9 Kontakt Sie möchten Kontakt zur Verfassungsschutzbehörde aufnehmen, haben Anregungen, Fragen oder Kritik oder möchten sich initiativ bewerben? Sie erreichen die Verfassungsschutzbehörde unter: Telefon: 0431 - 988 3500 Email: VerfassungsschutzSchleswig-Holstein@im.landsh.de . 16 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 II Politisch motivierte Kriminalität (PMK)1 1 Allgemeines 1.1 Definition Der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) werden Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat 2 und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Taten - den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen sollen, der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisierung politischer Entscheidungen richten, - sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerkmale, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben, - durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, gegen eine Person wegen ihrer zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung und/oder Engagements gerichtet sind bzw. aufgrund von Vorurteilen des Täters bezogen auf Nationalität, ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status, physische und/oder psychische Behinderung oder Beeinträchtigung, Geschlecht/sexuelle Identität, sexuelle Orientierung oder äußeres Erscheinungsbild begangen werden. Diese Straftaten können sich unmittelbar gegen eine Person oder Personengruppe, eine Institution oder ein Objekt/eine Sache richten, welche(s) seitens des Täters einer der o. g. gesellschaftlichen Gruppen zugerechnet wird (tatsächliche oder zugeschriebene Zugehörigkeit) oder sich im Zusammenhang mit den vorgenannten Vorurteilen des Täters gegen ein beliebiges Ziel richten. Darüber hinaus werden Tatbestände gem. SSSS 80a-83, 84-86a, 87-91, 94-100a, 102, 104, 105-108e, 109-109h, 129a, 129b, 234a oder 241a Strafgesetzbuch (StGB) sowie des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) erfasst, weil sie Staatsschutzdelikte sind, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann. 1 Verfasser: Landeskriminalamt SH, Abteilung 3. 2 Bei der Würdigung der Umstände der Tat ist neben anderen Aspekten auch die Sicht der/des Betroffenen mit einzubeziehen. 17 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Politisch motivierte Gewaltkriminalität ist die Teilmenge der Politisch motivierten Kriminalität, die eine besondere Gewaltbereitschaft der Straftäter erkennen lässt. Sie umfasst folgende Deliktsbereiche: - Tötungsdelikte - Körperverletzungen - Brandund Sprengstoffdelikte - Landfriedensbruch - Gefährliche Eingriffe in den Schiffs-, Luft-, Bahnund Straßenverkehr - Freiheitsberaubung - Raub - Erpressung - Widerstandsdelikte - Sexualdelikte. 1.2 Phänomenbereiche Die PMK wird zudem in verschiedene Phänomenbereiche unterteilt: - Politisch motivierte Kriminalität -links-, - Politisch motivierte Kriminalität -rechts-, - Politisch motivierte Kriminalität -ausländische Ideologie-, - Politisch motivierte Kriminalität -religiöse Ideologie-, sowie die Politisch motivierte Kriminalität -nicht zuzuordnen-, wenn eine Zuordnung zu den definierten Phänomenbereichen nicht möglich ist. Die PMK wird durch den Polizeilichen Staatsschutz nach bundeseinheitlichen Richtlinien erfasst, um eine differenzierte und vergleichbare Auswertung und Lagedarstellung zu ermöglichen. Die hier genannten Zahlen zu den politisch motivierten Straftaten basieren auf den dem Landeskriminalamt Schleswig-Holstein für den Tatzeitraum 2020 zugegangenen Meldungen. 18 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 2 Gesamtüberblick der Entwicklung der PMK 2020 Veränderung Veränderungen Jahr 2016 2017 2018 2019 2020 2020 zu 2019 in % PMK 1011 1010 1168 1198 956 -242 -20,2 % PMK 161 79 47 66 77 +11 +16,67 % Gewalt Gesamt 1172 1189 1215 1264 1033 -231 -18,28 % In Schleswig-Holstein wurden im Jahr 2020 insgesamt 1033 (2019: 1264) politisch motivierte Straftaten registriert. Dies bedeutet einen Rückgang um 231 Taten (-18,28 %) zum Vorjahreszeitraum. Davon entfielen auf politisch motivierte Gewaltdelikte 77 (2019: 66) Taten. Dies entspricht einem Anstieg um 16,67 %. Dem Phänomenbereich der Politisch motivierten Kriminalität -rechtswurden dabei 663 (2019: 709), der Politisch motivierten Kriminalität -links230 (2019: 383), dem Bereich Politisch motivierten Kriminalität -ausländische Ideologie16 (2019: 14) und dem Bereich Politisch motivierten Kriminalität -religiöse Ideologie- 9 (2019: 24) Straftaten zugeordnet. Insgesamt 115 (2019: 134) Straftaten konnten keinem der vorgenannten Phänomenbereiche zugeordnet werden. Sie wurden daher als "nicht zuzuordnen" erfasst. 19 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Darstellung der im Berichtszeitraum erfassten Politisch motivierten Strafund Gewalttaten auf Landesebene nach Kreisen und kreisfreien Städten: Kreisweise Darstellung der 59/5 Strafund davon Gewalttaten 37/3 45/5 171/21 63/4 31/0 56/3 34/4 48/4 69/7 145/10 58/4 70/3 107/4 40/0 20 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 3 Phänomenbereiche der Politisch motivierten Kriminalität 3.1 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - rechts - Veränderung VeränderunJahr 2016 2017 2018 2019 2020 2020 zu 2019 gen in % PMK 719 590 643 669 618 - 51 - 7,62 % PMK Gewalt 66 47 29 40 45 +5 +12,5 % Gesamt 785 637 672 709 663 - 46 - 6,49 % Die Gesamtzahl der im Jahr 2020 in Schleswig-Holstein erfassten Straftaten im Phänomenbereich -rechtsbeträgt 663, im Vorjahr 2019 waren es 709 erfasste Straftaten. Dies entspricht einem Rückgang von 6,94 %. Die Aufklärungsquote in diesem Phänomenbereich liegt bei 52,34 % (2019: 42,88 %). Die Zahl der erfassten Gewaltdelikte stieg im Erfassungszeitraum um 5 Fälle auf nunmehr 45 Fälle (+12,5 %, 2019: 40 Fälle). Dabei bilden die erfassten Körperverletzungsdelikte mit 41 Fällen und 91,11 % den größten Anteil ab. 37 Gewaltdelikte konnten aufgeklärt werden, dies ist ein Anteil 82,22 %. Wenngleich Straftaten gegen Asylunterkünfte einen rückläufigen Trend aufwiesen, so blieb dennoch die Flüchtlingsthematik für die rechte Szene nach wie vor ein bedeutendes Themenfeld, das aufgrund seiner fremdenfeindlichen Grundausrichtung sowohl einen ideologischen Konsens bildete, als auch Anbindungsmöglichkeiten an die bürgerliche Mitte bot und somit die Entwicklung der Straftaten im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität -rechtsauch im Berichtszeitraum weiterhin beeinflusste. Die rechte Szene wird ihre Anstrengungen, die darauf abzielen, die Flüchtlings-bzw. Asylpolitik polarisierend für die eigenen Interessen zu instrumentalisieren, perspektivisch auch kontinuierlich fortführen wollen. Die sogenannten Propagandadelikte -Verstöße gegen SSSS 86, 86a StGBstellen mit ca. 56,11 % aller Taten im Bereich PMK -rechtsnach wie vor den größten Anteil der Straftaten, wenngleich in 2020 mit 372 Fälle im Vergleich zum Vorjahr (2019: 437 Taten) ein Rückgang festzustellen ist, der sich auch in den Fallzahlen der im 21 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Berichtszeitraum erfassten Politisch motivierten Straftaten (PMK) ohne Gewaltdelikte abbildet. Sie bilden sich größtenteils in Form von Hakenkreuzschmierereien oder dem Verwenden sonstiger verbotener NS-Symbole im öffentlichen Raum oder im Internet/Sozialen Medien ab. Mit Abstand folgen Volksverhetzungsdelikte (2020: 113 Fälle, 2019: 100 Fälle), Beleidigungsdelikte (2020: 92 Fälle, 2019: 55 Fälle) und Sachbeschädigungen (2020: 23 Fälle, 2019: 35 Fälle). Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Anzahl der Propagandadelikte vom Themenfeld Nationalismus/Sozialdarwinismus (Unterthema: Verherrlichung/Propaganda) beeinflusst wurden und sowohl die Volksverhetzungsdelikte als auch die Beleidigungsdelikte bzw. die Sachbeschädigungen in der Hauptsache vom Themenfeld Hasskriminalität (Unterthema: Fremdenfeindlich/Ausländerfeindlich) tangiert wurden. Das Tatmittel "Informationstechnik" wird in Form von sog. "Hasspostings"3 maßgeblich zur Begehung von rechtsmotivierten Straftaten, insbesondere Volksverhetzungen, eingesetzt. Mit 47 von insgesamt 69 Fällen bilden "Hasspostings" erneut den größten Anteil ab. Die Entwicklungen der Zahlen sind auch ein Beleg dafür, dass sich die Aktivitäten und Vernetzungen zunehmend ins Internet verlagern, da dieses Medium durch entsprechende Verschlüsselungsmechanismen eine weitgehende Anonymität gewährleistet und die Möglichkeiten bietet, rechtes Gedankengut einem großen Personenkreis zugänglich zu machen und sich in Chaträumen enthemmt fremdenfeindlich zu äußern oder mit verbaler Aggressivität zu hetzen. Die Politisch rechts motivierten Gewaltdelikte in Schleswig-Holstein sind im Vergleich zum Vorjahr um 5 Fälle gestiegen (2020: 45, 2019: 40), was auf einen Anstieg bei den Körperverletzungsdelikten (2020: 41, 2019: 36) zurückzuführen ist. Es handelt sich dabei um einfache/gefährliche Körperverletzungen einschließlich deren Versuche gem. SSSS 223, 224 StGB. Des Weiteren kam es im Berichtszeitraum zu 3 Unter einem Posting wird ein Beitrag bzw. Artikel verstanden, der im oder über das Internet mehreren Nutzern gleichzeitig zugänglich gemacht wird. Politisch motivierte Hasspostings richten sich gegen eine Person oder Gruppe aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung, ihres äußeren Erscheinungsbildes oder gesellschaftlichen Status. 22 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 einem Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gem. SS 113 StGB, zu einem schweren Raub gem. SS 250 StGB, zu einer Erpressung gem. SS 253 StGB sowie zu einem Gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr gem. SS 315 b StGB. Bei den Gewaltdelikten bewegt sich die Fallzahl wie in den Vorjahren weiterhin im mittleren zweistelligen Bereich. Die Gewaltbereitschaft in der rechtsextremistischen Szene bleibt somit in Schleswig-Holstein auf einem gleichbleibenden (hohen) Niveau bestehen und ist hauptsächlich fremdenfeindlich motiviert. Gleichwohl ist nach dem Absinken der Fallzahlen im Jahr 2018 (29 Taten) in den Folgejahren 2019/2020 wieder ein signifikanter Anstieg der Gewaltstraftaten in etwa auf das Niveau vor 2018 zu konstatieren. Im Jahr 2020 wurden zwei Delikte mit dem Angriffsziel "Asylunterkunft" erfasst (2019: 3 Delikte). Es handelte sich um eine Beleidigung und um ein versuchtes gefährliches Körperverletzungsdelikt. Im ersten Fall wird durch unbekannte(n) Täter ein abgetrennter Schweinekopf an die Tür eines überwiegend von Personen ausländischer Herkunft bewohnten Hauses gehängt. In dem anderen Fall schlägt eine betrunkene Person gegen die Tür einer Flüchtlingsunterkunft und beschimpft die Bewohner in volksverhetzender Art und Weise und versucht erfolglos, eine einschreitende Person mittels Bierflaschenwurfs zu verletzen. Im Zusammenhang mit dem Angriffsziel "Asylbewerber/Flüchtling" konnten insgesamt 63 Straftaten, darunter 10 Gewaltdelikte, festgestellt werden. Größtenteils handelt es sich dabei um Fälle von Volksverhetzungen, Beleidigungen, Propagandadelikten, Sachbeschädigungen und einer Nötigung. Bei den Gewaltdelikten handelte es sich in erster Linie um Fälle von Körperverletzungen. Als regionale Kriminalitätsschwerpunkte im Bereich der PMK -rechtssind die Landeshauptstadt Kiel (87 Straftaten), die Hansestadt Lübeck (80 Straftaten), der Kreis Pinneberg (71 Straftaten) sowie der Kreis Stormarn (51 Straftaten) zu nennen. 23 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 3.2 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - links - Veränderung VeränderunJahr 2016 2017 2018 2019 2020 2020 zu 2019 gen in % PMK 170 324 332 373 208 -165 -44,24 % PMK 67 19 5 10 22 +12 +120 % Gewalt Gesamt 237 343 337 383 230 -153 -39,95 % Im Jahr 2020 wurden im Phänomenbereich -links230 Straftaten erfasst. Im Vergleich zum Vorjahr ist somit ein Rückgang der Gesamtzahlen um 39,95 % feststellbar. Die Gewaltdelikte haben sich von 10 auf 22 Fälle mehr als verdoppelt. Im Bereich der PMK -linksist ein Anstieg der Aufklärungsquote von 10,44 % (2019) auf 19,56 % (2020) zu verzeichnen. Im Bereich der Gewaltdelikte konnten 45,45 % der Taten aufgeklärt werden. Insgesamt machen Sachbeschädigungen, größtenteils in Form von Farbschmierereien, weit über die Hälfte der 230 Straftaten im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität -linksaus. Das Themenfeld Antifaschismus bildet hierbei mit 45 % den Schwerpunkt der erfassten Delikte. Die Hälfte der erfassten Gewaltdelikte wurden im Zusammenhang mit Versammlungslagen im Themenfeld Antifaschismus verübt. Nennenswert ist in diesem Kontext die Gegenveranstaltung zur Demonstration der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pax Europa in Lübeck am 14.02.2020, in deren Verlauf es u. a. zu Beleidigungen und Körperverletzungen gegenüber Versammlungsteilnehmern und Angriffen gegen Polizeibeamte gekommen war. Im Themenkomplex Antifaschismus kam es ferner zu Brandstiftungen an einem PKW einer AfD-Kreistagsabgeordneten und an einem PKW eines NPD-Mitglieds. Im Vergleich zum Vorjahr gewann das Themenfeld Ökologie, mit den Unterthemen Klimaund Tierschutz, im Betrachtungszeitraum weiterhin an Bedeutung, was sich in einem Anstieg von Straftaten und sechs erfassten Gewaltdelikten widerspiegelt. 24 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der gefährliche Eingriff in den Luftverkehr vom 17.08.2020 auf dem Gelände des Flughafens Lübeck. Regionale Kriminalitätsschwerpunkte im Bereich der PMK -linksbildeten die Städte Kiel (57) und Lübeck (55). Nachdem die Zahlen für den Kreis Pinneberg in den Jahren 2018 (138) und 2019 (150), bedingt durch die Sachbeschädigungen und Diebstähle im Rahmen des Kommunalund Europawahlkampfes, sich mehr als verdreifacht hatten, konnte für den Berichtszeitraum ein deutliches Absinken der Straftaten (18) festgestellt werden. Die Konfrontation mit dem politischen Gegner aus dem rechten bzw. rechtspopulistischen Lager kann auch im Jahr 2020 als Hauptaktionsfeld linksmotivierter Straftäter genannt werden. Mit Beginn der Pandemie-Lage und der damit verbundenen Einschränkungen ab März 2020 trat die Auseinandersetzung mit Gegnern der Corona-Maßnahmen (sog. Querdenker, Verschwörungstheoretiker) als Schwerpunkt hinzu. 3.3 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - ausländische Ideologie - Veränderung VerändeJahr 2016 2017 2018 2019 2020 2020 zu 2019 rungen in % PMK 32 13 14 10 14 +4 +40 % PMK 27 2 2 4 2 -2 -50 % Gewalt Gesamt 59* 15 16 14 16 +2 +14,29 % * Bis 2016 als PMAK inkl. Religiöse Ideologie, seit 2017 getrennte Erfassung Im Phänomenbereich -Ausländische Ideologiewurden im Jahr 2020 16 Straftaten erfasst. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies einen Fallzahlenanstieg von 14,29 %. Die Aufklärungsquote der Politisch motivierten Straftaten mit ausländischer Ideologie liegt bei 37,5 % (2019 42,86 %) und erklärt sich durch die höhere Anzahl von Delikten, die eine anonyme Tatausführung ermöglichen (Sachbeschädigungen). 25 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Zwei im Phänomenbereich der PMK -AIerfasste Fälle stellen sich als Farbschmiererei mit volksverhetzendem antisemitischen und als Internetagitation mit beleidigendem antisemitischen Inhalt dar (siehe auch Ziffer 4.2). Die Anzahl der Gewaltdelikte hat sich von vier auf zwei Taten halbiert. Bei beiden erfassten Gewaltdelikten handelt es sich um deutschfeindlich motivierte Körperverletzungsdelikte. Beide Propagandadelikte ereignen sich durch das Mitführen eines Kennzeichens einer verbotenen kurdischen Organisation und durch Verbalagitation zum Nachteil eingesetzter Polizeibeamter. Bei insgesamt rückläufigen Demonstrationslagen bleibt im Jahr 2020 das Spannungsfeld zwischen der türkischen und der kurdischen Diaspora weiterhin der Schwerpunkt im Deliktsfeld der PMK -AI-, der sich durch acht im Themenzusammenhang stehenden Sachbeschädigungsdelikte, davon nur in einem Fall im Rahmen eines Versammlungsgeschehens und dabei zum Nachteil eines Rüstungsunternehmens, abbildet. 3.4 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - religiöse Ideologie - Veränderung VeränderunJahr 2016 2017 2018 2019 2020 2020 zu 2019 gen in % PMK 25 10 12 6 -6 -50 % Terror 14 21 9 3 -6 -66,67 % PMK 2 6 3 0 0 -100 % Gewalt Gesamt 27 37 24 9 -15 -62,5 % Der Bereich PMK -religiöse Ideologiewird seit dem Jahr 2017 gesondert erfasst. Während die Fallzahlen 2019 24 Straftaten aufwiesen, fielen die Zahlen 2020 um 15 (62,5 %) auf 9 Straftaten. Diese sind ausschließlich dem Themenfeld "Islamismus" zuzurechnen. 26 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Von den gemeldeten Fällen sind 3 Taten dem Terrorismus zuzuordnen. Diese Straftaten unterteilen sich in je ein Verfahren gem. SS 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat), ein Verfahren gem. SS 89c StGB (Terrorismusfinanzierung) und ein Verfahren gem. SS 129b StGB (Bildung/Unterstützung einer Terroristischen Vereinigung im Ausland). Die übrigen Straftaten verteilen sich auf ein Verfahren gem. SS 303 StGB (Sachbeschädigung), zwei Verfahren gem. SS 185 StGB (Beleidigung), ein Verfahren gem. SS 20 VereinsG (Verbreitung/öffentliche Verwendung von Kennzeichen verbotener Organisationen), ein Verfahren gem. SS 240 StGB (Nötigung), ein Verfahren gem. SS 185 StGB (Beleidigung), zwei Verfahren gem. SS 224 StGB (Gefährliche Körperverletzung), ein Verfahren gem. SS 241 StGB (Bedrohung), einem Verfahren gem. SS 186 StGB (Üble Nachrede). Für 2020 konnten keine Gewaltdelikte erfasst werden. Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Erfassungsrichtlinien eine Vielzahl der im Phänomenbereich bearbeiteten Delikte ausschließt, so dass aufgrund der für 2020 vorliegenden Daten lediglich ein verzerrtes Lagebild gegeben werden kann. 3.5 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität - nicht zuzuordnen - Veränderung VeränderunJahr 2016 2017 2018 2019 2020 2020 zu 2019 gen in % PMK 52 124 113 78 88 +10 +12,82 % PMK Gewalt 1 9 5 9 8 -1 -11,11 % ST-Delikte ohne 38 34 35 47 19 -28 -59,57 % explizite PM Gesamt 91 167 153 134 115 -19 -14,18 % Der Schwerpunkt liegt in diesem Phänomenbereich bei Beleidigungen und beim Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen mit jeweils 31 Taten und bei Sachbeschädigungen mit 19 Taten ohne dass bei den jeweiligen Taten Zielrichtung und Motivation der Täter zu erkennen waren. 27 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Die Gewaltdelikte stellen sich als Körperverletzungsdelikte (5) sowie jeweils eine Brandstiftung, räuberischer Diebstahl und gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr dar. Im Jahr 2020 konnten 60 % der Taten in diesem Deliktbereich aufgeklärt werden. 28 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 4 Phänomenübergreifende PMK 4.1 Straftaten gegen Amtsund Mandatsträger PMK GeGenicht PMK PMK Delikt samt samt zuzulinks rechts 2019 2020 ordnen Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (SS86a 4 8 - 6 2 StGB) Verfassungsfeindliche Verunglimpfung - 1 - - 1 von Verfassungsorganen (SS90b StGB) Nötigung von Verfassungsorganen - 1 - - 1 (SS105 StGB) Nötigung von Mitgliedern eines Verfas- - 1 - - 1 sungsorgans (SS106 StGB) Öffentliche Aufforderung zu Straftaten 1 - - - - (SS 111 StGB) Störung des öffentlichen Friedens durch 1 1 - - 1 Androhung von Straftaten (SS 126 StGB) Volksverhetzung (SS130 StGB) 4 8 - 6 2 Belohnung und Billigung von Straftaten 1 - - - - (SS 140 StGB) Falsche Verdächtigung (SS 164 StGB) 1 - - - - Beleidigung (SS 185 StGB) 8 24 3 3 18 Verleumdung (SS187 StGB) - 1 1 - - Üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens (SS 1 2 - - 2 188 StGB) Verunglimpfung des Andenkens - 1 - 1 - Verstorbener (SS189 StGB) Nötigung (SS240 StGB) - 1 - - 1 Bedrohung (SS 241 StGB) 4 2 - 1 1 Sachbeschädigung (SS 303 StGB) 12 5 - 1 4 Brandstiftung (SS306 StGB) 1 1 1 - - Gefährliche Eingriffe in den Straßenver- 1 - - - - kehr (SS315b StGB) Summe: 39 57 5 18 34 29 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Im Bereich der Straftaten gegen Amtsund Mandatsträger war ein Anstieg auf insgesamt 57 Taten zu registrieren (2019: 39 Taten). Die Aufklärungsquote in diesem Phänomenbereich lag im Jahr 2020 bei 61,40 %. 18 Taten ließen sich dem Phänomenbereich PMK -rechts-, 5 Taten dem Phänomenbereich PMK -linkszuordnen. Den deliktischen Schwerpunkt bilden Beleidigungen (je 3), Propagandadelikte (alle PMK-R) und Volksverhetzungen (alle PMKR) mit jeweils sechs Fällen ab. Bei 34 weiteren Taten war eine eindeutige Zuordnung zu einem Phänomenbereich nicht möglich. Hier stellen die Beleidigungsdelikte mit 18 Fällen den größten Anteil dar. Dieser phänomenübergreifenden PMK wurde ein Fall der Gewaltkriminalität zugeordnet. Hierbei handelt es sich um eine Brandstiftung an PKW zum Nachteil eines Kreistagsmitgliedes aus dem Phänomenbereich der PMK-L. 4.2 Antisemitistische Straftaten Gesamt Gesamt PMK Delikt PMK AI4 2019 2020 rechts Verwenden von Kennzeichen verfassungs11 5 - 5 widriger Organisationen (SS86a StGB) Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte 1 - - - (SS 114 StGB) Störung des öffentlichen Friedens durch 2 - - - Androhung von Straftaten (SS 126 StGB) Volksverhetzung (SS130 StGB) 43 32 1 31 Beleidigung (SS 185 StGB) 2 5 1 4 Verunglimpfung des Andenkens Verstorbe- 1 - - - ner (SS 189 StGB) Körperverletzung (SS 223 StGB) - 1 - 1 Gefährliche Körperverletzung (SS 224 StGB) 1 - - - Sachbeschädigung (SS 303 StGB) 3 2 - 2 Summe: 64 45 2 43 4 ausländische Ideologie 30 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Im Jahr 2020 wurden insgesamt 45 antisemitische Straftaten erfasst. Dies stellt einen Rückgang um 29,69 % gegenüber dem Vorjahr dar (2019: 64). Bei einer Tat handelt es sich um ein Gewaltdelikt (2019: 2). Die Aufklärungsquote liegt bei 62,22 %. Den mit Abstand größten Anteil machen Straftaten aus dem Phänomenbereich PMK -rechtsaus. Bei den antisemitischen Straftaten im Phänomenbereich PMK -rechtskam es zu einem Rückgang der erfassten Fallzahlen auf 43 Straftaten (2019: 62). Den deliktischen Schwerpunkt bilden wie auch im Jahr zuvor die Volksverhetzungen mit 31 Fällen. Beim gemeldeten antisemitischen Gewaltdelikt handelt es sich um eine Körperverletzung (SS 223 StGB), die sich nach einem verbalen Streit zwischen dem späteren Geschädigten und zwei unbekannten männlichen Personen in einer Gaststätte zu einer körperlichen Auseinandersetzung entwickelte. Im o. a. Zusammenhang war zuvor ein anderer Gast von einem der beiden Unbekannten als "Jude" bezeichnet worden. Die beiden im Phänomenbereich der PMK -AIerfassten Fälle stellen sich als Farbschmiererei mit volksverhetzendem antisemitischen und als Internetagitation mit beleidigendem antisemitischen Inhalt dar. Es ist festzustellen, dass Gewaltkriminalität im Zusammenhang mit antisemitischen Delikten eine nachrangige Rolle spielt. 4.3 Betrachtung Reichsbürger/Selbstverwalter Eine Sonderstellung innerhalb der PMK stellt der Themenkomplex der sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter dar. Die heterogene Szene der "Reichsbürger und Selbstverwalter" vereint die fundamentale Ablehnung des Staates und seiner gesamten Rechtsordnung. In 2020 wurden 15 Fälle unter dem seit 01.01.2017 eingeführten Themenfeld "Reichsbürger/Selbstverwalter" subsumiert. Darunter befinden sich 4 Delikte, die dem Phänomenbereich PMK -rechtszugeordnet wurden, bei denen es sich um ein Beleidigungsdelikt (SS 185 StGB), zwei Volksverhetzungen (SS 130 StGB) und eine 31 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (SS 86a StGB) handelt. In diesem Themenfeld wurde ein Fall der Gewaltkriminalität erfasst, nachdem eine Person erfolglos versucht hatte, einen Streifenwagen mit Benzin in Brand zu setzten, und bei der nachfolgend angeordneten Sistierung einen tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte leistete. Die übrigen 11 Fälle wurden im Phänomenbereich -nicht zuzuordnenerfasst. Mit 5 Fällen bilden Beleidigungsdelikte den Schwerpunkt. 5 Betrachtung Versammlungsgeschehen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie Dem LKA wurden von April bis Dezember 2020 insgesamt 133 Versammlungslagen in Schleswig-Holstein bekannt, die im Kontext mit den Auflagen der Regierung zur Eindämmung der Pandemie Covid-19 stehen. Nicht alle diese Versammlungen sind tatsächlich von der Polizei begleitet worden. Teilweise wurden sie erst nachträglich polizeilich festgestellt. Nach Häufigkeit geordnet fanden diese in Kiel (52), Itzehoe (19), Flensburg, Eckernförde (je 11), Lübeck (9), Ahrensburg, Neumünster (je 4), Bargteheide, HenstedtUlzburg, Preetz (je 3), Bad Oldesloe, Kaltenkirchen, Rensburg (je 2), Bad Segeberg, Eutin, Heide, Husum, Kellinghusen, Niebüll, Pinneberg und Schleswig (je 1) statt. 45 Personen wurden als Versammlungsanzeigende bekannt, zu keiner dieser Personen lagen staatsschutzrelevante polizeiliche Ermittlungsverfahren vor. Die Erwartungen der Veranstalter mit bis zu 300 Teilnehmern wichen mitunter stark von der Realität ab. Überwiegend fanden sich Personengruppen im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich zusammen. Wenn auch themenbezogene Formulierungen oder Kommunikationsmuster im Internet von regionalen Gruppen adaptiert wurden, liegen dem LKA 3 keine Hinweise auf eine landesoder bundesweit funktionierende Organisation vor. 32 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Das LKA bezeichnet Versammlungslagen nur dann als Querdenker-Demonstrationen, wenn deren Veranstalter den Begriff in Anlehnung an die Stuttgarter Initiative Querdenken711 übernommen und sich selbst so bezeichnet haben. Anhand dieser Parameter beschränken sich sog. Querdenker-Demonstrationen nach erfolgter Auswertung auf den Raum Itzehoe, Ahrensburg und Bad Oldesloe. Der Begriff Querdenker stellt ein verbindendes Element im Sinne einer gemeinsamen Kennung für eine durch staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie Covid-19 sich äußernde Unzufriedenheit, in Teilen Ablehnung, dar, die immanent eine Negierung der Gefährlichkeit des Virus nach sich zieht. 33 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode III Rechtsextremistische Bestrebungen 1 Überblick Im Vergleich zu 2019 stieg das rechtsextremistische Personenpotenzial im Berichtsjahr um rund elf Prozent auf 1180 Personen. Für diesen Anstieg gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen konnte die NPD-Schleswig-Holstein einen Mitgliederzuwachs von 20 Personen verzeichnen. Der Hauptgrund ist jedoch die im Berichtsjahr erfolgte Einstufung des ehemaligen so genannten Flügels innerhalb der AfD zu einem landeseigenen Beobachtungsobjekt. Diesem völkisch-nationalistischen Personenzusammenschluss wird in Schleswig-Holstein ein Potenzial von 130 Personen zugerechnet. Da das politische und gesellschaftliche Leben aufgrund der Corona-Beschränkungsmaßnahmen in weiten Teilen nicht in der Realwelt stattfinden konnte, verlagerten Rechtsextremisten ihre Aktivitäten vermehrt ins Internet. Zusätzlich gab es deutlich mehr Internetaktivisten, die vorher noch nicht in extremistischen Zusammenhängen aufgefallen waren. Insgesamt führte diese Entwicklung zu einem Anwachsen des weitgehenden unstrukturierten Personenpotenzials. Die Zahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten sank von 360 im Jahr 2019 leicht um rund 20 Personen auf nunmehr 340. Rechtsextremistische Bestrebungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie Bundesweit versuchten Rechtsextremisten die von der Regierung beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie als vermeintlich überzogene Einschränkungen der Grundrechte darzustellen. Dazu wurden teils auch antisemitische Verschwörungstheorien herangezogen. Die politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie boten rechtsextremistischen Akteuren ein neues Agitationsfeld. Als Echokammern rechtsextremistischer Propaganda fungierten dabei jegliche Kanäle digitaler Kommunikation. 34 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Das so genannte Anti-Corona-Demonstrationsgeschehen zeigte Anhaltspunkte für die mögliche Entwicklung eines "Verschwörungsextremismus", der durch antisemitische Einstellungsmuster und eine Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auffiel. Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Die NPD ist trotz der seit Jahren rückläufigen Mitgliederzahl immer noch die bedeutendste und mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland. Entgegen des Bundestrends stieg die Mitgliederzahl der NPD Schleswig-Holstein erstmals seit 2008 wieder an und lag im Berichtsjahr bei 120 Personen. Das lag vor allem am Kreisverband Mittelholstein und seinem Vorsitzenden Mark Proch, der es verstand, neue Mitglieder zu werben. Proch löste im Oktober auch den langjährigen NPD-Landesvorsitzenden Ingo Stawitz ab, der nicht erneut zur Wiederwahl antrat. Hauptagitationspunkt der NPD war neben der "Corona-Krise" einmal mehr das Themenfeld "Anti-Asyl" beziehungsweise Fremdenfeindlichkeit. Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien In diese Kategorie gehört der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD), der unter der Bezeichnung "Flügel" bekannt wurde. "Der Flügel" wurde Ende März vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) von einem ursprünglichen Verdachtsfall als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung eingestuft. Einen Monat später kam es zwar zu einer formalen Auflösung des "Flügels", der Personenzusammenschluss innerhalb der AfD blieb jedoch bestehen. Ende September wurde der ehemalige "Flügel" als "völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss" auch in Schleswig-Holstein als eigenes, landesweites Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörde eingestuft, da tatsächliche Anhaltspunkte vorlagen, dass es sich um eine verfassungsfeindliche Bestrebung handelte. 35 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Parteiunabhängige beziehungsweise parteiungebundene Strukturen Hierunter zählen unter anderem Gruppierungen, bei denen eine zweckund zielgerichtete organisierte Zusammenarbeit erkennbar ist. Personen in diesen Strukturen agieren eher aktionistisch und sind in der Regel ideologisch klassisch am historischen Nationalsozialismus ausgerichtet. Zu den bundesweit agierenden Gruppierungen gehörte im Berichtsjahr in Schleswig-Holstein unter anderem die sich so selbstbezeichnende "Atomwaffen Division Deutschland" (AWD). Zu den in Schleswig-Holstein aktiven Gruppierungen zählten der Aryan Circle (AC) und die Nationalsozialisten Bad Segeberg (NSBS). Nachdem am 3. März polizeiliche Exekutivmaßnahmen gegen Mitglieder des AC in Schleswig-Holstein sowie Niedersachsen, Brandenburg und Hessen stattfanden, stellte der AC seine öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten weitgehend ein. Gleichwohl bestehen dessen Strukturen und die persönlichen Kennverhältnisse der Beteiligten fort, sodass die Gruppierung weiterhin im Fokus der Sicherheitsbehörden steht. Die NSBS hingegen veranstalteten unter anderem klassische Neonazi-Aktivitäten an jährlich wiederkehrenden Terminen, wie beispielsweise am 13. Juli die Aktion "Schwarze Kreuze Deutschland" und anlässlich des Volkstrauertags das geschichtsrevisionistische "Heldengedenken". Identitäre Bewegung (IB) Die wesentlichen Ideologieelemente der Identitären Bewegung (IB) sind auf die antiliberalen und antiegalitären Gedanken der Konservativen Revolution 5 der 1920er Jahre zurückzuführen. Der Kerngedanke identitärer Weltanschauung ist das Konzept des Ethnopluralismus6. In Schleswig-Holstein sind Aktivitäten der Identitären Bewegung inzwischen nicht mehr so wahrnehmbar wie in anderen Ländern. Das Personenpotenzial der Identitären Bewegung Schleswig-Holstein (IBSH) liegt in einem unteren zweistelligen Bereich. Es fehlt weiterhin an Strukturen und Führungsfiguren. 5 Erläuterung im Kapitel 5.3. 6 Erläuterung siehe Kapitel 5.4.2. 36 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Dennoch findet die Strategie der "Metapolitik" 7 gerade zu Zeiten der Corona-Pandemie sehr günstige Voraussetzungen. Denn die in früheren Jahrzehnten viel deutlicher zu erkennende gesellschaftliche und politische Abgrenzung zum Rechtsextremismus hat sich binnen kurzer Zeit, erst Recht im Lichte der "Anti-Corona-Demonstrationen, aufgeweicht. Diffamierung und Verächtlichmachung demokratischer Institutionen sowie das Unterfangen, politische Standpunkte in Freund-Feind-Muster ohne Differenzierungen zu teilen, stellen erhebliche Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung dar. Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial Zum weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Personenpotenzial gehören ebenso organisationsungebundene Rechtsextremisten, wie Internetaktivisten, sonstige Einzelpersonen, aber auch Strafund Gewalttäter. Sie sind eher subkulturell geprägt und verfügen über kein gefestigtes rechtsextremistisches Weltbild, sondern werden von einzelnen Ideologiefragmenten wie Rassismus, Antisemitismus oder Fremdenfeindlichkeit geleitet. Regionale Aktivitätsschwerpunkte in Schleswig-Holstein waren im Berichtsjahr nicht feststellbar. Die größte Musikveranstaltung in Schleswig-Holstein war ein Konzert, das am 15. Februar in der Neumünsteraner Gaststätte "Titanic" stattfand und von 90 Teilnehmern, überwiegend aus dem norddeutschen Raum, besucht wurde. Es traten die nordrhein-westfälische Band "Oidoxie" sowie die schleswig-holsteinische Liedermacherin "Wut aus Liebe" auf. Das Konzert in Neumünster war im Berichtsjahr das einzige in Schleswig-Holstein. Daneben fanden an unterschiedlichen Orten vier sonstige Musikveranstaltungen (siehe Kapitel 6) statt, die konspirativ durchgeführt wurden und keine öffentliche Außenwirkung erzielten. Rechtsextremistische Liederabende fanden im Berichtsjahr in Schleswig-Holstein nicht statt. 7 Erläuterung siehe Kapitel 5.4.2. 37 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Vernetzung über das Internet Bei schleswig-holsteinischen Rechtsextremisten war, bedingt durch Corona-Beschränkungsmaßnahmen, eine Schwerpunktverschiebung von aktionistisch-orientierten realweltlichen Veranstaltungen hin zu Aktivitäten im Internet zu beobachten. In entsprechenden Chaträumen wurde zum Teil enthemmt fremdenfeindlich und mit wachsender verbaler Aggressivität gehetzt. Besorgniserregend waren terroristische Mordanschläge, deren Ausführung als Medieninhalte live und damit ungefiltert ins Internet übertragen wurden, wie es beispielsweise die Attentäter von Christchurch/Neuseeland und Halle bereits 2019 vorgemacht haben. Den Attentätern kam es darauf an, mit ihren Beiträgen in Zeiten der Digitalisierung eine möglichst große Reichweite zu erlangen und über die örtlichen Grenzen hinaus, im besten Fall weltweit, Gleichgesinnte und Interessierte zu erreichen und Nachahmer zu animieren. Hinzu kommt, dass sich dieser Tätertypus des Internets als Werkzeug bedient, sein Vorhaben nach bisherigem Kenntnisstand allein plant und durchführt, mithin nicht einer bislang bekannten rechtsterroristischen Struktur oder Gruppierung fest angehört, sondern eher einer digitalen Bewegung. Diese Täter sind als Teil einer lose miteinander verbundenen, rechtsextremistischen Gemeinschaft im Internet zu betrachten, ohne in bestehende realweltliche rechtsextremistische Organisationen und Strukturen eingebunden zu sein. 2 Wesensmerkmale des Rechtsextremismus Unter dem Begriff Rechtsextremismus werden Bestrebungen verstanden, die sich gegen wesentliche Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten und die Abschaffung des demokratischen Staates zu Gunsten einer autoritär geführten "Volksgemeinschaft" verfolgen. Rechtsextremisten versuchen dieses Ziel auch unter Anwendung von Gewalt umzusetzen. Ablehnung des Demokratieund Rechtsstaatsprinzips Nach rechtsextremistischem autoritären Staatsverständnis soll der Staat intuitiv nach dem vermeintlich übereinstimmenden Willen des Volkes handeln. Das führt 38 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 dazu, dass der Einzelne zugunsten der sogenannten Volksgemeinschaft zurückstehen und sich unterordnen muss, da Staat und Volk eine Einheit bilden. Führerprinzip Die Vorstellung einer "Volksgemeinschaft" hebelt eine pluralistische Gesellschaft aus und ebnet dem Führerprinzip den Weg, wenn ein angeblich verobjektivierbarer Volkswille als Ideal vorgegeben wird und nicht im Diskurs gesellschaftlicher Gruppen demokratisch, pluralistisch gefunden wird. Das Mehrparteienprinzip sowie das Recht auf Ausübung einer parlamentarischen Opposition würden damit hinfällig. Wer zur Volksgemeinschaft gehört, ergäbe sich allein aus der biologisch-ethnischen Abstammung. Biologisch-ethnische Abstammung als zentrales Ideologieelement Diese Haltung ist ein zentrales Element rechtsextremistischer Ideologie, aus der gleichzeitig eine Legitimation hergeleitet wird, die biologisch-ethnische Abstammung über die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte zu stellen und geht einher mit einer gleichzeitigen Abwertung anderer Ethnien. Ideologie der Ungleichwertigkeit Die eigene biologisch-ethnische Abstammung und das eigene Volk werden elitär überhöht, und Angehörige anderer Ethnien oder auch Religionen werden abgewertet und ausgegrenzt. Geschichtsrevisionismus Neben einem antidemokratischen Verständnis, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gehören Geschichtsrevisionismus, also die ideologisch motivierte Umdeutung historischer Fakten, sowie Antisemitismus zur rechtsextremistischen Weltanschauung. 39 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Antisemitismus Antisemitismus ist die Ablehnung von Juden, die sich bis hin zum Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.8 Antisemitismus umfasst alle Aspekte judenfeindlicher Ideologie. Er lässt sich seit mehr als 2.000 Jahren in unterschiedlicher Ausprägung geschichtlich nachweisen und findet sich auch in anderen extremistischen Phänomenbereichen. Antisemitismus prägt viele Argumentationsmuster der Szene beziehungsweise schwingt mal offen, mal in subtiler Form stets mit. Er ist und bleibt wesentlicher Bestandteil rechtsextremistischer Bestrebungen. 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Phänomenbereich Rechtsextremismus Es gab im Berichtsjahr bundesweit zahlreiche und sehr unterschiedliche Formen des Protests gegen Maßnahmen der Bundesregierung und der Landesregierungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Dabei wurden teils verfassungsfeindliche Positionen vertreten; Ausrichter beziehungsweise Anmelder solcher Veranstaltungen waren mitunter aus verfassungsfeindlichen Zusammenhängen bereits bekannt oder die Veranstaltungen wurden von Extremisten gesteuert beziehungsweise maßgeblich beeinflusst. In Schleswig-Holstein gab im Berichtsjahr vereinzelte Versuche von rechtsextremistischen Akteuren und Verschwörungstheoretikern das "Anti-Corona"-Veranstaltungsgeschehen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Eine maßgebliche Steuerung bzw. Beeinflussung gelang ihnen nicht. Bundesweit versuchten Rechtsextremisten, die von der Regierung beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie als vermeintlich überzo- 8 Arbeitsdefinition Antisemitismus des Plenums der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) vom 15. Mai 2016. 40 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 gene Einschränkungen der Grundrechte darzustellen. Dazu wurden teils auch antisemitische Verschwörungstheorien herangezogen, wie beispielsweise die einer jüdischen Finanzelite mit weltweit wirtschaftspolitischem Machtstreben. Mit Falschmeldungen und Desinformationen beabsichtigten Rechtsextremisten die in Teilen der Bevölkerung bestehenden Bedenken gegen die Schutzmaßnahmen zu verstärken und letztlich durch ihre Ideologien zu ersetzen. Die Protestveranstaltungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie wurden als Plattform genutzt, um verfassungsfeindliche Positionen in den bürgerlich-demokratischen Diskurs einsickern zu lassen und die Deutungshoheit über die Themen und politischen Standpunkte zu bekommen. Mit dem Versuch, die Grenzen zwischen legitimem Protest und extremistischen Positionen zu verwischen oder gar zu überwinden, verbanden Rechtsextremisten die Hoffnung, Anschluss ins bürgerliche Spektrum zu finden, um ihrem eigentlichen Ziel näher zu kommen: Die demokratischen Instanzen in breiten Bevölkerungsschichten zu delegitimieren und zu schwächen. Die Aktivitäten im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie boten rechtsextremistischen Akteuren ein enorm großes Agitationsfeld. Als Echokammern rechtsextremistischer Propaganda fungierten dabei jegliche Kanäle digitaler Kommunikation. Anonym, ungefiltert und ohne relativierende Darstellungen verbreiteten sich dort Hass und Ablehnung gegen ihre Feindbilder, und das vor allem mit einer enormen Reichweite. Der Verfassungsschutz hat daher - wie angekündigt - seine Beobachtung verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Internet im Berichtsjahr weiter verstärkt. Gefährdungspotenzial im Internet Die in den virtuellen Kommunikationsräumen bewusst vorgenommene Inszenierung zweier Lager zur Spaltung der Gesellschaft, das Schüren von Ängsten und dadurch geförderte Radikalisierungsverläufe ließen ein nur schwer kalkulierbares Gefährdungspotenzial entstehen. Für Nutzer dieser Online-Räume konnte schnell die trügerische Realität entstehen, nahezu jede und jeder vertrete extremistische Positionen, diese Positionen seien gleichsam der politisch-gesellschaftliche Mainstream. Die daraus resultierende vermeintliche Normalität sollte dann als Legitimation für strafbare Handlungen zur Erreichung eigener verfassungsfeindlicher Ziele dienen. 41 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Zunehmend feindseligere Protestformen Insbesondere zum Ende des Berichtsjahres wurden die Aktionen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie immer feindseliger. Sie schlugen verstärkt in Ablehnung demokratischer Institutionen und Werte um, und Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretiker versuchten noch einmal mehr, diese Entwicklung aufzugreifen und zu fördern. Die Folgen dieser geistigen Brandstiftung zeigten sich vielerorts auf der Straße, und Wut, Angst und Frustration mündeten in Sachbeschädigungen und sogar in gewalttätigen Ausschreitungen im Rahmen von "Anti-Corona-Demonstrationen". Solche Auswüchse gab es im Berichtsjahr in Schleswig-Holstein nicht. Antisemitische und antidemokratische Verschwörungstheorien Neben den versammlungs-, ordnungs-, polizeiund strafrechtlichen Aspekten besteht die Gefahr, dass sich aus dem so genannten Anti-Corona-Demonstrationsgeschehen eine Art von "Verschwörungsextremismus" herausbildet, der sich häufig rein virtuell zeigt und neben antisemitischen Einstellungsmustern auch eine Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung offenbart. QAnon So knüpften Rechtsextremisten häufig an die QAnon-Verschwörungstheorie an. QAnon wurde erstmals im Herbst 2017 auf einem Imageboard öffentlich. Imageboards sind Internetforen, auf denen anonym Bilder und Texte veröffentlicht werden können. Der Kern der Verschwörungstheorie beinhaltet Donald Trumps (Präsident der USA von 2017 bis 2021) internen Krieg gegen ein vermeintlich eigenständiges Staatskonstrukt, den Staat im Staate, den sogenannten Deep State, und die Bekämpfung eines internationalen Pädophilenrings. Angehörige des "Deep State" stammten aus dem Umfeld von Geheimdiensten und würden, unterstützt von vielen "Eliten" aus Wirtschaft und Politik, Kinder entführen und in unterirdischen Lagern foltern beziehungsweise umbringen, um aus ihrem Blut ein Serum zur ewigen Jugend zu gewinnen. Der Bezug zum Rechtsextremismus ergibt sich u.a. aus dem Umstand, dass als "Eliten" häufig Personen jüdischen Glaubens bezeichnet werden. 42 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Die QAnon-Bewegung verfügt über eine große virtuelle Reichweite und könnte das Potenzial haben, ein dauerhafter Faktor und ein einigendes Element extremistischer Ideologien zu werden. QAnon-Anhänger brachten die Beschränkungsmaßnahmen im Kontext der COVID19-Pandemie mit ihren Verschwörungstheorien in Verbindung und so wurde QAnon als ursprünglich US-amerikanische Theorie innerhalb kürzester Zeit auch in Deutschland zu einem Phänomen, welches erheblichen Einfluss auf diverse Verschwörungserzählungen nahm. Derartige Verschwörungstheorien sind eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung, die sich spätestens dann konkretisiert, wenn antisemitische oder gegen politische Funktionsträger gerichtete Gewalttaten besorgniserregend mit ihnen legitimiert werden. QAnon inspirierte bereits weltweit zu Attentaten und Morden. So bezog sich unter anderem der Attentäter von Hanau 9 auf Teilfragmente der Ideologie. Eine besondere Thematisierung von QAnon konnte für die rechtsextremistische Szene sowie für die Szene der Reichsbürger in Schleswig-Holstein bislang nicht festgestellt werden. Die "Querdenken"-Bewegung Mit der "Querdenken"-Bewegung etablierte sich im Berichtsjahr eine neue, heterogene Protestströmung, unter der sich Personen aus dem bürgerlichen Spektrum, aber auch Rechtsextremisten, Antisemiten, Reichsbürger und Verschwörungstheoretiker zusammenfanden. Die Verfassungsfeinde in der Bewegung vertraten nicht bloß absurde Ansichten zur Covid-19-Pandemie, teilweise wurde mit der Kritik an den staatlichen Maßnahmen der gesamte Staat, seine Institutionen und Werteordnung infrage gestellt. Auch in Schleswig-Holstein entstanden etliche "Querdenken"Initiativen, die hier diverse Demonstrationen organisierten. 9 Anschlagsgeschehen am 19. Februar 2020. Der Attentäter Tobias R. ermordete in der hessischen Stadt Hanau insgesamt zehn Personen, darunter seine Mutter. Später erschoss er sich selbst. Der Generalbundesanwalt übernahm wegen Terrorverdachts die Ermittlungen, da "gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund" vorlagen. "Diese ergeben sich aus den augenscheinlich von Tobias R. herrührenden Videos und Dokumenten." Internetseite des Generalbundesanwalts, zuletzt 04.12.2020. 43 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Die größte Protestveranstaltung im Zusammenhang mit der "Querdenken"-Bewegung fand in Schleswig-Holstein mit in der Spitze bis zu 700 Teilnehmern am 16. August in Kiel statt. Dort nahmen unter anderem der bundesweit in der Szene und allgemein in der Öffentlichkeit als "Volkslehrer" bekannte Rechtsextremist Nikolai Nerling aus Berlin sowie Mitglieder der rechtsextremistischen Gruppierung "Bollstein Kiel" teil. Aber auch am 12. Dezember schaffte es die "Querdenken"-Bewegung in Kiel eine Demonstration mit immerhin 400 Teilnehmern zu organisieren. In Baden-Württemberg wurde am 9. Dezember die "Querdenken 711" 10-Bewegung und seine regionalen Ableger zum Beobachtungsobjekt erklärt, da dort hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung vorlagen. Vergleiche mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 Einige Anhänger der "Querdenken-Bewegung" zogen im Zusammenhang mit der Reform des Infektionsschutzgesetzes im November Parallelen zum Ermächtigungsgesetz von 1933, welches die Voraussetzungen für die Beseitigung der Weimarer Republik schuf. Auch der schleswig-holsteinische Landesverband der "Jungen Alternative", dessen Bundesorganisation ein Beobachtungsobjekt des Bundesamts für Verfassungsschutz ist, äußerte sich auf ihrer Instagram-Seite und warf der Bundesregierung vor, auf dem Weg in eine "Corona-Diktatur"11 zu sein. Parallelen zu George Orwell "1984" Unter dem Motto "Covid-1984", eine Anspielung auf George Orwells Roman "1984", warfen unter anderem "Querdenker" der Regierung vor, durch ihre Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pamdemie einen totalitären Überwachungsstaat zu schaffen, in dem eine gleichgeschaltete Bevölkerung der politischen Führung willenlos folgt. 10 "711" bezieht sich auf die Postleizahl der Landeshauptstadt Stuttgart. 11 Internetseite "Instagram: Junge Alternative Schleswig-Holstein", abgerufen am 16.11.2020. 44 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Rechtsextremistische Aktionen in Schleswig-Holstein Die NPD organisierte am 9. und 16. Mai in Neumünster eigene "Anti-Corona-Veranstaltungen", kam dabei jedoch nicht über eine Teilnehmerzahl im einstelligen Bereich hinaus. Ein paar Tage später berichtete die Partei auf ihrer Homepage über eine Verteilaktion ihres Corona-Flugblatts. Unter dem Tenor: "Corona beweist: Die Globalisierung ist ein Irrweg!" wurden darin behauptete Fehler des politischen und wirtschaftlichen Systems der Regierung angeprangert und die Globalisierung als signifikanter Faktor für die Ausbreitung der Pandemie verantwortlich gemacht. Dass die NPD sich im Vergleich zur rechtsextremistischen Agitation im Bund erst spät ins Protestgeschehen einbrachte, ist für hiesige Verhältnisse kaum verwunderlich. Seit Jahren hat die NPD in Schleswig-Holstein Schwierigkeiten, in neue Themenfelder vorzustoßen und zu Aktionen zu mobilisieren. Dennoch veröffentlichte die NPD im Verlauf des Jahres immer wieder Beiträge über die "Corona-Krise" und organisierte Flugblattverteilungen zur "Corona-Aufklärung". Knapp drei Monate später, am 1. August, initiierte dann der NPD-Kreisverband Nordfriesland eine "Anti-Corona"Kundgebung in Husum. Auch dort blieb es bei einer Teilnehmerzahl im einstelligen Bereich, obgleich er Unterstützung von NPDParteifunktionärenund Mitgliedern aus anderen Regionen Schleswig-Holsteins bekam. Obgleich es in der Folgezeit mit Teilnehmern aus unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Milieus nahezu wöchentlich landesweit zu in der Regel eher kleineren Veranstaltungen gegen staatliche Corona-Maßnahmen kam, dauerte es bis zum 31. Oktober, dass erneut Rechtsextremisten alleinige Ausrichter eines Protests in Neumünster waren: Aktivisten der NPD Schleswig-Holstein zeigten gemeinsam mit Anhängern der Deutschen Patriotischen Gemeinschaft (DPG), einer der NPD Schleswig-Holstein nahestehenden Gruppierung, entsprechende "Anti Corona-Maßnahmen"-Transparente vor dem Rathaus. 45 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Zuspruch von Rechtsextremisten für besondere Protestform Ebenfalls im Oktober fiel in Schleswig-Holstein eine Protestform auf, die in ihrem Erscheinungsbild Erinnerungen an die einstige Neonazi-Kampagne "Die Unsterblichen" aus dem Jahr 2012 weckte. Die damalige Aktionsform stand bundesweit unter dem Tenor "Die Demokraten bringen uns den Volkstod" und wollte auf einen vermeintlichen "Großen Austausch" der deutschen Bevölkerung durch "Massenmigration" aufmerksam machen. Seinerzeit formierten sich mit weißen Masken bekleidete Neonazis wie bei einem Flashmob, die oftmals nachts mit Fackeln aufmarschierten und sich nach wenigen Minuten wieder auflösten. Die Demonstranten des Corona-Protests im Berichtsjahr erschienen zunächst in weißen Schutzanzügen und gingen still zu Trommelschlägen mit unterlegten monotonen Ansagen, wie "Spahn erhöre uns", "Söder erhöre uns", "Merkel erhöre uns" durch verschiedene schleswig-holsteinische Innenstädte. Am 14. November in Neumünster trugen sie dann zu ihrer Aufmachung mit ähnlichen weißen Gesichtsmasken, wie sie einst von den "Unsterblichen" genutzt wurden. An der Aktion beteiligten sich rund 15 Teilnehmer. Es passt ins Bild, dass diese Art von Protest von Rechtsextremisten und insbesondere von der NPD Schleswig-Holstein großen Zuspruch erfuhr. Die Partei stellte ein Video der Veranstaltung auf ihrer Facebook-Seite ein und kommentierte, dass "parteilose Menschen" demonstriert hätten. Der NPD-Landesvorsitzende Proch rief "...dazu auf, sich nicht länger vom Staat und deren Handlanger gängeln zu lassen und Widerstand gegen die Abschaffung der Grundrechte zu leisten." 12 Am 28. November erfolgte in Schleswig eine weitere Demonstration in dieser Form. Ideologieübergreifende Aktivitäten im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie Nicht nur Rechtsextremisten, auch Reichsbürger und Selbstverwalter, Antisemiten und Verschwörungstheoretiker nahmen die Pandemie zum Anlass, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen zu untergraben und ihre Ideologien zu verbreiten. Sie versuchten dabei in der Öffentlichkeit das Bild zu erzeugen, mit den eigenen Auffassungen auf große Zustimmung in weiten Kreisen der Gesellschaft zu stoßen 12 Internetseite "Facebook: NPD Schleswig-Holstein", abgerufen am 16.11.2020. 46 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 und gleichsam den Eindruck zu vermitteln, die breite Mehrheit der Bevölkerung zu vertreten, gleichsam "das Volk" zu sein. Diese Tendenz war insbesondere bei der Großdemonstration am 29. August in Berlin zu erkennen, als etwa 450 Personen die Reichstagstreppe besetzten. Unter den rund 38.000 Teilnehmern der Demonstration fanden sich ca. 2.500 bis 3.000 Rechtsextremisten und/oder Reichsbürger. Darunter konnten auch Rechtsextremisten aus Schleswig-Holstein im unteren zweistelligen Bereich festgestellt werden. 4 Rechtsextremistisches Personenpotenzial in Schleswig-Holstein Das rechtsextremistische Personenpotenzial wird in drei Kategorien erfasst. Unterscheidungsmerkmal ist dabei der Organisationsgrad. Die erste Kategorie bildet das Potenzial in den Parteien einschließlich der in diesem Jahr erstmaligen Nennung des sonstigen rechtsextremistischen Personenpotenzials in Parteien, zu welchem der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss (ehemals "Flügel") in der Alternative für Deutschland (AfD) zählt. In der zweiten Kategorie wird das rechtsextremistische Personenpotenzial in parteiunabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen erhoben. Dazu zählen unter anderem rechtsextremistische Gruppierungen, bei denen eine zweckund zielgerichtete organisierte Zusammenarbeit erkennbar ist, wie beispielsweise bei neonazistischen Zusammenschlüssen, Gruppierungen der Neuen Rechten oder auch bei rechtsextremistischen Vereinen. Zum weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Personenpotenzial als dritter Kategorie gehören subkulturell geprägte Rechtsextremisten, organisationsungebundene Rechtsextremisten ebenso wie rechtsextremistische Internetaktivisten, sonstige Einzelpersonen. Der Anstieg des Gesamtpersonenpotenzials im Berichtsjahr ist hauptsächlich auf die erstmalige Nennung und somit erste Zählung der Angehörigen des völkischnationalistischen Personenzusammenschlusses (ehemals "Flügel") innerhalb der AfD zurückzuführen. Aber auch bei der NPD Schleswig-Holstein gab es einen Zuwachs (siehe Kapitel 5.1). Maßgeblich aufgrund der zahlreichen Internetaktivisten ist auch das weitgehend unstrukturierte Personenpotenzial angewachsen. 47 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 2019 2020 in Parteien 110 260 darunter NPD/JN 100 120 Der III. Weg - - DIE RECHTE 10 10 sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in - 130 Parteien in parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen 400 350 Strukturen weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches 550 570 Personenpotential Gesamt Land 1060 1180 davon als gewaltorientiert eingeschätzte Rechtsextre360 340 misten 5 Organisationen und Gruppierungen des rechtsextremistischen Spektrums 5.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) war im Berichtsjahr die das rechtsextremistische Parteienspektrum prägende Gruppierung in Schleswig-Holstein (siehe Kapitel 5.1.1). Parteipoltische Aktivitäten gingen allein von ihr aus. Die neonazistischen Parteien "Der III. Weg" und "Die Rechte" spielten in Schleswig-Holstein hingegen so gut wie keine Rolle. Die NPD ist trotz der seit Jahren rückläufigen Mitgliederzahl immer noch die bedeutendste und mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland. Sie wurde 1964 gegründet und hat ihren Sitz in Berlin. Im Berichtsjahr gehörten ihr 3500 Mitglieder (2019: 3600) an. Seit November 2014 ist der Saarländer Frank Franz Bundesvorsitzender der Partei. Die NPD unterhält die 1969 gegründete Jugendorganisation "Junge Nationalisten" (JN) (vormals "Junge Nationaldemokraten"). 48 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Die NPD vertritt nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) "ein auf die Beseitigung der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtetes politisches Konzept" und "will die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten "Volksgemeinschaft" ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen. Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde und ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar." 13 Mit geschichtsrevisionistischen Äußerungen unterstreicht die NPD darüber hinaus ihre grundsätzlich bejahende Haltung gegenüber dem Regime der NS-Zeit. Einmal monatlich gibt die NPD die Zeitschrift "Deutsche Stimme" (DS) heraus, die seit diesem Jahr in einem neuen Zeitschriftenformat erscheint und auch für NPD-Mitglieder kostenpflichtig ist. Mit der nun als "Hochglanzmagazin" erscheinenden DS versucht die NPD einen Neuanfang für ihre Zeitung. Sie soll zukünftig mit einem eigenständigen und parteiunabhängigen Profil punkten. Durch die Optik eines Magazinformats und einer verbesserten inhaltlich-redaktionellen Qualität soll ein breiteres Publikum von parteiungebundenen Lesern als bisher angesprochen werden. Zudem betreibt sie das Internet-TV-Projekt DS-TV. Bei "DS-TV" handelt es sich um einen Youtube-Kanal mit verschiedensten (NPD-)Inhalten, wie zum Beispiel einem Live-Bericht über eine "Anti-Corona-Demonstration" am 18. November in Berlin o- der auch Beiträgen des NPD-Parteivorsitzenden. Zuletzt stand insbesondere die Präsentation der Ausgaben der Parteizeitung "Deutsche Stimme" im Vordergrund des Kanals. In Schleswig-Holstein ist seit dem 25. Oktober Mark Proch Vorsitzender des NPDLandesverbandes. Proch löste Ingo Stawitz ab, der seit 2012 den Vorsitz des NPDLandesverbandes innehatte. Die Mitgliederzahl der NPD lag im Berichtsjahr bei 120 Personen und stieg damit entgegen des Bundestrends erstmals seit 2008 wieder an. Das lag vor allem am Kreisverband Mittelholstein und seinem Vorsitzenden Proch, der es verstand, neue Mitglieder zu akquirieren. Prochs Werben um neue Mitglieder 13 Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 4/2017 vom 17.01.2017. 49 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode und Anhänger hatte bereits 2018 Erfolg, als es ihm bei der damaligen Kommunalwahl in Neumünster gelang, alle 22 Wahlkreise mit Kandidaten der NPD zu besetzen. Seit diesem Jahr erscheint die Zeitschrift des NPD-Landesverbandes, die Schleswig-Holstein-Stimme (SH-Stimme), nur noch zweimal statt bislang dreimal im Jahr. Dennoch ist sie nach wie vor das regionale Sprachrohr der NPD. Die SH-Stimme setzt sich inhaltlich ohnehin fast vollständig aus Beiträgen zusammen, die von den Internet-/ Facebook-Seiten des Landesverbandes oder der Kreisverbände übernommen werden. NPD-Bundesverband Die NPD ist seit dem Verlust ihrer letzten Landtagsfraktion in Mecklenburg-Vorpommern (2016) in keinem Landesparlament mehr vertreten. Sie befindet sich in einem kontinuierlichen Erosionsprozess. Der Umstand, dass es im Berichtsjahr keine überregionalen Wahlen gab, bewahrte sie vor vermutlich weiteren desaströsen Wahlergebnissen. Dennoch verfestigte sich ihr Zustand als Splitterpartei, was ihrem Selbstverständnis als ernstzunehmende Wahlpartei widerspricht. Die Perspektive der NPD sieht auch zukünftig düster aus. Die Partei befindet sich seit dem Erstarken der Alternative für Deutschland (AfD) weiterhin in einem Dilemma: Die NPD ist nicht in der Lage, für eine teilweise von beiden Parteien umworbene Wählerklientel Alleinstellungsmerkmale zu generieren, die ihr zur erfolgreichen Profilierung gegenüber der AfD nutzen könnten. Auch von der im Berichtsjahr allgegenwärtigen Corona-Krise konnte sie nicht profitieren beziehungsweise sich nicht öffentlichkeitswirksam hervortun. Daher sind auch zukünftig ausbleibende Wahlerfolge der NPD vorprogrammiert. Gleichzeitig scheint ihr Mitgliederschwund unaufhaltsam zu sein, was zwangsläufig ihre Existenz gefährden wird. Der NPD-Bundesvorstand ist sich seiner desaströsen Situation durchaus bewusst und versucht mit einer strategischen Neuausrichtung attraktiver zu werden. Eine der ersten Konsequenzen war die Neugestaltung der Parteizeitung "Deutsche Stimme", die seit April als kostenpflichtiges Hochglanzmagazin erscheint, um mit einem eigenständigen und parteiunabhängigen Profil zu 50 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 punkten. Das wiederum führte bei einem Teil der NPD-Mitglieder zu weiterer Unzufriedenheit mit der Parteiführung. Verschiedene NPD-Funktionäre, unter ihnen der damalige schleswig-holsteinische NPD-Landesvorsitzende Ingo Stawitz, starteten daraufhin mit der Zeitschrift "Stimme Deutschlands" (SD) ein eigenes Zeitungsprojekt, aus dem bislang mehrere Ausgaben hervorgegangen sind: "Wir wollen, daß unsere Mitgliedern weiterhin über das Geschehen, vor allem in der NPD, auf dem Laufenden gehalten werden. Innerhalb kürzester Zeit haben sich bewährte freiwillige Aktivisten der Bewegung dazu bereit erklärt, mit diesem neuen Projekt, der Stimme Deutschlands, in gänzlich ehrenamtlicher Arbeit eine neue Zeitung für unsere NPD ins Leben zu rufen."14 Eine weitere (finanzielle) Ungewissheit für die NPD stellt weiterhin der am 19. Juni 2019 von den drei Verfassungsorganen Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht eingereichte Antrag auf Ausschluss der NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung dar. Denn Ziel des Antrages ist es, die NPD für sechs Jahre von der staatlichen Finanzierung auszuschließen. Mit dem Antrag soll verhindert werden, dass eine Partei, die die freiheitliche demokratische Grundordnung missachtet, mit Hilfe von Steuergeldern von dem Staat unterstützt werden muss, dessen wesentliche Verfassungswerte sie ablehnt. 15 Über den Antrag wurde im Berichtsjahr noch nicht entschieden. NPD-Landesverband Schleswig-Holstein Am 25. Oktober hielt die NPD-Schleswig-Holstein ihren Landesparteitag in Neumünster ab. Im Mittelpunkt standen die Vorstandswahlen, die in diesem Jahr von großen personellen Veränderungen geprägt waren. Der langjährige Landesvorsitzende Ingo Stawitz trat nicht mehr zur Wiederwahl an. Mit Mark Proch wurde wenig überraschend sein designierter Nachfolger gewählt. Auf ihrer Internetseite ließ die NPD anschließend verlauten: "Frischer Wind im Norden! - NPD-Landesverband wählt einen neuen Landesvorstand - Am 25. Oktober fand in Schleswig-Holstein ein NPD-Landespartei14 Stimme Deutschlands - Ausgabe 1 (Februar 2020), Seite 1. 15 Siehe Internetseite Bundestag, abgerufen am 22.10.2020. 51 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode tag statt, auf dem auch ein neuer Landesvorstand gewählt wurde. (...) In seinem Schlußwort zeigte sich der neugewählte Vorsitzende Mark Proch kämpferisch: "Wir sind nicht weg, wir sind klein, aber unser Glaube ist unauslöschbar. Wir werden immer für unser Vaterland kämpfen und man kann uns nur stoppen, wenn man uns töten und nicht durch neue Gesetze." Diesen Worten kann man kaum mehr was hinzufügen. Aus einem "frischen Wind" kann schnell ein Orkan werden. Und wir können allen Deutschen nur zurufen: "Kommt zu uns, kämpft mit uns gemeinsam für ein besseres Deutschland."" 16 Der Landesvorstand wurde bis auf das eine Amt des stellvertretenden Landesvorsitzenden komplett neu besetzt, sodass die Rahmenbedingungen für einen Neustart der NPD in Schleswig-Holstein grundsätzlich gegeben waren. Hinzu kam, dass der seit Jahren anhaltende Mitgliederschwund gestoppt werden konnte. Auch die finanzielle Situation des Landesverbandes hat sich konsolidiert: "Nach dem Rechenschaftsbericht des Landesvorsitzenden berichtete der Landesschatzmeister (...), daß der Landesverband finanziell fest auf dem Boden steht und in den vergangenen Jahren sehr umsichtig gewirtschaftet hat. So bleibt für zukünftige Wahlkämpft, aber auch für andere Propagandaaktionen ein gutes Polster."17 Es bleibt trotz vergleichsweise guter Ausgangsvoraussetzungen abzuwarten, inwieweit der neue Landesvorsitzende in der Lage sein wird, die Ausgangsvoraussetzungen in einen stabilen Trend zu verstetigen. Schließlich kämpfte Proch bereits in seinen (vorherigen) Funktionen als stellvertretender Landesvorsitzender, Kreisvorsitzender und Neumünsteraner Ratsherr gegen eine zunehmende Aktionsmüdigkeit der NPD-Mitglieder. 16 Internetseite "NPD-SH", abgerufen am 28.10.2020. 17 Ebd., abgerufen am 28.10.2020. 52 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 NPD-Kreisverbände Schleswig-Holstein Die Corona-Krise nutzte die schleswig-holsteinische NPD im Berichtsjahr erwartungsgemäß dazu, die "Obrigkeit"18 bzw. die "Regierungsparteien und deren hörigen Medien"19 einmal mehr zu diskreditieren. Neben diversen Internetund Facebookbeiträgen zur Corona-Krise gab es öffentliche Kundgebungen, wenn auch mit überschaubarer Teilnehmerzahl oder auch vereinzelte Flugblattaktionen ("CoronaAufklärung"20). So führten unter anderem NPD-Mitglieder Anti-Corona-Aktionen im Mai und Oktober in Neumünster und im August in Husum durch, die jedoch von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden: "Am gestrigen Tag haben sich mehrere Aktivisten des Kreisverbandes Nordfriesland auf dem (...) Husumer (...) Marktplatz versammelt um ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen gegen die überzogenen Corona-Maßnahmen und gegen die fehlgeleitete Politik, die bereits vor Corona einige Fehler aufwies. (...) All diese Problematik begleitet uns nun seit Februar dieses Jahres. Die Obrigkeit fabuliert aber bereits jetzt schon über die zweite Welle. Die (...) zweite (...) Welle wird kommen, jedoch wird dies eine (...) Pleitewelle sein, da viele mittelständische und kleine Betriebe die Türen schließen können." 21 Bei einer Anti-Corona-Kundgebung am 31. Oktober in Neumünster wurden die Mitglieder und Sympathisanten der NPD von "Kameraden der (...) DPG 22 (Deutsche Patriotische Gemeinschaft)"23 unterstützt, um "(...) einen stillen (...) Protest gegen die zwangsverordneten Corona-Maßnahmen abgehalten. Zusammengefunden hat man sich vor dem Rathaus in (...) Neumünster. Es gab Zustimmung aus der Bevölkerung und auch interessante Diskussionen. (...) Es ist Zeit für (...) Widerstand. (...) npd (...) npdschleswigholstein"24 18 Internetseite "NPD-SH", abgerufen am 25.05.2020. 19 Ebd., abgerufen am 25.05.2020. 20 Ebd., abgerufen am 25.05.2020. 21 Internetseite "Facebook: NPD-Schleswig-Holstein", abgerufen am 22.10.2020. 22 Siehe auch Kap. 5.4.1. 23 Internetseite "Facebook: NPD-Schleswig-Holstein", abgerufen am 02.11.2020. 24 Ebd., abgerufen am 02.11.2020. 53 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Der regionale Schwerpunkt der Aktivitäten der Landes-NPD lag erneut in Neumünster. So fand neben den oben genannten Anti-Corona-Aktionen am 19. September auch eine "Kundgebung gegen das AJZ in Neumünster"25 statt: "Am 19 September 2020 fand eine Kundgebung gegen das steuergeldfinanzierte linke "Jugendzentrum" AJZ in Neumünster statt. Der NPD-Fraktionsvor-sitzende Mark Proch richtete deutliche Worte an die Verantwortlichen der Stadt, aber auch gegen die gewaltbereiten Linksextremisten auf der Gegenkundgebung. Die Stadt Neumünster möchte dem AJZ ein neues Gebäude schenken. Finanziert werden soll das Ganze mit Steuergeldern in Höhe von 5 Millionen Euro. Dagegen stellte sich gestern die NPD Neumünster." 26 Die NPD-Kreisverbände Westküste und Nordfriesland waren im Berichtszeitraum dagegen lediglich mit vereinzelten Aktionen in der Öffentlichkeit wahrnehmbar. Wie so oft im politischen Extremismus hing dies von einigen wenigen Personen ab. In ihren Internet-/ Facebookberichten stellte die NPD ihre Aktionen (Flugblattverteilungen in Elmshorn im NPD-Kreisverband Westküste oder Anti-Corona-Kundgebung in Husum im NPD-Kreisverband Nordfriesland) wie üblich als erfolgreich dar und versuchte gleichzeitig, ihren Anhängern eine (wieder zunehmende) Aktionsfähigkeit zu suggerieren. Am 8. Mai 2020, dem 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa, gedachten die NPD-Kreisverbände Mittelholstein, Südostholstein und Nordfriesland dem "Tag der Ehre in Schleswig-Holstein"27: "In der BRD wird der 8. Mai als "Tag der Befreiung" gefeiert. In seiner Gedenkansprache lies Bundespräsident Steinmeier verlautbaren, man könne dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben. BRD-Politiker wie Steinmaier, Merkel und Konsorten lieben unser Land nicht mit gebrochenem Herzen, sondern gar nicht! Anders läßt es sich nicht erklären, daß diese Herrschaften seit Jahrzehnten jeglichen Patriotismus im Keim ersticken und immer wieder einseitig der Opfer des Nationalsozialismus gedenken. (...) Auch in diesem Jahr führten die NPD-Kreisverbände in Schleswig-Holstein Aktio25 Internetseite "Facebook: NPD-Schleswig-Holstein", abgerufen am 21.09.2020. 26 Ebd., abgerufen am 21.09.2020. 27 Internetseite "NPD-SH", abgerufen am 11.05.2020. 54 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 nen durch, um auf dieses Thema aufmerksam zu machen und sich den Lügen der BRD-Politik in den Weg zu stellen. (...) Bei einer Gedenkminute verlas man unter anderem der letzte Wehrmachtsbericht, in dem heißt: "Die Wehrmacht gedenkt in dieser Stunde ihrer vor dem Feind gebliebenen Kameraden. Die Toten verpflichten zu bedingungsloser Treue, zu Gehorsam und Disziplin gegenüber dem aus zahllosen Wunden blutenden Vaterland!""28 Die NPD deutet den 8. Mai geschichtsrevisionistisch zu einem sogenannten Tag der Ehre um, an dem nicht der Befreiung Europas von der NS-Diktatur gedacht wird. Stattdessen verklärt die NPD die gefallenen Soldaten zu ihren Helden. Am jährlich von Rechtsextremisten begangenen Heldengedenken (siehe Kapitel 5.4.1 Nationalsozialisten Bad Segeberg) am 15. November beteiligten sich NPDMitglieder und Anhänger mit eigenen Aktionen in den Kreisen Nordfriesland, Pinneberg, Stormarn und in der Stadt Neumünster: "Dem Schuldkult entgegentreten! (...) Wir Nationaldemokraten treten diesem Schuldkult entgegen und gingen auch dieses Jahr am Volkstrauertag an die Gräber und Gedenkstätten unserer Großväter, um mit einem würdevollen Gedenken unseren gefallenen Helden die letzte Ehre zu erweisen. "Auch wenn man unsere Geschichte mit Schmutz besudelt und unsere Soldaten pauschal als Mörder bezeichnet, stehen wir zu unserem Volk und unserer Geschichte. Unsere Soldaten gaben ihr Leben für uns, für den Fortbestand des Volkes. Das dürfen wir nie vergessen"(...)". 29 Hauptagitationspunkt der NPD war einmal mehr das Themenfeld "Anti-Asyl" bzw. Fremdenfeindlichkeit. So gab es auch in diesem Jahr, insbesondere auf den Facebook-Seiten der NPD, zahlreiche diffamierende Kommentare zu den verschiedensten Nachrichten aus diesen Themenfeldern. Oftmals gingen die fremdenfeindlichen Kommentare dabei mit Diffamierungen der Bundeskanzlerin oder der Bundesregierung einher. Als der schleswig-holsteinische Zeitungsverlag (shz-Verlag) in seiner 28 Internetseite "NPD-SH", abgerufen am 11.05.2020. 29 Internetseite "NPD-Schleswig-Holstein", abgerufen am 16.11.2020. 55 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Onlineausgabe der Husumer Nachrichten am 3. Februar schrieb: "Husum: Spaziergang für Frauen: Angstfrei durch die Obere Neustadt", kommentierte die NPD diesen Artikel wie folgt: "Junge (...) Eventmanager am Neumünsteraner (...) Bahnhof bei der Arbeit Nach einem Anruf durch einen jungen Mann bei der zuständigen Bundespolizei, kam diese sofort mit 2 Streifen zum Bahnhof (...) Neumünster. In diesem Anruf erklärte ein junger Mann, dass er soeben durch einen 21-jährigen (...) Eritreer, der gerade bei der Ankunft der (...) Bundespolizei verschwinden wollte, gegen den Kopf geschlagen wurde. Als dieser zur Befragung durch die Beamten aufgehalten wurde, wurde dieser sofort sehr aggressiv und schlug einem Beamten mit der Faust ins Gesicht. (...) Bei der Atemalkoholkontrolle wurden dann 1,83 Promille festgestellt. Mir diesem Wert ist man vermindert schuldunfähig und somit dürfte der 18-jährige Begleiter der jungen Fachkraft aus der Partyund (...) Eventszene straffrei ausgehen. Hier kann man wieder sehen, wohin uns die Asylpolitik der Gottkanzlerin (...) Merkel gebracht hat."30 Andere diffamierende und die Fremdenfeindlichkeit der NPD belegende Kommentare lauteten beispielsweise: "Auch in Husum bedarf es Schutzzonen für Frauen! Aufgrund der Asylpolitik der Merkelregierung und der "Masseneinwanderung" kommt es immer zu Übergriffen gegen Frauen in unseren Städten." 31 "Sie werden nicht müde, das Schicksal der Deutschen Heimatvertriebenen mit den heute als "Flüchtinge" und "Migranten" fehlbezeichneten Wirtschaftsflüchtlingen in unsere Heimat Drängenden gleichzusetzen. (...) Und jene fleißigen Deutschen sollen jetzt in einen Topf geworfen werden mit Menschen aus aller Herren Länder, die nach Europa und in die BRD strömen, weil sie sich hier das Schlaraffenland erhoffen, für das man keinen Handschlag tun muss und die in beachtlicher Zahl in ihrer mehr als reichlich vorhandenen 30 Internetseite "Facebook: NPD-Schleswig-Holstein", abgerufen am 04.02.2020. 31 Ebd., abgerufen am 04.02.2020. 56 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Freizeit auf den Strassen unserer Heimat ihre Fertigkeiten mit Küchengeräten zur Schau stellen..." 32 "(...) Muttis (...) Gäste schlagen wieder zu In der Nacht von Samstag auf Sonntag haben sich wieder zwei Exemplare der fehlgeschlagenen (...) Integration von der besten Seite gezeigt. Zwischen einer Shisha-Bar und einer Diskothek in Wedel haben zwei (...) Schwarzafrikaner unvermittelt auf einen Deutschen eingeschlagen. Offenbar sind die Zwei noch Überbleibsel der deutschen (...) Black-(...) Lives-(...) Matter Bewegung. Das Opfer musste ins Krankenhaus gebracht werden. Fahndungen blieben bislang erfolglos. Die Beschreibung der (...) Täter lässt keine Zweifel an deren Herkunft." 33 Junge Nationalisten (JN) Hamburg-Nordland Bei den JN Hamburg-Nordland handelt es sich einen Zusammenschluss von ursprünglich rund 15 JN-Mitgliedern aus Schleswig-Holstein und Hamburg. Mittlerweile begrenzen sich jedoch die Anhänger aufgrund ihrer geringen Zahl mit ihren Aktivitäten eher auf ihr jeweiliges Bundesland. Im Berichtsjahr gab es erstmals seit Jahren wieder vereinzelte Aktivitäten der JN in Schleswig-Holstein. Damit hat sich eine Entwicklung fortgesetzt, wonach es bereits im letzten Berichtszeitraum Anzeichen gab, dass sich die JN im Norden neu aufstellen und bemüht sei würde, neue Mitglieder zu gewinnen. Mitte Juli berichtete die JN beispielsweise von einem "Gemeinschaftsangeln in Schleswig-Holstein"34: "Wir sehen unsere Aufgabe darin, einen aktiven Nachwuchs in diesem Bereich anzuwerben, indem wir uns darüber unterhalten und auch aktiv damit beschäftigen. In diesem Sinne haben wir uns am vergangenen Wochenende am Plöner See getroffen."35 32 Internetseite "Facebook: NPD-Herzogtum Lauenburg und Stormarn", abgerufen am 10.02.2020. 33 Internetseite "Facebook: NPD-Westküste", abgerufen am 25.08.2020. 34 Internetseite "Junge Nationalisten", abgerufen am 04.08.2020. 35 Ebd., abgerufen am 04.08.2020. 57 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Mitte August berichtete der NPD-Kreisverband Mittelholstein auf seiner FacebookSeite wiederum von einer "Verteilkation im Kreis Segeberg" 36 [Anmerkung: Gemeint ist die Verteilaktion von Flugblättern.] durch die JN. Am 3. Oktober beteiligten sich auch Aktivisten der JN in Schleswig-Holstein am bundesweiten Aktionstag der JN, der unter dem Motto stand ""LEISTEN WIR UNS DEN LUXUS, EINE EIGENE MEINUNG ZU HABEN!" Dieses Zitat von Bismarck war dieses Jahr unser Motto zum 3. Oktober. Der Tag der Deutschen Einheit ist für die JN ein jährlicher Aktionstag."" 37, mit einer "Bismarckwanderung im Sachsenwald. (...) Nach dem Bekanntwerden des diesjährigen Mottos zum Tag der Deutschen Einheit, stand für den Stützpunkt Hamburg Nordland sofort fest: Wir gehen in den Sachsenwald! (...) Am frühen Vormittag trafen sich die JN Aktivisten und befreundete Familien in Aumühle, selbstverständlich am Bismarckturm."38 Die JN bewegt sich in Schleswig-Holstein trotz der dargestellten Aktivitäten weiterhin auf sehr niedrigem Niveau und ist wie auch die Mutterpartei sehr von einzelnen Protagonisten abhängig ist. Es ist daher nicht sicher, ob es der JN in gelingen wird, ihre Strukturen weiter zu festigen oder auszubauen. 5.2 Weitere rechtsextremistische Parteien Zur rechtsextremistischen Parteienlandschaft gehören auch "Die RECHTE" und der "III. Weg". Beide unterhalten weder Landesverbände noch entfalten sie politische Aktivitäten in Schleswig-Holstein. Auf der Internetseite des "III. Weg" werden jedoch regelmäßig Beiträge veröffentlicht, die Bezüge zu Schleswig-Holstein aufweisen. So wurde im Berichtsjahr beispielsweise über die Landvolkbewegung Schleswig-Holstein, Theodor Storm oder das U-Boot-Ehrenmal in Möltenort berichtet. 36 Internetseite "Facebook: NPD-Mittelholstein", abgerufen am 20.08.2020. 37 Internetseite "Junge Nationalisten", abgerufen am 05.11.2020. 38 Ebd., abgerufen am 05.11.2020. 58 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 5.3 Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien Die Kategorie "sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien" wurde erstmalig im Berichtsjahr eingeführt. Sie beschreibt verfassungsfeindliche Personenzusammenschlüsse innerhalb von Parteien. Völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss, ehemals "Flügel" "Der Flügel", ein Personenzusammenschluss innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD), wurde Ende März vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) von einem ursprünglichen Verdachtsfall als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung eingestuft. Grundlage dafür war ein vom BfV erstelltes Gutachten zur Einstufung des "Flügel" als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung, in dem diverse Belege für verfassungsfeindliche Positionen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung enthalten waren. Völkische, fremdenund islamfeindliche Positionen konnten ebenso klar belegt werden wie antisemitische Einlassungen und Aussagen, die den Nationalsozialismus verharmlosen. Darüber hinaus wurden der Parlamentarismus verächtlich gemacht und das staatliche Gewaltmonopol immer wieder in Frage gestellt. Einen Monat später gab der "Flügel" seine Selbstauflösung bekannt. Allerdings gibt es Erkenntnisse, dass bundesweit und auch in Schleswig-Holstein, organisatorische und personelle Strukturen im Hintergrund weiter fortbestehen. Ende September wurde der ehemalige "Flügel" als "völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss" auch in Schleswig-Holstein als eigenes, landesweites Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörde eingestuft, da tatsächliche Anhaltspunkte vorlagen, dass es sich um eine verfassungsfeindliche Bestrebung handelte. Die Ende April erfolgte formale Auflösung des "Flügel" hatte keinen Einfluss auf die Einstufung als Beobachtungsobjekt, da die organisatorischen und personellen Strukturen auch in Schleswig-Holstein im Hintergrund weiterhin fortbestanden. Dem ehemaligen "Flügel" in Schleswig-Holstein wird ein Potenzial von rund 130 Personen zugerechnet. 59 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 5.4 Neonazistische, parteiunabhängige beziehungsweise parteiungebundene Strukturen Zu den parteiunabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen innerhalb rechtsextremistischer Personenzusammenschlüsse zählen unter anderem Gruppierungen, bei denen eine zweckund zielgerichtete organisierte Zusammenarbeit erkennbar ist, wie es beispielsweise bei neonazistischen Zusammenschlüssen, Gruppierungen der Neuen Rechten oder auch bei rechtsextremistischen Vereinen der Fall ist. Personen in diesen Strukturen agieren eher aktionistisch und sind ideologisch klassisch am historischen Nationalsozialismus ausgerichtet, wenngleich sie die klassisch historischen Begrifflichkeiten häufig nicht mehr offen verwenden. Sie verstehen es, ihre Weltanschauung modern aufzubereiten und sie für junge Menschen attraktiv erscheinen zu lassen. Die wesentlichen Ideologieelemente sind übersteigerter Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Antipluralismus. Es wird ein am Führerprinzip ausgerichteter Staat angestrebt, dessen Grundlage eine im rassistischen Sinne verstandene Volksgemeinschaft bildet, die Menschen anderer Herkunft oder Kultur ausgrenzt und abwertet. Ethnische Vielfalt und eine pluralistische Gesellschaft werden als Bedrohung für die Existenz des eigenen Volks angesehen. Auffassungen stehen in unüberbrückbarem Gegensatz zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 5.4.1 Personenzusammenschlüsse "Atomwaffen Division" (AWD) Die AWD ist eine neonazistisch ausgerichtete rechtsterroristische Gruppierung. Sie wurde 2015 in Texas gegründet und hat in den USA etwa 80 Anhänger. Die Protagonisten der AWD sind in kleineren, führerlosen sowie klandestinen Zellen oder auch als Einzeltäter organisiert. Ziel der AWD ist die "rassische Säuberung", bei der wahllos Gewalttaten gegen Homosexuelle, Juden, Schwarze, Linke und "Systemvertreter" propagiert werden. Ideologisch bezieht sich die AWD unter anderem auf Adolf Hitlers "Mein Kampf", sieht aber auch islamistischen Terror als Vorbild. Es wird die Nachahmung von Anschlägen wie in Christchurch/Neuseeland propagiert und dazu im Internet Anleitungen zur Selbstbewaffnung veröffentlicht. Mitgliedern der 60 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 AWD sind in den USA fünf Anschläge zuzuschreiben. Dazu schulten sich die Täter in Internetforen im Bau von Sprengvorrichtungen. Im Jahr 2018 konnten über das Internet erste Erkenntnisse zu Ablegern der AWD in Deutschland gewonnen werden. Im Jahr 2019 wurde dann in Schleswig-Holstein in Preetz (Kreis Plön) eine Flugblattverteilaktion der AWD festgestellt. Weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen der AWD gab es in Schleswig-Holstein seither nicht. "Aryan Circle" (AC) Der "Aryan Circle" entstand ursprünglich Mitte der 1980er-Jahre als US-amerikanische neonazistische und hierarchisch organisierte Gefängnisund Straßengang, die bis heute dort aktiv ist. Im Jahr 2019 gegründete sich eine neonazistische Gruppierung unter dem Namen "Aryan Circle" (AC) im Kreis Segeberg. Dem AC waren im Berichtsjahr in Schleswig-Holstein zeitweise bis zu 25 Personen zuzurechnen. Hinzu kommen vereinzelt Personen aus anderen Bundesländern, die ebenfalls dem AC angehören oder im Internet für den AC Sympathie bekundet haben. Mitglieder des AC begingen immer wieder Straftaten wie Sachbeschädigungen, Bedrohungen und auch Körperverletzungen. Versuche des AC, Anschluss an andere rechtsextremistische Kreise zu finden, schlugen fehl. Insbesondere die regionalen rechtsextremistischen Gruppierungen sehen im AC und ihrem Anführer in erster Linie Kriminelle. Am 3. März fanden polizeiliche Durchsuchungen gegen Mitglieder des AC in Schleswig-Holstein sowie Niedersachsen, Brandenburg und Hessen statt. Es bestand der Verdacht, dass die Beschuldigten sich mit weiteren Personen zusammengeschlossen hatten, um unter anderem politisch motivierte Straftaten zu begehen. Bei den Beschuldigten aus unterschiedlichen Bundesländern wurden umfangreiches Datenmaterial, Speichermedien, Smartphones und Devotionalien des "Aryan Circle" sichergestellt. Außerdem konnten in Schleswig-Holstein einzelne Stichund Schreckschusswaffen sowie geringe Mengen Betäubungsmittel aufgefunden werden. 61 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Nach den Durchsuchungen im März stellte der AC seine öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten weitgehend ein. Gleichwohl bestehen rudimentäre Strukturen und die persönlichen Kennverhältnisse der Beteiligten fort, sodass die Gruppierung weiterhin im Fokus der Sicherheitsbehörden steht. Die Staatsanwaltschaft hat im Berichtsjahr die bereits im Jahr 2019 aufgenommenen Ermittlungen gegen den AC wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung fortgeführt. "Nationalsozialisten Bad Segeberg" (NSBS) In der Region Bad Segeberg trat neben dem AC auch die neonazistische Gruppierung "Nationalsozialisten Bad Segeberg" (NSBS) mit etwa zehn Mitgliedern im Berichtsjahr in Erscheinung. Ihre rechtsextremistische Agenda bereits im Namen tragend, suchte die Gruppe mit dem Verkleben von Stickern, der Verteilung von Flugblättern sowie dem Sprühen von NSBS-Schriftzügen an Hauswänden und Bushaltestellen die öffentliche Aufmerksamkeit. Die NSBS ist überwiegend im Kreis Segeberg aktiv, weist vereinzelt aber auch überregionale Bezüge auf. Durch das öffentliche Tragen von NSBS-T-Shirts bekunden die Mitglieder ihre Gruppenzugehörigkeit. Die NSBS führten klassische Neonazi-Aktivitäten an jährlich wiederkehrenden Veranstaltungsterminen durch. Dazu gehörte am 13. Juli der bundesweite "Aktionstag Schwarze Kreuze Deutschland", der sich in der Szene etabliert hat und mittlerweile zum siebenten Mal stattfand. Es soll damit an deutsche Opfer von Gewalttaten erinnern werden, die durch Ausländer begangen worden sein sollen. Dazu werden an Ortsschildern oder markanten Plätzen schwarze Holzkreuze aufgestellt. In Schleswig-Holstein geschah dies unter anderem im Kreis Segeberg, wo auf den Kreuzen der Schriftzug der NSBS zu lesen war. Eine weitere jährlich wiederkehrende Aktion der neonazistischen Szene fand anlässlich des Volkstrauertages am 15. November statt. Rechtsextremisten deuten den Tag geschichtsrevisionistisch als Heldengedenken. In diesem Sinn organisierten unter anderem die NSBS in Bad Segeberg eine Kranzniederlegung und stellte 62 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Grablichter mit NSBS-Aufklebern zum Gedenken an die gefallenen Soldaten der Weltkriege auf. Neben diesen festen Veranstaltungsterminen gab es, offenbar auch aufgrund der allgemeinen pandemiebedingten Beschränkungen, in der Szene nur noch vereinzelte Gruppenaktivitäten. Dass mit der NSBS ein weiterer Personenzusammenschluss in direkter räumlicher Überschneidung neben dem AC besteht, zeigt die anhaltende Relevanz neonazistischer Gruppen innerhalb der rechtsextremistischen Szene. Auch wenn sich die Aktionen und begangenen Straftaten unterscheiden, gleichen sich die Gruppierungen in ihrem Ziel, die neonazistische Ideologie zu verbreiten. "Bollstein Kiel" Die rechtsextremistische Gruppierung Bollstein Kiel ist seit vielen Jahren im Raum Kiel aktiv. Der Gruppe und deren Umfeld sind rund 20 Personen zuzurechnen. Im Berichtszeitraum trat Bollstein Kiel nicht mit eigenen Aktionen öffentlichkeitswirksam auf. Gleichwohl konnten einzelne Personen der Gruppierung sowohl regional als auch überregional auf "Anti-Corona-Demonstrationen" festgestellt werden (siehe Kapitel 3). "Deutsche Patriotische Gesellschaft" (DPG) Bei der DPG handelt es sich um eine Gruppe, die "(...) nicht dazu genutzt (...)" wird, "(...) um junge Menschen dazu zu bringen in die NPD einzutreten. Vielmehr ist es so, dass die DPG bei Gelegenheit Veranstaltungen der NPD unterstützt. Wer dann der NPD beitritt, der macht es freiwillig."39 Bislang ist die Gruppe überwiegend im Internet aktiv und ist dort mit einer eigenen Facebookseite 40 vertreten. Ihr Schwerpunkt ihrer Aktivitäten dürfte auch weiterhin im Internet liegen. Einer der Protagonisten der Gruppe, der zugleich Funktionär des NPD-Kreisverbandes Westküste ist, rückte durch seine Aktivitäten bereits in das Visier des politischen Gegners: 39 Internetseite "Facebook: NPD-Westküste", abgerufen am 03.11.2020. 40 Internetseite "Facebook: Deutsche Patriotische Gemeinschaft", abgerufen am 03.11.2020. 63 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode "Gestern tauchten in (...) Elmshorn eine große Anzahl von Flugblättern auf, auf denen unser Beisitzer von der (...) Antifa denunziert wird. Dass diese vor #Lügen und falschen Tatsachenbehauptungen nicht zurückschrecken, das ist ja nichts Neues. (...) Richtig ist, dass sich eine Gruppe namens (...) DPG um Herrn (...) sammelt."41 Weitere neonazistische Personenzusammenschlüsse, wie das "Projekt Volksgemeinschaft" oder die "Nationale Hilfe Schleswig-Holstein e.V." (NHSH) traten im Berichtszeitraum nicht durch öffentlichkeitswirksame Aktivitäten in Erscheinung. 5.4.2 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) Die wesentlichen Ideologieelemente der Identitären Bewegung Deutschland (IBD) sind auf die antiliberalen und antiegalitären Gedanken der Konservativen Revolution der 1920er Jahre zurückzuführen. Die "Konservative Revolution" bezeichnet eine geistig-politische Sammelbewegung in der Weimarer Republik, die sich für einen autoritären Staat einsetzten. Wesentliche Gemeinsamkeiten waren die Kritik am Liberalismus, Parlamentarismus und am Weimarer Parteienstaat. Eine harmonische Volksgemeinschaft sollte an die Stelle des demokratischen Parteienstaats und der modernen Gesellschaft mit ihren sozialen Ausprägungen und Konflikten treten. Der Kerngedanke identitärer Überzeugung ist das Konzept des Ethnopluralismus. Diese Theorie unterscheidet sich von rassistischen Ideologiemustern dadurch, dass andere (ethnische) Gruppen vordergründig nicht als minderwertig betrachtet werden. Stattdessen wird ein "Recht auf Verschiedenheit" propagiert, wonach die größtmögliche Entfaltung der kulturellen Eigenarten durch strikte Abgrenzung voneinander und das Aufrechterhalten eines gewissen Spannungsfeldes zwischen Volksgruppen erreicht wird. Im Endeffekt wird dadurch aber das Ziel verfolgt, Angehörigen unterschiedlicher Ethnien eigene, voneinander getrennte Lebensräume aufzuzwingen. Elementare Grundrechtsprinzipien wie der Gleichbehandlungsgrundsatz und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit werden demzufolge abgelehnt. Die IBD fokussiert sich insbesondere auf islamfeindliche Positionen, da die größte Bedrohung durch den Zuzug muslimischer Einwanderer nach Europa bestehe. Kennzeichnend ist hier das Schlagwort "Großer Austausch": 41 Internetseite "Facebook: NPD-Westküste", abgerufen am 03.11.2020. 64 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 "Der Große Austausch bezeichnet einen schrittweisen Prozess, durch den die heimisch angestammte Bevölkerung durch außereuropäische Einwanderer verdrängt und ausgetauscht wird. Wir befinden uns in ganz Europa in einer demographischen Krise, wonach unsere Völker durch sinkende Geburtenraten bei gleichzeitigem Wachstum islamischer Parallelgesellschaften und Masseneinwanderung zur Minderheit in den eigenen Ländern wird und in wenigen Jahrzehnten völlig verschwunden sein könnte, sofern keine politischen Gegenmaßnahmen eingeleitet werden." 42 Im Sinne des ethnopluralistischen Ansatzes gilt es für die IBD daher, weitere Zuwanderung nach Europa vor allem aus islamischen Ländern zu unterbinden. Nur zu gelegen kommen der IBD daher islamistisch motivierte Terroranschläge und Vorfälle, da diese für die IBD die Gefahren des vermeintlich Großen Austausches aus ihrer Sicht fortwährend unterstreichen. Ende November wurde von der IBD als Reaktion auf die Vorfälle in mehreren europäischen Ländern in den Vormonaten ein "Meldeportal" für vermeintliche islamistische Gefährder ins Leben gerufen. Dort wird die Möglichkeit in stigmatisierender die Möglichkeit eröffnet, dass "interessierte Bürger Hinweise auf ihnen bekannte Gefährder einreichen und sich über das Ausmaß der islamistischen Bedrohung informieren." 43 Dies wird mit der Forderung nach Abschottung verknüpft, wenn es weiter heißt: "Um die Einreise weiterer islamistischer Gefährder zu verhindern, müssen zudem umgehend die Grenzen geschlossen werden!"44 Die IBD betreibt eine so genannte "Metapolitik". Darunter versteht man einen langfristigen strategischen Ansatz, der auf eine Einflussnahme im "vorpolitischen Raum", auf die öffentliche Meinungsbildung und Diskussionskultur abzielt und jederzeit die Möglichkeit vorsieht, Formulierungen und Zielsetzungen eigenen Bewertungen und verfolgten Zielen anzupassen. Bundesweit bestehen regionale Gruppierungen der IBD, die sich allerdings deutlich in Größe und Aktionsfähigkeit unterscheiden. Die seit Jahren abnehmende Kam42 Internetseite "Identitaere-bewegung", abgerufen am 02.12.2020. 43 ebd. 44 ebd. 65 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode pagnenfähigkeit der IBD hat sich im Berichtsjahr weiter fortgesetzt - für eine Bewegung, die für ihre ideologischen Ziele häufig mit spektakulären öffentlichen Aktionen geworben hat (zum Beispiel Flashmobs), ist dies eine schwierige Entwicklung. So war das "Sommerlager", welches die IBD im August in Brandenburg gemeinsam mit Teilnehmern aus der Schweiz und Österreich durchführte, mit weniger als 50 Personen eine der wenigen herausragenden Veranstaltungen im Berichtsjahr. Neben dem "Gemeinschaftserlebnis" beim gemeinsamen Kampfsporttraining kam jedoch auch die politische Komponente nicht zu kurz: Unter den Besuchern des Sommerlagers fanden sich auch prominente Vordenker der Neuen Rechten, zum Beispiel aus dem Umfeld des Instituts für Staatspolitik (IfS) und der vom IfS herausgegebenen Zeitschrift "Sezession". Das IfS wurde im Berichtsjahr vom Bundesamt für Verfassungsschutz zu einer verfassungsfeindlichen Bestrebung erklärt. Das im Jahr 2000 gegründete IfS ist als "Think Tank" der Neuen Rechten eine der wichtigsten Institutionen für die Verknüpfung zahlreicher Strömungen und Organisationen aus dem Bereich der Neuen Rechten. Die vom IfS herausgegebene Zeitschrift "Sezession" ist als elitär-publizistisches Theorieorgan zu bezeichnen. Vordenker und Gallionsfigur der Identitären Bewegung ist der Österreicher Martin Sellner, zu dem die IBD regelmäßig Kontakte unterhält. Von Organisationen des neonazistisch geprägten Rechtsextremismus hingegen grenzt sich die IBD sehr deutlich ab. Eine Zusammenarbeit, auch nur zeitweise, ist mit ihrem Selbstverständnis als elitär-intellektuelle Strömung nicht zu vereinbaren. Vorrangige Zielgruppe der IBD sind seit jeher Jugendliche und junge Erwachsene. Frauen sind in der IBD im Vergleich zu ihren männlichen Mitstreitern deutlich in der Unterzahl, werden aber gerade deshalb häufig in den Vordergrund identitärer Berichterstattung gestellt. Dies geschieht aus der taktischen Erwägung heraus, sich als unverfängliche, offene und breite Gesellschaftsschichten ansprechende Gruppierung darzustellen. 45 Der IBD gelingt bundesweit es inzwischen kaum noch, neue Mitglieder zu rekrutieren oder gar Ortsgruppen neu zu gründen. Gleichzeitig setzt sich der Trend fort, wonach die IBD ihre Funktion als Stichwortund Impulsgeber im Bereich der Neuen Rechten verliert. Vielmehr ist häufiger festzustellen, dass ein Vorlauf bei der IBD als Referenz oder "Türöffner" in anderen rechtsextremistischen Organisationen dient. Dass frühere IBD-Protagonisten inzwischen beispielsweise bei der "Jungen Alternative" in Erscheinung treten, passt insofern ins Bild. 45 ebd. 66 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 In Schleswig-Holstein sind Aktivitäten der Identitären Bewegung inzwischen kaum noch wahrzunehmen. Das Personenpotenzial der Identitären Bewegung Schleswig-Holstein (IBSH) liegt mittlerweile auf einem niedrigen zweistelligen Bereich. Auch fehlt es weiterhin an Strukturen und Führungsfiguren. Zudem sind frühere Angehörige der IBSH inzwischen in anderen Bundesländern aktiv. Logo der Identitäten Bewegung Schleswig-Holstein Über den Telegram-Kanal der IBSH wurde lediglich über die einmalige Verteilung weniger Plakate im Kieler Stadtgebiet berichtet. Ferner kam es in anderen Landesteilen sporadisch zu Stickeraktionen mit IB-Bezug, die jedoch nicht auf dort ansässige Ortsgruppen schließen lassen, sondern auf einzelne Aktivisten. Selbst im virtuellen Raum hat die IBSH kaum noch Bedeutung. Weiterhin gibt es keine etablierten, dauerhaften Zusammentreffen oder Verbindungen zu Ortsoder Regionalgruppen aus anderen Bundesländern. Die IBSH ist insofern als ein unbedeutender, eher formell bestehender Zusammenschluss innerhalb der IBD zu bewerten. Derzeit gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich dieser Zustand verändern könnte, was jedoch nicht bedeutet, dass mit kleineren Aktivitäten der IBSH, wie beispielsweise dem Verkleben von Stickern, nicht auch weiterhin zu rechnen ist. 5.4.3 Rechtsextremistische Verlage Rechtsextremistische Verlage versorgen die Szene über Printund Onlinemedien mit ideologischen Grundlagen und haben längst die Wirkmechanismen der Metapolitik46 für sich erkannt. Die Autoren stellen in ihren Beiträgen demokratische und gesamtgesellschaftspolitische Normen und Werte nicht nur in Frage, sondern definieren sie im Sinne eines rechtsextremistischen Weltbilds um. Sie tragen mit ihren Aktivitäten dazu bei, den politischen Diskurs nach rechts zu verschieben und wollen so sukzessive ein politisches Umdenken erreichen und dadurch eine rechtsextremistische Gegenkultur in der Gesellschaft etablieren. 46 Erläuterung siehe Kapitel 5.4.2. 67 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Die Autoren sehen sich als Medium der Aufklärung und Aufdeckung und verleihen neben Rechtsextremisten jenen Gehör, die ihrer rechtsextremistischen Weltanschauung nahestehen, wie insbesondere Gruppierungen aus dem populistischen Grenzbereich zum Rechtsextremismus. Während rechtsextremistische Publikationen regelmäßig aktuelle Themen ideologisch besetzen und gleichzeitig die dem Demokratieund Rechtsstaatsprinzip sich verpflichtet fühlenden Medien häufig als "Lügenpresse" bezeichnen, die bewusst Tatsachen verschweigen oder falsch darstellen würden, erscheint jedes Jahr auch eine Vielzahl an Büchern mit geschichtsrevisionistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Inhalten. Auf beiden Wegen, über Bücher und regelmäßig erscheinende Publikationen, säen rechtsextremistische Verlage Zweifel und Vorbehalte ihrer Leserschaft gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und zielen auf deren Beseitigung ab. Die in Schleswig-Holstein ansässigen und über die Landesgrenzen hinauswirkenden rechtsextremistischen Verlage erreichen dabei nach wie vor bundesweite Bedeutung. 6 Subkulturell geprägtes, weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial Das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial besteht hauptsächlich aus subkulturell geprägten Rechtsextremisten. Außerdem gehören organisationsungebundene Rechtsextremisten, rechtsextremistische Internetaktivisten, sonstige Einzelpersonen und Gewalttäter dazu. Angehörige dieser Szene verfügen über kein gefestigtes rechtsextremistisches Weltbild, sondern werden von einzelnen Ideologiefragmenten wie Rassismus, Antisemitismus oder Fremdenfeindlichkeit geleitet. Außerhalb ihrer Internetaktivitäten nehmen sie an Veranstaltungen mit Erlebnischarakter wie rechtsextremistischen Demonstrationen, Musikoder Kampfsportveranstaltungen teil. An zielgerichteter politischer Arbeit oder Einbindung in organisierte Strukturen hat das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial nur in wenigen Ausnahmefällen Interesse. 68 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Zu den Ausnahmen gehörten seit dem Verbot der deutschen Blood & Honour-Organisation im Jahr 2000 noch die seit 2015 aktive Gruppierung Combat 18 Deutschland, die im Berichtsjahr aber ebenfalls verboten wurde. Das Verbot erfolgte am 23. Januar durch den Bundesinnenminister. Zweck und Tätigkeiten der Gruppierung verstießen gegen Strafgesetze und richteten sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung. Das Verbot ist nach Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Oktober bestandskräftig. Dagegen weiterhin bundesweit aktiv sind Hammerskins, die sich in regionalen Gruppen, sogenannten Chaptern, zusammenschließen. Bei den "Hammerskins" handelt es sich um ein internationales Skinhead-Netzwerk, das in mehreren Ländern über Ableger verfügt. Ihre Ideologie ist von Rassismus und Neonationalsozialismus geprägt. Ziele sind die Erhaltung der "Reinheit der weißen Rasse" sowie die Vereinigung aller rechtsextremistischen weißen Skinheads in einer weltweiten "Hammerskin Nation". Hammerskins haben ein elitäres Selbstverständnis und pflegen Kontakte ins europäische Ausland sowie in die USA. In Schleswig-Holstein wurden weder Aktivitäten der Hammerskins noch ein eigenes Chapter festgestellt. Rechtsextremistische Musikszene Der Konsum rechtextremistischer Musik sowie der Besuch rechtsextremistischer Musikveranstaltungen haben einen wichtigen Stellenwert für das Selbstverständnis der rechtsextremistischen Szene insgesamt. Das gemeinsame Interesse an Musik führt junge Menschen an die Szene heran und fördert die Gruppendynamik. Aufgrund versammlungsrechtlicher Beschränkungen im Rahmen der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie konnten im Bundesgebiet nur vereinzelt Musikveranstaltungen mit dreistelligen Besucherzahlen festgestellt werden. Die Verfassungsschutzbehörden unterscheiden dabei grundsätzlich zwischen drei Veranstaltungsformen: Konzerte, Liederabende und sonstige Musikveranstaltungen. Bei Letzteren handelt es sich um Veranstaltungen mit Live-Musik, bei denen die Musikdarbietung nicht im Vordergrund steht. 69 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Die größte Musikveranstaltung in Schleswig-Holstein war im Berichtsjahr ein Konzert, das am 15. Februar in der Neumünsteraner Gaststätte "Titanic" stattfand und von 90 Teilnehmern, überwiegend aus dem norddeutschen Raum, besucht wurde. Es traten die nordrhein-westfälische Band "Oidoxie" sowie die schleswig-holsteinische Liedermacherin "Wut aus Liebe" auf. Das Konzert in Neumünster war im Berichtsjahr das einzige in Schleswig-Holstein. Daneben fanden an unterschiedlichen Orten vier sonstige Musikveranstaltungen statt, die konspirativ durchgeführt wurden und keine öffentliche Außenwirkung erzielten. Rechtsextremistische Liederabende fanden im Berichtsjahr in SchleswigHolstein nicht statt. Zum Vergleich: 2019 gab es in Schleswig-Holstein noch acht Musikdarbietungen (ein Konzert, drei Liederabende, vier sonstige Musikveranstaltungen). Hauptgründe für die geringe Anzahl rechtsextremistischer Musikveranstaltungen sind einerseits der Mangel an geeigneten Veranstaltungsorten sowie pandemiebedingte Einschränkungen und andererseits die anhaltende Schwäche der Szene, genügend Personen zu mobilisieren. Die einzige aktive Band aus Schleswig-Holstein, "Blutlinie", trat im Berichtsjahr nicht auf, brachte jedoch zusammen mit der Liedermacherin "Wut aus Liebe" eine SplitCD heraus. 7 Rechtsextremistische Bestrebungen im Internet Über den Cyberraum erreichen Extremisten einen maximalen Verbreitungsund Organisationsgrad. Hierüber läuft ein großer Teil der Kommunikation, Verbreitung ihrer Ideologie, Ankündigungen und Aufbereitung von szeneinternen Veranstaltungen, rechtsextremistischen Kampagnen und Demonstrationen, Propagandaund Musikvideos. Zudem besteht mit rechtsextremistischer Musik, Literatur, Werbeartikeln und Devotionalien ein reger Onlinehandel. Rechtsextremistische Bestrebungen im Internet entwickeln sich äußerst dynamisch. Das ist im Berichtsjahr besonders im Zusammenhang mit den Beschränkungsmaßnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie aufgefallen. Auch Rechtsextremisten 70 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 haben darauf sehr schnell reagiert und ihre Aktivitäten verstärkt ins Internet verlagert. Über soziale Medien wie Messenger-Dienste, Videoportale, Imageboards 47, Spieleplattformen, aber auch über Webseiten von Rechtsextremisten verbreiteten Rechtsextremisten massiv Falschinformationen bis hin zu verfassungsschutzrelevanten Verschwörungstheorien. Solche Desinformationen zielten unter anderem darauf ab, Regierungsentscheidungen zu diskreditieren und insbesondre das bürgerlich-demokratische Spektrum im Sinne rechtsextremistischer Ideologie zu beeinflussen und gegen den Staat und seine demokratisch legitimierten Entscheidungen in Stellung zu bringen. So war bundesweit auf "Anti-Corona-Demonstrationen" zu beobachten, dass Extremisten die Ausrichtung übernahmen oder sich die Veranstaltungen zu eigen machten. In diesem Zusammenhang wurde der Messenger-Dienst Telegram verstärkt genutzt. Er ermöglicht unter anderem die unmittelbare Weitergabe von Terminankündigungen zu Demonstrationen sowie die schnelle Verbreitung von vermeintlichen Hintergrundinformationen an große und teils anonyme Gruppen. Dadurch entstand ein enormes und nur schwer zu kalkulierendes Mobilisierungspotenzial. Da rechtsextremistische Inhalte auf den gängigen Internetplattformen, wie Facebook, Twitter oder Youtube häufig durch die Betreiber gelöscht oder von deren Nutzer an staatliche Stellen gemeldet wurden, zogen sich Extremisten verstärkt auf Portale, wie vk, Gab oder BitChute zurück. Dort wird Hetze, Rassismus und Antisemitismus oft nicht konsequent sanktioniert. So wurden auf den alternativen Videoportalen auch rechtsextremistische Ideologien mit vermeintlich komödiantischen Inhalten vermischt. Dazu wurden Filmausschnitte aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen, um sie für eigene Zwecke nutzen zu können. Dadurch sollten insbesondere Kinder und Jugendliche angesprochen werden. 47 Erläuterung siehe Kapitel 3. 71 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Offen und teilweise sogar hemmungslos hetzten Extremisten auf Spieleplattformen und Imageboards. Nicht nur Hassbotschaften und Aufrufe zu rassistisch motivierter Gewalt wurden gepostet, sondern auch Anleitungen zum "Führerlosen Widerstand" oder Anleitungen zur Herstellung von Waffen und Sprengmitteln. Diese Kanäle können einen relativ großen Kreis von Menschen erreichen. Dadurch entsteht die Gefahr, dass sich einzelne Personen radikalisieren und sich zu Straftaten anstiften lassen. Auf zahlreichen Webseiten bewegen sich mitunter Rechtsextremisten, die selbst noch nicht mit realweltlichen Aktionen in Erscheinung traten. Sie motivieren durch ihre Anleitungen und Hetze jedoch andere Nutzer, entsprechende Taten zu begehen. So sind die Plattformen häufig die Orte, an denen Radikalisierungsprozesse entstehen und gefördert werden. Das bringt Tätertypen hervor, die ihre Tat alleine begehen, aber davon überzeugt sind, Teil einer großen virtuellen Gruppe Gleichgesinnter zu sein. Sie übertragen wie beispielsweise die Attentäter von Halle und Christchurch / Neuseeland ihre Taten per Livestream und hoffen auf Aufmerksamkeit und Anerkennung der User und ihrer digitalen Bewegung. Die große Gefahr liegt nach wie vor darin, dass sich auf den alternativen Plattformen Rechtsextremisten weitestgehend unbemerkt vernetzen, organisieren, radikalisieren und dann auch zur Tat schreiten können. 72 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 IV Reichsbürger und Selbstverwalter 1 Überblick Reichsbürger und Selbstverwalter erkennen aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen die Bundesrepublik Deutschland und damit auch die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht an. Das Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter lag im Berichtsjahr in Schleswig-Holstein bei rund 380 Personen und ist somit im Vergleich zum Vorjahr um etwa 14 Prozent leicht gestiegen. Der Grund dafür liegt unter anderem in der weiter hohen Sensibilität der kommunalen und staatlichen Verwaltungen im Umgang mit der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene. Wenn auch nicht mehr so stark wie noch vor einigen Jahren, so erreichen die Verfassungsschutzbehörde auch weiterhin entsprechende Hinweise, die dazu führen, dass das Dunkelfeld in diesem Bereich weiter aufgehellt werden konnte. Darüber hinaus konnten durch eigene Aufklärungsarbeit zusätzliche Erkenntnisse gewonnen werden. Unter den festgestellten Reichsbürgern und Selbstverwaltern befinden sich neun Personen, die auch aus rechtsextremistischen Bestrebungen bekannt sind. Von den rund 380 Reichsbürgern und Selbstverwaltern haben 17 waffenrechtliche Erlaubnisse. Darauf sind insgesamt 58 Waffen eingetragen. Die Zahlen belegen eine ausgeprägte Affinität von Reichsbürgern und Selbstverwaltern zu Waffen. Hinweise darauf, dass sich die Szene in Schleswig-Holstein organisiert und gezielt Waffen beschafft oder durch Dritte beschaffen lässt, lagen im Berichtszeitraum nicht vor. Seit Beginn der Beobachtung der Reichsbürger und Selbstverwalter durch den schleswig-holsteinischen Verfassungsschutz wurden in zwölf Fällen die waffenrechtlichen Erlaubnisse widerrufen, unter anderem auch mit dem Hinweis auf die Zugehörigkeit der Personen zur Reichsbürgerund Selbstverwalterszene. Dazu kommen zwei Personen, die ihre waffenrechtlichen Erlaubnisse freiwillig abgegeben haben. In den übrigen Fällen prüfen die Waffenbehörden, ob nach den Vorschriften des Waffengesetzes (Bundesrecht) die waffenrechtlichen Erlaubnisse widerrufen werden können. Die Verfassungsschutzbehörde unterstützt dabei die Waffenbehörden, indem sie im Rahmen ihres Auftrags und ihrer gesetzlichen Möglichkeiten entsprechende Erkenntnisse an die Waffenbehörden übermittelt. 73 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Szene nach wie vor unorganisiert Bundesweit ist eine Vielzahl von Gruppierungen und Organisationen aktiv, die nebeneinander existieren und zum Teil miteinander konkurrieren. Die Szene ist allerdings kaum in der Lage, feste Gruppierungen aufzubauen. Es kommt immer wieder zu Zerwürfnissen. Rund 57 % der Reichsbürger und Selbstverwalter in SchleswigHolstein sind weder organisiert noch vernetzt. Reichsbürger und Selbstverwalter treten im Alltag, insbesondere gegenüber Behörden, häufig verbal-aggressiv und widerspenstig auf. Hinweise auf gewalttätige Übergriffe auf Behördenmitarbeiter liegen für das Berichtsjahr aus Schleswig-Holstein aber nicht vor. 2 Wesensmerkmale der Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürger und Selbstverwalter stellen eine eigene Form des politischen Extremismus dar. Sie weisen nur in Teilen Bezüge zum Rechtsextremismus auf. Reichsbürger und Selbstverwalter erkennen aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen die Bundesrepublik Deutschland und damit auch die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht an. Reichsbürger stützen dabei ihre Argumentation auf das "Deutsche Reich", das nach ihrer Auffassung fortbesteht. Selbstverwalter hingegen stellen nicht unbedingt auf das "Deutsche Reich" ab, verwenden aber ähnliche Argumentationsmuster. Teilweise beanspruchen sie eigene "Hoheitsgebiete", die sie "selbst verwalten". Ablehnung des Demokratieund Rechtsstaatsprinzips Die Verfassungsfeindlichkeit der Reichsbürger und Selbstverwalter ergibt sich in erster Linie aus der Tatsache, dass sie den Staat und seine Rechtsordnung als nicht existent oder für nicht bindend erklären. Daraus leiten Reichsbürger und Selbstverwalter ein allumfassendes Widerstandsrecht gegen staatliche Maßnahmen ab. Konkret äußert sich diese Haltung beispielsweise in der Weigerung, rechtliche Pflichten gegenüber dem Staat zu erfüllen, wie das Zahlen von Steuern, Gebühren und Abgaben. So versenden Reichsbürger zahlreiche, teilweise verbal-aggressiv formulierte Schreiben mit pseudojuristischen Argumenten an Behörden, in denen sie die Existenz der Bundesrepublik bestreiten und stattdessen von einer "BRD-GmbH" o- 74 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 der in Bezug auf staatliche Stellen wie Behörden und Kommunen von privatwirtschaftlichen Firmen oder Unternehmen sprechen. Sie meinen, diese Behauptung untermauern zu können, indem sie auf entsprechende Auszüge aus öffentlichen Firmenregistern hinweisen, in denen auch die Behörden eingetragen sind. Reagieren Behörden darauf nicht, wird dies als Zustimmung gewertet. Teilweise versuchen Reichsbürger und Selbstverwalter, durch Schadensersatzforderungen, Bußgelder oder sogar angedrohte Zwangsmaßnahmen gegen Behörden und deren Beschäftigte Druck auszuüben und sie einzuschüchtern. Dabei berufen sie sich auf ihre eigene Rechtsprechung und eigene Richter. Die fortlaufende Weigerung, berechtigten Forderungen staatlicher Stellen nachzukommen, führt im Ergebnis zu behördlichen Vollstreckungsmaßnahmen. Diese wiederum wertet die Szene als unberechtigte Angriffe und nimmt daraus ein Widerstandsund Notwehrrecht etwa gegenüber Gerichtsvollziehern und Polizeibeamten für sich in Anspruch. In Verbindung mit der auffällig hohen Affinität zu Waffen geht daher von Reichsbürgern und Selbstverwaltern ein latent hohes Gefahrenpotenzial aus. Virtuelles Netzwerk Reichsbürger und Selbstverwalter nutzen für Propagandazwecke, Mitgliederwerbung und Vernetzung überwiegend das Internet. Die Inhalte zeigen, dass auch kommerzielle Interessen eine große Rolle spielen. So wird für verschiedene rechtliche Fragestellungen kostenpflichtiges Informationsmaterial angeboten, beispielsweise für die Frage, wie man die Zahlung des Rundfunkbeitrags verweigern oder einen Staatsangehörigkeitsausweis bekommen kann. Der Staatsangehörigkeitsausweis galt unter Anhängern der Reichsbürgerbewegung lange als das einzige gültige Ausweisdokument und geht auf das Reichsund Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahr 1913 zurück, das allerdings bereits im Jahr 2000 zum Staatsangehörigkeitsgesetz novelliert wurde. Der Staatsangehörigkeitsausweis wird wegen der Farbgebung des Dokuments in der Reichsbürgerszene auch als "gelber Schein" bezeichnet. Da die Behörden inzwischen nur noch in begründeten Fällen einen Staatsangehörigkeitsausweis ausstellen, hat er in der Reichsbürgerszene praktisch keine Bedeutung mehr. 75 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Bürger sind nur "Personal" Da für Reichsbürger und Selbstverwalter die Bundesrepublik Deutschland kein Staat ist, sind dessen Bürger nach ihrer Auffassung nur "Personal" einer unter Besatzung der Alliierten stehenden GmbH. Der Personalausweis dokumentiere mithin nur die "Betriebszugehörigkeit" zu dieser privatrechtlichen Gesellschaft. Auf die daraus folgende gängige Praxis von Reichsbürgern, ihren Personalausweis bei Behörden abzugeben, reagierte das Innenministerium Schleswig-Holstein mit der Einführung einer sogenannten Aufbewahrungsgebühr. So sind bis zu vier Euro pro Tag für die Verwahrung des Ausweises zu entrichten. Mit Einführung der Gebühr gingen die Aufforderungen zur Verwahrung von Ausweispapieren drastisch zurück. 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Phänomenbereich Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürger und Selbstverwalter haben sich an den bundesweiten Demonstrationen gegen die von der Regierung beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie beteiligt. Die angeordneten Maßnahmen zum Schutz vor Ansteckungen mit dem Corona-Virus fasst die Szene als illegitime dauerhafte Abschaffung von Grundrechten auf und befürchtet den Beginn einer Diktatur. In Schleswig-Holstein positionierten sich einzelne Reichsbürger und Selbstverwalter gegenüber Behörden gegen Anti-Corona-Maßnahmen. 4 Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter Die Kategorien "in Personenzusammenschluss eingebunden" und "unstrukturiertes Reichsbürger und Selbstverwalter Personenpotenzial" wurden erstmalig in diesem Berichtsjahr ausgewiesen, so dass es hierzu keine Angaben für 2019 gibt. 76 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Jahr 2019 2020 Reichsbürger und Selbstverwalter 333 380 davon in: Personenzusammenschluss eingebunden - 165 unstrukturiertes Reichsbürger und Selbstverwalter Personen- - 215 potenzial darunter: rechtsextremistische Reichsbürger und Selbstver10 9 walter 5 Organisationen und Gruppierungen der Reichsbürger und Selbstverwalter Die Szene ist ideologisch unterschiedlich ausgerichtet und lässt sich in drei Strömungen aufteilen: Reichsbürger, Selbstverwalter und unorganisierten Personen. Reichsbürger Reichsbürger sehen sich selbst als "Bürger des Deutschen Reichs" und beziehen sich auf den Fortbestand des historischen Deutschen Reiches, wobei das Datum, auf das sie sich fokussieren, variiert. Häufig werden 1919, 1937 oder auch eine andere Jahreszahl genannt. Diese Reichsbürger sehen sich als Staatsangehörige des Deutschen Reiches. Die Staatangehörigkeit Preußen, Königreich Preußen oder Deutsches Reich schließt nach ihrem Selbstverständnis eine Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland aus. Gruppierungen dieser Strömung haben eigene Reichsregierungen, Reichsministerien, Reichsminister und Reichsbehörden gebildet. Einige geben Dokumente wie Reichspässe und Reichsführerscheine heraus, die die Mitglieder kaufen können. Gegen Geld bieten sie Seminare an, in denen sie verschiedene Rechtsfragen aus Sicht der jeweiligen Reichsregierung darstellen. Mit ihren Bezügen auf das historische Deutsche Reich weist die Ideologie der sogenannten (Staats-)Bürger des Deutschen Reichs Überschneidungen zu revisionistischen Ideologieelementen des Rechtsextremismus auf. Dies spiegelt sich auch in personellen Überschneidungen zwischen der Reichsbürgerbewegung und dem Rechtsextremismus wider. 77 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Selbstverwalter Auch bei Selbstverwaltern ist die ideologische Ausrichtung nicht einheitlich. Sie berufen sich unter anderem auf ein selbst definiertes Naturrecht als Grundlage ihres Zusammenlebens oder beziehen ihre Rechtsauffassung auf Gesetzestexte vergangener Jahrhunderte sowie aus dem Zusammenhang gerissene Auszüge aus der Bibel. Einige propagieren die Vorstellung einer besseren, harmonischeren und menschlicheren Welt, in der sich jeder frei von Bindungen entfalten kann. Andere erklären ihr Grundstück für exterritorial, also nicht zu Deutschland gehörend und somit nicht den Landesgesetzen unterworfen. Wenn aus diesem irrationalen Ideologiekonstrukt eine Legitimation zur Selbstverteidigung abgeleitet wird, kann daraus eine reale Gefahr für die Sicherheit erwachsen. Andere wiederum, wie die Geeinten Deutschen Völker und Stämme (GdVuSt), haben vor ihrem bundesweiten Verbot vom 19. März ganze Gemeinden und Städte für sich beansprucht und "aktiviert". Allen gemeinsam ist, dass sie die Bundesrepublik Deutschland und ihre Rechtsordnung ablehnen beziehungsweise deren Existenz bestreiten. 5.1 "Staatenbund Deutsches Reich" Der "Staatenbund Deutsches Reich" tritt als Dachorganisation auf und agiert bundesweit. Zum "Staatenbund Deutsches Reich" gehören folgende Teilgruppierungen: - Volksstaat Bayern - Republik Baden - Volksstaat Württemberg - Freistaat Preußen. Der im Vorjahr noch dazugehörige sogenannte Bundesstaat Sachsen wird vom Staatenbund nicht mehr aufgelistet.48 Der "Staatenbund Deutsches Reich" geht vom Fortbestand des Deutschen Reichs aus und hat am 3. Oktober 2015 dessen Handlungsfähigkeit proklamiert. Die selbstdefinierte Rechtsgrundlage wird dabei vom Staatenbund regelmäßig angepasst. 48 Internetseite "Staatenbund Deutsches Reich", abgerufen am 09.10.2020. 78 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Die Mitglieder des Freistaats Preußen nehmen für sich eine vermeintliche Staatsangehörigkeit des Freistaats Preußen in Anspruch und sehen sich nicht mehr als Staatsangehörige der Bundesrepublik Deutschland. Aus ihrer "preußischen Staatsangehörigkeit" ziehen sie den falschen Schluss, nicht mehr der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu unterliegen. Mit dieser Begründung weigern sie sich, staatliche Verpflichtungen zu erfüllen, wie zum Beispiel das Zahlen von Steuern und Abgaben. Die Akteure führen diesbezüglich regen Schriftverkehr mit Behörden. Der "Staatenbund Deutsches Reich" gibt "Amtsblätter des Deutschen Reichs" heraus, in denen er seine abwegige Rechtsauffassung darlegt. Diese werden regelmäßig auch an Behörden in Schleswig-Holstein verschickt. 5.2 "Amt für Menschenrecht" Das "Amt für Menschenrecht" ist ein Personenzusammenschluss, der sich um seinen Gründer, eine Person aus Stade in Niedersachsen, gebildet hat. Es handelt sich um ein weit verästeltes Organisationsgeflecht. Andere Bezeichnungen für das "Amt für Menschenrecht" lauten "Internationales Zentrum für Menschenrechte", "Akademie Menschenrecht" oder "Gerichtshof der Menschen". Das "Amt für Menschenrecht" vertritt die Meinung, die Bundesrepublik Deutschland sei illegitim. Es bezieht sich dabei auf nicht nachvollziehbare Thesen zu Naturund Menschenrechten. Das "Amt für Menschenrecht" findet trotz seiner abstrusen Thesen Anhänger. Öffentlichkeitswirksam werden beispielsweise über YouTube behördliche Maßnahmen als Menschenrechtsverletzungen deklariert und "Betroffenen" Hilfen angeboten. Das "Amt für Menschenrecht" bot in der Vergangenheit bereits kostenpflichtige Seminare an, durch die es seine Ideologie verbreitete, Mitgliederwerbung betrieb und nicht zuletzt Einnahmen generierte. Anhänger aus Schleswig-Holstein richteten Schreiben an Behörden, in denen sie sich beispielsweise zum "Gerichtshof der Menschen" bekennen oder auf Internetseiten von Organisationen verweisen, die dem "Amt für Menschenrechte" zuzuordnen sind. 79 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 5.3 Verfassungsgebende Versammlung für das Völkerrechtssubjekt Bund Deutscher Völker (VV) Die VV aktualisiert und verändert ihre Internetseite laufend. Dies spiegelt die Entwicklung eines neuen "Völkerrechtssubjektes" Deutschland aus Sicht der VV wieder. Laut eigener Angaben hatte sich die VV am 01. November 2014 ausgerufen und am 11. Oktober 2015 in den rechtswirksamen "Stand" eingesetzt. Sie hatte zunächst erklärt, eine neue Verfassung für Deutschland ausarbeiten zu wollen. In ihrer sogenannten Grundsatzverfassung vom 4. April 2016 ist die Gründung des Staatswesens und Völkerrechtssubjekts mit der Bezeichnung Deutschland im Rechtestand eines originären Völkerrechtssubjekts vorgesehen. Souveräne Rechteträger seien die deutschstämmigen Männer und Frauen im gesamten deutschen Sprachraum, mit allen aus ihnen selbst hervorgehenden, jedem juristischen Staats und Völkerrecht übergeordneten Rechten mit höherem Rang. 49 Nicht deutschstämmige Männer und Frauen werden in der sogenannten Verfassung nicht erwähnt, was daraufhin weisen könnte, dass diesen auch keine Rechte zugestanden werden. Die VV beansprucht unter anderem die deutschen Gebiete in den Grenzen vom 31. Juli 1914. Sie stellt sich damit über die Rechtsordnung und Staatshoheit der Bundesrepublik Deutschland. Die VV ist bundesweit aktiv und verbreitet ihre Ideologien hauptsächlich über das Internet. Bis auf eine Flugblattverteilaktion in einer Gemeinde im Kreis SchleswigFlensburg im Mai war die VV im Berichtsjahr in Schleswig-Holstein nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes nicht öffentlichkeitswirksam wahrnehmbar. 5.4 Geeinte Deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) Die GdVuSt wurden am 19.März durch den Bundesinnenminister verboten und aufgelöste. Zeitgleich erfolgten Durchsuchungsmaßnahmen bei Funktionären der Gruppierung, darunter befanden sich auch mehrere Objekte in Schleswig-Holstein. Dabei wurden zahlreiche Asservate sichergestellt, welche die Aktivitäten und Organisation der GdVuSt belegen. 49 Internetseite "VV", abgerufen am 05.11.2020. 80 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Die GdVuSt entwickelten ein eigenes Rechtssystem. Die Rechtsordnung und den Staat in seiner heutigen Form lehnten sie ab. Am 18. Januar 2017 richteten die GdVuSt in Berlin das "Höchste Gericht geeinter Völker und Stämme" ein, um damit dem angeblichen schöpferischen und christlichen Auftrag gegenüber ihren Ahnen und Kindern zu entsprechen. Ihre Ansichten verbreiteten sie in Broschüren, Workshops und im Internet. Die GdVuSt agierte bundesweit und hatte ihren Hauptsitz in Berlin. Um ihre Ziele durchzusetzen, verkündeten die GdVuSt mit Schreiben an Behörden die "Aktivierung" von "Gemeinen". Das heißt, die Vertreter der GdVuSt übernahmen ihrer Ansicht nach das Recht an Grund und Boden und somit die Gemarkung nach ihrem Verständnis in ihr Eigentum und unter ihre Verwaltung. Sie leiteten dieses Recht auf die Erstbesiedelung durch ihre germanischen Ahnen ab. Neben den bereits aktivierten Gemeinen Tating (Kreis Nordfriesland), Brachenfeld (Ortsteil von Neumünster), Hohenwestedt (Kreis Rendsburg-Eckernförde), Lübeck Boostedt (Kreis Segeberg), Einfeld (Ortsteil von Neumünster) Bönebüttel und Dersau (beide Kreis Plön) kam im Berichtsjahr noch die Gemeine Kiel hinzu. Seit dem Vereinsverbot vom 19.März sind die öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten der GdVuSt stark zurückgegangen. Nur vereinzelt wurden von den GdVuSt noch Schreiben an Behörden versandt. Aufgrund des ausgesprochenen Vereinsverbots erfolgte eine Weiterleitung der Schreiben an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden. Das Vereinsverbot hat hier eine deutliche Wirkung gezeigt. 6 Unstrukturiertes Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter Rund 57 % der Reichsbürger und Selbstverwaltern in Schleswig-Holstein gehörten nach Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörde keiner Gruppierung an. Sie fielen unter anderem durch Schreiben an Behörden auf, in denen die in der Szene typischen Begriffe und Argumente verwendet werden. Beispielsweise wurden staatliche und kommunale Stellen mit "Firma" angeschrieben. Als Absender verwendeten Reichsbürger häufig eine Namenerweiterung. Statt "Max Mustermann" nennen sie sich dann "Max aus der Familie/aus dem Hause Mustermann". 81 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Oft wurde die Existenz der Bundesrepublik generell geleugnet. Mit unterschiedlichsten Argumenten erklärten sie, die Person unterläge nicht der Rechtsordnung. Beispielsweise differenzierten Reichsbürger und Selbstverwalter zwischen der durch die Geburtsurkunde der Bundesrepublik geschaffenen sogenannten juristischen Person und einer natürlichen Person. Teilweise unterlegt mit sogenannten Lebenderklärungen deklarierten sie sich als "lebend, beseelt und unverschollen" und somit als natürliche Person. Mit der durch den Staat geschaffenen juristischen Person seien sie nicht identisch und somit auch nicht der bundesdeutschen Rechtsordnung unterworfen. Daraus leiten sie ab, staatlichen Verpflichtungen nicht nachkommen zu müssen. Zu den nicht organisierten Reichsbürgern gehörten nicht selten Personen, die die Reichsbürgerideologie in der Hoffnung nutzten, sich dadurch staatlichen Forderungen entziehen zu können. Auf einigen Internetseiten der Reichsbürger und Selbstverwalter gab es zu unterschiedlichen Themen entsprechend vorformulierte Schreiben oder Argumentationshilfen. Dabei ging es darum, den Staat und seine Rechtsordnung in Frage zu stellen bzw. zu negieren. Gesetze wurden beispielsweise aufgrund eines angeblich fehlenden Geltungsbereichs für ungültig erklärt, oder es wurde eine amtliche Legitimation für das Recht verlangt, hoheitliches Handeln durchzuführen. Dadurch sollten behördliche Maßnahmen wie Bußgeldbescheide o- der Gebührenforderungen abgewendet werden. Wer solche reichsbürgertypischen Angebote übernimmt und sich damit an staatliche Stellen wendet, liefert den Verfassungsschutzbehörden grundsätzlich tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht, dass er den Reichsbürgern und Selbstverwaltern angehört. 82 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 V Islamismus und Islamistischer Terrorismus 1 Überblick Im Berichtszeitraum kam es in Deutschland zum ersten Mal seit drei Jahren wieder zu einer tatsächlichen Umsetzung islamistischer Terroranschläge. Für die im Frühjahr in Waldkraiburg (Bayern) ausgeführte Attentatsserie auf türkischstämmige Ladenbesitzer lassen sich dabei auch Bezüge zur Terrororganisation Islamischer Staat (IS) feststellen. Die Verursacher der beiden anderen Anschläge - eine absichtlich verursachte Unfallserie hauptsächlich zum Nachteil von Zweiradfahrern auf der A100 in Berlin im August sowie eine Messerattacke auf zwei Passanten in Dresden im Oktober - haben nach aktuellem Stand der Ermittlungen ebenfalls aus islamistischer Motivation heraus gehandelt. Diese Vorkommnisse zeigen, dass die Sicherheitslage in Deutschland und auch in Schleswig-Holstein weiterhin von dem abstrakt hohen Risiko bestimmt ist, dass sich jederzeit ein islamistisch motivierter Anschlag ereignen kann. Eine wesentliche Rolle dabei spielen nach wie vor die global agierenden Terrororganisationen IS und al-Qaida sowie die Entwicklungen in ihren Einflussgebieten im Nahen Osten. Ihre - trotz steigender personeller Verluste in den jeweiligen Führungskadern - unverändert intensiv betriebene Propaganda fordert kontinuierlich Anhänger weltweit zur Begehung von Anschlägen mit einfachen Tatmitteln gegen die "ungläubigen" westlichen Staaten und deren Bevölkerung auf. Eine Zielgruppe für diese Aufrufe sind wie in den Vorjahren zum einen getarnt nach Deutschland eingereiste oder aus dem Ausland nach Deutschland zurückgekehrte Jihadisten sowie Personen, die unter deren Einfluss stehen. Zum anderen kommen für solche Anschlagsvorhaben auch in Deutschland sozialisierte Personen, die sich hier radikalisiert haben - sogenannte "homegrown terrorists" - sowie verurteilte islamistische Straftäter nach ihrer Entlassung in Betracht. Das gesamtislamistische Personenpotenzial betrug mit Ablauf des Berichtsjahres in Schleswig-Holstein rund 845 Personen, davon entfallen allein 750 Personen auf den Bereich des Salafismus. Im Vergleich zum Vorjahr 2019 entspricht die Veränderung des Potenzials im Islamismus somit einem Zuwachs von etwa 18% (+130 Personen), für die Salafistischen Bestrebungen einer Erhöhung um etwa 15% (+100 Personen). 83 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Ausreisen mit jihadistischer Motivation insbesondere in das Bürgerkriegsgebiet Syriens bzw. des Iraks konnten im Berichtszeitraum aus Schleswig-Holstein nicht festgestellt werden. Einfluss der Corona-Pandemie auf die islamistische Szene Die Maßnahmen zur Eindämmung der weltweiten COVID-19-Pandemie haben auch die islamistische Szene in vielerlei Hinsicht beeinflusst. Zum einen betrafen staatlich angeordnete Schließungen während der Lockdown-Phasen auch die in SchleswigHolstein ansässigen salafistischen Moscheevereine. Einige von ihnen wichen als Reaktion darauf teilweise auf Kleingruppentreffen in privaten Räumlichkeiten aus, um so auf illegale Weise die Verordnungen zum Infektionsschutzgesetz zu umgehen. Überwiegend wurden die Schließungen jedoch ernst genommen und eingehalten. Darüber hinaus führten einige salafistische Vereine und andere islamistische Gruppierungen eine Online-Variante ihrer missionarischen Arbeit ein. Salafistische Einrichtungen in Schleswig-Holstein stellten beispielsweise Livestreams ihrer Freitagspredigten auf ihrer Facebook-Präsenz oder bei YouTube ein, legalistische Organisationen, z.B. die Furkan-Gemeinschaft, boten religiöse Vorträge und Islamseminare per "Zoom"-Konferenz oder ebenfalls als Livestream bei YouTube an. Im Berichtszeitraum spielte das Internet während der Corona-Pandemie auch hinsichtlich der Verbreitung von Theorien und Verschwörungserzählungen im Zusammenhang mit dem Virus eine wesentliche Rolle. Häufig betrachteten islamistische Gruppierungen die Pandemie als Strafe Gottes für "die Ungläubigen". In salafistischen Kreisen in Schleswig-Holstein wurde COVID-19 jedoch eher als eine Art Strafe für zu schwachen Glauben der Muslime bewertet und als Aufruf, den Islam noch intensiver zu leben. In islamistischen Strömungen kursierten zudem zum Teil Narrative einer "Weltverschwörung" und absichtlichen Freisetzung des Virus durch die USA. Diese waren nicht selten auch mit antisemitischen Motiven gepaart, die ein solches "Weltmachtstreben um jeden Preis" einer alles manipulierenden jüdischen Elite zuschreiben. Eine Zunahme antisemitischer Kommentare und Äußerungen ist seit Beginn der Corona-Pandemie generell vor allem im Internet zu beobachten. Auch durch Islamisten wurde - neben antisemitischen Verschwörungstheorien - Propaganda verbreitet, die den Holocaust relativiert und zum Teil unangemessene 84 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Parallelen zwischen der angeblichen aktuellen medialen und politischen antimuslimischen Hetze in Deutschland und den Anfängen der Judenverfolgung im Nationalsozialismus zieht. Im Bereich des islamistischen Terrorismus haben sich in Verbindung mit dem Corona-Virus bislang keine besonderen gefährdungsrelevanten Aspekte für die Sicherheitslage in Deutschland und Schleswig-Holstein ergeben. Dennoch bildet die Verschlechterung von sozioökonomischen Rahmenbedingungen durch die Pandemie einen möglichen Faktor für ein gestiegenes Radikalisierungspotenzial bei jungen Menschen. Sie könnten durch Einnahmeausfälle und Perspektivlosigkeit besonders von der Krise betroffen sein. Daraus könnte sich in der Folge langfristig ein steigendes Rekrutierungspotenzial für islamistische und jihadistische Organisationen ergeben. Salafistischen Szene weiterhin aktiv und vernetzt Wie die im Berichtszeitraum nochmals gestiegenen Zahlen des salafistischen Personenpotenzials in Schleswig-Holstein um 100 Personen auf insgesamt nunmehr 750 Personen belegen, ist die ideologische Anziehungskraft des Salafismus weiterhin ungebrochen. Besonders für junge Erwachsene und junge Konvertiten ist die Einfachheit der stark zwischen richtig und falsch polarisierenden salafistischen Lehre attraktiv. Auch wenn deutschlandweit allgemein weiter der Trend vorherrscht, die salafistische Missionierungsarbeit vorwiegend im Internet und im privaten Raum stattfinden zu lassen, konnten im Berichtszeitraum in Schleswig-Holstein hauptsächlich im Raum Kiel auch einige Aktivitäten einschlägig bekannter Vereine festgestellt werden. So wurden mehrmals im Berichtsjahr in verschiedenen Stadtteilen betreute Informationsstände aufgebaut, an denen salafistische Literatur auslag. Dazu konnte im Oktober eine Demonstration unter dem Motto "Gegen die Karikaturen unseres Propheten" festgestellt werden, die mit etwa 150 Teilnehmern - darunter auch bekannte Salafisten - und einem öffentlichen Gebet am Hauptbahnhof Kiel organisiert wurde. Trotz der durch die Corona-Pandemie bedingten Kontaktbeschränkungen und eingeschränkten Reisetätigkeiten waren im Verlauf des Berichtszeitraums zudem wieder einige bekannte salafistische Gastimame bei verschiedenen Moscheevereinen in Schleswig-Holstein zu Besuch. Die im letzten Jahr bereits wahrnehmbare Zusammenarbeit verschiedener islamistischer und salafistischer Vereine setzte sich dabei 85 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode weiter fort. Sowohl in der Realwelt als auch durch Kommunikationssoftware im Internet fanden Treffen, religiöse Vorträge und Islamseminare statt, denen Anhänger verschiedener islamistischer Strömungen beiwohnten. Im salafistischen Bereich konnte neben einer pandemiebedingten finanziellen und logistischen Unterstützung einiger Vereine untereinander zudem eine Kooperation auf ideologisch-inhaltlicher Ebene festgestellt werden. 2 Merkmale des Islamismus Der von den Verfassungsschutzbehörden beobachtete Islamismus ist im Gegensatz zum Islam keine Religion. Die islamische Religion ist durch Artikel 4 des Grundgesetzes, der Glaubensund Religionsfreiheit in der Bundesrepublik gewährleistet, geschützt und ermöglicht den zahlreichen Musliminnen und Muslimen in Deutschland und in Schleswig-Holstein die freie und ungestörte Ausübung ihrer Religion. Der Islamismus hingegen ist eine religiös begründete Ideologie, die die Dogmen und Glaubensinhalte des Islam missbraucht und eine Form des politischen Extremismus darstellt. Dementsprechend verfolgen Islamisten auch verfassungsfeindliche Ziele, stellen sich gegen die rechtsstaatlichen Prinzipien Deutschlands und streben nach der Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 2.1 Islamismus Der Islamismus als extremistische Ideologie umfasst mehrere Strömungen verschiedener Ausprägungen. Es gibt jedoch einige Grundelemente, die alle Islamisten gleichermaßen vertreten. Zum einen ist für Islamisten der Islam keine "Privatangelegenheit", sondern eine Art Ordnungssystem, das alle Bereiche des Lebens - vom persönlichen Lebensalltag über das gesamtgesellschaftliche Leben bis hin zur politischen Ordnung - durchdringt und regelt. Dabei steht nach ihrer Überzeugung die von Gott erschaffene und im Koran beschriebene Weltordnung als einzig "wahre" und absolute Ordnung über allen menschengemachten Gesetzen. Mit dieser extremistischen Islamauslegung positionieren sich Islamisten klar gegen grundlegende Elemente des deutschen Grundgesetzes, wie z.B. die Trennung von Staat und Religion, das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die allgemeine Gleichberechtigung. Das angestrebte Ziel von Islamisten ist es, die in der Bundesrepublik 86 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 bestehende freiheitliche demokratische Grundordnung abzuschaffen und durch einen Gottesstaat zu ersetzen. In ihrem ideologischen Anspruch, den "einzig wahren Islam" zu praktizieren, gehen sie mitunter so weit, dass sie nicht nur Anhänger anderer Religionen, sondern auch andere innerislamische Strömungen ablehnen. Zum anderen ist ein wesentliches Element islamistischer Gruppierungen eine antisemitische Grundauffassung, die teilweise auch öffentlichkeitswirksam proklamiert wird. Allen islamistischen Strömungen gemein ist zudem die Forderung nach der Einführung der Scharia, einer Sammlung islamischer Rechtsvorschriften, welche auch die sogenannten Körperstrafen (Hadd-Strafen) enthält. Dies sind besonders abschreckende Praktiken für Bestrafungen im Sinne des Allgemeinwohls, z.B. das Abtrennen von Extremitäten als Strafe für Diebstahl oder die Todesstrafe bei Glaubensabfall und Ehebruch. Eine Forderung nach der Scharia als einzigem Rechtssystem geht somit auch immer mit einer immanenten Gewaltakzeptanz einher. Die Ausprägung dieser Haltung kann sich jedoch in den verschiedenen islamistischen Gruppierungen deutlich unterscheiden. Das Spektrum reicht hier von einer eher passiven Gewalt-Toleranz politischer Islamisten bis hin zu regelmäßiger und kompromissloser Anwendung von Gewalt durch terroristische Islamisten. Neben dieser allgemeinen strategischen Ausrichtung sind zudem die Orientierung an einer regionalen bzw. globalen Agenda oder auch grundsätzliche ideologische Elemente Faktoren, in denen verschiedene islamistische Strömungen zum Teil erheblich divergieren. 2.2 Jihadismus Der Jihadismus stellt eine besonders militante und kompromisslose Form des Islamismus dar. Der Begriff leitet sich vom arabischen "Jihad" ab, was so viel wie "Anstrengung, Mühe" bedeutet und im Islam in erster Linie ein Konzept beschreibt, nach dem jeder Muslim sich in seinem Glaubensalltag anstrengen soll, um Gott zu gefallen. Diese individuelle Praxis eines Gläubigen wird als der "große Jihad" bezeichnet. Der sogenannte kleine Jihad erlaubt, vereinfacht dargestellt, den Gläubigen unter bestimmten (rechtlich komplex geregelten) Voraussetzungen, sich im Kriegsfall auch mit Waffengewalt gegen einen Feind zur Wehr zu setzen. Jihadisten missinterpretieren diesen Ansatz in militanter Weise zu einer universellen Legitimation, alle "Ungläubigen" und Andersgläubigen weltweit aktiv zu bekämpfen. Begrün87 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode det wird dies damit, dass der Islam an sich einerseits durch den "ungläubigen" Westen und andererseits durch die aus islamistischer Sicht korrumpierten Regierungen muslimischer Länder einem ständigen Angriff ausgesetzt sei. Dementsprechend sei es nicht nur das Recht, sondern die höchste Glaubenspflicht eines jeden Muslims, sich dem Jihad anzuschließen. Mit dem so religiös konstruierten "permanenten globalen Verteidigungsfall" legitimieren Organisationen wie der IS letztlich nicht nur ihr militärisches Vorgehen in unmittelbaren Konfliktregionen, sondern auch globale Aktionen wie Geiselnahmen, Raub, Selbstmordanschläge und andere Terrorakte - vor allem in westlichen Staaten auch gegen Zivilisten. Aufgrund ihres internationalen Aktionsradius und hohen Gewaltpotenzials stellen die sogenannten jihadistischen (terroristisch-islamistischen) Gruppierungen im Phänomenbereich des Islamismus die größte Bedrohung für die innere Sicherheit des Landes Schleswig-Holsteins und der gesamten Bundesrepublik dar. Sie gehören daher zu den zentralen Beobachtungsschwerpunkten des Verfassungsschutzes in Deutschland. Als relevanteste Akteure sind hier vor allem die global agierenden Organisationen Islamischer Staat (IS) und al-Qaida (AQ) (siehe Kapitel 4.1.1 und 4.1.2) mit ihren jeweiligen regionalen Ablegern in diversen Ländern zu nennen. Für die Sicherheitsbehörden ebenfalls von großer Bedeutung sind weitere islamistische Gruppierungen, die Bezüge nach bzw. Strukturen oder Mitglieder in Deutschland haben - wie zum Beispiel die HAMAS, die Hizb Allah oder die Muslimbruderschaft (MB). Seit 2012 werden zudem die sogenannten Salafistischen Bestrebungen (siehe Kapitel 6) als ein eigenständiges Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden in Deutschland und Schleswig-Holstein gelistet. 2.3 Salafismus Der Salafismus ist eine besonders dynamische Strömung des Islamismus mit stetig wachsenden Anhängerzahlen. Wie andere islamistische Strömungen auch, arbeitet der Salafismus langfristig auf das Ziel der Schaffung eines Gottesstaates hin und ist somit mit den Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gänzlich unvereinbar. Der Begriff Salafismus leitet sich vom arabischen Terminus "asSalaf as-Salih" ab - in etwa: "die frommen Altvorderen". Ein wesentliches Merkmal dieser Strömung ist die Glorifizierung der Frühzeit des Islam. Bezugnehmend auf diese einst "reine" und unverfälschte religiöse Gemeinschaft geben Salafisten vor, sich ebenfalls wieder wortgetreu an der originären heiligen Schrift (Koran) und den 88 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Traditionen des Propheten Muhammad (Sunna) auszurichten und so den einzig "wahren Islam" zu vertreten. Dieser Exklusivitätsanspruch zieht eine strikte Ausgrenzung all jener nach sich, die nicht exakt die Inhalte der eigenen salafistischen Ideologie teilen, und kann im Extremfall des salafistischen Jihadismus sogar so weit führen, dass auch andersdenkende Muslime zu "Ungläubigen" erklärt und vehement bekämpft werden. Gewalt im politischen und jihadistischen Salafismus Die Sicherheitsbehörden unterscheiden zwischen politischen und jihadistischen Salafisten. Die elementaren Unterschiede zwischen diesen beiden Strömungen liegen neben ihrer ideologischen Ausprägung vor allem in den strategischen Mitteln, die sie zur Erreichung ihrer Ziele anwenden, sowie dem Grad der Gewaltbefürwortung, den sie dabei vertreten. Politische Salafisten sehen vor allem die religiöse Missionierung (arabisch: da'wa) und die Durchdringung der Gesellschaft mit ihrer Ideologie als effektivstes Mittel zur Vorbereitung eines islamischen Gottesstaates. In der Regel verzichten sie selbst auf die Anwendung von Gewalt, haben aber durch ihre strikte Ausrichtung an Sunna und Koran, der bei unreflektierter Lesart beispielsweise auch die Züchtigung von Ehefrauen erlaubt, und der Forderung nach der Scharia mit ihren teilweise gewaltbehafteten Strafelementen zumindest eine Toleranz gegenüber Gewalt als legitimem Instrument. Jihadistische Salafisten betreiben zwar auch Missionierungspropaganda, fokussieren sich jedoch vorwiegend auf den aktiven bewaffneten Kampf. Dafür missbrauchen sie - wie andere Islamisten auch - das Konzept des Jihads. Da'wa - die salafistische Missionierung Die Missionierungsarbeit von Salafisten ist äußerst intensiv, größtenteils professionell ausgearbeitet und daher auch mitursächlich für die in den letzten Jahren stetig gestiegenen Anhängerzahlen dieser islamistischen Strömung. Ideologische Inhalte werden von den Organisationen optisch und stilistisch ansprechend an die jeweiligen Zielgruppen angepasst und hauptsächlich an Jugendliche und junge Erwachsene adressiert. Verbreitet wird das Propagandamaterial als graphisch aufgearbeitete Textbeiträge, modifizierte Bilder oder Videos in der Regel über moderne Kommunikationsmittel wie soziale Netzwerke im Internet (hauptsächlich Facebook und 89 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Instagram) und Messenger-Dienste wie WhatsApp und Telegram. Über diese unkomplizierten Verbreitungswege konnte die salafistische Szene zudem über Jahre hinweg zahlreiche, zum Teil bundesweit agierende Netzwerke etablieren, die eine schnelle und direkte Kommunikation zwischen Funktionären, Anhängern und potenziellen neuen Mitgliedern ermöglichen und so unter Umständen auch zu einer intensiven Ideologisierung neuer Anhänger beitragen können. Der Übergang vom politischen zum jihadistischen Salafismus ist dabei fließend. 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Phänomenbereich Islamismus Der Ausbruch und die weitreichenden Folgen des COVID-19-Virus (Corona-Virus) betrafen spätestens seit dem Frühjahr einen überwiegenden Teil der Staaten dieser Welt sowie deren Bevölkerung, die sich massiv in ihrem Alltag einschränken musste. Auch Islamisten haben sich in der ein oder anderen Weise mit dem Phänomen der Pandemie auseinandergesetzt. Im Berichtszeitraum ließen sich bei islamistischen Terrororganisationen ganz verschiedene Auffassungen und Umgangsweisen mit dem Virus feststellen. Diese reichten beispielsweise von der Warnung an ihre Anhänger, sich in westlichen Staaten anstecken zu können, bis hin zur Möglichkeit der gezielten Ansteckung von Feinden mittels infizierter Jihad-Kämpfer. Am stärksten wurde die Pandemie in dieser Hinsicht durch die Propaganda des IS instrumentalisiert, in der Corona als "Soldat Gottes gegen die Ungläubigen" und "der schlimmste Albtraum der Kreuzzügler" stilisiert wurde. Die "Feinde des Islams" wären demnach das Ziel "göttlichen Zorns", wodurch die Richtigkeit des eigenen Weges untermauert werde. Al-Qaida missbrauchte den Virus ebenfalls propagandistisch für ihre Zwecke und bewertete ihn als eine göttliche Strafe für die "Ungläubigen". Auch im Phänomenbereich des Islamismus sind außerdem Verschwörungstheorien im Zuge der vielschichtigen Entwicklungen um das Corona-Virus verstärkt hervorgetreten. Im islamistischen Spektrum wies der Großteil der kommunizierten Narrative einen antiamerikanischen und vor allem antisemitischen Charakter auf (generell ist Antisemitismus als fester Bestandteil ohnehin in den meisten islamistischen Ideologien zu finden). Am häufigsten ließ sich dabei im Berichtszeitraum die auch im Rechtsextremismus oft verbreitete Verschwörungserzählung feststellen, eine jüdische Elite wirke im Geheimen und im Hintergrund, um die Weltherrschaft an sich zu reißen. Sie beeinflusse im Zuge dessen das gesamte Weltgeschehen, dominiere 90 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 das Finanzwesen und die Medien und stehe über sämtlichen Regierungen und internationalen Organisationen. Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden unter anderem Bill Gates und jüdische Großfamilien wie die Rothschilds beschuldigt, Teil einer solchen weltweiten Verschwörung zu sein, zu deren Inhalten z.B. die absichtliche Freisetzung des Virus als ein Mittel zur absoluten Kontrolle der Weltbevölkerung und globale Machtzentrierung auf diese Familien gehört. 3.1 Antisemitismus im Islamismus Zur Definition des mitunter sehr breit gefächerten Phänomens des Antisemitismus im Islamismus soll zunächst folgende Beschreibung zugrunde gelegt werden, auf die sich die Bundesregierung beruft: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." In der Wissenschaft wird von sechs idealtypischen Erscheinungsformen des Antisemitismus ausgegangen: politisch, religiös, sozial, rassistisch, antizionistisch und sekundär. Alle diese Formen finden sich einzeln oder auch in Überschneidungen in den Ideologien sämtlicher islamistischer Strömungen. Die Wurzeln für den islamistischen Antisemitismus und vor allem Antizionismus reichen in die Zeit der seit 1918 zunehmenden Migration von Juden nach Palästina zurück, bei der es sukzessive zu Konflikten mit der arabisch-muslimischen Bevölkerung vor Ort kam. Nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 und den darauffolgenden gewaltsamen Auseinandersetzungen mit arabischen Staaten flüchteten viele Palästinenser in benachbarte Länder und wurden entwurzelt. Diese Konflikte bildeten schließlich den Nährboden für antisemitische und antizionistische Einstellungen in zahlreichen islamistischen Organisationen, die den Antisemitismus und Antizionismus immer wieder aufgreifen, um ihre Anhänger gegen ein gemeinsames Feindbild - den jüdischen Staat Israel oder auch Juden im Allgemeinen - zu mobilisieren. 91 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Bereits zu Zeiten des Nationalsozialismus in Deutschland wurde der hierzulande propagierte europäische Antisemitismus auch in die islamisch geprägten Länder des Nahen und Mittleren Ostens "exportiert". So unterhielt der Großmufti von Jerusalem seinerzeit Kontakte zu Nationalsozialisten und hetzte in Radioansprachen gegen Juden. Ebenso wurden vor allem in den Kreisen der Muslimbruderschaft seit den 1930er Jahren judenfeindliche Schriften aus Europa ins Arabische übersetzt und verbreitet. Als Folge lässt sich zuweilen auch heute noch eine regelrechte Verehrung von Hitler und dem Nationalsozialismus unter Islamisten feststellen. Neben dem generellen Feindbild der Juden als zentrales ideologisches Element islamistischer Gruppierungen findet sich bei allen Islamisten auch die absolute Negierung des Existenzrechts Israels - vor allem bei der palästinensischen HAMAS und der schiitischen Hizb Allah - wieder (siehe Kapitel 4.2.4). Al-Quds-Tag Eine Manifestierung dieser antizionistischen bzw. antiisraelischen Einstellung auch in Deutschland ist seit etwa 25 Jahren der sogenannte Al-Quds-Tag (arabisch für Jerusalem-Tag). Diese erstmals im Jahr 1979 durch den damaligen iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini ausgerufenen Massendemonstrationen richten sich gegen die Existenz Israels und fordern unter anderem die Freigabe von OstJerusalem und der dort befindlichen Al-Aqsa-Moschee sowie die Errichtung eines palästinensischen Staates. In Deutschland konnten in der Vergangenheit unter den Teilnehmern an dem zentralen antiisraelischen, zunehmend auch antiamerikanischen Aufmarsch, der alljährlich am Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadans in Berlin stattfindet, auch Personen aus Schleswig-Holstein festgestellt werden. In Reaktion auf die Beschränkungen und Auflagen bei Demonstrationsgeschehen im Rahmen der Corona-Verordnungen konnte der Al-Quds-Tag nicht in seiner gewohnten Form stattfinden und wurde kurzfristig als Online-Veranstaltung mit Videobeiträgen und Vorträgen bekannter Aktivisten abgehalten. 92 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Verharmlosung des Holocaust Im Zuge der zahlreichen Proteste gegen die Coronamaßnahmen im Berichtsjahr erhielt zudem ein weiteres Merkmal, das im Antisemitismus immer wieder in Erscheinung tritt, eine neue Form: die Relativierung oder Leugnung des Holocausts. Während sich Rednerinnen der Corona-Leugner-Szene auf Kundgebungen mit Opfern des Nationalsozialismus, wie z.B. Sophie Scholl oder Anne Frank, verglichen, fanden solche Gleichsetzungen sowie geschichtsrevisionistische Weltanschauungen bei Islamisten vorwiegend in Form von Onlinebeiträgen statt. So konnte im Berichtsjahr auf den Facebook-Seiten zweier in Deutschland anScreenshot der Facebook-Seite einer in Deutschland ansässigen islamistischen Organisation, in der NS-Propasässigen, der islamistischen HuT ganda mit der heutigen Medienberichterstattung über Muslime verglichen wird (siehe Kapitel 4.2.3) nahestehenden Gruppierungen ein vergleichbares Opfernarrativ festgestellt werden. Hier wurde zum einen durch "Generation Islam" (GI) die damalige NS-Propaganda vom "jüdischen Attentäter" mit der heutigen Medienberichterstattung über islamistische Attentäter und ihren Taten gleichgesetzt und somit suggeriert, dass Politik und Medien Muslime generell als islamistische Attentäter sehe. Somit sei die Situation der Muslime in Deutschland aktuell mit der Situation der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus vergleichbar. Dadurch soll das Bild der in Deutschland "unterdrückten Muslime" erzeugt und Sympathisanten aus allen Gesellschaftsschichten emotionalisiert werden, so dass sie sich mittelfristig von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen. 93 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Gleichzeitig dient dieses Motiv als Rechtfertigung der eigenen Ablehnung oder sogar des Vorgehens gegenüber Andersgläubigen, ganz nach dem Motto: Wer ein Opfer ist, darf sich zur Wehr setzen. Zum anderen wurden durch "Realität Islam" (RI) in mehreren Beiträgen zahlreiche der durch das Infektionsschutzgesetz bedingten Maßnahmen, vor allem jedoch die Schließungen der Moscheen zu Ramadan und die damit verbundene mediale Berichterstattung, als anti-muslimische Hetze und generelle Islamfeindlichkeit dargestellt. Laut der Gruppierung sei diese Situation durchaus mit den Anfängen der Unterdrückung und Verfolgung der jüdischen Minderheiten während der NS-Zeit verglichen. Entwicklung antisemitischer Vorkommnisse im Islamismus Antisemitische Ereignisse mit mutmaßlich islamistischem Hintergrund werden im Verfassungsschutzverbund statistisch erfasst und bewertet, um Entwicklungen und Trends bei antisemitischen Einstellungen prognostizieren zu können. Bei dieser Sammlung an Informationen zeigt sich auch die immer mehr zunehmende Bedeutung des Internets für die Verbreitung antisemitischer Einstellungen. Wie im schleswig-holsteinischen Verfassungsschutzbericht des Jahres 2019 in einem Schwerpunkt-Kapitel dargestellt, ist das Internet ein wesentlicher Dynamisierungsfaktor für zahlreiche Erscheinungsformen der Ideologisierung und Radikalisierung. Dies zeigt sich auch bei der Verbreitung von antisemitischem Gedankengut und islamistischen Verschwörungstheorien. Es ist davon auszugehen, dass beide Phänomene sich künftig noch gegenseitig verstärken können und mit einer Zunahme gerechnet werden muss, was sich insbesondere in sozioökonomischen Krisensituationen wie die der derzeitigen Covid19-Pandemie zeigt. Im Berichtsjahr ist diesbezüglich noch einmal deutlich geworden, dass krisenhafte Zeiten mitunter soziale Konflikte verschärfen und mutmaßlich dazu führen, dass Verschwörungstheorien, die Suche nach "Sündenböcken" und damit auch antisemitische Einstellungen zunehmen, da sie ein einfach strukturiertes Weltbild konstruieren, um damit komplexe Geschehnisse erklären zu wollen. Besonders im Internet handelt es sich dabei nicht immer um eindeutige Propaganda, sondern oftmals treten diese Phänomene codiert und verschleiert und damit weniger offensichtlich in Erscheinung. Jedoch vollzieht sich ein erheblicher Teil antisemitischer Taten auch in den sozialen Netzwerken in Form von 94 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Beleidigungen oder antisemitischen Beiträgen und Kommentaren. Insgesamt betrachtet hat sich bundesweit laut Statistik des Bundeskriminalamtes die Zahl der registrierten antisemitischen Hasskriminalitätsund antisemitischer Gewaltstraftaten in den vergangenen Jahren in allen Phänomenbereichen erhöht - mit einem starken Überhang rechtsextremistisch motivierter Straftaten. In Schleswig-Holstein konnten vereinzelt antisemitische Straftaten mit Bezügen zum Islamismus festgestellt werden. 3.2 Verschwörungstheorien im Islamismus Der Kerngedanke bei den im islamistischen Spektrum anzutreffenden und vorwiegend antisemitisch geprägten Verschwörungserzählungen ist das angebliche Streben "der Juden" nach der Weltherrschaft. Um diese zu erreichen, würden sie unbarmherzig Kriege anstiften und auslösen sowie durch Geheimorganisationen, die die Regierungen sämtlicher Staaten der Welt manipulieren, ihre perfide Agenda umsetzen. Dieses Motiv der "jüdischen Weltverschwörung" wurde im Islamismus unter anderem durch die Propagierung der "Protokolle der Weisen von Zion" genährt. Hierbei handelt es sich um ein historisches antisemitisches Pamphlet, das auf Fälschungen basiert, jedoch immer wieder von Verschwörungstheoretikern als Beweis für jüdische Weltherrschaftsbestrebungen herangezogen wird. Unter anderem von hochrangigen Führungsmitgliedern der Muslimbruderschaft (siehe Kapitel 4.2.1), wie z.B. von Sayyid Qutb, einem der Vordenker des Islamismus, wurde dieses Narrativ aufgegriffen und mit judenkritischen Koranstellen in den arabischen Ländern verbreitet. Dadurch wurde ein Antisemitismus im Islamismus geschaffen, der bis heute an sämtliche solcher extremistischen Strömungen anschlussfähig ist. Das Motiv der "jüdischen Weltverschwörung" findet sich auch in den antiamerikanischen Narrativen islamistischer Strömungen wieder, da durch Islamisten propagiert wird, dass in Amerika reiche jüdische Familien die dortige Politik entscheidend mitbestimmen und dadurch auch Israel als Staat besonders durch die USA protegiert wird. Neben den politisch-antisemitischen Verschwörungstheorien werden im Islamismus und Jihadismus zudem religiöse Narrative mit apokalyptischen Szenarien und messianischen Weltuntergangsvorstellungen sowie Vorstellungen von einem "jüngsten Gericht" in Verbindung gebracht. Besonders oft in diesem Zusammenhang ist von einem Endkampf die Rede, in dem die Ungläubigen den gläubigen Muslimen ge95 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode genüberstehen. Dieses Motiv findet sich unter anderem in der Propaganda des sogenannten Islamischen Staates wieder und wird dort wiederum zusätzlich mit einem antisemitischen Element versehen: Auch hier wird in der Endzeit eine letzte Schlacht zwischen den "Gläubigen" und "Ungläubigen" vorhergesagt, allerdings werden dabei "die Juden" zu den "Anführern der Ungläubigen" stilisiert. 3.3 Reaktionen der islamistischen Szene auf die Corona-Maßnahmen In der islamistischen Szene in Schleswig-Holstein wurden im Verlauf des Berichtszeitraumes vor allem auch über das Internet verschiedene Meinungen und Theorien zum Thema "Corona" kommuniziert und diskutiert. Das Spektrum reichte hierbei von salafistischen Predigern, die das Virus als eine Art Rüge für einen zu schwach gelebten Glauben und eine Mahnung zu strengerer Religiosität sahen, bis hin zu Einzelpersonen unterschiedlicher islamistischer Richtungen, die sich in ein oder mehreren Verschwörungstheorien bestätigt glaubten. Unter den jihadistisch eingestellten Islamisten wurde neben den apokalyptischen Befürchtungen eines heraufziehenden "Jüngsten Gerichts" ebenso auch die Hoffnung geäußert, dass das Corona-Virus in vielerlei Hinsicht vorteilhaft für den Islam sein könnte, weshalb man Reue zeigen und den Glauben wieder stärker leben solle. An den zahlreichen Protesten und Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des COVID-19-Virus konnten hingegen keine Personen aus dem islamistischen Spektrum als Teilnehmer festgestellt werden. Für solche Veranstaltungen wurde innerhalb der Szene auch zu keiner Zeit mobilisiert. Salafistische Anlaufstellen während der Lockdown-Phasen in Schleswig-Holstein Mit dem ersten Herunterfahren jeglicher gesellschaftlicher und sozialer Aktivitäten aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung des COVID-19-Virus im März mussten auch die Moscheen in Schleswig-Holstein schließen. Der Großteil der einschlägig bekannten salafistischen Anlaufstellen hielt sich dabei an die staatlich verordneten Beschränkungen und führte keine Veranstaltungen durch. Allerdings konnten in Einzelfällen verbotene Gebetszusammenkünfte festgestellt werden - sowohl in einer 96 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 eigentlich geschlossenen einschlägigen Moschee als auch in Kleingruppen an Trefforten außerhalb von Vereinsräumlichkeiten. Trotz der Lockerungen, die ab Mai wieder einen Moscheebetrieb unter strengen Hygieneund Abstandsregelungen erlaubten, entschieden sich auch einige der salafistisch geprägten Vereine aus Sicherheitsgründen erst spät dazu, die Moschee wieder für den Besucherverkehr zu öffnen. Anschließend konnte festgestellt werden, dass während der Veranstaltungen zum Teil sehr nachlässig mit den Auflagen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie umgegangen wurde. Dies zog in mehreren Fällen im Verlauf des Berichtsjahres ordnungsbehördliche Verfügungen und Ahndungen gegen verschiedene einschlägige Anlaufstellen in Kiel, Rendsburg und Neumünster hinsichtlich der Nichteinhaltung von Hygienemaßnahmen oder einer zu großen Anzahl an Personen in den entsprechenden Räumlichkeiten nach sich. Viele Moscheevereine bemühten sich jedoch, die behördlichen Auflagen zu erfüllen und Konzepte wie die Durchführung des Freitagsgebetes in mehreren Schichten und nur nach vorheriger Anmeldung umzusetzen. Es konnte jedoch auch beobachtet werden, dass zahlreiche der salafistisch geprägten Moscheevereine in Schleswig-Holstein die behördlichen Auflagen nicht oder kaum mehr erfüllen konnten, so dass es vermehrt zu einer Verlagerung von Kleingruppenaktivitäten in private Räume kam. Einige Szeneanhänger wechselten hierbei regelmäßig gezielt die von Vereinsmitgliedern zur Verfügung gestellten Wohnungen und privaten Anlaufstellen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. In manchen Fällen nahmen mehr als 20 Personen an solchen Veranstaltungen teil. Solidarische Hilfsaktionen Der erste Lockdown im Frühjahr löste allgemein eine große Welle gesellschaftlicher Hilfsbereitschaft gegenüber von der Pandemie und den Auswirkungen der Eindämmungsmaßnahmen besonders betroffenen Menschen aus. Auch einige einschlägige salafistische Moscheevereine stellten auf ihren Internetpräsenzen Videos oder Flyer ein, mit denen sie auf von ihnen durchgeführte oder angebotene karitativer Aktionen wie Einkaufshilfe für die Nachbarschaft oder Lebensmittelverteilaktionen für Obdachlose aufmerksam machten. Für Moscheen, die durch die temporären Schließungen in finanzielle Notlage gerieten, wurde außerdem von der in Niedersachsen ansässigen und dem Salafismus 97 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode zugerechneten Organisation "Föderale Islamische Union" (FIU) ein Spendensammelprojekt ins Leben gerufen. Dieses sollte die Trägervereine drei Monate lang mit jeweils 1.000 Euro zumindest bei den Betriebskosten ihrer Objekte unterstützen, die normalerweise durch die Kollekte der Gebetsbesucher gedeckt werden. In Schleswig-Holstein gab es Hinweise auf einige Moscheevereine und deren Mitglieder, die für diese Kampagne geworben oder Spenden gesammelt haben. Gesteigerte Online-Aktivitäten Bereits in der ersten Phase des Lockdowns stiegen die Aktivitäten islamistischer Akteure im Internet stark an. So gingen einige der in SchleswigHolstein ansässigen salafistischen Moscheevereine dazu über, die Freitagspredigten als Livestream oder Video bei Facebook oder YouTube hochzuladen. Ebenso konnten im Berichtszeitraum mehrere religiöse Veranstaltungen bzw. Islamseminare in Form von Online-Konferenzen über Videokonferenzplattformen, wie z.B. "Zoom", festgestellt werden. Auch andere islamistische Gruppierungen, die Bezüge nach SchleswigHolstein aufweisen, verstärkten die NutRegelmäßiger Livestream der Furkan-Gemeinschaft zung des Internets für die Aufrechterhaltung ihrer missionarischen Tätigkeiten. So wurden beispielsweise bei der Furkan-Gemeinschaft (siehe Kapitel 4.2.2) sämtliche Seminarund Vortragsaktivitäten online durchgeführt und unter anderem ein Livestream-Programm auf YouTube mit Islamseminaren zu religiösen Themen und aktuellen Tagesthemen eingerichtet. Zum beginnenden Ramadan konnte der Y- ouTube-Kanal der Furkan-Gemeinschaft von über 3.000 Abonnenten - davon auch einige aus Schleswig-Holstein - als Ersatz für Präsenzveranstaltungen verwendet werden. 98 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Die der islamistischen Hizb ut-Tahrir (HuT; siehe Kapitel 4.2.3) ideologisch verbundenen Organisationen Generation Islam (GI) und Realität Islam (RI), die im Vorjahr bereits durch ihre Online-Kampagnen aufgefallen waren (siehe Verfassungsschutzbericht Schleswig-Holstein 2019, V 4.3) und in Schleswig-Holstein über einen Sympathisantenkreis verfügen, verfolgten auch in Zeiten der Corona-Pandemie weiterhin ihre Strategie der Abgrenzung von Muslimen gegenüber Nicht-Muslimen. Im Zentrum der Propagandatätigkeit vor allem von Realität Islam stand im Berichtsjahr daher auch weiterhin, Muslime als vermeintlich angefeindete und unterdrückte Minderheit in Deutschland darzustellen, um so den sozialen Frieden in Deutschland und das interkulturelle Verständnis füreinander massiv zu beschädigen. Im Bereich des schiitischen Extremismus kam es im Berichtsjahr selbst bei der Großveranstaltung des jährlich in Berlin stattfindenden al-Quds-Tag aufgrund der Corona-Pandemie zu einer Verlegung in die virtuelle Welt. Die für Mai geplanten israelfeindlichen Demonstrationen waren von den Behörden gemäß des Infektionsschutzgesetzes verboten worden und wurden daher durch einige Aktivisten alternativ als Online-Veranstaltung organisiert. Diese stieß allerdings in der islamistischen Szene in Schleswig-Holstein nur auf geringe Resonanz. Bei Einzelpersonen im Umfeld eines schiitisch-extremistischen Vereins in Schleswig-Holstein ließen sich hingegen rege Online-Aktivitäten hinsichtlich der Verbreitung von diversen Verschwörungserzählungen feststellen. Mögliche Folgen der Corona-Pandemie für die terroristische Bedrohungslage Im Bereich des islamistischen Terrorismus ergeben sich im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie bislang keine besonderen gefährdungsrelevanten Aspekte für die Sicherheitslage in Deutschland. Grundsätzlich kann jedoch festgestellt werden, dass eine Verschlechterung von sozioökonomischen Rahmenbedingungen generell das Risikopotenzial birgt, zunehmend soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit und Armut auszulösen. Weltweit und auch in Deutschland könnten daher die durch die COVID-19-Pandemie bedingte wirtschaftliche Instabilität und die gesellschaftlichen Problemfaktoren wie soziale Isolationserfahrungen und Zukunftsängste unter Umständen das Radikalisierungspotenzial bestimmter Personenkreise erhöhen. Nicht ausschließlich, aber beson99 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode ders bei jungen Männern, bei denen eine wirtschaftliche Krise durch Einnahmeausfälle möglicherweise auch die Existenz der eigenen Familie bedroht, könnte sich die Gefahr einer Hinwendung zum religiösen Extremismus erhöhen und Radikalisierungsprozesse auslösen. In Verbindung mit den durch Kontaktbeschränkungen zusätzlich erhöhten virtuellen Kommunikationswegen von islamistischen Gruppierungen besteht dementsprechend die Möglichkeit, dass auch der Islamismus sowie der islamistische Terrorismus von einem möglicherweise gestiegenen Rekrutierungspotenzial profitieren könnte. Ein weiterer Einflussfaktor der Corona-Pandemie und der mit ihr verbundenen staatlichen Maßnahmen auf den globalen islamistischen Terrorismus könnte in der Beschränkung potenzieller Anschlagsziele für Terroristen liegen. Während LockdownPhasen werden nahezu sämtliche Aktivitäten des gesellschaftlichen Lebens, wie z.B. in Einkaufszentren, Bars und auf Flughäfen sowie durch öffentliche Volksfeste, Sportveranstaltungen, Konzerte und andere Großveranstaltungen eingestellt, so dass sich die Auswahl der von Islamisten bevorzugten "weichen Ziele" verringert. Darüber hinaus ist jedoch auch nicht ausgeschlossen, dass mit der Diskussion über Impfstoffe und Impfkampagnen gegen COVID-19 zunehmend die hierfür erforderliche Infrastruktur in das Blickfeld des internationalen Terrorismus und extremistischen Personenpotenzialen gelangen könnte. Ein Brandanschlag auf das RobertKoch-Institut Ende Oktober sowie ein Hacker-Angriff auf die EU-Arzneimittelbehörde EMA mit Zugriff auf Zulassungsdaten für den Impfstoff des Produzenten Biontech Anfang Dezember, sind nur zwei Beispiele dafür, dass in Deutschland bereits Angriffe im Zusammenhang mit Impfstoffproduktion und -verteilung erfolgten, wenn auch bisher nicht von Personen aus dem islamistischen Spektrum. In Zeiten der Corona-Pandemie besonders relevanten Infrastrukturen wie Krankenhäuser, Impfzentren, Lagerungsund Produktionsstätten sowie Entwicklungszentren für Impfstoffe oder staatliche Gesundheitsund Forschungseinrichtungen könnten dabei in den Fokus islamistischer Terrororganisationen geraten und Ziel von Störungsoder Mobilisierungsbestrebungen sowie - bei entsprechendem Personenaufkommen - als "weiches Ziel" auch von Anschlägen werden. 100 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 4 Organisationen Islamistische Organisationen lassen sich zwei übergeordneten Grundrichtungen zuordnen, die sich anhand ihrer Einstellung zu Gewalt und Gewaltanwendung sowie der Bereitschaft, diese für ihre eigenen Ziele einzusetzen, ergeben. Sowohl die stark gewaltbefürwortenden und selbst Gewalt anwendenden jihadistisch-terroristischen Gruppierungen als auch diejenigen islamistischen Gruppierungen, die versuchen, ihre extremistischen Ziele ohne den Einsatz von Gewalt durchzusetzen, werden dabei vom Verfassungsschutz beobachtet. Letztere bewegen sich mit ihrer Agenda jedoch zumindest in Deutschland offiziell innerhalb der verfassungsmäßigen Legalität, weshalb sie auch als Legalisten bezeichnet werden. 4.1 Terroristische Organisationen Auch innerhalb der Kategorie der terroristischen Organisationen lassen sich mitunter sehr verschiedene Ausrichtungen und Ziele der einzelnen Gruppierungen feststellen. Einige von ihnen vertreten eine vorwiegend regionale Agenda und fokussieren sich auf die Errichtung eines islamistischen Staates innerhalb ihrer Aktionsgebiete. Dazu zählen beispielsweise die Taliban, die ausschließlich in der Region Afghanistan/Pakistan agieren, oder die al-Shabab, die sich in ihren Aktivitäten auf Somalia und die angrenzenden Länder beschränken. Besonders Organisationen, die global agieren und in ihrer Handlungsfähigkeit keine territorialen Grenzen kennen, sind für die Sicherheitslage in Europa, Deutschland und Schleswig-Holstein besonders gefährlich. Seit mehreren Jahren schon wird diese Art von Organisation hauptsächlich durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und al-Qaida repräsentiert - aufgrund ihrer internationalen Agenda, ihrer zahlreichen regionalen Ableger und der Reichweite ihrer terroristischen Aktivitäten weltweit. 4.1.1 Der Islamische Staat (IS) Die Anfänge des sogenannten Islamischen Staats (IS) liegen ursprünglich im Irak. Mit Beginn des syrischen Bürgerkrieges im Jahr 2011 beteiligte sich auch der irakische Zweig der al-Qaida an den Auseinandersetzungen in Syrien. In den darauffol101 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode genden beiden Jahren formierte sich der Ableger immer mehr zu einer eigenständigen terroristischen Gruppierung und brachte sein zunehmendes Großmachtstreben schließlich 2013 mit der Umbenennung in "Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (ISIS)" und der Abspaltung von Kern-al-Qaida zum Ausdruck. Aus ISIS wird IS - Etablierung eines quasi-staatlichen "Kalifats" Die neue Organisation verstand sich als Fundament für ein sogenanntes Kalifat - für einen Gottesstaat für alle Muslime unter einem zugleich religiösen und weltlichen islamischen Führer (Kalif). Ein solches wurde schließlich am 29. Juni 2014 vom damaligen ISIS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi ausgerufen. Zur Unterstreichung des überregionalen Alleinvertretungsanspruchs hieß das "Kalifat" seitdem nur noch Islamischer Staat (IS). In den darauffolgenden Jahren gelang es dem IS in Syrien und im Irak ein Herrschaftsgebiet mit pseudo-staatlichen Strukturen zu etablieren, in dem die jihadistische IS-Ideologie durch ein totalitäres Repressions-System aus strengen pseudoreligiösen Geund Verboten durchgesetzt und verbreitet wurde. Intensive Propagandatätigkeiten zeigen Wirkung Neben der territorialen Machtausübung im Nahen Osten etablierte die Terrororganisation bald darauf zudem eine professionelle Propaganda-Maschinerie und verbreitete mittels eigener Medienstellen aufwändig gestaltete, zum Teil mehrsprachige Online-Magazine, Grafiken, Videos und andere Veröffentlichungen im Internet und über Messenger-Dienste. Diese intensive Propagandatätigkeit wirkte auf unterschiedliche Art und Weise und zeigte sich unter anderem darin, dass zahlreiche Jihadisten - darunter insgesamt etwa 1.070 Personen aus Deutschland (siehe Kapitel 5.3.1) - aus dem Ausland zur Unterstützung des Islamischen Staates in dessen Herrschaftsgebiet ausreisten. Zum anderen inspirierte die Propagierung von Anschlägen gegen die westlichen "Kreuzzüglerstaaten" ab 2015 Anhänger und Sympathisanten weltweit zu zahlreichen Attentaten und Attentatsversuchen im Namen der Terrororganisation, einige davon auch in Deutschland. 102 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 IS-Provinzen in regionale Konflikte involviert Die Anziehungskraft des Islamischen Staates führte auch dazu, dass zahlreiche lokale Terrorgruppierungen vor allem in den instabilen Regionen Afrikas und Asiens einen Treueschwur auf den (inzwischen getöteten) "Kalifen" al-Baghdadi leisteten und dem IS anschließend formell als sogenannte Provinz angegliedert wurden. So konnte die Kernorganisation ihre global-jihadistische Ideologie in lokale Konflikte hineintragen und sich stets auf ein Netzwerk aus regionalen Ablegern stützen, das vielfach Anschläge mit etlichen Todesopfern in ihrem Namen verübte. Gleichzeitig stand und steht der IS in stetiger Konkurrenz zum al-Qaida-Netzwerk, der zweiten großen global agierenden Terror-Organisation. Beide erheben einen Alleinvertretungsanspruch, sprechen sich propagandistisch gegenseitig die Legitimität zur Führung des weltweiten Jihad ab und stehen sich in den verschiedenen Konfliktregionen auch militärisch im Kampf um Territorien und lokalen Einfluss gegenüber. Das "Kalifat" gilt als militärisch endgültig besiegt Durch das militärische Vorgehen lokaler Akteure (z.B. des syrischen Regimes, der Freien Syrischen Armee (FSA) oder der kurdisch geführten Syrian Democratic Forces - SDF) sowie durch Anti-IS-Operationen internationaler Allianzen konnte der Islamische Staat bis Ende 2017 bereits zu weiten Teilen aus seinem Kerngebiet in Syrien und dem Irak verdrängt werden. Spätestens seit dem Fall der letzten ISHochburg im ostsyrischen Baghuz im März 2019 gilt das "Kalifat" als militärisch und territorial vollständig besiegt. Trotz des Verlustes seines Herrschaftsgebietes ist der IS jedoch weiterhin zu Kampfhandlungen fähig: Durch seine zahlreichen "Provinzen" vor allem in Afrika und Asien werden wiederkehrend fatale Anschläge gegen lokale Sicherheitskräfte, internationale Akteure und Zivilisten ausgeübt - davon der zuletzt verheerendste noch 2019 durch Bombenattentate am Ostersonntag auf mehrere Kirchen und Hotels in Sri Lanka mit über 250 Toten und fast 500 Verletzten. Verlagerung der IS-Aktivitäten in den Untergrund Mit dem territorialen Niedergang des IS ging eine Restrukturierung der Organisation einher, bei der ihre Aktivitäten in den irakischen und syrischen Untergrund sowie in die virtuelle Welt verlegt wurden. Aus dieser dezentralen Zellenstruktur heraus beweist der IS seither in einer asymmetrischen Kriegsführung kontinuierlich 103 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode seine Schlagkraft in Form von regelmäßigen Angriffen und Anschlägen vor allem auf die lokalen Sicherheitskräfte. Obwohl der IS auch große Teile seiner technischen Infrastruktur verloren hat, gelang es den Jihadisten in den letzten Jahren, ununterbrochen ihre Propagandaprodukte über das Internet zu verbreiten. Zehntausende Anhänger auf der ganzen Welt teilten weiterhin kontinuierlich KampfBotschaften oder regelrechte "Werbekampagnen" des IS-Anführers, durch die der Einheitsgedanke des "Kalifats" weiter aufrechterhalten werden soll. Verstärkt wird darin auch zu einfach zu planenden Einzeltäteranschlägen gegen die "Feinde des Islams in ihren Heimatländern" aufgerufen und an den Zusammenhalt der weltweiten Unterstützergemeinschaft des IS appelliert. Gleichzeitig übertrug der IS seinen externen Provinzen in Folge des eigenen Gebietsverlustes zunehmend mehr Verantwortung und lagerte somit seine terroristischen Aktivitäten sozusagen aus. Dies zeigt sich in der gleich bleibend hohen bzw. teilweise ansteigenden Intensität lokaler Anschlagszahlen durch Regionalableger oder IS-naher Gruppierungen im Verlauf der letzten beiden Jahre. Durch die expansionistischen Bestrebungen der Terrororganisation wurde zudem vor allem im Jahr 2019 die Zahl der offiziell durch den IS-"Kalifen" anerkannten und ausgerufenen Provinzen noch einmal erweitert. Weitere Entwicklung des IS nach dem Tod des ersten "Kalifen" Auch im Berichtsjahr hielt der bereits 2018 einsetzende Trend des IS, dem militärischen Niedergang mit moralverstärkender Propaganda und verstärkten Aufrufen zu Einzeltäteranschlägen zu begegnen, weiter an. Darauf hatte auch der Tod des ersten "Kalifen" al-Baghdadi infolge eines amerikanischen Militäreinsatzes Ende OkDer ehemalige IS-Anführer Abu Bakr alBaghdadi wurde Ende 2019 durch einen tober 2019 keinen maßgeblichen Einfluss. BeDrohnenangriff getötet reits wenige Tage nach dessen Ableben präsentierte der IS mit Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurashi einen legitimierten Nachfolger, der vermutlich aus Sicherheitsgründen zwar bisher keine physische Präsenz zeigte, jedoch den Ausbau des autonomen Untergrund-Netzwerkes sowie die intensive Online-Propaganda weiter fortführte. 104 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Aufgrund unterschiedlicher Faktoren ist die Lage in den Konfliktgebieten in Syrien und Irak seit längerem äußerst angespannt und instabil. Dazu führten unter anderem seit 2019 der Rückzug amerikanischer Soldaten aus der Region und der damit verbundene Rückgang von Anti-Terror-Operationen der US-geführten Koalition sowie im aktuellen Berichtszeitraum die Schwächung sämtlicher Militärverbände durch den Ausbruch der COVID-19-Pandemie. Auch wenn der IS der Pandemie ebenso ausgesetzt ist, scheint es ihm dennoch gelungen zu sein, den gesunkenen Verfolgungsdruck zu nutzen. Reorganisation von kleineren IS-Gruppierungen in der Region und die dadurch bereits seit dem Vorjahr gestiegene Anzahl an Anschlägen durch den IS in Syrien und im Irak untermauern diese Vermutung. Erst kürzlich - im Januar 2021 - gelang ihm zum ersten Mal seit drei Jahren auch in der irakischen Hauptstadt in Baghdad erneut ein schwerer Anschlag. Es ist davon auszugehen, dass - sollte der Verfolgungsdruck in der Region weiterhin auf einem schwachen Niveau verweilen - der IS diese Gelegenheit für seine weitere Konsolidierung nutzen wird und somit das Sicherheitsdefizit auch für die internationale Gemeinschaft weiter steigt. Im aktuellen Berichtszeitraum haben auch in Europa erneut terroristische Anschläge mit Bezug zum IS stattgefunden. Neben Frankreich, Großbritannien und Deutschland ereignete sich der jüngste am 2. November in Wien (Österreich) (siehe Kapitel 5.1). Strukturen des Islamischen Staates in Schleswig-Holstein sind nach wie vor nicht bekannt. Es liegen jedoch Hinweise auf Bezüge von Einzelpersonen zu dieser Terrororganisation vor. 4.1.2 Das al-Qaida-Netzwerk Die Organisation al-Qaida (AQ, arabisch für: die Basis) wurde Mitte der 1980er Jahre von Osama bin Laden gegründet, einem Saudi-Araber, der die MujahidinBewegung (arabisch für: Jihad-Kämpfer) während der Bürgerkriege unter anderem gegen die damals in Afghanistan stationierten sowjetischen Truppen unterstützte. Während dieser Konflikte entwickelte er die Vision eines internationalen Jihad, unter der er verschiedene jihadistische Gruppierungen in der Region vereinigte. 105 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Globalisierung des Jihad Al-Qaida gelang es in den darauffolgenden Jahren, ein enges Netzwerk an lokalen Ablegern aufzubauen, durch die Osama bin Ladens Jihad-Konzept propagandistisch aufgearbeitet und weltweit verbreitet wurde. Einige Untergruppen der Organisation etablierten unter der "Marke" al-Qaida bald eigene Strukturen, zum Teil eigene Propagandaaktivitäten und agierten so als schlagkräftige Zweigstellen der Mutterorganisation (Kern al-Qaida). Dadurch konnten weltweit fatale Attentate hauptsächlich gegen zivile Ziele begangen werden, darunter auch die verheerendsten Anschläge des 11. September 2001 in den Flagge der al-Qaida-Mutterorganisation - auch als Kern-al-Qaida bezeichnet USA. Neben diesen internationalen Anschlägen verübten die AQ-Regionalableger zudem zahlreiche Terrorakte in ihren jeweiligen Heimatländern und trugen so zur permanenten Destabilisierung dieser Regionen bei. Konkurrenz zum IS Mit der Entstehung des IS-"Kalifats" im Jahr 2014 nahm die Bedeutung al-Qaidas als führende Gruppierung des globalen Jihads schlagartig ab. Zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges konnte sich mit der Jabhat an-Nusra (JaN; später Hay'at Tahrir ash-Sham - HTS) zwar auch ein Ableger von Kern-al-Qaida in der Region etablieren. Dieser konnte sich jedoch nicht gegen den IS durchsetzen und verfügte lediglich über ein beschränktes Einflussgebiet. Veröffentlichungen aus den Führungszirkeln der HTS und Kern-al-Qaidas sowie die aktuelle strategische Handlungsweise der HTS deuten außerdem darauf hin, dass es möglicherweise zu einem Bruch zwischen der Hauptorganisation und ihrem Ableger gekommen sein könnte. In Syrien ist daher de facto al-Qaidas einzig verbliebener Ableger der 2018 aus mehreren AQ-nahen Gruppierungen entstandene Milizenzusammenschluss Tanzim Hurras ad-Din (THD; "Organisation der Wächter der Religion"). Des Weiteren stehen sich auch in anderen Regionen Afrikas und Asiens lokale Ableger von al-Qaida und dem IS militärisch gegenüber und kämpfen um Macht und Territorien, so z.B. im Jemen, in Libyen, Ägypten oder Afghanistan. 106 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Stärkung des internationalen Netzwerkes Trotz der militärischen Niederlage ihres Kontrahenten, dem Islamischen Staat, und seiner personellen und organisatorischen Verluste gelang es al-Qaida bisher nicht, wieder die führende Rolle als global-jihadistische Organisation einzunehmen. Die Aktivitäten der Terrororganisation im Nahen Osten (vor allem durch al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAH) im Jemen, die HTS und anderen Milizen in Syrien sowie durch Operationen in ihren Ausbildungsund Rückzugsorten im afghanischpakistanischen Grenzgebiet) sind jedoch nach wie vor ein anhaltend destabilisierender Faktor für die Sicherheitslage in der Region. Ebenso wie der IS, gegen den sich die Operationen der Anti-Terror-Koalition unter Führung der USA im syrischirakischen Konfliktgebiet vorrangig richten, profitierte auch al-Qaida seit etwas über einem Jahr von den Rückgängen dieser Missionen in der Region. Ein Anstieg militärischer Angriffe regionaler AQ-Ableger sowie neuer, sich zu al-Qaida bekennender Gruppierungen sind die Folge. Diese Tätigkeiten werden auch weiterhin durch die Kern-Organisation verstärkt propagandistisch und medial verarbeitet, um internationale Reichweite und Geschlossenheit zu suggerieren sowie den alten Führungsanspruch gegenüber dem IS wieder durchzusetzen. Gefahr durch Einzeltäteranschläge des internationalen Netzwerks Sowohl im aktuellen wie auch im vergangenen Berichtszeitraum musste auch alQaida durch Tötungen von wichtigen Führungskadern in mehreren Regionen personelle Rückschläge kompensieren. Die Organisation konzentriert sich daher nun noch stärker auf die Vernichtung des "fernen Feindes" - vor allem der USA - um dadurch wieder Handlungsfreiheit in ihren eigentlichen Operationsgebieten erlangen zu können. Diese Agenda verbreitet Kern-AQ in Veröffentlichungen sowie in Videooder Audio-Botschaften ihres Anführers al-Zawahiri kontinuierlich - zuletzt 2019 durch eine Videobotschaft am Jahrestag der Der al-Qaida-Anführer Aiman al-Zawahiri ruft im Berichtsjahr in seiner Videobotschaft anlässlich des JahAnschläge des 11. Septembers. restages der Anschläge vom 11. September 2001 zum weiteren Bekämpfen aller "Feindes des Islams" auf 107 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Dementsprechend bleibt auch die Gefährdungslage für die europäischen Staaten als Verbündete der USA und Israel abstrakt hoch. Überregionale Veröffentlichungen der Organisation richten sich weiterhin meist allgemein an die internationale Unterstützerszene und rufen zu Einzeltäteranschlägen auf Zivilisten im Westen auf. Die verschiedenen AQ-Ableger betreiben zusätzlich eigene Propagandaarbeit und fokussieren sich dabei auf ihre jeweiligen regionalen Schwerpunkte. Auf diese Weise wird ebenfalls das Bild einer global handlungsfähigen und aktiven Terrororganisation weiter aufrechterhalten. Hinsichtlich der Entwicklung al-Qaidas und vor allem ihrer Ableger in Syrien und Irak könnte - ebenso wie beim IS - die unstete politische Lage für die Zukunft eine nicht unerhebliche Rolle spielen, sollte die Unterstützung westlicher Anti-Terror-Einheiten für staatliche Kräfte in der Region weiter abnehmen und der Terrororganisation Raum zur weiteren Konsolidierung geben. In den Reihen der AQ-nahen syrischen Gruppierungen THD und vor allem in der HTS befinden sich zudem mutmaßlich auch Kämpfer mit Deutschlandbezug, bei denen abzuwarten bleibt, wie und wohin sie sich zukünftig in Korrelation mit der Situation vor Ort orientieren werden. In Schleswig-Holstein sind weiterhin keine Strukturen des al-Qaida-Netzwerkes erkennbar. Zu Einzelpersonen liegen jedoch Hinweise auf mögliche Kontakte oder Sympathien zur Terrororganisation vor. 4.2 Weitere islamistische Organisationen Zu den wichtigsten anderen terroristischen Gruppierungen, deren Mitglieder und Sympathisanten vom Verfassungsschutz in Deutschland beobachtet werden, zählen außerdem die Taliban (persisch für: Schüler), al-Shabab (Kurzbezeichnung für: Harakat al-Shabab al-Mujahidin - Bewegung der Jihadkämpfer-Jugend) und die HAMAS (kurz für: Harakat al-Muqawama al-Islamiyya - die Islamische Widerstandsbewegung). Diese Organisationen agieren überwiegend lokal in ihren jeweiligen Heimatregionen. Das Ziel der Taliban ist die Etablierung eines islamischen Emirates in ganz Afghanistan, während al-Shabab einen islamischen Staat in Somalia und den daran angrenzenden Ländern anstrebt. Beide Gruppierungen unterhalten enge Kontakte zu al-Qaida und wenden Gewalt als vorrangiges Mittel zur Erreichung ihrer Ziele an. Die HAMAS zeigt in ihrer Heimatregion in den palästinensischen Gebieten - vor allem im Gazastreifen - ebenfalls ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft. Dies hält sie für notwendig, um ihr Hauptziel, die Vernichtung des 108 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Staates Israel, durchsetzen zu können. Deutschland wird von diesen Gruppierungen vorrangig als Rückzugsraum, als Basis für die Sammlung von Spenden und die Rekrutierung neuer Anhänger und Unterstützer genutzt. Die Logos der terroristischen Organisationen Taliban, al-Shabab und HAMAS (von links nach rechts) In Schleswig-Holstein sind zu diesen drei terroristischen Organisationen keine Regelstrukturen bekannt. Es liegen jedoch Hinweise auf Einzelmitglieder oder einzelne Personen mit Bezügen zu den Gruppierungen vor. Neben vornehmlich terroristisch/jihadistisch einzustufenden Organisationen gehören auch islamistische Gruppierungen zu den Beobachtungsobjekten des Verfassungsschutzes, die innerhalb der Bundesrepublik terroristische Mittel offiziell ablehnen. Dennoch bleibt dabei das Spektrum ihrer Einstellung zur Gewalt groß. Zum einen gibt es jene Organisationen, die in ihren Ursprungsländern gezielt gewaltsam vorgehen, in Deutschland und Schleswig-Holstein jedoch aus taktischen Gründen darauf verzichten. Andere Gruppierungen propagieren Gewalt zumindest als legitimes Mittel oder billigen Terrorakte anderer Islamisten, auch wenn sie selbst keine anwenden. Und schließlich gibt es wiederum Islamisten, die zwar letztlich auch verfassungsfeindliche Ziele verfolgen, dabei aber die Anwendung von Gewalt grundsätzlich ablehnen. Diese sogenannten Legalisten bewegen sich in Deutschland innerhalb des gesetzlichen Rahmens und versuchen, mit legalen Mitteln ihre angestrebten extremistischen Vorhaben umzusetzen. Die wichtigsten dieser Organisationen, die in Schleswig-Holstein zwar keine eigentlichen Strukturen haben, zu denen es jedoch Hinweise auf Einzelmitglieder, Sympathisanten oder strukturelle Bezüge zu angegliederten Vereinen gibt, werden nachfolgend erläutert. 109 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 4.2.1 Die Muslimbruderschaft/Muslimbrüder (MB; arabisch: alIkhwan al-Muslimun) Die Muslimbruderschaft (kurz: MB) ist mit ihrer Gründung im Jahr 1928 die älteste und eine der einflussreichsten sunnitisch-islamistischen Bewegungen der Gegenwart. Sie verfügt über ein internationales Netzwerk mit Zweigorganisationen in über 80 Ländern, davon auch zahlreiche in Europa. Neben diesen dient der MB ein Geflecht von Unterstützern in vielen islamischen Ländern als organisatorischer Rückhalt. Aufgrund ihrer Logo der Muslimbruderschaft ägyptischen Herkunft und des karitativen Wirkens in ih(MB) rem Heimatland gehören ihr außerdem die Sympathien großer Teile der ägyptischen Bevölkerung - auch von solchen, die grundsätzlich nicht extremistisch eingestellt sind. Die Muslimbruderschaft strebt als Hauptziel die Rückkehr zu den Ursprüngen des Islams und die Errichtung eines islamistischen Staates auf der Basis von Koran und Sunna an. Dabei legt die Organisation in ihrer internationalen Ausrichtung den Fokus stark auf politische Arbeit und soziale Projekte, um ihren Einfluss in den jeweiligen Ländern auszuweiten und so eine Unterstützer-Basis für die Durchsetzung ihrer Ziele zu schaffen. Sie zählt somit für die deutschen Sicherheitsbehörden zu den legalistischen Gruppierungen. Dennoch existieren weltweit auch Ableger der Muslimbruderschaft, die Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele betrachten - z.B. die HAMAS. Dementsprechend wurde in ihrem Heimatland Ägypten die islamistische Mutterorganisation in Gänze 2013 als Terrororganisation verboten. Generell vertritt die MB - abgesehen von einem ambivalenten Gewaltverhältnis - unverkennbar eine antidemokratische und antisemitistische Grundhaltung und richtet sich dadurch klar gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik. Dies gilt auch für die zahlreichen Vereine und Organisationen in Deutschland, für die sich eine mehr oder weniger ausgeprägte Nähe zur MB nachweisen lässt. Seit nunmehr einigen Jahren lässt sich eine zivilgesellschaftliche Einflussnahme der Muslimbruderschaft durch verschiedene Zweigorganisationen sowie eine direkte oder indirekte Beeinflussung von islamischen Vereinen und Moscheegemeinden in der Bundesrepublik feststellen. 110 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Das bundesweite Personenpotenzial der Organisation liegt bei über 1400 Personen. In Schleswig-Holstein lassen sich weiterhin keine festen Strukturen der MB erkennen, jedoch gibt es Hinweise auf Einzelpersonen mit Sympathien oder aktiven Bezügen zu dieser Gruppierung. Während der Corona-Pandemie stellten sich viele der MB-nahen Vereine in Deutschland über Online-Medien als Ratgeber und Ansprechpartner in Fragen zum Umgang mit dem Virus im praktischen sowie im religiösen Sinn dar. 4.2.2 Die Furkan-Gemeinschaft (türkisch: Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) Die Furkan-Gemeinschaft wurde 1994 in der Türkei gegründet. Als geistiges Oberhaupt der Organisation und ihrer Anhängerschaft in Deutschland fungiert Alparslan Kuytul, der Gründer und Anführer der in der südtürkischen Stadt Adana ansässigen "Furkan Stiftung für Bildung und Fürsorge" ("Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi"). An dieser lehnt sich der deutsche Zweig der Organisation auch ideologisch an, wobei neben der Logo des deutschen Ablegers Tradition des türkischen Islamismus auch Bezüge zum der Furkan-Gemeinschaft arabischen Islamismus zu beobachten sind. Ähnlich der Muslimbruderschaft agiert die Furkan-Gemeinschaft dabei legalistisch. Ziel der Furkan-Gemeinschaft ist die Erreichung einer "islamischen Zivilisation", die alle Muslime in sich vereinigt und in der die Sunna des Propheten und der Koran von zentraler Bedeutung und einzig wegweisend sind. Westliche Werte und die Staatsform der Demokratie werden daher strikt abgelehnt. Mit dem Selbstverständnis einer "Vorreiter-Generation" setzt die Furkan-Gemeinschaft zur Erreichung ihrer Ziele neben einer ausgeprägten Missionierungsarbeit (da'wa) auf eine starke Bildungsarbeit, und das für alle Altersgruppen. Man richtet sich dabei ausdrücklich nicht allein an Personen mit türkischem Hintergrund, sondern wirbt offen dafür, dass auch Menschen mit einem anderen Migrationshintergrund oder Konvertiten willkommen sind, sich der Furkan-Gemeinschaft anzuschließen. Festzustellen ist außerdem eine starke Aktivität von Frauen innerhalb der Furkan-Gemeinschaft, die besonders im privaten Bereich zur Wirkung kommt. Darüber 111 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode hinaus zeigt sich, dass die Organisation besonders bei jungen Menschen mehr und mehr Zuspruch findet, was möglicherweise auch darin begründet liegt, dass die Furkan-Gemeinschaft gezielt diese Klientel anspricht und auch viele junge Prediger für die Organisation tätig sind. Bevorzugt nutzt die Furkan-Gemeinschaft zur Verbreitung ihrer Ideologie und zur Ansprache und Gewinnung neuer Anhänger verschiedene Websites und Profile in sozialen Netzwerken sowie auf YouTube. Diese generelle Konzentration auf die Nutzung von Online-Medien für die Bildungsarbeit und eine dementsprechend fundierte Expertise im Umgang damit ermöglichte der Furkan-Gemeinschaft auch in Corona-Zeiten eine beständige Missionierungsarbeit - z.B. durch die rasche Umstellung von Präsenz-Seminaren auf Online-Veranstaltungen via "Zoom". Neben verschiedenen von der Organisation betriebenen Kulturund Bildungszentren in Berlin, Hamburg, Bayern und Nordrhein-Westfalen bilden sich zunehmend auch Ortsgruppen in der Peripherie heraus - so auch in Schleswig-Holstein. Außer den Mitgliedern dieser Bezirksvereine werden durch die Sicherheitsbehörden zudem Einzelmitglieder beobachtet, die erkennbare Bezüge zur Furkan-Gemeinschaft aufweisen. Die Zahl der Anhängerschaft der Organisation in Deutschland bewegt sich im Bereich von 400 Personen, Tendenz steigend. In Schleswig-Holstein liegt das Personenpotential im mittleren zweistelligen Bereich. 4.2.3 Die Hizb ut-Tahrir und ihr nahestehende Gruppierungen Die Hizb ut-Tahrir (HuT, Arabisch für: die Partei der Befreiung) wurde im Jahr 1953 in Jerusalem mit dem Ziel der "Befreiung" (arabisch: tahrir) aller (in ihrer Wahrnehmung) unterdrückter Muslime gegründet. Ihre Mitglieder versuchen seither, ein panislamisches - also alle Muslime jenseits ihrer Ethnie umfassendes - weltweites Kalifat zu errichten und lehnen jede andere Staatsform als "blasphemisch" ab. Die HuT vertritt außerdem die Ansicht, dass GeLogo der HuT walt als Mittel zur "Selbstverteidigung" das uneingeschränkte Recht eines jeden Muslims sei. Dementsprechend billigt die HuT die meisten Gewalttaten islamistischer Gruppierungen gegen Angriffsziele verschiedenster Art. 112 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Aufgrund dieser Gewaltaffinität und ihrer extremistischen, den demokratischen und rechtsstaatlichen Werten Deutschlands widersprechenden Ausrichtung wurde die Hizb ut-Tahrir bereits Anfang des Jahres 2003 durch das Bundesinnenministerium mit einem Betätigungsverbot belegt. Daher fokussieren sich die Aktivitäten der "Befreiungspartei" in Deutschland vorwiegend auf die Rekrutierung neuer Anhänger und die Verbreitung ihrer Ideologie außerhalb öffentlicher Kanäle. Dem Internet und den sozialen Medien fällt hierbei eine herausragende Rolle zu. Die Mitglieder der HuT treten zumeist nicht offen in Erscheinung, sondern versuchen über persönliche Kontakte ein Vertrauensverhältnis herzustellen, um so mittelund langfristig neue Mitglieder und Sympathisanten für sich zu gewinnen und an sich zu binden. Von den islamistischen in den sozialen Netzwerken besonders aktiven Gruppierungen, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen, sind besonders zwei hervorzuheben: Generation Islam (GI) und Realität Islam (RI), mit Sitz in Hamburg bzw. Hessen, sind zwei Initiativen, die im letzten Jahr durch solidarische Flyer-Kampagnen und Online-Petitionen zu verschiedenen kontroversen Islam-Themen zunehmend steigende Follower-Zahlen und eine hohe mediale Aufmerksamkeit erreicht haben. Kernideologie bei der Netzwerkarbeit der beiden Gruppierungen ist eine angeblich staatlich gesteuerte Islamfeindlichkeit und ein fingierter Assimilationszwang in die westliche "Wertediktatur". Als einzigen Ausweg propagieren GI und RI dabei die absolute Wahrung der islamischen Identität durch eine Abkehr und eine Abgrenzung von der westlichen Gesellschaft, was auch eine ablehnende Haltung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und Rechtsstaatlichkeit impliziert. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie war auch im Berichtszeitraum eine starke Aktivität der beiden Gruppierungen im Internet zu beobachten. Hierbei bedienten sie sich unter anderem des Narratives, dass sämtliche staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie - vor allem die Moscheeschließungen in der Zeit des Fastenmonats Ramadan - antimuslimische Hetze und die mediale Berichterstattung zu Muslimen generelle Islamfeindlichkeit verkörperten. Die HuT ist in über 40 Staaten mit etwa einer Million Mitglieder präsent. In Deutschland sind ihr derzeit etwa 600 Anhänger zuzurechnen. Zu den Gruppierungen RI und GI lassen sich in Einzelfällen auch Bezüge nach Schleswig-Holstein feststellen. 113 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 4.2.4 Die Hizb Allah (arabisch für: die Partei Gottes) Die Hizb Allah (zu Deutsch: "Partei Gottes") wurde 1982 in Folge des Einmarsches israelischer Truppen im Libanon auf Initiative des Iran gegründet. Sie entwickelte sich zunehmend zu einer institutionell und funktional vielschichtigen, sozial und politisch agierenden Bewegung, die starke ideologische und strukturelle Bindungen zum Iran aufweist. Die schiitischislamistische Organisation propagiert den bewaffneten Kampf gegen Israel - den Staat, den sie als illegitime Besatzungsmacht palästinensischen Bodens ansieht. Zudem sind Teile der Hizb Allah paramilitärisch organisiert und aktiv, weshalb die gesamte Organisation unter anderem in Israel als terroristisch eingestuft ist. In Deutschland beschränkte sich die Hizb Allah bisher daLogo der Hizb Allah rauf, Spenden zu sammeln, neue Mitglieder anzuwerben und insgesamt die in Deutschland lebenden Libanesen an die heimatliche Organisation zu binden. Ein wichtiges demonstratives Ereignis, das auch von Anhängern der Hizb Allah sowie von anderen schiitisch-extremistischen Organisationen besucht wird, ist die antiisraelische Kundgebung zum sogenannten al-Quds-Tag (arabisch für: Jerusalemtag (siehe auch Kapitel 3.1). Am 30. April trat ein Betätigungsverbot des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) gegen die Hizb Allah sowie zugehöriger Vereine und Teilorganisationen in Kraft. Die Verbotsverfügung des BMI stützt sich auf SS 3 Abs. 1 i.V.m. SS 15 Abs. 1 und SS 18 Satz 2 des Vereinsgesetzes. Es geht dabei im Wesentlichen um die Feststellung, dass der Zweck und die Tätigkeiten der "Hizb Allah" den Strafgesetzen zuwiderlaufen und dass sich die Organisation gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Da es sich bei der Hizb Allah um eine nicht-inländische Organisation handelt, zielt das Betätigungsverbot primär darauf ab, innerhalb Deutschlands für sämtliche Tätigkeiten der Hizb Allah selbst sowie für Aktivitäten zu ihren Gunsten eine rechtliche Strafverfolgungsgrundlage zu schaffen. Im Bundesgebiet werden der Hizb Allah mehr als 1.200 Anhänger zugerechnet, die sich unter anderem in regionalen Moscheevereinen treffen. In Schleswig-Holstein konnten Einzelpersonen im niedrigen zweistelligen Bereich mit direkten sowie vereinzelte Vereine mit zum Teil indirekten Bezügen zur Hizb Allah festgestellt werden. 114 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 4.2.5 Einfluss regierungstreuer Iraner auf in Deutschland lebende Schiiten Die legalistische Gruppierung der sogenannten regierungsoder regimetreuen Iraner umfasst mehrere deutschlandweit aktive schiitisch-extremistische Organisationen, die danach streben, auf in der Bundesrepublik lebende Schiiten Einfluss zu nehmen. Im Mittelpunkt der Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden steht vor allem der islamistische Verein "Islamisches Zentrum Hamburg e.V.", kurz IZH, der zugleich Träger der prominent an der Hamburger Außenalster gelegenen "Imam-Ali-Moschee" ist. Das IZH stellt eine iranische bzw. stark durch den Iran beeinflusste Einrichtung dar, die zugleich Ausdruck davon ist, dass neben den sunnitisch-islamistisch ausgerichteten Gruppierungen auch schiitische extremistische Kräfte ihre Vormachtstellung, ihre Strukturen und ihre Ideologie in Deutschland auszudehnen suchen. Das IZH gilt zum einen als ein bedeutender Propagandaapparat, zum anderen aber auch als wichtige Schnittstelle zwischen Iran und Deutschland sowie als eines der Zentren iranischer Einflussnahme in Europa. Der Leiter des Vereins gilt dabei als Vertreter des Revolutionsführers Khamenei in Europa und wird entsprechend von Teheran aus ernannt. Wie alle pro-iranischen Einrichtungen orientiert sich das IZH am Vorbild des islamischen Gottesstaates und dem Gedankengut der Revolution von 1979 mit dem Ziel der Expansion und Islamisierung der gesamten Welt. Westliche Werte, freiheitliches Gedankengut oder die freiheitliche demokratische Grundordnung stehen zu dem im Widerspruch. Aufgrund der Historie und der Erzfeindschaft zwischen Iran und Israel lässt sich außerdem in den Lehren des IZH eine starke antisemitische und antiisraelische Grundeinstellung feststellen, die sich unter anderem auch in der expliziten Teilnahme an den Demonstrationen des jährlich unter anderem in Berlin stattfindenden al-Quds-Tag äußert. Die Anhängerund Unterstützernetzwerke des IZH, die mit ihm verbundenen Zahlungsströme und die Verflechtungen mit anderen schiitisch-extremistischen Moscheen und Vereinen reichen weit über Hamburgs Grenzen hinaus, umfassen Schiiten unterschiedlicher Nationalitäten und wirken über die Religion hinaus bis in Bereiche wie Bildung oder Sport hinein. Es gibt zudem auch Hinweise darauf, dass 115 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode das IZH die schiitischen "Brüder" der Hizb Allah-Anhängerschaft unterstützte - zumindest noch vor dem Betätigungsverbot der Hizb Allah. Die Funktionäre und Fürsprecher des IZH versuchen zwar Anschluss an die Gesellschaft zu suggerieren und nutzen neben einer aktiven Öffentlichkeitsarbeit etwa Einladungen zu unterschiedlichen Diskussionsformaten oder den "Tag der offenen Moschee", um Fürsprecher und Zugang zu einflussreichen Entscheidungsträgern auf politischer Ebene zu finden. Auf der anderen Seite ruft der Verein jedoch immer wieder durch äußerst fragwürdige Aktionen zahlreiche Kritiker auf den Plan, wie im Januar, als ein Trauergottesdienst für den durch die USA getöteten iranischen General Qasem Soleimani in der Imam-Ali-Moschee abgehalten wurde. Soleimani, unter anderem Kommandeur der iranischen terroristischen al-Quds-Brigaden und selbst auf der EU-Terrorliste, war dabei durch Gemeindemitglieder des IZH als Märtyrer geehrt worden. Bezüglich des bundesweiten Personenpotenzials des IZH und weiterer Organisationen regimetreuer Iraner sind genaue Zahlenangaben aufgrund der Diversität des Phänomens nicht möglich. In Schleswig-Holstein lassen sich Einzelpersonen unter anderem mit Verbindungen zum IZH feststellen, deren Zahl sich im niedrigen zweistelligen Bereich bewegt. 5 Entwicklung der Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland und in Schleswig-Holstein Auch im aktuellen Berichtszeitraum zeigt sich die Bedrohungsund Gefährdungslage durch den islamistischen Terrorismus und Jihadismus für die Bundesrepublik und die einzelnen Länder weiterhin konstant hoch. Besonders die beiden größten, global agierenden Terrororganisationen, der sogenannte Islamische Staat (IS) und al-Qaida, stellen mit ihren zahlreichen regionalen Ablegern und den ihnen ideologisch nahestehenden kleineren Gruppierungen weltweit nach wie vor die größte Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands dar. Dem IS, der zwar seit 2019 als militärisch besiegt gilt und der über kein Territorium mehr verfügt, ist es trotz des anhaltend hohen Verfolgungsdrucks durch die Sicherheitsbehörden gelungen, sich an die veränderten Rahmenbedingungen in Syrien und im Irak anzupassen. Die Terrororganisation konnte ihre Strukturen im Untergrund weiter ausbauen und steuert so die Aktivitäten in ihren sogenannten Provin116 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 zen weltweit. Durch diese und die kontinuierliche Propaganda vor allem über Online-Kanäle zeigt der IS auch im aktuellen Berichtsjahr seine ungebrochene globale Handlungsfähigkeit. Im Berichtsjahr äußerte sich dies nicht zuletzt auch durch die unter anderem in Waldkraiburg (Deutschland), London (Großbritannien), Paris (Frankreich) und Wien (Österreich) durchgeführten Einzeltäteranschläge, die durch Personen verübt wurden, welche mit der Terrororganisation ideologisch verbunden oder durch sie motiviert worden waren. Die in steter Konkurrenz zum IS stehende jihadistische al-Qaida verfolgt ebenfalls verstärkt die Agenda, ihre Attraktivität für Jihadisten durch internationale Aktivitäten wieder zu steigern. Durch die Bestrebungen und Fähigkeiten dieser beiden Organisationen, sich jede bietende Gelegenheit für gesteuerte Anschläge mittels (selbst-)radikalisierter Täter gegen ihr Feindbild - den Westen - zu nutzen, besteht für Deutschland die anhaltend hohe abstrakte Gefahr islamistisch motivierter Gewalttaten weiterhin fort. 5.1 Lageeinschätzung im Bereich des islamistischen Terrorismus Im aktuellen Berichtsjahr kamen erstmals seit dem Jahr 2017 erneut islamistische Terroranschläge, in einem Fall mit Todesopfer, auf deutschem Boden zur Ausführung. Bereits im Frühjahr erfolgte eine Reihe von Anschlägen gegen Geschäfte und türkischstämmige Ladeninhaber in der Stadt Waldkraiburg in Bayern. Der damals 25jährige Täter konnte noch im Mai festgenommen werden. Er ist deutscher Staatsbürger und ein IS-Sympathisant und soll sich in den letzten Jahren radikalisiert haben. Hintergrund der Anschlagsziele war laut Ermittlern vermutlich das vehemente militärische Vorgehen der Türkei gegen den IS und der dadurch entwickelte Hass des Täters gegen den türkischen Staat und Menschen türkischer Herkunft. Die beim Täter aufgefundene Menge an Sprengstoff und Zündmitteln legt den Verdacht nahe, dass er weitere Anschläge geplant hatte. Im Dezember erfolgte die Anklage unter anderem wegen versuchten Mordes in 31 Fällen und gefährlicher Körperverletzung in vier Fällen sowie wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nach SS 89a StGB. Am Abend des 18. August ereignete sich des Weiteren auf der Autobahn A100 im Stadtgebiet Berlin eine Unfallserie mit mehreren Zweirädern und PKWs, die - nach derzeitigem Ermittlungsstand - ebenfalls durch einen islamistisch motivierten Täter 117 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode verursacht worden war. Der 30-jährige Iraker soll nach bisherigen Erkenntnissen absichtlich vor allem Zweiradfahrer gerammt haben und verletzte dabei drei von ihnen schwer sowie drei Autofahrer leicht. Er wurde nach seiner Festnahme in eine psychiatrische Einrichtung verbracht. Gegen ihn wird wegen versuchten Mordes in mehreren Fällen ermittelt. Knapp zweieinhalb Monate später, am 4. Oktober, stach in der Dresdener Innenstadt eine Person mit einem Messer auf zwei männliche Touristen aus NordrheinWestfalen ein. Der tatverdächtige Syrer, der zunächst unerkannt entkommen und nach zwei Wochen schließlich festgenommen werden konnte, war den Behörden unter anderem im Zusammenhang mit islamistischen Vorfällen bereits bekannt und als sogenannter islamistischer Gefährder eingestuft. Eines der Opfer verstarb kurze Zeit später, das andere überlebte schwer verletzt. Gegen den 20-jährigen Syrer wird wegen Mordes, versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung ermittelt. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass er aus islamistischen Motiven gehandelt habe und seine beiden Opfer habe "auslöschen" wollen, weil er sie als Repräsentanten einer "ungläubigen" Gesellschaft sah. Neben diesen Attentaten in der Bundesrepublik erfolgten im aktuellen Berichtszeitraum zudem in den europäischen Nachbarländern Frankreich und Österreich sowie in Großbritannien zum Teil schwere islamistisch motivierte Anschläge. Am 2. Februar griff ein Attentäter in einer Einkaufsstraße in London mehrere Passanten mit einem Messer an und verletzte insgesamt drei Personen, bevor er durch die Polizei erschossen wurde. Der bereits wegen der Vorbereitung eines terroristischen Anschlags verurteilte Täter war eine Woche zuvor aus der Haft entlassen worden. Der IS reklamierte den Anschlag für anschließend für sich. Im April wurden zwei vor Geschäften wartende Menschen etwa 100 km südlich von Lyon (Frankreich) von einem sudanesisch-stämmigen Islamisten durch willkürliche Messerangriffe getötet sowie fünf weitere teilweise schwer verletzt. Der Täter hatte sich laut Ermittlungsergebnissen über das Leben in einem "Land der Ungläubigen" beschwert. Im selben Monat wurden außerdem zwei Motorrad-Polizisten bei einer Kontrolle in einem Pariser Vorort absichtlich von einem entgegenkommenden PKW angefahren und teils schwer verletzt. Der 29-jährige Fahrer hatte im Fahrzeug ein Küchenmesser und ein arabischsprachiges Bekennerschreiben bei sich, in dem er dem IS die Treue schwor. 118 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Im Zusammenhang mit der Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen durch das französische Satire-Magazin "Charlie Hebdo" attackierte am 25. September in der Nähe des Redaktionssitzes ein pakistanischer Staatsbürger zwei Mitarbeiter einer Medienproduktionsfirma mit einem Messer und verletzte diese schwer. Als Tatmotiv gab er später die "Verteidigung des Propheten" an. Ein besonders grausamer Anschlag ereignete sich am 16. Oktober ebenfalls in Frankreich. In einem Pariser Vorort wurde ein Geschichtslehrer auf offener Straße von einem 18jährigen Mann tschetschenischer Herkunft mit einem Messer enthauptet. Hintergrund der Tat war das Verwenden der erneut veröffentlichten Mohammed-Karikaturen im Unterricht des Lehrers, um über Glaubensund Meinungsfreiheit zu diskutieren. Etwa zwei Wochen später ermordete ein 21-jähriger Tunesier in Nizza (Frankreich) den Küster einer Kirche sowie zwei weibliche Kirchgängerinnen durch Messerstiche. Eine der Frauen wurde dabei ebenfalls fast enthauptet, so dass derzeit durch die Behörden neben der zeitlichen auch von einer ideologischen Nähe zum Tatmotiv des Tschetschenen ausgegangen wird. Der jüngste islamistisch motivierte Anschlag in Europa wurde am 2. November in Wien durch einen gebürtigen Österreicher nordmazedonischer Herkunft verübt. Der 20-jährige IS-Sympathisant erschoss in einem Amoklauf durch die Wiener Innenstadt vier Menschen und verletze mehr als 20 weitere Personen zum Teil schwer, bevor er selbst durch die Polizei erschossen wurde. Im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu möglichen Kontakten des Attentäters nach Deutschland wurden unter anderem in Schleswig-Holstein Durchsuchungsmaßnahmen durchgeführt (siehe Kapitel 7.1). Diese zahlreichen terroristischen Akte im aktuellen Berichtszeitraum zeigen einmal mehr, dass die Gefährdungslage in Europa und auch Deutschland permanent hoch ist und sich jederzeit in Form von gefährdungsrelevanten Ereignissen bis hin zu jihadistisch motivierten Anschlägen manifestieren kann. Nach wie vor stellen für Jihadisten sogenannte weiche Ziele, wie beispielsweise Weihnachtsmärkte, Konzerte oder Sportevents, die kaum oder nur schwer zu schützen sind, ein besonders symbolisches Ziel für terroristische Anschläge dar. Vor allem auch im Zusammenhang mit öffentlichkeitswirksamen islamkritischen Ereignissen, die sich direkt auf den Propheten Mohammed oder den Koran beziehen, ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass diese unter Umständen schwerwiegende, mitunter auch strafrechtlich relevante Reaktionen wie z.B. Demonstrationen, Bedrohungen oder Morde 119 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode seitens radikalisierter Islamisten zur Folge haben können. Wie im Berichtsjahr deutlich wurde, gehen islamistische Terroristen vermehrt dazu über, Menschen mit niedrigschwelligen Tatmitteln in ihrem alltäglichen Leben anzugreifen. Deutschland wird auch in Zukunft im unmittelbaren Zielspektrum verschiedener jihadistischer Organisationen stehen. Das abstrakte Gefährdungsrisiko wird außerdem zusätzlich weiter durch die Geschehnisse in der Krisenregion Syrien/Irak geprägt, vor allem durch die militärischen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem IS in dieser Region. Aktuell gehen die Sicherheitsbehörden von rund 2.040 Personen aus, die dem islamistisch-terroristischen Spektrum in Deutschland angehören. Diese Zahl verdeutlicht das aktuelle Bedrohungspotenzial und zeigt, vor welchen Herausforderungen die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder nach wie vorstehen. Durch die kontinuierlichen Ermittlungsund Aufklärungsarbeiten der deutschen Sicherheitsbehörden konnten seit dem schwerwiegenden Attentat von Anis Amri im Dezember 2016 bereits mehrere Anschlagsversuche islamistischer Terroristen erfolgreich verhindert werden. Auch im aktuellen Berichtszeitraum konnte bei Durchsuchungsmaßnahmen in Nordrhein-Westfalen eine mutmaßliche Zelle des sogenannten Islamischen Staates (IS) aufgelöst werden. Ihre fünf tadschikisch-stämmigen Mitglieder hatten sich bereits ausführlich auf mögliche Anschläge vorbereitet und standen in Kontakt mit Führungsmitgliedern des IS, um Anweisungen zu möglichen Anschlagsplanungen in Deutschland entgegenzunehmen. Vier der beteiligten Gruppenmitglieder wurden im April verhaftet, der vermutliche Anführer der Zelle befand sich bereits wegen eines anderen Vergehens in Haft. Die versuchten und durchgeführten Anschläge der vergangenen Jahre in Deutschland und Europa haben außerdem gezeigt, dass der IS weiterhin in der Lage ist, Attentate mit zum Teil hohen Opferzahlen in Europa durchzuführen. Dies ist vor allem deshalb von Bedeutung, da eine hohe Anzahl an Personen des islamistischjihadistischen Spektrums in Deutschland mit jihadistischer Motivation nach Syrien/Irak ausgereist ist. (siehe Kapitel 5.3) Bei diesen muss das Risiko einkalkuliert werden, dass sie möglicherweise dort unter anderem für mögliche Terroroperationen ausgebildet wurden. Die militärische Niederlage des IS ist daher kein Maßstab dafür, dass solche Personen nicht mehr in der Lage wären, Anschläge mit einfachen Tatmitteln in ihren Herkunftsländern durchzuführen. Sie werden deshalb von den Sicherheitsbehörden in besonderer Weise betrachtet. So stimmen sich in Schles120 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 wig-Holstein die Verfassungsschutzbehörde und das Landeskriminalamt unter Einbeziehung der Bundessicherheitsbehörden über die jeweils von solchen Rückkehrern ausgehende potenzielle Gefährdung und über zu treffende Maßnahmen ab. In diesem Rahmen bildet auch das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin die Grundlage für einen regelmäßigen Austausch der Sicherheitsbehörden untereinander. Auch in diesem Berichtsjahr gingen die Sicherheitsbehörden zahlreichen Hinweisen zu Personen nach, die mutmaßlich über Verbindungen zu terroristischen Gruppierungen wie dem IS verfügt haben. In einigen Fällen konnten dabei auch verifizierende Erkenntnisse erlangt werden, so dass weitere Aufklärungsmaßnahmen erforderlich wurden. 5.2 Wesentliche Faktoren für die Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus Wie in den vergangenen Jahren sind im aktuellen Berichtsjahr vier Faktoren maßgeblich für eine Beeinflussung der Sicherheitslage im Bereich des islamistischen Terrorismus in Deutschland und Schleswig-Holstein verantwortlich. Aufgrund der weltweit vorherrschenden Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Maßnahmen zu ihrer Eindämmung sind seit dem Frühjahr vor allem bei den Faktoren, die auf Reisebewegungen basieren, Auswirkungen dieser Einschränkungen feststellbar. Getarnt einreisende Jihadisten Die Migrationsbewegungen aus Krisengebieten nach Deutschland, die die Sicherheitsbehörden bereits in den letzten Jahren vor vielschichtige Herausforderungen gestellt haben, haben durch die zahlreichen pandemiebedingten und mitunter längerfristigen Grenzschließungen von Transitländern auf den üblichen Migrationsrouten erkennbar abgenommen. Nichtsdestotrotz gelang es auch im aktuellen Berichtszeitraum einer Anzahl an Personen - auf regulären oder irregulären Wegen - nach Deutschland einzureisen. Dabei liegt für die Sicherheitsbehörden auch weiterhin ein besonderes Augenmerk auf einer möglichen Einreise von Mitgliedern, Unterstützern und Sympathisanten islamistischer Terrororganisationen. 121 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Der seit dem letzten Jahr deutlich zu beobachtende Trend eines Rückgangs der Zuzugszahlen von Geflüchteten nach Deutschland vor allem aus den Kriegsund Krisengebieten im Nahen und Mittleren Osten, aus dem Balkan und Afrika wurde im aktuellen Berichtszeitraum durch die weltweite Pandemie zusätzlich erheblich verstärkt. Im Berichtsjahr sind demnach nur etwa 3.800 geflüchtete Personen nach Schleswig-Holstein gekommen, also etwa neun Prozent weniger als noch im Vorjahr. Die meisten von ihnen stammen aus Ländern wie beispielsweise Syrien, Irak oder Afghanistan, in denen die politische Situation und Sicherheitslage anhaltend fragil ist und die größtenteils weiterhin von Bürgerkriegen, humanitären Krisen oder politisch motivierter Verfolgung betroffen sind. Auch im Berichtsjahr hat die schleswig-holsteinische Verfassungsschutzbehörde eine Anzahl von entsprechenden Hinweisen im niedrigen zweistelligen Bereich auf Personen erhalten, bei denen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie in ihrem Ursprungsland über Kontakte zu terroristischen Organisationen verfügt haben sollen. Das Ziel ist dabei, mögliche von Islamisten ausgehende Gefahren für die innere Sicherheit zu erkennen, die in Zusammenhang mit der Flüchtlingsthematik stehen. Denn vor allem bei Fluchtbewegungen von Personen aus Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens besteht das Risiko, dass Jihadisten aus diesen Ländern dieselben Flüchtlingsrouten nutzen bzw. ausnutzen, um so unerkannt nach Europa gelangen zu können - möglicherweise auch gezielt von einer Terrororganisation mit dem Auftrag nach Deutschland oder Europa geschickt, dort Anschläge zu verüben. Um die von möglichen eingereisten islamistischen Terroristen ausgehenden Gefahren analysieren und gegebenenfalls abwehren zu können, erfolgt in Schleswig-Holstein auf verschiedenen Ebenen ein enger Austausch zwischen den Sicherheitsbehörden. "Homegrown terrorists" Neben der Bedrohungslage durch organisationsgesteuerte Terroranschläge geht weiterhin von Sympathisanten und Anhängern vor allem des IS sowie al-Qaidas eine besondere Gefahr aus, die ohne direkte Anbindung oder Führung der Terrororganisationen eigenständig Anschläge planen und umsetzen. Darunter sind auch sogenannte "homegrown terrorists" zu fassen, die einen weiteren bedeutenden Faktor für die hiesige Sicherheitslage darstellen. Unter "Homegrown-Terrorismus" sind im Allgemeinen islamistische Strukturen oder Strukturansätze zu verstehen, welche sich aus radikalisierten Personen, oftmals Konvertiten, zusammensetzen, die in 122 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Deutschland geboren und/oder aufgewachsen und hierzulande sozialisiert sind. Oftmals haben sie sich jedoch irgendwann im Umfeld islamistischer Gruppen radikalisiert, stehen dem hiesigen Wertesystem ablehnend gegenüber und zielen schließlich auf die Errichtung einer islamistischen Gesellschaftsordnung ab. Eine besondere Herausforderung stellt in diesem Zusammenhang für die Sicherheitsbehörden die Befassung mit Minderjährigen dar. Ursächlich hierfür ist vor allem die rechtliche Problematik, dass sie sich mit Minderjährigen nur sehr eingeschränkt operativ bzw. strafrechtlich befassen dürfen. In den letzten Jahren hatte sich vermehrt eine Radikalisierung von Jugendlichen beobachten lassen, die in Einzelfällen sogar die Verübung islamistisch motivierter Gewalttaten zur Folge hatte. Zum Personenkreis der "homegrown terrorists" zählt beispielsweise auch die Mehrheit derjenigen Islamisten, die aus jihadistischer Motivation heraus aus SchleswigHolstein in Richtung Syrien/Irak ausgereist sind (siehe Kapitel 5.3.2). Rückkehrer aus den Jihadgebieten in Syrien/Irak Ein weiterer Faktor, der die Sicherheitslage in Deutschland und Schleswig-Holstein maßgeblich beeinflusst, sind Rückkehrer aus Jihadgebieten, insbesondere aus der Region Syrien/Irak. Von den insgesamt mehr als 1.070 bis zum Ende des Berichtsjahres ausgereisten Jihadisten ist inzwischen über ein Drittel wieder nach Deutschland zurückgekehrt (siehe Kapitel 5.3.1). Zur Mehrzahl dieser Rückkehrer liegen jedoch keine belastbaren Informationen vor, dass sie sich aktiv an Kampfhandlungen vor Ort beteiligt haben. Aus Schleswig-Holstein konnten seit dem Jahr 2013 bislang 33 Ausreisefälle erfasst werden, neun davon sind bereits zurückgekehrt. Zu keinem der hiesigen Fälle liegen konkrete Hinweise auf Kampferfahrungen vor. Die Sicherheitsbehörden beobachten zudem mitgereiste Familienangehörige, da diese ebenfalls ideologisiert und radikalisiert worden sein können. Es liegen aktuell Erkenntnisse im niedrigen einstelligen Bereich zu aus SchleswigHolstein ausgereisten Personen vor, die beabsichtigen, in naher Zukunft aus Syrien/Irak zurückzukehren und/oder die sich aktuell in der Region in Haft beziehungsweise in Gewahrsam befinden. 123 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Gefahr durch islamistische Strafgefangene Eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden sind des Weiteren in Deutschland inhaftierte islamistische Strafgefangene. Die Zahl der Strafverfahren mit Terrorismusbezug ist in den vergangenen Jahren hierzulande stark angestiegen. Dadurch besteht auch die Gefahr von islamistischer Radikalisierung und Rekrutierung von Inhaftierten in Haftanstalten. In den Justizvollzugsanstalten in SchleswigHolstein befinden sich aktuell Inhaftierte, die als jihadistische Salafisten wegen Straftaten verurteilt wurden, insbesondere nach SS 89 a Strafgesetzbuch (StGB) und nach SSSS 129 a, b StGB. Während diese Straftäter den Sicherheitsbehörden bekannt sind, liegen zu Personen, die sich erst im Gefängnis radikalisieren, nur in den wenigsten Fällen Informationen vor. Hier kann eine Radikalisierung den Einstieg in islamistische bzw. islamistisch-terroristische Strukturen bedeuten. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, steht die Verfassungsschutzbehörde im Rahmen ihrer rechtlichen Aufgabenwahrnehmung in engem Austausch mit den zuständigen Justizbehörden. Neben der Gefahr durch in Haftanstalten radikalisierte Strafgefangene besteht außerdem das Risiko, dass entlassene, ursprünglich wegen islamistisch-terroristischer Vergehen verurteilte Strafgefangene nach ihrer Haftverbüßung weiterhin islamistische Einstellungen zeigen und diese weitervermitteln. Ein solches Szenario stellt die hiesigen Sicherheitsbehörden dabei vor besondere Herausforderungen. 5.3 Ausreiseund Rückkehrbewegungen von Jihadisten und ihren Familienangehörigen ins und aus dem Kampfgebiet Für kampfwillige jihadistische Islamisten aus Deutschland ist nach wie vor das Krisengebiet in Syrien das Hauptausreiseziel, wenn auch wie bereits im Vorjahr mit einer äußerst geringen Dynamik. Die weltweiten Beschränkungen durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben zudem möglicherweise solche Reisevorhaben deutlich erschwert. Zwar hat seit Beginn des Jahres 2019 die Sogwirkung des IS-"Kalifats" deutlich abgenommen, die Attraktivität seiner Ideologie auch für Islamisten aus Deutschland besteht jedoch weiterhin fort. Nachdem die militärischen Erfolge der Anti-IS-Koalitionen in Syrien und im Irak unter anderem auch zu einer Verdrängung der dortigen ausländischen Kämpfer geführt haben, kehrten sukzessive einige ausgereiste Personen in ihre Heimat zurück. Darüber hinaus befindet sich jedoch weiterhin eine nicht unbedeutende Anzahl an 124 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 europäischen IS-Kämpfern und/oder ihre Familien im Irak oder auf syrischem Boden bei verschiedenen Konfliktparteien in Haft. Durch die aktuelle instabile Lage in Syrien ist auch zukünftig weiterhin mit Rückkehrern einschließlich ihrer Familien zu rechnen. Rückkehrer und Rückkehrerinnen stellen generell nach wie vor ein besonderes Sicherheitsrisiko dar. Denn es sind nicht nur sicherheitsbehördliche Maßnahmen erforderlich, sondern es sollte auch eine Deradikalisierung und die Reintegration in die hiesige Gesellschaft erreicht werden. Es ist anzunehmen, dass die meisten zurückgekehrten Personen traumatisiert sind, da sie zumindest Gewalt erlebt, wenn nicht gar selbst ausgeübt haben. Gleiches gilt für mitausgereiste Familienmitglieder. Darüber hinaus muss grundsätzlich bei allen Zurückgekehrten damit gerechnet werden, dass sie weiterhin an ihrer islamistischen Grundhaltung festhalten könnten. Ihre Fähigkeit, sich gleichzeitig unauffällig in westlichen Staaten zu bewegen (z. B. durch westliches Aussehen oder den Besitz westlicher Reiseund Identitätsdokumente), prädestiniert sie aus Sicht islamistischer Terrororganisationen dafür, Anschläge in ihren Heimatländern zu planen und durchzuführen. Ein besonderes Sicherheitsrisiko stellen deshalb vor allem Personen dar, die während ihres Aufenthaltes in Syrien oder im Irak weiter ideologisch indoktriniert, militärisch ausgebildet und in Kämpfen eingesetzt wurden. Bezüglich zurückgekehrter Familienangehöriger könnte aufgrund der extremen Erfahrungen im Kampfgebiet das Risiko einer gesteigerten Radikalität der Betroffenen bestehen sowie das Potenzial, die eigene Sensibilität oder Hemmschwelle für Gewaltund Gräueltaten zu reduzieren. Die Sicherheitsbehörden in Deutschland legen daher ein besonderes Augenmerk auf jihadistische Familienverbünde, in denen Kinder und Jugendliche möglicherweise in einem jihadistischen Weltbild sozialisiert wurden. Eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden ist dabei auch, dass es sich bei mitausgereisten Ehepartnerinnen und Jugendlichen äußerst schwierig gestaltet, strafrechtlich relevantes Verhalten nachzuweisen und entsprechend zu sanktionieren. 5.3.1 Bundesweite Entwicklungen Im aktuellen Berichtszeitraum liegen Erkenntnisse zu mehr als 1.070 Islamisten aus Deutschland vor, die bundesweit seit dem Jahr 2013 in Richtung Syrien/Irak gereist 125 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode sind. Von diesen Ausgereisten hält sich weiterhin etwa ein Drittel noch in der Region auf, zahlreiche von ihnen sind in Lagern inhaftiert. Zu etwa der Hälfte der ausgereisten Personen liegen konkrete Anhaltspunkte vor, dass sie auf der Seite des Islamischen Staates und al-Qaida oder diesen nahestehenden Gruppierungen sowie anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilnahmen oder sie in sonstiger Weise unterstützen oder unterstützt haben. Zu mehr als 270 aus Deutschland ausgereisten Personen gibt es Hinweise darauf, dass diese vor Ort ums Leben gekommen sind. In Deutschland konnten in diesem Berichtsjahr etwa 10 neue Ausreisefälle von Jihadisten in das Kriegsgebiet verzeichnet werden. Islamistisch motivierte Ausreisen in Richtung Syrien/Irak von 2013-2020 auf Bundesebene 350 300 250 Ausreisen 200 150 100 50 0 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Bund 240 310 230 110 70 90 0 10 Die Gefahrenlage im Bürgerkriegsland Syrien sowie im Irak zeigte sich durch zahlreiche Anschläge und Aktivitäten verschiedener terroristischer Organisationen auch in diesem Jahr weiterhin hoch, weshalb die politisch instabile und unruhige Krisenregion eines der Hauptziele für ausreisewillige Jihadisten bleibt. Das konsequente behördliche Unterbinden erkannter Ausreiseplanungen sowie die nationalen und internationalen Reisebeschränkungen haben jedoch möglicherweise zu der geringeren Zahl von Ausreisen beigetragen. Etwa ein Drittel der ca. 1.070 ausgereisten Personen ist inzwischen wieder nach Deutschland zurückgekehrt. 126 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 5.3.2 Aktuelle Situation in Schleswig-Holstein Seit nunmehr dem vierten Jahr in Folge konnte keine jihadistisch motivierte Ausreise aus Schleswig-Holstein mehr festgestellt werden. Die Gesamtzahl der Islamisten, die seit dem Beginn dieser Reisebewegungen im Jahr 2013 aus SchleswigHolstein in das syrisch-irakische Bürgerkriegsgebiet ausgereist sind, beläuft sich daher weiterhin auf insgesamt 33 Personen. Von diesen 33 bekannten Ausreisefällen sind (unverändert zur Zahl des letzten Jahres) 12 Personen mutmaßlich in der Konfliktregion ums Leben gekommen, ohne dass dies jedoch amtlich bestätigt wäre oder abschließend geklärt ist, ob diese Personen im Zusammenhang mit Kampfhandlungen starben. Es liegen außerdem konkrete Hinweise darauf vor, dass sich von den 12 aus Schleswig-Holstein ausgereisten und vermutlich noch im Krisengebiet befindlichen Personen aktuell mehrere in Gefängnissen bzw. Haftlagern in Syrien/Irak befinden. Islamistisch motivierte Reisebewegungen von 2013 bis 2020 (Syrien/Irak) auf Landesebene 14 12 10 8 6 4 2 0 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Anzahl der Ausreisen 11 12 4 6 0 0 0 0 Anzahl der Rückkehrer 3 5 1 0 0 0 0 0 Anzahl der dort mutmaßlich 2 3 2 0 3 2 0 0 Verstorbenen Neun Personen sind bisher nach Schleswig-Holstein zurückgekehrt, jedoch nicht in den letzten fünf Jahren. Zu keiner dieser Personen gab es konkrete Hinweise auf Beteiligung an aktiven Kampfhandlungen in Syrien oder im Irak. Im aktuellen Berichtszeitraum hatte im Großraum Hamburg der Fall einer Rückkehrerin mit ihren beiden Kindern große mediale Aufmerksamkeit erregt. Durch die 127 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode räumliche Nähe waren mitunter auch Behörden aus Schleswig-Holstein an den Abläufen rund um die Rückkehr der Familie involviert. Außerdem wird seit November in Nordrhein-Westfalen der Fall einer Rückkehrerin verhandelt, der ebenfalls Bezüge nach Schleswig-Holstein aufweist (siehe Kapitel 7.1). Der Umgang mit Rückkehrern aus den Kriegsgebieten in Syrien und dem Irak bleibt in der nahen Zukunft ein bedeutendes Thema auch für die Sicherheitsbehörden in Schleswig-Holstein. Die schleswig-holsteinische Verfassungsschutzbehörde beteiligte sich dahingehend bereits an einer bundesweiten Konzeption zum Thema "Umgang mit Rückkehrern aus den jihadistischen Kampfgebieten, insbesondere Syrien und Irak". Im Konzept wurden Leitlinien definiert, die den Austausch zwischen Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder mit öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen aus dem Bereich der Präventionsund Deradikalisierungsarbeit fördert und ihre Kompetenzen bündelt. Die entwickelten Leitlinien bauen auf den bereits bestehenden Präventionsund Deradikalisierungskonzepten in den Ländern bzw. Bundesbehörden auf (siehe Kapitel 7.2). 6 Entwicklung salafistischer Bestrebungen in Schleswig-Holstein Ebenso wie das allgemeine gesamtgesellschaftliche Leben wurden auch die Entwicklungen der salafistischen Bestrebungen in Schleswig-Holstein im Berichtszeitraum maßgeblich durch die Corona-Pandemie beeinflusst. Über weite Teile des Berichtsjahres mussten Moscheevereine und somit auch salafistische Anlaufstellen schließen oder strenge Vorgaben gemäß dem Infektionsschutzgesetz erfüllen. Dies führte zu einer wahrnehmbaren Dynamik in der salafistischen Szene, die sich in gesteigerten Online-Aktivitäten mancher Moscheevereine einerseits äußerte, sich andererseits aber auch in einer deutlich geringeren Gesamttätigkeit wiederum anderer salafistischer Vereine niederschlug. Das salafistische Personenpotenzial blieb dabei bundesweit auf dem Niveau des Vorjahres (12.150 Personen). In Schleswig-Holstein erhöhte es sich zum Ende des Berichtsjahres auf 750 dem Salafismus zuzurechnende Personen. Letzteres lässt sich vor allem auf die Etablierung neuer Anlaufstellen sowie die permanente Aufklärungsarbeit der Sicherheitsbehörden im Land zurückführen. 128 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Trotz des weiterhin anhaltenden bundesweiten Trends eines Rückgangs salafistischer Missionierungstätigkeiten (da'wa) im öffentlichen Raum im Allgemeinen sowie der eingeschränkten pandemiebedingten Möglichkeiten öffentlicher Aktivitäten im Speziellen, ließen sich im Berichtszeitraum in Schleswig-Holstein einige durch salafistische Moscheevereine organisierte Aktionen feststellen (siehe Kapitel 6.2). Hauptsächlich ab dem Sommer wurden in Kiel beispielsweise regelmäßig Informationsstände durch Personen eines einschlägig bekannten Moscheevereins betreut, an denen unter anderem salafistisch geprägte Literatur auslag. Außerdem erfolgte am 31. Oktober in der Landeshauptstadt eine durch einen salafistischen Verein organisierte Demonstration zum Thema "Gegen die Karikaturen unseres Propheten" mit etwa 150 Teilnehmern. Und auch bundesweit bekannte sowie ausländische Prediger wurden im Berichtszeitraum wieder zu Vorträgen oder Seminaren nach Schleswig-Holstein eingeladen. Insgesamt stellt sich der Salafismus in Deutschland und Schleswig-Holstein weiterhin variabel und vielschichtig dar. Während der Szene nach wie vor überregionale charismatische Hauptakteure fehlen, sind in den einschlägig bekannten Moscheevereinen und Gruppen teilweise interne Machtverschiebungen, wie beispielsweise Wechsel in wichtigen Vorstandspositionen oder das Einsetzen neuer Imame, zu beobachten. Außerdem sind vermehrt verstärkte Kooperationsbemühungen zu anderen salafistischen Vereinen außerhalb Schleswig-Holsteins festzustellen. Neben den bekannten salafistischen Anlaufstellen trifft sich die Szene jedoch auch weiterhin in Kleingruppen und oft im privaten Raum. Wie bereits im Bericht des Vorjahres thematisiert, spielen das Internet und soziale Medien bei der Verbreitung salafistischer Ideologie und Vernetzung eine bedeutende Rolle (siehe Verfassungsschutzbericht Schleswig-Holstein 2019, Kapitel V 4). Diese Rolle verstärkte sich im Berichtszeitraum und trat vor allem während der pandemiebedingten Lockdowns durch die Verlagerung zahlreicher Aktivitäten in die virtuelle Welt sehr deutlich zu Tage. Dabei war erneut auch die zunehmende Vernetzung von Salafisten mit legalistisch-islamistischen Gruppierungen, wie z.B. der Muslimbruderschaft, der Furkan-Gemeinschaft oder der Hizb ut-Tahrir, feststellbar. 129 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 6.1 Salafistisches Personenpotenzial Im aktuellen Berichtszeitraum lässt sich eine leichte Differenz in der Entwicklung des salafistischen Personenpotenzials im Land Schleswig-Holstein im Vergleich zu den Bundeszahlen feststellen. Während für Deutschland insgesamt die Zahl der Salafisten seit dem letzten Jahr nicht weiter gestiegen ist und weiter etwa 12.150 Personen umfasst, lässt sich für Schleswig-Holstein ein deutlicher Anstieg des Personenpotenzials feststellen. Hier erfolgte im Berichtsjahr eine Erhöhung der Personenanzahl auf 750, was einem Wachstum von etwas mehr als 15% im Vergleich zum Vorjahr entspricht. 2019 betrug das salafistische Personenpotenzial noch 650 Personen und die prozentuale Zunahme im Vergleich zu 2018 (600) etwa 8%. Die Gründe für das gestiegene Personenpotenzial in Schleswig-Holstein im aktuellen Berichtszeitraum lassen sich dabei hauptsächlich in der Etablierung neuer Anlaufstellen für Salafisten, der steigenden Bedeutung von bereits bekannten salafistisch geprägten Moscheevereinen sowie der permanenten Aufklärungsarbeit der hiesigen Sicherheitsbehörden verorten. Salafistisches Personenpotenzial in Deutschland und Schleswig-Holstein 800 14000 Schleswig-Holstein 700 12000 Deutschland 600 10000 500 8000 400 6000 300 4000 200 100 2000 0 0 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Schleswig-Holstein 200 200 210 230 300 370 500 600 650 750 Deutschland 3800 4500 5500 7000 8350 9700 10800113001215012150 130 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Die in Schleswig-Holstein zu beobachtenden Entwicklungen neuer und das Aufleben bestehender Anlaufstellen im aktuellen Berichtszeitraum stehen dem in den vergangenen Jahren festgestellten Trend einer Fragmentierung der salafistischen Szene dabei nicht zwangsläufig entgegen. Es bestehen neben den lokalen Moscheevereinen nach wie vor kleinere Splittergruppen früherer und inzwischen aufgelöster Organisationen bzw. geschlossener Vereine, die weiterhin konspirativ ihre salafistischen Ideologien lehren und verbreiten. Inzwischen scheint auch eine Tendenz hinsichtlich einer neuen Generation von Akteuren im Salafismus erkennbar. Diese zeichnet sich - wie andere legalistische Gruppierungen - beispielsweise durch modernere Ansätze hinsichtlich ihrer Öffentlichkeitsarbeit oder eine stärkere Aktivität im Bildungsbereich aus und könnte in Zukunft möglicherweise eine neue Dynamik in die salafistische Szene bringen. Nichtsdestotrotz sind in den vergangenen Jahren Gesellschaft und Politik bezüglich der Gefahren des Phänomens Salafismus weitreichend sensibilisiert worden, wodurch die salafistische Szene nach wie vor in ihrem öffentlichen Auftreten eher zurückhaltend agiert. Wie die Mitgliederzahlen zeigen, hat die Ideologie dieser islamistischen Strömung jedoch keineswegs an Attraktivität verloren. Vor allem junge Muslime und junge Konvertiten werden ungebrochen durch die Schlichtheit der salafistischen Lehren angezogen und schnell in die jeweiligen Szenen eingebunden. Auch die konstant hohen Besucherzahlen zu den Freitagsgebeten in salafistisch geprägten Moscheen in Schleswig-Holstein im Berichtsjahr und die Formierung neuer Anlaufstellen mit steigenden Besucherzahlen unterstreichen diese Beobachtung der Verfassungsschutzbehörde. Unter den an den Freitagsgebeten der einschlägig bekannten Moscheevereine Teilnehmenden kann dabei weiterhin eine hohe Anzahl an Personen mit Flüchtlingshintergrund festgestellt werden. Anzunehmen ist, dass einige von ihnen nach ihrer Ankunft in Deutschland auch aufgrund sprachlicher Motive zunächst arabisch geprägte salafistische Einrichtungen aufgesucht haben und diesen Vereinen anschließend treu geblieben sind. Weiter rückläufig im aktuellen Jahr sind hingegen Verdachtsfälle mit salafistisch-jihadistischen Bezügen im Zusammenhang mit geflüchteten Personen (siehe Kapitel 5.2), was sicherlich auch mit der generellen Abnahme der Zuzugszahlen Geflüchteter nach Deutschland und Schleswig-Holstein korreliert. 131 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Schließlich kann für Ausreisen mit salafistisch-jihadistischer Motivation konstatiert werden, dass trotz des territorialen Niedergangs des sogenannten IS-Kalifats und der mangelnden Stärke anderer terroristischer Organisationen für jihadistisch orientierte Salafisten weiterhin das Konfliktgebiet Syrien/Irak ein Ziel zu sein scheint, wo sie den Anschluss an dort kämpfende islamistische Gruppierungen suchen. Bundesweit konnten im Berichtsjahr jedoch nur zehn solcher Fälle festgestellt werden (siehe Kapitel 5.3.1), darunter keine aus Schleswig-Holstein. 6.2 Salafistische Missionierungsaktivitäten und Schwerpunkte salafistischer Aktionen Im aktuellen Berichtszeitraum lassen sich als Zentren salafistischer Aktivitäten in Schleswig-Holstein wie in den Vorjahren die kreisfreien Städte Kiel, Neumünster, Lübeck und Flensburg identifizieren, teilweise mit wechselnden Dynamiken. Und auch für die Hamburger Randgebiete, deren Salafisten sich zwar vermutlich in Ermangelung eigener Anlaufstellen zumeist in Moscheevereine nach Hamburg selbst orientieren, sind immer wieder entsprechende Tätigkeiten von Einzelpersonen oder Kleingruppen feststellbar. Darunter fallen seit dem Vorjahr weiterhin vermehrt Kooperationen mit der in Hamburg ansässigen islamistischen Furkan-Gemeinschaft (siehe Kapitel 4.2.2). 6.2.1 Vernetzung der Szene in Schleswig-Holstein Für nahezu alle salafistisch geprägten Moscheegemeinden in Schleswig-Holstein kann festgestellt werden, dass sie sich in zunehmendem Maße untereinander, und teilweise auch überregional, mit anderen salafistischen Vereinen vernetzen bzw. Bezüge zu anderen islamistischen Gruppierungen aufweisen. Verstärkt wurde dieses Phänomen im Berichtszeitraum vermutlich zusätzlich durch die Not vieler salafistischer Moscheegemeinden, die durch die Corona-Pandemie in finanzieller und organisatorischer Hinsicht ausgelöst wurde. So wurden unter anderem gegenseitige Spendenaufrufe für Betriebskosten oder Neubauprojekte für andere salafistische Vereine getätigt oder Räumlichkeiten für Vereine und Organisationen zur Verfügung gestellt, deren eigene Infrastruktur eine Zusammenkunft gemäß den Auflagen des Infektionsschutzgesetzes nicht ermöglichte. 132 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Neben diesen krisenbedingten Kooperationen gibt es außerdem Hinweise auf eine Zusammenarbeit einiger salafistischer Moscheevereine in Schleswig-Holstein auf ideologisch-inhaltlicher Ebene. Somit zeigt sich nicht nur die ungebrochene Fähigkeit der salafistischen Szene in Schleswig-Holstein zu aktiver und verstärkter überregionaler Vernetzung und Ideologisierung, sondern zudem eine gewisse Anpassungsfähigkeit auch an mittelfristig veränderte gesellschaftlich-politische Rahmenbedingungen. Vermehrte Missionierungsaktivitäten sind in der salafistischen Szene nach wie vor im Internet zu beobachten. Der größte Teil der Online-da'wa-Arbeit entfällt neben Vernetzungsbemühungen salafistischer Gruppen oder Einzelpersonen auf islamistische und jihadistische Propaganda. Diese kann dabei durchaus unterschiedliche Formen annehmen und wurde im Berichtszeitraum nicht selten auch mit Verschwörungstheorien aus Anlass der weltweiten Corona-Pandemie vermischt (siehe Kapitel 3.2). Dabei fiel erneut verstärkt auf, dass ideologische Schnittmengen zwischen verschiedenen Islamismusformen - wie aktuell der Kerngedanke von Verschwörungserzählungen mit antisemitischem oder anti-westlichem Hintergrund - trotz des Absolutheitsanspruches der salafistischen Lehre offenbar durchaus zu Annährungen zwischen dem Salafismus und anderen islamistischen Strömungen führen können. Durch die ideologische Nähe solcher Thematiken, die in der Gesamtbetrachtung eine angebliche systematische Diskriminierung von Muslimen und dem Islam in Deutschland einer westlichen "Wertediktatur" gegenüberstellen, wird somit ein kollektives islamistisches Feindbild erschaffen und kontinuierlich weiter verstärkt. Diese Vorgehensweise soll schließlich langfristig eine Abwendung von den Repräsentanten dieser "Wertediktatur" oder gar deren Bekämpfung bewirken. Bei der Online-Vernetzung salafistischer Strukturen und der Verbreitung der Ideologie im Internet spielen generell auch Frauen eine besondere Rolle. Viele salafistisch eingestellte Frauen sind im Internet, in den sozialen Netzwerken und durch WhatsAppund Telegramgruppen in der da'wa aktiv - oft in sogenannten Schwesterngruppen, die durchaus auch bundesweit oder international agieren. 133 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 6.2.2 Online-Seminare und Vorträge zur Verbreitung der salafistischen Ideologie Im Verlauf des aktuellen Berichtszeitraums erfolgten durch verschiedene salafistische Moscheevereine aus Schleswig-Holstein erneut auch Einladungen von bundesweit agierenden salafistischen Predigern und international bekannten salafistischen Gastimamen. In den Zeiträumen, in denen die geltenden Corona-Verordnungen eine entsprechende Reisetätigkeit erlaubten, konnten solche Besuche zum Zwecke religiöser Vortragstätigkeit in einigen einschlägigen Einrichtungen im Bundesland festgestellt werden. So war ein bekannter dänischer Gastimam in verschiedenen salafistischen Moscheevereinen in Schleswig-Holstein zu Besuch. Wenn die Pandemiesituation es nicht zuließ, wurden diese religiösen Seminare oder Vorträge zum Teil auch über virtuelle Versammlungen abgehalten, und der geladene Gastprediger entsprechend online zugeschaltet. Bei wenigen Ausnahmen versuchten in Schleswig-Holstein ansässige Vereine auch, die Richtlinien des Infektionsschutzgesetzes zu ignorieren, und organisierten und bewarben Seminare mit deutschlandweit bekannten Predigern bis zur behördlichen Untersagung. Thematisch behandeln Islamseminare oder salafistische Vorträge meist Publikationen oder ideologische Sichtweisen islamistischer Gelehrter. Die Gastimame und Prediger, die für solche Veranstaltungen geladen werden, sind meist überregional bekannt und verfügen in ganz Deutschland oder auch im Ausland über eine breite Anhängerschaft unter Salafisten. Durch die Besuche einschlägiger Moscheevereine im gesamten Bundesgebiet fördern sie zusätzlich die Verbreitung ihrer extremistischen Ansichten. Darüber hinaus ergingen auch Einladungen zu derartigen Veranstaltungen und Seminaren an salafistische Vereine in Schleswig-Holstein, die von entsprechenden Moscheegemeinden außerhalb des eigenen Bundeslandes organisiert wurden. Beispielsweise gab es Hinweise darauf, dass ein Seminar mit einem bekannten salafistischen Gastprediger, das durch Salafisten in Bremen ausgerichtet wurde, auch in Schleswig-Holstein beworben wurde. Durch Salafisten organisierte Online-Veranstaltungen religiösen und missionierenden Inhalts, deren Anzahl im Berichtsjahr aufgrund der Corona-Pandemie merklich zugenommen hat, kommen auch den der salafistischen Szene angehörigen Frauen 134 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 zugute. In der virtuellen Welt können Salafistinnen zumeist problemlos als stille Teilnehmerinnen an solchen Islamseminaren und Vorträgen teilhaben, was ihnen aufgrund des extrem konservativen Rollenverständnis im Salafismus in der Realwelt zumeist nicht möglich wäre. Dies versetzt sie in die Lage, die dort erlernten ideologischen Inhalte an andere Glaubensschwestern oder an ihre Kinder weiterzugeben und somit einen Teil zur salafistischen Da'wa und Ideologieverbreitung beizutragen. 6.2.3 Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten der salafistischen Szene In den letzten Jahren ließen sich in Schleswig-Holstein in unregelmäßigen Abständen immer wieder Aktivitäten salafistischer Moscheevereine oder von als islamistisch eingestuften Gruppierungen in der Öffentlichkeit feststellen - z.B. Informationsstände oder Verteilaktionen. Neben dem beständigen missionarischen Wirken einschlägiger Moscheevereine und Einzelpersonen in nichtöffentlichen Kreisen konnten solche sichtbaren Missionierungsaktivitäten (da'wa) durch Salafisten im aktuellen Berichtszeitraum vor allem auf den Straßen der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt festgestellt werden. Mehrmals wurden im Berichtsjahr, zumeist am Wochenende, Informationsstände mit Flyern und Bücherauslagen in verschiedenen Kieler Stadtteilen durch mutmaßliche Angehörige salafistischer Anlaufstellen betreut. Die dort ausgelegte Literatur kann zu großen Teilen dem globalen politischen Salafismus zugerechnet werden und wird von Islamisten dazu verwendet, vor allem junge Menschen von der salafistischen Ideologie zu überzeugen und in die Szene einzubinden. Weitere in der Öffentlichkeit beobachtbare Aktivitäten der salafistischen Szene ereigneten sich in der zweiten Jahreshälfte vor dem Hintergrund der Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen durch das französische Satire-Magazin "Charlie Hebdo" im September. Die daran anschließende europaweite Debatte um Bedeutung und Grenzen von Meinungsfreiheit löste auch unter Islamisten, die die Religion des Islam beleidigt und angegriffen sahen, zum Teil heftige Proteste aus, die in vielen Städten in Europa und Deutschland durch Demonstrationen zum Ausdruck gebracht wurden. Am 31. Oktober fand ein solcher Protestmarsch unter dem Motto "Gegen die Karikaturen unseres Propheten" auch im Kieler Stadtgebiet statt. Die durch einen salafistisch geprägten Kieler Moscheeverein organisierte Demo endete nach einer Kundgebung und einem anschließenden Fußmarsch aus dem Stadtteil 135 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Gaarden mit einem öffentlichen Gebet auf dem Bahnhofsvorplatz des Hauptbahnhofs. An dem Demonstrationszug nahmen etwa 150 vorwiegend männliche Personen teil, die in Teilen der salafistischen Szene in Schleswig-Holstein zuzuordnen sind. Es wurden vereinzelt Plakate gezeigt, die sich vor allem gegen die als Verunglimpfung des Propheten empfundenen Mohammed-Karikaturen richteten, sowie lautstark Teile des islamischen Glaubensbekenntnisses skandiert. Die in der Gesamtschau friedlich abgelaufene Veranstaltung zeigt nichtsdestotrotz das große Mobilisierungspotenzial, über das die salafistische Szene im Allgemeinen - und im vorliegenden Fall speziell auch in Schleswig-Holstein - verfügt. Dabei hatte vor allem der Auslöser der Demonstration, die Wiederveröffentlichung der islamkritischen Mohammed-Karikaturen in Frankreich und die damit einhergehende kompromisslose Subsumierung derselben unter das Recht auf Meinungsfreiheit durch den französischen Präsidenten Macron, erkennbar emotionalisierend auf die Teilnehmer eingewirkt. 7 Staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung des Islamismus und islamistischen Terrorismus In Deutschland und Schleswig-Holstein wurden im Berichtszeitraum erneut zahlreiche Strafund Ermittlungsverfahren insbesondere im Zusammenhang mit dem islamistischen Terrorismus geführt, von denen einige zurzeit noch nicht abgeschlossen sind. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um Verfahren mit dem Tatvorwurf der Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland (SSSS 129a, 129b Strafgesetzbuch) oder um Verfahren nach SSSS 89 a, 89b StGB - der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Außerdem werden Fälle mit dem Verdacht auf Terrorismusfinanzierung (SS 89c StGB) strafrechtlich verfolgt. Im aktuellen Berichtsjahr sind im Vergleich zu den Jahren 2018 (mit 884 Verfahren) und 2019 (mit etwa 400 Verfahren) weitere Rückgänge bei den Ermittlungsverfahren mit Bezug zum islamistischen Terrorismus zu verzeichnen. Im Berichtsjahr wurden insgesamt 381 Verfahren eingeleitet, wodurch sich eine Abnahme um knapp 5 % im Vergleich zum Vorjahr ergibt. Möglicherweise wurde dieser Rückgang auch durch die besondere Ausnahmesituation im Arbeitsalltag aufgrund der Beschränkungen durch die Corona-Pandemie beeinflusst. 136 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 In zunehmenden Maße werden mittlerweile Verfahren mit dem Tatvorwurf der Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gegen ehemalige Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates und weiterer terroristischer Gruppen erhoben, welche nach Deutschland zurückgekehrt sind. Zum Teil gelang es diesen Personen, eigenständig nach Deutschland zurückzukehren, zum Teil waren sie auch bereits im Ausland in Haftlagern oder Gefängnissen und/oder wurden von Drittstaaten wie z.B. der Türkei nach Deutschland abgeschoben. Zudem kam es im Verlauf des 19. und 20. Dezember aus humanitären und medizinischen Gründen zu einer ersten Rückholaktion von Frauen und Kindern aus einem kurdisch geführten Gefangenenlager. Insgesamt wurden bei dieser ersten Rückholung drei Frauen und 12 Kinder, darunter auch Waisenkinder, nach Deutschland zurückgebracht. Eine der drei Mütter wurde sofort nach Ankunft in Deutschland festgenommen, gegen die anderen beiden Frauen wurden durch die Staatsanwaltschaften entsprechende Ermittlungsverfahren eingeleitet. Auch wenn bei dieser ersten Aktion keine Personen aus Schleswig-Holstein betroffen waren, könnten Ausgereiste in der Zukunft durch solche Rückholverfahren auch nach Schleswig-Holstein zurückgebracht werden. In den Haftlagern und Gefängnissen in Syrien, dem Irak und der Türkei sind aktuell weitere Personen aus Deutschland festgesetzt, mit deren baldiger Rückkehr durch Rückholaktionen oder Ausweisung gerechnet werden muss, was allgemein zu einem Ansteigen der entsprechenden Verfahren in den kommenden Jahren führen könnte. 7.1 Strafverfahren gegen islamistische Terroristen aus SchleswigHolstein In Schleswig-Holstein wurden im Berichtsjahr mehrere Exekutivmaßnahmen im Phänomenbereich des Islamismus und islamistischen Terrorismus durchgeführt sowie Strafund Ermittlungsverfahren eingeleitet oder prozessual abgeschlossen. Die Bundesanwaltschaft hat im November vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf Anklage gegen eine deutsche Rückkehrerin aus NordrheinWestfalen erhoben. Die Angeschuldigte ist hinreichend verdächtig, als Mitglied der ausländischen terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat (IS)" Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben (SS 129a Abs. 1 Nr. 1, SS 129b Abs. 1 137 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Satz 1 StGB, SS 7 Abs. 1 Nr. 3 VStGB). Zudem werden ihr Kriegsverbrechen gegen das Eigentum und sonstige Rechte (SS 9 Abs. 1 VStGB), Verletzung der Fürsorgeund Erziehungspflicht (SS 171 StGB) sowie waffenrechtliche Verstöße zur Last gelegt. Die Beschuldigte wurde im Juli nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Bestandteil des Verfahrens ist außerdem der Vorwurf der Versklavung einer Jesidin durch die Angeklagte und ihren Ehemann, einem aus Schleswig-Holstein ausgereisten 34-jährigen Jihadisten, mit dem sie nach islamischen Recht verheiratet ist. Dieser hält sich aktuell mutmaßlich noch in Syrien in einem Haftlager auf. Im September ist in einem Prozess vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht eine 30-jährige Frau aus Hamburg wegen der Mitgliedschaft in der terroristischen Organisation "Islamischer Staat" zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Die Angeklagte befand sich zusammen mit ihren beiden Kindern insgesamt etwa zwei Jahre lang in einem kurdischen Haftlager nahe der türkischen Grenze, bevor sie im Januar aus der Türkei nach Deutschland abgeschoben und zunächst in einer Einrichtung in Schleswig-Holstein untergebracht wurde. In einem Propagandavideo hatte sie im Jahr 2014 verschleiert und mit Sturmgewehr bewaffnet darum geworben, nach Syrien zu kommen und sich dem Islamischen Staat anzuschließen. Im Prozess distanzierte sich die Beschuldigte von der Terrororganisation und zeigte sich reumütig. Darüber hinaus hat die Generalbundesanwaltschaft Anfang Januar ein Ermittlungsverfahren gegen eine weitere ausgereiste Beschuldigte aus Schleswig-Holstein eingeleitet, die sich derzeit mutmaßlich noch im Ausland befindet. Im Zusammenhang mit dem terroristischen Amoklauf in Wien (Österreich) am 2. November erfolgten noch im selben Monat im Kreis Pinneberg (Schleswig-Holstein) Exekutivmaßnahmen bei einem Mitglied der jihadistisch-salafistischen Szene. Bei dem 22-Jährigen aus Schleswig-Holstein handelt es sich um eine mutmaßliche Kontaktperson des Attentäters. Er soll sich demnach über längere Zeit ebenfalls in Wien aufgehalten und zudem überregional in der Jihadistenszene vernetzt sein. Neben Pinneberg wurden auch Durchsuchungen in Kassel (Hessen) und Osnabrück (Niedersachsen) durchgeführt. Die bereits im April Jahr 2019 in Schleswig-Holstein eingeleiteten Ermittlungsverfahren mit Bezug zu "Hawala-Banking", im Rahmen derer es bundesweit im September desselben Jahres zu Durchsuchungsmaßnahmen sowie Inhaftierungen von 138 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 mehreren Tatverdächtigen kam, wurden im Juni mit den Verurteilungen der Beschuldigten zu Haftstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren und 9 Monaten abgeschlossen. Es konnte zwar die Transaktion von Summen in Millionenhöhe mittels "Hawala-Banking" in Richtung Syrien nachgewiesen werden, eine Terrorismusfinanzierung nach SS 89c StGB jedoch nicht. Vier der Verurteilten kommen aus Schleswig-Holstein. Ein weiteres Ermittlungsverfahren bezüglich mehrerer Geldtransfers an den sogenannten Islamischen Staat endete im Berichtsjahr mit der Verurteilung eines 32jährigen Tatverdächtigen aus Schleswig-Holstein. Er wurde zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, kam jedoch noch im Laufe des aktuellen Berichtsjahres vorzeitig aus der Haft frei. Im Berichtsjahr erfolgten zudem aufenthaltsbeendende Maßnahmen mit Bezügen nach Schleswig-Holstein: So wurde im Juli der als "Kofferbomber von Köln" bekannt gewordene Libanese nach Beirut (Libanon) abgeschoben. Der inzwischen 36-Jährige war bereits am 09. Dezember 2008 zu einer lebenslänglichen Freiheitsstraße verurteilt worden, da er zusammen mit einem Mittäter am 31. Juli 2006 versucht hatte, zwei aufeinander abgestimmte Kofferbombenanschläge in Regionalzügen in Köln (Nordrhein-Westfalen) zu begehen. Aufgrund seines Studienaufenthaltes und seiner Verhaftung in Kiel hatte der Verurteilte zwischenzeitlich fast vollständig seine Haftstrafe in Schleswig-Holstein verbüßt. Vereinsverbote und Betätigungsverbote Vereinsrechtliche Maßnahmen gegen erkannte islamistische Vereinigungen sind ein probates Mittel, um die organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten von eingetragenen Vereinen und ihrer Mitglieder einzuschränken. Entsprechende Vereinsverbote stören insbesondere die Strukturen und Kommunikationswege von Islamisten. Da es bei ausländischen Vereinigungen rechtlich nicht möglich ist, diese Organisationen an sich zu verbieten und aufzulösen, kann mittels eines Betätigungsverbotes zumindest jedwede Betätigung für eine solche Organisation in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden. Darunter fällt auch das öffentliche Zeigen und Verbreiten der Symbole der Organisation. Mit Verfügung des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) vom 26. März wurde im aktuellen Berichtszeitraum die Hizb Allah (siehe Kapitel 4.2.4) mit einem Betätigungsverbot 139 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode auf Grundlage des Vereinsgesetzes (SS 3 Abs. 1 i.V.m. SS 15 Abs. 1 und SS 18 Satz 2 des VereinsG) belegt, da ihre Tätigkeiten Strafgesetzen zuwiderlaufen und die Organisation sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Im Zusammenhang mit den darauffolgenden bundesweiten Maßnahmen gegen die islamistische Organisation erfolgten am 30. April an mehreren Objekten unter anderem in Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen Exekutivmaßnahmen bei Vereinsstätten und Personen, die der Hizb Allah nahestehen sollen. Die Vereine stehen im Verdacht, die Voraussetzungen für ein Verbot gemäß SS 3 Absatz 1 Nr. 3 VereinsG zu erfüllen, indem sie mit ihren Aktivitäten propagandistisch und finanziell die im Libanon terroristisch agierende Organisation Hizb Allah unterstützt haben sollen. In Schleswig-Holstein fanden keine Exekutivmaßnahmen statt, da die Hizb Allah hier über keine organisierten Vereinsstrukturen verfügt. Es lassen sich jedoch Einzelpersonen feststellen, die der Gruppierung angehören oder nahestehen. Insgesamt betrachtet sind die Sicherheitsbehörden in Schleswig-Holstein auch in Zukunft dauerhaft gefordert, im Verbund mit nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden islamistische Gefährdungssachverhalte aufzuklären, was auch durch die zunehmende Anzahl an Ermittlungsverfahren in diesem Phänomenbereich deutlich wird. 7.2 Präventionsund Beratungsstellen gegen religiös begründeten Extremismus in Schleswig-Holstein Die Corona-Pandemie hat das Potenzial, Radikalisierungen in bestimmten gesellschaftlichen Gruppierungen zu verstärken. Islamisten haben hinsichtlich der Verbreitung ihrer Propaganda im Internet auch von den Entwicklungen um das CoronaVirus profitiert. Umso wichtiger ist es daher, Maßnahmen und Angebote zur Prävention auch auf aktuelle Gegebenheiten anzupassen. Die islamistische Radikalisierung junger Menschen stellt die Sicherheitsbehörden weiterhin vor große Herausforderungen. In Deutschland bildet vor allem der Salafismus den Nährboden für Extremismus und Gewalt. So kann festgestellt werden, dass sich die Szene hinsichtlich der Art, wie sich ihre Anhänger organisieren und miteinander kommunizieren, verändert. Die salafistische Bestrebung bleibt gegenwärtig hochgradig dynamisch, Ak140 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 tionsfelder und -formen wechseln schnell. Um präventiv gegen vor allem salafistische Radikalisierungsprozesse reagieren zu können, begegnet das Land Schleswig-Holstein dem Phänomen mit einem umfassenden Präventionsprogramm. Hier ist das Landesdemokratiezentrum (LDZ) für die behördliche Koordinierung und Vernetzung aller relevanten Akteure im Themenbereich des religiös motivierten Extremismus zuständig. Auch für Schleswig-Holstein ist die Prävention eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die ausschließlich im Zusammenwirken von Staat und Zivilgesellschaft bewältigt werden kann. Der schleswig-holsteinische Verfassungsschutz kooperiert hier mit unterschiedlichen Präventionsakteuren, um adressatengerechte Präventionsangebote für verschiedene Zielgruppen bereitstellen zu können. Speziell für den frühzeitig einschreitenden Präventionsbereich hat sich die Beratungsstelle PROvention bei einem zivilgesellschaftlichen Träger, der Türkischen Gemeinde Schleswig-Holstein (TGSH), als Ansprechpartner und Multiplikator etabliert. Diese wird finanziell über das Landesprogramm zur Vorbeugung und Bekämpfung von religiös motiviertem Extremismus gefördert. Im Programmbeirat des Landesprogramms steht der Verfassungsschutz Schleswig-Holstein beratend zur Seite und wirkt an der Programmausgestaltung und -umsetzung mit. Die Verfassungsschutzbehörde sensibilisiert zudem durch Berichte und Fortbildungen zu Gefahren, die vom Islamismus und islamistischen Terrorismus ausgehen. Darüber hinaus unterstützt der Verfassungsschutz auch weitere Maßnahmen der Islamismus-Prävention und bietet unter anderem Beratungsgespräche, Vorträge und Multiplikatorenschulungen bei weiteren staatlichen Stellen an. Die Gruppe der Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus den ehemals vom IS kontrollierten Gebieten stellt auch im Präventionsund Deradikalisierungsbereich die Sicherheitsbehörden vor besondere Herausforderungen. Das Land Schleswig-Holstein begegnet dieser Herausforderung mit einem ganzheitlichen Präventionsansatz. Da immer mehr strafprozessuale Maßnahmen auch zu Verurteilungen und Haftstrafen führen, nimmt die Bedeutung der Deradikalisierung und Prävention im Bereich der Justizvollzugsanstalten (JVA) stetig zu. Dabei wird in absehbarer Zeit verstärkt auch die Nachbetreuung von verurteilten, möglicherweise radikalisierten 141 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Häftlingen nach Haftentlassung im Fokus stehen, ebenso wie geeignete Präventionsmaßnahmen in den JVA, um einer eventuellen Radikalisierung von Mithäftlingen vorzubeugen. In Schleswig-Holstein wird über das Förderprogramm Demokratie leben! die Präventions-und Deradikalisierungsarbeit im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe unterstützt. Dieses Bundesprogramm und das Schleswig-Holsteinische Justizministerium finanzieren wiederum das Präventions-Projekt Kick-off, welches von der TGSH im Trägerverbund mit dem Kieler Antigewaltund Sozialtraining (KAST) durchgeführt wird. 8 Mitgliederund Anhängerzahlen Jahr 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Salafismus 300 370 500 600 650 750 Sonstige Gruppierungen 70 70 50 45 65 95 Summe Land 370 440 550 645 715 845 142 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 VI Linksextremistische Bestrebungen 1 Überblick Das linksextremistische Personenpotenzial in Schleswig-Holstein liegt mit 730 (2019: 700) leicht über dem Vorjahresniveau. Der gewaltorientierten Szene gehören 340 (2019: 335) Linksextremisten an. Die Erhöhung des Gesamtpersonenpotenzials ist wie auch im Vorjahr auf den Mitgliederzuwachs bei der Roten Hilfe (RH) zurückzuführen, die als propagandistisch und ausschließlich unterstützend wirkende Organisation keine eigene Ideologie verfolgt. Die bundesweit wachsende Bedeutung der RH als wichtigster Stabilitätsfaktor im Linksextremismus ist damit auch in Schleswig-Holstein weiterhin zu beobachten. Dem stetigen Mitgliederzuwachs der RH stehen erneut Mitgliederverluste im parteigebundenen dogmatischen Linksextremismus gegenüber. Dogmatische Parteien werden selten eigeninitiativ aktiv, sondern beteiligen sich anlassbezogen vorwiegend an Bündnisdemonstrationen des linksextremistischen und des bürgerlichen Spektrums. Sie werden daher vom bürgerlichen Spektrum kaum mit ihren eigenen politischen Zielen wahrgenommen und stellen somit keine Alternative zu den demokratischen Parteien dar. Der kontinuierliche Verlust im Parteienspektrum lässt sich mit der fortschreitenden Überalterung der Mitglieder sowie der mangelnden Fähigkeit zur Neugewinnung insbesondere jüngerer, aktionsfreudiger Mitglieder erklären. Im undogmatischen Spektrum veränderte sich das Gesamtpersonenpotenzial das zweite Jahr in Folge nicht. Insbesondere innerhalb autonomer Gruppierungen war die hier gewöhnliche Fluktuation zu beobachten, ohne dass diese in der Gesamtbetrachtung zu Mitgliederzuwächsen oder -verlusten führte. Hierbei lässt sich jedoch kein Trend feststellen. Im Gegensatz zur dogmatischen ist die undogmatische Szene flexibel genug, um auf aktuelle, in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähige Themen durch eigene Aktivitäten zu reagieren. So besitzt insbesondere die autonome Szene weiterhin das Potenzial, durch ihre Strahlkraft und den gebotenen Erlebnischarakter jederzeit bei entsprechenden Anlässen Personen für ihre Ziele vereinnahmen zu können. 143 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die öffentliche Präsenz Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie schränkte die Szene ihre öffentlichen Aktivitäten stark ein und betätigte sich überwiegend im virtuellen, weitgehend geschützten Raum. Dabei übten Linksextremisten zunächst starke Kritik an den Einschränkungen der Grundrechte durch die Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Infektionsausbreitung und brachten diese Kritik auch im weiteren Verlauf vermehrt in Form von Demonstrationen, Flyerund Plakataktionen unter Einhaltung der Schutzmaßnahmen auf die Straße. Sie unterstellten den politisch Verantwortlichen des ihrer Ansicht nach repressiven und kapitalistischen Staates, durch die dauerhafte Einschränkung der Freiheitsrechte die vollständige Kontrolle über die Bevölkerung erlangen zu wollen. Diese, auch außerhalb von Pandemiezeiten vorherrschende Sichtweise rückte in den Hintergrund, als bundesweit zunehmend große Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen stattfanden und sich die Querdenker-Bewegung als neue Protestbewegung etablierte. Vielmehr positionierten sich Linksextremisten schnell gegen diese Bewegung nachdem sie früh vermeintliche Rechtsextremisten, Reichsbürger und rechtsextremistische Verschwörungstheoretiker unter den Demonstranten erkannt haben wollten. In der Folge führten Linksextremisten Gegendemonstrationen durch und beteiligten sich an bürgerlichen Bündnissen. Sie betätigten sich hierbei beobachtend und aufklärend und outeten zum Beispiel zahlreiche Teilnehmer der Querdenker-Bewegung. Bekämpfung der Alternative für Deutschland (AfD), Klimabewegung und Anti-Gentrifizierung - Schwerpunkte linksextremistischer Aktionsfelder Die Bekämpfung der AfD ist der Dauerschwerpunkt der letzten Jahre in der linksextremistischen Betätigung. Als überwiegend reaktiv-anlassbezogen agierende Szene schränkten Linksextremisten ihr Vorgehen gegen die AfD zu Beginn der Pandemie jedoch deutlich ein, da auch die Partei ihre öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten und Veranstaltungen reduzierte. Im weiteren Verlauf des Berichtsjahres nahmen Linksextremisten ihre Aktivitäten gegen die AfD sporadisch wieder auf. Die dabei verwirklichten Straftatbestände reichten von Beleidigung und Sachbeschädigung bis hin zur Brandstiftung an dem PKW der Fraktionsvorsitzenden im Kreistag Ostholstein. Die Straftaten wurden überwiegend klandestin geplant oder spontan durch Kleingruppen oder Einzelpersonen ausgeführt. Es ist zu erwarten, dass die 144 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 linksextremistische Szene ihre Aktivitäten mit Verbesserung der Pandemie-Lage sowie im Kontext der Bundestagswahl und des damit verbundenen Wahlkampfes der AfD vergleichbar intensiv wie in den Vorjahren wiederaufnimmt. Auch im Themenbereich Klimabewegung betätigten sich Linksextremisten aufgrund der Pandemie deutlich weniger als in den Vorjahren. Neben der linksextremistischen Beteiligung an Demonstrationen ist hier insbesondere die Entwicklung der überwiegend in Kiel, aber zum Teil auch bundesweit agierenden TurboKlimaKampfGruppe (TKKG) hervorzuheben. Seit ihrer Gründung im Jahr 2016 hat sie sich kontinuierlich aus der Rolle einer bürgerlich-demokratischen Klimagruppe herausbewegt. Auf Grund ihrer mittlerweile aggressiven und deutlich gegen den Rechtsstaat gerichteten Vorgehensweise zeigt sich, dass die TKKG die Grenze des legitimen demokratischen Protests überschritten hat. Als weiterer Schwerpunkt linksextremistischer Betätigung entwickelte sich im Berichtsjahr das Themenfeld Anti-Gentrifizierung. Ziele der Proteste gegen die Gentrifizierung sind vorwiegend Immobilienunternehmen, denen Linksextremisten Ausbeutung, Wohnungsverknappung und damit überhöhte Mieten vorwerfen. In den Vorjahren kam dem Thema in Schleswig-Holstein kaum eine Bedeutung zu, das änderte sich Anfang des Berichtsjahres jedoch mit einer neu aufgetretenen Militanz in diesem Bereich. So verübten Linksextremisten eine Brandstiftung an einem Büro der VONOVIA Immobiliengesellschaft in Kiel. Zudem besetzten Linksextremisten für eine Woche ein Haus der VONOVIA. Im weiteren Jahresverlauf verübte die Szene zahlreiche Sachbeschädigungen zum Nachteil von Immobiliengesellschaften. Mit der Räumung eines Szeneobjektes in Berlin fanden in Schleswig-Holstein Solidaritätsaktionen statt, zudem verübten Linksextremisten in diesem Kontext Sachbeschädigungen. Erneut kein Erfolg in der Intensivierung der Vernetzung ins zivilgesellschaftliche Spektrum Linksextremisten sind kontinuierlich bestrebt, ihre Vernetzung ins zivilgesellschaftliche Spektrum auszubauen. Sie versuchen auf diese Weise, demokratisches Engagement für ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu instrumentalisieren. Dazu verfolgen sie nach wie vor die Strategie der Anschlussfähigkeit, indem sie sich aktuellen 145 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode und gesellschaftlich akzeptierten Themen annehmen. Ihr primäres Ziel ist es, Menschen für ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu gewinnen und Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung zu nehmen. Im Berichtsjahr war der Kampf gegen den Rechtsextremismus das gesellschaftlich akzeptierte Hauptthema. Sowohl in der Betätigung gegen die AfD als auch gegen die Querdenker gingen Linksextremisten Bündnisse mit dem bürgerlichen Spektrum ein. Sie nutzten den breiten gesellschaftlichen Konsens in der Bekämpfung des Rechtsextremismus, um sich im vermeintlich gemeinsamen Kampf gegen diesen verbünden zu können. Dabei lassen sie im Verborgenen, dass ihr Verständnis des Antifaschismus-Begriffes eine Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung impliziert und sich eben nicht nur gegen den Rechtsextremismus richtet. Trotz der für Linksextremisten günstigen Ausgangsvoraussetzungen schafften sie es nicht, Personen des bürgerlichen Spektrums für eine dauerhafte Mitarbeit in linksextremistischen Zusammenhängen zu gewinnen oder zumindest intensivere Bündnisse einzugehen, die sie dauerhaft beeinflussen können. Für Sicherheitsbehörden bleibt es weiterhin die große Herausforderung, Personen und Gruppierungen den verschiedenen Spektren zuzuordnen. Gewaltpotenzial unverändert hoch, jedoch keine steigende Militanz ersichtlich Während im Bundesgebiet eine deutlich gesteigerte Radikalisierung und eine sich signifikant erhöhende Militanz zu beobachten war, verblieb das Gewaltpotenzial in Schleswig-Holstein auf einem unverändert hohen Niveau. Zudem waren keine gesteigerten Radikalisierungstendenzen erkennbar. Dennoch konnte festgestellt werden, dass trotz der Auswirkungen der Pandemie auf die linksextremistische Szene auch weiterhin eine erhebliche Gewaltbereitschaft besteht, die jederzeit anlassbezogen zur Umsetzung kommen kann. Insbesondere die autonome Szene ist weiterhin durch eine hohe Neigung zu Gewalt und Aggression gekennzeichnet, die auch bei generell geringer öffentlicher Aktivität durchgehend vorhanden ist. Anzeichen für eine weitere Erhöhung der Gewaltbereitschaft oder eine neue Eskalationsstufe in der konkreten Planung und Ausführung der Taten lagen im Berichtsjahr weder im Bereich der klandestinen noch der offenen Konfrontation vor. 146 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 2 Wesensmerkmale des Linksextremismus Verfassungsfeindliche Zielsetzungen Linksextremistische Organisationen, Gruppierungen und Parteien stellen eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung dar. Ihre unterschiedlichen Strömungen und Ideologien haben das gemeinsame Ziel, die bestehende, durch das Grundgesetz vorgegebene Staatsund Gesellschaftsordnung revolutionär zu überwinden. An ihre Stelle soll eine sozialistische, kommunistische oder anarchistisch-herrschaftsfreie Gesellschaftsform treten. Linksextremisten erkennen die parlamentarische Demokratie als bestehende Staatsform nicht an. Vielmehr wird diese Staatsform als Ausformung des ihrer Ansicht nach kapitalistischen Systems angesehen. Ziel ist daher deren Abschaffung. Unterschiede bestehen, je nach ideologischer Ausrichtung in den Wegen, die zu diesem Ziel führen sollen. Besetzung von gesellschaftlich anerkannten Themenfeldern zur Zielerreichung Schwerpunkte linksextremistischer Agitation liegen grundsätzlich auf den Themenfeldern Antifaschismus und Antirassismus sowie Antikapitalismus und Antirepression. Linksextremisten nutzen für ihre Themenfelder positiv besetzte Begriffe, so dass an dieser Stelle auf die Bedeutung aus linksextremistischer Sicht eingegangen wird. Antifaschismus Das Themenfeld Antifaschismus ist insbesondere für undogmatische, das heißt nicht starren Glaubenssätzen folgende, Linksextremisten wesentlich. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist eines der wichtigsten eigenen politischen Ziele. Ihr Feindbild sind hierbei jedoch nicht nur rechtsextremistische Strukturen, sondern gerade auch der bestehende Staat selbst. Linksextremisten bewerten den Rechtsextremismus als ein systemimmanentes Merkmal der deutschen Gesellschaftsordnung. Dabei unterstellen sie dem politischen System, den Rechtsextremismus durch aus ihrer Sicht rassistische und faschistische Gesetzgebung bewusst zu fördern. Insbesondere die undogmatischen Linksextremisten sehen den Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung im antifaschistischen Kampf und erkennen das staatliche Gewaltmonopol nicht an. 147 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Linksextremisten suchen allerdings auch bewusst die Nähe zum bürgerlichen Spektrum, um über das Zugpferd Antifaschismus linke Politikinhalte in die Gesellschaft zu tragen. Der revolutionäre Antifaschismus der dogmatischen Linksextremisten richtet sich primär gegen das als rein kapitalistisch empfundene System in Deutschland selbst. Er verfolgt das Ziel, die gesellschaftlichen Strukturen zu zerschlagen, die linksextremistischer Auffassung nach zwangsläufig Faschismus und Rassismus hervorbringen. Diese grundsätzliche Ablehnung des bestehenden Staatsgefüges bedeutet gleichzeitig auch eine Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Antirassismus Das Themenfeld Antirassismus ist zunehmend mit dem Antifaschismus verknüpft und kann im Rahmen von linksextremistischen Aktivitäten kaum mehr isoliert dargestellt werden. Das linksextremistische Verständnis von Rassismus stützt sich ebenfalls auf die Überzeugung, dass der Staat in seiner Gesamtheit faschistisch und rassistisch sei. Als Ursache für den Rassismus wird die von Klassengegensätzen, Ausbeutung und Unterdrückung geprägte kapitalistische Gesellschaft gesehen. Als eine Ausprägung des Rassismus des Staates gelten die Asylgesetzgebung sowie ausländerrechtliche Regelungen. Das als rassistisch angesehene System könne nur durch eine neue, solidarische Gesellschaftsordnung nach kommunistischem Vorbild überwunden werden. Damit wird die freiheitliche demokratische Grundordnung abgelehnt. Antikapitalismus Der Kampf gegen den Kapitalismus ist ein zentrales Element linksextremistischer Ideologien und kann u. a. auf Ideen von Karl Marx zurückgeführt werden. Dessen Theorie zufolge werden mit der Abschaffung der bestehenden Produktionsund Eigentumsverhältnisse als logische Folge auch die bisherigen Herrschaftsverhältnisse überwunden. Linksextremisten üben nicht nur Kritik am Kapitalismus mit seinen Strukturen und Eigentumsverhältnissen, indem sie soziale Ungerechtigkeiten und Armut anprangern. Vielmehr machen sie den Staat als solches für Faschismus, Repression und Krieg verantwortlich. Das Grundziel des Antikapitalismus ist demnach die Überwindung der kapitalistischen Staatsund Gesellschaftsordnung. Das 148 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 durch die freiheitliche demokratische Grundordnung gewährleistete System der sozialen Marktwirtschaft wird nicht akzeptiert. Antirepression In enger Verbindung mit dem Antikapitalismus steht das klassische Aktionsfeld Antirepression. Linksextremisten lehnen den vermeintlich repressiven Staat und seine Institutionen strikt ab und werten staatliches Handeln nahezu ausnahmslos als Repression. Die Legitimation des Staates für entsprechende Regelungen wird nicht anerkannt. Insbesondere Polizisten, die im Rahmen von begangenen Straftaten o- der in einem Demonstrationsgeschehen einschreiten, werden als direkte Vertreter dieses repressiven Staates und somit als legitimes Ziel bei Auseinandersetzungen angesehen. Dabei sehen insbesondere die autonomen Linksextremisten die eigene ausgeübte Gewalt als Abwehr der durch Polizisten und das System ausgeübten strukturellen Gewalt. Auch in dieser Haltung kommt die Ablehnung des Staates in seiner Gesamtheit und demzufolge auch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ausdruck. 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Phänomenbereich Linksextremismus Sowohl undogmatische als auch dogmatische Linksextremisten betrachteten die Pandemie-Situation nicht ausschließlich als Krise, sondern auch als Chance auf ihrem Weg zum angestrebten Systemwechsel. Dabei herrscht ein Konsens innerhalb der Szene, dass nicht das Virus der Auslöser der aktuellen Krise, sondern der Kapitalismus der eigentliche Verursacher der Pandemie ist. Die COVID-19-Pandemie verdeutliche lediglich das ohnehin stark kriselnde kapitalistische System, das es aus Sicht der Linksextremisten als Wurzel allen Übels weiterhin zu bekämpfen gilt. Als Reaktion auf den Ausbruch der COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen gegen deren Ausbreitung schränkten Linksextremisten ihre Aktivitäten zunächst erheblich ein. Die undogmatische Szene der Autonomen und Postautonomen baute mit zunehmenden und andauernden Einschränkungen verstärkt ihre virtuellen Kommunikationswege und Vernetzungsstrategien aus. Insbesondere zu Beginn der staatlichen Maßnahmen übten Linksextremisten starke Kritik an den 149 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Einschränkungen der Grundrechte und brachten diese auch in Form von Demonstrationen, Flyerund Plakataktionen auf die Straße. Sie warfen den politisch Verantwortlichen des ihrer Ansicht nach repressiven und kapitalistischen Staates vor, Grundrechte und damit Freiheiten über den Anlass der Pandemie dauerhaft außer Kraft setzen zu wollen. Über diese verstärkte Repression solle dann die absolute Kontrolle über die Bevölkerung erlangt werden. Diese auch außerhalb von Pandemiezeiten vorherrschende Sichtweise der Linksextremisten trat jedoch in den Hintergrund, als bundesdesweit vermehrt große Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen stattfanden. Mit der Querdenker-Bewegung etablierte sich eine neue, heterogene Protestbewegung, in der Linksextremisten schnell den Einfluss von vermeintlichen Rechtsextremisten, Reichsbürgern und rechtsextremistischen Verschwörungstheoretikern ausmachten. Die linksextremistische Szene positionierte sich strömungsübergreifend klar gegen diese Bewegung, deren Wirken fortan im Fokus der Szene stand. Sie nahm hier eine beobachtende und aufklärende Rolle ein. Von Linksextremisten organisierte oder mit Beteiligung von Linksextremisten landesweit durchgeführte Gegendemonstrationen gegen die Demonstrationen der Maßnahmengegner verliefen weitgehend friedlich. In Einzelfällen kam es zur spontanen konfrontativen Gewalt zwischen Einzelpersonen der beiden politischen Lager. Trotz anfänglicher Kritik von Linksextremisten an den staatlichen Beschränkungsmaßnahmen akzeptierten sie diese jedoch schnell, hielten sie nahezu uneingeschränkt ein und erachteten sie in der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie als sinnvoll. Zudem grenzten sich Linksextremisten damit zusätzlich gegen Querdenker und Coronaleugner ab. Im Umgang der Linksextremisten mit der Pandemie wurde im Verlauf des Berichtsjahres der Konflikt sehr deutlich, in dem sie sich befanden. Einerseits nahmen sie die für Linksextremisten ungewohnte und mit ihren Zielen nicht zu vereinbarende Rolle ein, einschränkende Maßnahmen des Staates anzuerkennen, umzusetzen und dadurch auch zu propagieren. Andererseits sollte der politische Kampf weitergeführt werden auf dem Weg zur Überwindung des kapitalistischen Systems. Im Berichtsjahr war jedoch nicht ersichtlich, dass linksextremistische Bestrebungen - beispielsweise über eine etwaige Anschlussfähigkeit an das bürgerliche Spektrum durch das gemeinsame Protestgeschehen gegen die Querdenkerbewegung - ihre politischen Ziele in die Zivilgesellschaft transportieren konnten. Damit führte das 150 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Pandemiegeschehen nicht zu einer anfangs von ihr erhofften Stärkung der linksextremistischen Szene in Schleswig-Holstein. 4 Organisationen und Gruppierungen des linksextremistischen Spektrums 4.1 Dogmatischer Linksextremismus Dogmatische Linkextremisten richten ihr politisches Handeln an revolutionär-marxistischen oder anarchistischen Lehren mit dem Ziel aus, die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung zu überwinden. Für diese Ausprägung des Linksextremismus ist das Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus als wissenschaftliche Ableitung zum revolutionären Handeln charakteristisch. Dogmaten folgen damit der vermeintlich wissenschaftlichen Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels, nach der der Kommunismus die endgültige und vollkommene aller Wirtschaftsund Gesellschaftsformen ist. Konkrete Hinweise und Vorgaben für die Ausgestaltung der neuen Gesellschaftsbzw. Wirtschaftsordnung gaben Marx und Engels nicht. Infolgedessen entwickelten verschiedene kommunistische Politiker und Philosophen wie Lenin, Trotzki, Stalin und Mao Theorien und Strategien, wie der Umsturz und die Neugestaltung der Gesellschaft gelingen könnten. Die Parteien des dogmatischen Linksextremismus entfalteten wie in den Vorjahren nur eine schwache Außenwirkung. Mit ihren politischen Zielen üben sie kaum Anziehungskraft auf das bürgerliche Personenspektrum aus. 4.1.1 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Die DKP wurde im Jahr 1968 gegründet und bildet bis heute den größten Personenzusammenschluss im dogmatischen Linksextremismus. Sie baut auf den Strukturen und der Ideologie der im Jahr 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) auf und bekennt sich zu den Lehren von Marx, Engels und Lenin als Leitlinie ihres politischen Handelns. Das zentrale Ziel der Partei ist der "revolutionäre Bruch mit den kapitalistischen Machtund Eigentumsverhältnissen"50 zur Errichtung einer sozialistischen bis hin zur klassen50 Internetseite "DKP", abgerufen am 03.12.2020. 151 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode losen kommunistischen Gesellschaft, in der die "Macht des arbeitenden Volkes verwirklicht wird"51. Die DKP strebt langfristig einen Systemwechsel an und richtet sich folglich gegen die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung, die auf den Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung basiert. In Schleswig-Holstein sind die DKP-Kreisverbände Kiel, Lübeck/Südost-Holstein, Pinneberg, Schleswig/Flensburg und Itzehoe/Nordfriesland aktiv. Sie befassen sich hauptsächlich mit aktuellen gesellschafts-, sozialund friedenspolitischen Fragestellungen und werden in den Themenfeldern Antimilitarismus, Antikapitalismus und Antifaschismus tätig. So nimmt die DKP im Internet regelmäßig Stellung zu aktuellen regionalen und überregionalen Ereignissen und ruft zur Teilnahme an Demonstrationen auf. Hierbei wird sie selten eigeninitiativ tätig, sondern schließt sich weiterhin überwiegend Bündnissen bzw. Aktionen anderer Bewegungen des linksextremistischen und auch des bürgerlichen-demokratischen Spektrums an. Im Berichtsjahr trat die DKP unter Einhaltung der Hygiene-Auflagen bei verschiedenen Bündnisversammlungen in Erscheinung. Zentrale Veranstaltungen, an denen sich die DKP im Berichtsjahr beteiligte, waren die Bündniskundgebungen in Kiel am 1. Mai zum "Tag der Arbeit" sowie am 6. Juni unter dem Motto "Solidarisch gegen Corona, Ausbeutung und Krise". An beiden Demonstrationen nahmen neben linksextremistische Gruppierungen (SDAJ, Perspektive Solidarität Kiel (PSK) sowie Autonome Antifa-Koordination Kiel (AAKK)) auch zivilgesellschaftliche Initiativen teil. Die PSK stellte in einem Beitrag zur 1. MaiDemo dar, dass Einigkeit der Beteiligten darüber bestand, dass "die Corona-Krise einmal mehr den menschenverachtenden Charakter des Kapitalismus unter Beweis stellt, der die Herbeiführung sozialistischer Gesellschaftsmodelle" 52 nötig mache. Weiterhin wurde gefordert, dass die Reichen die Krise bezahlen sollen. Die Mitarbeit der DKP Kiel an Bündnissen wird auch in der Kampagne gegen das neue Polizeigesetz in Schleswig-Holstein deutlich. Das Bündnis besteht sowohl aus bürgerlichen Initiativen und Parteien, als auch aus einer Vielzahl an linksextremistischen Zusammenschlüssen wie die AAKK, die Ortsgruppe Kiel der RH, die Sozia51 Internetseite "DKP", abgerufen am 03.12.2020. 52 Internetseite "Perspektive Solidarität", abgerufen am 04.05.2020. 152 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 listische Deutsche Arbeiterjugend Kiel (SDAJ-Kiel) sowie die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD). Unter dem Motto: "Nein zum Polizeigesetz - gegen Repression und Überwachung!" beteiligte sich die DKP Kiel am 4. November an einer kleinen, friedlich verlaufenen Kundgebung vor dem Kieler Landtag. In einem Redebeitrag der DKP Kiel warf sie der Bundesrepublik Deutschland vor, mit der Gesetzesänderung Mittel zu legitimieren, um "sich stärker als ohnehin schon gegen soziale, ökonomische und ökologische Bewegungen, also gegen Streiks, Versammlungen und Demonstrationen" 53 durchzusetzen. Dabei wurde die strikte Ablehnung des vermeintlich repressiven Staates und seiner Institutionen deutlich. Die DKP nimmt regelmäßig an Wahlen teil, konnte bislang aber keine nennenswerten Ergebnisse erzielen. Im Hinblick auf die Bundestagwahl 2021 ist die DKP bestrebt, die in Schleswig-Holstein benötigten 2.000 Unterstützungsunterschriften von Wahlberechtigten zu sammeln, um sich zur Wahl aufstellen zu lassen. Dabei möchte die DKP ihre sozialistische, "antikapitalistische Alternative zur Politik der Kriegstreiber und Krisenprofiteure"54 wählbar machen. Die DKP strebt somit weiterhin den revolutionären Systemwechsel an. Die DKP ist in Schleswig-Holstein auf Grund des hohen Durchschnittsalters ihrer Mitglieder und der für sie großen Herausforderung, neue Mitglieder für die Partei gewinnen zu müssen, kaum in der Lage aktionsorientiert zu arbeiten. Daher ist nicht zu erwarten, dass von der Partei in Schleswig-Holstein in naher Zukunft neue Impulse ausgehen und sie sich aus ihrer politischen Bedeutungslosigkeit befreien können wird. 4.1.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Die SDAJ ist die Jugendbzw. Nachwuchsorganisation der DKP. In Schleswig-Holstein ist sie überwiegend in Kiel und im Raum Lübeck aktiv. Die SDAJ strebt analog zur Mutterpartei die revolutionäre Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft an. Die SDAJ habe sich bundesweit zusammengeschlossen, um dieses Ziel mit einer "antikapitalistischen 53 Internetseite "DKP-Kiel", abgerufen am 03.12.2020. 54 Internetseite "DKP-SH", abgerufen am 04.12.2020. 153 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode und revolutionären Organisation"55 zu erreichen. Die Beobachtung der SDAJ durch den Verfassungsschutz resultiert aus der Unvereinbarkeit ihrer Ziele mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die SDAJ bemüht sich regelmäßig um Mitarbeit in Bündnissen des extremistischen, aber auch des nichtextremistischen Spektrums, um ihren Einfluss zu erhöhen. In Schleswig-Holstein ist die SDAJ Kiel und die SDAJ Lübeck Süd-Ost-Holstein aktiv. Beide Regionalgruppen führten im Berichtsjahr vor dem Hintergrund der CoronaPandemie jedoch nur wenige Aktionen durch. Die SDAJ Kiel beteiligte sich neben der DKP Kiel und weiteren linksextremistischen Gruppen an der von Bürgerlichen unterstützten Bündniskundgebung am 1. Mai in Kiel. Die Proteste am von Linksextremisten bezeichneten Kampftag der Arbeiterklasse waren in diesem Jahr von der Corona-Pandemie überlagert, daher forderte die SDAJ Kiel, dass die Krise von denjenigen bezahlt werden soll, "die in den letzten Jahren von dem kapitalistischen Irrsinn profitiert haben (...)" 56. Die SDAJ wird in Zukunft zur Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele weiterhin spektrenübergreifend mit diversen Bündnispartnern zusammenarbeiten und auch wieder verstärkt aktionsbezogen in Erscheinung treten. Im Gegensatz zur DKP ist die SDAJ grundsätzlich deutlich aktionsbezogener und stärker öffentlich wahrnehmbar. 4.1.3 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) Die MLPD wurde 1982 in Bochum gegründet und ist streng maoistisch-stalinistisch ausgerichtet. Sie lehnt wesentliche Verfassungsprinzipien ab und richtet sich in ihrem politischen Handeln gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. In ihrer Satzung belegt sie ihre Verfassungsfeindlichkeit in der Formulierung ihrer Zielsetzung: "Ihr grundlegendes Ziel ist der Sturz der Diktatur des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats in Deutschland als Teil der internationalen sozialistischen Revolution. Diese mündet 55 Internetseite "SDAJ", abgerufen am 04.12.2020. 56 Facebook-Seite "SDAJ Kiel", abgerufen am 28.04.2020. 154 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 schrittweise in den Aufbau der vereinigten sozialistischen Staaten der Welt als Übergangsstadium zur weltweiten klassenlosen kommunistischen Gesellschaft." 57 Die MLPD engagiert sich im Rahmen von Kampagnen in den unter Linksextremisten gängigen Themenfeldern Antifaschismus, Antiimperialismus und Antimilitarismus. Sie nimmt an Wahlen teil, konnte bisher jedoch keine nennenswerten Erfolge erzielen. Die MLPD erhält regelmäßig große Spenden von Einzelpersonen, so dass sie trotz ihrer geringen Bedeutung zu den finanzstärksten linksextremistischen Parteien in Deutschland gehört. Auf Grund ihres ausgeprägten Dogmatismus steht sie in der linksextremistischen Parteienund Organisationslandschaft weitgehend isoliert da. Die MLPD ist in Deutschland in über 450 Städten vertreten. In Schleswig-Holstein ist die MLPD Nordstrand und Lübeck aktiv, jedoch waren öffentlich wahrnehmbare Aktionen im Berichtszeitraum kaum feststellbar. Es ist nicht zu erwarten, dass die Partei in Zukunft an Bedeutung in der hiesigen linksextremistischen Szene gewinnen wird. 4.2 Undogmatischer Linksextremismus Der undogmatische Linksextremismus zeichnet sich im Kern durch seine wandlungsfähige Ideologie aus. Er wird insbesondere durch die Lehren des Anarchismus, Kommunismus und die Ideen des Marxismus geprägt. Im Gegensatz zum dogmatischen Linksextremismus werden sie jedoch nicht als starre Glaubenssätze angesehen, sondern bewusst hinterfragt. Eine Anpassung an die aktuelle politische Situation und die jeweils bestehende Lebenswirklichkeit ist ausdrücklich möglich und gewollt. Der undogmatische Linksextremismus setzt sich in Schleswig-Holstein im Wesentlichen aus Autonomen und Postautonomen zusammen. Einige Antiimperialisten, insbesondere in Kiel und im Hamburger Randgebiet, spielen öffentlich wahrnehmbar kaum eine eigenständige Rolle. Eine aktive Gestaltung von Aktionen und Demonstrationen fiel der Szene im von der Corona-Pandemie beherrschten Berichtsjahr schwer. Nahezu im gesamten linksextremistischen Spektrum wurde die Notwendigkeit einer Reduzierung von 57 Internetseite "MLPD", abgerufen am 04.12.2020. 155 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Kontakten als vernünftig angesehen. Damit waren größere Veranstaltungen weitgehend ausgeschlossen. Aber auch die Entwicklung der Szene durch interne Treffen war unter diesen Bedingungen kaum möglich. Daher muss das Berichtsjahr als Übergangsjahr ohne bedeutende Akzente nach innen und außen bewertet werden. Reaktiv wurde Aufwand in Gegenmaßnahmen zu Demonstrationen von CoronaLeugnern, Verschwörungstheoretikern und sogenannten Querdenkern gesteckt, nachdem klar wurde, dass sich tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten beteiligten. Zu Beginn des Jahres 2021 dürften aufgrund der anhaltenden Corona-Pandemie weiterhin kaum Impulse von der linksextremistischen Szene ausgehen. Sollte sich die Situation wie vielfach erwartet zum Sommer verbessern, würde auch das Aktionsniveau deutlich steigen. Es ist damit zu rechnen, dass der Versuch, die Klimabewegung zu beeinflussen, erneut in den Mittelpunkt rücken wird. Spätestens mit Beginn des Bundestagswahlkampfs wird sich der Fokus dann auf dieses Thema und die weitere Bekämpfung der AfD richten. 4.2.1 Autonome Die klassischen Autonomen stellen die große Mehrheit im Spektrum der undogmatischen Linksextremisten. Sie berufen sich im Gegensatz zu dogmatischen Linksextremisten auf keine einheitliche Ideologie, sondern bilden sich je nach Individualität und persönlicher Lebenssituation aus Fragmenten anarchistischer und kommunistischer Ideen ihr spezifisches Weltbild. Die autonome Weltanschauung ist durch eine grundsätzliche Ablehnung von festen Organisationsund Bündnisformen sowie hierarchischen Strukturen geprägt. Autonome treffen sich in losen, wenig verbindlichen Zusammenschlüssen, die zumeist sehr unbeständig sind. Das hat zur Folge, dass sich Gruppierungen schnell gründen und auflösen und sich je nach Interessenschwerpunkt neue Gruppen bilden. Dadurch entsteht eine hohe Fluktuation in der personellen Zusammensetzung. Zudem lehnen klassische Autonome Bündnisse mit szenefremden, insbesondere nichtextremistischen Gruppen und Organisationen grundsätzlich ab. Nichtextremisten würden lediglich Reformen im bestehenden System anstreben, während Autonome gerade das System überwinden wollen. Die freiheitliche demokratische Grundordnung wird demzufolge nicht anerkannt. 156 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Autonome setzen zur Erreichung ihrer Ziele uneingeschränkt die ihrer Meinung nach erforderlichen Mittel ein. Dadurch wird auch der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt. Die Gewaltorientierung, immer wieder Gegenstand von internen Debatten, gehört zum Selbstverständnis der autonomen Szene. Autonome streben auf Grundlage dieser Merkmale die Verwirklichung eines selbstbestimmten herrschaftsfreien Lebens in Freiräumen ohne staatlichen Einfluss an. Sie verorten ihre eigene Subkultur außerhalb der Gesellschaft, deren Normen und Verpflichtungen sie sich grundsätzlich verweigern. Dadurch empfinden sie das durch die Polizei ausgeübte Gewaltmonopol des Staates als Repression, gegen die nach Ansicht der Szene Gegengewalt zulässig und geboten ist. Daraus folgt, dass die autonome Szene die bestehende Verfassungsordnung kategorisch ablehnt. Ihr politisches Handeln ist somit nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar. Autonome Szenen finden sich typischerweise in größeren Städten. In SchleswigHolstein liegen die Schwerpunkte unverändert in Kiel und Lübeck. In beiden Städten existieren selbstverwaltete Zentren und Szenetreffpunkte, wie in Kiel die Alte Meierei sowie in Lübeck die Alternative e.V., kurz Walli genannt. Des Weiteren spielen insbesondere Wohngemeinschaften eine wichtige Rolle bei der Bildung subkultureller Strukturen linksextremistischer Autonomer. 4.2.2 Postautonome Viele ursprünglich aus dem autonomen Spektrum stammende Linksextremisten sahen in den 1990er Jahren die Notwendigkeit, die Unverbindlichkeit der autonomen Szene zu überwinden und eine kontinuierliche Arbeitsweise mit allgemeinpolitischer Ausrichtung aufzubauen, um nachhaltige Ergebnisse zu erreichen. Die Anhänger dieser Ausprägung der linksextremistisch-undogmatischen Szene werden als sogenannte Postautonome bezeichnet. In Schleswig-Holstein wird diese Ausrichtung durch die Interventionistische Linke (IL) vertreten. Die IL ist eine wachsende bundesweite Organisation mit über 30 Ortsgruppen. In Schleswig-Holstein existieren zwei bedeutende Ortsgruppen in Kiel und Lübeck sowie eine kleine, eher unbedeutende in Norderstedt. Die IL entwickelte sich aus einem zunächst losen Netzwerk von überwiegend linksextremistischen Gruppen und Einzelpersonen. 157 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Der Zusammenschluss zu einer großen und auf Dauer angelegten Organisation, die weiterhin aus lokal geprägten Gruppierungen besteht, soll die öffentliche Wahrnehmbarkeit im Vergleich zu einer Kleingruppe deutlich erhöhen. Zu diesem Zweck forciert die IL auch ausdrücklich Bündnisse mit Personen und Organisationen des bürgerlichen, demokratischen Spektrums. Dadurch sollen langfristig neue Anhänger für ihre verfassungsfeindlichen Ziele zur Vergrößerung der eigenen personellen Basis gewonnen werden. Anlassbezogen kann die IL zudem binnen kurzer Zeit auf ein größeres Mobilisierungspotenzial für Aktionen und Demonstrationen zurückgreifen. Um diese Bündnisfähigkeit ins demokratische Spektrum zu erhalten, verzichtet die IL trotz grundsätzlich bestehender Gewaltorientierung aus taktischer Überlegung heraus meistens auf die Ausübung von Gewalt. Die verschiedenen Ortsgruppen eint ein gemeinsames Grundverständnis über die Ziele der IL. In Detailfragen gibt es jedoch aufgrund der unterschiedlichen ideologischen und regionalen Herkunft heterogene Auffassungen. Diese Divergenzen verhinderten bisher ein endgültiges, einheitliches Grundsatzprogramm der IL. Am 11. Oktober 2014 veröffentlichte sie unter dem Titel "IL im Aufbruch - ein Zwischenstandspapier" ein "vorläufiges Ergebnis einer mehrjährigen Diskussion"58. Darin führt die IL aus: "Die Politik der IL orientiert sich am langfristigen strategischen Ziel einer radikalen Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse (...). Notwendiger Bestandteil einer solchen radikalen Transformation ist der revolutionäre Bruch (...). Um den Weg zu einer befreiten Gesellschaft freizumachen, braucht es die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Kapitalverwertung, auf denen die ökonomische Macht basiert, und die Überwindung des bürgerlichen Staatsapparates, als Garant dieser Eigentumsordnung."59 Die IL strebt demnach die Überwindung des bestehenden Staates und des Kapitalismus durch einen revolutionären Bruch an. 58 Internetseite "Interventionistische Linke", abgerufen am 14.12.2020. 59 Internetseite "Interventionistische Linke", abgerufen am 14.12.2020, Gliederungsnummer 8. 158 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Aus dem Zwischenstandspapier ergibt sich zudem unmittelbar das taktische Verhältnis der IL zur Gewaltfrage: "Die Überwindung des Kapitalismus ist letztlich eine Machtfrage und wir wissen, dass die Gegenseite ihre Macht mit allen Mitteln verteidigen wird. (...) Wir bewegen uns dabei in dem Widerspruch, dass unsere Politik einerseits darauf gerichtet ist, die Gewalt und die gewalttätigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden, und wir andererseits um den Charakter und die Schärfe des weltweiten Kampfes gegen die herrschende Ordnung wissen. Unsere Mittel und Aktionsformen, defensive wie offensive, bestimmen wir also strategisch und taktisch in den jeweiligen Situationen, so wie wir sie verantworten können, und entlang unserer grundsätzlichen Ziele und der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die wir vorfinden und verändern. Es geht uns darum, die kollektive Fähigkeit herzustellen, die Wahl der Mittel nach unseren Zielen selbst zu bestimmen."60 Dass es auch nach sechs Jahren "Zwischenstandspapier" nicht gelungen ist, sich auf ein Grundsatzpapier zu verständigen, zeigt die Problematik innerhalb der Konstruktion der Organisation. Zu viele unterschiedliche nicht vereinbare Positionen verhindern ein konkretes politisches Handeln. Hinzu kommt, dass viel Zeit und Kraft für die Beschäftigung mit sich selbst aufgewandt wird. So wird sich an der bisherigen Außenwahrnehmung, die IL sei lediglich ein Organisator und Dienstleister für das gesamte "linke" Spektrum, in naher Zukunft nichts ändern. 4.3 Rote Hilfe e.V. (RH) Die RH ist gemäß ihrer Satzung eine "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation"61, die "politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum unterstützt"62 . Sie betätigt sich in dem linksextremistischen Themenfeld Antirepression. Dabei liegt ihr Arbeitsschwerpunkt sowohl auf der politischen als auch auf der finanziellen Unterstützung von Beschuldigten, Angeklagten und Straf60 Internetseite "Interventionistische Linke", abgerufen am 14.12.2020, Gliederungsnummer 12. 61 Internetseite "Rote Hilfe", abgerufen am 04.12.2020. 62 Ebd. 159 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode tätern aus dem gesamten linksextremistischen Spektrum. Damit bietet sie einen bedeutenden Rückhalt in der linksextremistischen Szene im Kampf gegen die vermeintliche staatliche Repression. Die RH setzt sich aus Anhängern unterschiedlicher, auch linksextremistischer Ausrichtungen zusammen, die die Überzeugung teilen, dass jede Form der Unterstützung ein "Beitrag zur Stärkung der Bewegung" 63 sei. Durch Spenden, Zuschüsse aus Mitgliedsbeiträgen sowie durch Einnahmen aus Solidaritätsveranstaltungen gewährt sie den Betroffenen auf Antrag eine Gesamtkostenbeteiligung von bis zu 50 Prozent sowohl auf Geldstrafen und Geldbußen als auch auf Anwaltsund Prozesskosten. Die RH verfolgt mit ihrer Tätigkeit keine eigene Ideologie, sondern leistet Unterstützung für die gesamte linke Szene, unabhängig von ideologischen Unterschieden. Dadurch nimmt sie eine Sonderstellung in der linksextremistischen Szene ein. Allen beteiligten Personen soll bewusst sein, dass sie bei einem "Strafverfahren [...] nicht alleine dastehen. Ist es der wichtigste Zweck der staatlichen Verfolgung, diejenigen, die gemeinsam auf die Straße gegangen sind, durch Herausgreifen Einzelner voneinander zu isolieren und durch exemplarische Strafen Abschreckung zu bewirken, so stellt die Rote Hilfe dem das Prinzip der Solidarität entgegen und ermutigt damit zum weiterkämpfen."64 Über die Hilfe im Einzelfall hinaus unterstützt die RH Demonstrationen sowohl finanziell als auch durch Aufrufe und Rechtshilfeberatung. Außerdem organisiert sie regelmäßig Veranstaltungen zu den Themen Rechtshilfe und staatliche Repression und gibt themenbezogene Flugblätter heraus. Vierteljährlich erscheint die Rote Hilfe Zeitung, in der unter anderem über Unterstützungsfälle, Strafverfahren und Demonstrationen berichtet wird. Der Vertrieb dieser Zeitschrift erfolgt über den eigenen, in Kiel ansässigen Literaturvertrieb. 63 Internetseite "Rote Hilfe", abgerufen am 04.12.2020. 64 Internetseite "Rote Hilfe", abgerufen am 04.12.2020. 160 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Die RH stellt die Bundesrepublik Deutschland als willkürlich handelnden Staat dar, von dem eine politische Verfolgung ausgeht. Sie stellt das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Gerichte in Frage und erkennt die rechtsstaatliche Ordnung nicht an. Dadurch, dass die RH Straftäter aus unterschiedlichen Bereichen der linksextremistischen Szene in erheblichem Maße finanziell und solidarisch unterstützt, ermutigt sie Linksextremisten, für ihre Ziele weiterzukämpfen. Dabei geht es der RH nicht in erster Linie um Rechtshilfe, sondern um die Bekämpfung des Staates. Die RH hat mittlerweile weit über 11.000 Mitglieder, die bundesweit in mehr als 50 Ortsund Regionalgruppen organisiert sind. In Schleswig-Holstein existieren zwei Ortsgruppen in Kiel und Lübeck. Auch im Berichtsjahr unterstützte die RH in Schleswig-Holstein betroffene Einzelpersonen und Gruppen bei der Durchsetzung ihrer politischen Ziele und setzte ihre spektrenübergreifende Kampagnenarbeit im Hinblick auf ihre antirepressive Haltung fort. Im Berichtszeitraum betraf dies im Wesentlichen die Kampagne eines Bündnisses gegen die Novellierung des Polizeirechts im Landesverwaltungsgesetz. Das Bündnis besteht sowohl aus bürgerlichen Initiativen und Parteien als auch aus einer Vielzahl an linksextremistischen Zusammenschlüssen und Parteien, wie z.B. AAKK, die DKP, die SDAJ und die MLPD. Der Aufruf des Bündnisses mit dem Titel "Polizeistaat verhindern" kritisiert die aus seiner Sicht weitreichenden neuen "Kontroll-, Überwachungsund Datenspeicherungsmöglichkeiten"65 der Polizei und die Regelungen zum Schusswaffengebrauch. Dabei wird der Polizei in diffamierender Weise unterstellt, ihre Befugnisse vorzugsweise gegenüber Menschen einzusetzen, die aus rassistischen Vorurteilen anlasslos kontrolliert werden. Auch politisch aktive Menschen würden unter Generalverdacht gestellt werden. Mit dem Gesetz solle "die gesellschaftliche Akzeptanz für polizeiliches Morden" 66 gesteigert werden. Dem könne man sich nur mit praktischer Solidarität entgegensetzen. Der Aufruf endet mit den Worten: "Gemeinsam stellen wir uns gegen die Entwicklung in Richtung eines autoritären Polizeistaates".67 Mit diesem Aufruf scheint es Linksextremisten wie der RH gelungen zu sein, zivilgesellschaftliche Initiativen und Parteien einzubinden und diese für ihre linksextremistischen Ziele zu vereinnahmen. So sind auch bürgerliche, 65 Internetseite "Polizeigesetz SH", abgerufen am 04.12.2020. 66 Ebd. 67 Ebd. 161 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode in der Klimaund Flüchtlingsbewegung aktive Gruppen am Bündnis beteiligt. Die RH Kiel veranstaltete bereits am 3. März gemeinsam mit der TKKG Kiel einen gemeinsamen Infoabend mit dem Tenor "Polizeistaat verhindern". Die RH wird auch in Zukunft einen großen Einfluss innerhalb der linksextremistischen Szene haben. Über die Jahre konnte sie bundesweit einen enormen Mitgliederzuwachs verzeichnen. Die Bedeutung der RH als wichtiger Stabilitätsfaktor der linksextremistischen Szene wird weiterwachsen. 5 Linksextremistische Aktivitäten 5.1 Antifaschismus und Antirassismus Zwischen dem linksextremistischen Verständnis des sogenannten "Antifaschismusund Antirassismuskampfes"68 gibt es eine große Schnittmenge, so dass eine klare Trennung nicht möglich ist. Beide Themenbereiche vereint, dass sie das aus ihrer Sicht institutionelle Versagen des Staates und aller Bürger, die daran bewusst oder unbewusst beteiligt sind, in den Mittelpunkt stellen. Im Vergleich dazu geht es im bürgerlichen Verständnis von Antifaschismus und Antirassismus darum, konkreten rechtsextremistischen bzw. rassistischen Ereignissen und Verhaltensweisen entgegenzutreten (z. B. Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte; abwertende Äußerungen gegenüber Menschen anderer Ethnien). Aus ihrem Verständnis von Faschismus und Rassismus heraus legitimieren Linksextremisten ihren Antifaschismusund Antirassismuskampf. Hierbei gehört es zu ihrer Strategie, insbesondere bei Autonomen, auch Straftaten bis hin zu Gewaltanwendung gegen Personen und Sachen zu verüben. Dies führt dazu, dass neben Politikern, Parteien, Vereinen und Privatpersonen auch staatliche Institutionen angegriffen werden. Autonome Antifaschisten bedienten sich der bekannten Instrumentarien wie Sachbeschädigung, Recherchemaßnahmen sowie daran anschließende Outings von vermeintlichen Rechtsextremisten, Protestaktionen gegen Veranstaltungen sowie vereinzelt Gewalttaten wie Körperverletzung und Brandstiftung. Diese Aktionen wurden zunehmend klandestin geplant und von Kleingruppen und Einzelpersonen begangen. 68 Siehe Abschnitt 2 zu Antifaschismus und Antirassismus. 162 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf antifaschistische Aktivitäten Die Ausprägung linksextremistischer Aktivitäten in den Basisthemenfeldern Antifaschismus und Antirassismus war im Berichtsjahr stark von der COVID-19-Pandemie geprägt. Im Frühjahrs-Lockdown gingen die Aktionen in diesem wie auch in allen anderen Bereichen erheblich zurück und Aktivitäten verlagerten sich vermehrt ins Internet, insbesondere in die sozialen Netzwerke. Im Zusammenhang mit der Etablierung der neuen, heterogenen Querdenkerund Coronaleugner-Bewegung erkannten Linksextremisten jedoch schnell den Einfluss von vermeintlichen Rechtsextremisten, Reichsbürgern und rechtsextremistischen Verschwörungstheoretikern. Die linksextremistische Szene positionierte sich eindeutig gegen diese neue Protestbewegung und organisierte landesweit regelmäßig Gegendemonstrationen gegen Querdenker-Demonstrationen oder beteiligte sich an von zivilgesellschaftlichen Initiativen organisierten Protesten. Autonome Antifaschisten nahmen in der Bekämpfung dieser Bewegung eine überwiegend beobachtend aufklärerische Rolle ein und analysierten die Querdenker-Gruppierungen auf die Beteiligung von Rechtsextremisten. So wurden im April und Mai die regelmäßig in Kiel stattfindenden Mahnwachen unter diesem Gesichtspunkt von Linksextremisten, aber auch Bürgerlichen beobachtet. Der linksextremistisch beeinflusste Runder Tisch gegen Rassismus und Faschismus (RT) Kiel meldete regelmäßig Kundgebungen an. Autonome Antifaschisten hielten sich in direkter Nähe zu den Mahnwachen auf und provozierten die Teilnehmer verbal. In Einzelfällen mündete ein Aufeinandertreffen der beiden Lager in spontanen Gewalttaten von Einzelpersonen. Die AAKK veröffentlichte im Nachgang der Gegenproteste jeweils eine ausführliche Berichterstattung im Internet. Nachdem die sogenannten Corona-Mahnwachen und die damit verbundenen Proteste zunächst beinahe wöchentlich durchgeführt wurden, ebbten diese Versammlungslagen im Zuge der Lockerungen der GrundrechtsEinschränkungen im Frühsommer zunächst ab. Im August mobilisierten Linksextremisten wie die AAKK unter dem Motto: "Rotfront statt Querfront - kein rechtsoffener Corona-Aufmarsch am 16.08.2020 in Kiel!" dann erneut gegen eine Versammlung von Corona-Maßnahmengegnern in Kiel. Sie riefen auf, den rechtsoffenen Aufmarsch nicht widerstandslos hinzunehmen. Insge163 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode samt nahmen rund 100 Personen des bürgerlichen und linksextremistischen Spektrums an den Protesten teil. Dabei mussten circa 20 Personen von der Polizei abgedrängt werden, nachdem diese versucht hatten, lautstark auf die gegnerische Versammlung Einfluss zu nehmen. Und auch am 20. September kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen im Nachgang einer bürgerlich geprägten Protestkundgebung gegen Corona-Maßnahmengegner, als eine circa 20-köpfige Gruppe von Antifaschisten die gegnerischen Versammlungsteilnehmer provozierte. AfD weiterhin Schwerpunkt antifaschistischer Aktionen Der politische Hauptgegner des linksextremistischen Spektrums war weiterhin die Partei AfD, die aufgrund der ihr vorgeworfenen rassistischen, faschistischen, islamfeindlichen und antidemokratischen Inhalte und Propaganda grundsätzlich eine Angriffsfläche für Agitation und Aktionen bietet. Mit der Bekämpfung der AfD bedient die linksextremistische Szene ein Aktionsfeld, das ein großes Anschlusspotential in die bürgerlich-demokratische Mitte der Gesellschaft hat. Die damit einhergehende Entgrenzung zwischen gesellschaftlich anerkannten demokratischen und linksextremistischen Positionen bringt die Herausforderung mit sich, beteiligte Personen und Gruppierungen den einzelnen Spektren zuzuordnen. Aufgrund der im Verlauf der Covid 19-Pandemie zurückgehenden Aktionen und Veranstaltungen der AfD verringerten sich auch die linksextremistischen Betätigungen gegen die Partei. Trotzdem agierten insbesondere autonome Antifaschisten mit den bekannten Instrumentarien im antifaschistischen Kampf gegen Mitglieder und Sympathisanten der AfD. Es ist zu erwarten, dass die linksextremistische Szene im Kontext der anstehenden Bundestagswahl und des damit verbundenen Wahlkampfes der Partei ihre Aktivitäten wieder hochfährt. Instrumentarien im antifaschistischen Kampf Im antifaschistischen Kampf wurden wiederholt sogenannte Outings genutzt. Dabei outeten Linksextremisten vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten überwiegend im Internet, aber auch beim Arbeitgeber oder in der Nachbarschaft. Im Vorwege fanden umfangreiche Recherchemaßnahmen statt, so dass neben Woh164 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 nort der betreffenden Personen auch Daten wie Arbeitgeber oder Adresse veröffentlicht wurden. Ziel dieser Outingaktionen war es, den Ruf dieser Person zu schädigen und diese sozial zu isolieren. Im Berichtsjahr wurden neben Rechtsextremisten, Querdenkern und Verschwörungstheoretikern auch wiederholt AfD-Sympathisanten und-mitglieder als vermeintliche Rechtsextremisten geoutet. Des Weiteren verübten Linksextremisten Sachbeschädigungen als Protestaktionen in den Aktionsfeldern Antifaschismus und Antirassismus. Die Sachbeschädigungen wurden häufig in Form von Graffitis an öffentlichen Plätzen, Gebäuden, aber auch an privaten Wohnhäusern angebracht. Zudem erfolgten Sachbeschädigungen an Autos und Wohnhäusern von AfD-Mitgliedern. Am 28. Mai verübten unbekannte Täter in Timmendorfer Strand zudem eine Brandstiftung an dem PKW einer AfDKommunal-Politikerin. Das Vorgehen der autonomen Linksextremisten aus Recherche, Outing und Sachbeschädigung lässt sich umfänglich im Kontext eines Ereignisses in Henstedt-Ulzburg (Kreis Segeberg) verdeutlichen: Am 17. Oktober steuerte ein 19-Jähriger am Rande einer nicht angemeldeten Gegendemonstration gegen eine AfD-Veranstaltung seinen PKW in vier der 50-60 Teilnehmer dieser Demonstration, die überwiegend dem linken und linksextremistischen Spektrum angehörten. Drei der vier Personen wurden verletzt. Die linksextremistische Szene griff diesen Vorfall wie erwartet auf, um Kritik an dem Vorgehen der Polizei sowie dem Staat zu äußern und wiederholt deutlich zu machen, dass sie auf dem rechten Auge blind seien. Linksextremisten ordnen den Fahrer als vermeintlichen AfD-Sympathisanten dem rechtsextremistischen Spektrum zu, ihrer Ansicht nach handelte es sich eindeutig um einen politisch motivierten Mordversuch. Der Vorfall erregte deutschlandweit Aufmerksamkeit in der linksextremistischen Szene und führte zu zahlreichen Solidaritätsbekundungen aus dem gesamten Bundesgebiet. Auch Wochen danach wurde insbesondere von der schleswig-holsteinischen Szene Bezug auf Henstedt-Ulzburg genommen. Der am häufigsten genutzte Slogan war "Henstedt-Ulzburg, das war kein Unfall". In der Auseinandersetzung mit diesem Vorfall kam es zu zahlreichen Sachbeschädigungen mit Bezug zu dem vermeintlich versuchten politisch motivierten Mord. 165 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Im Nachgang der Ereignisse recherchierten Linksextremisten zudem phänomenbereichstypisch im Umfeld des Fahrers und veröffentlichten seinen Namen, einen kurzen Lebenslauf und sein Instagramprofil in den sozialen Medien sowie auf mehreren Plattformen wie der von Linksextremisten intensiv genutzten Internetseite de.indymedia.org. Gaststätte Titanic in Neumünster weiterhin Ziel von Antifaschisten Ein breites Bündnis aus Bürgerlichen und Linksextremisten beteiligte sich am 15. Februar an Protesten gegen ein rechtsextremistisches Konzert in der Gaststätte Titanic in Neumünster. Antifaschistische Gruppen aus Hamburg und Schleswig-Holstein mobilisierten im Vorfeld unter dem Motto: "Combat 18 zerschlagen - OidoxieKonzert in Neumünster verhindern!" In der Anreisephase kam es zu gegenseitigen verbalen Attacken zwischen den Besuchern des Konzerts und den Teilnehmern der insgesamt 400 Personen umfassenden Gegendemonstration, an der sich in großer Anzahl Linksextremisten aus Neumünster, Kiel, Lübeck und Hamburg beteiligten. Mehrfach wurde Pyrotechnik gezündet. Direkte körperliche Auseinandersetzungen konnten von der Polizei verhindert werden. In linksextremistischen Kreisen wurde der Gegenprotest im Nachgang als Erfolg gewertet. Man habe kraftvoll und entschlossen ein Zeichen gegen Rechtsextremismus setzen können. Im Zusammenhang mit dem Oidoxie-Konzert in Neumünster führten Linksextremisten Sachbeschädigungen und Outing-Aktionen durch. Dass Linksextremisten auch während der Corona-Pandemie in der Lage sind, klandestine Aktionen durchzuführen, zeigte sich in der Nacht zum 15. April. Unbekannte Täter beschädigten die Gaststätte Titanic, indem die Eingangstür und die Fenster mit roter Farbe und Parolen im Zusammenhang mit der antifaschistischen Kampagne "Für mehr Eisberge - Titanic versenken" beschmiert wurde. Gleichzeitig wurden in der Nachbarschaft des Vermieters der Titanic in Aukrug (Kreis RendsburgEckernförde) Outing-Flyer verteilt. Auf der Internetseite indymedia.org wurde ein Selbstbezichtigungsschreiben eingestellt. Darin kündigten die unbekannten Verfasser nachfolgende Aktionen an, bis die Titanic endgültig geschlossen werde. 166 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Im September bewiesen autonome Antifaschisten, dass sie trotz einer deutlich eingeschränkten Grundaktivität innerhalb kurzer Zeit in der Lage sind, ihr Personenpotenzial erfolgreich zu mobilisieren und auf die Straße zu bringen. So beteiligten sich insgesamt 50 Linksextremisten aus Kiel und Neumünster an einem Protest gegen eine NPD-Kundgebung in Neumünster. 5.2 Beteiligung im Rahmen der Klimabewegung Die Dynamik im gesamtgesellschaftlichen Diskurs des Jahres 2019 zum Umgang mit dem Klimawandel wurde im Berichtsjahr stark gebremst. Selbst dieses Thema konnte sich der alles andere überlagernden Corona-Pandemie nicht entziehen. Die durch Organisationen des demokratischen Spektrums dominierte Bewegung unterließ weitgehend geplante größere Aktionen und Demonstrationen. Damit war Linksextremisten überwiegend der Boden entzogen, sich in solche Veranstaltungen beeinflussend einzubringen oder mit eigenen Initiativen sogar die politische Richtung vorzugeben. Die Verantwortlichen demokratischer Organisationen, die ihren Überzeugungen mittels grundgesetzlich geschütztem Demonstrationsrecht in der politischen Auseinandersetzung Gehör verschaffen wollen, stehen immer wieder vor Abgrenzungsproblemen. Insbesondere bei Veranstaltungen von Bündnissen unterschiedlichster Gruppen ergeben sich die folgenden Fragestellungen: Beteiligen sich erkennbar extremistische Gruppen an dem Bündnis? Wird die Aussage der Demonstration auf Einfluss von Extremisten so verändert, dass Teile der unveräußerlichen demokratischen Grundordnung verletzt werden? In Kiel dominierte im Berichtsjahr die TurboKlimaKampfGruppe (TKKG) das Demonstrationsgeschehen in der Klimabewegung. Die TKKG hat sich im Jahr 2016 gegründet und bezeichnet sich selbst als "bunte Gruppe aus Klima-Aktivist*innen", die "einen freshen radikalen Wind in die Kieler Ökoszene"69 bringen möchte. Nachdem die TKKG zunächst ausschließlich Klimaund Umweltfragen thematisiert hatte, bei denen auch öffentlichkeitswirksame Aktionen eine Rolle spielten, rückte 69 Internetseite "TKKG", abgerufen am 04.12.2020. 167 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode zunehmend das von Linksextremisten bediente Aktionsfeld Antirepression in den Vordergrund. Hintergrund dafür waren die aus Sicht der Gruppe unverhältnismäßigen Maßnahmen der Polizei im Zusammenhang mit den Protestaktionen der Klimabewegung im Hambacher Forst (Nordrhein-Westfalen) und in der Lausitz (Brandenburg und Sachsen). Auf ihrer Internetseite macht die TKKG deutlich, dass das Thema Klimagerechtigkeit auch eng mit dem Thema Antifaschismus verknüpft sei. Zudem rief die TKKG im Frühjahr des Berichtsjahres gemeinsam mit der linksextremistischen RH zu einer Infoveranstaltung auf, die die Verschärfung des Landespolizeigesetzes in Schleswig-Holstein zum Inhalt hatte. Die Veranstaltung trug die Überschrift: "Polizeistaat verhindern!". Vor diesem Hintergrund sind auch die Klimaaktionen der TKKG zu bewerten, die regelmäßig über die Grenzen der Legalität hinausgehen. Aufsehen erregte die TKKG zum Beispiel mit einer Blockadeaktion am 15. August auf der Bundesstraße B404 in Kiel, um gegen den Ausbau der Bundesstraße zur A21 zu protestieren. Dabei stellten die Aktivisten aus Holzpaletten gefertigte Hindernisse mit jeweils einer eingeschlossenen und angeketteten Person auf die Straße. Weitere Beteiligte seilten sich von einer vor Ort befindlichen Brücke ab. Auf ihrer Internetseite führte die TKKG aus, dass mit der Aktion auch die "Macht der Autoindustrie" angegriffen werden sollte, die "angetrieben vom blinden Profitzwang unseres Wirtschaftssystems, weiter ihre gesellschaftliche Vormachtstellung durchzusetzen versucht"70. Die TKKG machte zudem deutlich, dass das linke Kulturzentrum "Alte Meierei", das regelmäßig auch von Linksextremisten frequentiert wird, bedroht sein könnte. Auch solidarisierte sich die Gruppe mit bundesweit stattfindenden Protesten gegen den Ausbau der A49 im Zusammenhang mit der teilweisen Rodung des Dannenröder Forsts (Hessen). Auf Grund ihrer mittlerweile aggressiven Verlautbarungen und gegen den Rechtsstaat gerichteten Handlungen zeigt sich deutlich, dass die TKKG die Grenze des legitimen demokratischen Protests überschritten hat und weit mehr als eine in der bürgerlichen Umweltbewegung aktive Gruppe ist. 70 Internetseite "TKKG", abgerufen am 04.12.2020. 168 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Auch in Lübeck erfuhr die Klimabewegung immer wieder Unterstützung durch linksextremistische Gruppen und Einzelpersonen. Linksextremisten mobilisierten öffentlich für Veranstaltungen des überwiegend bürgerlichen Spektrums, waren aber auch in der Planung und Durchführung eigener Aktionen aktiv. Eine dieser Aktionen fand in der Nacht vom 6. auf den 7. November in Lübeck statt. Hierbei wurde das Büro der Partei Bündnis 90/Die Grünen mittels Farbe beschädigt. Den Übergriff stellten Linksextremisten in den Zusammenhang mit der Rodung des Dannenröder Forsts in Hessen. 5.3 Anti-Gentrifizierung Anfang des Berichtsjahres erfuhr das Themenfeld Anti-Gentrifizierung eine gesteigerte Bedeutung im militanten Protest schleswig-holsteinischer Linksextremisten. Anti-Gentrifizierung bezeichnet den Kampf gegen städtebauliche Umstrukturierungen. Die Aufwertung von Stadtteilen durch umfangreiche Sanierungen führt zu steigenden Mieten und damit zur Verdrängung der bisherigen Bewohner zugunsten zahlungskräftigerer Mieter. Dadurch betrifft dieses Thema in besonderem Maße auch das bürgerliche Spektrum, so dass eine gesteigerte Anschlussfähigkeit des Protests bis in die Mitte der Gesellschaft besteht. Linksextremisten geht es in ihrem Protest gegen die Gentrifizierung jedoch nicht nur um den Erhalt gewachsener Strukturen, ihre extremistischen Ziele gehen deutlich über die legitimen sozialpolitischen Ziele der Gesellschaft hinaus. Vielmehr streben sie den Erhalt und die Etablierung sogenannter Autonomer Freiräume an. Diese Szeneobjekte werden von Szeneangehörigen als Mikrokosmos angesehen, in denen weder Rechtsnormen noch bürgerliche Werte und Konventionen Platz haben. Ziele der Proteste gegen die Gentrifizierung sind vorwiegend Immobilienunternehmen, denen Linksextremisten Ausbeutung, Wohnungsverknappung und damit überhöhte Mieten vorwerfen. Mitte Januar wurde bekannt, dass für mehrere Tage ein leerstehendes Einfamilienhaus des Immobilienunternehmens VONOVIA in Kiel besetzt wurde. Im gesamten Gebäude brachten die Hausbesetzer großflächige Farbschmierereien mit linksgerichteten Parolen an. In einem Selbstbezichtigungsschreiben auf der von Linksextremisten genutzten Internetplattform indymedia.org wurde die Hausbesetzung als 169 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode erste Warnung an VONOVIA und die Stadt Kiel dargestellt, sollte das Kieler Wohnraumproblem fortbestehen und die Immobilienfirma weiterhin "ausbeuterisch mit Menschen"71 umgehen. Nachdem die Polizei am 27. Februar Hausdurchsuchungen im Tatzusammenhang durchgeführt hatte, rief die TKKG zu einer solidarischen Kundgebung auf. "Wir, als emanzipatorische, solidarisch zusammenstehende intersektionale Bewegung lassen uns nicht unterkriegen und abschrecken durch die Repression des Staates. Wir brauchen mehr Besetzungen, Baggerblockaden, Demos etc. und vor allem Hausbesetzungen statt Hausdurchsuchungen." 72 In der Nacht zum 25. Januar verübten unbekannte Täter eine Brandstiftung an einem Büro der VONOVIA-Immobiliengesellschaft in Kiel. Dazu hatten die Täter eine Scheibe des freistehenden Bungalows eingeschlagen und einen Brandsatz im Gebäude platziert. Noch in der Nacht bekannte sich die bis dato unbekannte Aktionsgruppe "F.S.K." (Freiräume.Schaffen.Kiel) zu der Tat. In ihrer Mitteilung kritisierte die Aktionsgruppe die Wohnungspolitik des Unternehmens und kündigte weitere Anschläge an. In Schleswig-Holstein war diese Militanz im Protest gegen Immobilienunternehmen bis dahin nicht erkennbar. Es hatte zwar bereits vereinzelte Sachbeschädigungen in Form von Graffiti gegeben, Brandanschläge oder Körperverletzungen waren jedoch nicht verübt worden. Eines der bundesweiten Hauptthemen im Zusammenhang mit der Gentrifizierung war im Berichtsjahr die geplante Räumung eines besetzten Hauses in der Liebigstraße 34 in Berlin. Dieses Szeneobjekt hatte bundesweit eine hohe Symbolwirkung für die linksextremistische Szene. In Lübeck kam es als Reaktion auf die für den 9. Oktober vorgesehene Räumung mehrfach zu Sachbeschädigungen. Vom 10. auf den 11. Juli verübten unbekannte Täter Farbanschläge auf mehrere örtliche Parteibüros. Kurz vor der Räumung drangen in Lübeck unbekannte Täter in zwei leerstehende Gebäude ein und befestigten Transparente an der Außenfassade. Zusätzlich wurden nach der Räumung am 10. und 12. Oktober zwei Polizeireviere mittels Farbe beschädigt. 71 Internetseite "indymedia", abgerufen am 17.01.2020. 72 Facebook-Seite "TKKG", abgerufen am 27.02.2020. 170 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 6 Mitgliederentwicklung der linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen Mitgliederentwicklung der linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen in Schleswig-Holstein 2016-2020 2016 2017 2018 2019 2020 Marxisten-Leninisten und sonstige revolutionäre Mar370 360 345 375 405 xisten (dogmatischer Linksextremismus) Autonome, Postautonome und sonstige undogmatische 300 310 325 325 325 Linksextremisten Gesamt Land 670 670 670 700 730 Davon gewaltorientiert 310 325 335 335 340 171 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode VII Extremismus mit Auslandsbezug 1 Überblick Wie in den Vorjahren spielen im Bereich des Extremismus mit Auslandsbezug in Schleswig-Holstein immer noch Organisationen, die ihren Ursprung in der Türkei haben, die größte Rolle. Die wichtigsten extremistischen Gruppierungen in diesem Zusammenhang sind die linksextremistische pro-kurdische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihr politischer Gegner, die türkisch-rechtsextremistische Ülkücü-Bewegung. Grenzüberschreitende Militäroffensiven der türkischen Streitkräfte im Nahen Osten wurden von der PKK-Anhängerschaft und solidarischen Gruppen in Deutschland, auch in Schleswig-Holstein, auf Demonstrationen und Kundgebungen kritisiert, soweit es die Infektionsschutz-Bestimmungen im Zuge der Corona-Pandemie zuließen. An zahlreichen Verlautbarungen zeigte sich das Bestreben der PKK, die nichtextremistische Klimaschutzbewegung für ihr Kernanliegen, den "kurdischen Befreiungskampf", zu vereinnahmen. Im Verbund mit der PKK und deutschen Linksextremisten organisierten oder beteiligten sich Anhänger der Marxistischen Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) an einzelnen Demonstrationen im Land. Im öffentlichen Erscheinungsbild blieb die Organisation jedoch weitgehend unauffällig. Die organisierte Ülkücü-Bewegung musste im Berichtsjahr den größten Teil ihrer öffentlichen Veranstaltungen absagen oder auf ungewisse Zeit verschieben, was dazu führte, dass die örtlichen Vereine im Berichtsjahr kaum öffentlich in Erscheinung getreten sind. 2 Wesensmerkmale und Begriffsbestimmungen Der Begriff Extremismus mit Auslandsbezug fasst unterschiedliche Bestrebungen zusammen, die ihren Ursprung jeweils in politischen, sozialen oder ethnischen Konflikten in Ländern außerhalb Deutschlands haben, und die nicht primär aus islamistischer Motivation handeln. Es handelt sich dabei also nicht um ein einheitliches, tendenziell untereinander bündnisfähiges Spektrum, sondern um sehr unterschiedliche, teilweise gegenläufige Bestrebungen. 172 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Einige dieser Bestrebungen sind geprägt durch Ideologieelemente aus dem Linksextremismus (vgl. Kapitel VI) und beziehen sich auf universelle kommunistische bzw. sozialistische Vordenker wie Marx und Lenin, so beispielsweise die MLKP. Bei einigen extremistischen Ausländergruppierungen aus dem linken Spektrum ist die ursprüngliche sozialistische oder kommunistische Ausrichtung inzwischen in den Hintergrund getreten und durch eigene Ideologieelemente und Forderungen modifiziert worden, so beispielsweise bei der PKK (vgl. Ziffer 4.1). Bei anderen extremistischen Bestrebungen mit Auslandsbezug finden sich Ideologieelemente des Rechtsextremismus (vgl. Kapitel III) in Form von Rassismus und einer nationalistischen Prägung, die der eigenen Volksgruppe einen höheren Wert beimisst als anderen Ethnien. Die Vordenker der jeweiligen Ideologie stammen in der Regel aus der jeweiligen Volksgruppe, die sie ideologisch überhöhen, beispielsweise Nihal Atsiz für die Ülkücü-Bewegung. Die Aktivitäten der extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug in Deutschland werden maßgeblich beeinflusst durch die aktuellen Ereignisse in den jeweiligen Herkunftsländern und durch die Vorgaben der dortigen zentralen Organisationseinheiten. Das Handeln in Deutschland ist vorrangig darauf ausgerichtet, die jeweiligen Hauptorganisationen in den Heimatländern zu unterstützen, sei es durch Geldspenden, Rekrutierung neuer Mitglieder, Vorhalten eines Rückzugsraumes für politisch verfolgte Organisationsmitglieder sowie durch Lobbyarbeit und Einflussnahme auf die öffentliche Meinung. Obwohl die Aktivitäten dieser extremistischen Organisationen sich nicht primär gegen die Bundesrepublik Deutschland richten, sind sie für die äußere und innere Sicherheit Deutschlands problematisch: Eine Unterstützung von Organisationen, die im Ausland gewalttätig und terroristisch agieren, von deutschem Boden aus gefährdet auswärtige Belange der Bundesrepublik und schadet der Völkerverständigung. Das gewaltsame Austragen von Konflikten verschiedener Migrantengruppen untereinander innerhalb der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt die innere Sicherheit, missachtet das staatliche Gewaltmonopol und gefährdet die verfassungsmäßigen Rechte der jeweiligen Opfer. 173 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode In Schleswig-Holstein sind hinsichtlich des Extremismus mit Auslandsbezug vor allem die Wechselwirkungen der mitgliederstärksten Beobachtungsobjekte mit Bezug zur Türkei, nämlich der PKK (siehe 4.1) und der türkischen Rechtsextremisten/Ülkücü-Bewegung (siehe 4.3), relevant. Die PKK wird vom Verfassungsschutz in erster Linie beobachtet, weil sie auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Dies äußert sich dergestalt, dass sie im Ausland ihre politischen Ziele mit militärischer und terroristischer Gewalt verfolgt und diese Gewaltanwendung durch Spendensammlungen und Rekrutierungen in Deutschland fördert. Obwohl die PKK in Europa seit Jahren auf spektakuläre Gewaltaktionen verzichtet, um sich im politischen Raum als seriöse Interessenvertretung für kurdische Belange zu profilieren, gefährdet ihre Tätigkeit auch die innere Sicherheit Deutschlands: Durch einen flächendeckend vorhandenen Kaderapparat und eigene Medien kann die PKK kurzfristig Tausende von Anhängern zu Protestwellen vorgegebener Intensität mobilisieren. Nach dem Verständnis der PKK umfasst das von ihr sogenannte friedliche Protestverhalten auch Straftaten wie zum Beispiel Hausund Landfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und gefährliche Eingriffe in den Verkehr. Gewalttätige Ausschreitungen - vor allem gegen türkische Rechtsextremisten - im Rahmen von Versammlungslagen werden von den PKK-nahen Organisationen in Deutschland ebenso billigend in Kauf genommen wie Sachbeschädigungen und Brandanschläge gegen türkische Objekte durch sogenannte Apoistische Jugendinitiativen. Der Begriff "apoistisch" nimmt Bezug auf den PKK-Gründer Abdullah ÖCALAN, der von seinen Anhängern verehrend "Apo" - Kurdisch für "Onkel" - genannt wird. "Apoistisch" bedeutet folglich "Öcalan-treu". Der Begriff "Apoistische Jugendinitiative" wird regelmäßig in Bekennungen zu Straftaten auf der Internetseite der PKKJugendorganisation verwendet. Der türkische Linksextremismus umfasst ein breites Spektrum an verschiedenen Organisationen und Parteien. In Schleswig-Holstein ist vorwiegend die MLKP vertreten. Ihre Ideologie ist kommunistisch mit einer marxistisch-leninistischen Ausprägung. Für die meisten der türkisch linksextremistischen Organisationen gilt 174 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Deutschland als Rückzugraum, weshalb dort grundsätzlich keine gewaltsamen Aktionen durchgeführt werden. Allerdings wird über die Mitglieder, von Deutschland aus, finanzielle und logistische Unterstützung für gewaltsame Aktionen in der Türkei geleistet. Dadurch gefährdet sie auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Die Ülkücü-Bewegung zeichnet sich durch einen übersteigerten Nationalismus aus, welcher sich insbesondere in der Forderung nach einer Vereinigung aller Turkvölker in einem gemeinsamen Staat auszeichnet. Die Anhänger der Ülkücü-Bewegung sehen im Türkentum eine Überlegenheit gegenüber anderen Völkern und Nationen. Damit geht eine rassistische Grundhaltung einher. Die Ülkücü-Bewegung richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker. Für die Bewegung sind vor allem Themen welche ihren Ursprung in der Türkei haben von Interesse. Hierzu spielen insbesondere außenpolitische sowie wirtschaftliche und historische Themen eine Rolle. 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug Die PKK respektierte die Notwendigkeit von Infektionsschutz-Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Corona-Pandemie und beanspruchte in der Corona-Krise die alleinige Zuständigkeit für Hilfsangebote an Kurden. Die Europaführung KCDK-E gründete ein Gesundheitskomitee aus zehn Ärzten und forderte die PKK-Anhänger auf, sich an die eigenen Hilfsangebote zu wenden. Die KCDK-E bot schriftlich den Gesundheitsministerien von 24 Staaten sowie der Weltgesundheitsorganisation und dem Internationalen Roten Kreuz ihre Hilfe bei der Bekämpfung des Coronavirus an, indem z. B. die Nutzung sämtlicher Vereinslokale ermöglicht werden solle. PKKnahe Medien bewarben offensiv eine Hilfskampagne der Organisation Kurdischer Roter Halbmond e. V. (Heyva Sor a Kurdistane e. V. - HSK) mit der Aufforderung, "Familienpatenschaften" für besonders von der Corona-Krise betroffene Familien in "Kurdistan" zu übernehmen. Die PKK-nahe Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" stellte wegen der Risiken der Pandemie ab dem 2. April ihre Druckausgabe ein und verlagerte ihre Berichterstattung komplett auf die Online-Ausgabe. 175 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Die PKK-Anhängerschaft in Schleswig-Holstein befolgte die Veranstaltungsverbote und Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und verzichtete ab März bis Mitte Mai auf jegliche Veranstaltungen. Nach Lockerung der Infektionsschutz-Bestimmungen wurden wieder anlassbezogen Versammlungen und vereinsinterne Veranstaltungen durchgeführt. Ungeachtet der Corona-Pandemie wurde die jährliche Spendensammlung der PKK begonnen, wobei trotz der Ansteckungsrisiken persönliche Besuche der Spendensammler in kurdischen Haushalten und Betrieben nicht ausblieben. Größere oder regelmäßige Veranstaltungen der organisierten Ülkücü Bewegung waren im Berichtsjahr im Zuge der Corona-Pandemie kaum möglich, weshalb es nur zu wenigen öffentlichen Äußerungen oder Reden kam. Die örtlichen ÜlkücüVereine hielten sich weitestgehend an die Beschränkungen und Auflagen. Aufgrund dieser Situation verlagerte sich die Kommunikation vermehrt in den digitalen Raum. 4 Organisationen 4.1 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistane - PKK) wurde 1978 unter der Führung von Abdullah Öcalan als Bewegung gegen die aus ihrer Sicht herrschende Unterdrückung der Kurden in der Türkei gegründet. Inzwischen setzt sich die PKK für eine unter dem Begriff "Demokratischer Konföderalismus" propagierte Selbstverwaltung der Kurden in ihren traditionellen Siedlungsgebieten in der Türkei, in Syrien, im Iran und Irak ein, wobei klares Ziel eine Vorherrschaft der PKK ist. Ihr Gründer, Abdullah Öcalan, stellt trotz seiner seit 1999 andauernden Haft immer noch die wichtigste Identifikationsfigur der Partei dar und steht im Zentrum eines ausgeprägten, sehr emotional gelebten Personenkults. Die Haftsituation und der Gesundheitszustand Öcalans bleiben als Thema dazu geeignet, die PKK-Anhänger zu emotionalisieren und zu mobilisieren. In den traditionellen kurdischen Siedlungsgebieten unterhält die PKK eine mehrere tausend Personen starke Guerillatruppe, die sogenannten Volksverteidigungskräfte 176 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 (Hezen Parastina Gel - HPG) und eine terroristisch agierende Splittergruppe, die Freiheitsfalken Kurdistans (Teyrebazen Azadiya Kurdistan - TAK). Die syrische Zweigorganisation der PKK, die Partei der Demokratischen Union (Partiya YekitA(r)ya Demokrat - PYD) unterhält ebenfalls eine kämpfende Truppe, die Volksverteidigungseinheiten (Yekineyen Parastina Gel - YPG) bzw. deren weibliche Entsprechung, die Frauenverteidigungseinheiten (Yekineyen Parastina Jin - YPJ). Die HPG liefern sich seit 1984 mit Unterbrechungen schwere Kämpfe mit den türkischen Streitkräften, HPG und TAK verüben Anschläge auf Staatsbedienstete und Zivilisten. In der PKK-Kaderzeitschrift "Serxwebun" bekannte sich ein hoher PKK-Führungsfunktionär im Jahr 2019 zu einer kriegerischen Lösung der Kurdenfrage: "Der Kampf der Guerilla sei der Kampf für Demokratie und Freiheit für alle Völker des Nahen Ostens. (...) Es sei ein Irrtum zu glauben, dass man die Kurdenfrage nur politisch und per Dialog lösen könne. Es habe sogar Leute gegeben, die geglaubt hätten, dass die Frage durch das bloße Bemühen des Kurdenführers Apo gelöst werden könne. (...) Ohne Kampf gebe es keine Lösung in "Kurdistan". Faschismus lasse sich nicht durch Wahlen besiegen." In der Türkei hat sich die PKK seit 2016 mit anderen linksextremistischen Parteien - unter anderem der MLKP - zu einem Bündnis namens Vereinte Revolutionäre Bewegung der Völker (Halklarin Birlesik Devrim Hareketi - HBDH) zusammengeschlossen. Die "Stadtguerilla" der HBDH verübt in der Türkei regelmäßig Anschläge, zum Teil auch mit Todesopfern. Die Europaführung der PKK tritt unter der Organisationsbezeichnung Demokratischer Gesellschaftskongress der Kurd*innen in Europa (Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen Li Ewropa - KCDK-E) auf. Mit Verbotsverfügung nach dem Vereinsgesetz vom 22. November 1993 untersagte das Bundesministerium des Innern die Betätigung der PKK sowie ihrer Teilund Nebenorganisationen in Deutschland. Seit 2002 steht die PKK auf der EU-Liste der terroristischen Organisationen. 177 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Ferner hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Januar 2019 erneut bestätigt, dass die PKK eine ausländische terroristische Vereinigung im Sinne von SSSS 129 a, b Strafgesetzbuch darstellt und sich in ihrem bewaffneten Kampf nicht auf völkerrechtliche Rechtfertigungsgründe berufen kann. Ungeachtet des vereinsrechtlichen Betätigungsverbots und der damit verbundenen Strafverfolgung hat es die PKK immer wieder verstanden, in Deutschland ihre Tätigkeit heimlich und in Form von Ersatzund Tarnorganisationen fortzusetzen. Deutschland hat für die PKK insbesondere eine Bedeutung als Rückzugsraum und Spendengeldquelle. In Deutschland verfügt die PKK über einen konspirativ und illegal operierenden, hierarchisch strukturierten Funktionärsapparat. Nach einem parteiinternen System ist die gesamte Fläche der Bundesrepublik aufgeteilt in insgesamt 31 Gebiete, denen jeweils ein Kader als Gebietsverantwortlicher zugeteilt wird. Der größte Teil Schleswig-Holsteins bildet zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern das Gebiet Kiel. Der südliche Landesteil Schleswig-Holsteins rund um Pinneberg und Elmshorn wird dem PKK-Gebiet Hamburg zugerechnet. Zu den typischen Aufgaben der Gebietsverantwortlichen zählen zum Beispiel die Organisation des Verkaufs von Publikationen und Eintrittskarten für Propagandaveranstaltungen, die Spendensammlung und die Mobilisierung von Teilnehmern für parteibezogene Veranstaltungen. Um die Verfolgung durch Sicherheitsbehörden zu erschweren, wechseln diese Kader in der Regel jährlich das Zuständigkeitsgebiet. Von den circa 800.000 ethnischen Kurden in der Bundesrepublik Deutschland werden 14.500 Personen - davon 700 in Schleswig-Holstein - zum festen Anhängerstamm der PKK gezählt. Dieser ist in Deutschland nahezu flächendeckend in Vereinen organisiert. Der frühere Dachverband Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Deutschland (Navenda Civaka Demokratik ya Kurden li Almanyaye - NAV-DEM) hat sich am 30. Januar73 formal aufgelöst. Als Dachorganisationen über die lokalen Vereine fungieren nunmehr der bundesweite Dachverband Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland (KON-MED) und fünf regionale Föderationen. Die PKK-Basisvereine in Norddeutschland werden durch die Föderation Demokratisches Gesellschaftszentrum der Kurdinnen in Nord 73 VR 8742 beim Amtsgericht Düsseldorf. 178 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Deutschland e.V. (Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistaniyan le Bakure Alman - FED-DEM)74 betreut. In Schleswig-Holstein existieren zwei Vereine, die als örtliche Anlaufstellen für die Anhänger und Kader der PKK wirken: der Verein Kurdisches Gemeindezentrum Schleswig-Holstein e.V., der durch Namensänderung aus dem Verein Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Kiel e.V. (Demokratik Kürt Toplum Merkezi Kiel - DKTM Kiel) hervorgegangen ist [im Folgenden weiterhin als DKTM Kiel bezeichnet], 75 sowie das Demokratische Kurdische Gemeinde Zentrum Neumünster e.V. (DKTM Neumünster)76. Soweit die Bedingungen der Corona-Pandemie es zuließen, organisierte das DKTM Kiel im Berichtsjahr zahlreiche Veranstaltungen (zum Beispiel Demonstrationen, Informationsstände, Feiern zu Jahresund Gedenktagen), die überwiegend Teil bundesoder europaweiter Kampagnen der PKK waren. Über die Veranstaltungen des DKTM Kiel wird regelmäßig in der PKK-nahen Tageszeitung Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik - YÖP) berichtet, die während der Corona-Pandemie als OnlineAusgabe erscheint. Das DKTM Neumünster entfaltete im Berichtsjahr keine öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten. Neben den o. g. eingetragenen Vereinen existiert in Kiel ein sogenannter Volksrat aus Aktivisten, welche die Kader bei ihren Aufgaben unterstützen. Im Berichtsjahr bezeichnete der Vorsitzende der KON-MED den Kieler Rat als beispielhaft und als bundesweit mitgliederstärksten Rat.77 Die syrische Schwesterorganisation der PKK, die PYD, hat in Deutschland eine eigene Struktur. In Schleswig-Holstein hat die PYD bisher allerdings keine eigene Vereinsstruktur, ihre Vertreter arbeiten angegliedert an den PKK-Basisverein in Kiel. 74 VR 24091 beim Amtsgericht Hamburg. 75 VR 6464 KI beim Amtsgericht Kiel, Namensänderung eingetragen am 16.11.2018. 76 VR 6262 KI beim Amtsgericht Kiel. 77 Yeni Özgür Politika, 12.03.2020, S. 1/6 "Tahir Köcer: Wir müssen unsere Räte effektiver organisieren". 179 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Im Berichtsjahr trat erstmals eine Kieler Gruppe der PKK-Jugendorganisation Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung (Tevgera Ciwanen Welatparez u Soresger - TCS) mit Plakatierungsund Graffiti-Aktionen in Erscheinung. Enge Kontakte zum DKTM Kiel unterhält auch der Frauenverein Jiyana Jin - FrauenLeben in Kiel e.V.78 4.2 Türkischer Linksextremismus, insbesondere Marxistische Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) In Deutschland sind diverse türkische linksextremistische Gruppierungen aktiv. Die meisten dieser Gruppen nutzen Deutschland als "Rückzugsraum" um ihre Mutterorganisationen logistisch und finanziell zu unterstützen. Um diese Vorgehensweise nicht zu gefährden, agieren sie hierzulande weitgehend friedlich und unauffällig. Eine dieser Organisationen ist die Marxistisch Leninistische Kommunistische Partei (MLKP). Gegründet wurde die MLKP im Jahr 1994 in der Türkei. Ziel der Organisation ist ein revolutionärer Gesellschaftsumbruch in der Türkei und die Gründung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung. Sie beruft sich dabei auf die Lehren von Marx und Engels, ergänzt durch ideologische Leitlinien von Lenin und Stalin. Die Organisation bekennt sich bis heute zum bewaffneten Kampf in der Türkei. Die MLKP entsandte unter anderem Freiwillige nach Nordsyrien, wo diese unter dem Oberkommando der YPG kämpften. Gefallene Kämpfer werden von der Organisation, auch in Deutschland, als Märtyrer gefeiert. Deutschlandweit verhält sich die MLKP weitestgehend konspirativ und gewaltfrei. In Schleswig-Holstein zeigt die MLKP eine gewisse Verbundenheit zur PKK und deutschen Linksextremisten. Dies wird unter anderem an der gemeinsamen Teilnahme bei Demonstrationen deutlich. 4.3 Türkischer Rechtsextremismus/Ülkücü-Bewegung Die Ülkücü-Bewegung - im Wortsinn: Idealistenbewegung - ist nicht homogen, sie umfasst organisationsgebundene und nicht organisationsgebundene Anhänger des türkischen Rechtsextremismus. Ihre Anhänger beziehen sich auf eine Ideologie, welche auf Nationalismus und Rassismus basiert. Die verschiedenen Ausprägungen diese Ideologie haben sich über die Jahre und innerhalb der verschiedenen Organisationen in unterschiedlicher Weise entwickelt. 78 VR 6561 KI des Amtsgerichts Kiel. 180 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Der übersteigerte Nationalismus wird deutlich durch eine ständige Forderung nach einer Vereinigung aller Turkvölker innerhalb eines muslimischen Großtürkischen Reiches Turan. Oft geht diese Forderung einher mit einer Herabwürdigung anderer religiöser und ethnischer Gruppen, insbesondere Kurden, Armenier und Juden. Die Ülkücü-Bewegung ist von einem ständigen Freund-Feind-Bild getrieben, in welchem für jedes negative Ereignis die "inneren" sowie "äußeren Feinde" der Türkei verantwortlich gemacht werden. Das bekannteste und am häufigsten genutzte Symbol der Ülkücü-Bewegung ist der graue Wolf (Bozkurt). Dieser wird in jeglicher Form, zum Beispiel auf Jacken oder T-Shirts, zur Schau gestellt und dient als Erkennungszeichen innerhalb der Szene. Deutschlandweit wird die Zahl der Ülkücü-Anhänger auf 11.000, davon 400 in Schleswig-Holstein, geschätzt. Der mit 7.000 Mitgliedern größte Ülkücü-Dachverband in Deutschland ist die Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine (Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu - ADÜTDF), die 1978 in Frankfurt am Main gegründet wurde. Es handelt sich hierbei um eine Auslandsvertretung der türkischen extrem-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetci Hareket Partisi - MHP). Die Vereine in Deutschland und deren Dachverbände kennzeichnet ein streng hierarchischer Aufbau. So ist die Umsetzung von Anweisungen aus der Türkei bis in die Vereine gewährleistet. Um ihre Ideologie weiter verbreiten zu können, sind die Vereine bemüht breite Teile des sozialen Lebens ihrer Mitglieder abzudecken, beispielsweise durch regelmäßige auch öffentliche Veranstaltungen in den Bereichen Kultur, Religion oder Sport. Die Vereine, welche auch eigene Räumlichkeiten unterhalten, finanzieren sich durch Geldspenden und Mitgliedsbeiträge. Regionale Schwerpunkte der organisierten ÜlkücüBewegung sind die Städte Kiel, Neumünster und Lübeck. Ein großer Teil der Ülkücü-Anhänger ist unorganisiert und tritt öffentlich selten in Erscheinung. Hier findet oft ein Austausch über soziale Netzwerke statt, was häufig zu einer sehr durchmischten politischen und religiösen Weltsicht führt. 5 Entwicklungen im Berichtsjahr Da ein großer Teil des Personenpotentials im Extremismus mit Auslandsbezug seinen Ursprung in der Türkei hat, führen die türkische Außensowie Innenpolitik immer wieder auch zu Reaktionen in Schleswig-Holstein. 181 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Die Bekämpfung der PKK in der Türkei und der PYD in Syrien durch die türkische Regierung führt dazu, dass in Deutschland lebende Anhänger dieser Organisationen ihren Protest dagegen auch hierzulande öffentlich machen. Üblicherweise stärkt die PKK die Bindung ihrer Anhängerschaft mit einer jährlich wiederkehrenden Abfolge von Großveranstaltungen. Die Großdemonstration in Paris am 11. Januar zum Gedenken an die Ermordung von drei prominenten PKKParteiaktivistinnen 79 und die Großdemonstration in Straßburg (Frankreich) am 15. Februar anlässlich des 21. Jahrestages der Festnahme Öcalans fanden noch mit Beteiligung aus ganz Deutschland statt. Alle weiteren Großveranstaltungen im Jahreslauf, vor allem die Feiern zum Newrozfest, das Mazlum-Dogan-Jugendfestival, das Zilan-Frauenfestival und das Internationale Kurdistan-Kulturfestival, mussten aufgrund der Corona-Pandemie ausfallen. Innerhalb der Ülkücü-Bewegung werden einzelne Jahrestage jedes Jahr zelebriert. Hierzu zählen unter anderen Todestage von Ülkücü-Vordenkern oder Jahrestage von berühmten Schlachten. Auch diese wurden im Berichtsjahr vermehrt online gefeiert. 5.1 Reaktionen auf Militäroperationen der Türkei im Nahen Osten Im gesamten Berichtsjahr ereigneten sich militärische Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Streitkräften und den PKK-Guerillatruppen sowie Anschläge PKK-naher Gruppen. Im März bekannte sich - erstmals wieder seit 2015 - die PKK zu einem Selbstmordanschlag gegen eine Gaspipeline an der türkisch-iranischen Grenze, bei dem laut PKK 30 türkische Soldaten getötet und weitere verletzt worden seien. In der PKK-nahen Zeitung Yeni Özgür Politika vom 25. März bekannten sich "Racheeinheiten", die nach Märtyrern der PKK benannt wurden, zu weiteren Anschlägen und Brandstiftungen in der Türkei. Ziele dieser "Aktionen" seien beispielsweise Fahrzeuge, ein Restaurant, eine Firma und eine Polizeiwache gewesen. Im April teilte die HBDH in einer schriftlichen Erklärung mit, als Vergeltungsschlag für den Tod eines PKK-Kommandanten einen Anschlag auf eine Rüstungsfabrik in der Türkei verübt zu haben. 79 Am 09.01.2013 wurden im Kurdischen Kulturzentrum in Paris Sakine Cansiz - ein Gründungsmitglied der PKK - sowie zwei weitere PKK-Aktivistinnen erschossen. 182 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Ein großer Brandanschlag des von der PKK dominierten Bündnisses HBDH zerstörte am 23. August knapp 60 Fahrzeuge von Touristen an einem Strand in Izmir/Türkei. Durch eine Beeinträchtigung des Tourismussektors versuchen die PKK und ihre Verbündeten, die Wirtschaftskraft der Türkei zu schwächen. Bereits im Juni hatte der Kommandant der PKK-Guerillatruppen vor Reisen in die Türkei gewarnt: "Zwischen dem türkischen Staat und uns findet ein umfassender Krieg statt. (...) Wir möchten in dieser Zeit nicht, dass Menschen aus Europa und Russland als Touristen in die Türkei kommen. (...) Das Geld, das Touristen in der Türkei ausgeben, wird zu einer gegen das kurdische Volk gerichteten Kugel. Deshalb sollen sie nicht in die Türkei kommen. Falls sie es doch tun und Schaden erleiden, sind wir nicht dafür verantwortlich. Ich sage nicht, dass wir sie angreifen werden, aber hier findet ein Krieg statt." 80 Im Juni führte die Türkei unter den Bezeichnungen "Tigerkralle" und "Adlerkralle" eine kombinierte Bodenund Luftoffensive gegen Ziele mit PKK-Bezug im türkisch-irakischen Grenzgebiet durch. Die Luftangriffe betrafen auch die Kandilberge, in denen die PKK ihr Hauptquartier hat. Deutschlandweit initiierte der Dachverband KON-MED daraufhin Protestkundgebungen gegen die türkische Militäroffensive in vielen Städten, u. a. am 20. und 27. Juni in Kiel. Vom 8. Juli bis Ende August demonstrierten Mitglieder des DTKM Kiel jeden Mittwoch in der Kieler Innenstadt gegen die "Invasion und den Angriffskrieg des türkischen Staates sowie gegen die Isolationspolitik Öcalans".81 An diesen Kundgebungen, die mit 30 bis 40 Teilnehmenden friedlich und unter Einhaltung der Infektionsschutz-Auflagen abliefen, beteiligten sich vereinzelt auch solidarische Personen aus dem linken Spektrum. Im Rahmen einer so genannten "Aktionswoche zum Welt-Kobane-Tag" protestierten deutsche Linksextremisten der Kampagne "Riseup for Rojava (R4R)" am 2. November gemeinsam mit PKK-Anhängern vor dem Rheinmetall-Standort in KielSuchsdorf gegen deutsche Rüstungsexporte in die Türkei. Während Vertreter der organisierten Ülkücü-Bewegung immer wieder um ein einigermaßen gemäßigtes Bild im digitalen Raum bemüht sind, äußern sich Teile der 80 Internetseite "Anfdeutsch", abgerufen am 11.12.2020. 81 Internetseite "anfturkce", interne Übersetzung, abgerufen am 14.01.2021. 183 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode freien Ülkücü-Bewegung häufig radikal und konfliktverschärfend. Besonders emotional wurde im Berichtsjahr das Thema militärische Auslandseinsätze behandelt. Gefallene Soldaten werden immer wieder als Märtyrer gefeiert. Auch der anhaltende Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei über Gasvorkommen im Mittelmeer wurde mehrfach thematisiert. Die Anhänger der Ülkücü-Bewegung äußern sich hier häufig abfällig über ihre "Feinde" und heben die Interessen der eigenen Seite besonders hervor. 5.2 Langer Marsch für Öcalan von Hannover nach Hamburg Unter dem Motto "Für die Freiheit Abdullah Öcalans - Zusammen erheben" marschierten rund 200 jugendliche PKK-Anhänger aus dem gesamten norddeutschen Raum, Deutschland und anderen europäischen Staaten demonstrierend vom 5. bis zum 11. September in mehreren Etappen von Hannover nach Hamburg. Am 10. September kam es zu einem Zwischenfall, als Teilnehmende dieses so genannten "Langen Marsches" eine Etappe in Niedersachsen mit der Bahn zurücklegten. Das Bahnpersonal stellte im Zug fest, dass die Gruppe weder gültige Fahrausweise hatte noch die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes erfüllte. Die PKKAnhänger leisteten aggressiven Widerstand dagegen, den Zug zu verlassen. Der Zug hielt außerplanmäßig in Bardowick/Niedersachsen, und die Bundespolizei stellte die Personalien fest und fertigte Strafanzeigen. Dabei kam es erneut zu Widerstandshandlungen. Die Abschlussetappe des "Langen Marsches" am 11. September in Hamburg war ebenfalls von Störungen begleitet. Bei einer Zwischenkundgebung im Schanzenviertel zeigten Teilnehmende verbotene PKK-Symbole und verletzten die CoronaAbstandsregeln. Vom Dach des Szeneobjekts "Rote Flora" feuerten solidarische deutsche Linksextremisten Pyrotechnik ab. Die Polizei stoppte daraufhin die Versammlung. In Pressemitteilungen verurteilten verschiedene PKK-nahe Organisationen, u. a. TCS und KON-MED, das Vorgehen der Polizei scharf; die PKK-nahe Nachrichtenagentur ANF zitierte dazu: 184 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 "Das Ausmaß der völlig unbegründeten, willkürlichen Polizeigewalt erinnere an die Zustände in der Türkei".82 5.3 Kampagne "Zeit für Freiheit" Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (Koma Civaken Kurdistan - KCK), das ist die Kernorganisation der PKK, initiierte Mitte September eine so genannte Offensive unter dem Motto "Schluss mit Isolation, Faschismus und Besatzung. Zeit für Freiheit!". Vorrangiges Ziel dieser Offensive ist die Freilassung des PKK-Gründers Abdullah Öcalan aus der Haft sowie ein "Status für Kurdistan". An alle Teile des PKK-Organisationsgeflechts und solidarische andere Organisationen richtete sich folgender Aufruf: "Auf dieser Grundlage rufen wir alle antifaschistischen und demokratischen Kräfte der Türkei, das gesamte türkische Volk, die Jugend und die Frauen, allen voran aber unsere Freunde der 'Vereinten Revolutionären Bewegung der Völker' (HBDH) dazu auf, sich an der KCK-Offensive (...) massiv zu beteiligen (...) Wir fordern alle sozialistischen und revolutionär-demokratischen Kräfte der Welt, die Umweltbewegungen und die freiheitlichen Frauenbewegungen dazu auf, sich aktiv an der von der KCK initiierten Freiheitsoffensive zu beteiligen, um die Menschheit vor der faschistischen Bedrohung durch die AKP/MHP zu retten!"83 Die ausdrückliche Nennung der HBDH weist darauf hin, dass die Offensive nicht allein als politische Kampagne zu verstehen ist, sondern - zumindest in der Türkei - durchaus militante Aktionen umfasst84. Bemerkenswert ist, dass die Umweltbewegungen in diesen Appell einbezogen werden - wie unter Ziffer 4.6. dargestellt, bemüht sich die PKK verstärkt darum, die erstarkende Umweltund Klimaschutzbewegung für die Kurdenthematik zu vereinnahmen. 82 "KON-MED verurteilt Polizeigewalt in Bardowick" vom 10.09.2020, Internetseite "Anfdeutsch", abgerufen am 15.09.2020. 83 Yeni Özgür Politika, 21.09.2020, "Hamle icin seferber olalim", interne Übersetzung. 84 Bekennung der HBDH zu zwei Bombenanschlägen in Mersin/Türkei unter Berufung auf die Kampagne; siehe Internetseite "Anfdeutsch", abgerufen am 14.01.2021. 185 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode In Deutschland führte die Offensive zu erhöhtem Demonstrationsaufkommen der PKK-Anhänger. In Schleswig-Holstein erzeugte die Offensive bislang wenig öffentliche Aufmerksamkeit, es wurde in der Yeni Özgür Politika lediglich über eine Demonstration in Kiel Ende September85 und eine Plakatierungsaktion in Lübeck86 Anfang November berichtet. 5.4 Reaktionen auf den Bergkarabach-Konflikt und auf das Verbot der Ülkücü-Bewegung in Frankreich Ein Themenschwerpunkt für die Ülkücü-Szene war im Berichtsjahr die militärische Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan in der Region Bergkarabach. Die Ülkücü-Anhänger bezogen klar Position für die Seite der Aserbaidschaner, welche von vielen als Brudervolk angesehen werden. Hier zeigt sich das Ziel der Bewegung zur Errichtung eines Großreiches Turan, welches weit über die Grenzen der Türkei hinausgeht. Durch reihenweise rassistische und herabwertende Äußerungen im Internet, insbesondere auf privaten Profilen, gegenüber der armenischen Seite wurde der Rassismus der Bewegung deutlich. Die Kurden hingegen fühlen sich traditionell den Armeniern verbunden, und so kritisierte die PKK in ihren Medien die türkische Unterstützung zugunsten der aserbaidschanischen Konfliktpartei. Die PKK-Führung dementierte die Behauptung von türkischer Seite, dass die PKK nach Armenien Kämpfer entsendet habe, und beschuldigte den türkischen Staat, den Krieg im Kaukasus vorbereitet zu haben: "Die Situation, die als Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien bezeichnet wird, ist im Kern ein Krieg des türkischen Staates als Teil seines neoosmanischen Projekts."87 Im Zusammenhang mit dem Bergkarabach-Konflikt kam es in Frankreich zwischen Juli und Oktober in mehreren Städten zu gewaltsamen, rassistisch motivierten Übergriffen durch Gruppen von Ülkücü-Anhängern gegen armenisch-stämmige Franzosen. Diese Ereignisse führten in Frankreich zu einem Verbot der Bewegung 88. 85 Yeni Özgür Politika, 20.09.2020. 86 Yeni Özgür Politika, 08.11.2020. 87 Internetseite "Anfdeutsch", abgerufen am 21.10.2020. 88 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.11.2020, Seite 5:"Schluss für die 'Grauen Wölfe' in Frankreich". 186 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Im Juni hatten Ülkücü-Anhänger in Wien/Österreich bereits gewalttätige Übergriffe auf Teilnehmer von linken und kurdischen Demonstrationen und deren Einrichtungen verübt. In Deutschland kam es im Berichtsjahr nicht zu vergleichbaren Ausschreitungen. Jedoch beziehen sich die Anhänger in Deutschland auf das gleiche ideologische Grundgerüst wie die Anhänger der Ülkücü-Bewegung in Frankreich oder Österreich. Auf das Ülkücü-Verbot in Frankreich hin beschloss der Deutsche Bundestag am 18. November, ein Verbot der "Grauen Wölfe" auch in Deutschland zu prüfen. Die deutschen Dachverbände der organisierten Ülkücü-Bewegung riefen ihre Anhänger daher vermehrt zur Ruhe auf, was allem Anschein nach gelang. Im Dezember berichteten die PKK-nahen Medien allerdings über Drohbriefe durch türkische Rechtsextremisten gegen armenisch-stämmige Familien in Deutschland.89 5.5 Anknüpfen der PKK an die Umweltund Klimaschutzbewegung Die PKK versucht schon seit Langem, das Thema Umweltund Klimaschutz mit dem Thema "kurdischer Befreiungskampf" zu verknüpfen, um weitere Teile der Öffentlichkeit für ihr Kernanliegen zu interessieren. Bereits an den Protesten gegen die Rodung des Hambacher Forstes/Nordrhein-Westfalen für den Braunkohlenabbau beteiligten sich PKK-Anhänger gemeinsam mit deutschen Linksextremisten. Im Dannenröder Forst/Hessen hatte sich seit September 2019 eine linksextremistisch beeinflusste Besetzerszene mit Baumhausdörfern und Blockadestrukturen etabliert, um eine Abholzung des Waldes für den Autobahnbau zu verhindern. Im Oktober des Berichtsjahres schloss sich eine Ortsgruppe der PKK-Studierendenorganisation Verband der Studierenden aus Kurdistan (Yekitiya Xwendekaren Kurdistan - YXK) der Waldbesetzung an. In Schleswig-Holstein fanden im Berichtszeitraum mindestens zwei Vortragsveranstaltungen der PKK-nahen Kampagne "Make Rojava Green Again" statt: In Schleswig referierte im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Partei Bündnis 90/Die Grünen am 1. Oktober ein Aktivist über die Kampagne. Zum selben Thema gab es am 2. Oktober in Flensburg eine Vortragsveranstaltung, die von der Rosa-LuxemburgStiftung in Zusammenarbeit mit dem Rojavasolidaritätskomitee organisiert wurde. 89 Internetseite "Yeni Özgür Politika", abgerufen am 14.12.2020. 187 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode In den Ankündigungen der Vorträge wird nicht explizit auf die PKK Bezug genommen. Die Kampagne "Make Rojava Green Again" stellte sich dem lokalen Publikum dort lediglich als eine internationale Gruppe von Umwelt-, Demokratieund Frauenrechte-Aktivistinnen und -Aktivisten vor, welche die kriegszerstörten Kurdengebiete in Nordsyrien wieder aufforsten. Die Flensburger Veranstaltung wurde mit den Worten angekündigt: "In der Veranstaltung wird es um die Lage in Nordsyrien (Rojava), die Kampagne 'Make Rojava Green Again' und die theoretischen Grundlagen der dortigen Revolution gehen. Der Vortrag möchte zudem weitere Impulse für interessierte Menschen und Bewegungen geben, die sich - wie etwa 'Fridays for future' - für ein sozial gerechtes und umweltfreundliches Leben auf unserem Planeten einsetzen. So können die Erfahrungen von 'Make Rojava Green Again' (...) für ähnliche gesellschaftliche und zukünftige Projekte ein wertvoller Hintergrund sein."90 Hierin offenbart sich der Versuch, die nicht-extremistische Klimaschutzbewegung für die Ziele und die Ideologie der PKK zu vereinnahmen, ohne den PKK-Bezug klar zu benennen. Auch auf ihrer Internetseite nimmt die Kampagne nicht ausdrücklich Bezug auf die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), sie propagiert aber die Ideenwelt des PKK-Gründers Abdullah Öcalan und zitiert aus seinen Schriften. Einen deutlichen Hinweis auf den PKK-Bezug der Kampagne "Make Rojava Green Again" gibt die Namenspatronin ihrer Schulungseinrichtung, der Akademie Sehid Helin Qerecox: Diese Schulungseinrichtung ist benannt nach dem Kampfnamen einer im Kampf gegen die türkischen Truppen gefallenen YPJ-Kämpferin, die von der PKK als Märtyrerin verehrt wird. 90 Internetseite "akopol.wordpress" abgerufen am 14.01.2021. 188 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 6 Mitgliederentwicklung im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug 2016 bis 2020 Mitgliederentwicklung im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug 2016 bis 2020 LinksextreExtreme NaStaatsangehörigkeit bzw. Volkszugehörigkeit Gesamt misten tionalisten Kurden 2020 700 700 2019 700 700 2018 700 700 2017 700 700 2016 700 700 Türken 2020 15 400 415 2019 15 400 415 Einzelmit2018 400 400 glieder Einzelmit2017 400 400 glieder Einzelmit2016 400 400 glieder Summe Land 2020 715 400 1115 2019 715 400 1115 189 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode VIII Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz und Proliferationsbekämpfung 1 Überblick Ausländische Nachrichtendienste betreiben mit hohem organisatorischem und finanziellem Aufwand Spionage und das politisch gut vernetzte und wirtschaftsstarke Deutschland ist dabei ein wichtiges Aufklärungsziel. Die Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein geht aufgrund ihres gesetzlichen Auftrages gemäß SS 5 Abs. 1 Nr. 2 LVerfSchG jedem Spionageverdacht nach, unabhängig, von welchem Staat er ausgeht. Alle sachund personenbezogenen Informationen über sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für einen fremden Staat im Geltungsbereich des Grundgesetzes werden gesammelt und ausgewertet. Hierbei arbeitet der Schleswig-Holsteinische Verfassungsschutz in länderübergreifenden Fällen mit dem Bundesamt und den Landesämtern für Verfassungsschutz, sowie der Wirtschaft zusammen. Regelmäßiger Austausch und Vernetzung gewährleisten eine koordinierte und professionelle Aufgabenerfüllung. Immer wieder spähen ausländische Nachrichtendienste in Deutschland ansässige Personen, Organisationen und Volksgruppen aus, die im Herkunftsland als Oppositionelle politisch verfolgt oder beobachtet werden. Diese Aktivitäten gilt es zu erkennen und gegebenenfalls zu verhindern. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt der Spionageabwehr in Schleswig-Holstein ist der Wirtschaftsschutz. Eine der Hauptaufgaben in diesem Tätigkeitsfeld ist es, hiesige Unternehmen vor geheimen und illegalen Informationsabflüssen durch ausländische Spionage zu bewahren. Die Spionageabwehr Schleswig-Holsteins bearbeitet außerdem das Thema der Proliferation. Ziel ist die Aufklärung und Verhinderung von Versuchen sogenannter Risikoländer, Massenvernichtungswaffen (ABC-Waffen) und deren Trägersysteme zu beschaffen. Produkten, welche sowohl zivil, als auch militärisch nutzbar sind, kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu (sogen. Dual-Use Güter), da diese vermeintlich einfacher zu beschaffen sind. Staaten wie der Iran, 190 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Nordkorea, Pakistan, Syrien und Russland bemühen sich nach wie vor, entsprechende Produkte, Technologien und wissenschaftliches Know-how zu erlangen. Die Verfassungsschutzbehörden tragen dazu bei, derartige Beschaffungsaktivitäten aufzuklären und zu verhindern. Cyberspionage und -sabotage stellen eine besondere Herausforderung im Arbeitsfeld der Spionageabwehr dar. Cyberkampagnen haben sich mittlerweile als Standardwerkzeug zahlreicher Nachrichtendienste etabliert. Insbesondere im Hinblick auf die Corona-Pandemie wurde die Gefährdung von Herstellern und Forschungseinrichtungen, welche an der Entwicklung von entsprechenden Tests, Medikamenten und Impfstoffen beteiligt sind, als hoch eingeschätzt. Auch in weiteren Bereichen von Wirtschaft und Politik erfolgen nachrichtendienstliche Aktivitäten im Cyberraum. Die Überprüfung von Hinweisen zu möglichen elektronischen Angriffen und insbesondere die Sensibilisierung von gefährdeten Unternehmen in Schleswig-Holstein sind wichtige Aufgaben für die Spionageabwehr und den Wirtschaftsschutz. Insgesamt unterstützt der schleswig-holsteinische Verfassungsschutz in Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder die schleswigholsteinischen Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Verbände durch Aufklärung und Information und leistet so einen Beitrag zum Schutz der Wirtschaft. 2 Vorgehen ausländischer Nachrichtendienste In Europa nimmt die Bundesrepublik Deutschland sowohl wirtschaftlich als auch politisch eine zentrale Stellung ein. Sie ist eine der weltgrößten und innovativsten Handelsnationen. Die politische Bedeutung, die stabile wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und das anhaltend hohe Niveau von Wissenschaft, Forschung und Entwicklung sind Faktoren für das hohe Aufklärungsinteresse fremder Staaten und deren Nachrichtendienste. 2.1 Klassische nachrichtendienstliche Aufklärung Nachrichtendienste sind in den verschiedenen Herkunftsländern jeweils unterschiedlich organisiert. Eines haben die unterschiedlichen ausländischen Nachrich191 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode tendienste jedoch gemeinsam: Zu ihrer Kernkompetenz zählt die Informationssammlung mit nachrichtendienstlichen und offenen Mitteln sowie die Auswertung der Informationen. Themen mit zentralen außen-, innenoder sicherheitspolitischen Belangen genießen dabei einen hohen Stellenwert. Bei der illegalen nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung werden Datenschutzund Persönlichkeitsrechte der Bürger ignoriert. Die Aufklärungsziele der in Deutschland operierenden ausländischen Nachrichtendienste variieren je nach Bedarf und Interesse des jeweiligen Auftragsstaates. Während Großmächte und Industriestaaten ihr Hauptaugenmerk auf die Themenbereiche Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Militär richten, versuchen totalitär bzw. diktatorisch regierte Länder auch in Schleswig-Holstein wohnhafte Oppositionsanhänger mit regierungskritischen Ansichten ausfindig zu machen. Oppositionelle werden in der Folge nicht nur ausgespäht und eingeschüchtert. Häufig werden auch deren Familien im Mutterland bedroht und unter Druck gesetzt. Ausländische Nachrichtendienste nutzen die jeweiligen Einrichtungen (Botschaften und Legalresidenturen) ihrer Staaten in Deutschland, um von dort heraus illegale Operationen zu planen und durchzuführen. Abgetarnt als Vertreter von Presseund Medienorganen, Fluggesellschaften oder auch Firmen mit staatlicher Beteiligung nutzen sie offizielle Veranstaltungen, um einen Erstkontakt mit einflussreichen Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Militär herzustellen. Primäres Ziel ist dabei die Kontaktanbahnung. Mit dem Ziel, Vertrauen zu erlangen, werden diese Erstansprachen im Laufe der Zeit intensiviert und die persönlichen Beziehungen zu den Ansprechpartnern ausgeweitet, um nach und nach wissenswerte Informationen in Erfahrung zu bringen. 2.2 Digitale nachrichtendienstliche Aufklärung Ein weiteres Einfallstor für ausländische Nachrichtendienste ist die stetig zunehmende digitale Mobilität und Vernetzung. Sie bringt Sicherheitsrisiken mit sich, denn gezielte und taktische Cyber-Angriffe sowohl gegen einzelne Internetnutzer, Unternehmen aber auch gegen öffentliche Verwaltungen sind in den letzten Jahren rasant angestiegen und verursachen enorme wirtschaftliche Schäden. 192 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Damit stellt sich die Frage, welche Ziele und Motive hinter diesen Bedrohungen stecken. Das Spektrum der Angriffe wird zunehmend größer: Neben dem Diebstahl von persönlichen Daten werden einzelne Unternehmen und ganze Konzerne ausspioniert, vor allem aber können elementare Netzinfrastrukturen manipuliert und geschädigt werden. Ausländische Nachrichtendienste können ihre staatlich gelenkten Angriffe aus den Heimatländern heraus in Echtzeit durchführen. Diese Form von staatlichen nachrichtendienstlichen Angriffen ist ein internationales Problem, das weder vor Landesgrenzen noch vor verschlossenen Türen Halt macht. Die Spuren der Angreifer im World-Wide-Web sind nur schwer zu verfolgen und nachzuvollziehen. 2.3 Desinformationskampagnen Ein weiteres Aktionsfeld ausländischer Nachrichtendienste stellen Desinformationskampagnen dar. Darunter ist die gezielte Verbreitung falscher oder irreführender Informationen zu verstehen, auch als Fake News bekannt. Einige Staaten nutzen dabei die vorherrschende Corona-Pandemie, um sich global sowohl politisch als auch wirtschaftlich besser und vorteilhafter darzustellen und zu positionieren. Desinformation, Propaganda und Fake News werden außerdem zur Diskreditierung Anderer und zur Beeinflussung oder Destabilisierung auch anderer Staaten gezielt eingesetzt. Dabei werden bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen gestreut, mit dem Ziel, die Bevölkerung und auch die Behörden zu verunsichern. Der Verfassungsschutz hat im Zuge der Corona-Pandemie zunehmend entsprechende Aktivitäten festgestellt. Diese Aktivitäten werden durch die Sicherheitsorgane gemonitort und analysiert. In diesem Zusammenhang wurde beobachtet, dass russische Medien auf ihren deutschsprachigen Kanälen Desinformation und Propaganda über die Corona Lage in Deutschland verbreitet haben. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Ausland, hier speziell in Deutschland, wird als außenpolitisches Ziel verfolgt. Fremde Nachrichtendienste bedienen sich dabei je nach ihren Möglichkeiten an einem breiten Spektrum von Medien. Massenmedien erreichen eine Vielzahl an Menschen und werden bevorzugt für diese Zwecke genutzt. Einige Staaten verfügen über eigene Staatsmedien (z.B. Radio-, TVund Internetsender) und nutzen diese für ihre selektive und tendenziöse Berichterstattung. Ebenso wird Meinungsmache 193 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode im Internet über Webseiten und soziale Medien betrieben, aber auch per Printmedien oder vor-Ort-Aktionen (z.B. Demonstrationen, Kundgebungen, Umzüge, etc.). Die Beeinflussung erfolgt dabei je nach Bedarf offen oder subtil manipulativ. 3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Bereich Spionageabwehr Eine pandemiebedingte Veränderung der Aktivität fremder Nachrichtendienste in Deutschland konnte in zwei Bereichen signifikant wahrgenommen werden. Zum einen waren erhöhte Spionageund Cyberaktivitäten gegen die in Deutschland ansässigen Hersteller von Impfstoffen und Antikörpertests zu Sars-CoV2 festzustellen und zum anderen wurde die Pandemie thematisch zur Desinformation genutzt. Um die mit der Erforschung, Herstellung und Entwicklung von Corona-Tests, -Medikamenten und -Impfstoffen befassten Unternehmen vor der Spionage durch ausländische Nachrichtendienste zu schützen, wurden entsprechende Sensibilisierungen in Schleswig-Holstein, aber auch (koordiniert mit Bund und Ländern) im gesamten Bundesgebiet durchgeführt. Es ist davon auszugehen, dass fremde Nachrichtendienste jede Möglichkeit nutzen, um zum Vorteil ihres eigenen Staates an Knowhow und Material in diesem Themenfeld zu gelangen. Das zügige Aufholen von Rückständen in Wissenschaft und Forschung und die damit verbundene Einsparung hoher Kosten für Forschung und Entwicklung sind hierfür starke Motive. Auch der damit einhergehende Prestigegewinn, als erstes Land einen Impfstoff entwickelt zu haben, spielt eine Rolle. Schließlich will in diesem Kontext kein Staat das Schlusslicht sein. Für die Hersteller und Entwickler von Corona-Tests, -Medikamenten und -Impfstoffen sowie für Forschungseinrichtungen wird ebenso die Gefährdung durch Cyberangriffe im Rahmen von Cyberspionage durch ausländische Nachrichtendienste als hoch eingeschätzt. Daher hat die schleswig-holsteinische Spionageabwehr in Zusammenarbeit mit dem Bund und den Ländern eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um diese Unternehmen und Einrichtungen besonders zu schützen. Die betroffenen Unternehmen und Forschungseinrichtungen nahmen das Angebot der Spionageabwehr gerne wahr, woraus eine sehr gute, konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit entstanden ist. 194 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Desinformation und Propaganda fremder Mächte in Deutschland hat viele unterschiedliche Motivationen und Zielsetzungen. Es soll Unsicherheit und Instabilität erzeugt werden, um deutsche Politik und Wirtschaft zu beeinflussen. Dazu werden gezielt Falschinformationen gestreut, die das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die Stabilität und die Integrität des Rechtsstaates, seiner Institutionen sowie seiner Repräsentanten, wie auch das Vertrauen in unabhängige Medien zerstören sollen. Hierzu werden alle Kanäle, Medien und Formate des analogen und digitalen Informationsraumes ausgeschöpft. Durch Mehrfachverwendungen und gezielte Verweise auf jeweils andere Kanäle soll eine größere Reichweite, sowie die Verstärkung von Narrativen erreicht werden. Seit Ende Januar sind vor allem russische und chinesische Desinformationen im Rahmen von COVID-19 zu beobachten. Russland ist bemüht das Vorgehen der westlichen Welt bei der Pandemie-Bekämpfung zu diskreditieren. So ließen russische Medien verlauten, dass die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung des Corona-Virus, die systematische Einschränkung der Grundrechte und die Errichtung eines Überwachungsstaates zum Ziel hätten. Auch die frühzeitige Fertigstellung eines russischen Impfstoffes wurde durch die Medien in Russland medial propagandistisch aufbereitet. Ebenso wurden russische Autoren im Milieu von Verschwörungsideologien aktiv, um z.B. Zweifel und Verunsicherung zu Fragen des Impfens zu säen. Die chinesische Informationsund Propagandapolitik zielte darauf ab, China als Ursprungsland des Virus in Zweifel zu ziehen, während zum einen die Krisenlösungskompetenz von Staat und Partei und zum anderen die weltweiten Unterstützungsleistungen Chinas (Maskendiplomatie) gepriesen und herausgestellt wurden. Chinesisches Fehlverhalten gegenüber der WHO wurde abgestritten. Ein weiterer Aspekt, der durch die Corona-Pandemie bedingt wurde, ist das schnelle Aufwachsen von zahlreichen Heimarbeitsplätzen. Es erhöht die Erfolgschancen für Cyberangriffe, da hier oftmals von einer reduzierten IT-Sicherheit im Vergleich zu gut geschützten Firmennetzen auszugehen ist. 195 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 4 Wirtschaftsspionage und Wirtschaftsschutz Ausländische Staaten und deren Nachrichtendienste verfolgen die wirtschaftliche Entwicklung u.a. auch in Schleswig-Holstein, denn der Wirtschaftsstandort Schleswig-Holstein ist nicht nur deutschlandweit, sondern auch international interessant. Neben einer stabilen Wirtschaft, ausreichend unterstützten Wissenschaftsund Bildungseinrichtungen, qualifizierten Mitarbeitern, einer florierenden Exportwirtschaft und Erfolgen in der innovativen und nachhaltigen Energie sind auch zahlreiche Zukunftsbranchen (Medizintechnik, Informationsund Kommunikationstechnologie, Ernährung und Gesundheit) mit hohem Wachstumspotentialen vorhanden. Angesichts der vorherrschenden Corona-Pandemie steht der Bereich der Medizintechnik, vornehmlich Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen, die an Impfstoffen, Medikamenten, Antikörpertests und weiteren Innovationen mit unmittelbarem Bezug zur Corona-Pandemie forschen im zentralen Blickfeld ausländischer Nachrichtendienste. Aber auch Cyberkriminelle machen sich die aktuelle Corona-Krise zu Nutze, um mit gezielten Hackerangriffen die IT-Netzwerke zu sabotieren oder auch schützenswerte Daten und Informationen abzuziehen. Aus diesem Grund hat der Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein eine gezielte Warnmeldung an besagte Unternehmen im Zuständigkeitsbereich Schleswig-Holstein verfasst, um präventiv auf die Gefahrenlage hinzuweisen. Der Fokus ausländischer Nachrichtendienste und konkurrierender Unternehmen richtet sich darauf, hiesige Unternehmen mit illegalen Mitteln und Methoden der Spionage auszuspähen, um vorhandene Technologiedefizite aufzuholen, eigene Entwicklungskosten einzusparen und Wettbewerbsvorteile zu generieren. Immer noch unterschätzt eine Vielzahl von Unternehmen die Risiken von Wirtschaftsspionage und die damit verbundenen wirtschaftlichen Schäden. Mangelnde Vorsorge kann fatale unternehmerische Folgen haben. Die aktuelle wirtschaftliche Lage wird durch beschleunigte Innovationszyklen und einer Wettbewerbsintensivierung geprägt und auch die Zeitfenster für die Nutzung von Innovationsvorsprüngen minimieren sich. Daher müssen die Unternehmer hier196 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 zulande ihr hoch relevantes Kernwissen - die sogenannten Kronjuwelen - identifizieren und gegen einen illegalen Zugriff von innen aber auch von außen besonders schützen. Ein umfassender und aktueller technischer Basisschutz der genutzten IT-Infrastruktur alleine ist dabei nicht ausreichend. Der beste Schutz, sich nach außen hin umfassend abzusichern, nützt nur wenig, wenn die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen über kein oder kaum ausgeprägtes Sicherheitsbewusstsein verfügen. Dies gilt im besonderen Maß für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für das Unternehmen ins Ausland reisen. Ausländische Nachrichtendienste nutzen häufig die Gelegenheiten, Geschäftsreisende anzusprechen, vor allem, wenn sie in Not geraten sind, und ihre Hilfe anzubieten, denn sie beherrschen die Amtssprache, kennen sich mit den gesetzlichen Vorgaben des Landes und auch den kulturellen Gepflogenheiten sehr gut aus. Unternehmensmitarbeiter sollten daher vor einer Geschäftsreise darauf vorbereitet werden, wie sie sich in Notsituationen verhalten sollten. Der Fachbereich Wirtschaftsschutz des schleswig-holsteinischen Verfassungsschutzes ist ein kompetenter Ansprechpartner und unterstützt hiesige schleswigholsteinische Unternehmen dabei, sich gegen die drohenden Gefahren von Wirtschaftsspionage zu schützen. Der Wirtschaftsschutz spielt eine wesentliche und herausragende Rolle. 5 Proliferationsbekämpfung Die Proliferationsbekämpfung zählt nach wie vor zu einer der zentralen Aufgabenstellungen der Spionageabwehr in Schleswig-Holstein. Unter Proliferation versteht man die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (ABC-Waffen) und des dazu erforderlichen Know-hows, sowie der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte und damit zusammengehörenden Trägertechnologien. Die Proliferation ist eine ernst zu nehmende Gefahr für die Sicherheit in vielen Regionen der Welt, auch für die Bundesrepublik Deutschland und somit auch für das 197 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Bundesland Schleswig-Holstein. Die Bundesrepublik Deutschland zählt zu den wichtigsten Exportnationen der Welt, der Export von sogenannten Dual-Use-Gütern, d.h. Güter die sowohl militärisch als auch zivil eingesetzt werden können, unterliegt deshalb einer besonderen Kontrolle. Der Güterbegriff umfasst neben Waren u.a. auch Software und Technologie. Deshalb ist die dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle obliegende Ausfuhrkontrolle dieser sensiblen Güter, einschließlich Software und auch Technologie, ein elementarer Bestandteil, um illegale Proliferationsbeschaffungen erfolgreich bekämpfen zu können. Viele schleswig-holsteinische Unternehmen, aber auch Universitäten, Hochschulen und Fachhochschulen im Land verfügen über entsprechendes sensitives Technologiewissen und Know-how. Daher zählen all diese Bereiche zu den Adressaten der entsprechenden Kontrollvorschriften im Umgang mit potentiell kritischen Gütern und bedürfen des besonderen Schutzes durch die Sicherheitsbehörden. Proliferationsrelevante Staaten wie der Iran, Nordkorea, Syrien aber auch Pakistan versuchen, Sicherheitsvorkehrungen und gesetzliche Ausfuhrbestimmungen auszuhebeln und illegale Beschaffungsaktivitäten zu verschleiern. Dazu wenden sie zumeist konspirative Mittel und Methoden an: - Gründung einer neutralen Handelsfirma, um den Verkäufer über den wahren Kauf durch ein staatliches gesteuertes Unternehmen zu täuschen - Etablierung von illegalen Beschaffungsnetzwerken, denen Tarnfirmen aber auch Mittelsmänner angehören - Umweglieferungen über "Drittstaaten", um die Identität des Endkäufers nicht preiszugeben - Nutzung und Missbrauch von im Export unerfahrenen Lieferanten und Spediteuren - Aufteilung der illegalen Beschaffungsaktivitäten in viele für sich allein gesehen unverdächtige Einzellieferungen, um das Gesamtgeschäft nicht zu enttarnen - Verschleierung des End-Users oder auch Endverwenders (Einzelperson, Firma oder auch Institution, bei dem die Ware letztendlich verbleibt) Aufgabe der deutschen Sicherheitsbehörden ist es, diese Praktiken und Vorgehensweisen bei proliferationsrelevante Beschaffungsaktivitäten im Vorfeld zeitgerecht zu erkennen und zu verhindern. Aus diesem Grund unterhält der Verfassungsschutz in 198 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 Schleswig-Holstein gute und vertrauensvolle Netzwerkkontakte zu Unternehmen, Kammern und Verbänden, aber auch zu wissenschaftlichen Einrichtungen, um mithilfe von Sensilibisierungsund Informationsgesprächen sowie Vorträgen einen vorbeugenden Schutz zu erwirken. Allerdings sind die Sicherheitsbehörden dabei auch auf die Hinweise und Mithilfe der schleswig-holsteinischen Firmen angewiesen, wenn fragwürdige Verkaufsgeschäfte aber auch dubiose Vorgänge im Unternehmen auftreten. Um mögliche und drohende Gefahren von Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen in Schleswig-Holstein abzuwenden und diese vor wirtschaftlichen Schäden zu bewahren, werden Erkenntnisse aus zurückliegenden und erkannten illegalen und proliferationsrelevanten Beschaffungsaktivitäten in anonymisierter Form weitergegeben, Ein besonderes Augenmerk kommt dabei den Branchen zu, die schwerpunktmäßig im Fokus der proliferationsrelevanten Staaten stehen. Daher zählt neben der Verdachtsfallbearbeitung die Prävention und Aufklärung weiterhin zu den Hauptaufgaben im Bereich der Proliferationsbekämpfung. Zur Proliferationsbekämpfung wurden deshalb im Berichtsjahr weitere 12 Sensibilisierungsgespräche mit Wirtschaftsunternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen geführt. 6 Cyber-Spionage und -Sabotage Im Rahmen der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder erhielt die Spionageabwehr des Landes Schleswig-Holstein auch im Berichtsjahr wieder Hinweise auf Verdachtsfälle von Wirtschaftsspionage und -sabotage durch elektronische Angriffe (Cyberangriffe) auf Unternehmen und Bildungseinrichtungen aus Schleswig-Holstein. Diese Hinweise wurden geprüft und die Betroffenen im Rahmen des gesetzlichen Auftrages informiert bzw. sensibilisiert. 6.1 Cyberangriffe Als Cyberangriffe werden gezielt durchgeführte Maßnahmen mit und gegen Infrastrukturen der Informationstechnologie (IT) bezeichnet. Sie dienen entweder der Informationsbeschaffung oder sollen das angegriffene IT-System schädigen oder sabotieren. Im Fokus der Angriffe stehen Unternehmen, Forschungseinrichtungen, 199 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Verwaltungen sowie Kritische Infrastrukturen. Als Kritische Infrastrukturen (KRITIS) bezeichnet man alle Systeme, die zur Aufrechterhaltung wichtiger Funktionen der Gesellschaft notwendig sind (z.B. Energie-, Wasser-, Lebensmittelund Medizinische Versorgung, Kommunikations-, Finanzund Transportwesen, Staat und Verwaltung, etc.). Die Absichten der Angreifer können Wirtschaftsoder Militärspionage, politische Ausspähung, Sabotage, Konkurrenten-Ausspähung oder aber allgemeinkrimineller Natur sein. Wirtschaftskriminalität und anders motivierte Kriminalität im Cyberraum fällt in die Zuständigkeit der Polizei und wird an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Cyberangriffe können mittels Internet über große Entfernungen von einem beliebigen Standort aus realisiert werden. Sie bergen ein geringes Enttarnungsrisiko und versprechen eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit. Daher haben sie sich bei zahlreichen Nachrichtendiensten zu einem Standardwerkzeug etabliert. Zur Durchführung sind große finanzielle und personelle Ressourcen notwendig, die in der Regel nur nachrichtendienstlichen Akteuren zur Verfügung stehen. Allerdings mehren sich die Anhaltspunkte dafür, dass auch gut organisierte nicht staatliche Gruppen mit kommerzieller Zielsetzung entsprechende Angriffe ausführen. Möglicherweise agieren diese auch im Auftrag von Nachrichtendiensten. Eine belastbare Täterzuordnung bleibt bei allen Cyberangriffen sehr schwierig und bedarf aufwändiger technischer Analysen und Auswertungen vieler Informationen zu konkreten Vorfällen. Durch die steigende IT-Abhängigkeit vieler Unternehmen und immer weiter fortschreitende Digitalisierung und Vernetzung der modernen IT-Gesellschaft vergrößert sich stetig die Angriffsfläche für derartige Attacken. Nicht ausreichend gesicherte Technik und nach wie vor mangelndes Bewusstsein für die Risiken des Internets machen es den Angreifern oftmals leicht, zum gewünschten Erfolg zu kommen. Die Angreifer nutzen dabei unter anderem folgende Methoden: - klassisches Hacking Das Verschaffen unbefugter Zugänge zu Systemen oder Netzen mittels einer Vielzahl unterschiedlicher Techniken. - Denial of Service-Angriffe (DoS) Angriffe auf die Betriebsfähigkeit von Netzen oder Systemen, die zu Störungen bis hin zur vollständigen Betriebsunfähigkeit führen können. 200 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 - Identitätsdiebstahl - Schadsoftware - menschliche und soziale Faktoren Dies sind z.B. Diskreditierung, Rufschädigung, Ablenkungsmanöver, Erpressung, Nötigung, Korruption und Irreführung. 6.2 Erhöhte Angriffsgefahr im Homeoffice Durch die pandemiebedingt sehr kurzfristige und daher oft sicherheitstechnisch unzureichend realisierte Einrichtung zahlreicher Heimarbeitsplätze, hat sich die Gefahr für die IT der betroffenen Unternehmen erhöht, erfolgreich angegriffen werden zu können. Häufig sind die IT-Arbeitsplätze im Homeoffice weniger gut geschützt, sei es durch die Möglichkeit, leichter physischen Zugang zur Hardware zu erlangen als z.B. im Sicherheitsbereich eines Unternehmens selbst, aber auch durch erhöhte Angreifbarkeit auf technischer Ebene, da die Geräte mitunter außerhalb des Firmennetzes betrieben werden und auch nicht permanent mit diesem verbunden sind. So können Teile der im lokalen Firmennetz implementierten Sicherheitsmechanismen im Homeoffice möglicherweise unwirksam sein und erlauben deswegen einen erfolgreichen Angriff. Nicht zuletzt muss auch die veränderte Situation der Mitarbeiter im Homeoffice Gegenstand von Sicherheitsüberlegungen sein. Sie fühlen sich möglicherweise unvorbereitet, zu Hause ganz allein mit der Firmentechnik umzugehen, haben keinen oder nur sehr eingeschränkten Support, sind verunsichert oder durch Familienmitglieder abgelenkt und unachtsam, usw. In der Folge ergeben sich daraus verbesserte Angriffschancen für Cyberattacken. Die Absicherung der Heimarbeitsplätze und eine Einweisung der Mitarbeiter sollte daher für die Wirtschaft oberste Priorität haben und fester Bestandteil einer möglichen Konsolidierungsphase nach dem zügigen Aufbau der Heimarbeitsplätze sein. Auch im Nachhinein ist eine Absicherung in jedem Fall zu empfehlen. Es gilt, die Kompromittierung von Unternehmensnetzen mit allen denkbaren Folgen wie beispielsweise Informationsabfluss oder Sabotage und deren immensen wirtschaftlichen Folgeschäden zu verhindern. 201 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 6.3 Cyber-Crime Cyberangriffe werden sowohl von Nachrichtendiensten zur Cyber-Spionage als auch von Kriminellen zur Begehung von Cyber-Crime-Straftaten genutzt. Für die betroffenen Unternehmen ist dabei eine Täterzuordnung schwierig und oft auch nachrangig, da die notwendigen technischen Gegenmaßnahmen in beiden Bereichen zu großen Teilen identisch sind. Für den Bereich Cyber-Crime ist die Polizei zuständig. Das Landeskriminalamt des Landes Schleswig-Holstein hat die Zentrale Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) ins Leben gerufen, die als Ansprechpartner für betroffene Unternehmen fungiert. Weitere Informationen dazu erhalten Sie auf der Webseite: https://www.schleswig-holstein.de/DE/Landesregierung/POLIZEI/Praevention/Cybercrime/ZAC/zac_startartikel.html 7 Verfassungsschutz als Ansprechpartner Der Fachbereich Spionageabwehr, Proliferation und Wirtschaftsschutz der Verfassungsschutzbehörde in Schleswig-Holstein fungiert als verlässlicher Partner im Rahmen des nationalen Wirtschaftsschutzes. Neben individuellen Sensibilisierungsmaßnahmen für einzelne Unternehmen und Unternehmensverbände werden kostenfreie Vortragsveranstaltungen im Rahmen von Sensibilisierungskampagnen für Interessierte angeboten. In diesem Zusammenhang war es allerdings im vergangenen Jahr bedingt durch die Corona-Pandemie nicht möglich, größere Vortragsveranstaltungen durchzuführen. Unter Beachtung der Hygieneregeln konnten jedoch zahlreiche individuelle Sensibilisierungsgespräche in Schleswig-Holstein erfolgen. Zur umfassenden Erfüllung des gesetzlichen Auftrages ist der Fachbereich Spionageabwehr, Proliferation und Wirtschaftsschutz auch auf Hinweise von Einzelpersonen und Wirtschaftsunternehmen angewiesen. Um zur Aufklärung und Täterzuordnung von Cyber-Angriffen die notwendigen technischen Analysen durchführen zu können, ist es notwendig, eine Vielzahl von 202 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 konkreten Vorfällen auszuwerten. Leider scheuen sich insbesondere betroffene Wirtschaftsunternehmen immer noch davor Cyber-Angriffe bei den Sicherheitsbehörden zu melden, weil die Furcht vor einem öffentlichen Bekanntwerden groß ist. Der damit möglicherweise verbundene Imageund Reputationsverlust birgt für die Unternehmen auch die Gefahr von zusätzlichem wirtschaftlichen Schaden. Die Hinweise und Fragen der Wirtschaft, der Wissenschaft oder anderer betroffener Stellen werden durch den Verfassungsschutz stets vertraulich behandelt und nicht weitergegeben. Der Fachbereich Spionageabwehr, Proliferation und Wirtschaftsschutz steht Einzelpersonen und auch Unternehmen als vertraulicher Ansprechpartner jederzeit zur Verfügung. Weitere Informationen zum Verfassungsschutz und speziell zum Arbeitsfeld Spionageabwehr und Wirtschaftsschutz erhalten Sie unter: http://www.verfassungsschutz.schleswig-holstein.de oder über die Telefonnummer: 0431/988-3500. 203 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode IX. Übersicht im Bericht genannter extremistischer Organisationen Die folgende Auflistung enthält alle im Verfassungsschutzbericht erwähnten extremistischen Personenzusammenschlüsse. Sie bietet jedoch keine abschließende und vollständige Übersicht über die Organisationen, die die Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein beobachtet. 1 Rechtsextremistische Organisationen Aryan Circle (AC) Atomwaffen Division Deutschland (AWD) Blood & Honour (B&H) Bollstein Kiel Combat 18 Der III. Weg Deutsche Patriotische Gemeinschaft (DPG) Die Rechte Feuerkrieg Division (FKD) Hammerskins Identitäre Bewegung (IB) Junge Alternative (JA) Junge Nationalisten (JN) Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Nationale Hilfe Schleswig-Holstein e.V. (NHSH) Nationalsozialisten Bad Segeberg (NSBS) Projekt Volksgemeinschaft (PVG) Völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss (ehemals "Flügel") in der AfD 2 Reichsbürger und Selbstverwalter Amt für Menschenrecht Geeinte Deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) Staatenbund Deutsches Reich Verfassungsgebende Versammlung (VV) 204 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/2937 3 Islamistische und islamistisch-terroristische Organisationen al-Qaida / Kern-al-Qaida (AQ) al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAH) al-Quds-Brigaden / Quds-Einheit (pers.: Qods-Pasdaran / Sepahe-Qods) Föderale Islamische Union (FIU) Furkan-Gemeinschaft (Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) Generation Islam (GI) HAMAS (Harakat al-Muqawama al-Islamiyya) Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS; vormals Jabhat al-Nusra - JaN) Hizb Allah / Hisbollah Hizb ut-Tahrir (HTS; arabisch für: Partei der Befreiung) Islamischer Staat (IS; vormals "Islamischer Staat im Irak und Großsyrien" - ISIS) Islamisches Zentrum Hamburg (IZH) Muslimbruderschaft / Muslimbrüder (MB; al-Ikhwan al-Muslimun) Realität Islam (RI) al-Shabab (Harakat al-Shabab al-Mujaheddin) Taliban Tanzim Hurras ad-Din (THD; "Organisation der Wächter der Religion") 4 Linksextremistische Organisationen Autonome Antifa-Koordination Kiel (AAKK) Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Interventionistische Linke (IL) Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) Perspektive Solidarität Kiel (PSK) Rote Hilfe e.V. (RH) Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) TurboKlimaKampfGruppe (TKKG) 5 Extremistische Organisationen mit Auslandsbezug (nicht islamistisch) Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistane - PKK) 205 Drucksache 19/2937 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Demokratischer Gesellschaftskongress der Kurd*innen in Europa (Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen Li Ewropa - KCDK-E) Demokratische Kurdische Gemeinde Zentrum Neumünster e. V. (DKTM Neumünster) Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Deutschland (Navenda Civaka Demokratik ya Kurden li Almanyaye - NAV-DEM) Föderation Demokratisches Gesellschaftszentrum der Kurdinnen in Nord Deutschland e. V. (Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistaniyan le Bakure Alman - FED-DEM) Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine (Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu - ADÜTDF) Frauenverteidigungseinheiten (Yekineyen Parastina Jin - YPJ) Freiheitsfalken Kurdistans (Teyrebazen Azadiya Kurdistan - TAK) Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (Koma Civaken Kurdistan - KCK) Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland (KON-MED) Kurdisches Gemeindezentrum Schleswig-Holstein e. V. (DKTM Kiel) Marxistische Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekitiya Demokrat - PYD) Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung (Tevgera Ciwanen Welatparez u Soresger - TCS) Ülkücü-Bewegung Union der Gemeinschaften Kurdistans (Koma Civaken Kurdistan - KCK) Verband der Studierenden aus Kurdistan (Yekitiya Xwendekaren Kurdistan - YXK) Vereinigte Revolutionäre Bewegung der Völker (Halklarin Birlesik Devrim Hareketi) Volksverteidigungseinheiten (Yekineyen Parastina Gel - YPG) Volksverteidigungskräfte (Hezen Parastina Gel - HPG) 206