SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 17/1494 17. Wahlperiode 2011-05-03 Bericht der Landesregierung Verfassungsschutzbericht 2010 Federführend ist das Innenministerium Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode I. VERFASSUNGSSCHUTZ IN SCHLESWIG-HOLSTEIN 6 1 Aufgaben 6 1.1 Organisation 7 1.2 Befugnisse 8 1.3 Kontrolle 9 2 Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörden bei Aufenthaltsund Einbürgerungsfragen 9 3 Wirtschaftsschutz, Spionageabwehr und Proliferation 11 4 Geheimund Sabotageschutz und Zuverlässigkeitsüberprüfungen 12 II. RECHTSEXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN 14 1 Überblick 14 2 Schwerpunkte 16 2.1 Anhaltender Strukturwandel im aktionistischen Rechtsextremismus 16 2.2 Junge Nationaldemokraten (JN) als Sammlungsbewegung für den rechtsextremistischen Nachwuchs 20 2.3 Rechtsextremistische Musik bleibt bedeutender Faktor für die aktionistische Szene 23 3 Organisationen und Personenzusammenschlüsse 26 3.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 26 3.1.1 Die NPD auf Bundesebene 26 3.1.2 Die NPD in Schleswig-Holstein 28 3.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) 32 3.3 Überblick über die neonazistischen ("aktionistischen") Personenzusammenschlüsse in SchleswigHolstein 34 3.4 Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V. (HNG) 37 4 Rechtsextremistische Aktivitäten in Kreisen und Städten 37 4.1 Kiel und angrenzende Kreise 38 4.2 Segeberg/Neumünster 39 4.3 Südöstliches Schleswig-Holstein 41 4.4 Südwestliches Schleswig-Holstein 42 4.5 Nördliches Schleswig-Holstein 44 4.6 Lübeck/Ostholstein 44 5 Schrifttum, Verlage und Vertriebsdienste 46 5.1 Verlagsgruppe "Lesen und Schenken" in Martensrade (Kreis Plön) 47 5.2 Skinhead Vertriebsdienste 48 6 Mitgliederentwicklung der rechtsextremistischen Organisationen und Gruppierungen in SchleswigHolstein und Gesamtentwicklung im Bundesgebiet 2008 bis 2010 49 III. LINKSEXTREMISMUS 50 1 Überblick 50 2 Organisationen und Gruppierungen des linksextremistischen Spektrums 52 2.1 Undogmatischer Linksextremismus 52 2.1.1 Potenzial und örtliche Schwerpunkte 52 2.1.2 Entwicklungen der undogmatischen Szene 53 2.2 Dogmatischer Linksextremismus 55 2.2.1 Entwicklung der dogmatischen Szene 55 2.2.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) 55 2 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 2.3 "Rote Hilfe e.V." 58 3 Aktionsfelder 59 3.1 "Anti-Faschismus" 60 3.2 "Anti-Repression" 64 3.3 "Anti-Militarismus" 65 3.4 "Anti-Atom" 67 3.5 "Anti-Sozialabbau" 68 3.6 Kampagne gegen die Innenministerkonferenz der Länder in verschiedenen Aktionsfeldern 70 4 Aktionsform "Gewalt" 73 5 Mitgliederentwicklung der linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen in SchleswigHolstein und Gesamtentwicklung im Bundesgebiet 2008 bis 2010 76 IV. EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN MIT AUSLANDSBEZUG 77 1 Überblick 77 2 Islamismus 80 2.1 Der Islamismus als Phänomen 80 2.1.1 Begriffsbestimmung 81 2.1.2 Ziele und Merkmale des Islamismus 81 2.1.3 Kategorisierung islamistischer Bestrebungen 84 2.2 Der Salafismus als Spielart des Islamismus 85 2.2.1 Zurück zu den Wurzeln: Die Dynamik des Salafismus 85 2.2.2 Der Gegenstand Salafismus 86 2.2.3 Politischerund jihadistischer Salafismus 88 2.2.4 Radikalisierungsprozesse 89 2.2.5 Salafistische Ideologie im Internet 90 2.3 Jihadismus 92 2.3.1 Jihadismus - eine ernstzunehmende Ideologie 92 2.3.2 Entwicklungsgeschichte 93 2.3.3 Propaganda und Rekrutierung 94 2.4 Islamistischer Terrorismus 94 2.4.1 Internationale Entwicklungen im Jahr 2010 94 2.4.2 Islamistischer Terrorismus in Deutschland 100 2.4.3 Islamistischer Terrorismus in Schleswig-Holstein 103 2.5 Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) 105 2.5.1 Ziele und Struktur 105 2.5.2 Aktuelle Lage und Situation in Schleswig-Holstein 107 2.6 "Tablighi Jama'at" ("Gemeinschaft der Verkündung und Mission") 108 2.7 Die Muslimbruderschaft (MB) und die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) 109 2.7.1 Hintergrund 110 2.7.2 Aktuelle Entwicklungen 111 2.7.3 Die Muslimbruderschaft in Deutschland - Die IGD 111 2.8 Die "Hizb Allah" 112 2.8.1 Hintergrund 112 2.8.2 Aktuelle Entwicklungen 113 2.8.3 Die "Hizb Allah" in Deutschland 114 2.9 Die "Türkische Hizbullah" 114 2.9.1 Entwicklung und Ideologie 115 2.9.2 Aktuelle Entwicklungen 116 2.9.3 Aktivitäten der TH in Deutschland 117 3 Nicht islamistisch motivierter Extremismus mit Auslandsbezug: "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), ehemals "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) 117 3.1 Die PKK in Deutschland 118 3.2 Jährliches Veranstaltungsprogramm 119 3.3 Reaktionen auf Exekutivmaßnahmen 120 3.4 Doppelstrategie: Krieg und Terror in der Türkei, Lobbyarbeit in Europa 122 3.5 Kampagne "Tatort Kurdistan" 124 3 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 3.6 Jugendarbeit in Kiel 125 3.7 Finanzierung 125 3.8 Ausblick: Nach den Parlamentswahlen in der Türkei ein "revolutionärer Volkskrieg"? 126 4 Entwicklung der Mitglieder-/Anhängerzahlen der extremistischen Ausländerorganisationen in Schleswig-Holstein und Gesamtentwicklung im Bundesgebiet 2008 bis 2010 128 4 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Vorbemerkungen Der vorliegende Bericht erwähnt nicht alle Beobachtungsobjekte der schleswig-holsteinischen Verfassungsschutzbehörde und auch nicht alle Ereignisse des Jahres 2010, sondern nur die bedeutenderen Organisationen und Gruppierungen sowie Geschehnisse. Hinweise auf Vorkommnisse außerhalb des Landes Schleswig-Holstein wurden aufgenommen, soweit sie für das Verständnis des Berichtes erforderlich sind. Die in den Abschnitten II bis IV aufgenommenen Zitate entsprechen in ihrer Schreibweise jeweils dem Original. 5 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode I. Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein 1 Aufgaben Der Verfassungsschutz schützt die Werte, welche unseren demokratischen Rechtsstaat ausmachen: die freiheitliche demokratische Grundordnung. Geschützt werden die Menschenrechte und die Demokratie sowie wichtige Verfassungsgrundsätze, auf die das Wesen der Demokratie gründet. Es handelt sich hierbei um Werte, die die Freiheit garantieren und den Einzelnen vor Diktatur und Bevormundung bewahren. Freiheit ist nur in Sicherheit möglich. So muss der Verfassungsschutz auch den Bestand und die Sicherheit des demokratischen Staates schützen, eben derjenigen Institution, welche als einzige die Freiheit effektiv zu garantieren vermag. Andernfalls steht zu befürchten, dass der Staat zur Beute von Extremisten wird, so wie in der unseligen Zeit des Nationalsozialismus. Im Unterschied zur Weimarer Republik hält die Bundesrepublik jedoch nicht still, wenn Extremisten sich daran machen, die Freiheit abzuschaffen. Die Bundesrepublik verteidigt ihre freiheitliche demokratische Grundordnung. In dieser streitbaren Demokratie kommt dem Verfassungsschutz die Funktion eines Frühwarnsystems zu: Er klärt Gefahren für die Freiheit und Sicherheit auf und informiert die Regierung sowie die Bevölkerung darüber - so auch mit diesem Bericht. Angesichts der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus genügt es aber nicht, Freiheit und Sicherheit nur in Deutschland zu schützen. Wird z.B. in Deutschland Geld für Terroranschläge im Ausland gesammelt, muss der Verfassungsschutz dem im Interesse der auswärtigen Belange der Bundesrepublik nachgehen. Gleiches gilt für die Aktivitäten so genannter Hassprediger, wenn diese z.B. von Deutschland aus das Existenzrecht Israels verneinen, wird damit doch dem Terrorismus das Feld bereitet und die Sicherheit auch in Deutschland gefährdet. 6 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Neben diesen Gefahren von Extremisten aller Couleur hat es der Verfassungsschutz nach wie vor mit Spionage zu tun. Dabei hat sich das Interesse fremder Staaten seit dem Ende des Kalten Krieges auf die Wirtschaft verlagert. Hier konzentrieren sich die Abwehrbemühungen auf den illegalen Technologietransfer (Proliferation). Weiterhin wirkt der Verfassungsschutz beim Geheimund Sabotageschutz mit. Der Geheimschutz dient dem Schutz von staatlichen Verschlusssachen. Zu denken ist hier an geheime Regierungsdokumente und polizeiliche Fahndungskonzepte, aber auch an Pläne zu Waffensystemen. Solche Geheimnisse dürfen nur Personen anvertraut werden, bei denen keine Anhaltspunkte für ein Sicherheitsrisiko vorhanden sind. Der Verfassungsschutz hilft bei deren Auswahl. Zudem berät er Behörden zu baulichen und technischen Sicherheitsvorkehrungen. Ferner wirkt er in der Atom-, Luftund Hafensicherheit mit. 1.1 Organisation Der Verfassungsschutz ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern. Insgesamt gibt es 17 Verfassungsschutzbehörden: 16 Landesverfassungsschutzbehörden und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), als deren Koordinierungsstelle. Die Landesverfassungsschutzbehörden sind entweder als eigenständige Landesämter organisiert oder Teil des jeweiligen Innenministeriums, so auch in SchleswigHolstein. Die für den Verfassungsschutz zuständige Abteilung des schleswig-holsteinischen Innenministeriums hat derzeit rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedenster Fachrichtungen. Die Abteilung ist in vier Referate gegliedert: Verwaltung, Rechtsund Grundsatzfragen, Datenschutz, Nachrichtenbeschaffung, Auswertung Rechtsund Linksextremismus, Öffentlichkeitsarbeit, Auswertung Ausländerextremismus, Spionageabwehr, Geheimund Sabotageschutz. Für Sachmittel und Investitionen standen im Jahre 2010 insgesamt 896.000 Euro an Haushaltsmitteln zur Verfügung. 7 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 1.2 Befugnisse Die Befugnisse des Verfassungsschutzes sind darauf beschränkt, Informationen zu sammeln und auszuwerten. Mehr darf er nicht: Er darf keine Personen festhalten oder verhaften. Er darf nicht Vereine verbieten oder Ausländer ausweisen. Derartige ordnungsrechtliche oder polizeiliche Befugnisse stehen ihm nicht zu. Auch benötigt der Verfassungsschutz diese nicht zur Erfüllung seiner Aufgabe: Wie oben dargelegt, besteht sie allein darin, Gefahren für die Freiheit und Sicherheit aufzuklären. Die Beseitigung der aufgeklärten Gefahren ist nicht seine Aufgabe. Er kann aber seine Informationen an Behörden weitergeben, denen die Beseitigung der Gefahren oder die Verfolgung damit einhergehender Straftaten obliegt, z.B. an die Polizei bzw. an die Staatsanwaltschaft sowie an die Vereinsoder Ausländerbehörden. Diese Behörden entscheiden dann selbst, ob und gegebenenfalls wie sie aufgrund der Informationen des Verfassungsschutzes tätig werden. Zum Schutz von Freiheit und Sicherheit ist der Verfassungsschutz berechtigt, bereits auf den Verdacht einer Gefahr hin tätig zu werden und Informationen zu sammeln. Der Verdacht muss allerdings hinreichend begründet sein. Gefahren für die Freiheit und Sicherheit sind politische Gefahren. Zu deren Aufklärung richtet der Verfassungsschutz sein Augenmerk auf politisch wirksame Personenzusammenschlüsse, z.B. auf extremistische Gruppen, Vereine und Parteien. Nicht Einzelpersonen, sondern solche Bestrebungen sind es, die den Verfassungsschutz interessieren. Einzelpersonen sind für ihn nur dann von Interesse, wenn sie Teil einer Bestrebung sind, sei es als Mitglied, insbesondere dann, wenn sie in der Bestrebung als Funktionäre tätig sind, sei es als Unterstützer z.B. terroristischer Vereinigungen. Zu diesen Bestrebungen sammelt der Verfassungsschutz Informationen. Er greift dazu überwiegend, d.h. zu etwa 60%, auf öffentlich zugängliche Quellen zurück, so z.B. auf die Publikationen von Extremisten. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Internet zu. Dort agieren diese auf zahlreichen Seiten. Ferner wertet der Verfassungsschutz Polizeiberichte und Gerichtsurteile aus. Zu verdächtigen Personen werden Daten aus behördlichen Registern, z.B. aus dem Melderegister, Personalausweisregister, Ausländerzentralregister oder Fahrzeugregister abgefragt. Diese Behördenauskünfte machen einen Anteil von etwa 20% der gesammelten Informationen aus. 8 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Erhärtet sich der Verdacht gegen eine Bestrebung, können Informationen auch heimlich mit Hilfe sog. nachrichtendienstlicher Mittel beschafft werden. Zu denken ist hier an eine Observation oder an den Einsatz von V-Leuten (Vertrauensoder Verbindungsleute). Bei schwerwiegenden Gefahren für die Freiheit und Sicherheit kann zudem der Postund Telekommunikationsverkehr von Verdächtigen überwacht werden. Greift der Verfassungsschutz bei der Beobachtung Verdächtiger in Grundrechte ein, muss er stets die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs prüfen. Dabei geht es um die Frage, inwieweit der Schutz der Freiheit und Sicherheit der Allgemeinheit eine Beschränkung der Freiheit der Betroffenen rechtfertigt. Diese Abwägung wird sorgfältig in jedem Einzelfall vorgenommen. Bei schwerwiegenden Eingriffen wie z.B. der Ü- berwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs behält sich der Innenminister persönlich die Entscheidung vor. Unter welchen Voraussetzungen welche nachrichtendienstlichen Mittel gegen wen angeordnet werden können, kann im Landesverfassungsschutzgesetz und im Artikel 10-Gesetz nachgelesen werden. 1.3 Kontrolle Besondere Bedeutung kommt neben der Kontrolle durch die Gerichte und durch das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz der Kontrolle durch das Parlament zu. Sie ist erforderlich, da die Gerichte zumindest die geheime Tätigkeit des Verfassungsschutzes nur eingeschränkt überprüfen können. Die parlamentarische Kontrolle erfolgt durch zwei vom Landtag eingesetzte Ausschüsse: dem Parlamentarischen Kontrollgremium und der G 10-Kommission. Das Parlamentarische Kontrollgremium kontrolliert den Verfassungsschutz insgesamt. Dazu berichtet der Innenminister dem Gremium zu den wesentlichen Vorgängen. Soll der Postund Telekommunikationsverkehr eines Verdächtigen überwacht werden, muss der Innenminister dafür zuvor die Genehmigung der G 10-Kommission einholen. Auf diese Weise wird die Tätigkeit des Verfassungsschutzes nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern auch im Einzelfall vom Parlament überprüft. 2 Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörden bei Aufenthaltsund Einbürgerungsfragen 9 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Das Aufenthaltsrecht soll den Zuzug von Ausländern steuern und Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahmeund Integrationsfähigkeit sowie den wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland gestalten. Darüber hinaus enthält es auch sicherheitsrelevante Vorschriften. So hat die Verfassungsschutzbehörde Mitwirkungsaufgaben bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln wahrzunehmen. Danach können die Ausländerbehörden Daten von Personen, die einen Aufenthaltstitel beantragen, an die Sicherheitsbehörden übermitteln um festzustellen, ob Versagungsgründe gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder sonstige Sicherheitsbedenken vorliegen. Seit Inkrafttreten des Terrorismusbekämpfungsgesetzes und des Zuwanderungsgesetzes werden auch erhöhte Sicherheitsanforderungen an Einbürgerungsbewerber gestellt. So fragen die Einbürgerungsbehörden im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes zur Vorbereitung ihrer Entscheidung regelmäßig bei den Verfassungsschutzbehörden an, ob gegen den Einbürgerungsbewerber Erkenntnisse vorliegen, die zur Versagung der Einbürgerung führen könnten. Koordinierung aufenthaltsbeendender Maßnahmen Im Jahr 2010 wurden in Aufenthaltsverfahren 3.398 und in Einbürgerungsverfahren 3.703 Anfragen durch die schleswig-holsteinischen Ausländerbzw. Einbürgerungsbehörden an die Verfassungsschutzbehörde gestellt, wobei bei 86 Personen sicherheitsrelevante Erkenntnisse vorgelegen haben. Üblicherweise zeichnen sich die Personen, die der Unterstützung von sicherheitsgefährdenden Bestrebungen verdächtig sind, dadurch aus, dass sie komplexe Bezüge zu bundesweit oder international agierenden Organisationen oder Personengruppen aufweisen. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder eng miteinander kooperieren. In Schleswig-Holstein besteht seit 2007 eine regelmäßig tagende Arbeitsgruppe, an der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausländerbehörden, der Polizei, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie der Verfassungsschutzbehörde teilnehmen. Ziel der Arbeitsgruppe ist es, diejenigen Einzelfälle einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, die besondere Sicherheitsrelevanz haben. Insbesondere wegen 10 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 der Bedeutung der Rechtsfolgen einer Entscheidung im Aufenthaltsverfahren sowohl für den oder die betroffenen Ausländer, als auch für die Bürgerinnen und Bürger des Landes ist eine enge behördenübergreifende Zusammenarbeit unerlässlich. 3 Wirtschaftsschutz, Spionageabwehr und Proliferation Nach wie vor stehen deutsche Wirtschaftsunternehmen im Fokus diverser ausländischer Nachrichtendienste. Verschiedenen Medienberichten zufolge, führte der damalige russische Präsident Wladimir Putin in diesem Zusammenhang bereits 2007 aus, die russischen Nachrichtendienste müssten ihre Aktivitäten hinsichtlich der Beschaffung geheimer Informationen aus der deutschen Industrie intensivieren, um der russischen Wirtschaft einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Dabei bilden neben dem Energiesektor auch die Gebiete Wissenschaft und Technik Aufklärungsschwerpunkte. Hierbei ist hervorzuheben, dass nicht nur große oder international agierende deutsche Konzerne, sondern vermehrt auch kleine und mittelständische Unternehmen das Ziel von Ausspähversuchen sind. Ausländische Dienste bedienen sich dabei einfachster Mittel, um an die schützenswerten Daten zu gelangen, da eine Vielzahl der Betroffenen über keine oder nicht ausreichende Schutzmechanismen verfügt. In der Regel nutzen daher Spione zumeist unzureichend geschützte IT-Netzwerk-strukturen von Unternehmen aus, um anonym Firmen-Know-how auszuforschen und dieses Wissen unberechtigt weiterzugeben. Dieses Szenario stellt eine existenzgefährdende Bedrohung vieler deutscher Unternehmen und Betriebe dar. Es ist darum unabdingbar, dass Unternehmen aktuelle Sicherheitsinformationen bei kompetenten Partnern einholen, um ihre Schutzmaßnahmen auf ein Höchstmaß anzuheben. Die Kombination aus der Installation eines "Frühwarnsystems" zur Erkennung von Know-how-Verlusten sowie die Zementierung des Informationsschutzes als wichtigem Bestandteil der Firmenphilosophie und Firmenstrategie sind elementare Grundregeln der Prävention. 11 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Die klassische staatlich gelenkte Wirtschaftsspionage verschmilzt dabei häufig mit dem Themenkomplex "Proliferation", d.h. der Beschaffung von Materialien und Knowhow zur Entwicklung und Herstellung von Massenvernichtungswaffen und der dazugehörigen Trägertechnologie. Hierbei versuchen insbesondere der Iran und Nordkorea durch die Nutzung von Beschaffungsnetzwerken an deutsche Produkte zu gelangen, die für die Fortsetzung und den Ausbau der Atomwaffenprogramme von Bedeutung sind. Dies gilt es frühzeitig zu erkennen und zu unterbinden. In diesem Sinne sensibilisiert und unterstützt der Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein diese Unternehmen. 4 Geheimund Sabotageschutz und Zuverlässigkeitsüberprüfungen Ergänzend zu den originären Beobachtungsaufgaben der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder besteht die gesetzliche Mitwirkungsaufgabe im Bereich des personellen und materiellen Geheimund Sabotageschutzes. Dabei führen die Verfassungsschutzbehörden im Auftrag Sicherheitsüberprüfungen von Personen durch, die auf staatliche Veranlassung Zugang zu Verschlusssachen erhalten sollen oder in sicherheitsempfindlichen Stellen von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen tätig sind (Sabotageschutz). Ablauf und Umfang dieses freiwilligen Überprüfungsverfahrens sind in Schleswig-Holstein durch das Landessicherheitsüberprüfungsgesetz (LSÜG vom 10.12.2003) festgelegt und unterliegen denselben Kontrollinstanzen wie auch die übrige Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde. Zudem bestehen in Schleswig-Holstein mit der Verschlusssachenanweisung (VSA) und der VS-IT-Richtlinie Vorschriften zum materiellen Schutz von Verschlusssachen vor Kenntnisnahme durch Unbefugte, insbesondere durch fremde Nachrichtendienste. Daher führt die Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein Beratungen von Landesbehörden aber auch von Wirtschaftsunternehmen durch, in denen staatliche Verschlusssachen bearbeitet oder gelagert werden. Insoweit ergänzt die Mitwirkungstätigkeit der Verfassungsschutzbehörde in beiden Bereichen die originäre Aufgabe der Spionageabwehr und verhindert bereits präventiv Aufklärungsbestrebungen anderer Staaten. Zunehmend in den Focus fremder Nachrichtendienste gerät dabei der Einsatz von IT-Systemen, was deren Schutz durch Verwendung zeitgemäßer 12 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Verschlüsselungseinrichtungen und eine entsprechende Beratung durch die Verfassungsschutzbehörde erforderlich macht. Im Berichtszeitraum wurden von der Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein insgesamt 158 (Vorjahr 181) Sicherheitsüberprüfungen durchgeführt. Der Gesamtbestand sicherheitsüberprüfter Personen blieb mit 1.582 annähernd gleich (Vorjahr 1.512). Darüber hinaus ist die Verfassungsschutzbehörde Schleswig-Holstein eine der angefragten Stellen bei Zuverlässigkeitsüberprüfungsverfahren auf den Gebieten der Atom-, Hafenund Luftsicherheit sowie bei Genehmigungen im Bereich des Sprengstoffrechts. Im Berichtszeitraum wurden insgesamt 7.214 derartiger Anfragen (Vorjahr 6.780) bearbeitet. Bedingt durch das Erfordernis eines verstärkten Schutzes der Bevölkerung vor der Gefahr terroristischer Anschläge wurde in den vergangen Jahren der betroffene Personenkreis durch Gesetzesnovellierungen im Bereich der Zuverlässigkeitsüberprüfungen ausgeweitet, was wiederum zu einer deutlich erhöhten Fallzahl geführt hat. 13 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode II. Rechtsextremistische Bestrebungen 1 Überblick In Schleswig-Holstein ist die Zahl der Rechtsextremisten von 1.455 auf 1.340 zurückgegangen. Rückläufig war auch die öffentliche Präsenz des Rechtsextremismus. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig. Den auffälligsten Rückgang gab es bei den Angehörigen der rechtsextremistisch orientierten Subkulturgruppen. Sie stellen mit etwa 640 Personen nach wie vor den größten Teil des aktionistischen Teils des Rechtsextremismus. Aufgrund der seit mehreren Jahren erkennbar nachlassenden Politisierung dieser Szene, die in der Vergangenheit zum großen Teil aus so genannten Skinheads bestand, kommt dieser Rückgang nicht unerwartet. Vielfach stehen der Konsum rechtsextremistischer Musik und die unpolitische Freizeitgestaltung völlig im Vordergrund. Die damit einhergehende politische Abstinenz dürfte für die offenkundige Erfolglosigkeit schleswig-holsteinischer Rechtsextremisten bei öffentlichen Aktivitäten im Berichtsjahr die wichtigste Rolle gespielt haben. Die bedeutendste politische Kraft im deutschen Rechtsextremismus bleibt die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD). Einen Erfolg bei Wahlen konnte sie allerdings erneut nicht erzielen. Schwerpunktmäßig beschäftigte sich die NPD mit sich selbst. Beispielhaft hierfür ist die Programmdiskussion, die letztlich nur die verfassungsfeindliche Ausrichtung der Partei neu umschreibt. Daneben versuchte die Führung der Partei die angestrebte Fusion mit der "Deutschen Volksunion" (DVU) publizistisch zu vermarkten. Auch im schleswig-holsteinischen Rechtsextremismus bleibt die NPD die dominierende Kraft. Erneut musste aber auch sie einen geringfügigen Rückgang der Mitgliederzahl von 230 auf nunmehr etwa 220 hinnehmen. Diese Entwicklung entspricht dem Bundestrend. Die seit Jahren beobachtete enge Verflechtung der NPD mit aktionistischen, offen neonazistisch agierenden Rechtsextremisten setzte sich unverändert fort. Eine Konkurrenz zwischen dem aktionistischen und nationaldemokratischen Potenzial gibt es in Schleswig-Holstein nicht. Bislang konnte die NPD hieraus allerdings nur selten Nutzen ziehen. Außerhalb des bekannten rechtsextremistischen Spektrums konnte sie wiederum kaum Anklang finden. 14 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Durch die Wiederbelebung der NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" versucht die Partei derzeit, den Kreis ihrer Anhänger über das bekannte Spektrum der so genannten "Stiefel-Nazis" hinaus zu erweitern. Bislang noch mit mäßigem Erfolg. Die einstmals größte rechtsextremistische Partei DVU spielt in Schleswig-Holstein seit Jahren keine ernst zu nehmende Rolle. Zu Beginn des Jahres gab es zwar einige Hinweise auf eine Verstärkung der Partei-Aktivitäten. Diese wurden aber durch die Bemühungen des DVU-Bundesvorsitzenden um einen Anschluss an die NPD konterkariert. Eine wirkliche Veränderung der Kräfteverhältnisse des derzeit bekannten rechtsextremistischen Spektrums ist, unabhängig vom Ausgang dieses besonders in der DVU umstrittenen Vorhabens, nicht zu erwarten. Für die öffentliche Wahrnehmbarkeit des Rechtsextremismus ist zumeist das neonazistisch geprägte aktionistische Potenzial verantwortlich. Insbesondere im ersten Halbjahr waren die Aktivitäten dieser Szene auf eine provokative öffentliche Präsenz gerichtet. Verantwortlich hierfür waren in der Regel gewaltbereite Einzelpersonen, die durch besonders aktiven Einsatz in der Lage waren, Mitläufer (und Mitläuferinnen) an sich zu binden. Insbesondere durch den Rückzug einzelner besonders aggressiver Akteure gab es ab Mitte des Jahres in den so genannten "Aktionsgruppen" vermehrt Auflösungstendenzen. Insgesamt ist der Zustand dieser "rechts-autonom" geprägten, oft gewaltbereiten Gruppen zum Jahresende als "amorph" zu bezeichnen. Der gegenwärtig leichte Rückgang verfassungsfeindlicher rechtsextremistischer Aktivitäten spiegelt sich auch in der polizeilichen Straftatenstatistik für das Jahr 2010 wider. Dort ist für das Jahr 2010 ein deutlicher Rückgang rechtsextremistischer Straftaten in Schleswig-Holstein ausgewiesen. Die Gesamtzahl der Straftaten verringerte sich danach von 768 im Jahr 2009 auf 660 Fälle im Jahr 2010. Dies entspricht einem Rückgang von 14,1 %. Die (sonstigen) politisch motivierten Straftaten - größtenteils Propagandadelikte - beliefen sich im Jahr 2010 auf 623 Fälle gegenüber 708 im Vorjahr, was einem Rückgang von 12 % entspricht. 2010 gab es 37 Gewalttaten (überwiegend Körperverletzungen). Im Vergleich zu 2009 mit 60 Delikten in diesem Bereich bedeutet dies einen Rückgang um rund 15 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 38 %. Zudem konnte festgestellt werden, dass 10 der 37 rechtsextremistischen Gewalttaten (27 %) Übergriffe von Rechtsextremisten waren, die sich gegen den politischen Gegner (von "Links") richteten. 2009 waren es noch 25 von 60 Gewalttaten (42 %). 2 Schwerpunkte 2.1 Anhaltender Strukturwandel im aktionistischen Rechtsextremismus Die aktionistisch geprägte Neonazi-Szene in Schleswig-Holstein hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Der seit einiger Zeit zu beobachtende Strukturwandel hat sich auch 2010 fortgesetzt. Neonazistische Kameradschaften, die über Jahre als Organisationsform der "Freien Nationalisten" das Bild des aktionistischen Rechtsextremismus geprägt haben, bestehen in Schleswig-Holstein schon seit mehreren Jahren nicht mehr. Stattdessen hat sich in den letzten zwei Jahren eine Vielzahl rechts-autonomer Aktionsgruppen gebildet. Diese weisen kaum noch Gemeinsamkeiten mit den ehemaligen Kameradschaften auf. Die nahezu beliebig erscheinenden Selbstbezeichnungen verschiedener Aktionsgruppen in SchleswigHolstein, die wahlweise als "Aktionsgruppe", als "Freie Nationalisten" oder als "Autonome Nationalisten" auftreten, lassen zudem eine sinnvolle Abgrenzung gegenüber anderen neonazistischen Strömungen kaum noch zu. Ohnehin kommt es bei öffentlichen Aktivitäten zu einer vorbehaltlosen Zusammenarbeit zwischen Angehörigen neonazistischer Aktionsgruppen, der NPD und sonstigen, subkulturell geprägten Rechtsextremisten. Rund zehn rechts-autonome Aktionsgruppen, die dem Spektrum der Neonazis zugerechnet werden, bestehen in Schleswig-Holstein. Regionale Schwerpunkte sind dabei nur schwer ausfindig zu machen, da Aktionsgruppen in nahezu allen Landesteilen vorhanden sind. Sie umfassen üblicherweise zwischen 5 und 30 Mitglieder im Alter von 16 bis 25 Jahren und sind damit wesentlich jugendlicher geprägt als frühere Kameradschaften. Die vorhandenen Strukturen sind dazu weniger klar abzugrenzen als im organisierten Rechtsextremismus, so dass den Aktionsgruppen in der Regel noch 16 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 ein gewisses Unterstützerumfeld hinzugezählt werden muss. Besonders die Zahl der Mitläufer, die sich nur sporadisch an politischen Aktionen beteiligen, führt zu einem im Vorjahresvergleich höheren neonazistischen Personenpotenzial. Dennoch gelingt es nur in wenigen Fällen, aus den Aktionsgruppen rechtsextremistischen Nachwuchs für eine dauerhafte politische Arbeit zu gewinnen. Charakteristisch für die durch rechts-autonome Aktionsgruppen geprägte neonazistische Szene in Schleswig-Holstein ist das Fehlen einer fest gefügten, gemeinsamen Weltanschauung und eines organisatorischen Unterbaus mit entsprechenden Führungsfiguren. Während es einige Aktionsgruppen zumindest teilweise auf planmäßige politische Arbeit mit entsprechenden öffentlichen Aktivitäten anlegen, steht bei anderen eher der gemeinsame Freizeitspaß im Vordergrund. Die ursprünglichen Ziele des Neonazismus spielen in solchen Gruppen nur eine untergeordnete Rolle. Vielfach ist lediglich die Agitation "gegen Links" ein gemeinsamer, szeneverbindender "ideologischer" Nenner, ansonsten wird sich vielfach auf ein "autonomes" Selbstverständnis zurückgezogen. Auf der Internetseite einer Aktionsgruppe wird dies wie folgt umschrieben: "Dem "autonomen Nationalismus" hingegen liegt die Idee von DIY[do it yourself] Aktivistinnen und Aktivisten zugrunde, die - unabhängig von falschen Autoritäten - aktiven und vor allem kreativen Widerstand leisten. Feste Strukturen werden durch ein dichtes Netzwerk überflüssig gemacht, das arbeitsteilig nach den verschiedenen Fähigkeiten der Einzelnen zusammenarbeitet [...] Hinzu kommt das Aufgreifen bisher oft vernachlässigter Themenfelder wie Tierund Umweltschutz, Gesundheitspolitik, Konsumkritik oder auch Antisexismus. Außerdem ein neues, modernes Auftreten, das mit der Zeit geht und uns gerade für junge Menschen attraktiver macht; sowie die Übernahme des "schwarzen Blocks" als wohl auffälligste Aktionsform, der Repression und Polizeiwillkür auf Demonstrationen effektiv entgegenwirken kann." Die Erwartungen an die eigene Klientel werden auf der Website einer weiteren Aktionsgruppe wie folgt überhöht: "Wir brauchen fanatische Eiferer für die es nichts als den Weg dieser Bewegung und ihren Idealen gibt. Die sich mit Leib und Leben der Sache verschrieben haben, und was wir NICHT brauchen sind dauernd betrunkene armselige Lichter die "Nazi" spielen. [...] Politische Soldaten wollen sie sein. Kameraden. Doch die einen sind bloß Trinker und Tau17 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode genichtse die anderen Großmäuler und Wichtigtuer. Schon mal von einer Revolution gehört die mit einer CD begann oder auf einer Feier begonnen wurde? Musik ist zwar angenehm und sicherlich wichtig für die Unterhaltung doch der politische Nutzen ist doch arg in Frage zu stellen." Diese Vorstellung eines "autonomen Nationalismus" ist in der Realität jedoch nicht ansatzweise anzutreffen. Lediglich die angesprochene Aktionsform des "schwarzen Blocks" hat mit Abstrichen Akzeptanz erfahren und ist inzwischen gängige Praxis auf rechtsextremistischen Demonstrationen. Von einem "dichten Netzwerk" mit "arbeitsteiliger" Aufgabenverteilung und "fanatischen Eiferern" ist die Szene derzeit allerdings weit entfernt. Vielmehr zeichnet sich diese Szene durch eine weitestgehende Lähmung, Ideenlosigkeit und Mobilisierungsmüdigkeit aus. Noch vor wenigen Jahren waren Kundgebungen und starke öffentliche Präsenz die wichtigsten Erscheinungsformen der Neonazi-Szene. Regelmäßige Aktionen mit wahrnehmbaren Teilnehmerzahlen sind in Schleswig-Holstein aber mittlerweile die Ausnahme. Zu größeren eigenen Kampagnen sind die "Freien Nationalisten" derzeit nicht in der Lage. Diese Situation ist auch dem Fehlen von Identifikationsfiguren geschuldet, die die Szene zu gemeinsamen Aktivitäten animieren könnten. Zwar sind die führenden Protagonisten der jeweiligen Aktionsgruppen dem "harten Kern" der Neonazi-Szene zuzuordnen. Sie verfügen jedoch nicht über Möglichkeiten, überregional zu mobilisieren und die landesweite Szene zu gemeinsamen Aktionen anzuleiten. Exemplarisch hierfür sind die beiden Demonstrationen am 26. März in Lübeck sowie am 21. August in Neumünster (siehe hierzu auch Kap. II 4.2 und Kap. II 4.6) zu sehen. In beiden Fällen waren erheblich geringere Teilnehmerzahlen als erwartet zustande gekommen. Bemerkenswerterweise war die Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft selbst in Schleswig-Holstein nur unzureichend, so dass einzelne Aktionsgruppen diesen Veranstaltungen fernblieben. Die angemeldeten Marschrouten konnten zudem wegen teilweise massiver Gegenproteste nicht eingehalten werden. Diese aus rechtsextremistischer Sicht enttäuschenden Veranstaltungen waren bezeichnend für die momentane Führungslosigkeit des aktionistischen Rechtsextremismus in SchleswigHolstein. Die regionalen Aktionsgruppen treten stattdessen vermehrt zu Anlässen wie dem jährlichen "Heldengedenken" am Volkstrauertag oder als Mobilisierungsmasse der NPD auf. Während Parteimitglieder die Organisation regionaler Demonstrationen, 18 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Kundgebungen oder Infotische übernehmen, stellen die Angehörigen der Aktionsgruppen oftmals den größten Teil der Akteure. Allerdings gelang es nur selten, zu solchen Anlässen mehr als 20 Teilnehmer zu mobilisieren. Die Entwicklung des aktionistischen Rechtsextremismus in Schleswig-Holstein deutet darauf hin, dass das Modell der rechts-autonomen Aktionsgruppen zur Gewinnung eines zur politischen Arbeit fähigen rechtsextremistischen Nachwuchses nur eingeschränkt geeignet ist. Offensichtlich fühlen sich überwiegend jüngere Personen von den Aktionsformen rechts-autonomer Aktionsgruppen angesprochen. Allerdings ist deren Engagement in vielen Fällen nur von kurzer Dauer und führt nicht zu längerfristiger politischer Betätigung. In der Gesamtbetrachtung hat damit der "offen neonazistisch" agitierende aktionistische Rechtsextremismus zurzeit an Bedeutung verloren. Gruppierungen, die dem gewaltgeneigten Spektrum der aus einigen Bundesländern bekannten "Autonomen Nationalisten" (AN) zuzurechnen wären, sind in SchleswigHolstein nach wie vor nicht präsent. Vereinzelt haben zwar Angehörige der "Aktionsgruppen" einzelne Stilelemente der AN, insbesondere den "schwarzen Block", übernommen. Allein die Selbstbezeichnung als "Autonome Nationalisten" rechtfertigt aber in keiner Weise die Einordnung in diese Kategorie. Von einer eigenständigen Strömung innerhalb des aktionistischen Rechtsextremismus kann daher derzeit in Schleswig-Holstein nicht die Rede sein. Auch kann keine durch Straftaten-Statistiken nachweisbare erhöhte Gewaltbereitschaft festgestellt werden. Die provokative Agitation gegen "Links" ist zwar nach wie vor das primäre Tätigkeitsfeld dieser Rechtsextremisten. Deutlich wurde das im Berichtszeitraum aber vor allem durch eine hohe "verbale Militanz" und Provokationen von beiden Seiten. 19 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 2.2 Junge Nationaldemokraten (JN) als Sammlungsbewegung für den rechtsextremistischen Nachwuchs Obwohl die NPD auch in Schleswig-Holstein die wichtigste Kraft des Rechtsextremismus ist, konnte sie hier etwa seit dem Jahr 2005 kaum noch jüngere Mitglieder für die Mitarbeit in der Partei gewinnen. Durch die Reaktivierung der NPDJugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" war die Partei erkennbar darum bemüht, vorhandene rechtsextremistische Potenziale bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen für sich zu gewinnen. Der eingeleitete Neuaufbau der JN in SchleswigHolstein wird durch mehrere Faktoren begünstigt: Die NPD in Schleswig-Holstein wird auch von Rechtsextremisten, die der Partei nicht angehören, als gleichwertiger Partner akzeptiert. Protagonisten der neonazistischen (ursprünglichen) "Freien Nationalisten" bekleiden zumeist Ämter innerhalb der NPD, verfolgen nur noch in geringem Umfang politische Ziele außerhalb der Partei und bieten dem Rechtsextremismus zugeneigten Jugendlichen damit keine Anlaufstelle mehr. Der aktionistischen Szene (Neonazis und Subkulturelle) fehlt gegenwärtig erkennbar ein ideologischer Überbau. Als Folge hieraus stießen Mobilisierungen zu Demonstrationen in Schleswig-Holstein kaum noch auf Resonanz. Aktivitäten beschränkten sich im Wesentlichen auf "Scharmützel" mit politischen Gegnern. (siehe unter Kap. II 2.1) Bei der Reaktivierung der JN in Schleswig-Holstein zielt die Partei aber nicht nur darauf ab, folgerichtig den organisatorischen und ideologischen Überbau für - nicht selten gewaltgeneigte - aktionsorientierte jedoch lediglich "anpolitisierte" Jugendliche aus heterogenen neonazistischen Gruppen zu bieten. Vielmehr ist darüber hinaus das Angebot einer politisch geprägten "Freizeitgestaltung" im Kreise Gleichgesinnter ein erkennbares Ziel der JN. Die Selbstdarstellungen der Gruppe im Internet zeigen, dass die JN in Schleswig-Holstein eine andere "Qualität" des Rechtsextremismus anstrebt als die bislang den aktionistischen Rechtsextremismus prägenden "Aktionsgruppen". 20 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Beispielhaft hierfür ist der folgende Beitrag des JN-Stützpunktes Kiel. Unter dem Titel "Erste JN-Wanderung in Schleswig-Holstein!" heißt es: "Es war ein Freitagnachmittag im Spätsommer. (...) Genau der richtige Zeitpunkt, sich mit dem JN-Stützpunkt Kiel und einigen Interessenten auf eine Wanderung zu begeben. Verstärkt wurde die Gemeinschaft durch JNler aus Hamburg und Lüneburg. So konnte eine stützpunktübergreifende Gemeinschaft zwischen Mädeln und Jungen erlebt und entwickelt werden. (...) Es folgte ein Vortrag über Kameradschaft und Gemeinschaft. Wir stellten fest, dass wir alle Kameraden waren, ohne zwangsläufig miteinander befreundet sein zu müssen. Desweiteren deuteten wir den Begriff Kameradschaft als einen selbstlosen Akt, der ausgeführt wird, ohne persönliche Vorteile davon zu erhalten, sondern einer anderen Person zu helfen. (...) Dann, mitten in der Nacht, hallte es durch den Wald: 'Aufstehen!' In aller Eile wurde das Gepäck verstaut und Marschbereitschaft hergestellt. (...) Die Organisatoren der Kieler JN stellten fest, dass eine alternative Freizeitgestaltung wirkungsvoll umgesetzt werden konnte. Gerade das gemeinschaftsfördernde Moment kommt bei Fahrtund Lageraktivitäten ideal zum Tragen und kann sich positiv auf die charakterliche Entwicklung des Einzelnen auswirken." Während diese Ausführungen keine offenkundig extremistischen Ziele erkennen lassen, zeigt die Berichterstattung über die Teilnahme an einer alljährlich in Dortmund stattfindenden Demonstration zumindest bekannte rechtsextremistische Publikationsmuster: "Es war der späte Freitagabend mitten in Kiel. Aktivisten und Interessenten der JN Kiel bereiten sich auf den kommenden Tag vor, denn der Antikriegstag in Dortmund rief zur Tat! (...) Die Anreise gestaltete sich als absolut unproblematisch. Weder antideutsche Gegendemonstranten, noch polizeiliche Überwachung waren während der Busreise zu notieren. (...) Anstatt wie von den Herrschenden geplant uns direkt zur Kundgebung geleiten zu lassen, stiegen wir vorher aus dem Zug und gaben der nationalen Jugend die Gelegenheit auf der Straße ihren Unmut über Überfremdung, westlichen Imperialismus und Kapitalismus zu äußern. Lautstark zogen rund 500 Jungs und Mädels durch Wohnund Gewerbegebieten im osten von Dortmund. Es war ein Gefühl der Freiheit und Wut, die sich in den Chören der aktiven, der unbequemen jungen Menschen entfesselte. (...) Denn neben der Spontandemonstration und dem disziplinierten Auftreten des Widerstandes, haben die JNAktivisten die Zeit in Hamm dazu genutzt eine größere Flugblattverteilung in der Innenstadt und am Bahnhof durchzuführen und so über den imperialistischen Krieg in Afghanistan eine nationale Alternative und Opposition zu präsentieren. (...) An dieser Stelle sei gesagt, dass auch die JN in Kiel es forcieren wird die JN Kampagne gegen den Afghanis21 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode taneinsatz (raus-aus-afghanistan.de) durch Schulung und Aktionismus weiter zu unterstützen." Das Motiv und die Strategie der NPD für die weitere Entwicklung der JN werden unverblümt in einem Beitrag der Publikation "Schleswig-Holstein-Stimme", der auch im Internet veröffentlicht wurde, dargestellt: "Die Jungen Nationaldemokraten, kurz JN, sind die Jugendorganisation der NPD. Diese bietet Platz für nationale Aktivisten im Alter zwischen 14 und 35 Jahren. Grundlegende Aufgabe der JN ist es, der deutschen Jugend weltanschauliche Bildung, kulturelle Erlebnisse, politischen Aktivismus und Gemeinschaftserlebnisse zu ermöglichen. (...) Ziel ist es aus den unterschiedlichen Personen, die unsere Organisation durchlaufen, Persönlichkeiten zu entwickeln. Persönlichkeiten, die fundierte Kenntnisse in politischen und kulturellen Bereichen entwickelt haben. (...) So profitieren sowohl der freie Widerstand, als auch die Partei von neuen und frischen Persönlichkeiten, die mehr als nur unterstützend wirken können. (...) Wir werden diejenigen sein, die der Jugend intensiv und dauerhaft etwas zu bieten haben. Regelmäßige Schulungen, Wanderungen, gemeinsamer Besuch von Demonstrationen, Liederabende und Sportveranstaltungen - das ist nur bei uns in diesem Ausmaß möglich. (...) Die JN-Mitglieder aus Kiel kommen aus unterschiedlichsten politischen Gruppen. Einige stammen aus ehemaligen Aktionsgruppen, manche aus der Partei und einige andere waren vorher überhaupt nicht organisiert. So kommen natürlich auch viele verschiedene Personen mit verschiedensten Vorstellungen und Schwerpunkten zu den JN. Aber gerade das macht den Nationalismus so tragfähig, da er die Verschiedenheit der Menschen bejaht, akzeptiert und fördert. Aufgabe unserer Organisation ist es dann, einen roten Faden zu schaffen, Basisund Bindepunkte zu bilden, an denen sich jedes Mitglied orientieren kann und die es als weltanschauliches Gerüst annehmen kann. (...) Momentan hat die Gemeinschaftsund Bildungsarbeit höchste Priorität. Die Realität anderer Neugründungen hat immer wieder gezeigt, dass eine Organisation sich nur auf einen gefestigten, ausgebildeten und gut arbeitenden Kern stützen kann. Ansonsten läuft sie Gefahr, ohne wirklich existiert zu haben schnell wieder zu zerbrechen. Also werden als nächste Aktivitäten weiterhin Wanderungen, Zelten, politische Schulungen, Liederabende und Fahrten zu bundesweiten JN-Veranstaltungen intensiv umgesetzt werden. (...)" Die in Schleswig-Holstein angestrebten Ziele stehen im Einklang mit einer Erklärung, die der JN-Bundesvorsitzende bereits 2009 in der JN-Publikation "Der Aktivist" abgab: 22 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 "Wir vernetzen uns deutschlandweit, sammeln fähige Aktivistinnen und Aktivisten, ziehen die nächste Generation Widerstandskämpfer heran und stellen immer lauter die Systemfrage." Nach Darstellungen der NPD im Internet konnten im Laufe des Jahres bereits mehrere Stützpunkte im Land gegründet werden. Neben dem Stützpunkt Kiel gibt es Hinweise auf bereits vollzogene oder in Vorbereitung befindliche Gründungen in den Regionen Nordfriesland, Ostholstein und Pinneberg. Unabhängig von den Erfolgsaussichten der JN zeigt sich auch hieran, dass der Rechtsextremismus in Schleswig-Holstein inzwischen alle Landesteile erfasst. Dennoch ist nicht absehbar, inwieweit es der NPD gelingen wird, die JN als "Auffangbecken" für rechtsextremistisch geprägte Jugendliche dauerhaft zu etablieren. Die Akzeptanz der Neonazi-Szene ist zwar gegeben; inwieweit das "Angebot" eines Rechtsextremismus oberhalb des gewaltgeneigten Milieus angenommen werden wird, ist nicht sicher abzuschätzen. Die weitere Entwicklung hängt vor allem davon ab, ob es den JN gelingen wird, Personen an sich zu binden, die zu dauerhaften rechtsextremistischen Aktivitäten bereit sind. Hinderlich dürfte vor allem die geringe Mitgliederzahl der JN von nur etwa 430 Personen auf Bundesebene sein. Noch hängen die Aktivitäten von wenigen besonders engagierten Einzelpersonen ab. 2.3 Rechtsextremistische Musik bleibt bedeutender Faktor für die aktionistische Szene Der dem bereits 1993 ums Leben gekommenen britischen Neonazi Ian Stuart Donaldson zugeschriebene Ausspruch, Musik sei das ideale Mittel, Jugendlichen den Nationalsozialismus näher zu bringen, besser als dies in politischen Veranstaltungen gemacht werden könne, weil damit Ideologie transportiert werden könne, galt über Jahre als exemplarischer Beweis für die strategisch unterlegte Gefährlichkeit der so genannten Skinhead-Musik. Da es sich bei der Skinhead-Musikszene aber um eine ständigen Schwankungen unterliegende subkulturelle Bewegung handelt, die nur wenig Interesse an der Beschäftigung mit rechtsextremistischen Ideologien hat, ist die tatsächliche Bedeutung der rechtsextremistischen (Skinhead-) Musik für die weitere Entwicklung des Rechtsextremismus nicht genau quantifizierbar. Dennoch hatte 23 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode (und hat) rechtsextremistische Musik zweifellos eine große Bedeutung als identitätsstiftender Faktor für Jugendliche und junge Erwachsene. Schon aufgrund des subkulturellen Hintergrundes der Skin-Musik kann aber die Frage, inwieweit der Konsum rechtsextremistischer Musik tatsächlich zu einem dauerhaften Engagement in politisch motivierten Personenzusammenschlüssen geführt hat, nur ungenau beantwortet werden. Gegenwärtig lässt sich aus der Situation des Rechtsextremismus in Schleswig-Holstein jedenfalls nicht mehr ableiten, dass Konsumenten rechtsextremistischer Musik geradezu "automatisch" ein Nachwuchs-Reservoir für den organisierten originären Rechtsextremismus darstellen. Bereits seit mehreren Jahren wird hier beobachtet, dass die Anhänger der rechtsextremistischen Subkultur ihr Interesse an kontinuierlicher politischer Betätigung weitgehend verloren haben. Die rechtsextremistische Musik-Szene stagniert gegenwärtig. Nahezu gleich bleibende Konzertzahlen, der Verlust klassischer Trennungsmerkmale zu Modeund Kleidungsstilen anderer Subkulturen und sinkende Zahlen der Subkultur-Angehörigen von 735 in 2009 auf 640 in 2010 lassen darüber hinaus erwarten, dass im Land die "klassische" Skinhead-Szene mittelfristig einen weiteren personellen Aderlass hinzunehmen hat. Rechtsextremistische Musik bleibt sicher auch in Zukunft ein verbindender Faktor, insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene. Die tatsächlichen politischen Auswirkungen auf den Rechtsextremismus sind derzeit aber unklar. Eine eindeutigere Bewertung der Bedeutung rechtsextremistischer Musik ergibt sich, wenn diese in Kombination mit politischen Aktivitäten, z.B. Demonstrationen, Wahlkampfveranstaltungen etc. konsumiert wird. Rechtsextremistische Bands und Liedermacher treten regelmäßig am Rande derartiger Veranstaltungen auf, stellen manchmal aber den eigentlichen Grund dar, die Veranstaltung aufzusuchen. Allerdings lassen die Zahlenwerte über die Entwicklung der Liederabende und ähnlicher Musikveranstaltungen keine allgemeingültige Bewertung zu, da je nach Kalenderjahr unterschiedlich maßgebliche Faktoren, wie z.B. die Anzahl von Wahlkämpfen, Verfügbarkeiten von Szene-Objekten etc., vorlagen. 2010 waren in Deutschland insgesamt ca. 150 rechtsextremistische Musikgruppen (2009: 152) sowie ca. 30 rechtsextremistische Liedermacher (2009: 32) aktiv. Fünf rechtsextremistische Bands haben ihren Sitz in Schleswig-Holstein, wobei die Gruppen "Das letzte Aufgebot" (Raum Lübeck), "Holsteiner Wölfe" (Raum Ratzeburg) 24 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 und "Words of Anger" (Raum Ostholstein) 2010 inaktiv waren. Hingegen trat "Einherjer" (Raum Lübeck/Ostholstein) viermal auf. Die zuletzt "engagierteste" Band war die Gruppe "Timebomb", die aus dem südöstlichen Landesteil stammt. 2010 konnten neun Live-Auftritte registriert werden; zudem erschien im November die erste eigene CD der Band. Unter den bundesweit ca. 30 bekannten rechtsextremistischen Liedermachern befinden sich drei Schleswig-Holsteiner. Im Jahr 2010 fanden bundesweit ca. 125 rechtsextremistische Skinhead-Konzerte statt (2009: 130). In Schleswig-Holstein wurden davon fünf Konzerte durchgeführt (2009: fünf). Ausnahmslos fanden diese in südöstlichen Landesteilen statt, wobei - wie auch schon im Vorjahr - alle Veranstaltungen von Angehörigen der lokalen bzw. regionalen Szene(n) organisiert wurden. Auftritte rechtsextremistischer Liedermacher haben 2010 im Bund mit ca. 40 (2009: 45) abgenommen. In Schleswig-Holstein fand im Berichtsjahr kein rechtsextremistischer Liederabend statt. 2009 konnten noch acht derartige "Balladenabende" - davon sieben im "Club 88" in Neumünster - registriert werden. Bei Musikveranstaltungen, bei denen der politische Aspekt im Vordergrund steht und die Live-Musik lediglich zum Rahmenprogramm gehört, ist bundeswie landesweit eine erhebliche Zunahme zu verzeichnen gewesen. Im Bund stieg die Anzahl derartiger Auftritte deutlich von 2009 mit 42 Veranstaltungen auf ca. 70 im Jahre 2010, im Land von zwei (2009) auf sechs (2010). In Schleswig-Holstein ist diese Tendenz dem Umstand geschuldet, dass die NPD bzw. JN nach wie vor über die Musik junge Aktivisten an die Szene "heranführen" möchte. - Die Mitgliederentwicklung der NPD zeigt die gegenwärtige Erfolglosigkeit dieser Strategie. 25 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 2006 2007 2008 2009 2010 Bund 163 138 127 130 ca. 125 Rechtsextremistische Skinhead-Konzerte Land 2 7 3 5 5 Bund 29 23 30 45 ca. 40 Rechtsextremistische Liederabende Land 3 2 5 8 0 Bund 75 64 50 42 ca. 70 Skinhead-Bands und Liedermacher bei sonstigen VerLand 2 2 3 2 6 anstaltungen Die Zahl der landesweit im Jahre 2010 durchgeführten rechtsextremistischen MusikVeranstaltungen (11) ist gegenüber dem Vorjahr (15) insgesamt um 36 % gesunken. Je nach Veranstaltungsart sind allerdings unterschiedliche Tendenzen (stagnierende Werte bei den Konzerten, sinkende Liederabend-Zahlen, steigende Anzahl der sonstigen Musikveranstaltungen) festzustellen. Ein ähnlicher Trend ist 2010 auch im Bundesgebiet festzustellen. Die dargestellte Entwicklung zeigt trotz einer gewissen Beruhigung, dass rechtsextremistische Musik ein Faktor für die zukünftige Entwicklung, insbesondere des aktionistischen Rechtsextremismus bleiben wird. 3 Organisationen und Personenzusammenschlüsse 3.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 3.1.1 Die NPD auf Bundesebene Die Mitgliederzahl der NPD ging erneut zurück. Ende 2010 lag sie bei nur noch 6.600 gegenüber 6.800 im Vorjahr. Einen Wahlerfolg konnte die Partei ebenso wenig erreichen. So lag sie bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai mit einem Zweitstimmenanteil von 0,7 % um 0,2 Prozentpunkte hinter ihrem Ergebnis bei der Landtagswahl 2005 zurück. Da die im Rechtsextremismus allgemein beschriebene Gefahr einer "Islamisierung" der Bundesrepublik Deutschland im Berichtsjahr einen 26 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Schwerpunkt in der Agitation der NPD bildete, versuchte die Partei auch in Nordrhein-Westfalen hierdurch das Interesse der Wähler zu gewinnen. Das dürftige Wahlergebnis kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass die wachsende öffentliche Diskussion über Probleme der Integration muslimischer Einwanderer die Anziehungskraft der NPD bislang nicht erhöht hat. Das wohl wichtigste Ereignis für die NPD war der Beschluss eines neuen Parteiprogramms auf einem am 4./5. Juni in Bamberg (Bayern) durchgeführten Parteitag. Der Parteivorsitzende Udo Voigt hatte aufgrund früherer, für die NPD unbefriedigender Wahlergebnisse, bereits am 18. November 2009 in einer Video-Botschaft erstmals öffentlich die Notwendigkeit einer neuen bzw. modifizierten strategischen Ausrichtung der Partei eingeräumt und zu diesem Zweck die Bildung einer Kommission für Januar 2010 angekündigt. Hierbei betonte er, dass nicht eine Änderung der klaren und weiter unangetastet geltenden Weltanschauung, sondern eine optimierte und ansprechendere "Verpackung" der eigenen Positionen erreicht werden solle. In der NPD konkurrierten seit längerem zwei unterschiedliche Strömungen, die unter den Begriffen "sächsischer Weg" und "deutscher Weg" firmierten. Während der "deutsche Weg" die "knallharte" Darstellung einer kompromisslosen Ausrichtung auf die Systemüberwindung in der Öffentlichkeitsarbeit beinhaltet, steht der "sächsische Weg" "für einen gegenwartsbezogenen und volksnahen Nationalismus". Das heißt, es wird versucht, nach außen möglichst bürgerlich aufzutreten. Das in Bamberg beschlossene neue Parteiprogramm trägt nach Meinung des sächsischen NPD-Funktionärs Holger Apfel nicht unmaßgeblich die Handschrift der sächsischen Nationaldemokraten, die in der Programmkommission bis zuletzt eine tragende Rolle gespielt hätten. Das Programm sei ein "Meilenstein auf dem Weg der Nationaldemokraten zu einer sozialrevolutionären Schutzmacht der kleinen Leute". Der Text der Presseerklärung lässt aber leicht erkennen, dass sich an der verfassungsfeindlichen Zielrichtung der NPD nichts ändert: "Mit dem unter dem Motto 'Arbeit - Familie - Vaterland' stehenden 'Bamberger Programm' hat sich die NPD nun auch in ihrem Parteiprogramm ganz klar als sozialrevolutionäre Kraft positioniert. Die sozialen Forderungen der NPD unterscheiden sich von denen anderer Parteien durch ihre strikte volksgemeinschaftliche Bindung, das heißt, soziale Leistungen darf es nur für deutsche Volksangehörige geben." 27 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Bei der Interpretation des Begriffes "Volksgemeinschaft" liegt die NPD zweifelsfrei in der Tradition des historischen Nationalsozialismus. Den Beweis lieferte z.B. der sächsische NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen Gansel in einem von ihm erstellten Argumentationspapier für Kandidaten und Funktionsträger der Partei. Danach sei die NPD "eine idealistische deutsche Erneuerungsbewegung, die der noch unter dem Schutt der Zeit liegenden Volksgemeinschaft den Weg ebnen wird". Unter der Überschrift "Wer ist denn für die NPD ein Deutscher? Was versteht die NPD unter 'Volk''" versuchte Gansel gar nicht erst, die rassistische Zielsetzung der NPD zu verschleiern: "Deutscher ist, wer deutscher Herkunft ist und damit in die ethnischkulturelle Gemeinschaft des deutschen Volkes hineingeboren wurde. Eine Volkszugehörigkeit kann man sich genauso wenig aussuchen wie die eigene Mutter. In ein Volk wird man schicksalhaft hineingepflanzt. In eine Volksgemeinschaft kann man nicht einfach einoder austreten wie in einen Sportverein, man wird in sie hineingeboren. (...) Ein Afrikaner, Asiate oder Orientale wird nie Deutscher werden können, weil die Verleihung bedruckten Papiers (des BRD-Passes) ja nicht die biologischen Erbanlagen verändert. (....)" Insofern bestehen an den - wie hier unverhüllt vorgetragenen - verfassungsfeindlichen Zielen der NPD auch in Zukunft keine Zweifel. 3.1.2 Die NPD in Schleswig-Holstein Wie im Bund war auch in Schleswig-Holstein die Mitgliederentwicklung der NPD leicht rückläufig. Von 230 im Vorjahr ging die Zahl auf 220 zurück. Dennoch wird der Rechtsextremismus in Schleswig-Holstein nach wie vor durch die NPD dominiert. Die Assimilation der einstigen, ursprünglich in Konkurrenz zur NPD stehenden NeonaziProtagonisten in die Partei hat diese Situation begünstigt. Auch in Schleswig-Holstein gab es Versuche, aus dem Thema Islamismus einen Nutzen für die Partei zu ziehen. Ein Ansatzpunkt hierfür wurde in der Errichtung eines Minaretts in Rendsburg gesehen: "Wir Nationaldemokraten sind die einzige politische Kraft in Deutschland, die sich konsequent gegen eine zunehmende Überfremdung un28 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 seres Landes ausspricht. In den kommenden Wochen werden wir die Rendsburger Bevölkerung durch eine Flugblattkampagne über die Folgen dieser Masseneinwanderung aufklären und sind davon überzeugt, viele neue Mitglieder und Unterstützer gewinnen zu können." Der Landesverband war jedoch "vor Ort" nicht in der Lage, sich zum Wortführer der Gegner des in der Region nicht unumstrittenen Projektes zu machen. Auch zu einer rein medialen Kampagne fehlten offenkundig die Mittel. Am 28. Februar führte der NPD-Landesverband mit knapp 80 Teilnehmern in Högel (Kreis Nordfriesland) einen Landesparteitag durch, um einen neuen Landesvorstand zu wählen. Der langjährige Vorsitzende Uwe Schäfer (Plön) stand nicht mehr für eine Wiederwahl zur Verfügung. Das Ergebnis der Neuwahl zeigte, dass die Richtungskämpfe zwischen dem gemäßigten und dem neonazistischen Flügel im Landesverband offenbar überwunden sind. Neuer Landesvorsitzender wurde Jens Lütke. Zu stellvertretenden Landesvorsitzenden wurden Ingo Stawitz, Kai Otzen und Kay Oelke gewählt. Die Zusammensetzung des neuen Landesvorstandes zeigt, dass die gemäßigten Kräfte sich offenbar endgültig mit den Neonazis in der Partei arrangiert haben. Die Nähe des NPD-Landesverbandes zum Neonazismus wurde besonders deutlich, als Lütke und der Kieler NPD-Ratsherr Hermann Gutsche am 23. April in Kiel an einer geschlossen Saalveranstaltung norddeutscher Neonazis teilnahmen, die offenkundig von der "Aktionsgruppe Kiel" organisiert worden war. In dem auf der zentralen schleswig-holsteinischen neonazistischen Internet-Präsenz "mein-sh.info" veröffentlichen Beitrag heißt es hierzu: "(...) Im Anschluss daran wurde das Wort an den Landesvorsitzenden der NPD, Jens Lütke, übergeben. Kamerad Lütke berichtete über den multikulturellen Wahnsinn in der brd und machte mitreißend deutlich, wie dringend nationaler Aktivismus nicht nur in Kiel sei. Des Weiteren prangerte er die Gettoisierung unserer Städte an und rief alle Anwesenden, ob Parteimitglied oder freier Nationalist, dazu auf, Hand in Hand für die Zukunft unseres Landes zu kämpfen. Als nächster Redner trat NPD-Ratsherr Hermann Gutsche auf (...) Eine am 8. Mai vor dem Kieler Hauptbahnhof durchgeführte Kundgebung mit revisionistischen Inhalten lieferte einen weiteren Beleg für die enge Verflechtung von NPD und Neonazi-Szene. Wiederum trat der NPD-Landesvorsitzende neben dem Rädels29 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode führer der Aktionsgruppe Kiel, Daniel Zöllner, als Redner auf. In Beiträgen auf der Internet-Seite des NPD-Kreisverbandes Kiel/Plön, der Internet-Seite der neonazistischen Aktionsgruppe Kiel und im rechtsextremistischen Internet-Portal "mein-sh.info" wurde die Veranstaltung wie folgt kommentiert: "Kurzfristig wurde (...) von parteifreien Kräften eine Kundgebung in der Kieler Innenstadt angemeldet. Pünktlich um 11 Uhr trafen sich rund 20 Nationalisten, um auf dem belebten Bahnhofsplatz für die Ehre der Toten unseres Volkes einzustehen. In Zweierreihen und mit wehenden Fahnen ging es (...) an der Förde entlang zum Kundgebungsort. (...) Dem Selbsthaß der Linken wurden von den Nationalisten Argumente entgegengesetzt: Die Redner Daniel Zöllner und Jens Lütke führten aus, warum der 8. Mai für Deutschland kein Tag der Befreiung, sondern ein Tag der Niederlage und des Innehaltens ist." In der Mai/Juni Ausgabe der "Schleswig-Holstein-Stimme", der Publikation des NPDLandesverbandes, erhielt Zöllner die Gelegenheit, einen Beitrag zum "Trauermarsch" in Dresden am 13. Februar zu veröffentlichen: "Nachdem im letzten Jahr die Zusammenarbeit zwischen der nationaldemokratischen Partei und freien Kräften, nicht nur bedingt durch den Wahlkampf, intensiviert und größtenteils erfolgreich umgesetzt wurde, stand für den diesjährigen Trauermarsch in Dresden eine geschlossene Teilnahme mit gemeinsamen Reisebussen fest. (...) Trotz mehrerer Scharmützel mit antideutschen Angreifern war das Verhalten unserer Reisegruppe durchweg diszipliniert, die Formation wurde stets gehalten und jeder Kamerad achtete auf seinem Nebenmann, sodaß niemand während der gesamten Zeit verlorenging. (...) Vom NPD-Ratsherrn bis zum jugendlichen Neuling verhielten sich alle kameradschaftlich und fürsorglich allen Mitreisenden gegenüber. (...) Ob Parteimitglied oder freier Nationalist: Hand in Hand für die Zukunft unseres Landes! Daniel Zöllner" Die Verschmelzung der NPD mit neonazistischen Kräften ist in Kiel seit Jahren besonders ausgeprägt. Das wurde insbesondere bei den zurückliegenden Wahlkämpfen deutlich. Insofern konnte die hier beschriebene neuerliche Zusammenarbeit nicht wirklich überraschen. Erstaunlich ist aber die Offenheit, mit der die NPD - und hier besonders der neue Landesvorsitzende - den Schulterschluss mit als gewalttätig bekannten Neonazis praktizierte. Dass die Landes-NPD einem als Gewalttäter bekannten Neonazi die Gelegenheit gab, in der "Schleswig-Holstein-Stimme" Beiträge zu 30 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 verfassen, zeigt, dass die von der NPD behauptete Distanzierung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele angezweifelt werden darf. Belege für die Zusammenarbeit und die Akzeptanz von Neonazis durch die NPD gab es auch in anderen schleswig-holsteinischen Kreisverbänden. Die regionalen Schwerpunkte der Partei befinden sich in den Großräumen Kiel, Lübeck und an der Westküste. Die NPD-Aktivisten führten im Berichtszeitraum lediglich von der Öffentlichkeit kaum beachtete Aktionen wie Flugblattverteilungen oder Informationstische durch. Aktivitäten und Weltanschauung der NPD werden dafür ausführlich auf den Internet-Seiten der Partei abgebildet. Bei der Darstellung im Internet ist insbesondere die Seite des Kreisverbandes Nordfriesland/SchleswigFlensburg/Flensburg hervorzuheben. Für die Beiträge zeichnen zumeist ein dortiger NPD-Funktionär und "Josephine G." verantwortlich. Bei "Josephine G." handelt es sich um ein Pseudonym. Es bedarf keiner besonderen Phantasie um zu erkennen, dass "Reichspropagandaminister Joseph Goebbels" bei der Namensfindung eine Rolle gespielt haben könnte. Denn gerade die Internet-Verlautbarungen des NPDKreisverbandes Nordfriesland lassen oftmals Akzeptanz oder Bewunderung gegenüber dem historischen Nationalsozialismus erkennen. So war unter dem 14. Oktober ein Beitrag mit der Überschrift: "Damals wie heute - Unser 'Appell an die Nation'" eingestellt, in dem in einer von der NPD durchaus nicht unbekannten Art und Weise den demokratischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland Versagen vorgeworfen wurde. Dieser Beitrag ist in weiten Teilen mit einer Wahlkampfrede Adolf Hitlers vom 15. Juli 1932 identisch. Der damalige Redetext wurde nur durch wenige Änderungen der heutigen Situation angepasst. Für den Anfang des Jahres 2011 im Internet verbreiteten "Neujahrsaufruf an alle Kameraden" griff der NPD-Kreisverband erneut auf einen Hitler zuzurechnenden Text zurück. Nunmehr bildete ein "Neujahrsaufruf an die NSDAP" vom 1. Januar 1932 die Grundlage des Beitrages. Wiederum gab es nur wenige Änderungen gegenüber der Originalfassung. So wurde die von Hitler verwendete Anrede. "Männer meiner nationalsozialistischen Bewegung!" durch "Männer und Frauen der nationalen Bewegung!" dem Zeitgeist angepasst. Auch wenn es vereinzelt durchaus Versuche gab, sich mit "unverdächtigen" Themen zu profilieren, hat sich in der Gesamtbetrachtung auch im Jahr 2010 gezeigt, dass die schleswig-holsteinische NPD weiterhin nicht in der Lage war, durch gegenwarts31 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode bezogene Politik neue Anhänger an die Partei heranzuführen. Bestimmend für das Erscheinungsbild der Partei in Schleswig-Holstein waren erneut "NS-nostalgische" Themen. Insofern ist die Stagnation des hiesigen Landesverbandes durchaus zu erklären. 3.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) Der DVU-Landesverband Schleswig-Holstein verkündete Anfang des Jahres auf seiner Internet-Seite unter dem Titel "DVU im Norden baut auf", dass "in SchleswigHolstein künftig nicht allein mit öffentlichen Aktivitäten der NPD zu rechnen" sei, "sondern auch mit solchen der DVU". In einem weiteren Bericht auf ihrer InternetSeite berichtete die DVU über die Gründung einer "Arbeitsgemeinschaft Nord", um "die in der Vergangenheit bereits vorhandene gute Zusammenarbeit" der Landesverbände Schleswig-Holstein und Niedersachsen "noch weiter zu vertiefen". Schon vorher hatte der Landesverband auf seiner Internet-Seite drei öffentliche Kundgebungen in verschiedenen Städten Schleswig-Holsteins angekündigt. Die erste Kundgebung mit dem Thema "Soziale Gerechtigkeit" fand mit rund zehn Teilnehmern am 6. März in Husum statt. In der Bevölkerung fand die Veranstaltung allerdings nur aufgrund einer gleichzeitigen Spontandemonstration des linken und des bürgerlichen Spektrums Beachtung. Weitere Veranstaltungen folgten mit dem Thema "Arbeit, Soziale Gerechtigkeit und Sicherheit" am 17. April in Plön und am 19. Juni in Lauenburg mit gerade einmal neun Teilnehmern. Der DVU-Landesverband versuchte hierdurch offenkundig, die in den vergangenen Jahren in Schleswig-Holstein weitgehend bedeutungslos gewordene Partei erneut zu etablieren. Maßgebliche Hilfe leisteten Rechtsextremisten aus anderen Bundesländern. Unabhängig von solchen vereinzelten regionalen Anstrengungen versuchte der Bundesvorsitzende Matthias Faust - offenbar nahezu im Alleingang - eine Fusion mit der NPD zu erreichen. Funktionäre der DVU versuchten zwar von Anfang an, diesen Weg zu verhindern; Faust ließ hingegen auf der Internet-Seite der DVU verlauten: "Die DVU geht neue Wege: In der überaus wichtigen Frage, ob es eine neue Kooperation oder sogar eine Verschmelzung mit dem ehemaligen Bündnispartner NPD und weiteren Rechtsparteien geben soll, entschei32 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 den erstmals direkt die Mitglieder. Der Bundesvorstand hat in dieser Woche einer Mitgliederbefragung zugestimmt; (...). Am Ende könnte das stehen, was sich ein Großteil der national denkenden Deutschen seit vielen Jahrzehnten wünscht: Ein Ende der Zersplitterung, ein Ende des ständigen Gegeneinanders, ein gemeinsamer Weg, um endlich wirklich deutscher Politik zur Geltung zu verhelfen." Über Monate folgten parteiinterne und justizielle Auseinandersetzungen zwischen Faust und seinen innerparteilichen Gegnern. Sie waren bis Januar 2011 nicht abgeschlossen. Am 29. Dezember 2010 hatten Matthias Faust und der NPD-Vorsitzende Udo Voigt nach den vorausgegangenen Bundesparteitagen der NPD in Hohenmölsen (Sachsen-Anhalt) vom 6. November 2010 und der DVU in Kirchheim (Thüringen) vom 12. Dezember 2010 sowie nach jeweils sich anschließenden Urabstimmungen den Verschmelzungsvertrag unterzeichnet. Aus rechtlichen Gründen musste die DVU sich für die von Faust angestrebte Fusion zuvor auflösen. Dies hätte zur Folge, dass alle fusionswilligen Parteimitglieder einzeln ihren Beitritt zur NPD erklären müssten. Während an der NPD-Basis offenbar eine weitgehende Bereitschaft zur faktischen Übernahme der DVU bestand, wurde über die Stimmung in der DVU wenig bekannt. Die NPD feierte dennoch am 15. Januar 2011 in Berlin die Fusion in einem "Festakt". Damit sollte - ungeachtet anhaltender juristischer Auseinandersetzungen - die Verschmelzung "offiziell besiegelt" werden. Zugleich war die Veranstaltung der Auftakt für den Wahlkampf zu den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September 2011. Voigt und Faust betonten in ihren Ansprachen übereinstimmend die Wichtigkeit der Zusammenführung, um so die Zersplitterung der "nationalen Kräfte" zu überwinden. Nur so könne ein politischer Neubeginn gegen die "etablierten Versager" erreicht werden. Unabhängig vom Ausgang der Angelegenheit würde sich die von Faust angestrebte Fusion von NPD und DVU kaum auf den schleswig-holsteinischen Rechtsextremismus auswirken. Auch in der Gesamtbetrachtung kann sie wegen der im Verhältnis zur NPD derzeit nur marginalen Bedeutung der DVU für den Rechtsextremismus in Deutschland als Farce bezeichnet werden. Der Vorgang wird zwar auch von der Landes-NPD publizistisch ausgeschlachtet, dürfte sich aber auf die Ziele der Partei nicht auswirken. Ebenso ist nicht mit einem nennenswerten Anstieg der Mitgliederzahl der NPD zu 33 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode rechnen. Die DVU-Mitglieder in Schleswig-Holstein waren weitestgehend inaktiv. Daher sind nur wenige Eintritte in die NPD zu erwarten. Zum Jahresende 2010 dürfte die DVU auf Bundesebene noch etwa 3.000 Mitglieder gegenüber 4.500 im Vorjahr gehabt haben. In Schleswig-Holstein gehörten der Partei noch etwa 200 Personen an. Hiervon entfaltete allerdings nur ein sehr kleiner Teil politische Aktivitäten. 3.3 Überblick über die neonazistischen ("aktionistischen") Personenzusammenschlüsse in Schleswig-Holstein Die getrennte Darstellung von Bestrebungen rechtsextremistischer Parteien und dem Neonationalsozialismus in den Verfassungsschutzberichten geht insbesondere auf die historischen Ursprünge der NPD und Neonazi-Szene zurück. In SchleswigHolstein ist diese differenzierte Betrachtung dieser Hauptströmungen des Rechtsextremismus seit dem Ende der neunziger Jahre nur noch bedingt möglich. Seit der damals offenkundigen Öffnung der Partei für Neonazis und der ebenfalls zu dieser Zeit vollzogenen neuen Strukturierung der Neonazi-Szene sind in Schleswig-Holstein Beziehungsund Abhängigkeitsgeflechte entstanden, die zeigen, dass inzwischen kaum noch Unterschiede zwischen den unmittelbar an die nationalsozialistische Ideologie anknüpfenden Neonazis und der hiesigen NPD bestehen. Die Protagonisten der Neonazi-Szene bezeichnen sich seitdem als "Freie Nationalisten". Sie waren und sind auch noch heute als Träger der ursprünglichen neonazistischen Ideologie anzusehen. Aus rechtlichen Gründen organisierten sie sich bis Anfang der 2000er-Jahre meist in - vereinsrechtlich weitestgehend unangreifbaren - "Kameradschaften". Diese Strukturen gibt es in dieser Form in Schleswig-Holstein praktisch nicht mehr. Auch bestehen keine bedeutsamen "sonstigen" neonazistischen Vereine, Clubs oder andere Personenzusammenschlüsse in SchleswigHolstein. Stattdessen haben viele "Freie Nationalisten" seit der völligen Öffnung der NPD für Neonazis im Jahre 2004, die auch durch die Verwendung des Begriffes "Volksfront von Rechts" offen propagiert wurde, führende Positionen in der Partei eingenommen und nutzen die Vorteile des Parteienstatus für ihre politische Arbeit. 34 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Dabei kommt es in Schleswig-Holstein regelmäßig zu einer fast konfliktfreien Zusammenarbeit zwischen NPD und Neonazis, von der beide Lager profitieren. Die Sympathisanten der "Freien Nationalisten" unterstützen die Partei auch in Wahlkämpfen und bei anderen politischen Aktivitäten. Auf der anderen Seite treten immer wieder NPD-Funktionäre auf Veranstaltungen der "Freien Nationalisten" in maßgeblicher Rolle auf, wie beispielsweise auf einer Saalveranstaltung am 23. April in Kiel. Auch auf einer Kundgebung am 19. Juni in Bargteheide trat neben führenden Neonazis der NPD-Landesvorsitzende vor den rund 60 Teilnehmern als Redner in Erscheinung (siehe hierzu Kap. II 4.1 und Kap. II 4.3). Das verstärkte Engagement von Führungskräften der "Freien Nationalisten" für die NPD dürfte eine der Ursachen dafür sein, dass ihre Bedeutung bei einer Gesamtbetrachtung des Rechtsextremismus zurückgegangen ist. Allerdings üben sie immer noch starke Einflüsse auf jüngere Rechtsextremisten aus, die sich nicht in der NPD engagieren. Diese neue Generation von Rechtsextremisten ist seit 2008 für die Entstehung einer Vielzahl rechts-autonom geprägter "Aktionsgruppen" verantwortlich (siehe hierzu Kap. II 2.1). Sie haben zwar Teile der neonazistischen Weltanschauung verinnerlicht, ideologische Gemeinsamkeiten mit dem ursprünglichen harten Kern der Neonazi-Szene sind aber nur in geringem Umfang vorhanden. Die inhaltlichen Schwerpunkte liegen erkennbar in der Lust auf Auseinandersetzung mit "linken" politischen Gegnern und dem Staat. "Aktionsgruppen" zeichnen sich oft durch eine hohe personelle Fluktuation aus, die nachhaltige politische Bestrebungen erschwert. Zu längerfristig angelegten Aktivitäten waren sie in Schleswig-Holstein bislang nicht in der Lage. Meist erlahmten diese beim Wegfall regionaler Führungsfiguren. In Anbetracht des heute sehr vielfältigen Erscheinungsbildes, bei dem der historische Nationalsozialismus nicht mehr im Vordergrund des Handelns steht, erscheint der Begriff "aktionistischer Rechtsextremismus" die Situation der Szene, zumindest in Schleswig-Holstein, besser zu beschreiben. Für den heutigen aktionistischen Rechtsextremismus ist vor allem die Nutzung des Internet von überragender Bedeutung. Praktisch jede Aktionsgruppe verfügt über eine eigene Präsenz im Netz, auf der sie die eigene Weltanschauung darstellt, Aktionsberichte veröffentlicht und diverse Verlinkungen zu anderen rechtsextremistischen Internetseiten anbietet. Den über 20 Internetseiten angeblicher Aktionsgrup35 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode pen in Schleswig-Holstein steht aber nur knapp die Hälfte tatsächlicher Gruppierungen gegenüber. Dieser "virtuelle Rechtsextremismus" steht somit oft im Gegensatz zu den realen Verhältnissen. Die hohe Bedeutung des Internet für den aktionistischen Rechtsextremismus wird auch dadurch deutlich, dass es inzwischen keinerlei "Printmedien" dieser Szene in Schleswig-Holstein mehr gibt. Zuletzt im Jahr 2008 erschien das neonazistische Magazin "Durchblick". Stattdessen verlegen sich die Rechtsextremisten auf billigere und effektivere Methoden, wie z.B. die Veröffentlichung einer so genannten "Schüler-CD des nationalen Widerstandes". Unter diesem Titel wurde gegen Jahresende eine Sammlung unterschiedlichster rechtsextremistischer Musiktitel, Videos, Bilder und sonstiger Materialien bundesweit auf diversen Internetseiten zum Herunterladen angeboten. Mit einem politisch scheinbar neutralen Angebot sollten Jugendliche an rechtsextremistisches Gedankengut herangeführt und zu einem Einstieg in die Szene animiert werden. Dieses Vorhaben wird durch die unkomplizierten Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme, die das Internet bietet, erleichtert. Abseits von Schulungsabenden und Rechtsseminaren findet eine politische Schulung so quasi "im Alltag" statt. Nach wie vor ist das Portal "mein-sh.info" als die zentrale rechtsextremistische Internetseite für Schleswig-Holstein zu bewerten. Ohne eine koordinierende Funktion von Aktivisten aus dem Kreis erfahrener "Freier Nationalisten" wäre eine derart umfassende Darstellung der gesamten aktionistischen Szene, einschließlich der NPD-Untergliederungen im Lande, kaum machbar. Neben diesen "nach außen" gerichteten Aktivitäten, die auf eine öffentliche Wahrnehmung rechtsextremistischer Positionen abzielen, wenden sich Rechtsextremisten über das Internet auch an das eigene Milieu und die eigene Klientel, also "nach Innen". Hierunter fallen die Kontaktpflege in nicht-öffentlichen Foren, die Mobilisierung zu Kundgebungen oder auch der Vertrieb von Szene-Bekleidung. Zudem können über unterschiedliche Seiten beispielsweise Ratgeber für die Anmeldung und Durchführung von Kundgebungen oder Flugblätter zum Eigenausdruck heruntergeladen werden. Speziell für die aktionistische Szene ist das Internet mit seiner hohen Dynamik daher nicht mehr wegzudenken. Zu einer massenhaften Unterwanderung so genannter "sozialer Netzwerke" durch Rechtsextremisten ist es, entgegen entsprechender Ankündigungen z.B. der NPD, nicht gekommen. Selbstverständlich nutzen auch Rechtsextremisten derartige Porta36 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 le, in denen sich bis zu einem gewissen Maße Personengeflechte und SzeneAktivitäten nachvollziehen lassen. Allerdings ist auch immer wieder festzustellen, dass soziale Netzwerke über "Selbstreinigungskräfte" verfügen. Einer ungestörten Ausbreitung rechtsextremistischer Inhalte wird meist sehr schnell und wirkungsvoll entgegengetreten. Die weitere Entwicklung dieses Themas bleibt abzuwarten. 3.4 Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V. (HNG) Die 1979 gegründete HNG gehört zu den wenigen noch bestehenden Vereinen im neonazistischen Spektrum und verfügt über zirka 600 Mitglieder. Sie ist damit die größte neonazistische Organisation in Deutschland. In Schleswig-Holstein zählt sie nur rund 15 Mitglieder. Die Hauptaufgabe der HNG ist die Betreuung von inhaftierten rechtsextremistischen Straftätern. Dies geschieht in der Regel durch die Vermittlung von Briefund persönlichen Kontakten und soll die Inhaftierten ideologisch weiter an die Szene binden bzw. in ihrer Ideologie bestärken. Hierzu dienen im Wesentlichen die monatlich erscheinenden "Nachrichten der HNG", in denen u.a. Kontaktadressen veröffentlicht werden und über szenerelevante Vorkommnisse berichtet wird. Aktivitäten der HNG sind in Schleswig-Holstein in den vergangenen Jahren kaum noch feststellbar gewesen. Die politische Bedeutung der HNG liegt vor allem in der identitätsstiftenden Funktion für eine Anhängerschaft, die an ihrer verfassungsfeindlichen Zielsetzung keine Zweifel aufkommen lässt. Aufgrund des Verdachts, dass sich die Aktivitäten der HNG gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, fanden am 7. September in verschiedenen Bundesländern Hausdurchsuchungen bei HNG-Aktivisten und mutmaßlichen Mitgliedern statt. Schleswig-Holsteinische HNG-Mitglieder waren von diesen Exekutivmaßnahmen nicht betroffen. 4 Rechtsextremistische Aktivitäten in Kreisen und Städten 37 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Trotz der in diesem Jahr leicht rückläufigen Tendenz des Rechtsextremismus gibt es weiterhin in fast allen Landesteilen zumindest Ansatzpunkte für rechtsextremistische Strukturen. Verfassungsfeindliche Bestrebungen gehen von ihnen in unterschiedlicher Intensität aus. Im Bereich des aktionistischen Rechtsextremismus sind politisch motivierte Aktivitäten oftmals von Einzelpersonen abhängig. Dem entsprechend schnell wandelt sich die Szene. In Regionen mit bestehenden NPDUntergliederungen haben rechtsextremistische Strukturen noch den längsten Bestand. Dieser Verfassungsschutzbericht stellt keine abschließende Aufzählung aller Ereignisse auf, die im Zusammenhang mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen o- der politisch motivierten Straftaten stehen. Lediglich beispielhaft werden nachfolgend die Entwicklungen des Rechtsextremismus in einigen Regionen des Landes Schleswig-Holstein dargestellt. 4.1 Kiel und angrenzende Kreise Die Entwicklung der aktionistischen Szene in Kiel zeigt exemplarisch die derzeitige Unberechenbarkeit des nicht organisierten Rechtsextremismus. Noch bis zur Jahresmitte gehörte die als gewalttätig bekannt gewordene "Aktionsgruppe Kiel" zu den dominierenden Gruppen unter allen in Schleswig-Holstein bekannten derartigen Gruppierungen. Entsprechend ihrer aus den Vorjahren bekannten Verhaltensweisen drohte sie noch im Februar auf ihrer Homepage in Anlehnung an den offenkundig als vorbildhaft empfundenen nationalsozialistischen Sprachgebrauch dem politischen Gegner ("Rotfront") an, dass "(...) auch in diesem Jahr (...) nationale Sozialisten die Straßen weiter von rotem Abschaum säubern. (...) Weiter geht es nun im Jahre 2010 und auch in diesem Jahr haben wir einiges vor. Der Kampf geht weiter!". Gruppenangehörige beteiligten sich im ersten Halbjahr zudem an überregionalen Demonstrationen. Durch eine am 23. April in Kiel durchgeführte Saalveranstaltung unter Beteiligung zahlreicher führender schleswig-holsteinischer und niedersächsischer Neonazis sowie schleswig-holsteinischer NPD-Funktionäre "profilierten" sich 38 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 die Kieler Neonazis auch über die Landesgrenzen hinaus. Rund 60 Rechtsextremisten fanden sich zusammen, um laut Einladungs-Flugblatt "(...) neue Leute kennen zu lernen, alte Freundund Bekanntschaften zu pflegen, politische Zusammenarbeit und Strukturen zu stärken und auszubauen (...)". Zudem konnte in der ersten Jahreshälfte eine besonders aktive Zusammenarbeit mit dem NPD-Kreisverband Kiel/Plön beobachtet werden. Dies wurde auch durch gemeinsame Veranstaltungen sowie Beiträge in Schriften sowie im Internet offen zur Schau gestellt. Durch den Rückzug von Szene-Protagonisten und interne persönliche Querelen begann der Erosionsprozess der Gruppe. Hinzu kam das gleichzeitig einsetzende Engagement für Rocker-Gruppierungen oder deren Unterstützungsclubs durch einige der bis dahin aktiven Rechtsextremisten. Als Folge daraus ist die "Aktionsgruppe Kiel" seit Herbst 2010 faktisch nicht mehr existent. Wenige verbliebene Mitglieder der Gruppe bildeten daraufhin mit einer Handvoll subkulturell geprägter Mitläufer die "Freien Nationalisten Kiel" (FN Kiel). Diese Gruppe fiel dann nicht mehr durch Gewalttaten auf, sondern diente offenkundig dem NPD-Kreisverband als Mobilisierungspotenzial für dessen Aktivitäten in der Öffentlichkeit. Der NPD-Kreisverband Kiel/Plön, der wöchentlich lediglich mäßig besuchte Stammtische abhielt, konnte 2010 bei öffentlichen Aktionen (Kundgebungen, Informationstische etc.) maximal bis zu 15 Rechtsextremisten für aktionistische Versammlungen mobilisieren. Neben einigen Kreisverbandsmitgliedern ergänzten zumeist wenige Neonazis aus dem Rendsburger Raum und Angehörige der FN Kiel das Mobilisierungskontingent. Rechtsextremistische Veranstaltungen im Verbandsgebiet wurden von der Öffentlichkeit kaum bzw. gar nicht wahrgenommen. Die Strategie der NPD, durch Bildung eines Stützpunktes der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) in der Region um Kiel in Zukunft eine Art geistige Führung für den rechtsextremistischen Nachwuchs zu übernehmen, ist unter Kap. II 2.2 dargestellt. 4.2 Segeberg/Neumünster 39 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Die im Juni erfolgte Reorganisation des NPD-Kreisverbandes Segeberg/Neumünster hat sich bislang nicht erkennbar "belebend" auf den Rechtsextremismus in der Region ausgewirkt. Lediglich die Internetseite des Kreisverbandes wurde neu gestaltet, politische Aktivitäten waren dagegen so gut wie nicht feststellbar. Einzig eine gemeinsam mit dem NPD-Kreisverband Dithmarschen/Steinburg/ Pinneberg am 3. Oktober 2010 in Neumünster organisierte Informationsveranstaltung ist erwähnenswert. Dabei kam der überwiegende Teil der Teilnehmer bezeichnender Weise aber nicht aus Neumünster, sondern war aus den Kreisen Nordfriesland, Dithmarschen, Steinburg und Pinneberg angereist. Der Club 88 in Neumünster, der in den neunziger Jahren über die Landesgrenzen hinaus als Synonym für eine national befreite Zone galt, hatte im Berichtsjahr nur noch eine geringe politische Bedeutung. Im Jahr 2009 wurde er zumindest noch bei den gelegentlich durchgeführten "Liederabenden" von Rechtsextremisten besucht. Derartige Veranstaltungen gab es im Jahr 2010 nicht. Derzeit scheint sich der einst überwiegend aus Angehörigen der rechtsextremistischen Subkulturszene bestehende Besucherkreis des Clubs mit dem dort inzwischen ebenfalls verkehrenden Umfeld von Angehörigen des örtlichen Rocker-Milieus zu vermischen. Der gegenwärtig instabile Zustand der rechtsextremistischen Szene in Neumünster und Umgebung wurde auch durch die laienhaft anmutende Planung und Durchführung einer Gedenkveranstaltung unter dem Motto "Grosser Friedrich, steig hernieder... Alte Werte neu entdeckt" deutlich. Sie sollte angeblich zu Ehren Friedrich des Großen am 21. August 2010 in Neumünster stattfinden. Der zeitliche Zusammenhang ließ aber erkennen, dass hier tatsächlich eine Ersatzveranstaltung für die früher in der Szene sehr beliebten "Hess-Gedenkmärsche" durchgeführt werden sollte. Wegen der großen Zahl von Gegendemonstranten musste die Polizei zur Sicherheit der ca. 80 Demonstranten die Veranstaltung auf eine stationäre Kundgebung beschränken. Dies wurde vom Anmelder, der wie die Polizei feststellte, alkoholisiert war, abgelehnt und die Demonstration beendet, noch bevor sie begonnen hatte. In der Folge entwickelten sich diverse Auseinandersetzungen zwischen Linksautonomen und abreisenden Rechtsextremisten, bevor sich die Lage im Laufe des Tages wieder beruhigte. Unter den Teilnehmern befanden sich nur wenige Neumünsteraner Rechtsextremisten. Auch hieran zeigt sich die derzeitige Orientierungslosigkeit der örtlichen rechtsextremistischen Szene. 40 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 4.3 Südöstliches Schleswig-Holstein Die öffentlichen Auftritte und Aktionen der Gruppe "Nationale Sozialisten Lauenburg (NASO-LB) beschränkten sich auf einige Flugblattverteilungen, eine Säuberungsaktion zum Heldengedenken am 8. Mai 2010 im Kreisgebiet sowie die Teilnahme einzelner Mitglieder an überregionalen Veranstaltungen wie u.a. dem Trauermarsch in Dresden am 13. Februar 2010, dem aufgelösten Gedenkmarsch in Lübeck am 27. März 2010 und dem Heldengedenken in Boizenburg am 14. November 2010. Die Zahl provokativer Auftritte in der Region ist dagegen zurückgegangen. Stattdessen nahmen die Aktivitäten im Internet zu. Regelmäßig wurden Aktionsberichte veröffentlicht und Kommentare zu Themen verfasst, die in der öffentlichen Diskussion standen. Im Mittelpunkt stand dabei der Konflikt mit der örtlichen Antifa. Im angrenzenden Kreis Stormarn ist die Situation eher gegenläufig. Nachdem dieser Kreis lange Jahre zu einer der schleswig-holsteinischen Regionen gehörte, die unterdurchschnittlich von rechtsextremistischen Bestrebungen betroffen waren, konnten 2010 erstmals lose rechtsextremistische Strukturen festgestellt werden. Ausgangspunkt dieser Entwicklung waren die seit Ende 2009 zunehmenden Konflikte zwischen "links"und "rechtsorientierten" Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kreisgebiet, die ihren vorläufigen Höhepunkt in einer gewalttätigen Auseinandersetzung am 29. Mai und einer sich am 19. Juni anschließenden Veranstaltung der rechtsextremistischen Szene gefunden haben: Ursächlich für die Zuspitzung der Situation war die Tatsache, dass Personen alleine aufgrund ihres Aussehens, ihrer Kontakte, Freundschaften oder des familiären Hintergrundes vom jeweiligen politischen Gegner dem "feindlichen" politischen Lager zugeordnet wurden. Um Schutz vor der jeweils "feindlichen" Gruppe zu erlangen setzte eine Polarisierung ein. In der Folge eskalierte dieser Konflikt. Höhepunkt war eine Aktion am 29. Mai 2010 in Bargteheide, bei der etwa 12 antifaschistische, teilweise linksextremistisch orientierte Jugendliche 8 Personen, die von ihnen dem rechtsextremistischen Spektrum zugeordnet wurden, am Rande einer öffentlichen Veranstaltung mit Schlagwerkzeugen, Reizgas und Flaschen angriffen und dabei mindestens zwei Personen schwer und zwei weitere leicht verletzten. Als Konsequenz wurden im Internet von "rechter" Seite "Racheaktionen" angekündigt. 60 41 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Aktivisten des "rechten Spektrums" nahmen daraufhin am 19. Juni an der unter dem Motto "Gegen linke Gewalt" angemeldeten "Mahnwache" teil. Die Veranstaltung war von einem Lübecker Rechtsextremisten angemeldet worden. Bekannte Rechtsextremisten nutzen die Gelegenheit, um diesen regional begrenzten Konflikt für ihre Zwecke zu nutzen. So traten als Redner u.a. der NPD-Landesvorsitzende Jens Lütke und der bundesweit bekannte Neonazi Christian Worch auf. 4.4 Südwestliches Schleswig-Holstein Die meisten rechtsextremistischen Ereignisse in den Kreisen Steinburg, Dithmarschen und Pinneberg sind im Zusammenhang mit dem NPD-Bezirksverband Westküste zu sehen. Dessen Aktivitäten wiederum waren im Wesentlichen auf das Engagement von lediglich drei Personen zurückzuführen. Der 1. Vorsitzende betätigte sich als Redner bei Kundgebungen und auf Informationsveranstaltungen der NPD. Er nahm auch an öffentlichen Veranstaltungen teil, wie z.B. zwei Pinneberger Einwohnerversammlungen, und versuchte, die Veranstalter mit provokanten Fragen zu verunsichern. Unterstützt wurde er durch zwei Funktionäre des Bezirksverbandes, die ihn zum Teil auf öffentliche Veranstaltungen begleiteten oder selbst Artikel im Internet veröffentlichten. Thematisiert wurde z.B. der "Kapitalismus", die Wirtschaftslage in Deutschland, die Energieversorgung, die "Überfremdung" und die nach Ansicht der NPD noch ausstehende Souveränität Deutschlands. Dabei wird die Schuld an Fehlentwicklungen in alter Manier bei den "etablierten Systemparteien" gesucht und propagiert, die NPD habe die einzig wahren Lösungen für alle Probleme. Neben dem NPD Bezirksverband existieren in der Region mehrere Aktionsgruppen. Seit längerem bekannt ist die "Aktionsgruppe Steinburg/Dithmarschen". Ihre politischen Ambitionen waren im Berichtszeitraum rückläufig. Sie verlagerte ihren Schwerpunkt vor allem in der zweiten Jahreshälfte vermehrt auf die Freizeitgestaltung, wie Kanufahrten, Grillabende und Zeltlager. Darüber hinaus gab es einige obligatorische politische Betätigungen, wie eine Denkmalpflegeaktion und ein "Heldengedenken". Seit Mitte 2010 gibt es wieder eine Internetseite der "Aktionsgruppe". Diese enthält - wie schon die alte Seite - aber kaum eigene Beiträge. Stattdessen 42 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 wurden überwiegend Artikel anderer rechtsextremistischer Seiten aufgenommen oder verlinkt. Die Aktionsgruppe behauptet auf ihrer Internetseite weiterhin, ihren "nationalen Kampf um die Freiheit in diesem Land absolut gewaltfrei" führen zu wollen. Dass die Aktionsgruppe tatsächlich Auseinandersetzungen mit der linken Szene oder auch nur vermeintlich der linken Szene zugehörigen Personen nicht aus dem Weg geht und teilweise sogar aktiv sucht, zeigt eine Aktion am 27. Februar in Itzehoe. Freie Nationalisten aus Steinburg, Dithmarschen und Kiel verteilten an diesem Tag Flugblätter, mit denen auf den Trauermarsch in Lübeck am 27. März aufmerksam gemacht werden sollte. In Anbetracht der Gesamtumstände dürfte die Terminüberschneidung der Rechtsextremisten mit einer bereits vorher angemeldeten Kundgebung für den Erhalt einer Jugendeinrichtung kein Zufall gewesen sein. Nach einem Internetbericht auf "mein-sh.de" wären die "Freien Kräfte" einer Auseinandersetzung mit Teilnehmern der Kundgebung nicht aus dem Weg gegangen: "Vor den Augen der Punks verteilten wir weiter unser Informationsmaterial an Jung und Alt, denn unsere Straßen lassen wir uns nicht nehmen. Zu einem Angriff auf unseren Verteilertrupp kam es nicht. (Aus einer Notwehrsituation heraus, hätten wir dementsprechend reagiert!)" Im Kreis Pinneberg hat sich die "Jugend Pinneberg" etabliert. Sie versucht, mit erlebnisorientierter Freizeitgestaltung junge Menschen anzusprechen und so an die rechte Szene heranzuziehen. Hierzu gehören Wanderungen, Zeltlager, gemeinsame Besuche rechtsextremistischer Konzerte und öffentlicher Feste, aber auch das politisch ausgerichtete "Heldengedenken". Die auf der Internetseite der "Jugend Pinneberg" beworbenen Aktivitäten wurden nicht exklusiv für die "Jugend Pinneberg" veranstaltet, sondern meist unter Beteiligung von "Kameraden" aus Steinburg, Dithmarschen und der Elbmarsch. Offensichtlich gelingt es hier tatsächlich, über diese Art der "Freizeitgestaltung" die rechtsextremistische Anhängerschaft zu vergrößern. Diese aus anderen Bundesländern durchaus bekannte Strategie wurde in Schleswig-Holstein bislang nur selten praktiziert. Das offene Auftreten der Gruppe ist auch in der linken Szene nicht unbemerkt geblieben. Beim Aufeinandertreffen von Vertretern der rechten und der linken Szene kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die "Jugend Pinneberg" betreibt eine relativ aufwändige Internet-Seite. Sie enthält überwiegend Berichte über Aktivitäten der Gruppe und Artikel zu gesellschaftspoliti43 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode schen Themen, die in Eigenregie erstellt werden. Angekündigt wurde, einen JNStützpunkt Pinneberg gründen zu wollen. 4.5 Nördliches Schleswig-Holstein Die Aktivitäten der Rechtsextremisten in den Kreisen Nordfriesland, SchleswigFlensburg und in der Stadt Flensburg stehen in engem Zusammenhang mit dem seit 2006 bestehenden NPD-Kreisverband Nordfriesland/Schleswig-Flensburg/Flensburg. In der Region hielt sich die NPD im Berichtszeitraum im Gegensatz zu den Vorjahren zurück. Bis auf wenige Flugblattaktionen, bei denen der Kreisverband auch von nicht organisierten Neonazis unterstützt wurde, nahmen die Aktivisten hauptsächlich an Aktionen außerhalb ihres Kreisgebiets, z.B. dem Trauermarsch in Dresden teil. Für die Aktivitäten des NPD-Kreisverbandes ist nur ein sehr kleiner Kreis von Aktivisten verantwortlich. Herausragend ist die Präsenz des Kreisverbandes im Internet. Hier wurden mit fast täglich erscheinenden Berichten rechtsextremistisch gefärbte Kommentare zu aktuellen Ereignissen und Nachrichten eingestellt. Auffallend häufig gab es Stellungnahmen zum Thema Bildungspolitik. Insgesamt wurden alleine in der Rubrik Nachrichten im Jahr 2010 insgesamt 212 Beiträge eingestellt. (siehe dazu auch unter Kap. II 3.1.2) 4.6 Lübeck/Ostholstein Der Bereich Lübeck gehört nach wie vor zu den regionalen Schwerpunkten des Rechtsextremismus in Schleswig-Holstein. Die hier beobachteten Aktivitäten belegen die unmittelbare Verknüpfung von NPD und "Freien Nationalisten" schon seit Jahren besonders deutlich. Ursächlich hierfür war in der Vergangenheit unter anderem das Engagement des langjährigen NPD-Kreisvorsitzenden Jörn Lemke, der nicht nur den Kreisverband führte, sondern auch zu den maßgeblichen Organisatoren der Freien Nationalisten in Lübeck gehörte. Die Lübecker NPD bemühte sich intensiver als in anderen Regionen des Landes darum, die Bevölkerung durch Themen mit lokalem Bezug anzusprechen. So nahm die Agitation gegen die feste Fehmarnbelt-Querung 44 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 in den regelmäßigen Veröffentlichungen des Kreisverbandes breiten Raum ein. Weitere Ansatzpunkte für kritische Äußerungen wurden in der finanziellen Situation der Hansestadt und deren nach Ansicht der NPD gescheiterten Integrationskonzept gesehen. Insbesondere zu dieser Thematik wurden zum Jahresende hin mehrere Kommentare veröffentlicht, die an Deutlichkeit kaum zu überbieten waren. Beispielhaft hierfür ist ein im Internet veröffentlichter Bericht unter der Überschrift: "Schon wieder Ausländergewalt in Lübeck!", der mit folgender Forderung abschließt: "Wir fordern eine sofortige Rückführung aller integrationsunwilligen Ausländer und eine konsequente Abschiebung von straffällig gewordenen Ausländern! Die bedeutendste Veranstaltung war wiederum der alljährlich im März stattfindende "Gedenkmarsch". Unter dem Motto "Bomben für den Frieden? - Im Gedenken an den alliierten Bombenterror vom 28./29. März 1942" marschierten am 27. März bereits zum fünften Mal in Folge Rechtsextremisten durch die Lübecker Innenstadt. Trotz der Tatsache, dass der Veranstalter bereits seit Jahresbeginn mit Internetaufrufen und kurz vor dem Demonstrationstermin auch mittels Verteilund Klebeaktionen in verschiedenen schleswig-holsteinischen Orten für eine Teilnahme an der Veranstaltung mobilisierte, wurde der Aufmarsch mit lediglich 200 Teilnehmern durchgeführt. Aufgrund massiver Blockadeaktionen von Gegendemonstranten kam der Aufzug schon nach etwa 400 Metern zum Stillstand. Als Redner traten der Versammlungsleiter Thomas Wulff (Mitglied des Parteivorstandes der NPD) und der NPDLandesvorsitzende Jens Lütke auf. Da der geplante Marschweg wegen verschiedener Behinderungen nicht durchzusetzen war, löste Wulff die Veranstaltung schließlich auf. In diversen Veröffentlichungen, u.a. im Internet, wurde anschließend die Zurückhaltung der Polizei gegenüber den Gegendemonstranten und Blockierern massiv kritisiert. So war in einem Beitrag u.a. von einer "kriminellen Kooperation gegen unseren Trauermarsch" die Rede, und weiter wurde ausgeführt: "Auch wenn das linksextremistische Gesindel jetzt ihren fragwürdigen Erfolg feiert, sei eines in aller Deutlichkeit gesagt. Wir haben unsere Versammlung nicht aufgelöst, weil einige hundert Personen uns den Weg blockierten, sondern weil die Staatsmacht seit diesem Jahr auch vor Rechtsbruch nicht zurückschreckt und alle Möglichkeiten nutzt, um nationale Aufmärsche zu verhindern (...) Sollte auch die Staatsanwaltschaft solche Taten decken, werden zukünftig sicherlich andere Akti45 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode onsformen notwendig sein, um unser Recht auf Meinungsund Versammlungsfreiheit durchsetzen zu können." Derartige Gewaltandrohungen von Seiten der Rechtsextremisten gab es im Berichtsjahr vermehrt auch außerhalb Schleswig-Holsteins. Trotz dieser drastisch anmutenden Äußerungen zeigt allein die Tatsache, dass niemand Willens oder in der Lage war, die anwesenden Demonstrationsteilnehmer nach der Verhinderung des Gedenkmarsches zu einer Anschlussoder Spontanaktion zu bewegen, wie groß der Kontrast zwischen dem öffentlich propagierten Aktionismus und der tatsächlichen Aktionsfähigkeit der Rechtsextremisten in Schleswig-Holstein in Wahrheit ist. Um das für die hiesige Szene dürftige Ergebnis des Lübecker Gedenkmarsches nicht zu wiederholen, begannen schon frühzeitig die Vorbereitungen für die im März 2011 vorgesehene Folgeveranstaltung. Ende November 2010 fand eine "Auftaktveranstaltung zum Bombenterror" statt, bei der Spenden gesammelt und erstes Kampagnenmaterial verteilt werden sollte. 5 Schrifttum, Verlage und Vertriebsdienste Von Unternehmen, die in erster Linie von der Verbreitung rechtsextremistischer Literatur, NS-Devotionalien oder Gebrauchsartikeln der rechtsextremistischen Subkulturszene leben, gehen nur in seltenen Fällen Bestrebungen aus, die unmittelbar auf die Beseitigung von Verfassungsgrundsätzen gerichtet sind. Durch die Unterstützung offenkundiger Verfassungsfeinde können aber auch sie mittelbar Träger verfassungsfeindlicher Bestrebungen sein und somit ständiges Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden werden. Einen Anhaltspunkt für derartige Ziele liefern nicht nur die von den Unternehmen angeboten Artikel, sondern auch die hierzu gehörenden Begleittexte in den Verlagsprospekten. Die Grenzziehung zwischen einem "Beobachtungsobjekt", von dem planmäßig verfassungsfeindliche Bestrebungen ausgehen und so genannten "Verdachtsfällen", ist in diesem Bereich des Rechtsextremismus problematischer als bei Personenzusammenschlüssen, die Träger verfassungsfeindlicher Bestrebungen sind. Zurzeit gibt es in Schleswig-Holstein vier Verlage, die aufgrund ihres Angebotes im Verdacht stehen, mittelbarer Träger verfassungsfeindlicher Bestrebungen zu sein. Drei kleinere Unternehmen haben ein Bücherangebot, das aus46 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 schließlich auf rechtsextremistische Bedürfnisse zugeschnitten ist. Ein gemischtes Angebot findet sich bei der Verlagsgruppe "Lesen und Schenken" aus Martensrade (Kreis Plön). 5.1 Verlagsgruppe "Lesen und Schenken" in Martensrade (Kreis Plön) Die Verlagsgruppe, deren Schwerpunkt der Vertrieb geschichtsrevisionistischer Literatur ist, gehört inzwischen zu den bedeutendsten Verlagen dieser Art in Deutschland. Zu dem Unternehmenskomplex gehören der "Arndt-Verlag", der "BonusVerlag", der "Orion-Heimreiter-Verlag", der "Pour le Merite-Verlag", der "ArndtBuchdienst/Nation & Europa", der "Nation & Europa-Verlag", der "DMZ-Verlag" und der "ZUERST!-Verlag". Außerdem werden die "Deutsche Militärzeitschrift" (DMZ) und die "ZUERST Deutsches Nachrichtenmagazin" herausgegeben. Dementsprechend gibt der Inhaber des Verlages in seinem Vorwort zum Jahreskatalog 2010 an, dass "Bücher über die Zeit des Weltkrieges einen Schwerpunkt bilden". Eine weitere Passage des Vorworts weist dann unverkennbar Ähnlichkeiten mit der Terminologie rechtsextremistischer Gruppierungen auf: "Wir halten das Aufbrechen der historischen Verzerrungen durch die alliierte Umerziehung für einen Schlüssel zur Herstellung einer deutschen Normalität. Daneben pflegen wir traditionell die Erinnerung an den deutschen Osten - Ostpreußen, Schlesien, Pommern, Sudetenland - und bieten Bücher über alle Phasen der deutschen Geschichte, sowie kritische Bücher über den bedenklichen Weg an, auf den sich unser deutsches Gemeinwesen politisch und gesellschaftlich begeben hat." Beispielhaft für das Verlagsprogramm sind u.a. die im Jahr 2010 angebotenen Bücher des verurteilten Holocaust-Leugners David Irving. Eine Vielzahl von angebotenen Büchern zeigt die unkritische Haltung gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus, dazu gehören Bildbände wie "Hauptstadt in Bewegung", "Reichshauptstadt Berlin" und "Geburtstagsparade Berlin, 20. April 1939", sowie das Buch "Das Erbe Hitlers - Ein Lexikon", das mit der Überschrift "Schock für die Umerzieher!" beworben wird. 47 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 5.2 Skinhead Vertriebsdienste Die Zahl der bundesweit aktiven rechtsextremistischen Versandhändler, bei denen Tonträger und andere rechtsextremistische Devotionalien erhältlich sind, steigerte sich in 2010 leicht gegenüber dem Vorjahr auf rund 75 Unternehmen (2009: 68). In Schleswig-Holstein sind Vertriebe/Ladengeschäfte in Kiel, Lägerdorf (Kreis Steinburg) und Neustadt (Kreis Ostholstein) vorhanden. 48 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 6 Mitgliederentwicklung der rechtsextremistischen Organisationen und Gruppierungen in Schleswig-Holstein und Gesamtentwicklung im Bundesgebiet 2008 bis 2010 2008 2009 2010 NPD/JN 240 230 220 DVU 210 210 200 Sonstige nicht neo-nationalsozialistische Rechtsextremis100 100 100 ten überwiegend neo-nationalsozialistisch orientierte 110 180 180 Rechtsextremisten Subkulturell geprägte und sonstige als gewaltbereit 760 735 640 eingeschätzte Rechtsextremisten Gesamt Land* 1.420 1.455 1.340 Gesamt Bund* 30.000 26.600 25.000 *Nach Abzug so genannter Doppelmitgliedschaften 49 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode III. Linksextremismus 1 Überblick Die linksextremistische Szene in Schleswig-Holstein konzentrierte sich im Berichtszeitraum insbesondere auf Aktionen in den Bereichen "Anti-Faschismus", "AntiRepression" und - anlassbezogen durch die Transporte von Castoren - im Bereich "Anti-Atom". Dabei spielte für diesen Bereich eine verbesserte Organisierung und Vernetzung bei Planung, Mobilisierung und Durchführung von Aktionen eine wichtige Rolle. Ebenso wurde eine wie bisher hohe Gewaltorientierung deutlich. Teile der undogmatischen linksextremistischen Szene streben eine stärkere Organisierung und Vernetzung an. Im Rahmen von Kampagnen wird gezielt eine engere Zusammenarbeit mit Gruppen des demokratischen Spektrums angestrebt. Gleichzeitig versucht man auch ein stärkeres gemeinsames Auftreten zu erreichen. Diese Entwicklung wird insbesondere durch die "Interventionistische Linke" (IL) und "Avanti - Projekt undogmatische Linke" (Avanti) befördert. Dem steht eine zunehmende Kritik von Autonomen gegenüber, die diese Organisationsbestrebungen weiterhin ablehnen. Der undogmatische Linksextremismus war im Jahr 2010 durch ein überdurchschnittliches Maß an Aktivitäten gekennzeichnet. Abgänge aus der Szene konnten durch Mobilisierungserfolge überwiegend bei jungen Menschen ausgeglichen werden. Der dogmatische Linksextremismus unterlag 2010 inhaltlicher wie personeller Stagnation. Seine Bedeutung und Einflussnahme im Phänomenbereich Linksextremismus ist gering. Unabhängig davon sind in Teilen der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) Bemühungen erkennbar, stärker mit Gruppen des demokratischen Spektrums zusammenzuarbeiten. Hauptsächliches Aktionsfeld von Linksextremisten in Schleswig-Holstein war wie in den Vorjahren der "Anti-Faschismus". Dabei wurde die Aktivität der linksextremisti50 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 schen Szene nicht unerheblich von der Präsenz und Aktivität der rechtsextremistischen Szene mitbestimmt. Hervorzuheben sind hier Demonstrationen in Lübeck (27. März 2010) und Neumünster (21. August 2010 und 9. Oktober 2010). Aber auch der Widerstand gegen den vermeintlich "repressiven Staat" und die "Militarisierung der Gesellschaft" haben 2010 in Schleswig-Holstein eine Rolle gespielt. Vor diesem Hintergrund erlangten die Protestvorbereitungen gegen die Innenministerkonferenz der Länder (IMK) im November 2010 in Hamburg auch für Linksextremisten aus Schleswig-Holstein Bedeutung. Im Bereich "Anti-Atom" waren Linksextremisten aus Schleswig-Holstein bei der Planung, Mobilisierung und Durchführung der Proteste im Rahmen des im November 2010 durchgeführten Transports von Castoren beteiligt. Die Kampagne "Castor? - Schottern!" wurde unterstützt und zu deren Teilnahme aufgefordert. Hierbei ist insbesondere die Organisation "Avanti - Projekt undogmatische Linke" zu nennen. Die Bereiche "Anti-Globalisierung" und "Anti-Sozialabbau" hatten im Berichtszeitraum keine oder eher geringe Bedeutung. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern spielte der "Kampf um autonome Freiräume" und gegen Stadtumstrukturierung - sog. Gentrifizierung - in Schleswig-Holstein 2010 nur eine geringe Rolle. Örtliche Schwerpunkte des undogmatischen Linksextremismus finden sich - strukturbedingt - wiederum in den großen Städten des Landes. Auch für 2010 sind daher die Städte Kiel, Lübeck, Neumünster und Flensburg zu nennen. Die "Rote Hilfe e.V." nimmt als "Solidaritätsorganisation politisch Verfolgter" eine spezielle Rolle ein. Im letzten Jahr hat sie sich wieder um Personen "gekümmert", die "bei linken Demonstrationen und Aktionen festgenommen" wurden. Die Entwicklung des Personenpotenzials im Phänomenbereich Linksextremismus zeigte 2010 im Vergleich zum Vorjahr keine signifikanten Veränderungen. Dem Spektrum der undogmatischen Linksextremisten waren ungefähr 330 Personen, dem der dogmatischen Linksextremisten ungefähr 500 Personen zuzuordnen. 51 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Im Jahr 2010 sind in Schleswig-Holstein 231 (2009: 311; 2008: 247; 2007: 236) Straftaten, davon 64 (2009: 67; 2008: 43; 2007: 38) Gewaltdelikte im Bereich der linksextremistisch motivierten Kriminalität erfasst worden. Die Zunahme der Anzahl politisch links motivierter Straftaten in Schleswig-Holstein in den vergangenen Jahren hat sich im Jahre 2010 nicht fortgesetzt. Im Vergleich zum Vorjahr war ein Rückgang zu verzeichnen; die Straftaten lagen dessen ungeachtet nur geringfügig unter dem hohen Niveau der Jahre 2008 und 2007. Auch bei den linksextremistischen Gewalttaten konnte keine weitere Zunahme festgestellt werden. Im Jahr 2010 lag die Anzahl der Gewalttaten zwar leicht unter der des Vorjahres, a- ber immer noch deutlich über den Zahlen der Jahre 2008 und 2007. Im Berichtszeitraum konnte wie bereits in den Vorjahren eine hohe Gewaltorientierung bei Linksextremisten in Schleswig-Holstein festgestellt werden. Hiervon muss auch zukünftig ausgegangen werden. Besondere Beachtung wird der Intensität der Anwendung von Gewalt und der szeneinternen Debatte um Gewalt zukommen. 2 Organisationen und Gruppierungen des linksextremistischen Spektrums 2.1 Undogmatischer Linksextremismus 2.1.1 Potenzial und örtliche Schwerpunkte In Schleswig-Holstein lag die Anzahl undogmatischer Linksextremisten weiterhin bei ungefähren 330 Personen. Die Abgänge aus der Szene, etwa durch Abwanderung in die Metropolen oder durch Rückzug ins Privatleben, konnten kompensiert werden. Mit der Mobilisierung zu linksextremistischen Aktionen gelang es der Szene, insbesondere Jugendliche anzusprechen. Ein für das gesamte Spektrum zentrales und überragendes Thema mit über das übliche Maß hinausgehendem Mobilisierungseffekt war im Jahr 2010 nicht vorhanden. Insofern waren Auswirkungen bezogen auf das Personenpotenzial auch nicht zu erwarten. Dennoch haben die vielfältigen kleineren Ereignisse auf lokaler Ebene öfter 52 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 eine solche Anziehungskraft ausgeübt, dass ein Absinken der Personenanzahl nicht zu beobachten war. Die Aktionsfelder "Anti-Faschismus" und "Anti-Repression" sind dabei auf ein besonderes Interesse bei jungen Menschen gestoßen. Aber auch die Beteiligung der linksextremistischen Szene aus Schleswig-Holstein an Planung, Mobilisierung und Durchführung von überregionalen Aktionen, wie z.B. Protesten gegen den Transport von Castoren oder gegen die Innenministerkonferenz in Hamburg, haben dazu beigetragen. Ob und inwieweit dieses Interesse von Nachhaltigkeit geprägt ist, bleibt abzuwarten. Ebenfalls unverändert lagen die örtlichen Schwerpunkte der undogmatisch-linksextremistischen Szene strukturbedingt in den großen Städten des Landes. Dabei spielt neben politisch-inhaltlichen Gründen auch die Subkultur der Szene eine Rolle, die in Ballungsräumen stärker ausgeprägt ist. 2.1.2 Entwicklungen der undogmatischen Szene Die undogmatischen Linksextremisten lassen sich weiterhin in zwei Kategorien einordnen. Autonome auf der einen und Vertreter, die die Organisierung einer breiten Strömung vorantreiben wollen, auf der anderen Seite. Dabei darf nicht verkannt werden, dass die Grenze zwischen den beiden Lagern fließend ist, zumal sich der Großteil der Organisierten Undogmaten aus dem autonomen Lager heraus entwickelt hat. In Schleswig-Holstein wird diese Ausrichtung neben einigen Einzelpersonen hauptsächlich von "Avanti - Projekt undogmatische Linke" (Avanti) getragen. In der Einleitung zu seinem Grundsatzpapier beschreibt Avanti zusammenfassend und durchaus zutreffend den eigenen Entwicklungsprozess: "Unsere Wurzeln liegen in der autonomen Bewegung, dennoch trifft das Etikett "Autonome" schon lange nicht mehr auf uns zu. Denn wir lehnen nicht nur die häufig anzutreffende Unverbindlichkeit und Organisationsfeindlichkeit ab, sondern haben uns auch von einem Politikstil verabschiedet, der sich fast ausschließlich auf eine kleine politische und / o- der subkulturelle Szene bezieht und dazu neigt, den Trennungsstrich zum Gegner vor den eigenen Füßen zu ziehen." 53 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Das Selbstverständnis der Autonomen basiert nicht auf einer klar beschriebenen I- deologie, sondern auf Grundelementen kommunistischer und anarchistischer Theorien. Dabei beziehen sich unterschiedliche autonome Gruppen häufig auch auf unterschiedliche Aspekte, so dass bis auf einen Mimimalkonsens keineswegs von einer einheitlichen Sichtweise ausgegangen werden kann. Dagegen versucht beispielsweise Avanti mit seinem Grundsatzpapier einen verlässlichen Rahmen zu schaffen. Im Gegensatz zu verschiedenen dogmatischen Parteien sollen diese politischen Überzeugungen im Wandel der Zeit zwar veränderbar sein, aber eben nicht einer Beliebigkeit entspringen. Die Unterschiede zwischen Autonomen und Organisierten Undogmaten sind im Komplex der Organisierung und Vernetzung sowie der damit verbundenen Ausgestaltung von Hierarchien und des Delegiertenprinzips besonders stark ausgeprägt. Dieses Themenfeld stellt auch den Hauptgrund für die Auseinanderentwicklung dar. Avanti, inzwischen nicht mehr nur in Schleswig-Holstein, sondern auch in Hamburg, Niedersachsen, Bremen und Berlin mit Ortsgruppen vertreten, gestaltet die bundesweite Organisierung im Rahmen der "Interventionistischen Linken" (IL) mit. Mit der IL versuchen gleichgesinnte Gruppen und Einzelpersonen, eine bundesweit wahrnehmbare politische Kraft mit den dafür erforderlichen Mindestorganisationsstrukturen zu schaffen. Mit der Beteiligung an Kampagnen, wie etwa im November 2010 an den Protesten gegen die Castor-Transporte, sollen spektrenübergreifende gemeinsame Erfahrungen gesammelt werden, die auf eine Verbreiterung und Vergrößerung der eigenen Strömung abzielt. Einer Kampagne sollte nach Vorstellung der IL und auch von Avanti eine politische Aufarbeitung und eine Fortentwicklung der Organisation folgen. In den Kampagnen selbst haben sich die IL und Avanti bei der Mobilisierung und Durchführung als durchaus leistungsstarke Partner profiliert. Dabei traten sie stets für breite Bündnisse ein. Doch eine jeweils anschließende Veränderung der Organisation ist im relevanten Umfang nicht feststellbar. Es gibt eine Vielzahl von Institutionen aus dem demokratischen Spektrum, die kampagnenbezogen mit den Linksextremisten zusammen arbeiten oder zumindest die parallele Arbeit am gleichen Projekt tolerieren. Eine fortgesetzte kontinuierliche Zusammenarbeit oder gar ein Wechsel zu der linksextremistischen Strömung ist aber in keinem nennenswerten Umfang erfolgt. Insofern sind die 54 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Organisierten Undogmaten in ihrem Hauptziel bislang gescheitert. Hinzu kommt, dass der Rückhalt durch die Autonomen schwindet. Diese sehen bei einer starken Vernetzung mit demokratischen Institutionen einen Wegfall des revolutionären Gedankens und eine Hinwendung zu reformistischen Zielen. 2.2 Dogmatischer Linksextremismus 2.2.1 Entwicklung der dogmatischen Szene Dem dogmatischen Linksextremismus werden Parteien und Gruppierungen zugerechnet, die sich im Wesentlichen am Marxismus-Leninismus ausrichten. Sie verfügen über ein Weltbild, das den Anspruch wissenschaftlicher Folgerichtigkeit erhebt und geschichtlichen, gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Veränderungen bestimmte Gesetzmäßigkeiten unterlegt. Diese sollen unausweichlich auf die Ablösung der "bürgerlich-kapitalistischen" Demokratie durch den Sozialismus als "höhere" Gesellschaftsform hinauslaufen. Die "Überwindung" des bestehenden demokratischen Verfassungsstaates ist diesem Ziel immanent. Das Spektrum des dogmatischen Linksextremismus umfasst in Schleswig-Holstein rund 500 Personen. Zusammenfassend kann auch für das Berichtsjahr festgestellt werden, dass der dogmatische Linksextremismus inhaltlicher wie personeller Stagnation unterliegt. Seine Bedeutung und Einflussnahme im Phänomenbereich Linksextremismus ist gering. 2.2.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) wurde 1968 gegründet. In der Folgezeit versuchte die ehemalige DDR über die DKP politischen Einfluss in der Bundesrepublik Deutschland zu nehmen. Es war eine deutliche ideologische und finanzielle Abhängigkeit von der "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" (SED) gegeben. Nach 1989 hat die DKP stark an Bedeutung und Mitgliedern verloren. Die Überalte55 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode rung der Partei ist ebenso wenig überwunden wie ihre finanzielle und ideologische Krise. In Schleswig-Holstein sind der DKP weniger als 180 Personen zuzurechnen. Am 9./10. Oktober 2010 wurde die schleswig-holsteinische Bezirksvorsitzende Bettina Jürgensen zur neuen Bundesparteivorsitzenden gewählt. Sie löste den seit 1990 amtierenden Vorsitzenden Heinz Stehr ab. Jürgensen betont, integrierend in die Partei wirken zu wollen. Teile der Partei - auch Jürgensen - beurteilen eine Beteiligung der Partei an gesellschaftlichen Bewegungen positiv; eine gegenläufige Strömung innerhalb der Partei lehnt diese Öffnung ab und fordert eine Rückkehr zur unverfälschten Lehre des Marxismus-Leninismus. Jürgensen beschreibt das Ziel der Partei, die schrittweise Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auch mit Hilfe von Bündnispartnern zu verfolgen, auf der Bezirksmitgliederversammlung Schleswig-Holstein am 28. November 2010 entsprechend: "Dabei geht es uns nicht darum, mit wem wir zusammenarbeiten, sondern welches Ziel die Bewegung verfolgt. Oft sind es nur punktuelle Übereinstimmungen, Forderungen, zu denen sich verschiedene Bewegungen treffen, gemeinsam aktiv werden. (...) Lenin schreibt (...) die Partei muss in der Lage sein' sich mit den breitesten Massen der Werktätigen, in erster Linie mit den proletarischen, aber auch mit den nichtproletarischen werktätigen Massen zu verbinden, sich ihnen anzunähern, ja, wenn man will, sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen'." Vor diesem Hintergrund war auch der 19. Parteitag am 9./10. Oktober 2010 von heftigen Auseinandersetzungen um die weitere ideologische und strategische Ausrichtung geprägt. Das zeigte sich u.a. bei der Wahl der weiteren Vorstandsmitglieder. Entgegen dem Vorschlag des Parteivorstandes wurde einer der Sprecher der innerparteilichen Opposition zum Stellvertreter gewählt. Insgesamt sind gut ein Drittel der Vorstandsmitglieder Vertreter der innerparteilichen Opposition. Die Zusammenarbeit "mit anderen Kräften in der Bewegung" beschreibt die Parteivorsitzende ebenfalls auf der o.g. Veranstaltung wie folgt: "Die Abwälzung der Krisenlasten erfolgt auf den Rücken der Mehrheit der Bevölkerung. (...) Dazu wollten und haben wir in der Vorbereitung 56 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 des "Heißen Herbst", bei der Unterstützung und Teilnahme an den Aktionen der Gewerkschaften, die unter dem Motto "Gerecht geht anders" und "Kurswechsel - für ein gutes Leben" in vielen Orten und Betrieben durchgeführt wurden, beigetragen." Neben der Mitarbeit in örtlichen "Bündnissen gegen Neofaschismus" war in Schleswig-Holstein die Arbeit im "Anti-Kriegsbündnis" ein Arbeitsfeld. Der eng mit der DKP verbundene Jugendverband "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) hatte am 6. Februar 2010 in Kiel zusammen mit der DKP und weiteren linken Militarismuskritikern zu einer Kundgebung gegen Krieg aufgerufen. Bereits Ende Januar 2010 propagierte die SDAJ eine Kampagne "bundeswehrfreie Zone", die sich gegen die Nachwuchswerbung der Bundeswehr an Schulen und Universitäten richtete. Ziel sei es, perspektivisch "die Akzeptanz der Bundeswehr zu untergraben und den Nachwuchsstrom zu stören." Schließlich seien Soldaten der Bundeswehr verpflichtet, "an imperialistischen Kriegen" teilzunehmen, "deren Ziel die Unterwerfung der Völker in Afghanistan und anderen Ländern ist." In diesem Zusammenhang wurden auch in Schleswig-Holstein Jobmessen kurzzeitig gestört. Von der SDAJ wurde propagiert: "Sei auch du dabei, wenn es darum geht der Bundeswehr in die Suppe zu spucken! - Keinen Fußbreit der Bundeswehr, keine Schüler an die Front und echte Arbeitsplätze statt Kriegseinsätze!" Mitglieder der DKP sind nach wie vor in den Führungsgremien der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten" (VVN-BdA) vertreten. Die linksextremistisch beeinflusste VVN-BdA ist die bedeutendste Organisation im Umfeld der DKP. Zum Spektrum des dogmatischen Linksextremismus in Schleswig-Holstein sind weiterhin die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD), die "Arbeitsgemeinschaft kommunistische Politik von unten in und bei der Partei DIE LINKE Schleswig-Holstein" (ehemals "Bund Westdeutscher Kommunisten" (BWK)) sowie die trotzkistischen Organisationen "Sozialistische Alternative VORAN" (SAV) und "Marx21" zu zählen. 57 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Traditionell anarchistische Gruppen der Graswurzelbewegung sowie die in der "Freien Arbeiterinnenund Arbeiter-Union" (FAU) organisierten Anarcho-Syndikalisten gehören ebenfalls zum Spektrum des dogmatischen Linksextremismus. Die Bedeutung der o.g. Gruppierungen ist marginal. Die von der MLPD regelmäßig seit 2004 organisierten "Montagsdemonstrationen" gegen Sozialabbau und Hartz IV in Lübeck wurden nur von einer sehr geringen Personenzahl getragen. Die Veranstaltungen haben dabei eher den Charakter von Mahnwachen. 2.3 "Rote Hilfe e.V." Die "Rote Hilfe e.V." versteht sich selbst als "Solidaritätsorganisation, die politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum unterstützt. Sie konzentriert sich auf politisch Verfolgte aus der BRD, bezieht aber auch nach Kräften Verfolgte aus anderen Ländern ein". Der 1975 wieder gegründeten Organisation gehören bundesweit ca. 5.500 Mitglieder an. Auf ihrer Internetseite sagt die "Rote Hilfe e.V." über sich: "Der Roten Hilfe gehören nur Einzelpersonen als Mitglieder an. Es gibt keine kollektive Mitgliedschaft von Gruppen oder Organisationen - wenn auch oft Mitglieder anderer Organisationen gleichzeitig Mitglieder der Roten Hilfe sind." Die "Rote Hilfe e.V." unterstützte im Berichtszeitraum Ermittlungsausschüsse. Weiter wurden für vermeintlich von Repressionen Betroffene finanzielle und politische Unterstützung organisiert. Informationsveranstaltungen, die Publizierung themenbezogener Broschüren und die Betreuung inhaftierter "Genossen" im Inund Ausland stellten weitere Betätigungsfelder dar. Auch in Schleswig-Holstein sind gezielt für einzelne Demonstrationen der linksextremistischen Szene eingerichtete "Ermittlungsausschüsse" unterstützt worden. So zum Beispiel zur Demonstration am 13. März in Kiel um "Solidarität mit der Alten Meierei und allen Betroffenen faschistischer Gewalt!" und zu den Protesten gegen den Cas58 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 tor-Transport. Beispielhaft stellt der "Ermittlungsausschuss Berlin" zum allgemeinen Selbstverständnis von "Ermittlungsausschüssen" fest: "wir kümmern uns bei linken Demonstrationen und Aktionen um Festgenommene, wenn umstehende Menschen deren Namen an uns weitergeben, so dass wir ihnen Rechtsanwält_innen vermitteln können und sie nicht einfach in U-Haft 'verschwinden'." Darüber hinaus gingen von der "Roten Hilfe e.V." nur geringe öffentliche Aktivitäten aus. In Schleswig-Holstein sind dem Verein rund 250 Mitglieder zuzurechnen. 3 Aktionsfelder Linksextremisten stehen in Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat. Je nach Ausrichtung hängen sie revolutionär-anarchistischen politischen Vorstellungen an oder sind Verfechter marxistisch-leninistisch geprägter Ideologien. Dabei treten immer wieder marxistisch-leninistische Ideologiefragmente in revolutionär-anarchistischen Agitationen auf. Zur Erreichung ihrer Ziele hat für Linksextremisten in Schleswig-Holstein im Jahre 2010 insbesondere das Aktionsfeld "Anti-Faschismus" eine wichtige Rolle gespielt. Im ideologischen Verständnis der Linksextremisten stehen "Anti-Faschismus" und "Anti-Rassismus" im unmittelbaren Zusammenhang. Die Ursache für Rassismus wird danach in der von "Klassengegensätzen, Ausbeutung und Unterdrückung" geprägten "kapitalistischen Gesellschaft" gesehen. Dem demokratischen Verfassungsstaat wird vorgeworfen, durch seine vermeintlich rassistische Grundausrichtung rechtsextremistische Strukturen zu fördern und den "alltäglichen Rassismus" durch Gesetze und Verordnungen vermeintlich zu institutionalisieren. Daneben nutzten Linksextremisten auch andere gesellschaftliche Reizthemen, um innerhalb des bürgerlich-demokratischen Lagers neue Anhänger zu finden. Hierbei hat auch 2010 der Widerstand gegen den vermeintlich "repressiven Staat" und die "Militarisierung der Gesellschaft" Bedeutung erlangt. Ebenso waren Linksextremisten in den Bereichen "Anti-Atom" und "Anti-Sozialabbau" aktiv. 59 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Im Gegensatz zu anderen Bundesländern spielte der "Kampf um autonome Freiräume" und gegen Stadtumstrukturierung - sog. Gentrifizierung - in Schleswig-Holstein im Berichtsjahr nur eine geringe Rolle. 3.1 "Anti-Faschismus" Das Aktionsfeld "Anti-Faschismus" ist geprägt von der kommunistischen FaschismusDefinition, nach der Faschismus dem kapitalistischen System immanent sei. Der "Anti-Faschismus" in diesem Sinne kennzeichnet die grundsätzliche Gegnerschaft zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Mit der Abschaffung des kapitalistischen Systems soll das Ziel einhergehen, den demokratischen Verfassungsstaat zu überwinden. Für Schleswig-Holstein sind im "Anti-Faschismus-Kampf" der linksextremistischen Szene im Jahr 2010 die Demonstrationen vom 27. März in Lübeck und vom 21. August und 9. Oktober in Neumünster als herausragend zu bezeichnen. Am 27. März fand in Lübeck wiederum anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Lübecks durch die britische Luftwaffe im März 1942 ein von Rechtsextremisten angemeldeter Aufzug mit dem Thema "Bomben für den Frieden? Im Gedenken an den alliierten Bombenterror vom 28/29. März 1942" statt (siehe dazu unter Kap. II 4.6). Dagegen wurden mehrere "antifaschistische" Gegendemonstrationen durchgeführt. In erster Linie hatte sich wie auch in den letzten Jahren eine vielschichtige Unterstützerplattform aus Kirchenvertretern, Gewerkschaften, Parteien, bürgerlichen und extremistischen Gruppierungen zu dem Bündnis "Wir können sie stoppen" zusammengeschlossen, das von führenden Aktivisten der linksextremistischen Gruppe "Avanti - Projekt undogmatische Linke" (Avanti) maßgeblich beeinflusst worden ist. Neben etlichen, auch überregional stattgefundenen Vorbereitungstreffen wurde im Internet - auf einer speziell eingerichteten Sonderseite - monatelang intensiv für die Gegenkundgebung und die Blockaden geworben. Im dortigen Aufruf wurden Protestund Blockadeaktionen des gesamten Spektrums angekündigt. Konkret ging es um 60 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 vier Blockadepunkte, die die gesamte Strecke des rechtsextremistischen Aufzugs blockieren sollten. Selten gab es eine so offene Haltung für "Aktionen des Zivilen Ungehorsams". Dabei ist der Übergang vom "zivilen Ungehorsam" zur Begehung von Straftaten häufig fließend und für die Teilnehmer nicht immer klar erkennbar. Das zeigte sich u.a. auch in der veröffentlichten "Lübecker Erklärung" - eine Absichtserklärung zu Massenblockaden -, in der zahlreiche Menschen aus unterschiedlichen Initiativen, Verbänden und Parteien erklärten: " Wir sind entschlossen, den Aufmarsch der Nazis zu verhindern. Wir sind solidarisch mit allen, die dieses Ziel mit uns teilen. Wir wollen das in gemeinsamen und gewaltfreien Aktionen erreichen. Wir werden den Nazis mit Blockaden zeigen, dass wir sie weder in Lübeck noch anderswo dulden." Nach außen hin wurde dabei zwar grundsätzlich eine "gewaltfreie Blockade" propagiert, um möglichst viele Teilnehmer aus dem bürgerlichen Spektrum gewinnen zu können. Die in dem großen Bündnis dominante, nach außen moderat auftretende Lübecker linksextremistische Organisation Avanti machte auf ihrer Internetseite jedoch deutlich, dass dies "...keine Distanzierung von Gruppen und Antifaschisten ist, die weitergehende Aktionsvorstellungen haben, sondern lediglich die Aktionsvereinbarung für die genannten 4 Blockadepunkte beschreibt. Die Solidarität wird ausdrücklich allen Antifaschisten versichert, die das Ziel der Verhinderung des Aufmarsches teilen." In einem anderen Flugblatt autonomer Gruppen unter dem Motto "Mut zur Lücke" wurde sogar dazu aufgerufen, "die statische Lage der Polizei ins Wanken zu bringen, indem wir mit unseren unterschiedlichen Mitteln Lücken schaffen, welche die Polizeileitung dazu zwingt, den Naziaufmarsch zu beenden. Machen wir es der Polizei unmöglich, einen Naziaufmarsch durchzuboxen. Zeigen wir praktische politische Handlungsfähigkeit und knüpfen somit an frühere erfolgreiche antifaschistische Praxis an." Schon Wochen vor dem Veranstaltungstermin gab es diverse öffentliche Aktionsund Blockadetrainings, bei denen Teilnehmer verschiedene Techniken, wie den "Vie61 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode rerblock oder die Klammerkette" kennen lernten. Theoretisch und praktisch wurden die Teilnehmer eingewiesen in die Durchführung von Sitzblockaden, das Durchbrechen und Umlaufen von Polizeiketten und in Verhaltensweisen gegenüber der Polizei bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs. Die Gesamtanzahl der Gegendemonstranten bewegte sich bei rund 2.000 Teilnehmern, die nicht nur aus Schleswig-Holstein, sondern auch aus Hamburg, Niedersachsen, Bremen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und sogar Dänemark kamen. Bereits am frühen Morgen versuchten autonome Störergruppen in unterschiedlicher Größenordnung die Polizeiabsperrungen zu durchbrechen. Es wurden Flaschen und Steine auf eingesetzte Polizeikräfte geworfen. Der Versuch, auf den Start des rechtsextremistischen Aufzugs einzuwirken, gelang zwar nicht. Stattdessen wurden im gesamten Stadtgebiet verschiedene dezentrale "Ablenkungsmanöver" durchgeführt wie Containerbrände, Barrikadenbau und Beschädigung von etlichen Schaufensterscheiben, auch Pyrotechnik wurde eingesetzt. Dabei gelang es Autonomen gemeinsam mit gewaltfreien Teilnehmern und offenkundig unter Mithilfe vieler Anwohner, eine Blockadesituation herzustellen, die zur frühzeitigen Beendigung des rechten Aufzugs geführt hat. Eine weitere bedeutende Demonstration gegen Rechtsextremismus fand am 21. August in Neumünster statt (siehe dazu unter Kap. II 4.2). Für diesen Tag hatten schleswig-holsteinische Neonazis einen Aufmarsch zu Ehren Friedrich des Großen angemeldet. Dies diente jedoch nur als Vorwand, eine Ersatzveranstaltung für das seit einigen Jahren verbotene, in der rechtsextremistischen Szene bedeutsame Gedenken an den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess durchzuführen, dessen Todestag sich gleichzeitig mit dem Friedrichs II. jährt. Daraufhin mobilisierten antifaschistische Gruppen aus Schleswig-Holstein und das Neumünsteraner "Bündnis gegen Rechts" landesweit flächendeckend zu Gegenaktivitäten. Neben einigen stattgefundenen Vorbereitungstreffen wurde auf den lokalen, in der Szene bekannten Internet-Seiten und mittels Flyer intensiv für die Gegenkundgebung und die Blockaden geworben. 62 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Dabei betonten die Veranstalter laut Aufruf: "Wir werden diesem geschichtsrevisionistischen und NSverherrlichenden Aufmarsch nicht tatenlos zuschauen. Dort, wo Neonazis ihre Ideologie der Ausgrenzung und Unterdrückung, ihren Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus auf die Strasse tragen, werden wir ihnen mit aller Kraft und Entschlossenheit entgegentreten. Gemeinsam werden wir den Naziaufmarsch stoppen!" Die Bündnis-Kundgebung selbst verlief friedlich mit annähernd 100 Teilnehmern aus dem überwiegend bürgerlichen Spektrum. Davon unabhängig versammelten sich ca. 350 linksextremistische Autonome, die bereits morgens um 8 Uhr alle rechten Zwischenkundgebungsorte blockierten, an mehreren Stellen des rechten Marschweges kurzfristig Blockaden probten bzw. vorbereiteten und Papiercontainer in Brand setzten. Als dann der überwiegende Teil der Teilnehmer des rechten Aufzugs geschlossen mit der Bahn anreiste, war durch das hoch aggressive Agieren der linken Szene nicht zu gewährleisten, den geplanten rechten Aufzug ohne erhebliche Störungen durchzuführen. Die angemeldete Veranstaltung der Neonazis wurde für beendet erklärt. Im Umfeld dieses Geschehens kam es im Stadtgebiet Neumünster zu vereinzelten Links-/Rechtsauseinandersetzungen, die zum Teil zu Festnahmen führten. Schließlich fand am 9. Oktober dann in Neumünster anlässlich des 14. "Club 88"Geburtstages eine "antifaschistische" Demonstration unter dem Motto "Club 88 schließen" statt. Die bundesweit bekannte und von Rechtsextremisten frequentierte Gaststätte "Club 88" stellt seit Jahren nicht nur in der linksextremistischen Szene ein ständiges Reizobjekt dar, sondern wird auch vom überwiegenden Teil der Neumünsteraner Bevölkerung nur missbilligend geduldet. In den letzten Jahren fanden immer wieder Demonstrationsveranstaltungen der linken Szene anlässlich des "Club 88"Geburtstages statt. Im Berichtsjahr hatte ein breites Bündnis aus bürgerlichen und demokratischen Gruppierungen zu der Demonstration aufgerufen; jedoch waren auch wieder etliche Linksextremisten beteiligt. 63 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Dabei beabsichtigten die Veranstalter laut Aufruf "rassistischen Provokateuren und Nazis die Stirn zu bieten, ihnen ihren Spielraum zu nehmen und vor allem entschlossen gegen sie anzugehen". Den 14. "Club 88"-Geburtstag nahmen sie zum Anlass, "Nazistrukturen in Neumünster zu thematisieren und ihnen praktisch keinen Raum zum Zelebrieren ihrer Ideologie zu lassen." Das Ziel seit der ersten Demonstration sei es, "den Club 88 und die lokalen Nazistrukturen in Neumünster auf den Müllhaufen der Geschichte zu schicken". Auch in diesem Jahr wurde der Demonstrationsaufruf mit dem Titel "Nazistrukturen konsequent angreifenbrauner Ideologie bunt entgegen!" auf diversen linksextremistischen Internetseiten aus Schleswig-Holstein eingestellt, es fanden jedoch nur wenige Vorbereitungstreffen statt, Flyer und Plakate sind gar nicht gedruckt worden. Vor dem Hintergrund, dass die rechtsextremistische Szene den Geburtstag des "Club 88" im Gegensatz zu den Vorjahren nicht für eine eigene Veranstaltung nutzte, verlief die Veranstaltung mit insgesamt 180 Teilnehmern friedlich und ruhig. Schon im Vorwege kam es zu kaum erkennbarer Mobilisierung in Schleswig-Holstein. 3.2 "Anti-Repression" "Anti-Repression" gehört zu den klassischen Aktionsfeldern von Linksextremisten. Der vermeintlich "repressive Staat" und seine Institutionen werden strikt abgelehnt. In diesem Zusammenhang werden zunehmend direkter auch "Vertreter des Repressionsapparates" als Ziel der Auseinandersetzung angesehen. Als solche gelten in der linksextremistischen Szene insbesondere Angehörige der Polizei. Das Einschreiten der Polizei nach begangenen Straftaten oder im Rahmen von Demonstrationen wird als "Repression" empfunden. Darüber hinaus wurden auch weitere "Vertreter des 64 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 repressiven Staates" zum Ziel; hier kam es zu Fahrzeugbränden und Farbschmierereien an Wohngebäuden. Festzuhalten ist, dass die linksextremistische Szene auch im Aktionsfeld "Anti-Repression" zunehmend mit Gewalt agiert. Im letzten Jahr wurde das Thema "Anti-Repression" in Schleswig-Holstein mehrfach aufgegriffen - u.a. im Zusammenhang mit der Innenministerkonferenz der Länder in Hamburg im Herbst 2010. In diesem Zusammenhang wurden mehrere Anschläge gegen Hausfassaden und Autos verschiedener Politiker verübt. Die Verfasser des entsprechenden Selbstbezichtigungsschreibens begründen die Anschläge: "wenn sich im november die akteure der sogenannten inneren sicherheit treffen, wollen wir nicht nur zusehen, sondern schon jetzt unseren teil für eine gelungene veranstaltung beitragen." Bereits im Zusammenhang mit der im Frühjahr in Hamburg stattgefundenen Innenministerkonferenz, wurden Autos einer mit der Bundeswehr in geschäftlicher Beziehung stehender Firma in Brand gesetzt und eine nicht besetzte Polizeiwache mit Farbe, Buttersäure und Pflastersteinen beschädigt. 3.3 "Anti-Militarismus" Im Aktionsfeld "Anti-Militarismus" agitiert das linksextremistische Spektrum vorwiegend gegen die "Militarisierung der Gesellschaft", die Bundeswehr und ihre Auslandseinsätze. Dabei richten sich Aktionen aber auch gegen Unternehmen und Einrichtungen, die Dienstleistungen für die Bundeswehr erbringen. Nach Auffassung von Linksextremisten strebt das kapitalistische System zur Sicherung und zum Ausbau seines Wohlstands und Friedens national wie auch international nach einer Vergrößerung seiner Einflusssphäre durch "Raubbau und Unterdrückung" in der Welt. Dafür stelle die Bundeswehr ein wichtiges Instrument dar. Vor diesem Hintergrund werden antimilitaristische Proteste und Aktionen regelmäßig mit der Forderung nach Überwindung des bestehenden politischen Systems und der Abschaffung jeglicher Herrschaftsstrukturen verbunden. Für Linksextremisten ist dar65 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode über hinaus die Solidarität mit ihrer Meinung nach unterdrückten Völkern und deren revolutionären Freiheitsbewegungen ein wichtiger Anknüpfungspunkt. Zu Beginn des letzten Jahres war bekannt geworden, dass das jährliche Treffen des "Celler Trialogs" nicht - wie bisher - in Niedersachsen stattfinden sollte, sondern in Schleswig-Holstein. Das geplante Treffen von Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Bundeswehr im September in Kiel war Anlass für Teile der linksextremistischen Szene, das "Kieler antimilitaristische Bündnis gegen den Celler Trialog" ins Leben zu rufen. Ziel war die Vorbereitung von und die Mobilisierung zu Protesten: "Als antimilitaristisches Bündnis gegen den Celler Trialog haben wir uns gegründet, um den Protagonisten (...) sowie weit wie möglich in ihr Handwerk zu pfuschen und wirksame Proteste gegen das alljährliche Treffen zu organisieren." Die Absage des geplanten Treffens im Sommer 2010 wurde in der Szene verhalten aufgenommen. An ihrer Agitation gegen Kiel als "Rüstungsund Militärstandort" hat die Szene festgehalten. "Dass herrschende Politik der Parole "Trialog versenken" soviel Eigeninitiative entgegenbringt, kann von uns natürlich mit einem Augenzwinkern nur begrüßt werden. (...) Kiel bleibt auch ohne Trialog als Rüstungsund Militärstandort prädestiniert für antimilitaristische Politik. Wir werden keine Ruhe geben, die militaristischen Verhältnisse und ihre KriegstreiberInnen mit unseren Widerstand zu belästigen und an die erfolgreiche Arbeit anzuknüpfen!" Unter dem Motto "Kiel ist Kriegsgebiet" finden in Schleswig-Holstein seit 2003 sog. "antimilitaristischen Stadtrundfahrten" und friedliche Demonstrationen "für die sofortige Rückkehr aller Soldaten" bzw. "Gegen die Militarisierung der Gesellschaft" statt. Am 12. August 2010 störten Aktivisten eine Gelöbnisfeier der Marine in Büsum. Weiter wurde am 28. August 2010 in Laboe versucht, eine Veranstaltung des Deutschen Marinebundes mit einem unangemeldeten "Trauerumzug" unter dem Motto "antimilitaristisches Gedenken an die auf See gebliebenen Piraten der Weltmeere" zu stören. Des Weiteren sind im Berichtszeitraum wieder Berufsinformationsveranstaltungen der Bundeswehr gestört worden. Die Scheibe eines Job Centers wurde beschädigt und eine Wand mit dem Schriftzug "Bundeswehr abschaffen!" beschmiert. Gegen die 66 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Bundeswehr direkt richteten sich mehrere schwere Brandstiftungen und Sachbeschädigungen. Betroffen waren auch Unternehmen, die die Bundeswehr logistisch unterstützen oder die angeblich vom Afghanistankrieg profitieren. Ebenso kam es in diesem Zusammenhang zu Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen und Farbschmierereien an Wohngebäuden von Mitgliedern des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages auch aus Schleswig-Holstein. Autoren eines Selbstbezichtigungsschreibens beschreiben sie als "Fachmänner und Fachfrauen für den Krieg". 3.4 "Anti-Atom" Nach 2008 waren für Anfang November der Transport von Castoren aus der Wiederaufbereitungsanlage im französischen La Hague in das niedersächsische Zwischenlager Gorleben angekündigt. Aufgrund politischer Entscheidungen zu einer Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken in der Bundesrepublik bestand nach Szeneeinschätzungen die Chance, Massenproteste mit bundesweiter Beteiligung in einer Größenordnung wie bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 herbeiführen zu können. Es wurde das Ziel verfolgt Gleise und Zufahrten zu blockieren und Bahnschienen durch die Entfernung des Schotters aus den Gleisbetten - das sog. "Schottern" - unbrauchbar zu machen. Hierzu hatte das linksextremistische Netzwerk "Interventionistische Linke" (IL), zu der auch die in Schleswig-Holstein aktive linksextremistische Organisation "Avanti - Projekt undogmatische Linke" (Avanti) gehört, dezidiert das "Schottern" propagiert. Es wurde zur Teilnahme aufgefordert, einschlägige "Anleitungen" publiziert und entsprechende Mobilisierungsund Trainingstermine organisiert. "Gemeinsam mit Euch, zusammen mit Hunderten, Tausenden von Menschen, wollen wir in der Aktion Castor Schottern! Steine aus dem Gleisbett räumen, wenn der nächste Transport mit Castoren ins Wendland rollt (...) Wir denken, es ist an der Zeit die eingefahrenen Wege massenhafter Blockaden noch einen Schritt weiterzugehen. (...) Dann sagen wir nicht mehr: ich will nicht, dass der Transport fährt. Dann sorgen wir dafür, dass er nicht rollen kann." 67 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Im Aufruf des anarchistisch ausgerichteten Netzwerkes "x-tausendmal quer" wurden "gewaltfreie Sitzblockaden" als "Aktion zivilen Ungehorsams" dargestellt, um den Castor-Transport zu stoppen. "Das Aktionstraining gibt Euch das Handwerkzeug um Situationen einzuschätzen und selbstverantwortlich handeln zu können." An den "Schotter-Aktionen" nahmen bis zu 7.000 Personen teil, an Blockierungen von Zufahrtstraßen und Ankettaktionen beteiligten sich bis zu 2.000 Demonstranten. Die Teilnehmerzahlen der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 konnten zwar nicht erreicht werden. Das erklärte Ziel, den Transport zu verzögern, "die Kosten für den Transport in exorbitante Höhen (zu) treiben" und das Medieninteresse zu steigern, wurde aus Sicht der Organisatoren erfüllt und die Proteste als Erfolg gewertet. Dennoch hatte sich die linksextremistische Szene umfänglichere Profilierungsmöglichkeiten erhofft. Ein Pressesprecher der auch von Linksextremisten getragenen Kampagne "Castor? Schottern!" schreibt in einem Artikel zur weiteren Strategie der Kampagne: "Wenn aber der zivile Ungehorsam tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, dann darf sich eine radikale Linke damit nicht zufrieden geben. Sie muss aktiv daran arbeiten, die Grenzen dieser Aktionsform zu verschieben. Sie muss dafür sorgen, dass entschlossene und weitergehende Eingriffe in die Regeln des kapitalistischen Alltagswahnsinns gesellschaftlich akzeptiert werden." 3.5 "Anti-Sozialabbau" Linksextremisten sehen bei Personen, die von den Reformen des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarkts betroffen sind, nach wie vor ein Mobilisierungsund Rekrutierungspotenzial. Sie sind weiterhin bestrebt, die Proteste agitatorisch und aktionistisch für ihre Ziele zu nutzen. Neben den Demonstrationen in Berlin und Frankfurt/Main unter dem Motto "Wir zahlen nicht für eure Krise!" riefen die Organisatoren bereits im Jahr 2009 dazu auf, 2010 auf lokaler Ebene Bündnisse zu bilden und zu dezentralen Aktionstagen aufzu68 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 rufen. Dem schleswig-holsteinischen Bündnis "Gerecht geht anders - Wir zahlen nicht für Eure Krise!" gehören neben einer Vielzahl nicht extremistischer Organisationen des bürgerlichen Lagers auch die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP), die der DKP nahe stehende "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) wie auch die extremistisch beeinflusste "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) an. Vor diesem Hintergrund fanden im Jahr 2010 in verschiedenen Gemeinden Schleswig-Holsteins unter den Motti "Gerecht geht anders" oder "Die Verursacher und Profiteure der Krise blockieren!" friedlich verlaufende Demonstrationen statt. In Lübeck gab es wieder regelmäßige Demonstrationen gegen die "Hartz-IV-Reformen". Davon unabhängig wurden im Jahre 2010 an verschiedenen Filialen der Arbeitsagentur Sachbeschädigungen verübt. In einem Selbstbezichtigungsschreiben erklären die Autoren, man habe die Job-AG in ihrer Funktion als "Leiharbeitsfirma" angegriffen. Die Autoren kritisierten, dass die Hartz-IV-Empfänger als "Zwangsarbeiter bei Leiharbeitsfirmen" zur doppelten Maximierung der Profite beitragen würden. Sowohl die ausleihende als auch die verleihende Firma würden von der Arbeit profitierten, wobei die Betroffenen jedoch nur einen sehr viel geringeren Lohn als die Stammbelegschaft erhalten würden. Andere Sachbeschädigungen wurden "mit der Stärkung der militanten Seite des sozialrevolutionären Widerstandes gegen den von Staat und Kapital vorangetriebenen Klassenkampf von oben" begründet. Allerdings konnte die linksextremistische Szene in Schleswig-Holstein im Berichtszeitraum trotz mancher Aktionen keines der Themen im Bereich "Anti-Sozialabbau" prägend für sich einnehmen. 69 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 3.6 Kampagne gegen die Innenministerkonferenz der Länder in verschiedenen Aktionsfeldern Die Protestvorbereitungen gegen die Innenministerkonferenz der Länder (IMK) im November 2010 in Hamburg erlangten für die linksextremistische Szene eine große Bedeutung. Im Juni wurde erstmalig mobilisiert und dazu aufgerufen, "sich selbständig Aktionen auszudenken, sich zu beteiligen und Hamburg unsicher zu machen!" Die IMK hatte sich als Grundlage für gemeinsame Proteste auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners "Antikapitalismus" angeboten. Damit wurde der Gedanke der "Vernetzung" der linksextremistischen Szene, aufgenommen zu den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007, fortgeführt. Ziel war es, die eigene politische Bedeutung über die Szene hinaus zu steigern. Nach den - aus Sicht von Linksextremisten - erfolgreichen Protesten 2007 wurde nach einer beständigen thematischen "Klammer" in der linksextremistischen Szene gesucht. Mit der IMK hat die Szene eine "Plattform" gefunden, die klassische autonome Themenfelder wie "Anti-Faschismus", "Anti-Rassismus", "Anti-Repression" und "Anti-Militarismus" abdeckt und damit für Planung, Mobilisierung und Durchführung gemeinsamer Proteste und Demonstrationen dienen kann. Thematisiert wurde von einem "Bündnis gegen die Innenministerkonferenz" die ihrer Meinung nach rassistische und repressive Politik des Staates. In einem Aufruf "Hamburg unsicher machen - IMK versenken" schreiben die Autoren: "Auch wenn wir untereinander Widersprüche haben, verbindet uns ein antikapitalistischer Politikansatz. Auf dieser Grundlage sehen wir die IMK als Ausdruck des politischen und ökonomischen Systems. Das Treffen der Innenminister soll Kontrolle und Repression im Sinne von Systemstabilität und Verwertungssicherheit weiterentwickeln und optimieren. Unsere Kritik an der IMK ist synonym mit einer Kritik an Herrschaft, an Machtund Gewaltstrukturen. Unser Protest gegen staatliche Repression und autoritäre Ideologien im Inneren ist auch Protest gegen ein weltweites kapitalistisches Ausbeutungsund Unterdrückungssystem. Nur eine herrschaftsfreie Gesellschaft kann ein gerechtes Zusammenleben möglich machen." 70 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Nach Meinung der Autoren zu den Protesten gegen die IMK finde durch die Einbeziehung der Bundeswehr im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit eine zunehmende Militarisierung nach innen statt. "In der Logik der aktuellen Sicherheitsdoktrin, die Freiheit (dieses Systems) würde auch am Hindukusch mit einem entsprechenden Kriegseinsatz in Afghanistan verteidigt, wird die BRD zum Rückraum einer kriegsführenden Bundeswehr. Innere und äußere Sicherheit verschmelzen zu einem einzigen Begriff und Ausnahmeund Normalzustand nähern sich als Verhältnisse immer mehr aneinander an." Die Demonstrationen zur IMK verliefen weitgehend friedlich. Die der IMK nach den Vorstellungen der linksextremistischen Szene vorgeschaltete "No-IMK-Aktionswoche" wurde sowohl von autonomen Bündnissen als auch von nicht extremistischen Gruppen organisiert. Schwerpunkte waren die Flüchtlingspolitik sowie soziale Umstrukturierungsprozesse und ihre Auswirkungen. Im Rahmen dieser Aktionswoche kam es zu Sachbeschädigungen. Im Aufruf zur Auftaktdemonstration am 13. November 2010 wurde propagiert: "Die IMK beschäftigt sich hauptsächlich mit repressiven Themen wie rassistischen Sondergesetzen, "Terrorbekämpfung" und Ausbau des Überwachungsund Kontrollapparates. Unter den bisherigen Beschlüssen der IMK waren viele der rassistischen Sondergesetze (...)." Autonome sehen die Ursache für Rassismus in der angeblich von Klassengegensätzen, Ausbeutung und Unterdrückung geprägten kapitalistischen Gesellschaft. In entsprechenden Publikationen wird beschrieben, dass Europa zur Wirtschaftsmacht ausgebaut werde und all jene abschiebe, die nicht der "Profitgier der kapitalistischen Verwertungspolitik" entsprechen würden. Flüchtlingen würde es möglichst schwer gemacht, in die EU-Staaten einzureisen. Im Vorfeld einer "Anti-Repressions-Demonstration" im Dezember 2007 in Hamburg wurde von einem "AK out of control" das gleichnamige Konzept vorgestellt. Nach Meinung der Verfasser sei es mittlerweile gängige Praxis von staatlichen Organen, neben Verfahren nach SS129 Strafgesetzbuch und Razzien in linken Projekten, De71 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode monstrationen, als originäres Mittel des politischen Protestes, "mit immer mehr Problemen zu behaften". Das Konzept "out of control" zielt auf ein verändertes Verhalten bei Demonstrationen ab. Erprobt wurde es erstmals bei einer Demonstration Ende 2007. Durch störende Ablenkungsmanöver im Rücken der begleitenden Polizeikräfte war beabsichtigt, dem Demonstrationszug für "offensive Aktivitäten Freiräume zu verschaffen". Dieses auf Wechselwirkung basierende Konzept zielte darauf ab, die als "staatliche Repression" empfundene "Praxis der Spaliere, Auflagen und Wanderkessel" bei früheren Demonstrationen zu durchbrechen. Das Konzept "out of control" sei vielfältig und durch kreative Aktionen umgesetzt worden, resümierten Vertreter der linksextremistischen Szene anschließend. Die Praxis zeigte jedoch, dass das gewünschte Ziel der Szene, durch eine Wechselwirkung mit dem Demonstrationszug neue "Freiräume" zu schaffen, nicht erreicht worden war. Im Zuge der Protestplanungen gegen die IMK im November 2010 wurde das Konzept in ein der Stadt angepasstes Konzept "jump and run" gewandelt. Die Demonstranten sollten sich in Kleingruppen "in gedachten Linien" durch die Innenstadt bewegen und anschließend wieder zusammen treffen, um so der "repressiven Begleitung" zu entkommen. In der Szene wurde das Konzept "jump and run" folgendermaßen beschrieben: "Städte sind nicht nur durchzogen von Mauern und Straßen, sondern auch von Repression. Wir wollen diese Sicherheitsarchitektur unterwandern und sichtbar machen (...). In Folge des G8 Gipfels wurde (...) das "Out of Control"-Konzept entwickelt (...). Das Konzept setzte darauf Polizeispaliere, ins Leere laufen zu lassen, indem sich Teile der Demo bewusst außerhalb dieser und abseits der Demo bewegen. Mit "jump and run" wollen wir nun im Zusammenhang der Proteste gegen die Innenministerkonferenz alle einladen, dieses Konzept weiterzuentwickeln und sich aktiv zu beteiligen (...) als aufgefächerter Schwarm in gedachten Linien durch die Hamburger Innenstadt bewegen und anschließend wieder treffen. Die frei werdenden Aktionsräume durch Auffächerung von Aktivist_innen und das daraus resultierende visuelle Chaos sind ein symbolisches Mittel, um repressive Versuche der räumlichen Kontrolle zu untergraben." Im Anschluss an die Proteste zur IMK äußerten sich einzelne Vertreter der linksextremistischen Szene zur Umsetzung des Konzeptes z.B. wie folgt: 72 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 "Das Konzept hat super funktioniert (...) die meisten (fanden) zum nächsten Treffpunkt. Die Cops hingegen waren schwer irritiert und genervt, weil sie nicht wussten was wir vorhaben. - ("Wo laufen sie denn?")." Daran wird deutlich, dass vermeintlich erfolgreiche "gemeinsame Aktionen" für die Szene nach wie vor eine hohe Bedeutung zur Stärkung ihres autonomen Selbstverständnisses und des Zusammengehörigkeitsgefühls in und mit der Szene haben. 4 Aktionsform "Gewalt" Nachdem in den vergangenen Jahren eine Zunahme der Anzahl politisch links motivierter Straftaten in Schleswig-Holstein festzustellen war, hat sich diese Entwicklung im letzten Jahr nicht fortgesetzt. Im Vergleich zum Vorjahr war ein Rückgang zu verzeichnen; die Straftaten lagen geringfügig unter dem hohen Niveau der Jahre 2008 und 2007. Linksextremistische Gewalttaten bilden eine Teilmenge der linksextremistischen Straftaten insgesamt. Auch bei den linksextremistischen Gewalttaten konnte im Vergleich zu den Vorjahren keine weitere Zunahme festgestellt werden. Die Anzahl der Gewalttaten lag im Jahr 2010 zwar leicht unter der des Vorjahres, aber immer noch deutlich über der der Jahre 2008 und 2007. Das Personenpotenzial im Phänomenbereich Linksextremismus in SchleswigHolstein zeigt korrespondierende Entwicklungen. Dem linksextremistischen Spektrum waren 2010 unverändert rund 830 Personen zuzurechnen. Davon können wiederum wie 2009 rd. 330 Personen dem gewaltorientierten linksextremistischen Spektrum zugeordnet werden. Der weiterhin hohe Anteil gewaltorientierter Linksextremisten innerhalb des ansonsten stagnierenden Spektrums deutet auf ein unverändert hohes Maß der Gewaltorientierung innerhalb des Linksextremismus hin. Gewaltorientierte Linksextremisten sind vor allem dem autonomen Spektrum zuzurechnen. Darin spiegelt sich auch das Grundverständnis der undogmatischen linksextremistischen Szene wieder, die die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer 73 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Ziele für legitim oder sogar für ein unverzichtbares Mittel hält. Bei diesem Personenkreis ist von der persönlichen Bereitschaft auszugehen, in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner Gewalt anzuwenden, Gewalthandlungen zu unterstützen oder solche Handlungen zu tolerieren. Wenn auch in Schleswig-Holstein keine besonderen örtlichen Schwerpunkte linksextremistischer Gewalt zu nennen sind, war jedoch zu beobachten, dass linksextremistische Gewalt an Orten zu finden ist, an denen entsprechende linksextremistische Szenen bereits entwickelt sind. In der Tendenz waren davon im Berichtsjahr vor allem urbane Räume betroffen. Eine Besonderheit stellt dabei Lübeck dar. Hier nutzt auch das gewaltorientierte linksextremistische Spektrum alljährlich die Veranstaltungen zum Gedenken des Jahrestages der Bombardierung Lübecks durch die britische Luftwaffe im März 1942 als Agitationsbühne. Linksextremistische Gewalttaten waren überwiegend in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremisten zu beobachten. Die Aktivität der linksextremistischen Szene wurde dabei nicht unerheblich von der Präsenz und Aktivität der rechtsextremistischen Szene mitbestimmt. Hierfür hatten auch 2010 die - alljährlichen - Demonstrationen gegen Aktionen des rechten Spektrums im Zusammenhang mit Gedenkveranstaltungen des Jahrestages der Bombardierung Lübecks durch die britische Luftwaffe im März 1942 wieder eine große Bedeutung. In diesem Zusammenhang hat sich die Tendenz der Vorjahre verfestigt, dass neben Rechtsextremisten immer häufiger auch Polizisten zu "Angriffszielen" linksextremistischer Gewalt wurden. Letztere werden zunehmend als Vertreter des "Repressionsapparats", also der Staatsgewalt, wahrgenommen. Hier kommt die der Szene immanente Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols zum Ausdruck. Unabhängig davon zeigen "Events" wie die Aktionen in Lübeck, eine beachtliche Handlungsfähigkeit der Szene. Es besteht anlassbezogen eine hohe Mobilisierungsund Organisationsfähigkeit (siehe dazu unter Kap. III 2.1). Die Ablehnung des "Repressionsapparats" äußerte sich aber nicht nur in Gewalttaten gegenüber Polizisten. Es kam auch zu Gewalttaten durch Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen und Farbschmierereien an Wohngebäuden von Personen, die als Vertreter des "Repressionsapparats" angesehen werden; in diesem Fall Mitglieder des deutschen Bundestages, die ihren Wohnsitz in Schleswig-Holstein haben. 74 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Insgesamt zeigen diese Entwicklungen, neben der latent hohen Gewaltorientierung, auch die Bemühungen der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in Schleswig-Holstein, ihre Gewalt zunehmend differenzierter zur Entfaltung kommen zu lassen. Es werden Bündnisse mit nicht extremistischen Personengruppen gesucht, um so ein legalisiertes Handlungsumfeld für die eigenen Gewalttaten zu schaffen. Hierzu wird teilweise ein "taktischer Gewaltverzicht" formuliert, um mögliche Bündnisse und die damit erwarteten hohen Teilnehmerzahlen nicht zu gefährden. Zu Gewaltanwendungen kommt es im Umfeld der Demonstrationen dann aber häufig dennoch. Das Aktionsfeld "Antifaschismus" hatte hierbei eine besondere Bedeutung. Zusammenfassend sind verschiedene Erscheinungsformen linksextremistischer Gewalt zu erkennen. Gewalt wird klandestin - wie z.B. bei den genannten Kraftfahrzeugbränden -, konfrontativ - wie. z.B. in der direkten Auseinandersetzung mit Polizisten - und initialisierend ausgeübt. Bei Letzterer wird das Ziel verfolgt, auch Teile nicht extremistischer Personengruppen einer Veranstaltung zu Gewalttaten zu animieren. Aktuell liegen aber keine Anzeichen für den Übergang zu personenbezogenen Anschlägen vor. Es ist auch zukünftig von einer latent hohen Gewaltorientierung der linksextremistischen Szene auszugehen. Besondere Beachtung wird der Intensität der Gewalt und der Debatte um "Militanz" zukommen. Der Diskurs in der Szene reicht bei "Militanz" von "kämpferischer Grundhaltung" bis zu "gewalttätiger Aktion". 75 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 5 Mitgliederentwicklung der linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen in Schleswig-Holstein und Gesamtentwicklung im Bundesgebiet 2008 bis 2010 2008 2009 2010 Marxisten-Leninisten und sonstige revolutionäre Marxisten (dogmatischer Links500 500 500 extremismus) Gewaltorientierte undogmatische Links350 330 330 extremisten Gesamt Land 850 830 830 Gesamt Bund 31.200 31.600 32.200 76 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 IV. Extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug 1 Überblick "Es gibt Grund zur Sorge, aber nicht zur Hysterie." - So äußerte sich der Innenminister Klaus Schlie in einer Presseerklärung im November des Jahres 2010 bezüglich der möglichen Gefahr eines Anschlags durch islamistische Terroristen. Dieser Satz in Verbindung mit den sichtbaren Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zum Jahresende zeigen, dass der Islamismus und der damit verbundene islamistische Terrorismus immer noch zu den größten Bedrohungen für die innere Sicherheit des Landes Schleswig-Holstein und der Bundesrepublik Deutschland gehören. Der islamistische Terrorismus betrifft Deutschland nicht nur in seinen auswärtigen Belangen, wie etwa die deutschen Soldaten in Afghanistan, welche weiterhin Ziel islamistischer Anschläge sind. Die stärkere Bedrohungslage zum Ende des Jahres 2010 betraf auch Einrichtungen im Inland, speziell Orte mit größeren Menschenansammlungen, wie beispielsweise Kaufhäuser oder Bahnhöfe. Diese Situation wurde seitens der Sicherheitsbehörden ernst genommen und die Schutzmaßnahmen wurden verschärft, um mögliche Anschläge zu verhindern. Es müssen in Deutschland jedoch weiterhin etwa 1.100 Personen dem gewaltbereiten islamistischen Spektrum zugeordnet werden. In Schleswig-Holstein sind zwar einzelne Personen aus diesem Spektrum bekannt, es existieren hier darüber hinaus jedoch keine erkennbaren terroristischen Strukturen. Allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz, ereignete sich am Vormittag des 2. März 2011 ein Anschlag mit einem mutmaßlich islamistischen Hintergrund auf deutschem Boden. Der höchstwahrscheinlich als Einzeltäter handelnde Arid U. erschoss in einem Bus vor dem Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten und verwundete mindestens zwei weitere Personen. Auslöser war anscheinend ein Video, welches Gewalttaten von Angehörigen der US-amerikanischen Armee in Afghanistan zeigen soll. Bisher wird davon ausgegangen, dass U. sich im Internet selbst radikalisierte. Darauf deuten derzeit zumindest seine Kontakte beispielsweise bei "Facebook" hin, wo er u.a. in Verbindung mit Islamisten stand. Eine weitere Beurteilung ist aufgrund der 77 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode immer noch laufenden Ermittlungen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich. Allerdings lässt sich sagen, dass dem Internet wahrscheinlich auch in diesem Fall eine große Bedeutung zukommt. Es ist bereits seit geraumer Zeit vorrangiges Kommunikationsund Informationsmedium nicht nur von Islamisten und spielt vor allem bei Radikalisierungsprozessen bis hin zum Terrorismus eine immer entscheidendere Rolle. Doch nicht nur Deutschland, auch andere europäische Länder waren durch den islamistischen Terrorismus betroffen. So sprengte sich in Schweden in der Vorweihnachtszeit ein Selbstmordattentäter in die Luft, allerdings bevor er sein eigentliches Ziel, eine belebte Einkaufsstraße im Zentrum von Stockholm erreichen konnte, so dass außer ihm niemand getötet wurde. In Dänemark waren die bereits im Jahr 2005 veröffentlichten Muhammad-Karikaturen erneut Auslöser für einen Angriff auf den verantwortlichen Zeichner Kurt Westergaard sowie einen geplanten Anschlag auf die Zeitung Jyllands Posten, die die Karikaturen veröffentlichte. Die Gruppe "Al-Qaida im Magreb" (AQM) war für die Entführungen französischer und spanischer Staatsbürger verantwortlich, bei denen auch Tote zu beklagen waren. Und schließlich gelang es dem Al-Qaida-Ableger "Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH), Sprengstoff in der Luftfracht internationaler Speditionen unterzubringen, welcher jedoch vor der geplanten Explosion entdeckt und entschärft wurde. Diese Ereignisse aus dem Jahr 2010 machen die derzeitige Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus nochmals deutlich. Für diese islamistisch-terroristischen Vorfälle gibt es aus Sicht der Terroristen sicherlich eine Reihe von Begründungen. Ihren Ursprung haben Sie jedoch im Islamismus, einer extremistischen Auslegung des Islams. Dessen Anhänger sind lokal oder regional in Vereinen organisiert und weisen zum Teil auch bundesweite oder sogar internationale Strukturen auf. Sie vertreten und verbreiten eine Art und Weise der Religionsauslegung, welche in Teilen nicht mit der hiesigen freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar ist. Dies kann auf legalistischem Weg geschehen, d.h. es wird versucht auf politischem oder sozialem Wege Einfluss zu gewinnen, wie es etwa die der "Muslimbruderschaft" (MB) nahe "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) praktiziert. Es gibt aber auch Organisationen, welche in Deutschland zwar friedlich agieren, in ihren Herkunftsstaaten oder Regionen ihre Ziele jedoch gewalt78 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 sam durchsetzen, wie beispielsweise die auch in Schleswig-Holstein aktive, libanesische "Hizb Allah". Diese Gruppierungen schaffen ein Milieu, in dem desintegrative Tendenzen zum Tragen kommen und in welchem "westliche Prinzipien" wie die Demokratie und Teile der Rechtsordnung in Deutschland abgelehnt werden. In diesem oft von der Mehrheitsgesellschaft abgegrenzten sozialen Umfeld können schließlich Radikalisierungsprozesse stattfinden, beispielsweise nach einem persönlichen schicksalhaften Erlebnis. Diese Entwicklung kann schließlich dazu führen, dass islamistisch geprägte Personen in ein gewaltbereites Milieu geraten und dazu animiert werden, ihre Ziele und Vorstellungen durch gewaltsame Aktionen oder sogar Anschläge umzusetzen. Bei der islamistischen Strömung des Salafismus handelt es sich um eine Bewegung, welche gerade in der Rekrutierung neuer Sympathisanten und der Verbreitung ihrer Ideologie sehr erfolgreich ist. Salafismus ist unter anderem gekennzeichnet durch eine streng am Vorbild des Propheten Muhammads und dem "ursprünglichen Islam" ausgerichtete Lebensweise sowie einer aktiven Missionierung. Sie findet zum einen über so genannte "Wanderprediger" statt, wie etwa den deutschlandweit bekannten Pierre Vogel. Zum anderen werden über das Internet eine Vielzahl von Informationen zur salafistischen Lesart des Islams verbreitet, darunter Antworten auf religiöse und lebenspraktische Fragen oder Anleitungen zur Konversion. Durch die verwendeten Medien sowie die Art und Weise, in der sich die Salafisten äußern, erreichen sie verstärkt ein jugendliches Publikum sowie junge Erwachsene. Dieses sowohl in der Darstellung als auch in den Beiträgen immer professioneller werdende Auftreten ist übrigens nicht nur auf den Salafismus beschränkt. Auch Jihadisten haben in diesem Jahr in einer Reihe von Beiträgen, wie etwa Videoverlautbarungen oder Magazinen und Broschüren, gezeigt, dass auch sie das Internet immer professioneller nutzen. Neben den Salafisten ist im legalistisch-islamistischen Bereich vor allem die türkisch geprägte, "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG) in Schleswig Holstein aktiv. Sie ist mit mehreren hundert Mitgliedern und größeren Vereinen unter anderem in Kiel und Rendsburg vertreten. Die Organisation verfolgt basierend auf den Ideen des Gründers Necmettin Erbakan das Ziel eines islamisch geprägten, türkischen Reiches. Am 27. Februar 2011 verstarb der Begründer der türkischen "Milli Görüs"79 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Bewegung im Alter von 84 Jahren in Ankara. Vor seinem Tod hatte Erbakan mit der Übernahme des Parteivorsitzes der "Saadet Partisi" (SP) im Oktober 2010 versucht, die "Milli-Görüs"-Bewegung ideologisch wieder auf seine Linie einzuschwören. Mit seinem Tod hinterlässt Erbakan eine große Lücke, was seine Nachfolge betrifft. Auch die IGMG, der deutsche Zweig der Bewegung, wird sich neu orientieren müssen. Neben den islamistisch geprägten Organisationen mit Auslandsbezug gibt es in Deutschland natürlich auch eine Reihe von Gruppierungen, welche keinen Bezug zu einer Religion aufweisen. Zu den wichtigsten nichtreligiösen Gruppierungen mit Auslandsbezug zählen nach wie vor die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) und ihre Nachfolgeorganisationen. Sie ist die zahlenmäßig größte Gruppierung, welche auch in Schleswig-Holstein weitergehende Strukturen aufgebaut hat und über etwa 650 Anhänger im Land verfügt. Während die Organisation in der Türkei versucht, ihre Ziele gewaltsam durchzusetzen und sowohl militärisch agiert, als auch Anschläge verübt, sind die Aktivitäten in Deutschland und auch Schleswig-Holstein überwiegend friedlicher Natur. Allerdings kommen die in den hiesigen Vereinen gesammelten Spenden letztlich auch der PKK in der Türkei zugute und unterstützen die dortigen terroristischen Aktivitäten, weshalb sie weiterhin im Fokus der Sicherheitsbehörden steht. 2 Islamismus 2.1 Der Islamismus als Phänomen Wie an der aktuellen Entwicklung im Berichtsjahr 2010 deutlich wurde, gehört der Islamismus noch immer zu den größten Herausforderungen, mit denen die Bundesrepublik Deutschland umzugehen hat. Dabei sind nicht alle Islamisten per se gewaltbereit oder wenden gar Gewalt an. Aber sie bilden die Basis und liefern den ideologischen Nährboden für den islamistischen Terrorismus (Kap. IV 2.4), dessen Anhänger sich im Rahmen des politischen Islams radikalisieren und schließlich versuchen, ihre Ziele gewaltsam zu erreichen bzw. umzusetzen. Das gesamte islamistische Personenpotential in Deutschland und auch in Schleswig-Holstein ist gegenüber dem Jahr 2009 weiter angewachsen. Es stieg bundesweit leicht von 36.270 auf 37.469 Personen, wobei jedoch der größte Teil den nicht gewaltbereiten Organisationen zuzuord80 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 nen ist. In Schleswig-Holstein müssen etwa 600 Personen islamistischen Organisationen zugerechnet werden (2009: 585). 2.1.1 Begriffsbestimmung Islamismus als Form des politischen Extremismus ist zunächst klar von der Religion des Islams selbst zu unterscheiden. Der Islam sowie die gläubigen Muslime und ihre Religionsausübung stehen in keiner Weise im Fokus der Beobachtung und sind für den Verfassungsschutz auch nicht relevant. Bei dem Phänomen Islamismus handelt es sich um eine extremistische Form des Religionsverständnisses, bei dem versucht wird, den Islam als Ideologie aktiv in jede Sphäre des täglichen Lebens zu integrieren. Dies ist in Teilen problematisch, da die Aktivitäten nicht nur Einfluss auf das Privatleben der Islamisten haben, sondern auch auf die sie umgebende, nichtislamische Gesellschaft. Sie verfolgen u.a. das Ziel, dass vorherrschende politische System dahingehend zu ändern, dass es islamistischen Ansprüchen entspricht. Dies würde faktisch die Abschaffung der Demokratie und vieler der mit ihr verbundenen Rechte und Freiheiten bedeuten. 2.1.2 Ziele und Merkmale des Islamismus Beim Islamismus handelt es sich nicht um eine homogene Erscheinung, sondern um ein sehr breit gefächertes und vielfältiges Phänomen. Darum muss der Verfassungsschutz immer wieder neu konkret prüfen, ob es sich um islamische oder islamistische Wesensmerkmale handelt, zumal der Übergang von der Religion zum religiösen Extremismus oft in einer Grauzone liegt. Dies wird am Beispiel des Kopftuchs deutlich: Alle Islamisten fordern, dass Muslima ein Kopftuch tragen, aber nicht jede Kopftuchträgerin ist auch gleich eine Islamistin. Gemeinsam ist allen Erscheinungsformen des Islamismus, dass die Religion als verändert oder verfälscht wahrgenommen wird. Ziel aller islamistischen Strömungen ist 81 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode es daher, den ursprünglichen, reinen und wahren Islam wieder herzustellen. Das Vorbild, an dem sich hierfür orientiert wird, ist die Frühzeit des Islams, die Phase der Gründung um den Propheten Muhammad und dessen Gefährten. Damit einher geht die Bestrebung, die Religion in jede Sphäre des täglichen Lebens zu integrieren. Kompromisslos wird versucht, jede Aktivität und jeden Vorgang nach islamischen Vorschriften zu gestalten, wobei sich hier nach dem Ausspruch "al-islam huwa al-hal" - "Der Islam ist die Lösung" gerichtet wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass versucht wird, das islamische Recht (die Scharia) einzuführen und durchzusetzen. Dabei werden alle anderen Gesetze für ungültig erklärt. Dies wird im Text einer deutschsprachigen islamistischen Internetseite deutlich: "Da (...) Allah als der ultimative Gesetzgeber angesehen wird, ist die Ausführung eines säkularen Rechtssystems, welches nicht auf dem göttlichen Gesetz (Scharia) basiert, ein Akt des Unglaubens bezüglich der göttlichen Gesetze." Die Scharia ist jedoch in einer Reihe von Fällen nicht mit den universellen Menschenrechten der in Deutschland gültigen Rechtsordnung vereinbar, etwa bezüglich der Gleichberechtigung von Mann und Frau oder der Anwendung bestimmter im Islam vorgesehener Strafen. Außerdem besteht gleichzeitig die Bestrebung, einen islamischen Staat zu schaffen, der Heimat der islamischen Gemeinschaft (der Umma) werden soll. Faktisch läuft dies auf die Abschaffung westlich-demokratischer Strukturen hinaus und bringt einen weiteren Verlust von Rechten und Freiheiten mit sich. Dabei grenzen sich Islamisten auch stark von anderen Religionen, explizit dem Christentum und Judentum, ab. Auf einer anderen islamistischen Internetseite ist dazu zu lesen: "Jeder Gläubige sollte fest daran glauben, dass Juden und Christen Kuffar [Ungläubige] und Feinde Allahs (...) und der Mu'minuun [Gläubigen] sind." Das geschieht, obwohl der Islam eine Vielzahl von Elementen aus diesen beiden Weltreligionen aufgreift und sich selbst in der Nachfolge und Vollendung dieser Glaubensrichtungen sieht. Zudem genießen Juden und Christen als Schriftbesitzer (d.h. Besitzer einer Offenbarungsschrift, arab. ahl al-Kitab) eigentlich besondere Rechte innerhalb der islamischen Gemeinschaft. 82 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Zwei weitere wichtige Aspekte werden in diesem Zusammenhang von nahezu allen Islamisten diskutiert: Zum einen die Frage nach der allgemeinen Vereinbarkeit von westlichen Werten und Ideen (wie etwa Kapitalismus, Demokratie u.a.) mit dem Islam. Diese Frage wird in der Regel dahingehend beantwortet, dass diese Konzepte als unislamisch zurückzuweisen sind, wie an diesem Zitat einer islamistischen Zeitschrift deutlich wird: "Gesetze, die Demokratie, Kapitalismus, Kommunismus, Faschismus und Sozialismus vertreten, sind Gesetze der Götzen. Die erste Bedingung des [islamischen] Glaubens ist es, diese Gesetze nicht anzuerkennen und nicht zu befolgen (...)." Zum anderen ist dies die Ablehnung der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und Israel, welche in verschiedenen Verschwörungstheorien zu absoluten Feindbildern stilisiert werden. Begründet wird dies bezüglich der USA hauptsächlich damit, dass der Staat, neben seinem "aggressiven" Auftreten vor allem in islamisch geprägten Ländern wie dem Irak und Afghanistan, darüber hinaus all die "westlichen Werte" und Ideen verkörpert, welche als unislamisch abgelehnt werden. Zu "westlichen Werten" zählen für Islamisten u.a. der Materialismus, Atheismus oder der zu offene Umgang der Geschlechter miteinander. Auch die durch den 2008 gewählten Präsidenten der USA, Barack Obama, initiierte Politik der Annäherung an die arabische Welt konnte diese Wahrnehmung bisher nicht verändern. Die Feindschaft gegenüber Israel und die starken antijüdischen Ressentiments vieler Islamisten werden zum einen historisch begründet durch den Umgang des Propheten Muhammad mit den einstmals auf der arabischen Halbinsel beheimateten jüdischen Stämmen. Zum anderen werden sie genährt durch die aktuelle Politik des Landes gegenüber den Palästinensern. 2010 setzte Israel die Siedlungspolitik in Jerusalem und dem Westjordanland weiter fort, was vor allem zu Beginn des Jahres zu neuerlichen Spannungen nicht nur mit der palästinensischen Regierung sondern auch mit den USA führte. Darüber hinaus zeichnete sich im Dezember 2010 ab, dass das Land auch zukünftig Gelder für neue Siedlungen zur Verfügung stellen wird. Hierdurch sehen sich Islamisten in ihrer Kritik an Israel und ihrer antijüdischen Propaganda bestärkt. 83 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 2.1.3 Kategorisierung islamistischer Bestrebungen Neben den genannten Gemeinsamkeiten nahezu aller Islamisten unterteilen die Sicherheitsbehörden die Organisationen nochmals in drei Kategorien, die sich vor allem in ihrer Art und Weise der Rechtfertigung und Anwendung von Gewalt unterscheiden. Als größte Gruppe sind zunächst die Organisationen zu nennen, welche legalistischislamistisch tätig sind. Als solche versuchen sie über politische Einflussnahme für ihre Anhänger Freiräume zu schaffen, in denen islamistische Ziele umgesetzt werden können. Sie distanzieren sich dabei von der Rechtfertigung und Anwendung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung dieser Ziele und präsentieren sich als Interessenverbände der dauerhaft in Deutschland lebenden Muslime. Organisationen wie die auch in Schleswig-Holstein vertretene "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG, Kap. IV 2.5) oder die der "Muslimbruderschaft" (MB, Kap. IV 2.7) nahe stehende "Islamische Gemeinschaft in Deutschland" (IGD) schaffen mit ihrer Art der Religionsauslegung ein Klima unter ihren Anhängern, das desintegrativ wirkt und Radikalisierungsprozesse fördert. Vor allem mit ihren Kinderund Jugendorganisationen erreichen diese legalistischen Gruppierungen bereits auch junge Gläubige, welche dadurch umso empfänglicher für eine radikale oder extremistische Ideologie werden. An zweiter Stelle stehen regional agierende islamistische Gruppierungen. Diese versuchen zwar in ihren Herkunftsländern mit terroristischen Mitteln die Staatsordnung hin zu einem System auf der Grundlage der Scharia zu ändern. Sie wenden Gewalt jedoch in erster Linie als taktisches Mittel in ihrer Ursprungsregion an und verhalten sich in anderen Staaten, so auch in Deutschland, zurückhaltend und in der Regel friedlich. Doch auch in den als Rückzugsraum genutzten Staaten finden Unterstützungshandlungen für die gewaltsamen Aktivitäten in den Heimatländern statt. Dies widerspricht jedoch dem Grundsatz der friedlichen Völkerverständigung und den hier herrschenden demokratischen Prinzipien. Deshalb stehen diese Gruppierungen, wie etwa die auch in Schleswig-Holstein mit einzelnen Anhängern vertretene libanesischschiitische "Hizb Allah" (Kap. IV 2.8), ebenfalls unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. 84 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Als letzte Gruppe, von der gleichzeitig auch die größte Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, sind islamistische Terroristen zu nennen. Am bekanntesten und aktivsten ist immer noch die "al-Qaida" und ihre Ableger. Diese sehen Gewalt in den verschiedensten Formen als vornehmliches Mittel zur Umsetzung ihrer Ziele an und sind darüber hinaus nicht nur lokal begrenzt, sondern global aktiv, wie verschiedene Aktionen auch im Jahr 2010 demonstrierten. Sie propagieren den im Namen der Religion geführten, bewaffneten Kampf und werden deshalb auch als Jihadisten (Kap. IV 2.3) bezeichnet. Zusätzlich zu dieser groben Rasterung islamistischer Gruppierungen in legalistisch, gewaltbefürwortend und gewaltanwendend lässt sich ein weiterer Phänomenbereich ausmachen, der sowohl in Deutschland als auch in Schleswig-Holstein von zunehmender Bedeutung ist. Hierbei handelt es sich um den Salafismus. 2.2 Der Salafismus als Spielart des Islamismus 2.2.1 Zurück zu den Wurzeln: Die Dynamik des Salafismus Im Jahr 2010 hat die Einflussnahme durch Salafisten in Deutschland sowie in Schleswig-Holstein zugenommen. Einzelpersonen sowie Netzwerke aus dem salafistisch geprägten Milieu bleiben weiterhin im Fokus der Sicherheitsbehörden. In nahezu allen großen Städten Schleswig-Holsteins gibt es Hinweise auf Moscheen oder Gebetsräume, in deren Umfeld sich vermehrt Jugendliche und junge Erwachsene treffen, die salafistische Ideologieinhalte propagieren. Ihre Videos, Bücher und Texte sind vielfältig und können zwischen politisch-salafistischem und jihadistischsalafistischem Denken variieren. Politische Salafisten verfolgen das Ziel, durch intensive Propaganda und Missionierung einen islamischen Staat zu errichten, in dem ausschließlich die Gesetze Gottes gelten. Jihadistische Salafisten versuchen hingegen, die Errichtung eines islamischen Staates durch den gewaltsamen Kampf gegen "den Westen" durch Terroranschläge durchzusetzen. Die Grenzen zwischen diesen beiden Strömungen sind jedoch fließend. 85 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 2.2.2 Der Gegenstand Salafismus Unter Salafismus (arab. Salaf = Ahnen, Vorfahren) versteht man eine sunnitische Bewegung, die sich an einem idealisierten Bild von der Frühzeit des Islams im 7. und 8. Jahrhundert orientiert. Der Salafismus ist eine vom Wahhabismus geprägte, islamistische Ideologie. Wahhabismus Der Wahhabismus geht zurück auf Muhammad Ibn Abdalwahhab (1703-1792) und ist eine auf der arabischen Halbinsel entstandene Lehre. Es handelt sich um eine sehr konservative Lesart des Islams, die eine buchstabengetreue Auslegung des Korans als Grundlage hat. Der Wahhabismus lehnt jede andere Islamauslegung als die, die Muhammad und seine Anhänger in den Frühzeit des Islams vorgaben, als unerlaubte Neuerung ab. Wahhabismus ist die Staatsreligion Saudi-Arabiens und die einflussreichste ideologische Strömung innerhalb des Salafismus. Heute gewinnt der Wahhabismus auch in Europa immer mehr an Bedeutung. Salafisten richten ihre religiöse Alltagspraxis und Lebensführung ausschließlich nach dem Koran, dem Vorbild des Propheten Muhammad und den so genannten "rechtschaffenen Altvorderen" (arab. as-salaf as-salih) aus. So achten beispielsweise Salafisten beim Gebet genau darauf, Schulter an Schulter und Fußsohle an Fußsohle zu stehen bzw. zu knien. Dies soll dem Teufel die Möglichkeit nehmen, das Gebet zu stören und die Einheit der Gläubigen zu durchbrechen. Salafisten begründen diese Gebetshaltung damit, dass der Prophet Muhammad ebenfalls vor 1.400 Jahren so gebetet hat. Die Nichteinhaltung dieser Praxis ist für einen Salafisten ein schwerwiegender Verstoß gegen den Glauben. Lange Bärte, traditionelle Kleidung und weiße Häkelmützen können ebenso Anzeichen für Anhänger salafistischer Ideologie sein, da man sich auch hier am Vorbild des Propheten Muhammads orientiert. Doch es besteht auch die Gefahr der Pauschalisierung: nicht jeder Muslim, der sein Äußeres traditionell gestaltet, vertritt auch die salafistische Ideologie. 86 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Charakteristisch für Salafisten ist ihre wortgetreue Auslegung der islamischen Quellen (Koran und Sunna). Nach salafistischer Lesart sind das die einzigen Quellen, die auf alle Fragen des individuellen und gesellschaftlich-politischen Lebens eine Antwort bieten und höchste Autorität genießen. Salafisten sind der Überzeugung, dass alle Probleme im 21. Jahrhundert durch die Rückbesinnung auf den "wahren Islam", wie er vor 1.430 Jahren gelebt wurde, gelöst werden können. Die Herausbildung einer eigenen religiösen Meinung, vor allem bezüglich der Umsetzung neuer Vorgaben in einer modernen Gesellschaft, wird von ihnen als ketzerische Neuerung gesehen und strikt abgelehnt. Der strikte Monotheismus, das heißt die Einheit und Einzigartigkeit Gottes, ist ein weiterer zentraler salafistischer Glaubensinhalt. Danach ist außerdem Gott der einzig legitime und anerkannte Souverän und Gesetzgeber. Daraus folgt, dass die Scharia (das islamische Recht) eine von Gott in seiner Offenbarung gesetzte Ordnung ist und damit als göttliches Gesetz für immer Gültigkeit hat. Sie kann daher auch nicht menschlichen Erwägungen unterworfen werden. Auf einer salafistischen Internetplattform steht dazu: "Natürlich befürworten wir die Scharia als Rechtssystem, weil das ein wahrhaftiges Rechtssystem ist, welches ihre Bürger nicht belügt und ausbeutet. Ihr liebt Euer Demokratiesystem, eine reinste Katastrophe, die zum Scheitern verurteilt ist." Hier wird ebenso deutlich, dass Salafisten das Prinzip der Volkssouveränität ablehnen und es durch die absolute Souveränität Gottes ersetzten. Prinzipien wie Gewaltenteilung oder Parteienpluralismus sind nichtig und die Bildung einer politischen Opposition wäre nach salafistischer Meinung ausgeschlossen: "[...], dass ihr zu jenen gehört, die die anderen Menschen, unsere muslimische Geschwister auf dem Gewissen habt, und das alles, im Namen der Demokratie, Euer Rechtssystem. Das ist wahrlich ein Rechtssystem, welches Menschenleben opfert. Wisset, wir werden vor Gericht gehen, aber nicht vor dem Europäischen Gerichtshof für "Menschenrechte", sondern vor Allah [...] sein Gericht [...]." [sic] 87 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Mit der Ablehnung der Demokratie und dem Ziel der Einführung der Scharia stehen diese Kernelemente der salafistischen Ideologie im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 2.2.3 Politischerund jihadistischer Salafismus Der Verfassungsschutz unterscheidet beim Salafismus zwischen einer politischen und einer jihadistischen Strömung, wobei die Grenzen zum Teil fließend sind. Der politische Salafismus sieht die Missionierung als zentrale Pflicht an. Durch die Missionierung (arab. Da'wa, Einladung zum Islam) soll die Ideologie verbreitet werden, um langfristig politischen und gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Der salafistischen Missionierungsarbeit sind eine Vielzahl von Aktivitäten zuzuordnen. Dazu zählen etwa der Vertrieb salafistischer Publikationen, die teilweise kostenlos erhältlich sind, Informationsstände in Fußgängerzonen, Islamseminare und salafistische (Online-) Studiengänge sowie die "Wanderprediger", welche ihre Vorträge außerdem im Internet zur Verfügung stellen. Zielgruppe dieser salafistischen Missionare sind vor allem jüngere Personen, die auf der Suche nach der "wahren Religion" sind, unabhängig davon, ob sie konvertieren oder einfach nur ihren Glauben "erneuern" wollen. Da'wa Da'wa bedeutet wörtlich übersetzt "Ruf" und kann als eine "Einladung zum Islam" verstanden werden. Besonders Salafisten sehen es als ihre Pflicht an, andere Menschen über den Islam aufzuklären und sie zum Islam zu bekehren. So heißt es im Koran in Sure 16, Vers 25: "Ruf, die Menschen, mit Weisheit und einer guten Ermahnung auf den Weg deines Herrn und streite mit ihnen auf eine möglichst gute Art." Nach islamisch-theologischer Auffassung erfolgt der Aufruf zum Islam jedoch ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt. Der jihadistische Salafismus dagegen versucht sein Ziel durch die Anwendung von Gewalt zu realisieren. Die Übergänge zwischen diesen beiden Phänomenen sind fließend. Sowohl der politischeals auch der jihadistische Salafismus rezipieren die88 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 selben Autoritäten und Vordenker. Die religiös-dogmatischen sowie die angestrebten gesellschaftlichen Ziele sind bei beiden Gruppen gleich. Sie unterscheiden sich nur bei der Wahl ihrer Mittel, mit denen ihre Ziele verwirklicht werden sollen. Der größte Teil der salafistischen Strukturen und Einzelpersonen in Schleswig-Holstein ist jedoch dem politischen Salafismus zuzuordnen. 2.2.4 Radikalisierungsprozesse Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die salafistische Bewegung vorwiegend für junge Menschen, vor allem für die in Deutschland aufgewachsenen Muslime, die hier sozialisiert worden sind, attraktiv ist. Warum gerade der Salafismus die Jugend in Deutschland anspricht, bleibt in Teilen offen. Klar ist, dass zurzeit überwiegend Salafisten in Deutschland jugendgerecht oder "cool" und vor allem in deutscher Sprache über den Islam und die religiöse Praxis informieren und für die Religion werben. Dabei propagieren sie jedoch auch ihr salafistisches Weltbild, was den Radikalisierungsprozess fördern kann. Die Anschlagsvorbereitungen der Sauerlandgruppe im Jahr 2007 zeigten, dass es auch in Deutschland Personen gibt, die sich durch die salafistische Ideologie radikalisiert haben. Diese bezeichnet man als "home-grown"-Terroristen, von denen auch weiterhin einen hohe Gefährdung ausgeht. Die Mitglieder der Sauerlandgruppe sind in Deutschland aufgewachsen und schienen in die Gesellschaft integriert zu sein. Dennoch wendeten sie sich radikal-islamistischem Gedankengut zu und fühlten sich dazu berufen, Terroranschläge durchzuführen. "home-grown"-Terrorismus in Deutschland Zu den "home-grown"-Terroristen zählen überwiegend Personen, die in Deutschland aufgewachsen sind. Dabei kann es sich sowohl um Personen mit Migrationshintergrund als auch Konvertiten handeln. Trotz einer strukturellen Integration (regulärer Arbeitsplatz, Wohnung, aktives Vereinsleben) wenden sie sich, oft nach einer prägenden persönlichen Erfahrung, einer extremistischen Ideologie zu. Im Rahmen dieser Radikalisierung besuchen sie jihadistische Trainingscamps, etwa in Afghanistan 89 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode oder Pakistan. Diese Indoktrinierung kann schließlich dazu führen, dass diese Personen Anschläge im Ausland oder sogar in ihrem Heimatland durchführen. Der Radikalisierungsprozess kann in mehreren Phasen erfolgen. Die Vorradikalisierung findet dabei oft in einer extremistischen Moschee statt, kann aber auch im Kontakt zu radikalen Islamisten erfolgen. Auf der Suche nach einer eigenen oder neuen Identität löst sich die Person dabei von ihrem ursprünglichen sozialen Milieu und wendet sich immer stärker einem islamistischen Umfeld zu. Ausschlaggebend in dieser Phase ist das Wirken von Schlüsselpersonen aus dem salafistischen Spektrum, welche immer stärker im Rahmen der bereits beschriebenen, deutlich professioneller werdenden Internetauftritte ihren Einfluss entfalten. In der Indoktrinationsphase kann sich die Radikalisierung durch verschiedene Faktoren steigern: Der verstärkte Kontakt zu radikalen geistigen Führern sowie jihadistischen Internetseiten und Publikationen kann diese Phase prägen. Die letzte Phase, die Jihadisierung, ist erreicht, wenn die Person entschlossen ist, entweder am bewaffneten Kampf, etwa in Afghanistan oder Pakistan ("Jihad-Schauplätze"), teilzunehmen oder in ihr Heimatland zurückzukehren und dort Anschläge zu verüben. 2.2.5 Salafistische Ideologie im Internet Nach Einschätzung der Verfassungsschutzbehörden bleibt das Internet für Salafisten ein wichtiges und effektives Werkzeug, um ihre Ideologie zu verbreiten. Mit über fünfzig Millionen Internetbenutzern in der Bundesrepublik Deutschland ist das globale Netzwerk das meistgenutzte Informationsund Kommunikationsmedium. Bekannte salafistische Internetseiten, wie "Einladung zum Paradies" oder "Die Wahre Religion" nutzen es als Kommunikationsund Propagandamedium. Jeder kann bei der Weiterverbreitung von salafistischen Inhalten mitwirken und seinen Teil zur Missionierung bzw. Da'wa-Arbeit beitragen. Junge Muslime mit Migrationshintergrund und auch deutsche Konvertiten sind primär Zielgruppe der Salafisten im Internet. Sie vermitteln auch hier ein "geschlossenes" Weltbild, geben Unterweisungen zur religiösen Praxis und stellen Predigten zu theo90 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 logischen oder auch lebenspraktischen Fragen ein. Über Chats und Foren findet ebenso ein reger Informationsaustausch untereinander statt und es werden Termine für Vorträge oder Treffen abgestimmt, auf denen die Möglichkeit zur Konversion besteht. Daneben werden Download-Möglichkeiten von Text-, Audiound Videodateien sowie Informationen über Sprachaufenthalte bei bestimmten Instituten im Ausland geboten. In diesen Informationen kommt eine Intoleranz gegenüber "unislamischen" Verhaltensweisen sowie gegenüber anderen Religionen zum Ausdruck. Auch die starke Orientierung auf das Weiterleben der "richtigen" Muslime im "Jenseits" findet sich als prägendes Element wieder. Auf einigen Internetseiten können daneben "islamisch korrekte" Kleidung und Ritualgegenstände erworben werden. Salafisten bedienen sich ebenso allgemeiner sozialer Netzwerke, wie z.B. "Facebook" oder der Videoplattform "Youtube". Auch im Jahr 2010 hat der Verfassungsschutz SchleswigHolstein beobachten können, dass die Vorteile des Internets vermehrt von hiesigen Salafisten zur Werbung für ihre Moscheen oder Vereine genutzt werden. Deutschsprachige salafistische Prediger hielten im Jahr 2010 auch Vortragsund Seminarveranstaltungen in Schleswig-Holstein ab. Die anhaltend hohen Teilnehmerzahlen zeigen die Beliebtheit dieser Treffen. Die meisten Veranstaltungen können anschließend über Internetportale wie Youtube abgerufen werden. In den Veranstaltungen werden kaum aktuelle politische Themen debattiert. Vielmehr geht es um die korrekte Ausführung der religiösen Praxis, Religionsfragen im Alltag, Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft und die Forderung, den Islam ausschließlich nach Koran und Sunna zu leben. Die Mehrzahl der Besucher dieser Veranstaltungen sind gewaltlose - lediglich auf die Mission orientierte - Salafisten. Hier entwickelt sich allerdings die ideologische Grundlage bzw. ein Ausgangspunkt für eine mögliche Radikalisierung. Dies kann bis hin zur Befürwortung jihadistischer Ideen führen. 91 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 2.3 Jihadismus 2.3.1 Jihadismus - eine ernstzunehmende Ideologie Der Begriff "Jihadismus" umfasst eine Reihe von unterschiedlich strukturierten Gruppierungen. Auch Jihadisten fordern die Rückkehr zu den wahren Quellen des Korans und der Sunna. Während politische Salafisten und andere Islamisten jedoch primär auf andere Mittel, wie etwa Mission, setzen, scheuen Jihadisten dagegen nicht, ihre Ziele mit gewaltsamen Methoden durchzusetzen, ob im direkten Kampf oder in Form von Anschlägen. Sie können sowohl organisiert auftreten, als auch lose Netzwerke von Personen mit ähnlichen ideologischen Grundüberzeugungen bilden. Die jihadistische Ideologie gewinnt zunehmend auch in Schleswig-Holstein an Bedeutung. Zwar sind es nur Einzelpersonen, die sich diese Ideologie zu eigen machen, aber sie besuchen oder betreiben zum Teil selbst auch Internetportale, auf denen zahlreiche jihadistische Audiomaterialien, Texte und Videos veröffentlicht werden. Die Integration und die Unterstützung des Jihads in elektronischer Form können den Radikalisierungsprozess hin zum tatsächlichen Kampf fördern. Der elektronische Jihad (E-Jihad) stellt damit eine neue Form der Kriegsführung dar, sowohl national als auch international und Jihadisten messen ihm heute beinahe genauso viel Bedeutung wie dem physischen Kampf zu. Begriffsbestimmung Jihad Die islamische Rechtslehre unterscheidet zwischen dem "Großen Jihad" und dem "Kleinen Jihad". Der "Kleine Jihad" wird als Kampf zur Verteidigung des Glaubens definiert. Auch Jihadisten betrachten sich als Kämpfer für den Glauben und rufen zum gewaltsamen Widerstand gegen die "Feinde des Islams" auf. Sie missbrauchen dabei jedoch die eigentliche Bedeutung des Begriffes, da die Mehrheit der Muslime darunter die Anstrengung versteht, für sich persönlich die moralischen Maßstäbe des Islams so gut wie möglich umzusetzen ("Großer Jihad"). 92 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 2.3.2 Entwicklungsgeschichte Der Jihad-Begriff in seiner modernen Form wurde vor allem ab 1979 durch die afghanischen Widerstandskämpfer gegen die sowjetische Besatzung des Landes aktiv genutzt. Zu dieser Zeit organisierte Usama bin Laden bereits Teile des afghanischen Widerstandes und gründete 1988 die Gruppe "al-Qaida". Neben der ideologischen Indoktrinierung wurden die Freiwilligen aus verschiedenen Ländern in den Trainingslagern vor allem auf den physischen Kampf gegen die sowjetische Armee vorbereitet. Die Organisation galt daher zunächst vor allem als logistischer Unterstützer der afghanischen Kämpfer. Der Rückzug der sowjetischen Truppen 1989 wurde dann auch als Sieg der "Mujahidin", derjenigen, die den Jihad ausführen, sowie der "al-Qaida" gefeiert. Die Kämpfer kehrten anschließend zwar zunächst in ihre jeweiligen Heimatländer zurück, viele betätigten sich jedoch weiter als "Verteidiger des Islams", etwa im Konflikt um das ehemalige Jugoslawien Mitte der 1990er-Jahre oder in anderen Regionen, in denen der Jihad proklamiert wurde. Im Februar 1998 verkündete Usama bin Laden dann die Gründung einer "islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler". Bin Laden erklärte, das es die Pflicht eines jeden Muslims sei, Amerikaner sowie deren Verbündete, Militärangehörige und Zivilisten zu töten, wo immer sich die Möglichkeit dazu biete. Ziel war es unter anderem, die heiligen Stätten der Muslime, darunter vor allem SaudiArabien und die palästinensischen Gebiete, von den Ungläubigen zu befreien. Diese Verlautbarungen bildeten unter anderem den ideologischen Nährboden für zahlreiche Anschläge in aller Welt, so z.B. den Bombenanschlag 1998 auf die amerikanische Botschaft in Nairobi (Kenia), den Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, das Selbstmordattentat in spanischen Nahverkehrszügen am 12. März 2004 in Madrid oder die Bombenanschläge vom 7. Juli 2005 in London (Großbritannien). 93 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 2.3.3 Propaganda und Rekrutierung Jihadisten verwenden heute ebenfalls das Internet für Propaganda sowie um Nachwuchs zu rekrutieren. Ähnlich wie die Salafisten nutzen auch sie die Möglichkeit des Internets, um eine "virtuelle Umma" zu konzipieren und einen breiten Adressatenkreis zu erreichen. Diverse Foren bieten dafür genug Spielraum: Einerseits wird hier eine muslimische Idealgemeinschaft vorgestellt, die, wenn auch nur im Internet, durch den Jihad verteidigt werden kann und muss. Andererseits werden in den Foren jihadistische Publikationen verbreitet und ausgetauscht, so dass eine Bibliothek von Propagandamaterialien entsteht. Dabei handelt es sich nicht nur um ideologische Propaganda, sondern beispielsweise auch um Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoffen, zur Nutzung von Waffen oder um taktische Informationen für bewaffnete Auseinandersetzungen gegen die so genannten "Feinde des Islams". Sicherheitsbehörden beobachten diese Entwicklung im Internet mit wachsender Besorgnis: Die globale "Madrassa" (religiöse Schule) bietet für Interessenten die Möglichkeit, sich eigenständig zu organisieren und andere zu rekrutieren, ohne mit jihadistischen Gruppierungen persönlich in Kontakt zu kommen. 2.4 Islamistischer Terrorismus 2.4.1 Internationale Entwicklungen im Jahr 2010 Die Anstrengungen der westlichen Staatengemeinschaft bei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus haben auch im Jahr 2010 weiter Früchte getragen. So ist es islamistischen Terroristen abermals nicht gelungen, spektakuläre Großanschläge in einem westlichen Land erfolgreich durchzuführen. Allerdings kam es ungeachtet des bereits eingangs erwähnten Anschlags durch Arid U. in Frankfurt/Main im März 2011 wieder zu mehreren vereitelten Anschlagsvorbereitungen und -versuchen, wie etwa am 11. Dezember in Stockholm. Hier sprengte sich ein Selbstmordattentäter in die Luft, verfehlte aber sein eigentliches mutmaßliches Ziel, nämlich eine große Menschenmenge in einer belebten Einkaufszone zu treffen. Dieser Selbstmordanschlag steht exemplarisch für ein bereits seit langem von den Sicherheitsbehörden befürch94 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 tetes Szenario: Westliche Staatsbürger, mit Migrationshintergrund oder Konvertiten, absolvieren in terroristischen Ausbildungslagern ein Training und kehren mit den dort erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten in ihren Heimatstaat zurück, um dort, und gerade nicht auf den aktuellen Schauplätzen des weltweiten Jihads, als so genannte "Homegrown-Terroristen" (Kap. IV 2.2.4) Anschläge zu verüben. Ob dieser Anschlag die Tat eines Einzeltäters gewesen ist, oder, wie der Attentäter in seinem auf einer islamistischen Internetwebsite veröffentlichten Testament erklärte, im Auftrag des "Islamischen Staates im Irak", also der Regionalorganisation der dortigen "al-Qaida" (AQ) erfolgte, müssen die noch andauernden Untersuchungen zeigen. Die Urheberschaft für den weiteren Versuch eines spektakulären Großanschlages dürfte allerdings als nahezu belegt gelten: Der misslungene Luftfrachtbombenanschlag Ende Oktober durch die "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH). Das Szenario verdeutlicht das Bemühen von AQ, weiterhin medienwirksame Anschläge mit einer möglichst großen Opferzahl zum einen und einem breiten Medienecho zum anderen zu realisieren. Dies trifft auch auf den Anschlagsversuch vom 1. Mai mit einer Autobombe am New Yorker Times Square zu. Diese Fehlschläge unterstreichen, dass gerade wegen der langfristigen Planungssicherheit der 'Führungsebene von AQ' (Kern-AQ) davon auszugehen ist, dass neben den USA vor allem die westlichen europäischen Staaten weiterhin ein primäres Ziel darstellen werden. Dabei richtet sich die Gefährdung der einzelnen Staaten aus Sicht von Kern-AQ nach folgenden Faktoren: Zum einen das militärische Engagement in den Krisenregionen Afghanistan und Irak und zum anderen das in den jeweiligen Ländern geduldete islamkritische Verhalten. Hierbei spielen die Darstellung des Propheten Muhammad in Karikaturen, die Entweihung des Korans sowie das Verbot traditioneller Verhaltensweisen und Vorschriften (wie z.B. das Kopftuchoder Burka-Verbot in einzelnen europäischen Ländern) eine besondere Rolle. Gerade die als Beleidigung aufgefasste Darstellung des Propheten spielt eine herausragende Bedeutung. So führte dies in Dänemark zum einen am Neujahrstag zu einem Angriff auf einen der Karikaturisten der so genannten "MohammedKarikaturen", Kurt Westergaard, den er unbeschadet überlebte; und zum anderen zur Vorbereitung eines, dann allerdings vereitelten, Anschlags im Dezember, bei dem geplant war, im Stile der Anschläge von Mumbai im Jahr 2008 das Verlagsgebäude 95 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode der Zeitung "Jyllands-Posten" anzugreifen, die im Jahr 2005 die zwölf "MohammedKarikaturen" veröffentlicht hatte. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass trotz aller sicherheitspolitischen Erfolge nach wie vor nicht von einer Entspannung der Sicherheitslage insgesamt gesprochen werden kann. Die aktuellen Kampfschauplätze des weltweiten Jihads haben sich im Vergleich zum Vorjahr kaum verändert. Im Fokus der islamistischen Terroristen stehen weiterhin insbesondere der Irak, Pakistan und Afghanistan, die Regionen der Arabischen Halbinsel, die Maghrebstaaten sowie Somalia. Der regionale Arm der AQ in SaudiArabien und Jemen, die "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH), hat die 2009 begonnene Entwicklung fortgesetzt und sich zu einem schlagkräftigen Zweig der AQ entwickelt: Im Jemen dürften sich wichtige Stützpunkte von AQ etabliert haben und die AQAH scheint aktuell die einzige Teilorganisation von AQ zu sein, die in der Lage ist, außerhalb ihres originären regionalen Operationsraumes ernsthafte Anschlagsplanungen gegen westliche Staaten durchzuführen. Diese Internationalisierung ihres Aktionsraumes verdeutlichte sich bereits durch den missglückten Anschlag auf das US-amerikanische Verkehrsflugzeug am 25. Dezember 2009 über Detroit. Diese Entwicklung wurde im Jahr 2010 fortgesetzt und Ende Oktober des Jahres versuchte die AQAH abermals mittels Verkehrsflugzeugen Anschläge gegen die westliche Welt zu verüben. Mutmaßliche Angehörige der AQAH gaben zwei Pakete per Frachtpost in Sanaa/Jemen mit dem Ziel Chicago auf. Durch so genanntes nachrichtendienstliches Aufkommen konnte ein Paket in Großbritannien und eines in Dubai/Vereinigte Arabische Emirate lokalisiert und unschädlich gemacht werden. Die in handelsüblichen Tonerkartuschen von Laserdruckern untergebrachten Sprengsätze waren grundsätzlich funktionstüchtig und aufgrund der Bauweise durch die üblich eingesetzten Sprengstoffdetektoren nicht erkennbar. Für die deutschen Sicherheitsbehörden war dabei von Bedeutung, dass eines der Pakete über den Flughafen Köln umgeladen wurde. Ein Anhalten und Kontrollieren des verdächtigen Paketes in Deutschland war aber aufgrund der zeitlichen Abläufe nicht mehr möglich. Neben diesen operativen Anschlagsaktivitäten hat die AQAH ihre Propagandaarbeit intensiviert. Besonders hervorzuheben ist dabei das englischsprachige Online-Magazin "INSPIRE". Die bisher vier veröffentlichten Ausgaben haben dabei eine mediale Aufmerksamkeit weit über das jihadistische Spektrum hinaus erlangt. Das Magazin hat sich in kurzer Zeit zu der bislang einflussreichsten und qualitativ hochwertigsten periodisch erscheinenden jihadistischen Onlineveröffentlichung entwickelt. "INSPIRE" 96 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 richtet sich vor allen Dingen an Sympathisanten und potenzielle Jihadisten in westlichen Staaten, denen durch das Magazin der Jihad-Gedanke weiter implementiert werden soll. Durch die damit forcierte Selbstradikalisierung und die Verbreitung von terroristischen Kenntnissen und Fertigkeiten will das Magazin als Katalysator wirken und den Sympathisanten den Anstoß zur aktiven Teilnahme am Jihad geben. Insbesondere die feste Rubrik mit dem Titel "Open Source Jihad" enthält Anregungen und Anleitungen für eigeninitiative Anschläge. Dadurch könnte vermehrt die Gefahr von Angriffen in westlichen Staaten durch selbstradikalisierte Einzeltäter bestehen. Die Sicherheitslage im Irak ist weiterhin angespannt und fragil. Trotz des Verlustes von zwei Anführern der islamistischen Terrororganisation "Al-Qaida im Irak" (AQI), die in der Führungsebene nahezu identisch mit dem 2006 proklamierten fiktiven Kalifatstaat "Islamischen Staat Irak" (ISI) ist, kam es im Jahr 2010 nicht zu einer signifikanten Schwächung der Handlungsfähigkeit der Gruppierung. Durch eine zügige Reorganisierung konnten die Verluste zeitnah kompensiert werden. Die AQI ist immer noch für den Großteil der Anschläge und für die meisten Todesopfer im Irak verantwortlich. Auch konnte insbesondere der Einsatz der regierungsnahen sog. Stammesmilizen als Unterstützung der Regierungstruppen und der Kräfte der Alliierten nicht dazu führen, das Bedrohungspotenzial der AQI nachhaltig zu schwächen. Demzufolge steht zu befürchten, dass sich mit dem Abzug der alliierten Truppen aus dem Irak die AQI weiter restrukturieren und etablieren kann. Die terroristischen Aktivitäten im Irak dürften deshalb auf gleichem Niveau verbleiben oder sogar noch ansteigen. Eine weitere relevante islamistische Terrororganisation im Irak, die sich ebenfalls als Teil des weltweiten Jihads versteht, ist die "Ansar al-Islam" (AAI). Die Gruppierung besteht bereits seit 2001 und änderte aufgrund der neuen Rahmenbedingungen im Irak mehrfach ihre Bezeichnung. Im Kern strebt die Organisation weiterhin einen kurdischen Gottesstaat im Norden des Iraks im Stile der ehemaligen Taliban-Herrschaft in Afghanistan an. Die Befürchtungen, dass die beiden Terrororganisationen AQI und AAI einen Zusammenschluss vollziehen könnten, um so gemeinsam ihre Schlagkraft zu erhöhen, haben sich bisher nicht bewahrheitet. Unabhängig von den möglichen Verbindungen des Attentäters vom 11. Dezember in Stockholm zum ISI ist die Möglichkeit von direkten Terroranschlägen gegen westliche Staaten, die von diesen Organisationen ausgehen, als eher unwahrscheinlich anzusehen. In den Staaten Nordafrikas und der Sahel-Zone ist in erster Linie die Terrororganisa97 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode tion "Al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) aktiv. Die Terrorgruppe gründete sich im Jahre 2006 mit dem Anschluss der "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC) an AQ. Aufgrund der Kolonialvergangenheit Frankreichs in dieser Region sind vorrangig französische Interessen durch die AQM gefährdet. Dies belegt zuletzt die Entführung von mehreren französischen Staatsangehörigen und die Tötung einer Geisel in jüngerer Vergangenheit. Nach einer Audiobotschaft vom 27. Oktober wandte sich der Führer der AQ, Usama bin Laden, selbst am 21. Januar 2011 erneut an Frankreich und verknüpfte das Schicksal der verbliebenen Geiseln mit dem Rückzug französischer Truppen aus Afghanistan. Dadurch stellt Frankreich zum wiederholten Male einen Schwerpunkt der aktuellen Propaganda der Kern-AQ dar und dürfte entsprechend stark im Fokus terroristischer Anschläge weltweit wie auch in Frankreich selbst stehen. Das direkte Engagement Usama bin Ladens dürfte vor dem Hintergrund erfolgt sein, den Jihadschauplatz Maghreb vor allem für radikalisierte Sympathisanten mit maghrebinischem Migrationshintergrund in Europa in den Vordergrund zu rücken. Dieser Bereich könnte sich somit für die angesprochenen Jihadisten als Alternative für die übrigen Jihadschauplätze, wie etwa den Irak oder Afghanistan, entwickeln. Die Sicherheitslage am Horn von Afrika wird nach wie vor in erster Linie durch die somalische islamistische Terrororganisation "Al-Shabab" beeinflusst. Erstmalig verübte die Organisation am 17. Juli 2010 in Uganda anlässlich eines Fan-Festes zur Fußball-Weltmeisterschaft Anschläge außerhalb ihres eigentlichen Aktionsraumes. Dabei starben über 70 Menschen. Unter ihnen befanden sich auch westliche Ausländer, die vermutlich das primäre Ziel der Attentäter darstellten. Dieses Vorgehen belegt, dass sich "Al-Shabab" auch dem so genannten globalen Jihad verpflichtet fühlt und betont den Willen, den Somalia-Konflikt über die Landesgrenzen hinaus zu tragen. Das deutsche Engagement im Zusammenhang mit der Ausbildung von Sicherheitskräften in Uganda könnte dazu führen, dass auch deutsche Interessen verstärkt in den Fokus der "Al-Shabab" geraten könnten. Die Wahrscheinlichkeit von direkten Anschlägen gegen westliche Interessen ist derzeit allerdings eher gering. Eine Gefahr für westliche Länder stellt allerdings die fortdauernde Rekrutierung und Ausbildung von Jihadisten aus Europa und anderen westlichen Ländern dar. Nach der Rückkehr in ihre Heimatbzw. Gastländer stellen diese Jihadisten aufgrund ihrer terroristischen Fachkenntnisse eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die innere Si98 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 cherheit der jeweiligen Staaten dar. Die Situation in Afghanistan und Pakistan ist mit Blick auf die Sicherheitslage weiterhin als äußerst angespannt und instabil zu bezeichnen. Das terroristische Vorgehen der militanten Opposition in Afghanistan, insbesondere der Taliban richtet sich weiterhin vorrangig gegen die afghanische Armee und Regierung sowie gegen die westlichen Truppen im Lande. Die in den letzten Jahren entwickelten terroristischen Fähigkeiten dieser Gruppen im Zusammenhang mit einer asymmetrischen Kriegsführung, wie insbesondere Selbstmordattentate und unkonventionelle Sprengund Brandbomben, werden landesweit mit steigender Intensität zum Einsatz gebracht. Die deutschen Einrichtungen und Soldaten im Norden des Landes stehen dabei im unmittelbaren Zielspektrum der Taliban, was sich auch in den hohen Verlusten der Bundeswehr im Jahr 2010 wieder spiegelt. Im Grenzgebiet von Afghanistan zu Pakistan in Nord-Waziristan befinden sich die Rückzugsgebiete und Ausbildungslager von AQ. Die Kern-AQ ist allerdings weiterhin aufgrund des andauernd hohen Verfolgungsdrucks nur sehr eingeschränkt in der Lage, operative Anschlagsplanungen, insbesondere gegen westliche Länder umzusetzen. Vielmehr konzentriert sich die Organisation in Videound Audiobotschaften auf die Verbreitung ihrer Leitideologie und nimmt nach wie vor die Führungsrolle in der globalen jihadistischen Meinungsbildung ein. Der bereits in den letzten Jahren festgestellte Trend, dass die Terrororganisation AQ von verschiedenen Organisationen als übergeordnetes Markenzeichen verwendet wird, hat sich weiter fortgesetzt. Bei der Propagandaarbeit der Kern-AQ als auch anderer jihadistischer Gruppierungen spielen die elektronischen Medien und hier vor allem das Internet als kostengünstiges Mittel zur Kommunikation und der Verbreitung von Informationen eine herausragende Rolle. Damit ist es nicht mehr zwingend notwendig, dass sich potenzielle Nachwuchs-Jihadisten in ein terroristisches Ausbildungslager z.B. nach Afghanistan begeben, sondern die medienbasierte Radikalisierung und Ausbildung kann in den jeweiligen Heimatländern erfolgen, die dann folgerichtig das primäre Anschlagsziel darstellen könnten. Dennoch sind die in Nord-Waziristan angesiedelten terroristischen Ausbildungslager nach wie vor von großer Bedeutung. Dort werden nicht nur Rekruten aus der Region für den Jihad in Afghanistan ausgebildet, sondern auch westliche Staatsangehörige. 99 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Die vorrangigen Ziele der Kern-AQ sind nach wie vor symbolträchtige Großanschläge in den USA oder Europa. Allerdings ist fraglich, ob der hohe Stellenwert, den KernAQ derzeit im weltweiten Jihad innehat, auf Dauer aufrecht erhalten werden kann auch wenn entsprechende Anschläge in westlichen Ländern ausbleiben. Deutschland ist in den letzten Jahren insbesondere wegen des Engagements der Bundeswehr in Afghanistan in den Fokus der AQ geraten. Dies belegt die bereits seit 2008 eingeleitete Propagandaoffensive gegen die Bundesrepublik, die im Zusammenhang mit der Bundestagswahl im September 2009 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Neben der AQ sind in der Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan vor allem die "Islamische Jihad-Union" (IJU) und die "Islamische Bewegung Usbekistans" (IBU) für diverse Anschläge und Angriffe auf Armeestützpunkte verantwortlich. Die IJU sieht sich nicht nur dem weltweiten Jihad verpflichtet, sondern verfolgt mit ihren Bestrebungen nach der Errichtung eines Kalifats in Zentralasien und der damit einhergehenden Absetzung der usbekischen Regierung auch eine regionale Agenda. Auch mehrere deutsche Staatsangehörige und aus Deutschland ausgereiste Personen mit Migrationshintergrund werden dieser Terrororganisation zugeordnet. Aus Teilen der IJU gründete sich in 2009 die Gruppierung "Deutsche Taliban Mujahideen" (DTM), die die Beteiligung der Bundeswehr am Antiterrorkampf in Afghanistan als Legitimation dafür ansehen, den Jihad auch nach Deutschland tragen zu wollen. Über ihre Medienstelle "Elif Medya" veröffentlichte die Gruppierung regelmäßig Videound Audiobotschaften im Internet. In einer Videobotschaft im Zusammenhang mit den Bundestagswahlen im September 2009 drohten die DTM mit einem direkten Angriff auf Deutschland. Nach dem mutmaßlichen Tod ihres bekanntesten Mitglieds Eric Breininger sowie dem Anführer der Gruppe, die beide wahrscheinlich Ende April umkamen, ist es vorerst ruhig um die Organisation geworden. Aktuell meldeten sich die DTM und die Medienstelle "Elif Medya" unter neuer Führung zurück. Ob es der DTM tatsächlich gelingt einen nennenswerten Beitrag am Jihad zu leisten, insbesondere deutsche Interessen und gegebenenfalls sogar Deutschland direkt anzugreifen, bleibt abzuwarten. 2.4.2 Islamistischer Terrorismus in Deutschland 100 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Auch wenn die von AQ angekündigten Anschläge im Zusammenhang mit der Bundestagswahl 2009 in Deutschland ausgeblieben sind, hat sich an der Feststellung, dass sich Deutschland unverändert im direkten Zielspektrum islamistischer Terroristen befindet, nichts geändert. Vielmehr ist festzustellen, dass sich die Bedrohungslage gegen Deutschland im Vergleich zu den Vorjahren weiter intensiviert hat. Zuletzt stuften die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder im Herbst die Bedrohungslage derart hoch ein, dass öffentlich für Deutschland eine Warnung vor möglichen bevorstehenden Terroranschlägen herausgegeben wurde. Diese Lageeinschätzung stützt sich in erster Linie auf folgende Faktoren: Die langfristige Planungstreue von Kern-AQ Es ist davon auszugehen, dass die Führung von AQ an ihrem langfristigen Ziel festhält, die westliche Welt, also die USA und Europa, zu schwächen und zu destabilisieren. Dies könnte mit einem symbolträchtigen Großanschlag, oder aber auch mit einer vermehrten Anschlagsaktivität mit geringerer Intensität erfolgen. Die Gefährdung Europas und der USA durch den islamistischen Terrorismus gilt aktuell in gleichem Maße für Deutschland. Die Existenz eines gewaltbereiten islamistischen Personenpotentials Das erkannte gewaltbereite islamistische Personenpotential beläuft sich in Deutschland derzeit auf ca. 1.100 Personen. Zu diesen Personen liegen konkrete Hinweise vor, die die Zuordnung zum islamistisch-terroristischen Personenpotenzial rechtfertigen. Anhaltende Reisebewegungen des gewaltbereiten islamistischen Personenpotentials aus Deutschland, insbesondere in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet Personen, die dem islamistischen Spektrum zuzurechnen sind, führen verstärkt Reisen in das arabisch-sprachige Ausland durch. Hierzu zählen insbesondere die Teilnahme an der Pilgerfahrt (Hadsch) nach Saudi-Arabien, das Erlernen der arabischen Sprache an einem Sprachinstitut sowie die Ausbildung in einem jihadistischen Trainingslager. Eine sicherheitsrechtliche Relevanz kommt dem Aufenthalt in einem terroristischen Ausbildungslager zu. Aber auch der Besuch einer Sprachoder Koranschule kann der potenziell erste Schritt auf dem Weg in ein Ausbildungslager sein. In 101 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode den Schulen erfolgt in diesen Fällen möglicherweise der Anwerbeversuch für ein solches Trainingscamp. Das erfolgreiche Durchlaufen eines terroristischen Ausbildungslagers wirkt auf die radikalisierten Personen identitätsstiftend und begründet sowohl im Lager als auch daheim sein Ansehen und seine Reputation. Grund dafür sind besondere Fähigkeiten und Erfahrungen, die während eines solchen Aufenthaltes erworben werden. Den Bundessicherheitsbehörden liegen derzeit Informationen zu insgesamt rund 255 Personen mit Deutschlandbezug (deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund bzw. Konvertiten sowie in Deutschland aufhältig gewesene Personen anderer Staatsangehörigkeit) und islamistisch-terroristischem Hintergrund vor, die seit Beginn der neunziger Jahre eine paramilitärische Ausbildung erhalten haben sollen bzw. eine solche beabsichtigten. Zu ca. 70 Personen existieren konkrete Hinweise, die für eine absolvierte paramilitärische Ausbildung sprechen. Es wird davon ausgegangen, dass sich weniger als ein Drittel dieser 70 Personen aktuell wieder in Deutschland aufhält; davon ist ca. die Hälfte derzeit inhaftiert. Von den rund 255 Personen halten sich derzeit vermutlich ca. 135 Personen (wieder) in Deutschland auf, davon sind ca. 10 Personen inhaftiert. Von den 135 Personen haben sich ca. 45 Personen mutmaßlich seit Beginn des Jahres 2001 an Kampfhandlungen in Krisenregionen beteiligt. Die anhaltende Verbreitung von Verlautbarungen mit direktem Deutschlandbezug Die bereits 2008 begonnene Propagandaoffensive von AQ, IJU und der DTM, die durch die direkten Anschlagsdrohungen im Rahmen der Bundestagswahl 2009 eine Gefährdungsspitze darstellte und womit versucht wurde, Einfluss auf das Ergebnis der Bundestagswahl zu nehmen, fand auch im Jahr 2010 eine Fortsetzung. Allerdings wurden deutlich weniger Propagandabotschaften der Kern-AQ, insbesondere keine mit Deutschlandbezug, festgestellt. Dem gegenüber hat die islamistische Propaganda der Jihadisten mit Deutschlandbezug, insbesondere der Mitglieder der IJU und DTM stark zugenommen. Dabei standen Drohungen gegen die in Afghanistan eingesetzten deutschen Bundeswehrsoldaten sowie das Werben um eine aktive 102 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 oder aber finanzielle Beteiligung am Jihad im Vordergrund. Zusätzlich nimmt die Glorifizierung des Märtyrertums, insbesondere im Hinblick auf Verluste von eigenen Kämpfern, einen großen Stellenwert ein. Die Terrororganisationen professionalisieren dabei ständig die Qualität ihrer Propaganda und unterhalten in der Regel eigene Medienstellen, wie z.B. die "ELIF MEDYA" der DTM, die "AS-SAHAB" der AQ und die "JUNDULLAH" der IBU. Diese produzieren in der Regel entsprechende Videound Audiobotschaften, die über eigene Internetpräsenzen verbreitet werden. 2.4.3 Islamistischer Terrorismus in Schleswig-Holstein Islamistisch motivierte terroristische Strukturen sind in Schleswig-Holstein auch 2010 nicht feststellbar gewesen. Nach wie vor liegen allerdings zu einer Reihe von Personen im Land Anhaltspunkte für Kontakte unterschiedlicher Art und Qualität zum jihadistischen Spektrum vor. Insbesondere konnte festgestellt werden, dass bei der jihadistischen Radikalisierung die andauernde Verbreitung der salafistischen Ideologie eine entscheidende Rolle zu spielen scheint. Vor allem junge Muslime und junge Islam-Konvertiten, die sich in schwierigen Lebenssituationen oder Entwicklungsphasen befinden, sind dafür empfänglich. Der Salafismus scheint mit seinen Regeln und Normen diesen Personen zwar einen gewissen Halt zu bieten, aber gleichzeitig bildet er den Nährboden für eine weitere Radikalisierung. Diese Entwicklung konnte bei einigen Personen in Form des typischen Radikalisierungsverlaufes beobachtet werden: Zunächst erfolgte in der Regel eine Selbstradikalisierung über einschlägige Internetangebote. Im nächsten Schritt wurden vermehrt jihadistische Internetforen aufgesucht und dort Beiträge erstellt sowie sich mit Gleichgesinnten vernetzt. Im Anschluss erfolgte oftmals der Schritt von der virtuellen in die reale Welt. Es wurden z.B. geeignete Moscheen gesucht, in denen man den vermeintlich "wahren Glauben" praktizierte. Bei einigen wenigen Personen ging die Radikalisierung weiter und der Wunsch wurde verstärkt, etwas aktiv für den "Glauben" zu tun. Diese führte es beispielsweise in einschlägige Sprachschulen im Nahen Osten, die zum Teil im Verdacht stehen eine jihadistisch-salafistische Ausrichtung zu vertreten und als Rekrutierungsplattform für eine terroristische Ausbildung zu dienen. Wieder andere suchten 103 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode gleich den Kontakt zu Personen, die einen Aufenthalt in einem terroristischen Ausbildungslager vermitteln konnten. In einem Fall konnte die bevorstehende Ausreise, mit dem Ziel ein terroristisches Ausbildungslager zu besuchen, durch ein Ausreiseverbot verhindert werden. Daher wird die Entwicklung des salafistisch-jihadistischen Spektrums in Schleswig-Holstein weiterhin mit besonderer Sorgfalt beobachtet. Daneben liegt ein Augenmerk auf Personen mit Kontakten zum Netzwerk "Ansar alIslam" (AAI). Die als terroristische Vereinigung eingestufte AAI ist eine im Nordosten des Irak ansässige Organisation, die die Errichtung eines islamistischen Staatswesens im Irak anstrebt, wobei sie ihre Ziele seit ihrer Gründung mit Hilfe von Terroraktionen vorrangig in den kurdischen Gebieten des Iraks verfolgt. Die AAI verfügt in Deutschland sowie in anderen europäischen Ländern über eine unstrukturierte Anhängerschaft. Ihre Anhänger sind vor allem mit dem Sammeln von Geldern für den Irak und Transferleistungen in den Irak beschäftigt. Auch in Schleswig-Holstein gibt es Anhaltspunkte für Einzelpersonen mit entsprechenden Kontakten innerhalb dieses irakisch-kurdischen Spektrums. Diese Personen werden neben den genannten jihadistischen Islamisten besonders beobachtet. Als weitere relevante Gruppe im terroristischen Spektrum in Schleswig-Holstein ist die "Nordkaukasische Separatistenbewegung" (NKSB) zu erwähnen. Sie umfasst sowohl den nationalistischen Flügel der "Tschetschenischen Republik Itschkeria" (CRI) und der "Tschetschenischen Separatistenbewegung" (TSB) als auch das davon abgespaltene islamistische "Kaukasische Emirat". Der Flügel CRI/TSB existiert bereits seit Beginn der neunziger Jahre und war ursprünglich eine Rebellenorganisation, die sich hauptsächlich tschetschenisch-nationalistisch orientierte. Im Jahr 2007 wurde durch den Separatistenführer Doku Umarow das "Kaukasische Emirat" ausgerufen, welches für die Errichtung eines islamischen Gottesstaates und die Einführung der Sharia im gesamten Nordkaukasus steht. Die Unabhängigkeit von Russland soll durch den bewaffneten Kampf und Anschläge gegen russische Einrichtungen erreicht werden. Hierbei kam es bei vergangenen Anschlägen auch zu hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung. Einen Schwerpunkt der Aktivitäten des Emirats bilden die Gebiete Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien. Durch die Ausrufung des Emirats kam es zu einer tiefen Spaltung innerhalb der Separatistenbewegung. Auf der einen Seite stehen die nationalistisch orientierten Kräfte 104 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 unter der Führung von Achmet Sakajew, welcher in den letzten Jahren zu Verhandlungen mit der russlandtreuen tschetschenischen Regierung unter Ramsan Kadyrow bereit war und auf der anderen Seite die kaukasischen Mujaheddin unter Doku Umarow, welche Sakajew wegen seines Verhandlungskurses in Abwesenheit mit der Todesstrafe belegt haben. In Schleswig-Holstein lebt eine für die Bevölkerungszahl vergleichsweise große tschetschenische und dagestanische Diaspora. Unter diesen Personen sind auch Unterstützer und Anhänger der NKSB bekannt. Hierbei handelt es sich zumeist um Personen, die das "Kaukasische Emirat" oder eine seiner Unterorganisationen den nationalistischen Separatisten vorziehen. 2.5 Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) geht zurück auf die türkische Bewegung "Milli Görüs" (Nationale Sicht), basierend auf den Ideen von Necmettin Erbakan. Die Organisation hat als Ziel, den türkischen Staat in seiner jetzigen Form durch ein national-türkisches Großreich nach dem Vorbild des Osmanischen Reiches zu ersetzen. Mit dem Islam als Basis soll weltweit eine "gerechte Ordnung" erlangt werden. Die "Saadet Partisi" (SPPartei der Glückseligkeit) dient in der Türkei dabei als politische Grundlage. Die IGMG ist nicht nur in der Türkei sondern weltweit - also auch in Deutschland - aktiv. Sowohl durch Zeitschriften wie u.a. "Milli Gazete", die als Sprachrohr der Organisation fungiert, oder "IGMG Perspektif" als auch durch eine starke Internetpräsenz (www.igmg.de) werden in Deutschland vermutlich weit mehr als 100.000 Menschen erreicht. Die Anzahl der hiesigen Mitglieder wird erheblich geringer eingestuft und liegt vermutlich bei ca. 30.000. Einem IGMG-Verein in einer Stadt wie Kiel werden ca. 100 Mitglieder zugerechnet. 2.5.1 Ziele und Struktur Eine Zentrale Funktion nimmt nach wie vor, wenn auch nicht unumstritten, Necmettin Erbakan ein. Für viele Anhänger ist er die Leitfigur und ideologischer Vater der Milli105 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Görüs-Bewegung. Mit ihm werden die Begriffe "Milli Görüs" und "Adil Düzen" ("gerechte Ordnung") verbunden. Unter der "gerechten Ordnung" versteht Erbakan ein System, das auf dem Islam basiert. Es soll die von den Menschen geschaffene und gerade in den westlichen Ländern vorherrschende, mithin 'nichtige' Ordnung ersetzen, womit er sich jedoch gegen die auch hier vorherrschenden, demokratischen Strukturen wendet. Zudem sind seine Ansichten zum Teil antisemitisch geprägt und er vertritt offen die Meinung, die derzeitige Weltordnung würde hauptsächlich durch das Judentum gelenkt. In einem Interview im November 2010 äußerte er sich diesbezüglich und sagte: "Seit 5.700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen sollen. [...]" Nachdem es im Juli 2010 zwischen ihm und dem damaligen Vorsitzenden der SP Numan Kurtulmus zu Auseinandersetzungen kam, wurde Erbakan am 17. Oktober 2010 auf einem außerordentlichen Parteitag zum neuen Vorsitzenden der "Partei der Glückseligkeit" gewählt. Kurtulmus, der als gemäßigt gilt, trat zurück und gründete eine neue Partei. Obwohl schon über 80 Jahre alt, versteht es Erbakan seine Führungsrolle innerhalb der Bewegung mit Nachdruck auszufüllen und eine große, eher traditionell geprägte Anhängerschaft an sich zu binden. Im April 2010 besuchte Erbakan Deutschland. Kurzfristig durch die Zeitschrift "Milli Gazete" angekündigt, traf er in Berlin ein und besuchte auch andere Städte. Von seinen Anhängern umjubelt, stieß er aber auch auf Kritik. Innerhalb der Führungsebene der Organisation gibt es schon seit langem interne Diskussionen um seine Person, den damit verbundenen strengen Kurs und die Ausrichtung der IGMG innerhalb Deutschlands. Nach dem Tod von Erbakan am 27. Februar 2011 wird sich sowohl in der Türkei als auch in Deutschland zeigen, ob eine Neuausrichtung der Milli Görüs möglich ist. Aufgrund der gestärkten Position nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der SP dürften die sog. 'Reformer' innerhalb der IGMG, die eine Loslösung vom Kurs Erbakans und der Türkei anstreben, zurzeit in einer noch schwierigeren Position sein und kaum Aussichten auf Erfolg haben. 106 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Kennzeichnend für die IGMG in Deutschland mit ihrer Zentrale in Kerpen sind ihre zahlreichen Abteilungen, wie z.B. die Abteilung für Frauen oder die Organisation der Jugend und Studenten, mit überwiegend hierarchischen Strukturen. Sie decken fast alle Bereiche des täglichen Lebens ab und bieten somit ein dichtes soziales Netzwerk für ihre Mitglieder. Bildung und Jugendarbeit bilden dabei einen besonderen Schwerpunkt. Zu der (Unter-)Organisation werden auch verschiedene andere Objekte gerechnet, da diese personelle und/oder organisatorische Verflechtungen mit der IGMG aufweisen. So geriet auch die "Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e.V." (IHH) in den Fokus der Behörden. Im Juli 2010 wurde die IHH verboten, der Verein aufgelöst und die Internetseite gesperrt. Ihr wird u.a. vorgeworfen "HAMAS"nahe Einrichtungen in Gaza zu unterstützen. Der Vorsitzende der IHH bezeichnete das Vorgehen der Behörden als "beschämend und rechtswidrig". Das Verfahren ist derzeit noch nicht abgeschlossen. 2.5.2 Aktuelle Lage und Situation in Schleswig-Holstein Zurzeit befindet sich die IGMG in einer schwierigen Situation. 2009 wurde ein Verfahren der Staatsanwaltschaft Köln aufgrund des Verdachts des Spendenbetrugs und des Vorenthaltens von Sozialbeiträgen eingeleitet, welches jedoch im September 2010 eingestellt wurde. Daraus folgte, dass die Organisation jedoch im Jahr 2010 nicht an der zweiten Runde der Islamkonferenz teilnahm. Zusätzlich wurde in diesem Jahr auch die IHH verboten. Die Organisation hatte immer wieder um ihre öffentliche Akzeptanz und Anerkennung kämpfen müssen und darüber hinaus auch interne Probleme zu bewältigen. Auf der einen Seite stehen die Anhänger der strengen Ideologie des Necmettin Erbakan, auf der anderen Seite diejenigen, die einen Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung als Religionsgemeinschaft durch Loslösung vom jetzigen Kurs anstreben. Das Bemühen einzelner Personen ist hier durchaus erkennbar, aber verbale Äußerungen in der Presse, wie: "Wir sind ein öffentlicher Verein, wir handeln nach den Gesetzen und sind keine gefährlichen Menschen. Wir werden versuchen, diese Vorurteile aufzulösen." 107 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode reichen nicht aus, um alle Zweifler zu überzeugen. Solange Verflechtungen von Personen und Ideologie zur strengen Milli Görüs-Ausrichtung oder Verstöße gegen die im Grundgesetz festgeschriebenen Grundsätze wie z.B. die Gleichbehandlung von Frau und Mann erkennbar sind, wird die IGMG weiterhin durch die Sicherheitsbehörden beobachtet. In Schleswig-Holstein ist die IGMG durch mehrere Vereine und im "Bündnis der Islamischen Gemeinden Norddeutschlands e.V." (BIG) vertreten, zu dem auch Gruppen aus Hamburg und Niedersachsen gehören. Organisatorisch sind in den Vereinen die Strukturen der IGMG erkennbar. Verschiedene soziale Angebote, wie z.B. kostenloser Nachhilfeunterricht für Kinder oder Koranunterricht, der getrennt nach Geschlechtern durchgeführt wird, sollen schon früh eine enge Bindung an die Organisation erreichen und es wird vermutet, das schon hier eine starke Einflussnahme im Sinne der IGMG-Ideologie stattfindet. Das der IGMG zugehörige, in seiner Vereinsarbeit sehr aktive "Islamische Zentrum e.V." Rendsburg (IZR) stand 2009 im Fokus der Öffentlichkeit, unter anderem aufgrund der Beantragung eines Gebetsrufes für die neu erbaute Moschee. Die Annahme, dass IZR würde durch den Moscheeneubau eine ü- berregionale bzw. eine zentrale Position innerhalb der IGMG einnehmen, hat sich bisher nicht bestätigt. 2.6 "Tablighi Jama'at" ("Gemeinschaft der Verkündung und Mission") Die "Tablighi Jama'at" (TJ) wurde 1926 in Indien gegründet und versteht sich als Missionsbewegung mit dem Ziel der globalen Islamisierung der Gesellschaft. Die Organisation lehnt Gewalt offiziell ab und stellt auch keine konkreten politischen Forderungen. Von den Anhängern der TJ wird nicht nur ein vorbildhaftes Leben, streng ausgerichtet nach Koran und Sunna erwartet, sondern auch freiwillige, regelmäßige und unentgeltliche Missionarsarbeit. Angefangen mit dreitägigen Reisen, die sich im Laufe der Zeit über mehrere Monate erstrecken, sollen in erster Linie andere Muslime von der Lebensweise der TJ überzeugt werden. Hierfür werden weltweit Moscheen, eher selten häusliche Bereiche, aufgesucht. 108 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Die Kommunikation innerhalb der Bewegung findet über persönliche Kontakte bei regelmäßigen Zusammenkünften statt. So konnten im Berichtsjahr z.B. Treffen von deutschen TJ-Anhängern in Berlin oder Versammlungen im europäischen Ausland wie in Frankreich oder Portugal festgestellt werden. Höhepunkt für jeden TJAnhänger ist jedoch sicherlich die Teilnahme an einer Veranstaltung in einer der Hauptstützpunkte der Bewegung in Indien, Bangladesch oder Pakistan. Neben den regelmäßigen Zusammenkünften und einer strukturellen Unterteilung Deutschlands in mehrere Kreise ist über die Organisation der TJ wenig bekannt. Auch fehlt eine entsprechende Internetoder andere öffentliche Präsenz. Aufgrund des strengen Islamverständnisses kann die TJ den Nährboden für Radikalisierungsprozesse bereiten. Darüber hinaus wurden als Nutznießer dieser besonderen Infrastruktur in der Vergangenheit unter anderem Personen mit Terrorismusbezügen beobachtet. Auch in Schleswig-Holstein konnten im Jahr 2010 erneut TJ-Bezüge festgestellt werden. Vor allem aufgrund der Nutzung der Infrastruktur durch Terrorverdächtige, aber auch hinsichtlich der Gefahr einer möglichen Radikalisierung innerhalb der nach außen streng abgeschotteten Organisation bleibt die TJ auch weiterhin unter Beobachtung der Sicherheitsbehörden. 2.7 Die Muslimbruderschaft (MB) und die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) Die MB hat ihren Ursprung in Ägypten und ist bis heute eine der bedeutendsten und am weitesten verbreiteten islamistischen Organisationen. In Deutschland ist sie nicht mit einem eigenen Ableger vertreten, es existieren jedoch eine Reihe von ihr nahe stehenden Vereinen und Organisationen mit insgesamt etwa 1.300 Mitgliedern, von denen eine kleine Zahl auch in Schleswig-Holstein lebt und tätig ist. Eine große Rolle spielt sie jedoch aufgrund der von ihr vermittelten Ideologie, welche nicht nur von ihren Anhängern vertreten wird, sondern die gesamte islamistische Szene bis heute stark beeinflusst. Einer der bekanntesten Wortführer und Ideologen der MB, der 1966 109 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode hingerichtete Sayyid Qutb, hat darüber hinaus die moderne Definition des Jihad, wie sie auch islamistische Terroristen heute anwenden, entscheidend mitgeprägt. 2.7.1 Hintergrund Die MB wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Ägypten gegründet und entwickelte sich schnell zu einer sowohl im sozialen als auch im politischen Bereich tätigen, islamistischen Organisation. Aufgrund ihrer vielfältigen Aktivitäten, vor allem jedoch wegen der weit verbreiteten Schriften ihrer Wortführer wie beispielsweise Hassan al-Banna oder Sayyid Qutb, wurde die streng hierarchisch organisierte Gruppierung im Laufe der Zeit zur einflussreichsten islamistischen Bewegung des modernen politischen Islams. Zu den vornehmlichen Zielen der MB zählen unter anderem die (Re-)Islamisierung der Gesellschaft, die Verminderung des westlichen Einflusses auf die Muslime, die Errichtung eines islamischen Staates sowie die Anwendung des islamischen Rechts (Scharia). Aufgrund ihrer Aktivitäten ist die Gruppe seit den 1950er-Jahren in Ägypten verboten, wird jedoch bereits seit längerer Zeit geduldet. Das Verbot verhinderte jedoch nicht, dass in anderen Ländern Ableger der Organisation entstanden, beispielsweise die HAMAS (eine palästinensische Widerstandsbewegung), die "Islamische Heilspartei" (FIS) in Algerien oder "al-Nahda" in Tunesien, welche dort mehr oder minder einflussreich sind. Die aufgeführten Ziele der Organisation, welche in manchen Ländern (wie den palästinensischen Gebieten oder Algerien) zum Teil auch gewaltsam umgesetzt werden, sind in vielen Punkten verfassungsfeindlich. 110 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 2.7.2 Aktuelle Entwicklungen Die letzten Jahre waren für die MB stark geprägt von der entweder zustimmenden oder ablehnenden Haltung des ägyptischen Staates ihr gegenüber. Die politische Offensive, welche die Organisation um die Jahrtausendwende begann und die zunächst auch erfolgreich schien, wie beispielsweise die Wahl zahlreicher MBKandidaten bei den Parlamentswahlen 2005 zeigte, scheint im Moment zum Halten gekommen zu sein. Zu Beginn des Jahres 2010 trat der Kopf der Organisation Mohammed Mahdi Akef zurück und machte so den Weg frei für interne Neuwahlen. Dieser Vorgang ist bisher einmalig gewesen und hatte zum einen das Ziel, die internen Strukturen der Organisation zu demokratisieren. Zum anderen wollte man sich in Ä- gypten weiterhin als wichtigste Reformkraft und damit als Alternative zur Regierungspartei präsentieren. Die Wahl zum neuen Vorsitzenden fiel auf Mohammad Badie, welcher die eher konservativen Kräfte in der Partei vertrat. Das führte jedoch zu Konflikten zwischen diesem und dem liberalen Lager und es gab sogar Mutmaßungen über eine bevorstehende Aufspaltung der Organisation. Bei den Parlamentswahlen im November 2010 konnte die MB ihre guten Ergebnisse von 2005 auch nicht wiederholen und boykottierte nach dem 1. Wahlgang schließlich die Stichwahl mit dem Vorwurf, die Regierung hätte die Abstimmungen massiv manipuliert. 2.7.3 Die Muslimbruderschaft in Deutschland - Die IGD Die MB ist nicht nur in islamisch geprägten Ländern verbreitet, sondern durch ihr nahe stehende Organisationen und Vereine auch in Europa und Deutschland vertreten. Insbesondere die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." mit mehreren hundert Anhängern vertritt hierzulande ihre Ideologie und bereits ihr Gründer, Dr. Said Ramadan, war ein prominenter Muslimbruder aus Ägypten. Die IGD ist jedoch bemüht, in der Öffentlichkeit diese Nähe nicht zu betonen. Der Sitz der Organisation befindet sich im Islamischen Zentrum München. Weitere, der IGD strukturell nachgeordnete, Islamische Zentren sind unter anderem in Aachen, Berlin und Stuttgart angesiedelt. 111 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Die IGD sowie die ihr nahe stehenden Organisationen engagieren sich in vielfältiger Art und Weise und verbreiten damit ihre islamistische Ideologie, die sich auch an den oben genannten Zielen der MB orientiert. So werden arabische Schriften und Bücher ins Deutsche übersetzt und herausgegeben. Weiterhin werden soziale Projekte und Vorträge der verschiedensten Art organisiert und es findet eine intensive Jugendarbeit statt, beispielsweise Koran-, Sprachoder Islamunterricht. Hervorzuheben ist hier vor allem die "Muslimische Jugend in Deutschland", die der IGD und damit der MB sowohl strukturell als auch ideologisch nahe steht. Im Januar 2010 hat die IGD mit Samir Falah einen neuen Vorsitzenden gewählt. Der bisherige Vorsitzende, Ibrahim El-Zayat, stand unter dem Druck eines bereits 2009 eingeleiteten Ermittlungsverfahrens unter anderem wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung und Geldwäsche, das letztlich aber im September 2010 eingestellt wurde. 2.8 Die "Hizb Allah" Die "Hizb Allah" (arab. Partei Gottes) ist in Schleswig-Holstein durch einige Anhänger vertreten, die jedoch relativ unorganisiert sind und sich kaum öffentlich betätigen. Die Organisation ist exemplarisch für Gruppierungen, die in ihrer Ursprungsregion ihre Ziele gewaltsam durchsetzen, dabei aber in anderen Staaten, in denen ihre Anhänger leben und tätig sind, keine Gewalt anwenden. Allerdings unterstützen die hier lebenden Mitglieder die "Hizb Allah" im Libanon und damit auch die dortigen islamistisch-terroristischen Strukturen. 2.8.1 Hintergrund Die militante Organisation "Hizb Allah" entstand 1982 im Libanon als Reaktion auf den Einmarsch israelischer Truppen in das Land. Sie ist schiitisch geprägt und wurde in der Anfangszeit von iranischer Seite nicht nur stark finanziell unterstützt, sondern Mitglieder der iranischen Revolutionsgarde übernahmen auch die militärische Ausbildung der "Hizb Allah"-Anhänger. Ziel der Gruppierung war zunächst die Verteidigung 112 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 der schiitischen Gläubigen des Libanons, die etwa dreißig Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes ausmachen. Die Bewegung richtete sich ebenso gegen westliche Einrichtungen, wie etwa der Selbstmordanschlag auf die US-Botschaft in Beirut 1983 zeigte, sowie rhetorisch und militärisch gegen Israel, dessen Existenzrecht negiert wird. Zu Beginn der 1990er-Jahre ging die Organisation auch den Weg in die aktive Politik und beteiligt sich als Partei seit 1992 regelmäßig an den Parlamentswahlen. Im selben Jahr übernahm auch Hassan Nasrallah das Amt des Generalsekretärs, welches er bis heute Inne hat. Dieser baute sehr gute Kontakte nach Syrien auf, das sich im Laufe der Zeit zu einem Unterstützer der "Hizb Allah" entwickelte, insbesondere vor dem Hintergrund des gemeinsamen Gegners Israel. Nasrallah ist bis heute einer der führenden Ideologen der Organisation und glorifiziert in seinen Reden beispielsweise das Märtyrertum und Selbstmordattentate. Bis in die heutige Zeit hat sich neben dem politischen Arm der "Hizb Allah", der unter anderem 2005 schon an der Regierung beteiligt war, auch ein militanter Arm gehalten. Dieser ist im Jahr 2006 beispielsweise für die Entführung eines israelischen Soldaten verantwortlich gewesen und löste damit einen weiteren Krieg zwischen Israel und dem Libanon aus, der zahlreiche Opfer forderte. 2.8.2 Aktuelle Entwicklungen Im Juni 2009 fanden die letzten Parlamentswahlen im Libanon statt. Dabei verlor das Bündnis um die "Hizb Allah" zwar gegen die pro-westliche Fraktion um Saad Hariri, welche die Mehrheit erlangte und damit die Regierung stellte. Durch die Berufung zweier "Hizb Allah"-Minister in das Kabinett blieb die Organisation gleichwohl an dieser Regierung beteiligt. Im Jahr 2010 betonte die Gruppierung nochmals ihre Nähe zum Regime in Syrien sowie zum Iran. Dies zeigte sich sowohl bei einem Treffen der Präsidenten der beiden Länder mit den Führern der "Hizb-Allah" sowie der "HAMAS" zu Beginn des Jahres in Damaskus, als auch bei einem Besuch des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad im Libanon im Oktober. Beide Ereignisse trugen auch zu einer weiteren Verschärfung der Spannungen zwischen dem Libanon und Israel bei. 113 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Zusätzlich wuchs kurze Zeit später sowohl der innenals auch der außenpolitische Druck auf die Organisation, da Ende Oktober bekannt wurde, dass ein internationales Gericht, welches die Ermordung des früheren libanesischen Präsidenten Rafiq Hariri 2005 untersucht, höchstwahrscheinlich auch Mitglieder der "Hizb Allah" anklagen wird. Sie werden verdächtigt, an dem Attentat beteiligt gewesen zu sein. Unter dem Druck weiterer Veröffentlichungen bezüglich des Verfahrens zerbrach Anfang Januar 2011 auch die Regierungskoalition, da sich unter anderem die beiden "Hizb Allah"-Minister aufgrund der Vorwürfe aus dem Kabinett zurückzogen. Es bleibt abzuwarten, welche Rolle der Iran für die weitere Entwicklung der Organisation spielen wird. Dessen Regierung kündigte Ende 2010 eine massive Kürzung der finanziellen Unterstützung von bis zu vierzig Prozent für die "Hizb Allah" an. 2.8.3 Die "Hizb Allah" in Deutschland In Deutschland leben mehr als 50.000 Libanesen, von denen etwa 900 der "Hizb Allah" zugerechnet werden können. Die Gruppierung bezeichnet sich hier zum Teil als "Islamischer Widerstand", ist jedoch nicht in einheitlichen Strukturen organisiert. Vielmehr existieren eine Vielzahl von Organisationen und ihr nahe stehenden Vereinen, die darüber hinaus meistens unabhängig voneinander agieren. Der größte Teil der "Hizb Allah"-Mitglieder in Deutschland ist lediglich religiös aktiv. Die Gruppierung tritt nur sehr vereinzelt in der Öffentlichkeit auf, vor allem nach dem 2008 erlassenen Betätigungsverbot in Deutschland für den libanesischen, "Hizb Allah"-nahen TVSender "al-Manar" (arab. der Leuchtturm). Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass über die der Organisation nahen Vereine und Stiftungen Spenden gesammelt und letztendlich der "Hizb Allah" im Libanon zugeführt werden. 2.9 Die "Türkische Hizbullah" Die "Türkische Hizbullah" (TH) ist eine kurdische sunnitisch-islamistische Organisation und wurde in der Türkei Anfang der 1980er-Jahre gegründet. Religiöse Kurden 114 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 bauten die Organisation mit dem Ziel auf, einen islamischen Staat in der Türkei zu errichten. Als Vorbild diente das Mullahregime im Iran. Seit der weitestgehenden Zerschlagung der "Türkischen Hizbullah" (TH) im Jahr 2000 unterstützen in Deutschland lebende Anhänger der TH den Wiederaufbau der Organisation im Heimatland. In Schleswig-Holstein betreiben einzelne Anhänger Öffentlichkeitsarbeit und versuchen durch Publikationen und Spendenaufrufe auf sich aufmerksam zu machen. Die bekannteste Publikation der TH ist die Zeitschrift "Inzar" (Warnung). Sie wird mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren in der Türkei gedruckt und liegt auch in Moscheen sowie in TH-Anlaufstellen in Deutschland aus. In der Zeitschrift wird eine militante Form des Islamismus propagiert. Neben antisemitischen Parolen wird der israelisch-palästinensische Konflikt thematisiert und gegen den türkischen Staat agiert. 2.9.1 Entwicklung und Ideologie Die TH ist vor zwanzig Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, als sie den Kampf gegen die nach ihrer Ansicht antiislamischen Kräfte in der Türkei begann. Für die Durchsetzung ihres Zieles, einen Gottesstaat zu errichten, wurden diverse Anschläge auf öffentliche Einrichtungen sowie Morde an Repräsentanten des türkischen Staates, beispielsweise an Politikern, Anwälten und Journalisten, begangen. Die "Türkische Hizbullah" weist keine organisatorische Anbindung an die schiitische "Hizb Allah" im Libanon auf. Außer dem Namen "Hizb Allah" (Partei Gottes) haben die Organisationen keine Verbindung zueinander. Vielmehr rekrutiert die "Türkische Hizbullah" ihre Anhänger aus sunnitischen Muslimen. Der Aufbau organisierter Strukturen der TH-Anhänger begann Anfang der 1980erJahre zunächst in Buchläden im Südosten der Türkei. In Diyarbakir wurde die "Türkische Hizbullah" in eine "Ilim"und "Menzil"-Gruppe unterteilt. Die erstgenannte Gruppe fühlte sich der ägyptischen Muslimbruderschaft nahe und schreckte bei der Durchsetzung ihrer Ziele auch nicht vor der Anwendung von Gewalt zurück. Hüseyin Velioglu war Gründer der "Ilim" und führte die Gruppe, bestehend aus TH-Anhängern und -Sympathisanten, an. 115 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode In den 1980erund 1990er-Jahren gingen zahlreiche Verbrechen auf das Konto der Gruppe um Velioglu. Darüber hinaus kam es zu bewaffneten Übergriffen gegen Anhänger der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), die in den 1990er-Jahren Schätzungen zufolge an die 2.000 Todesopfer forderten. Aufgrund der Tatsache, dass die "Türkische Hizb Allah" viele PKK-Aktivisten tötete, wurde auch darüber spekuliert, dass die türkische Regierung die TH unterstützte, um gegen die PKK härter durchgreifen zu können. Die TH bekämpfte diese kurdischen Nationalisten, da sie als Atheisten betrachtet wurden. Aber auch Personen, denen ein "unislamischer" Lebensstil vorgeworfen wurde und auch moderate muslimische Geistliche wurden von der TH verfolgt. Letztlich blieben auch Verräter und Kollaborateure in den eigenen Reihen nicht verschont. Es kam zu zahlreichen Folterungen und Tötungen. 2.9.2 Aktuelle Entwicklungen Mit der Operation Beykoz im Januar 2000 gelang es dem türkischen Staat, die "Türkische Hizbullah" im Land weitestgehend zu zerschlagen. Bei der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Sicherheitskräften und TH-Anhängern im Istanbuler Stadtteil Beykoz kam u.a. der TH-Führer Velioglu ums Leben. Auch andere hochrangige TH-Mitglieder wurden bei dem mehrstündigen Feuergefecht getötet. Mit Hilfe der bei dieser Operation sichergestellten Materialien konnten landesweit zahlreiche hochrangige TH-Funktionäre verhaftet werden. Das sichergestellte Material ermöglichte einen tiefen Einblick in die Strukturen der "Türkischen Hizbullah" sowie Erkenntnisse über grausame Folterund Tötungsmethoden. In den letzten Jahren änderte die TH ihre Strategie dahingehend, dass sie begann legalistische Organisationen in den kurdischen Gebieten der Türkei zu gründen. Viele Vereine und Bildungseinrichtungen sind so entstanden, wodurch das Engagement vor allem im Südosten der Türkei verstärkt wurde. Die TH nutzt diese Vereine und Nichtregierungsorganisationen heute bevorzugt, um Nachwuchs zu rekrutieren sowie TH-Anhänger zu binden und zusammenzuführen. Die Organisation ist somit auch im sozialen Bereich aktiv, ähnlich der "HAMAS" in den palästinensischen Gebieten oder 116 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 der "Hizb Allah" im Libanon. In den letzten Jahren hat sich diese Strategie in der Türkei bei der Rekrutierung und Mobilisierung neuer Anhänger bewährt. Aufgrund einer Gesetzesänderung des türkischen Parlaments Ende Dezember 2010 wurden hochrangige TH-Anhänger nach mehreren Jahren Untersuchungshaft freigelassen. Die Islamisten stehen seither in der Türkei unter strenger Bewachung. Ob es zu einer weiteren islamistischen Gewaltwelle in der Türkei kommt und diese auch Auswirkungen auf Deutschland haben wird, bleibt offen. 2.9.3 Aktivitäten der TH in Deutschland Durch eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit ist die "Türkische Hizbullah" immer mehr in den Fokus deutscher Sicherheitsbehörden geraten. Die Zeitschrift "Inzar", die in der Türkei gedruckt und europaweit vertrieben wird, ist nicht verboten und liegt auch in Deutschland an den TH-Anhängern bekannten Anlaufstellen aus. Dass TH-Aktivisten bzw. -Sympathisanten in Deutschland terroristische Aktivitäten durchführen werden, erscheint nach derzeitiger Einschätzung eher unwahrscheinlich. Vielmehr wird Deutschland von der TH als Rückzugsund Rekrutierungsraum genutzt. Nach derzeitiger Einschätzung ist der Organisationsgrad der TH in SchleswigHolstein im Verhältnis zu anderen islamistischen Organisationen eher gering. 3 Nicht islamistisch motivierter Extremismus mit Auslandsbezug: "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), ehemals "Volkskongress Kurdistans" (KONGRAGEL) Die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) stellt in punkto Anhängerzahl, Organisationsgrad und Mobilisierungspotenzial in Deutschland immer noch die bedeutendste Kraft im Bereich des nicht islamistischen Extremismus mit Auslandsbezug dar. Seit 1993 sind die PKK sowie ihre Teilund Nachfolgeorganisationen in Deutschland nach SS 20 Vereinsgesetz verboten. Sie gelten als extremistisch, da sie auf einer marxistischleninistischen Ideologie fußen, als zentralistisch geführte Kaderorganisationen konspirativ agieren, sich eigene Staatsfunktionen (u.a. eine eigene Strafgewalt) anmaßen und - zumindest im Ausland - ihre politischen Ziele mit Gewalt in Form von Auf117 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode ruhr, Besetzung öffentlicher Gebäude, Entführungen, Anschlägen, bewaffneten Angriffen etc. verfolgen. In den Grenzgebieten der Türkei zum Nordirak, zum Iran und zu Syrien unterhält die PKK eine mehrere tausend Personen starke Guerillatruppe, die so genannten "Volksverteidigungskräfte" (HPG). Seit 1984 liefern sich die Guerillaeinheiten - unterbrochen durch "einseitige Waffenstillstände" - schwere Kämpfe mit den türkischen Streitkräften. Mindestens 40.000 Menschen sind bisher diesem Konflikt zum Opfer gefallen. Die PKK steht aktuell auf der EU-Liste der terroristischen Organisationen. Die PKK wurde 1978 unter der Führung von Abdullah Öcalan als Gegenbewegung gegen die staatliche Repression der Kurden in der Türkei gegründet. Die Hauptorganisation änderte mehrfach ihren Namen und baute eine verschachtelte Struktur von Teilund Nebenorganisationen auf. Das Bundesministerium des Innern stellte mit Schreiben vom 16. Juli 2009 klar, dass sich das vereinsrechtliche Verbot vom 22. November 1993 auf sämtliche weiteren Bezeichnungen der PKK erstreckt, namentlich auf KADEK, KONGRA-GEL, KKK und KCK. 3.1 Die PKK in Deutschland In Deutschland verfügt die PKK über einen konspirativ und illegal operierenden, hierarchisch strukturierten Funktionärsapparat. Nach einem parteiinternen System ist die gesamte Fläche der Bundesrepublik Deutschland aufgeteilt in Zuständigkeitsgebiete, denen jeweils ein Kader als "Gebietsverantwortlicher" zugeteilt wird. Um die Verfolgung durch Sicherheitsbehörden zu erschweren, wechseln diese Kader jährlich das Zuständigkeitsgebiet. Der größte Teil Schleswig-Holsteins bildet zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern das "Gebiet Kiel", das wiederum in einzelne Teilgebiete aufgeteilt ist. Zu den typischen Aufgaben der Gebietsund Teilgebietsverantwortlichen zählen z.B. der Verkauf von Publikationen und Eintrittskarten, die Spendensammlung und die Mobilisierung von Teilnehmern für Veranstaltungen. 118 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Von den nach neuesten Schätzungen 800.000 ethnischen Kurden in der Bundesrepublik Deutschland werden - seit Jahren konstant - 11.500 Personen zum festen Anhängerstamm der PKK gezählt. Die Anhängerschaft der PKK ist in Deutschland nahezu flächendeckend in Vereinen organisiert, die häufig dem Dachverband YEKKOM ("Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V.") angehören. Die YEK-KOM tritt nach außen hin als selbständige Organisation auf, arbeitet aber im Sinne der PKK. Sie ist als Nachfolgeorganisation der 1993 vom Bundesinnenminister verbotenen PKK-Nebenorganisation "Föderation der patriotischen Arbeiterund Kulturvereinigungen aus Kurdistan in der Bundesrepublik Deutschland" (FEYKAKurdistan) anzusehen. Nachrichtendienstlichen Informationen zufolge werden z.B. die Vereinsräumlichkeiten der YEK-KOM-Vereine auch für Treffen der sog. Frontarbeiter und illegalen Kader der PKK genutzt. In Schleswig-Holstein fungiert die "Deutsch-Kurdische Gesellschaft e.V." (DKG) in Kiel als zentrale Anlaufstelle für die auf landesweit 650 Personen geschätzte Anhängerschaft der PKK. Die DKG ist Gründungsmitglied der YEK-KOM. Ihre Aktivitäten (z.B. Demonstrationen, Informationsveranstaltungen, Feiern zu Jahresund Gedenktagen, Fahrten zu Großveranstaltungen im Inund Ausland) sind überwiegend Teil bundesoder europaweiter Kampagnen der PKK. Über die Veranstaltungen der DKG wird regelmäßig in der PKK-nahen Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" und in dem ebenfalls PKK-nahen Fernsehsender "Roj-TV" berichtet. 3.2 Jährliches Veranstaltungsprogramm Mit einem Kanon jährlich wiederkehrender Veranstaltungen bindet die PKK ihre Anhänger an sich und verbreitet Organisationspropaganda. Die Großveranstaltungen ziehen allerdings auch zahlreiche unpolitische Gäste an, welche die kurdische Kultur pflegen und Verwandte und Freunde aus ganz Europa treffen möchten. 119 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Im Jahr 2010 fanden beispielsweise statt: 13. Febr.: Großdemonstration in Straßburg/Frankreich anlässlich des 11. Jahrestages der Festnahme Öcalans mit offiziell geschätzten 6.500 Teilnehmenden 8. März: Feier zum Weltfrauentag in Kiel (DKG) 20. März: Bundesweite Zentralveranstaltung (Demonstration und Feier) zum kurdischen Neujahrsfest Newroz in Düsseldorf mit ca. 20.000 Teilnehmenden (YEK-KOM) 21. März: Feier des kurdischen Neujahrsfestes Newroz in Kiel (DKG) 4. April: Feier zum 61. Geburtstag des PKK-Gründers Abdullah Öcalan in Kiel (DKG) 1. Mai: Beteiligung an der gewerkschaftlichen Mai-Kundgebung in Kiel (DKG) 20. Juni: Konzert mit dem kurdischen Sänger Sivan Perwer in Kiel (DKG) 26. Juni: Zilan-Frauenfestival in Lemgo mit ca. 300 Teilnehmenden 10. Juli: Mazlum-Dogan-Jugendund Sportfestival in Köln mit 5.000 Teilnehmenden 15. Aug.: Feier in Kiel zum Jahrestag der Aufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK am 15. August 1984 (DKG) 18. Sept.: 18. Internationales Kurdisches Kultur-Festival in Köln mit rd. 35.000 Teilnehmenden 9. Okt.: deutschlandund europaweit zahlreiche Demonstrationen anlässlich des 12. Jahrestages der Ausweisung Öcalans aus Syrien 28. Nov.: Feier zum 32. Gründungstag der PKK in Kiel (DKG) 3.3 Reaktionen auf Exekutivmaßnahmen In Italien wurde am 18. Juli Nizamettin Toguc, Vorsitzender der "Konföderation der kurdischen Vereine in Europa" (KON-KURD) festgenommen. KON-KURD ist eine Dachorganisation der PKK-nahen Dachverbände in Europa, der auch die YEK-KOM angehört. Die YEK-KOM rief daraufhin alle kurdischen Vereine in Deutschland zu 120 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 Protesten gegen die Verhaftung auf. Am 7. August folgte die DKG diesem Aufruf mit einem Informationsstand in Kiel, allerdings mit geringer Resonanz. Das Bundesministerium des Innern hatte 2008 dem kurdisch-sprachigen Fernsehsender "Roj-TV" den Sendebetrieb in Deutschland nach dem deutschen Vereinsgesetz untersagt. Das Verbot wurde u.a. damit begründet, dass sich die Ausstrahlung des Fernsehprogramms gegen den Gedanken der Völkerverständigung richte. Der Fernsehsender hat seinen Hauptsitz in Dänemark und wird aufgrund einer dänischen Lizenz betrieben. Auf eine Klage der dänischen Aktiengesellschaften hin, legte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Beschluss vom 24. Februar dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vor, inwieweit das Verbot eines im europäischen Ausland ansässigen Fernsehsenders durch eine deutsche Behörde mit Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Bis zur Vorabentscheidung des EuGH hat das BVerwG das Klageverfahren ausgesetzt mit der Folge, dass "Roj-TV" in Deutschland vorläufig weiter senden darf. Obgleich das BVerwG den geltend gemachten, im nationalen Recht verankerten Verbotsgrund als erfüllt betrachtet, feierten die PKK-nahen Medien die Entscheidung des BVerwG als Etappensieg. Am 4. März durchsuchte die belgische Polizei das Studio und die Büroräume des Fernsehsenders "Roj-TV" sowie 25 weitere Objekte mit PKK-Bezug in Brüssel/Belgien, beschlagnahmte Material und nahm zahlreiche hochrangige PKKFunktionäre fest. Diese Exekutivmaßnahmen beherrschten wochenlang die Schlagzeilen aller PKK-nahen Medien. Die YEK-KOM rief zu Demonstrationen auf. In Kiel zogen auf Anmeldung der DKG am 6. März ca. 160 Personen demonstrierend durch die Kieler Innenstadt; in allen größeren Städten Europas fanden Protestkundgebungen statt. Am selben Tag verübten in Münster unbekannte Täter einen Brandanschlag gegen das türkische Generalkonsulat und hinterließen an dem Gebäude den Schriftzug "Roj TV". Auch die dänischen Behörden trafen Maßnahmen, um den Sendebetrieb von "RojTV" einzustellen. Seit Anfang Oktober mobilisierten PKK-nahe Organisationen ihre Anhänger in ganz Europa zu Protestkundgebungen gegen die drohende Schließung von Roj-TV Dänemark. Am 8. Oktober demonstrierten auf Anmeldung der DKG knapp 100 Personen friedlich gegen das so genannte "internationale Komplott" (d.h. 121 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode die Verhaftung Abdullah Öcalans im Jahre 1999) und gegen "die Unterdrückungsmaßnahmen gegen Roj-TV" (zitiert nach "Roj-TV"-Bericht vom 9. Oktober). Gegen den Entzug der Sendelizenzen und das "Einfrieren" der Konten klagte der Sender vor dem zuständigen Gericht in Kopenhagen. Nach einer Ankündigung in der "Yeni Özgür Politika" fanden sich Kurden aus Norddeutschland, darunter auch Teilnehmer aus Schleswig-Holstein, zu einer Demonstration anlässlich des Prozessauftaktes am 19. Oktober vor dem Gerichtsgebäude in Kopenhagen ein. 3.4 Doppelstrategie: Krieg und Terror in der Türkei, Lobbyarbeit in Europa Mit einer Presseerklärung vom 31. Mai kündigten die "Volksverteidigungskräfte" ihren "einseitigen Waffenstillstand" vom 13. April 2009 auf. Während zuvor nur auf Angriffe der türkischen Streitkräfte reagiert wurde, griffen die PKK-Guerillatruppen ab 1. Juni wieder offensiv Militär, Polizei und Gendarmeriestationen an. Auch zivile Infrastruktureinrichtungen wurden zum Ziel von Guerillaangriffen, so am 20. Juli eine Gaspipeline in der Osttürkei. Entsprechend der Warnung des faktischen PKK-Führers Murat Karayilan, der Krieg werde in die Metropolen getragen, bekannte sich die PKK-nahe Organisation "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) zu mehreren Bombenanschlägen in Istanbul und warnte vor weiteren Anschlägen in Tourismushochburgen. Im Juli 2010 beschuldigte die PKK die türkischen Streitkräfte, Leichname von Guerillakämpfern geschändet und chemische Kampfstoffe gegen kurdische Zivilisten eingesetzt zu haben. Die YEK-KOM rief die Kurden in ganz Europa zu einer Protestkampagne gegen "Kriegsverbrechen der türkischen Armee" auf. Zahlreiche Demonstrationen in Deutschland verliefen friedlich, nur in Düsseldorf kam es zu Ausschreitungen durch jugendliche Teilnehmer. Die DKG beteiligte sich an der Kampagne mit einem Informationsstand am 24. Juli in der Kieler Fußgängerzone. Am 13. August rief die PKK erneut einen "einseitigen Waffenstillstand" aus. Während in den kurdischen Siedlungsgebieten im Nahen Osten die PKK-Guerillas kämpfen, setzt die Organisation in Westeuropa verstärkt auf Lobbyund Öffentlichkeitsarbeit. Vorrangig will man eine Streichung von der EU-Terrorliste und eine Auf122 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 hebung des PKK-Verbots in Deutschland erreichen und auf europäischer Ebene als Verhandlungspartner für kurdenpolitische Belange anerkannt werden. Im Januar 2010 organisierte die YEK-KOM eine Deutschlandreise von zwei Abgeordneten des türkischen Parlaments, die der pro-kurdischen Partei DTP angehören. Im Zuge dieser Reise traf sich am 12. Januar in Kiel die DTP-Abgeordnete Sebahat Tuncel mit Vertretern der Partei "DIE LINKE." und Vertretern der SSWLandtagsfraktion. Die Abgeordnete wurde begleitet vom stellvertretenden Vorsitzenden der YEK-KOM und von Vertretern der DKG aus Kiel. In einem Interview mit den "Kieler Nachrichten" vom 15. Januar berichtete Sebahat Tuncel selbst, dass sie in der Türkei drei Jahre lang inhaftiert war wegen Mitgliedschaft in der PKK, und distanzierte sich gegenüber der Zeitung nicht von dieser Organisation: "Ihren Kampf will sie [S. Tuncel] ohne Waffen führen. Auch wenn die Nähe zur PKK unbestritten bleibt. 'Die PKK ist eine Realität des Landes, das müssen wir akzeptieren.' " Die Organisation und Begleitung eines solchen Abgeordnetenbesuchs durch die YEK-KOM fügt sich ein in die übergeordnete Strategie der PKK, durch Lobbyarbeit und Engagement in etablierten deutschen Parteien politischen Einfluss zu nehmen. Seit 2008 zeichnet sich eine bundesweite Zusammenarbeit der PKK mit der Partei "DIE LINKE." ab, beispielsweise stellt "DIE LINKE." bei Kommunalund Landtagswahlen kurdische Kandidaten auf und Vertreter der Partei treten bei Veranstaltungen PKK-naher Organisationen als Redner auf. Die "Yeni Özgür Politika" berichtete am 17. Februar auf den Seiten eins und zwölf: "Im Gespräch mit [... dem Verfasser des Artikels] nahm Gregor Gysi Stellung zu den kurdischen Kandidaten bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Diese müssten die Wähler der Linken repräsentieren und dürften sich nicht ausschließlich um ihre eigenen Probleme kümmern. Die PKK bezeichnete Gysi als große und mächtige Organisation, die er in einigen Punkten kritisiere. Kriminalisierung und Verbote trügen nicht zu einer Kontrolle der PKK bei. Dialog und Diskussion seien geeignetere Mittel." 123 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 3.5 Kampagne "Tatort Kurdistan" Am 28. März lud die DKG zu einem Empfang, auf dem Filme gezeigt wurden über die Reise mehrerer deutsch-kurdischer Delegationen in die Türkei anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes "Newroz". Der "Delegation Hamburg/Kiel" gehörten mehrere Parlamentsabgeordnete und Fraktionsmitarbeiter der Partei "DIE LINKE." an, u.a. ein Abgeordneter des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Aus der Solidaritätsarbeit zwischen der YEK-KOM, dem ebenfalls PKK-nahen "Verband der Studierenden aus Kurdistan" (YXK) und linken und linksextremistischen deutschen Gruppierungen entstand Anfang Mai 2010 die Kampagne "Tatort Kurdistan". Diese Kampagne verfolgte das Ziel, bundesweit durch Informationsmaterial, Veranstaltungen und Demonstrationen die deutsche Öffentlichkeit auf die Rolle der deutschen Politik im Kurdenkonflikt aufmerksam zu machen. Am 24. Juli unterhielt die DKG einen Informationsstand auf dem Asmus-Bremer-Platz in Kiel und verteilte Flugblätter mit den Forderungen: "Stoppt die militärischen Operationen der türkischen Armee! Deutsche Waffen raus aus Kurdistan! Freiheit für Öcalan und alle politischen Gefangenen! Weg mit dem SS 129 a/b, Terrorlisten und dem PKK Verbot!" In Schleswig-Holstein gipfelte die Kampagne in einer Demonstration zum "Antkriegstag" am 1. September in Kiel. Als Anmelder der Demonstration fungierte ein Landtagsabgeordneter der Partei "DIE LINKE.", dazu mobilisierten die "KurdistanSolidarität Schleswig-Holstein", die linke und linksextremistische Szene und die DKG. Die Demonstrationsaufrufe wurden plakativ betitelt "Kiel ist Kriegsgebiet". Das Begleitmaterial im Internet thematisierte u.a. den Rüstungsexport deutscher Betriebe, das Engagement der Christian-Albrechts-Universität im Exzellenzcluster "Entzündungsforschung" als angeblich militärmedizinische Forschung und die Rolle der Bundesrepublik Deutschland als Bündnispartner der Türkei. Nach der Demonstration zum "Antikriegstag" ebbte das Engagement für die Kampagne "Tatort Kurdistan" ab. Offenbar hatten sich die gegenseitigen Erwartungen der Akteure nicht erfüllt: die deutschen Linken schafften es nicht, das Interesse der deutschsprachigen Massenmedien und der bürgerlichen Parteien auf das Thema 124 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 "Kurdistan" zu lenken, die Kurden ließen sich kaum für Demonstrationen zu anderweitigen Belangen mobilisieren. Angesichts des kurdischen Nationalismus, des PKK-internen Führerkults um Abdullah Öcalan, des Märtyrerkults und der fortdauernden Kriegsführung der PKK-Guerilla bleibt es für die Linken eine argumentative Gratwanderung, den Kurdenkonflikt im Zusammenhang mit Anti-Nationalismus, Anti-Totalitarismus und Anti-Militarismus zu thematisieren. 3.6 Jugendarbeit in Kiel Erstmals bei der Feier zum 32. Gründungsjubiläum der PKK, die in Kiel von der DKG am 28. November organisiert wurde, trat eine Jugendgruppe namens "Kurdische Jugend Kiel" öffentlich auf. Die Angehörigen dieser Jugendgruppe präsentierten sich in einheitlichen schwarzen Kapuzensweatshirts, die mit einem Gruppenlogo (gelbes Sonnensymbol mit grünem fünfzackigem Stern und roter Aufschrift "Kurdische Jugend Kiel - K*J*K") bedruckt waren. Wenige Tage später, am 19. Dezember, richtete die "Kurdische Jugend Kiel" in den Räumen der DKG eine Jugendveranstaltung mit Musik und Tanz aus. Anhaltspunkte sprechen dafür, dass die "Kurdische Jugend Kiel" mit Unterstützung der DKG agiert und das Ziel verfolgt, Jugendliche für die politischen Anliegen der PKK zu interessieren. Ein Internetauftritt der "Kurdischen Jugend Kiel" ist verlinkt mit der Internetseite der Kampagne "Tatort Kurdistan" und mit einschlägigen PKK-Seiten, z.B. den Seiten der PKK-Jugendorganisation "Komalen Ciwan", der "Volksverteidigungskräfte" (HPG) und der PKK-nahen Tageszeitung "Yeni Özgür Politika". 3.7 Finanzierung Die PKK finanziert sich durch die Mitgliedsbeiträge der YEK-KOM-Vereine, durch monatliche Spenden, durch den Verkauf von Publikationen und von Eintrittskarten für Veranstaltungen, in erster Linie aber durch die jährliche Spendenkampagne. 125 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Die jährliche Spendenkampagne wurde im Jahr 2010 früher begonnen als in den Vorjahren, nämlich ab Mitte August. Um keine Ansatzpunkte für Exekutivmaßnahmen zu bieten, wurde die Spendensammlung wie in den Vorjahren konspirativ durchgeführt. Die PKK schätzt die jeweilige finanzielle Leistungsfähigkeit und legt im Voraus die Spendensumme für jede kurdisch-stämmige Familie fest. Es wurden 2010 keine Fälle von Gewaltanwendung bei der Spendensammlung in Schleswig-Holstein bekannt. Seit Jahren setzt die Organisation eher auf psychologischen Druck, beispielsweise durch die drohende soziale und geschäftliche Ausgrenzung von Spendenverweigerern. In Deutschland erbringt die Spendensammlung regelmäßig Millionenbeträge und ca. ein Drittel des gesamten Spendenaufkommens in Europa. Die Geldmittel werden zur Aufrechterhaltung der konspirativen und der "offenen" Organisationsstrukturen der PKK, für die PKK-nahen Medien (Fernsehsender "Roj-TV", Parteizeitschriften, -bücher und CDs etc.) und für die Ausrüstung und den Lebensunterhalt der Guerillatruppen in der Türkei bzw. im Nordirak verwendet. 3.8 Ausblick: Nach den Parlamentswahlen in der Türkei ein "revolutionärer Volkskrieg"? Das Verhalten der PKK-Anhänger in Deutschland hängt unmittelbar von der Entwicklung des Kurdenkonfliktes in der Türkei, von der Gesamtstrategie der PKK-Parteiführung im Nordirak und von dem Befinden des inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan ab. Als hierarchisch und straff geführte Kaderorganisation ist die PKK in der Lage, ihre Anhänger zu abgestuften Formen des Protests von friedlichen Kundgebungen bis hin zu Gewalttaten zu mobilisieren. Das Protestgeschehen in Deutschland verlief im Berichtsjahr relativ ruhig, was sicherlich darauf zurückzuführen ist, dass die PKK-Führung Chancen sah, die Position der Kurden in der Türkei durch Verhandlungen mit der türkischen Regierung zu verbessern. Kleine Fortschritte in der gesellschaftlichen Stellung der Kurden in der Türkei und die inoffizielle Aufnahme von Verhandlungen zwischen Abdullah Öcalan und staatlichen Vertretern ließen in den vergangenen zwei Jahren vorsichtige Hoffnung auf eine Lö126 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1494 sung des Kurdenkonfliktes aufkeimen. Auf den Wahlerfolg der pro-kurdischen Partei "Demokratik Toplum Partisi" (Partei der demokratischen Gesellschaft, DTP) bei den Kommunalwahlen 2009 folgten allerdings im Dezember 2009 ein Parteiverbot und im April 2010 eine Verhaftungswelle. Fast 1.500 Mitglieder der DTP-Nachfolgepartei "Baris ve Demokrasi Partisi" (Partei des Friedens und der Demokratie, BDP) wurden wegen angeblicher Unterstützung der PKK festgenommen. Vermutlich mit Blick auf die im Mai 2011 anstehenden Parlamentswahlen in der Türkei hat Abdullah Öcalan der türkischen Regierung ein Ultimatum gestellt. Aus der Haftanstalt heraus erklärte er beim Treffen mit seinen Anwälten am 15. Dezember, dass laut "Roj-TV": "innerhalb der nächsten sechs Monate noch eine letzte Chance für eine Lösung der Kurdenfrage existiere. Wenn diese nicht genutzt werde, könne jedoch ein grausamer Krieg entfachen. Die Entscheidung werde im Juni fallen und eine erste Zwischenbilanz wolle man schon im März ziehen." Andeutungen Öcalans und hochrangiger PKK-Funktionäre lassen zumindest die Interpretation zu, dass die PKK 2011 durch eine bürgerkriegsartige Mobilisierung der kurdischen Massen ("revolutionärer Volkskrieg") in der Türkei den Druck auf die türkische Regierung erhöhen will. In diesem Fall wäre ein aggressiveres Auftreten der PKK-Anhänger in Deutschland ebenso wahrscheinlich wie ein Ansteigen der Spendenbereitschaft. Bis auf weiteres erhält die PKK jedoch ihren "Friedenskurs" in Europa aufrecht und versucht, auf der politischen Bühne Einfluss zu nehmen. 127 Drucksache 17/1494 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 17. Wahlperiode 4 Entwicklung der Mitglieder-/Anhängerzahlen der extremistischen Ausländerorganisationen in Schleswig-Holstein und Gesamtentwicklung im Bundesgebiet 2008 bis 2010 2008 2009 2010 Türkische Organisationen linksextremistische Gruppen 50 * * islamistische Gruppen 470 490 490 extrem-nationalistische Gruppen 420 400 400 Kurdische Organisationen 650 650 650 Iranische Organisationen 25 25 25 Arabische Organisationen sowie nicht eindeutig 85 95 110 zuzuordnende Einzelpersonen aus dem Spektrum arabischer Islamisten Gesamt Land 1.700 1.660 1.675 Gesamt Bund 59.470 60.980 62.380 * Es sind nur noch Einzelmitglieder vorhanden, deren Anzahl nicht konkret beziffert werden kann. 128