Verfassungsschutzbericht 2023 Beratung Spionageabwehr Verfassung Terrorismus Information Linksextremismus Extremismusprävention Pr Auslandsbezogener Extremismus es se Aufklärung fas Islamismus Bewertung su Delegitimierung ngDemokratie Rechtsextremismus Analyse Reichsbürgerszene Sensibilisierung Wirtschaftsschutz IMPRESSUM Herausgeber: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Halberstädter Straße / "Am Platz des 17. Juni" 39112 Magdeburg Bezugsadresse: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Postfach 18 49 39008 Magdeburg Tel: 0391/567-3900 Dieser Verfassungsschutzbericht ist auch im Internet abrufbar: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/ verfassungsschutzberichte-zum-downloaden/ Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt für das Jahr 2023 Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt InhaltsverzeIchnIs VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT 7 Gesetzliche Grundlagen und Funktion 8 Schwerpunktaufgaben 10 Arbeitsweise 17 Organisation der Verfassungsschutzbehörde 18 Kontrolle des Verfassungsschutzes 18 Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 20 EXTRA - Extremismus-Ausstieg 23 Auskunftserteilung 24 Redaktionelle Hinweise 25 RECHTSEXTREMISMUS 27 Einleitung 28 Rechtsextremistisches Parteienspektrum 32 "Alternative für Deutschland" (AfD) Landesverband Sachsen-Anhalt 32 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) - Landesverband Sachsen-Anhalt 60 Partei "Der III. Weg" 67 "Neue Stärke Partei" (NSP) Abteilung Magdeburg ("Neue Stärke Magdeburg; NSMD) 76 Parteiungebundener, vornehmlich neonazistisch geprägter Rechtsextremismus 79 Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial (gewaltbereiter Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus) 97 "Neue Rechte" 120 "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) 120 "Verein für Staatspolitik e. V." firmiert unter "Institut für Staatspolitik" (IfS) 128 "REICHSBÜRGER" UND "SELBSTVERWALTER" 135 Einleitung 136 Reichsbürgerszene 138 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 4 InhaltsverzeIchnIs VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 149 Sammelbeobachtungsobjekt: Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates 150 LINKSEXTREMISMUS 163 Einleitung 164 Gewaltorientierte Linksextremisten 173 "Rote Hilfe e. V." (RH) 210 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) 215 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) 219 ISLAMISMUS 223 Einleitung 224 Salafismus 236 "Gemeinschaft der Verkündigung der Mission" (Urdu: "Tablighi Jama'at", TJ) 247 Muslimbruderschaft (MB) / "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) / HAMAS 249 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 254 Einleitung 255 "Arbeiterpartei Kurdistans" (kurdisch: Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) 257 SCIENTOLOGY ORGANISATION (SO) 269 SPIONAGEABWEHR 274 Einleitung 275 Russische Föderation 277 Chinesische Nachrichtendienste 279 Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran 283 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 5 InhaltsverzeIchnIs Andere Nachrichtendienste 284 Hybride Bedrohungen 285 Cyberabwehr 290 Wirtschaftsschutz 293 Proliferationsabwehr 296 GEHEIMSCHUTZ 300 ANHANG 303 Statistik 304 Bildnachweis 305 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 6 VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT Gesetzliche Grundlagen und Funktion 8 Schwerpunktaufgaben 10 Arbeitsweise 17 Organisation der Verfassungsschutzbehörde 18 Kontrolle des Verfassungsschutzes 18 Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 20 EXTRA - Extremismus-Ausstieg 23 Auskunftserteilung 24 Redaktionelle Hinweise 25 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT Gesetzliche Grundlagen und Funktion Die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung; sie soll den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder gewährleisten. Die Aufgaben des Verfassungsschutzes in unserem Bundesland nimmt das Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt als Verfassungsschutzbehörde wahr. Der Verfassungsschutz informiert im Rahmen seines gesetzlichen Auftrags die Landesregierung und andere Stellen. Diese sollen dadurch in die Lage versetzt werden, die erforderlichen Maßnahmen ergreifen zu können. Ebenso unterrichtet er die Öffentlichkeit über seine Aufgabenfelder (vgl. SS 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt; nachfolgend VerfSchG-LSA). Sie bestehen in der Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, 2. fortwirkende Strukturen und Tätigkeiten der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere des Ministeriums für Staatssicherheit oder des Amtes für Nationale Sicherheit, im Sinne der SSSS 94 bis 99, 129 und 129a des Strafgesetzbuches (StGB), Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 8 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt 3. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG), 4. Bestrebungen im Geltungsbereich des GG, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 5. Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG), insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG) gerichtet sind. Unter Bestrebungen im verfassungsschutzrechtlichen Sinn sind politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen in oder für einen Personenzusammenschluss zu verstehen, die sich gegen die oben unter den Ziffern 1., 4. und 5. genannten Schutzgüter richten. Ein Personenzusammenschluss besteht aus mehreren, gemeinsam handelnden Personen. Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln, gelten nur dann als Bestrebung und werden vom Verfassungsschutz beobachtet, wenn sie auf die Anwendung von Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut des VerfSchG-LSA erheblich zu beschädigen (vgl. SS 5 Abs. 1 VerfSchG-LSA). Voraussetzung für das Sammeln und Auswerten von Informationen ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für vorstehend genannte Bestrebungen oder Tätigkeiten. Für das Handeln der Verfassungsschutzbehörde ist es nicht erforderlich, dass eine konkrete Gefahr besteht oder eine begangene Straftat vorliegt. Der Verfassungsschutz wird bereits im Vorfeld konkreter Gefahren oder Straftaten tätig. Insbesondere darin kommt auch die Frühwarnfunktion des Verfassungsschutzes zum Ausdruck. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 9 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Schwerpunktaufgaben Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Eine Schwerpunktaufgabe des Verfassungsschutzes besteht nach SS 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA im Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, mithin dem Schutz der nicht zur Disposition stehenden Elemente des GG. In seinem Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 - führt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aus, dass der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 GG jene zentralen Grundprinzipien umfasst, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind. Dies sind: Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 10 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Ferner ist das Demokratieprinzip konstitutiver Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Unverzichtbar für ein demokratisches System sind die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Für den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind schließlich die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte bestimmend. Zugleich erfordert die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Einzelnen, dass die Anwendung physischer Gewalt den gebundenen und gerichtlicher Kontrolle unterliegenden staatlichen Organen vorbehalten ist. Dem entspricht die gesetzliche Aufzählung der Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in SS 5 Abs. 2 VerfSchG-LSA, ergänzt um den Verweis auf die in der Landesverfassung konkretisierten Menschenrechte. Spionageabwehr Die Spionageabwehr ist nach SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA Aufgabe der Verfassungsschutzbehörde. Sie beschäftigt sich mit der Aufklärung, Abwehr und Verhinderung von Spionageaktivitäten fremder Nachrichtendienste. Auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und Völkerverständigung Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt des Verfassungsschutzes ist die Beobachtung von Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Dazu gehören in erster Linie gewaltbereite extremistische Gruppen mit Auslandsbezug, die von unserem Staatsgebiet aus gewaltsame Aktionen planen und vorbereiten, um die politischen Verhältnisse im Ausland, vordringlich in ihrem Herkunftsland, gewaltsam zu verändern und dadurch die staatlichen BeziehunVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 11 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt gen der Bundesrepublik Deutschland zu den betroffenen Staaten beeinträchtigen (vgl. SS 4 Abs. 1 Nr. 4 VerfSchG-LSA). Sofern sich Bestrebungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker richten, unterliegen diese ebenfalls der Beobachtung durch den Verfassungsschutz (vgl. SS 4 Abs. 1 Nr. 5 VerfSchG-LSA). Davon erfasst sind Personenzusammenschlüsse, die darauf abzielen, konfessionelle oder ethnische Gruppen im Ausland zu bekämpfen. Mitwirkungsaufgaben Zu den weniger bekannten Aufgaben des Verfassungsschutzes zählt der Bereich der Mitwirkung: Die Verfassungsschutzbehörde gibt Erkenntnisse an andere Stellen weiter und unterstützt diese damit bei ihren Entscheidungen nach den jeweiligen Fachgesetzen. Dabei werden bereits vorliegende oder aus Anlass des Mitwirkungsersuchens gewonnene Erkenntnisse an die anfragende Behörde übermittelt. Die als Mitwirkungsaufgaben bezeichneten Überprüfungen durch die Verfassungsschutzbehörde sind damit ein integraler Bestandteil der Sicherheitsarchitektur und finden ihre rechtliche Grundlage in SS 3 Abs. 2 des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (BVerfSchG) in Verbindung mit SS 4 Abs. 2 Nr. 1 VerfSchG-LSA sowie den entsprechenden Fachgesetzen. Zweck der Überprüfungen ist es festzustellen, ob aufgrund nachrichtendienstlicher Erkenntnisse sicherheitsrelevante Tatsachen vorliegen, die beispielsweise der Zuverlässigkeit einer Person, der Gewährung einer Erlaubnis, eines Aufenthaltstitels oder einer Einbürgerung entgegenstehen. Dabei ist die Verfassungsschutzbehörde im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften dazu verpflichtet, den ersuchenden Behörden Auskunft zu erteilen. Die Bewertung der übermittelten Ergebnisse obliegt jedoch allein der jeweils anfragenden Behörde. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 12 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Mitwirkungsaufgaben finden sich in einer Vielzahl von Gesetzen, etwa im: Zuverlässigkeitsüberprüfungen Den weitaus größten Teil der Mitwirkungsaufgaben machen die so genannten Zuverlässigkeitsüberprüfungen aus, bei denen die Verfassungsschutzbehörde im Rahmen eines Erlaubnisverfahrens auf Anfrage hin mitteilt, ob bei ihr Erkenntnisse vorliegen, die gegen eine nach dem Fachgesetz normierte Zuverlässigkeit des Antragstellers sprechen. Durch die im Jahr 2020 eingeführte Regelanfrage nach SS 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 WaffG erfolgt im Rahmen der Beantragung waffenrechtlicher Erlaubnisse eine verpflichtende Regelanfrage bei der zuständigen Verfassungsschutzbehörde. Das Ziel ist es dabei, Extremisten den legalen Zugriff auf erlaubnispflichtige Waffen und Munition zu erschweren. Aus diesem Grund wurde mit dem 3. Waffenrechtsänderungsgesetz (WaffRÄndG) auch das SprengG novelliert. Nach SS 8a Abs. 2 Nr. 3 SprengG besitzen danach Personen die erforderliche Zuverlässigkeit in der Regel nicht, die als Einzelpersonen oder Mitglieder einer Vereinigung Bestrebungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung verfolgen, verfolgt haben oder entsprechend unterstützend tätig geworden sind. Nach SS 34a GewO unterliegen auch Personen, die ein Bewachungsgewerbe betreiben oder in diesem tätig sind, einer Zuverlässigkeitsüberprüfung. Sowohl für den Gewerbetreibenden Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 13 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt sowie für die mit der Leitung eines Betriebes oder einer Zweigniederlassung beauftragten Person als auch für Wachpersonal, das bei der Bewachung von Aufnahmeeinrichtungen und zugangsgeschützten Großveranstaltungen eingesetzt werden soll, ist die Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde gesetzlich vorgeschrieben. Erteilung von Aufenthaltstiteln und Einbürgerungen Die Verfassungsschutzbehörde wirkt ferner bei der erstmaligen Erteilung oder der Verlängerung von Aufenthaltstiteln mit. Zu diesem Zweck übermittelt sie den Ausländerbehörden auf Anfrage Erkenntnisse, um festzustellen, ob Versagungsgründe vorliegen (SS 73 Abs. 2 AufenthG). Zudem hat die Verfassungsschutzbehörde ungefragt und unverzüglich mitzuteilen, wenn nachträglich Versagungsgründe nach SS 5 Abs. 4 AufenthG oder sonstige Sicherheitsbedenken bekannt werden. Hierbei geht der Gesetzgeber davon aus, dass ein Ausweisungsinteresse besonders schwer wiegt, wenn der Ausländer die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Zur Übermittlung von Ausschlussgründen im Sinne des SS 11 StAG übermitteln die Einbürgerungsbehörden gemäß SS 37 Abs. 2 StAG vor ihrer Entscheidung die personenbezogenen Daten aller Antragstellenden, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, an die Verfassungsschutzbehörde. Über etwaige Erkenntnisse hat die Verfassungsschutzbehörde die Einbürgerungsbehörde unverzüglich zu unterrichten. Anfrageaufkommen im Berichtsjahr Die Verfassungsschutzbehörde hat im Berichtsjahr 2023 an insgesamt 54.728 Verfahren mitgewirkt. Von diesen Verfahren entfielen 18.888 auf den Bereich des WaffG, 30.458 auf das AufenthG, 2.460 auf das StAG, 2.130 auf den Bereich der GewO, 270 auf das LuftSiG, 341 auf das SprengG und 181 Verfahren auf das AtomG. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 14 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Prozentual stellt sich das Anfrageaufkommen wie folgt dar: Entwicklung der Anzahl der Anfragen im Mitwirkungsbereich Wie auch in den Jahren zuvor ist die Anzahl der Anfragen im Mitwirkungsbereich der Verfassungsschutzbehörde weiter angestiegen. Allerdings hat der Anstieg im Vergleich zum Vorjahr an Intensität verloren. Im Verhältnis zum Vorjahr ist die Gesamtanzahl an Anfragen um 1,47% gestiegen. Während noch im Jahr 2022 durchweg ein Anfragezuwachs im zweistelligen Prozentbereich zu verzeichnen war, fiel dieser im Jahr 2023 weniger stark aus. So konnten leichte Zuwächse in den Bereichen WaffG (+2,85 %) und AtomG/LuftSiG/SprengG (insgesamt + 11,38%) festgestellt werden, während Anfragen nach dem AufenthG (-2,07 %) sogar einen leichten Rückgang erfuhren. Ein unverminderter Zuwachs zeichnet sich hingegen für die Bereiche StAG (+ 36,82%) und GewO (+ 15,95%) ab. Aufgrund der Überlegungen zur Novellierung des WaffG sowie erfolgter Änderung des StAG ist in den kommenden Jahren mit einem weiteren Anstieg der Fallzahlen zu rechnen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 15 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Entwicklung des Anfrageaufkommens 2022 bis 2023 nach Verfahren: Gesamtentwicklung der Anfragen an die Verfassungsschutzbehörde 2020 bis 2023: Nachberichtspflichten Da sicherheitsrelevante Risiken mitunter auch dauerhaft bestehen können, sieht die Mehrzahl der mitwirkungspflichtigen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 16 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Gesetze eine Nachberichtspflicht vor, welche die Verfassungsschutzbehörde dazu verpflichtet, neu gewonnene Erkenntnisse den zuständigen Behörden auch im Nachhinein mitzuteilen. So hat der Verfassungsschutz die zuständige Behörde unverzüglich zu informieren, soweit im Nachhinein für die Beurteilung der Zuverlässigkeit bedeutsame Erkenntnisse bzw. für Anfragen nach dem AufenthG Versagungsgründe oder sonstige Sicherheitsbedenken anfallen. Dabei prüft die Verfassungsschutzbehörde im Einzelfall, ob relevante Erkenntnisse an die anfragenden Behörden mitzuteilen sind. Im Berichtsjahr wurden allein zum AufenthG 3.738 und zum WaffG 1.462 Nachberichte an die jeweiligen Behörden veranlasst. Für das Jahr 2024 ist mit einer Steigerung der Nachberichte zu rechnen, da der Gesetzgeber im Rahmen der Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts (StARModG) erstmals eine Nachberichtspflicht auch für das StAG implementiert hat. Arbeitsweise Den größten Teil seiner Informationen gewinnt der Verfassungsschutz aus offenen Quellen (z. B. Zeitungen, wissenschaftliche Veröffentlichungen, Rundfunkberichte, Interviews, Parteiprogramme und offene Internetinhalte). Da sich hieraus aber nicht immer ein vollständiges Bild ergibt - z. B. weil nicht alle Extremisten ihre verfassungsfeindlichen Ziele offen propagieren -, darf die Verfassungsschutzbehörde im Rahmen gesetzlich festgelegter Grenzen auch verdeckte nachrichtendienstliche Mittel zur Informationsbeschaffung einsetzen. Hierzu zählen insbesondere der verdeckte Einsatz von Vertrauenspersonen und Gewährspersonen, Observationen, Bildund Tonaufzeichnungen und die Verwendung von Tarnpapieren und Tarnkennzeichen (vgl. SS 7 Abs. 3 VerfSchG-LSA). Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählt auch die Brief,Postund Telefonkontrolle. Der hiermit verbundene Eingriff in das Grundrecht nach Art. 10 GG ist nach Maßgabe des Gesetzes Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 17 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) zulässig. Allerdings dürfen solche nachrichtendienstlichen Mittel nur eingesetzt werden, wenn sie angemessen und erforderlich sind, d. h. wenn zuvor alle Möglichkeiten der offenen Informationsbeschaffung ausgeschöpft wurden. Sie stehen zudem unter dem Vorbehalt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit: Von mehreren geeigneten Maßnahmen zur Nachrichtengewinnung ist diejenige auszuwählen, die den Betroffenen voraussichtlich am wenigsten in seinen Grundrechten beeinträchtigt. Für besondere Aufgaben des Verfassungsschutzes waren im Haushaltsplan 2023 im Einzelplan 03 insgesamt 1.393.700,00 Euro veranschlagt. Der Verfassungsschutzbehörde standen im Berichtsjahr 121 Dienstposten bzw. Arbeitsplätze zur Verfügung. Organisation der Verfassungsschutzbehörde Kontrolle des Verfassungsschutzes Eine Reihe von Kontrollmechanismen stellt sicher, dass der Verfassungsschutz sich streng an seinen gesetzlichen Auftrag und an die für seine Tätigkeit geltenden Rechtsvorschriften hält. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 18 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Auf parlamentarischer Ebene kontrolliert der Landtag die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde. Diese Aufgabe nimmt das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) wahr, dessen Zusammensetzung, Aufgaben und Befugnisse in SSSS 24 ff. VerfSchG-LSA geregelt sind. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 19 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Jeder Eingriff des Verfassungsschutzes in das Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis nach Maßgabe von Art. 10 GG muss vor dem Vollzug der Maßnahme von der G 10-Kommission, die vom PKGr bestellt wird, auf ihre Zulässigkeit und Notwendigkeit hin geprüft und genehmigt werden. Zusammensetzung und Arbeitsweise der G 10-Kommission sind im Gesetz zur Ausführung des Artikel 10-Gesetzes (AGG 10-LSA) geregelt. Sämtliche Maßnahmen der Verfassungsschutzbehörde - z. B. die Nennung von Personenzusammenschlüssen und Einzelpersonen in den Verfassungsschutzberichten - unterliegen der gerichtlichen Nachprüfung. Jeder Personenzusammenschluss und jeder Bürger, der sich durch eine Maßnahme des Verfassungsschutzes in seinen Rechten verletzt sieht, kann dagegen gerichtlich vorgehen. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Aufgeklärte Bürger sind der effektivste Schutz der Demokratie gegen extremistische Bestrebungen und hybride Bedrohungen durch fremde Mächte. Mit seiner Öffentlichkeitsarbeit unterstützt der Verfassungsschutz daher die faktenbasierte Auseinandersetzung der Bürger mit Akteuren, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen. Der Verfassungsschutz steht somit allen Menschen im Land als Informationsdienstleister zur Verfügung. So trägt der Verfassungsschutz dem Anspruch Rechnung, als Frühwarnsystem der wehrhaften Demokratie zu dienen. Der Verfassungsschutz ist gesetzlich dazu verpflichtet, die Öffentlichkeit periodisch und aus gegebenem Anlass im Einzelfall über extremistische Bestrebungen zu unterrichten (SS 15 Abs. 2 VerfSchG-LSA). Um diesen Auftrag zu erfüllen, veröffentlicht die Verfassungsschutzbehörde neben ihrem jährlichen Verfassungsschutzbericht Informationsmaterial zu einzelnen Phänomenbereichen des Extremismus, das über die auf Seite 23 genannten Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 20 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Kontaktdaten kostenlos bezogen oder auf der Internetseite des Verfassungsschutzes heruntergeladen werden kann.1 Der Verfassungsschutz wird zudem regelmäßig von Pressevertretern zu verschiedenen Themen angefragt; im Berichtsjahr hat die Verfassungsschutzbehörde erneut mehr als 100 solcher Presseanfragen beantwortet. Darüber hinaus bietet die Internetseite des Verfassungsschutzes regelmäßig aktualisierte Überblicksdarstellungen zur Entwicklung innerhalb der einzelnen Phänomenbereiche des Extremismus.2 Mit der Novellierung des VerfSchG-LSA hat der Gesetzgeber in SS 4a VerfSchG-LSA klargestellt, dass die Prävention zu den Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde zählt. Die Verfassungsschutzbehörde klärt daher mit Vorträgen im Rahmen von Informationsund Schulungsveranstaltungen sowie mit Publikationen über aktuelle Erscheinungsformen und Strategien des politischen Extremismus in Sachsen-Anhalt auf. Darüber hinaus sensibilisiert der Verfassungsschutz öffentliche Stellen (z. B. Gerichte, Staatsanwaltschaften, Polizei, Justizvollzug, Schulen und Ordnungsbehörden der Kommunen) anlassbezogen für aktuelle Bedrohungen, die von extremistischen Akteuren in Sachsen-Anhalt ausgehen. Neben öffentlichen Stellen bietet die Verfassungsschutzbehörde auch allen Bürgerinnen und Bürgern vertrauliche Beratungsgespräche zum Umgang mit politischem Extremismus an. Im Rahmen seiner Präventionsarbeit hat der Verfassungsschutz im Berichtsjahr erneut mit zielgruppenorientierten Fachvorträgen über aktuelle extremistische Entwicklungen informiert. Diese Vorträge richten sich vor allem an Multiplikatoren aus allen Teilen der Landesverwaltung (insbesondere der Polizeiund Justizbehörden), in Bildungseinrichtungen und Kommunen, aber 1 - Eine Übersicht über die Informationsbroschüren und Tagungsbände der Verfassungsschutzbehörde finden Sie unter https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/publikationen. 2 - https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/themenfelder. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 21 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt auch an zivilgesellschaftliche Akteure (z. B. Vereine und Bürgerinitiativen) und Unternehmen. Im Rahmen seiner Beteiligung an Ausbildungsund Fortbildungsmaßnahmen des Landes und der Kommunen unterrichtet der Verfassungsschutz Bedienstete der öffentlichen Verwaltung unter anderem über relevante Akteure und Kennzeichen der verschiedenen Phänomenbereiche des politischen Extremismus sowie über geeignete Handlungsstrategien im Umgang mit extremistischen Bestrebungen. Das Vortragsangebot des Verfassungsschutzes umfasst alle Phänomenbereiche des Extremismus (Rechtsextremismus, Reichsbürgerszene, Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates, Linksextremismus, Islamismus, Auslandsbezogener Extremismus). Im Bereich der Spionageabwehr sowie des Wirtschaftsund Wissenschaftsschutzes bietet die Verfassungsschutzbehörde Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen neben allgemeinen Informationen auch vertrauliche Beratung und Unterstützung zum Schutz vor Spionage und Cyberangriffen an. Am 16. November 2023 veranstaltete die Verfassungsschutzbehörde gemeinsam mit der Industrieund Handelskammer Magdeburg den 5. Wirtschaftsschutztag des Landes SachsenAnhalt. Rund um die Frage "Internationale Sicherheit oder Unsicherheit?" widmete sich die Tagung den Herausforderungen der exportorientierten Wirtschaft vor dem Hintergrund aktueller geopolitischer Entwicklungen. Über die Folgen der aktuellen geopolitischen Lage für die deutsche Wirtschaft referierten u. a. Vertreter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und der Deutschen Industrieund Handelskammer. Zwei Unternehmen aus Sachsen-Anhalt berichteten über Praxiserfahrungen im Umgang mit Sicherheitsaspekten, die sie im Zuge ihrer Internationalisierung und Digitalisierung sammeln konnten. Neben aktuellen Risiken für Unternehmen standen auch Präventionsansätze und mögliche Schutzmaßnahmen zur Bewältigung aktueller Gefährdungslagen im Fokus der Veranstaltung. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 22 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Sie haben Interesse an den Informationsangeboten des Verfassungsschutzes? Dann wenden Sie sich bitte direkt an uns: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Nachtweide 82 39124 Magdeburg Telefon: +49(0)391/567-3900 E-Mail: verfassungsschutz@mi.sachsen-anhalt.de info.verfassungsschutz@mi.sachsen-anhalt.de oder besuchen Sie uns im Internet unter www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz Hier finden Sie weitere Informationen und unsere aktuellen Publikationen, die wir Ihnen auch am Ende dieses Berichts vorstellen. EXTRA - Extremismus-Ausstieg Das bei der Verfassungsschutzbehörde angesiedelte Ausstiegshilfeprogramm EXTRA (Extremismus-Ausstieg) unterstützt seit dem Jahr 2014 erfolgreich ausstiegswillige Menschen bei der Deradikalisierung und der Lösung aus extremistischen Lebensbezügen. Die persönliche Unterstützung und Begleitung von Rechtsextremisten während eines freiwilligen und selbstmotivierten Ausstiegs als Hilfe zur Selbsthilfe bildet den Schwerpunkt der Arbeit von EXTRA. Ziel ist die Abkehr von rechtsextremistischen Einstellungen und Handlungsmustern sowie das Lösen radikalisierungsbegünstigender (sozialer) Begleitprobleme. Als Angebot im Bereich der tertiären Prävention zielt die Arbeit von EXTRA darauf ab, im kooperativen Zusammenwirken mit Ausstiegswilligen nach erkannten Regelverletzungen durch geVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 23 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt eignete präventive Maßnahmen weitere Regelverletzungen zu vermeiden, persönliche Folgeprobleme zu lösen und negative Auswirkungen einer Radikalisierung (für Aussteiger ebenso wie für die Gesellschaft) zu verhindern. Damit nimmt EXTRA auch Aufgaben der Prävention zum Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen wahr. EXTRA ist eine gut etablierte und anerkannte Einrichtung in der Beratungslandschaft. Nach erfolgreicher und positiver Evaluation wurde EXTRA, das zunächst als Modellprojekt gestartet war, im Jahr 2022 als Regelangebot etabliert. Die Mitarbeiter von EXTRA sind wie folgt erreichbar: Kostenfreie Hotline: 0800 - 22 44 101 (24 Stunden erreichbar) E-Mail: extra@mi.sachsen-anhalt.de Auskunftserteilung Jeder Bürger kann unentgeltlich Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten beantragen. Die Verfassungsschutzbehörde ist nach SS 14 Abs. 1 VerfSchG-LSA grundsätzlich verpflichtet, Auskunft zu erteilen. Geht ein Ersuchen ein, wird der Ersuchende zunächst gebeten, eine Kopie seines Personalausweises oder eines entsprechenden Personendokuments zur Identitätsfeststellung zu übersenden. Dies soll die angefragte Person davor schützen, dass möglicherweise andere Personen in seinem Namen Auskunft verlangen und Daten möglicherweise an Unberechtigte übermittelt werden. Die Auskunft hat nach SS 14 Abs. 2 VerfSchG-LSA zu unterbleiben, wenn bestimmte, im Gesetz geregelte Ausschlussgründe vorliegen. Dies ist beispielsweise gegeben, wenn durch die Auskunftserteilung eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde drohen würde. Im Berichtsjahr gab es 94 Auskunftsersuchen: Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 24 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Auskunft über die zur Person gespeicherten Daten 14 Negativauskunft, keine Daten gespeichert 77 Keine Bearbeitung mangels Identifizierung des Er- 3 suchenden Auskunftsersuchen insgesamt 94 Redaktionelle Hinweise Die Verfassungsschutzbehörde erfüllt mit diesem Bericht ihre gesetzlichen Unterrichtungspflichten, die in SS 15 Abs. 1 und 2 VerfSchG-LSA normiert sind. Bitte beachten Sie die folgenden redaktionellen Hinweise: - Soweit der Verfassungsschutzbericht einzelne Gruppierungen namentlich nennt, handelt es sich - sofern nicht anders erwähnt - um Fälle, bei denen die vorliegenden Erkenntnisse in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele im Sinne des SS 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA verfolgt. Diese Gruppierungen gelten insofern als gesichert extremistische Bestrebungen, die zielund zweckgerichtet gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorgehen (siehe Registeranhang). - Allerdings erwähnt der Verfassungsschutzbericht nicht alle Gruppierungen, die von der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt beobachtet werden. Insbesondere werden die Gruppierungen nicht erwähnt, bei denen lediglich tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen. Informationen über solche Gruppierungen darf die Verfassungsschutzbehörde nach SS 7 Abs. 2 VerfSchG-LSA sammeln und auswerten. Über diese Gruppierungen darf sie jedoch nicht Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 25 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt öffentlich berichten, da von der Unterrichtungspflicht des SS 15 Abs. 2 VerfSchG-LSA nur gesichert extremistische Bestrebungen erfasst sind. Eine Nennung von sogenannten Verdachtsfällen erfolgt daher nicht. - Die Nennung von Gruppierungen, die extremistisch beeinflusst sind, dient dem Verständnis des sachlichen Zusammenhangs. - Der Berichtszeitraum umfasst den Zeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2023. Ereignisse vor oder nach diesem Zeitraum werden nur dargestellt, sofern sie für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs erforderlich sind. - Hinweise auf Geschehnisse außerhalb Sachsen-Anhalts sind in den Bericht aufgenommen, sofern sie für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs erforderlich sind. - Die in Anführungszeichen gefassten Textteile sind, so es sich um Zitate handelt, in der Originalschreibweise wiedergegeben. - Die jeweiligen Mitgliederzahlen der Personenzusammenschlüsse sind zum Teil geschätzt und gerundet. - Personenund Funktionsbezeichnungen in diesem Bericht gelten jeweils in weiblicher und männlicher Form. - Fußnoten sind fortlaufend im jeweiligen Abschnitt ausgewiesen. Die Verfassungsschutzberichte der letzten fünf Jahre können im Internet unter der Adresse: www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz heruntergeladen oder bei der Verfassungsschutzbehörde kostenlos angefordert werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 26 Rechtsextremismus Einleitung 28 Rechtsextremistisches Parteienspektrum 32 "Alternative für Deutschland" (AfD) Landesverband Sachsen-Anhalt 32 "Die Heimat" - ehemals "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Landesverband Sachsen-Anhalt 60 Partei "Der III. Weg" 67 "Neue Stärke Partei" (NSP) Abteilung Magdeburg ("Neue Stärke Magdeburg; NSMD) 76 Parteiungebundener, vornehmlich neonazistisch geprägter Rechtsextremismus 79 Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial (gewaltbereiter Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus) 97 "Neue Rechte" 120 "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) 120 "Verein für Staatspolitik e. V." firmiert unter "Institut für Staatspolitik" (IfS) 128 RechtsextRemismus RECHTSEXTREMISMUS Rechtsextremismus und -terrorismus stellen nach wie vor die größte Bedrohung der inneren Sicherheit in Sachsen-Anhalt dar. Neben den nach wie vor beobachtbaren realweltlichen Aktivitäten in Gestalt von Versammlungen, Kameradschaftstreffen, Musikveranstaltungen u.a. rücken die Online-Aktivitäten von Rechtsextremisten immer stärker in den Fokus der Sicherheitsbehörden. Alle rechtsextremistischen Erscheinungsformen - von parteigebundenen über neonazistische Strukturen bis hin zum Rechtsterrorismus - finden sich im digitalen Rechtsextremismus wieder. In zunehmendem Maße gewinnen insbesondere Plattformen und soziale Netzwerke wie Telegram oder Discord an Bedeutung. Auf diesen bilden sich Gruppen (oft mit eindeutigen Namen wie "Drei Faches Sieg heil" oder "Gemeinschaft für Volksgenossen"1), die insbesondere von jungen Menschen zur Vernetzung mit anderen sich radikalisierenden Einzelpersonen genutzt werden. Hier schicken sie einander Bilder, Memes oder Textnachrichten mit eindeutigen rechtsextremistischen Inhalten. Die häufig sehr jungen Nutzer umgeben sich so mit Gleichgesinnten und teilen oftmals explizite Gewaltaufrufe oder -fantasien, gepaart mit rassistischen und antisemitischen Beleidigungen oder veröffentlichen Bilder von Waffen. Auffällig ist hierbei, dass die Protagonisten dieser Gruppen oftmals keinerlei Anbindung an lokale rechtsextremistische Szenen aufweisen. Ihre jeweilige Peergroup setzt sich lediglich aus Gleichgesinnten im Internet zusammen. Auch die transnationale Vernetzung von Rechtsextremisten wird durch diese Entwicklung gefördert. Die Möglichkeiten, die der digitale Raum für diese Vernetzungsaktivitäten bietet, übersteigt die Möglichkeiten in der Realwelt um ein Vielfaches. Der Verfassungsschutz hat sich daher in immer stärkerem Maße der Detektion von Rechtsextremismus im Internet zu widmen. Dort werden rechtsextremistisch motivierte Straftaten ver- 1 - Schreibweise jeweils im Original. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 28 RechtsextRemismus übt und vorbereitet, Netzwerke gebildet oder tagespolitische Themen aufgegriffen, um diese im Sinne rechtsextremistischer Ideologien zu instrumentalisieren. Die Radikalisierung von Personenzusammenschlüssen und Einzelpersonen - insbesondere das Abgleiten in einen gewaltorientierten Extremismus - im digitalen Raum frühzeitig zu erkennen, stellte die Sicherheitsbehörden auch im Jahr 2023 bundesweit vor große Herausforderungen. Die hohe Dynamik im Rechtsextremismus spiegelte sich im Berichtsjahr im Personenpotenzial wider. Die nachfolgende Übersicht nimmt eine Klassifizierung der Erscheinungsformen im Phänomenbereich Rechtsextremismus vor und stellt das jeweilige Personenpotenzial im Vergleich zu den Vorjahren dar. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 29 RechtsextRemismus Das rechtsextremistische Parteienspektrum in Sachsen-Anhalt erfuhr einen deutlichen Zuwachs. Diese Entwicklung ist auf die Einstufung des Landesverbandes der "Alternative für Deutschland" (AfD) Sachsen-Anhalt mitsamt seiner Teilund Unterorganisationen als gesichert rechtsextremistische Bestrebung zurückzuführen. Es liegen erhebliche und verdichtete tatsächliche Anhaltspunkte nach SS 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA dafür vor, dass sich die AfD Sachsen-Anhalt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet. Dies wird vor allem anhand der schwerwiegenden und regelmäßig getätigten Äußerungen des Landesverbandes gegen das Prinzip der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG deutlich. Ebenso wurden verfassungsfeindliche Äußerungen gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) und das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) bekannt. Als ideologischer Ideengeber für die "Neue Rechte" fungiert das "Institut für Staatspolitik (IfS). Unbeeindruckt von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Magdeburg am 23. Februar 2023, das im Eilverfahren den Antrag des IfS gegen seine Nennung im Verfassungsschutzbericht 2020 ablehnte, setzte das in Schnellroda (Saalekreis) ansässige "Institut" seine publizistische Tätigkeit im Periodikum "Sezession" und im gleichnamigen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 30 RechtsextRemismus Internetblog sowie mit wiederkehrenden "Akademien" und anderen Formaten fort. Der weitgehend parteiungebundene Rechtsextremismus ist mehrheitlich neonazistisch geprägt. Das seit Jahren in etwa gleichbleibende Personenpotenzial unterliegt allerdings strukturellen Schwankungen. Die zunehmende digitale Vernetzung rechtsextremistischer Akteure wirkt sich auf realweltliche Strukturen und Aktivitäten der Szene aus. So sind Personenzusammenschlüsse stark fluid, es kommt zu Neuund Umbildungen, die oftmals nur von kurzer Dauer sind, was einem nachhaltigen und kontinuierlichen Wirken entgegensteht. Insbesondere im Harz ist diese Entwicklung zu beobachten. Auch die in der zweiten Jahreshälfte 2023 vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) vollzogenen Vereinsverbote gegen die "Hammerskins Deutschland" und die "Artgemeinschaft" führten zu einer spürbaren Vermischung der Szene. Nach den Verboten erklärten verschiedene Organisationen ihre Selbstauflösung, um damit mutmaßlich einem eigenen Verbot zuvorzukommen. Der Neufindungsprozess hat den überwiegenden Teil des parteiungebundenen Rechtsextremismus ergriffen und hält weiter an. Akteure, die dem weitgehend unstrukturierten Teil der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen sind, sind stark aktionsorientiert und bevorzugen Veranstaltungen mit Eventcharakter. Hierzu gehören Musikveranstaltungen, die mehrheitlich in privaten Räumen abgehalten werden. Im Berichtszeitraum fanden vermehrt einschlägige Liederabende Eingang in die Statistik. In Sachsen-Anhalt sind rechtsextremistische Bands und Liedermacher ansässig, die im Land und auch außerhalb aktiv sind. Rund ein Fünftel aller Rechtsextremisten in Sachsen-Anhalt wird vom Verfassungsschutz als gewaltbereit eingestuft. Dieser Kreis wird überwiegend aus dem Bereich des weitgehend unstrukturierten Personenpotenzials gespeist. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 31 RechtsextRemismus Rechtsextremistisches Parteienspektrum "Alternative für Deutschland" (AfD) Landesverband Sachsen-Anhalt Gründung 2013 Sitz Magdeburg Vorsitz Martin Reichardt (MdB) Mitglieder etwa 2.210 (hierzu zählen auch die Mitglieder der Anhänger der AfD zugehörigen Jugendorganisation "Junge Alternative") Struktur 14 Kreisverbände, mehrere Ortsgruppen Aufbau "Junge Alternative Landesverband Sachsen-Anhalt" (JA-LSA, Jugendorganisation) "Friedrich-Friesen-Stiftung e. V." (parteinahe Stiftung) "Verein konservativer Kommunalpolitiker Sachsen-Anhalt e. V." (VKK-LSA, kommunalpolitische Vereinigung) VeröffentKostenlose Zeitschriften der AfD-Fraktion im lichungen Landtag von Sachsen-Anhalt ("Aufbruch"), der AfD-Fraktion im Stadtrat von Magdeburg ("Blauer Reiter"), des AfD-Stadtverbandes Bitterfeld-Wolfen ("Alternativer Stadtkurier") und des AfDBundestagsabgeordneten Jan Wenzel Schmidt ("Blaue Zukunft"); zahlreiche Onlineangebote FinanzieMitgliedsbeiträge, Spenden und Mittel aus der rung staatlichen Parteienfinanzierung Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 32 RechtsextRemismus Kurzportrait / Ziele Der AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt1 wurde, wie die Bundespartei, im Jahr 2013 gegründet und zog mit der Landtagswahl 2016 erstmals in den Landtag von Sachsen-Anhalt ein. Seit den Kommunalwahlen des Jahres 2019 ist die AfD in allen Kreistagen sowie in zahlreichen Stadtund Gemeinderäten Sachsen-Anhalts in Fraktionsstärke vertreten. Bei der Landtagswahl 2021 erhielt die Partei 20,8 Prozent der Zweitstimmen; sie behauptete damit ihre Stellung als stärkste Oppositionsfraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt. Als politische Partei strebt die AfD in Sachsen-Anhalt mit der Beteiligung an Wahlen und dem Einwirken auf den gesellschaftlichen Diskurs einen fundamentalen Bruch mit der bestehenden politischen Ordnung an. Die thematischen Schwerpunkte des AfD-Landesverbands Sachsen-Anhalt liegen in der Migrations-, Familien-, Identitätsund Erinnerungspolitik. In der Außenpolitik wirbt die Partei für eine Annäherung Deutschlands an die Russische Föderation. Ideologisch ist der AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt der "Neuen Rechten"2 zuzuordnen; seine Funktionsund Mandatsträger unterhalten aber Verbindungen in das gesamte rechtsextremistische Spektrum, zu "Reichsbürgern" und zur Delegitimiererszene. Grund der Beobachtung Der AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt mitsamt seinen Teil-, Nebenund Unterorganisationen ist als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft, da die politische Agitation der AfD Sachsen-Anhalt sich gegen essentielle Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richtet. 1 - Im Folgenden: AfD Sachsen-Anhalt. 2 - Siehe dazu S. 120. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 33 RechtsextRemismus Äußerungen gegen das Prinzip der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) Dies wird vor allem anhand der schwerwiegenden und regelmäßigen Äußerungen gegen das Prinzip der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG deutlich. Ausländer, Muslime und andere als fremd wahrgenommene Menschen werden allein aufgrund der ihnen zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit zu einer existenziellen Gefahr stilisiert. Damit wird ihnen pauschal ein von vornherein abgewerteter sozialer Status zugeteilt. Die im Folgenden direkt zitierten Belegstellen werden jeweils im Originalwortlaut wiedergegeben; Fehler in Rechtschreibung und Grammatik wurden nicht korrigiert. Nicht in Textform darstellbare Inhalte, wie Bilder oder Emoticons, werden in Form von Anmerkungen und Beschreibungen erläutert: Nadine Koppehel (MdL) schrieb am 8. Juni 2023 auf Facebook: "[...] Abschiebung und kontrollierte Einwanderung müssen Priorität sein, denn unser Volk muss vor diesen Mördern, Vergewaltigern und Sozialtouristen geschützt werden! Keine Fachkräfte...nur importierte Kriminalität das ist die traurige Realität in unserem schönen Deutschland!" Martin Reichardt (MdB) schrieb am 21. Januar 2023 anlässlich eines Messerangriffs in Stendal auf Twitter: "Auch in #Stendal Sachsen-Anhalt sind die vom Establishment gerufenen #Fachkräfte für Messerstecherei mittlerweile aktiv! [...]" In dem sozialen Netzwerk "X" antwortete Jan Scharfenort (MdL) am 27. September 2023 auf die Aussage, dass Grenzkontrollen Deutschland wirtschaftlich schaden würden: "Immer noch besser als ein Messer im Rücken." Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 34 RechtsextRemismus Jan Wenzel Schmidt (MdB) schrieb am 6. Oktober 2023 auf Facebook in Bezug auf einen Presseartikel über einen Messerangriff von aus Seenot geretteten Migranten in Portugal: "Es sind oftmals keine dankbaren 'Flüchtlinge', die nach Europa wollen, sondern aggressive Asylforderer. Wenn sie nicht kriegen was sie wollen, ziehen einige sogar das Messer. Sie wollen letztendlich in unser Sozialsystem. Ich sage: Kein Asyl für Invasoren! [...]" Thomas Korell (MdL) schrieb in einem Facebook-Beitrag vom 26. Januar 2023 anlässlich eines tödlichen Messerangriffs in einem Regionalzug in Schleswig-Holstein: "Guten Morgen Deutschland. Der nächste Einzelfall auf der langen Liste seit 2015 hat wieder stattgefunden. Die Täterbeschreibung liest sich so, als wäre es immer der Gleiche. Die Opferbeschreibung leider auch. Da es sich bei all diesen Taten um blanke Willkür handelt bei den Opfern, muss man irgendwann davon sprechen, dass man hier anscheinend eine Art Guerillakrieg gegen unsere Bevölkerung führt. [...]" Der AfD-Kreisverband Jerichower Land schrieb am 17. November 2021 auf seinem Facebook-Profil in Bezug auf einen Medienartikel über das Personal der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Ende ihrer Amtszeit: "Von unsrem Geld ein schöner Hofstaat für die Kanzlerin, die unser Land auf dem Gewissen hat. Vielleicht nimmt sie ja 9 ihrer Goldstücke als Mitarbeiter, denen kann sie dann Lesen und Schreiben beibringen. Sie muss bei der Auswahl nur aufpassen, dass sie nicht erstochen oder vergewaltigt wird, die Statistik lügt nicht. [...]"3 Geflüchtete, insbesondere aus islamisch geprägten Ländern, werden hier pauschal als Kriminelle - im letzten Zitat sogar als Analphabeten - abgewertet. 3 - Der Begriff "Goldstücke" ist rassistisch konnotiert, siehe S. 159. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 35 RechtsextRemismus Darüber hinaus wird suggeriert, die islamische Religion sei per se gewalttätig und könne daher nicht zu Deutschland gehören. Ein Beispiel dafür ist diese Darstellung, die der Landesvorsitzende der AfD Sachsen-Anhalt, Martin Reichardt (MdB), am 3. November 2020 auf seinem Facebook-Profil veröffentlicht hat. Eine solche Verunglimpfung von Menschengruppen aufgrund ihrer Herkunft oder Religion steht der Menschenwürdegarantie nach Art. 1 Abs. 1 GG entgegen. Mit ihrer auf Dauer und ständige Wiederholung angelegten Verbreitung fremdenfeindlicher Agitation befeuert die AfD Sachsen-Anhalt, nicht zuletzt mit der Drastik der Wortwahl ihrer Funktionsund Mandatsträger ("Invasoren", "aggressive Asylforderer", "Fachkräfte für Messerstecherei", "Guerillakrieg gegen unsere Bevölkerung") und der dämonisierenden Bildsprache, offensiv rechtsextremistische Denkund Handlungsweisen unter ihren Anhängern, die ihrer inneren Logik nach letztlich in Gewalt gegen Geflüchtete, Menschen mit Migrationshintergrund sowie gegen Amtsund Mandatsträger münden können. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 36 RechtsextRemismus Die AfD Sachsen-Anhalt ist wesentlich von der rassistischen Ideologie des Ethnopluralismus durchdrungen. Dem Ethnopluralismus liegt ein völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff zugrunde, der Menschen nach vermeintlichen Herkunftsgebieten sortieren will. Ziel des von der AfD Sachsen-Anhalt vertretenen Ethnopluralismus und des damit verbundenen Volksbegriffs sind weitestgehend homogene Staaten. Diese Vorstellung läuft letztlich auf die Schaffung ethnisch reiner Gesellschaften und damit die Ausweisung aller "Volksfremden" hinaus. Auf dieser ideologischen Grundlage fordert die AfD Sachsen-Anhalt die Ausgrenzung von Menschen aufgrund von deren Herkunft und Religion. Damit richtet sich die AfD Sachsen-Anhalt gegen die Menschenwürde und die in Art. 3 GG konkretisierte prinzipielle Gleichheit aller Menschen. Konstitutive Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wie die allgemeinen Menschenrechte oder der Minderheitenschutz, werden dadurch zur Disposition gestellt. Um für ihr ethnopluralistisches Weltbild zu werben, bedienen sich einige Funktionsund Mandatsträger der AfD Sachsen-Anhalt typischer verschwörungsideologischer Kampfbegriffe der Neuen Rechten. Der Generalsekretär des Landesverbandes, Jan Wenzel Schmidt (MdB), verwendet z. B. immer wieder Begriffe wie "Großer Austausch" oder "Ersetzungsmigration". Mit diesen und ähnlichen Begriffen wird die innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums der Neuen Rechten populäre Verschwörungstheorie verbreitet, dass die regierenden Eliten die irreguläre Migration aus "kulturfremden" Ländern nach Europa gezielt förderten, um die autochthonen Bevölkerungen der europäischen Nationalstaaten zu ersetzen und so deren kulturelle Identität zu zerstören. So schrieb Jan Wenzel Schmidt am 17. August 2023 auf seinem Facebook-Profil zum Thema Wohnraummangel: "Woher kommen denn auf einmal diese ganzen Familien? An einer hohen Geburtenrate kann es jedenfalls nicht liegen. Die ist in Deutschland nach wie vor Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 37 RechtsextRemismus sehr niedrig. Warum gibt es also Platzmangel? Liegt es vielleicht an der Ersetzungsmigration? Hieß es nicht vor einiger Zeit noch überall in der linken Blase 'Wir haben Platz'?" Funktionsund Mandatsträger der AfD Sachsen-Anhalt lassen keinen Zweifel daran, dass eine Rückführung von Asylbewerbern ohne gültigen Aufenthaltsstatus aus ihrer Sicht nicht ausreichen würde, um den von ihnen angenommenen "Großen Austausch" der deutschen Bevölkerung zu verhindern. Angestrebt wird vielmehr eine erzwungene "Remigration" von "kulturfremden Zuwanderern", eine "Rückeroberung Europas" nach dem Vorbild der spanischen "Reconquista". Die AfD Sachsen-Anhalt möchte daher den Personenkreis der Ausreisepflichtigen stark ausdehnen. Die folgenden Zitate machen deutlich, dass die Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis nach dem Willen der AfD SachsenAnhalt nicht vom individuellen Asyloder Schutzstatus, sondern vom kulturellen Hintergrund der Migranten abhängig sein soll. Jan Moldenhauer (MdL) schrieb in Bezug auf gewalttätige Ausschreitungen in der Silvesternacht 2022 am 8. Januar 2023 auf Facebook: "Klare Frage, klare Antwort: Illegale und kulturfremde Zuwanderer sofort millionenfach abschieben!" Martin Reichardt (MdB) schrieb am 1. Dezember 2023 auf "X" in Bezug auf eine Massenschlägerei in einer Flüchtlingsunterkunft: "Angeblich fliehen sie vor Gewalt, doch in Wirklichkeit bringen sie ihre Gewaltbereitschaft, ihren fanatischen Glauben und ihre kontroverse Kultur in unser Land. [...] Das Maß ist übervoll, deshalb #remigrationjetzt [...]" Felix Zietmann (MdL) schrieb am 2. Januar 2023 auf Facebook: "+++Rückeroberung Europas+++ Heute vor 531 Jahren fand die #Reconquista, auf Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 38 RechtsextRemismus deutsch: Rückeroberung, der iberischen Halbinsel durch das katholische Königspaar Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien mit der Besetzung Granada ihr erfolgreiches Ende. Die fast 800 Jahre der muslimischen Fremdherrschaft auf großen Teilen der iberischen Halbinsel war damit beendet. Nach knapp 531 Jahren stehen wir Europäer auch heute wieder vor einem Scheideweg. Täglich müssen wir von: Messerangriffen Zugschupsern Vergewaltigern Drogendealer Sozialleistungsbetrüger und all den anderen lesen. Wir sagen Schluss damit Wir erobern UNSER Europa zurück! Unser Land zuerst!" Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund sind nicht die einzigen Bevölkerungsgruppen, die von der AfD Sachsen-Anhalt pauschal abgewertet werden. Immer wieder äußern sich Funktionsund Mandatsträger des Landesverbandes auch in diskriminierender Weise über Angehörige der LGBTQ+-Community und Menschen, die sich mit ihr solidarisch zeigen. So vertrat Hans-Thomas Tillschneider (MdL) am 30. Juni 2021 in einem Twitter-Beitrag die Position, dass die rechtliche Gleichstellung sexueller Minderheiten die Nation zerstöre und dass das Propagieren gleicher Rechte für sexuelle Minderheiten mit der Zugehörigkeit zum deutschen Volk unvereinbar sei: "Die Regenbogenfahne steht für die Zerstörung jeder nationalen und geschlechtlichen Identität. Wer sie am Arm trägt, kann kein richtiger Deutscher, kein richtiger Mann und erst recht kein richtiger Nationalspieler sein!" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 39 RechtsextRemismus Äußerungen gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) Von nicht geringerer Bedeutung sind die Äußerungen gegen das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG. Die AfD Sachsen-Anhalt veröffentlicht durchgehend und in erheblicher Anzahl Aussagen, die darauf ausgerichtet sind, das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland, seine Institutionen und deren Vertreter grundlegend verächtlich zu machen. Der Regierung oder anderen Verfassungsorganen und Institutionen des demokratischen Rechtsstaates wird totalitäres, demokratieund menschenfeindliches Handeln vorgeworfen oder die Regierung wird mit historischen Diktaturen wie dem NS-Regime oder der DDR gleichgesetzt. Dabei beschränken sich die entsprechenden Aussagen nicht auf eine an inhaltlichen Kriterien ausgerichtete Kritik an der Regierung oder der Regierungspolitik, sondern zielen auf das demokratische System an sich. Mit wiederholten Diffamierungen des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland und seiner wesentlichen Vertreter kreiert die AfD Sachsen-Anhalt sukzessive ein Zerrbild der Realität. Ihre Argumentation ist darauf angelegt, bei ihren Anhängern das Vertrauen in die politischen Institutionen und Prozesse der Bundesrepublik Deutschland fundamental zu erodieren und den Eindruck eines unmittelbar bevorstehenden, ultimativen Niedergangs, der Unterdrückung und Ausweglosigkeit zu erzeugen. Die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland soll somit als zwingende Notwendigkeit erscheinen. Die AfD Sachsen-Anhalt macht mit ihrer permanenten Verächtlichmachung der parlamentarischen Demokratie und aller übrigen Parteien deutlich, dass sie nicht die Beteiligung am demokratischen Diskurs, sondern letzten Endes eine Alleinherrschaft anstrebt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 40 RechtsextRemismus Ronny Kumpf (Mitglied der AfD-Fraktion im Stadtrat Magdeburg) schrieb am 29. August 2023 auf Facebook in Bezug auf die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und zum Energiesparen: "Linksautoritäre Staatswesen setzen darauf, die Opposition auszuschalten - aber das ist nicht das Einzige. Viel zentraler noch ist die Errichtung einer #Erziehungsdiktatur, in der Menschen nicht als Bürger, sondern als unreife Kinder gesehen werden, die der Staat rechtleiten muss. Die geplanten Maßnahmen der #Ampel verdeutlichen, dass genau das ihrem Menschenbild entspricht. Die Bürger sind nur noch Mittel zum Zweck, um ideologische Vorstellungen durchzusetzen - von der #Energiewende über Krieg gegen #Russland bis hin zum #GreatReset. Wacht endlich auf! [...]" Hans-Thomas Tillschneider (MdL) sagte in einer Rede, die er am 12. September 2022 in Querfurt hielt, über die deutschen Sanktionen gegen die Russische Föderation: "[...] Diese Sanktionen schaden nur uns. Und wisst ihr was? Das ist der Sinn dahinter. Wir sollen nicht frieren für die Ukraine. Wir sollen frieren, damit wir frieren. Wir sollen frieren, damit Deutschland kleingehalten wird. [...] Was wir aktuell erleben - mein Kollege Maximilian Krah aus dem Europaparlament hat es Morgenthau 2.0 genannt, was anspielt auf einen Plan zur Deindustrialisierung Deutschlands, der in den 1940er Jahren in den USA ersonnen wurde - und genau das erleben wir zurzeit. Was wir zurzeit erleben, das ist die systematische Deindustrialisierung unseres Landes. Und wir, die wir hier stehen, wir leisten dagegen Widerstand, wir finden uns damit nicht ab! [...]" Daniel Wald (MdL) reagierte auf die Niederlage des AfDKandidaten in der Stichwahl zur Wahl des OberbürgerVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 41 RechtsextRemismus meisters von Bitterfeld-Wolfen mit einem Kommentar in Richtung der etablierten Parteien. Auf "X" schrieb er hierzu am 9. Oktober 2023: "Ja klar, mit Briefwahlbetrug rückt ihr euch doch jede Stichwahl zurecht." Frank Pasemann (Mitglied der AfD-Fraktion im Stadtrat Magdeburg) schrieb am 11. Oktober 2023 auf "X": "Da ist sie wieder, die Parteien-Einheitsfront. Diese neue Einheitsfront ist aber noch widerlicher als die sozialistische DDR-Einheitsfront, weil diese wenigstens national war. Die Einheitsfront der real existierenden BRD ist noch nicht einmal das und demokratisch ist sie ebenfalls nicht, weil sie eine 20% Partei und ihre Wähler einfach ausgrenzen will. [...]" Jan Wenzel Schmidt (MdB) schrieb am 28. Juni 2023 auf Facebook: "Die Demokratiesimulation gerät an ihre Grenzen In Sonneberg wurde AfD-Kandidat Robert Sesselmann mit 54,5 Prozent der Stimmen gegen alle anderen Parteien gewählt. Mehr Demokratie geht nicht. Doch jetzt soll die Thüringer Rechtsaufsicht seine 'Demokratietauglichkeit' prüfen! Wie durchschaubar kann man sein? Das ist DDR 2.0. Egal, was sie sich ausdenken: Die patriotische Wende lässt sich nicht mehr aufhalten!" Funktionsund Mandatsträger der AfD Sachsen-Anhalt bringen öffentlich ihre Sympathien für ein antipluralistisches und antiparlamentarisches Demokratieverständnis zum Ausdruck. Ein Beispiel hierfür ist ein Auszug aus einer Rede des stellvertretenden Landesvorsitzenden Hans-Thomas Tillschneider (MdL), die dieser bei einer (oben bereits erwähnten) AfD-Kundgebung in Querfurt am 12. September 2022 hielt: Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 42 RechtsextRemismus Jetzt will ich unsere Forderungen hier verlesen. Und wer zustimmt mag nach jeder Forderung dies mit Applaus zum Besten geben. Das ist auch ein gutes demokratisches Verfahren, man muss nicht immer irgendwelche Stimmzettel auszählen, man kann auch per Akklamation etwas abstimmen. Und wir sind hier eine beschlussfähige Volksversammlung in Querfurt! Und ich frage euch, oder anders, ich sage: Wir fordern Gas aus Russland importieren, Schluss mit den Sanktionen, die uns schaden! Seht ihr das auch so? [...] Wunderbar, damit haben wir ein Programm." Nach Hans-Thomas Tillschneider bedarf ein "gutes demokratisches Verfahren" keiner freien, gleichen und geheimen Wahl, sondern einzig des lautstarken Beifalls einer Gruppe Demonstranten. Hans-Thomas Tillschneider praktiziert damit bereits im Kleinen das von ihm erklärtermaßen favorisierte Regierungssystem einer autokratischen Herrschaft ohne Parteien und Gewaltenteilung, die sich ausschließlich über stetig wiederkehrende Plebiszite legitimiert. Er knüpft damit an eine von den Autoren der "Konservativen Revolution", insbesondere von dem politischen Theoretiker und Staatsrechtler Carl Schmitt4, geprägte Fundamentalkritik des Parlamentarismus und der Parteiendemokratie an, die innerhalb der Neuen Rechten überaus populär ist. Relativ selten sind demgegenüber Verhaltensweisen von Vertretern der AfD Sachsen-Anhalt, die auf eine grundsätzliche Ableh- 4 - In seiner Schrift "Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus", die innerhalb der Neuen Rechten breit rezipiert wird, entwickelt Carl Schmitt die These, dass ein Herrscher, der die Zustimmung des Volkes als Ganzes per informeller Akklamation erlangt, mehr demokratische Legitimität für sich beanspruchen kann als die Regierung in einer parlamentarischen Parteiendemokratie, weil diese durch die von ihr repräsentierte Interessenvielfalt die Identität von Regierten und Regierenden, die Carl Schmitt als das Wesensprinzip der Demokratie bestimmt, zwangsläufig zerstöre. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 43 RechtsextRemismus nung der Idee der Demokratie schließen lassen. Aber auch hierfür gibt es Beispiele. So hat z. B. ein Mitglied der AfD-Fraktion im Stadtrat von Dessau-Roßlau, Andreas Mrosek, am 10. Oktober 2022 auf Facebook einen Beitrag verbreitet, der die Einführung eines Klassenwahlrechts fordert: "Ich wäre für ein neues Gesetz: Wählen darf nur der, der auch Lohnsteuer zahlt. [...]" Äußerungen gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) Den in ihrer Anzahl verhältnismäßig geringen Äußerungen gegen das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG kommt in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Relevanz zu. Die Tatsache, dass Äußerungen gegen das Rechtsstaatsprinzip fast ausnahmslos von Abgeordneten des Landtags und Mitgliedern eines Stadtrats stammen, belegt, dass in den Reihen der AfD Sachsen-Anhalt, selbst bei gewählten Mandatsträgern, die Bereitschaft zur Achtung von Recht und Gesetz in Zweifel zu ziehen ist. Hans-Thomas Tillschneider (MdL) schrieb am 15. Juni 2022 auf Twitter in Bezug auf eine von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhinderte Abschiebung: "Die Regierungen schieben von sich aus viel zu wenig ab - und wenn, dann funkt so ein nichtsnutziges europäisches Gericht dazwischen! Wie lange noch dieser Irrsinn?" Im Rahmen eines Auftritts beim Sommerfest des "Instituts für Staatspolitik" (IfS)5 am 30. Juli 2022 weigerte sich Hans-Thomas Tillschneider, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als völkerrechtswidrig anzuerkennen. Angesprochen auf Folterungen und andere Verbrechen, die von russischen Soldaten begangen wurden, tat Hans-Thomas Tillschneider die Vorwürfe mit der Bemer- 5 - Siehe zum IfS auch auf S. 128 ff. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 44 RechtsextRemismus kung ab: "Wo gehobelt wird, da fallen Späne". Mit dieser Apologie des russischen Handelns macht Hans-Thomas Tillschneider deutlich, dass er letztlich auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als probate Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ansieht. Nachdem die Abgeordneten des Landtags von SachsenAnhalt einen Kandidaten der AfD Sachsen-Anhalt nicht zum Vize-Präsidenten des Landtags gewählt hatten, äußerte sich Oliver Kirchner (MdL) am 18. Mai 2022 in der "Mitteldeutschen Zeitung" mit den folgenden Worten über die Demokratie im Land: "Da fand ich selbst die DDR-Rechtslage besser." Ronny Kumpf (Mitglied der AfD-Fraktion im Stadtrat Magdeburg) schrieb am 4. Februar 2022 auf Twitter in Bezug auf Straßenblockaden von Mitgliedern der Gruppe "Letzte Generation": "Kein #Autofahrer hat es zu dulden, durch ideologisch verblendete Extremisten in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu werden. Wenn ein Staat nicht in der Lage ist, gegen gemeinschaftliche #Nötigung unbescholtener Bürger vorzugehen, haben diese ein Recht, Notwehr zu üben." Der AfD-Stadtverband Bitterfeld-Wolfen schrieb am 10. August 2023 auf Instagram: "Es ist Zeit, dass viele Menschen ganz plötzlich und unerwartet verhaftet werden." Verbindungen zu extremistischen Organisationen Die AfD Sachsen-Anhalt weist umfangreiche Verbindungen zu einer Vielzahl von rechtsextremistischen Organisationen auf. Im Rahmen der Proteste gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen und in der Folgezeit kooperierte sie zudem mit OrgaVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 45 RechtsextRemismus nisationen und Einzelakteuren, die den Phänomenbereichen Reichsbürgerszene und Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzurechnen sind. Die AfD Sachsen-Anhalt ließ in diesem Zusammenhang immer wieder erkennen, dass sie eine parteiübergreifende Vereinnahmung aller Kräfte anstrebt, deren wesentliches gemeinsames Ziel die Abschaffung der verfassungsgemäßen Ordnung in ihrer derzeitigen Form ist. Damit folgt die AfD Sachsen-Anhalt dem Diktum des Vorsitzenden des AfD-Landesverbandes Thüringen, Björn Höcke, MdL, der die AfD seit der Gründung des mittlerweile aufgelösten innerparteilichen Netzwerks "Der Flügel" als "fundamentaloppositionelle Bewegungspartei" versteht, also als Teil einer überparteilichen rechtsextremistischen Bewegung, der die AfD als parlamentarischer Arm dient. Hans-Thomas Tillschneider erklärte auf dem AfD-Landesparteitag 2022 entsprechend: "Unser Partner das ist der Widerstand in all seiner Vielseitigkeit und seinem Facettenreichtum. Ich reiche jedem, der in diesen Tagen gegen das Altparteiregime der Deutschlandplünderer auf die Straße geht die Hand." Besonders eng ist die AfD Sachsen-Anhalt mit der Neuen Rechten um das IfS, die "Identitäre Bewegung " (IB) und den Verein "Ein Prozent e. V." verwoben. Die Kooperation folgt zielbewusst der für die Neue Rechte elementaren Theorie Antonio Gramscis. Nach Gramsci muss eine politische Bewegung, will sie ihre Ideen wirksam und dauerhaft durchsetzen, vor der staatlichen Macht die Hegemonie über den politischen Diskurs erringen. Diese Strategie sieht ein Zusammenspiel der in unterschiedlichen Schwerpunktbereichen tätigen Akteure des neurechten Netzwerks vor. So entwickelt beispielsweise das IfS als Vorfeldorganisation politische Ideen und Strategien, die über Publikationen, Schulungsund Vernetzungsveranstaltungen vermittelt werden. Einer in den Parlamenten vertretenen Partei wie der AfD kommt in dem Kampf um politische Diskurshoheit zunächst Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 46 RechtsextRemismus unter anderem die Funktion zu, ihre institutionell bedingte Öffentlichkeitswirksamkeit dazu zu nutzen, die von neurechten Vordenkern entwickelten Konzepte im breiten gesellschaftlichen Diskurs zu popularisieren und damit die "Grenze des Sagbaren" zu verschieben. Damit erklärt sich die enge gegenseitige Bindung, die zentrale Vertreter der AfD Sachsen-Anhalt und das IfS seit etlichen Jahren unterhalten. Der stellvertretende Landesvorsitzende der AfD Sachsen-Anhalt, Hans-Thomas Tillschneider, gab an, dass der IfS-Gründer Götz Kubitschek für ihn ein "Geistesverwandter" sei und die AfD "natürlich" auf die Strategien und Konzepte des IfS zurückgreife. Der Landtagsabgeordnete Jan Moldenhauer, der ebenfalls dem Vorstand des AfD-Landesverbandes angehört, schilderte in einem Vortrag bei einer Veranstaltung des IfS, wie es ihm unter maßgeblichem Einfluss des IfS in einem mehrjährigen und konzertierten Prozess gelungen ist, eine ethnopluralistische Position zur Migrationspolitik im Bundestagswahlprogramm der AfD zu etablieren. In einem Artikel für seine Abgeordneten-Zeitung "Blaue Zukunft" bekannte sich der Bundestagsabgeordnete Jan Wenzel Schmidt zur Kooperation der AfD mit der IB im Rahmen des gemeinsamen Kampfes um politische Hegemonie - nicht ohne dieses Plädoyer mit einem vordergründigen Bekenntnis zur geltenden Beschlusslage des AfD-Bundesverbandes zu verknüpfen, die eine Zusammenarbeit mit der IB offiziell ausschließt: "Ist die Identitäre Bewegung mit der AfD vereinbar? Nein! Sie müssen allesamt koexistieren. Ziel der AfD sind die Parlamente. Ziel der IB und anderer Vorfeldorganisationen ist es auf politische Missstände mit Aktionen aufmerksam zu machen. Dabei ist es wichtig Parlament und Straße voneinander zu trennen und doch zu erkennen, dass beide Wege wichtig sind. Die IB kann mit ihren genialen Aktionen immer wieder Akzente setzen und Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 47 RechtsextRemismus beweisen, dass vor allem die Jugend politisch konservativ denkt. [...]"6 Jan Wenzel Schmidt hat sich in den zurückliegenden Jahren nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern auch auf Bundesebene zu einem der stärksten Unterstützer der IB unter den Funktionären der AfD entwickelt. Mit regelmäßigen Geldspenden im mittleren vierstelligen Bereich trägt er wesentlich zur Finanzierung der IB in Deutschland und Österreich bei. Neben Sachund Geldspenden an einzelne IB-Mitglieder sowie an das identitäre Hausprojekt "Castell Aurora" bei Linz (Österreich) finanziert Jan Wenzel Schmidt die jährlichen "Bundeslager" der IB, an denen er auch selbst mehrfach teilgenommen hat. Ihrerseits reisten führende Vertreter der IB aus Österreich unter anderem Anfang August 2023 zum Sommerfest der "Jungen Alternative Sachsen-Anhalt" (JA-LSA) in Roxförde (AltmarkkreisSalzwedel) an, das sich zu einem Vernetzungstreffen mit überregionaler Bedeutung entwickelt hat. Die AfD in Sachsen-Anhalt identifiziert sich somit nicht nur mit den Inhalten von Akteuren wie dem IfS oder der IB, sondern be- 6 - Jan Wenzel Schmidt: Blaue Zukunft Ausgabe 1/2022, S. 9 (alle Ausgaben sind unter www.jan-wenzel-schmidt.de online abrufbar). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 48 RechtsextRemismus greift sich als aktiver Teil eines neurechten Netzwerks. In diesem Sinn stellt die Partei ihre Mittel und Strukturen in den Dienst dieser rechtsextremistischen Organisationen. Mitglieder mit rechtsextremistischem Vorlauf In der AfD Sachsen-Anhalt sind Personen aktiv, die einen eindeutigen rechtsextremistischen Vorlauf aufweisen. Das Spektrum der Organisationen, in denen die genannten Personen zuvor aktiv waren oder es zum Teil noch sind, reicht ideologisch von der Neuen Rechten bis hin zum Neonazismus. Hier sind unter anderem zu nennen: Der Geschäftsführer der AfD-Landtagsfraktion SachsenAnhalt war Führungsmitglied der 2009 verbotenen "Heimattreuen Deutschen Jugend" (HDJ) und arbeitet seit 2017 für die AfD-Landtagsfraktion. Ein 2022 eingestellter Referent der AfD-Landtagsfraktion Sachsen-Anhalt war sowohl in der 1994 verbotenen "Wiking Jugend" als auch der 2009 verbotenen HDJ aktiv. Darüber hinaus war er Kassenwart beim rechtsextremistischen "Freundeskreis Ulrich von Hutten", verfasste eine Biographie über einen SS-Schriftsteller, die wegen der Verherrlichung des Nationalsozialismus indiziert wurde, arbeitete für die Landtagsfraktion der NPD in Mecklenburg-Vorpommern und betrieb zeitweise einen rechtsextremistischen Verlag. Spätestens seit August 2021 ist Benedikt Kaiser, einer der bekanntesten rechtsextremistischen Publizisten, Mitglied der "Friedrich-Friesen-Stiftung". Er veröffentlichte mehrere Bücher im Verlag Antaios, der dem IfS zuzurechnen ist, und war Redakteur der Zeitschrift "Sezession". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 49 RechtsextRemismus Der Vorsitzende des AfD-Kreisverbands AltmarkkreisSalzwedel und des JA-Gebietsverbands Altmark fiel seit dem Jahr 2012 konstant in rechtsextremistischen Zusammenhängen auf und nahm an einer Vielzahl von Veranstaltungen wie "Heldengedenken", Kranzniederlegungen oder Konzerten der neonazistischen Szene teil. Der Bundestagsabgeordnete Jan Wenzel Schmidt beschäftigt seit 2022 eines der ehemals führenden Mitglieder der IB in Sachsen-Anhalt als wissenschaftlichen Mitarbeiter. Dieser Mitarbeiter hatte das (im Jahr 2019 aufgegebene) IB-Hausprojekt "Flamberg" in Halle (Saale) geleitet; vor seiner Zeit in der IB war er bereits bei den Autonomen Nationalisten und in der Jugendorganisation der NPD (seit 2023: "Die Heimat"), "Junge Nationalisten" (JN), aktiv gewesen. Er publizierte für das IfS und arbeitete vor seiner Tätigkeit bei Jan Wenzel Schmidt für das COMPACT-Magazin. Er wurde bereits mehrfach wegen Körperverletzung verurteilt. Der stellvertretende Vorsitzende der JA-LSA war noch Ende 2018 bei der IB in Sachsen-Anhalt aktiv. Der Geschäftsführer der AfD-Stadtratsfraktion Magdeburg, ein Gründungsmitglied der Friedrich-FriesenStiftung, war bis 2012 teils in Führungspositionen bei der NPD (seit 2023: "Die Heimat") und den JN aktiv. 2009 kandidierte er für die NPD zur Bundestagswahl. Als Mitarbeiter der AfD-Landtagsfraktion oder als Mitglieder der Friedrich-Friesen-Stiftung konzentrieren sich bekannte Rechtsextremisten auffällig häufig an Funktionsstellen, die für die aktuelle und zukünftige inhaltliche Ausrichtung der Partei weichenstellend sind. Dies wird von den Entscheidungsträgern innerhalb der Partei offenbar zumindest billigend hingenommen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 50 RechtsextRemismus Der eigentlich geltende parteiinterne Beschluss, dass eine AfDMitgliedschaft mit der Mitgliedschaft in extremistischen Vereinigungen wie der IB unvereinbar ist, stellt sich in diesem Zusammenhang als bloßes Lippenbekenntnis heraus, da er nicht nur in der Vergangenheit offensichtlich ignoriert wurde, sondern auch in Zukunft und selbst bei eklatanten Verstößen nach Ansicht des AfD-Landesvorsitzenden Martin Reichardt keine Geltung mehr haben soll. So sagte er in einem am 25. Mai 2021 ausgestrahlten Beitrag der MDR-Sendung "FAKT" in Bezug auf zwei Mitglieder der AfD Sachsen-Anhalt, die zeitweise parallel in der IB aktiv gewesen waren, dass eine IB-Zugehörigkeit aus seiner Sicht keinen Grund für einen Parteiausschluss darstellt. Dadurch wird die Vernetzung mit rechtsextremistischen Strukturen institutionell von der AfD Sachsen-Anhalt getragen. Zusammenfassend betrachtet, missachtet die AfD Sachsen-Anhalt Grundprinzipien, die für den freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbar sind. Aufgrund ihrer Agitation gegen das Prinzip der Menschenwürde, das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip handelt es sich bei der AfD Sachsen-Anhalt um eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des SS 4 Abs. 1 Nr. 1 VerfSchGLSA und damit um eine gesichert extremistische Bestrebung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Demonstrationen Die Durchführung von Demonstrationen nimmt in der politischen Kommunikation der AfD Sachsen-Anhalt eine zentrale Rolle ein. Seit den Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie griff die Partei frühzeitig eine Vielzahl aktueller Themen auf, die - wie etwa der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Energieversorgung und die Inflation - geeignet erschienen, die Verunsicherung in der Bevölkerung weiter zu schüren, um auf diese Weise das nicht-extremistische Protestpotenzial für die rechtsextremistische Agenda der Partei Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 51 RechtsextRemismus zu vereinnahmen. Dabei war es das Ziel der AfD Sachsen-Anhalt, den legitimen Protest gegen die Politik von Bundesund Landesregierung zu einem Protest gegen das bestehende politische System zuzuspitzen. Die Zahl der wöchentlich von der AfD Sachsen-Anhalt bzw. deren regionalen Untergliederungen durchgeführten Protestveranstaltungen nimmt, ebenso wie die Zahl ihrer Teilnehmer, seit einer Hochphase im Jahr 2021 sukzessive ab. Regelmäßige Demonstrationen fanden über weite Teile des Berichtsjahres 2023 lediglich in Bitterfeld-Wolfen (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) und Querfurt (Saalekreis) statt. Die Teilnehmerzahlen lagen in der Regel im niedrigen dreistelligen oder zweistelligen Bereich. Neben den Protestveranstaltungen fanden vermehrt Vortragsveranstaltungen und Stammtische der Kreisverbände statt. Veranstaltungen dieser Art generieren zwar deutlich weniger öffentliche Aufmerksamkeit als die Demonstrationen, können jedoch ein Mittel darstellen, Personen, die für die Agenda der AfD Sachsen-Anhalt aufgeschlossen sind, strukturell und ideologisch in die Partei einzubinden. Das Verhältnis zur Russischen Föderation Angesichts des anhaltenden Krieges in der Ukraine war das Verhältnis zur Russischen Föderation und die Kritik an der Russlandpolitik der Bundesrepublik Deutschland für die AfD in Sachsen-Anhalt über weite Teile des Jahres 2023 das dominierende politische Thema. Die AfD Sachsen-Anhalt warf der Bundesregierung in diesem Kontext regelmäßig vor, mit ihrer Politik der deutschen Bevölkerung existenziell zu schaden und Deutschland vorsätzlich in einen Krieg mit der Russischen Föderation führen zu wollen. Auf einer als "Friedensdemo" angekündigten Kundgebung der AfD Sachsen-Anhalt am 20. Februar 2023 in Magdeburg sprach der stellvertretende AfD-Landesvorsitzende Hans-Thomas Tillschneider die Konsequenz aus, die aus einem derart überspitzt dargestellten Bedrohungsszenario folgen kann: Er rief seine AnVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 52 RechtsextRemismus hänger zu einem "Krieg gegen die Regierung" auf. Auf die Frage, welches politische Thema die AfD in Zukunft prioritär verfolgen solle, sprach sich Hans-Thomas Tillschneider im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum zehnjährigen Jubiläum der AfD, die im Rahmen der "Winterakademie" des IfS am 29. Januar 2023 stattfand, für die "unmissverständliche Forderung" nach einem Bündnis zwischen Deutschland und Russland aus. Der bei der Podiumsdiskussion ebenfalls anwesende CoVorsitzende der AfD-Landtagsfraktion, Oliver Kirchner, unterstützte diese Forderung. Nachdem Oliver Kirchner bereits den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als gerechtfertigte Reaktion auf eine vermeintliche militärische Bedrohung Russlands durch den Westen verteidigt hatte, ergänzte er, dass sich Russland auch Moldawien "schön wieder zurückholen" werde und dass die AfD diese imperialen Interessen Russlands politisch unterstützen solle. Hans-Thomas Tillschneider versuchte direkte Kontakte nach Russland aufzubauen und reiste 2023 mehrfach zu internationalen Veranstaltungen in die Russische Föderation. Wenngleich Hans-Thomas Tillschneider in der AfD Sachsen-Anhalt der mit Abstand vehementeste Fürsprecher einer pro-russischen Politik ist, wird diese Position grundsätzlich von allen führenden Mitgliedern des AfD-Landesverbands Sachsen-Anhalt mitgetragen oder aktiv unterstützt. Die Verortung der AfD Sachsen-Anhalt an der Seite Russlands reicht deutlich über eine rein außenpolitische Richtungsentscheidung hinaus. Die zumindest von Anhängern eines deutschrussischen Bündnisses innerhalb der AfD betriebene Glorifizierung des russischen Staates unter der autoritären Führung von Präsident Wladimir Putin ist Ausdruck einer antiliberalen Agenda, die letztlich vor allem auf die Umgestaltung des politischen Systems in Deutschland zielt. So erklärte Hans-Thomas Tillschneider Russland ausdrücklich zu einem gesellschaftspolitischen Vorbild für Deutschland, insbesondere hinsichtlich des repressiven Umgangs mit wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgten Minderheiten in der Russischen Föderation. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 53 RechtsextRemismus Europapolitik Mit Blick auf die Europawahl 2024 beschloss die AfD SachsenAnhalt am 22. April 2023 auf ihrem Parteitag in WeißandtGölzau (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) einen europapolitischen Antrag, der Deutschlands Austritt aus der Europäischen Union (EU) fordert. Anders als in den Anfangsjahren der Partei spielen Fiskalund Währungspolitik in der EU-Kritik des Landesverbandes keine Rolle mehr. War diese Kritik zuvorderst noch von (wirtschafts-)liberalen und libertären Ideologien motiviert, wird die EU in der Resolution des Landesverbandes auf der Grundlage eines entschieden neurechten Antiliberalismus angegriffen. Die EU wird dafür kritisiert, dass sie gegen den Erhalt der ethnischen Homogenität und die Identität der (europäischen) Völker arbeite. Sie werde von Vertretern einer liberalen Agenda bestimmt, die kein Verständnis von einer originär europäischen Identität besäßen, sondern Verfechter der Idee einer globalen Menschheit seien, zu deren Verwirklichung nach Möglichkeit alle Grenzen und Völker eingeebnet werden müssten. Nach dem Austritt aus der EU solle Deutschland die Gründung eines neuen europäischen Bündnisses anstreben, welches nach ethnopluralistischer Maxime den Interessen und dem Selbsterhalt der Völker Europas diene. Im Gegensatz zur bestehenden EU solle sich ein solches Bündnis mit aller Deutlichkeit von dem Hegemoniestreben der USA emanzipieren. Auf ihrer Europawahlversammlung in Magdeburg wählte die AfD an den Wochenenden vom 28. Juli bis zum 6. August 2023 eine Kandidatenliste für die Europawahl 2024. Aus Sachsen-Anhalt wurde Arno Bausemer auf den als sicher geltenden Listenplatz 10 gewählt. Politisch trägt Arno Bausemer den rechtsextremistischen Kurs seines Landesverbands widerspruchslos mit. Äußerungen im Kontext seiner Kandidatur appellieren im Wesentlichen an populistische Ressentiments gegen die EU (die EU sei ein korruptes "Bürokratiemonster", für das Deutschland zahlen müsse, nur damit die Bürger noch mehr mit Verboten Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 54 RechtsextRemismus gegängelt würden). Arno Bausemer will sich daher für einen sofortigen Austritt Deutschlands aus der EU einsetzen und sieht sein Vorbild in der britischen United Kingdom Independence Party (UKIP). Auf Platz 17 wurde der ehemalige Bundestagsabgeordnete Jens Kestner gewählt, der sich vor allem gegen "Masseneinwanderung" aussprach und eine "Festung Europa" errichten will. Im Sinne der ethnopluralistischen Ideologie wird der Begriff "Festung Europa" hier genutzt, um die Immigration von Menschen aus Regionen, deren Kultur aus der Sicht von Kestner mit den europäischen Kulturen unvereinbar ist, zu einer existenziellen Bedrohung für das Fortbestehen der europäischen Kulturen zu stilisieren. Die Metapher der Festung steht hier für das ethnopluralistische Ideal einer abgeschlossenen, ethnisch homogenen Gesellschaft. Erinnerungspolitik Im Verständnis der "Neuen Rechten" sind die Flüchtlingsmigration und andere als schädlich wahrgenommene Entwicklungen in ihrer eigentlichen Ursache nicht auf das Handeln einzelner deutscher Regierungen zurückzuführen, sondern Ausdruck einer beschädigten nationalen Identität, eines regelrechten Selbsthasses der Deutschen. Die nach 1945 herausgebildete Erinnerungskultur um das Gedenken an den Holocaust und die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs wird als "Schuldkult" und elementares Hindernis zur Herausbildung einer wehrhaften nationalen Identität begriffen. Der Vorsitzende des AfD-Landesverbandes Thüringen, Björn Höcke, MdL, forderte daher eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad". Auch für die AfD Sachsen-Anhalt ist die Erinnerungspolitik elementar. Anlässlich von Jahrestagen der Bombardierung deutscher Städte, wie etwa Magdeburg oder Halberstadt während des Zweiten Weltkriegs, versucht die AfD Sachsen-Anhalt seit Jahren ein historisches Narrativ zu prägen, das die Deutschen als die eigentlichen Opfer des Zweiten Weltkriegs darstellt. Dabei verwendet Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 55 RechtsextRemismus sie eine für das gesamte rechtsextremistische Milieu typische Diktion, welche die Bombardierungen als "Bombenterror" bezeichnet und den Alliierten unterstellt, sie hätten das deutsche Volk vernichten wollen. Diese geschichtsrevisionistische Darstellung zielt darauf ab, die westalliierten Kriegsparteien als Täter und die Deutschen einseitig als Opfer zu präsentieren, ohne dass die Luftkriegsführung der USA und Großbritanniens hierbei in den Kontext des von Nazi-Deutschland 1939 begonnenen Eroberungsund Vernichtungskrieges gestellt wird. Das Erinnern an die deutsche Judenverfolgung läuft dieser Strategie zuwider und wird in der AfD Sachsen-Anhalt zumeist vermieden. Der Terrorangriff der palästinensischen HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 und die darauffolgende militärische Reaktion Israels in Gaza wurden daher in Teilen der AfD als erinnerungspolitische Chance oder als "Diskussionsfenster für die eigene Geschichtsaufarbeitung" (Maximilian Krah7) begriffen. So warf Hans-Thomas Tillschneider der israelischen Regierung eine kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung vor, für die Israel moralisch auf eine Stufe mit der HAMAS gestellt werden müsse. Denn so etwas wie eine Kollektivschuld gebe es nicht, weder für Palästinenser noch für Deutsche. Durch die Verknüpfung der Frage, ob das palästinensische Volk für den Terror der HAMAS verantwortlich zu machen sei, mit der Frage nach der Verantwortlichkeit des deutschen Volkes für den Holocaust relativiert Hans-Thomas Tillschneider nicht nur die Singularität des Holocaust als historisch beispielloses Menschheitsverbrechen. Hans-Thomas Tillschneiders Verneinung dieser Fragen in Verbindung mit der moralischen Relativierung des Terrors der HAMAS, die durch dessen Gleichsetzung mit der israelischen Kriegsführung erreicht wird, zielt letztlich darauf, den Status des jüdischen Volkes als Opfer eines von Deutschen verantworteten Massenmordes zu relativieren. Die Äußerung Hans-Thomas 7 - Maximilian Krah (Sachsen) war Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl 2024; er gehört dem Europäischen Parlament seit 2019 an und war Beisitzer im Bundesvorstand der AfD. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 56 RechtsextRemismus Tillschneiders, die als Ausdruck eines sekundären Antisemitismus (auch "Schuldabwehr-Antisemitismus" genannt) gewertet werden kann, läuft somit auf den Versuch einer Dekonstruktion der deutschen Erinnerungskultur hinaus, da diese die Verantwortlichkeit des deutschen Volkes für den Massenmord an den Juden eindeutig benennt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Das Jahr 2023 war für den AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt von einem Mitgliederzuwachs geprägt. Binnen eines Jahres wuchs der Landesverband von 1.438 auf 2.050 Mitglieder an. Mit einem Zuwachs von mehr als 42 Prozent lag der AfD-Landesverband über dem bundesweiten Anstieg der Mitgliederzahl, der für die AfD im vergangenen Jahr mit einem Wachstum von 37 Prozent ebenfalls hoch ausfiel. Der Mitgliederzuwachs ging insbesondere in der zweiten Jahreshälfte mit hohen Zustimmungswerten für die AfD in regionalen und nationalen Wahlumfragen einher. Diese Zahlen lassen sich angesichts der gleichzeitig zunehmenden Parteieintritte nicht allein als Ausdruck kurzweiligen Protestes oder einer diffusen Ablehnung gegenüber den übrigen Parteien erklären, sondern deuten in Teilen auch auf eine grundsätzliche Zustimmung zu den politischen Inhalten der AfD, die so weit reicht, dass eine wachsende Zahl von Bürgern bereit ist, sich selbst politisch in die Partei einzubringen. Für die Kommunalwahlen am 9. Juni 2024 erwartete die AfD teils erhebliche Zugewinne. Mittels des "Vereins konservativer Kommunalpolitiker Sachsen-Anhalt e. V." (VKK-LSA), der ausschließlich von AfD-Mitgliedern geführt wird, sollen zukünftige kommunale Mandatsträger bereits im Voraus in fachlicher, juristischer und auch politischer Hinsicht geschult werden. Vorsitzender des VKK-LSA ist Hannes Loth, der im Juli 2023 in Raguhn-Jeßnitz (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) zum bundesweit Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 57 RechtsextRemismus ersten hauptamtlichen Bürgermeister der AfD gewählt worden ist. Wenngleich Hannes Loth eine betont pragmatische Amtsführung betreibt und kaum mit extremistischen Äußerungen aufgefallen ist, verdeutlichte der stellvertretende Vorsitzende des AfD-Landesverbandes Sachsen-Anhalt, Hans-Thomas Tillschneider, dass auch die Kommunalpolitik Schauplatz des politischen Kampfes der AfD ist. Auf der Winterakademie des IfS in Schnellroda erklärte Hans-Thomas Tillschneider im Januar 2023, er wolle die teils entscheidende Größe der AfD in den kommunalen Parlamenten durch unberechenbares Abstimmungsverhalten dazu nutzen, stabile Mehrheiten zu verhindern, um letztlich "das System" bzw. das "Altparteienestablishment" ins "Wanken" zu bringen. Inhaltlich ist eine Abkehr der AfD Sachsen-Anhalt von ihren hier in Auszügen aufgeführten extremistischen Positionen auch für die Zukunft nicht zu erwarten. Im zehnten Jahr ihres Bestehens zeigte sich die AfD Sachsen-Anhalt nicht nur organisatorisch so geeint wie selten zuvor. Auch ihre politischen Beschlüsse weisen, teils mit direktem Bezug auf Theorien der "Neuen Rechten", zunehmend ideologische Stringenz auf. Insbesondere für den in der JA-LSA organisierten Parteinachwuchs gehören die Schriften der aktuellen Vordenker der Neuen Rechten, wie Benedikt Kaiser und Martin Sellner, mittlerweile zur Standardlektüre. Eine Unterscheidung zwischen einem extremistischen und einem vergleichsweise gemäßigten Lager, wie sie in westdeutschen Landesverbänden der AfD teils noch möglich ist, ist für die AfD Sachsen-Anhalt obsolet geworden. Der rechtsextremistische Flügel hat seine seit Jahren bestehende Dominanz innerhalb des Landesverbandes institutionell und inhaltlich derart weit und nachhaltig ausgebaut, dass innerhalb der Parteistrukturen keine gegenläufigen Kräfte mehr wahrnehmbar sind. Inhaltlich wie personell tritt die AfD Sachsen-Anhalt mit zunehmender Selbstverständlichkeit als offen rechtsextremistische Organisation auf. Es wird deutlich, dass die verfassungsfeindlichen Handlungen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 58 RechtsextRemismus und Äußerungen keine vereinzelten "Entgleisungen" darstellen oder nur von einzelnen Akteuren und Gruppen innerhalb des Landesverbandes ausgehen, sondern dass diese verfassungsfeindlichen Handlungen und Äußerungen für den Charakter der AfD in Sachsen-Anhalt prägend sind. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 59 RechtsextRemismus "Die Heimat" - ehemals "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Landesverband Sachsen-Anhalt Gründung Landesverband: 1990 (als Landesverband "Mitteldeutsche Nationaldemokraten") Bundesverband: 1964 Sitz Landesverband: postalisch Berlin Bundesverband: Berlin Vorsitz Landesverband: Henry-Kurt Lippold Bundesverband: Frank Franz (Saarland) Mitglieder Landesverband: 70 (2022: unter 100) Anhänger Bundesverband: 3.000 (2022: 3.000) Struktur Zwölf Kreisverbände (Altmark, Anhalt-Bitterfeld, Aufbau Bördekreis, Burgenlandkreis, Halle (Saale), Harz, Jerichower Land, Magdeburg, Mansfeld-Südharz, Saalekreis, Salzland, Wittenberg) "Junge Nationalisten" (JN, Jugendorganisation) Veröffent"Deutsche Stimme" (frei verkäufliche Zeitschrift lichungen des Bundesverbandes, erscheint mehrmals jährlich) Internetpräsenz: https://www.facebook.com/heimat.sachsen.anhalt/ FinanzieMitgliedsbeiträge und Spenden rung Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 60 RechtsextRemismus Kurzportrait / Ziele "Die Heimat" ist die älteste aktive Partei des rechtsextremistischen Spektrums in Deutschland mit verfassungsfeindlicher Ideologie und Zielsetzung. Sie will den demokratischen Verfassungsstaat beseitigen und durch eine institutionell rassistische Gesellschaftsordnung ersetzen, in der von ihr so verstandene ethnisch Nichtdeutsche von der politischen Willensbildung ausgeschlossen sind. Ihre Programmatik ist auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet und sie ist bestrebt, die Gesellschaft im Sinne ihrer rassistischen, nationalsozialistischen und antisemitischen Vorstellungen zu prägen. Grund der Beobachtung "Die Heimat" vertritt ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild, dessen ideologisches Kernelement die Idee einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft" ist. Davon ausgehend propagiert sie unverhohlen rassistische und fremdenfeindliche Positionen. Die "Vier Säulen-Strategie" der Partei "Die Heimat", bestehend aus dem "Kampf um die Köpfe", dem "Kampf um die Straße", dem "Kampf um die Parlamente" und dem "Kampf um den organisierten Willen", verdeutlicht seit Jahren das Ziel der Partei, den demokratischen Verfassungsstaat systematisch und umfassend zu bekämpfen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bundespartei Am 3. und 4. Juni 2023 fand in Riesa (Sachsen) der Bundesparteitag der NPD unter dem Motto "Wir sind die Heimat" statt, bei dem die Partei ihre Umbenennung in "Die Heimat" beschloss. Die im Jahr zuvor noch gescheiterte Umbenennung erhielt mit 77 Prozent deutlich die benötigte Zweidrittelmehrheit der Delegiertenstimmen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 61 RechtsextRemismus Der Parteitagsbeschluss ist damit als Erfolg für die Parteiführung um Frank Franz (Saarland) zu werten. Deren Reformkurs führte allerdings zu Unstimmigkeiten und Widerstand innerhalb der Partei. Gegner dieses Kurses interpretierten die Umbenennung als Ausdruck eines Versuchs der Parteiführung, auf eine programmatische Mäßigung der Partei (zumindest in der Außendarstellung) hinzuwirken. Mehrere Landesverbände, darunter der Landesverband Hamburg, verließen daher die umbenannte Partei mit der Ankündigung, weiterhin unter dem alten Namen NPD aktiv sein zu wollen. In einer Erklärung des Hamburger Landesverbandes hieß es, nur so könne sichergestellt werden, dass "Mitglieder unseres Verbandes nicht gegen ihren Willen genötigt werden, auf einmal Teil einer Systempartei zu sein." Während eines ersten "Parteitages" dieses Dissidentenflügels wurde Lennart Schwarzbach (Hamburg), der sich als vehementer Kritiker der strategischen Neuaufstellung der NPD unter dem Namen "Die Heimat" und der damit verbundenen Personalien hervorgetan hatte, zum Vorsitzenden der "NPD" gewählt. Wie sich diese "neue alte NPD" weiter entwickeln wird, lässt sich aktuell nicht absehen. Im Verfahren über den Ausschluss der Partei "Die Heimat" von der staatlichen Parteienfinanzierung fand am 4. Juli 2023 die mündliche Verhandlung vor dem BVerfG statt. Die Prozessvertreter von "Die Heimat" erschienen nicht zu diesem Termin, kurz vor Beginn der Verhandlung teilte die Partei dem BVerfG, dass man nicht teilnehmen werde. Auf ihrer Internetseite begründete dies "Die Heimat" damit, dass die Verhandlung eine "Farce" wäre und "das Urteil bereits geschrieben" sei. Die Verhandlung würde "daher zum reinen Schauprozess verkommen" und man hätte nicht vor, "sich zum Statisten einer Justiz-Simulation machen zu lassen". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 62 RechtsextRemismus Am 23. Januar 2024 schloss das BVerfG "Die Heimat" für sechs Jahre von der staatlichen Parteienfinanzierung nach SS 18 des Gesetzes über die politischen Parteien (PartG) aus. Das Gericht stellte fest, dass die Partei "[...] die Schwelle vom bloßen Bekenntnis der Ablehnung zur Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung [überschreitet] und [...] auf deren Beseitigung ausgerichtet [ist]"1. Anders als für ein Parteienverbot sei es laut Gericht für den Finanzierungsausschluss jedoch unerheblich, ob für die Umsetzung der verfassungsfeindlichen Ziele überhaupt eine Aussicht auf Erfolg bestehe. Als Reaktion hierauf veröffentlichte "Die Heimat" ein kurzes Video, in dem der Parteivorsitzende Frank FRANZ unter anderem erklärte: "Die Herrschenden schützen nicht die Demokratie, sondern kämpfen um ihr politisches Überleben. Das Urteil gegen 'Die Heimat', meine Partei, ist ein weiterer Beleg dafür, dass das System im Inneren krankt." Landesverband Sachsen-Anhalt Eine nach der Umbenennung auf bundespolitischer Ebene zu beobachtende Lagerbildung ist im Land Sachsen-Anhalt aktuell nicht zu beobachten. In Sachsen-Anhalt wurde die Umbenennung bis auf einige Austritte einzelner Mitglieder akzeptiert. Dennoch konnte "Die Heimat" ihre politische Marginalisierung auch in Sachsen-Anhalt nicht stoppen. Im Landesverband organisieren sich etwa 70 Mitglieder in zwölf hauptsächlich formal existierenden Kreisverbänden. Wahrnehmbare Aktivitäten entfalteten lediglich die Kreisverbände Halle (Saale), Mansfeld-Südharz und Wittenberg sowie der Landesverband selbst. Das Aktivitätsniveau des Landesverbandes und der einzelnen Kreisverbände ist unverändert niedrig. Öffentlichkeitswirksam tritt der sachsen-anhaltische Landesverband nur wenig in 1 - BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 23. Januar 2024 - 2 BvB 1/19 - Rn. (1 - 510), http://www.bverfg.de/e/bs20240123_2bvb000119. html - hier: 507. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 63 RechtsextRemismus Erscheinung. Zwar nahmen vereinzelte Mitglieder an szenetypischen Versammlungen wie Gedenkmärschen zum Andenken an die Opfer alliierter Bombardierungen deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg teil; eine übergreifende Mobilisierung der Partei für diese Versammlungen gelang jedoch nicht. Auch die Proteste der Landwirte gegen die Agrarpolitik der Bundesregierung seit Ende 2023 und Anfang 2024 konnten von "Die Heimat" nicht erfolgreich vereinnahmt werden, obwohl die Partei in den sozialen Netzwerken zur Unterstützung der Proteste aufgerufen hatte. Der Landesverband und seine Kreisverbände sind in den sozialen Netzwerken mit eigenen Präsenzen vertreten. Hier werden jedoch fast ausschließlich Artikel des Partei-Organs "Deutsche Stimme" sowie gelegentlich Beiträge der jeweils anderen Kreisverbände geteilt. Vereinzelt berichten Kreisverbände auf Facebook auch über interne Veranstaltungen. Der stellvertretende Landesvorsitzende und Landespressesprecher Henrik Gehre veröffentlicht weiterhin regelmäßige Videobotschaften sowie unter dem Titel "Post von Gehre" Einschätzungen aktueller politischer Entwicklungen, in denen er sich fremdenfeindlich äußert und seine Ablehnung des politischen Systems zum Ausdruck bringt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 64 RechtsextRemismus Auch im Jahr 2023 führten Mitglieder der Partei "Die Heimat" anlässlich des Volkstrauertages, der in der rechtsextremistischen Szene als sogenanntes "Heldengedenken" zum Andenken an die gefallenen deutschen Soldaten der Weltkriege begangen wird, landesweit Veranstaltungen durch, so in den Landkreisen Wittenberg, Mansfeld-Südharz und im Salzlandkreis. "Junge Nationalisten" (JN) In einem Text mit dem Titel "Neuer Name, Neue Perspektive" gratulierten die JN auf ihrer Homepage der Mutterpartei zwar zur Umbenennung in "Die Heimat". Mit der Umbenennung seien "die Weichen einer neuen Ausrichtung" gestellt. Die Jugendorganisation selbst erklärte jedoch: "Wir behalten vorerst unseren Namen und planen derzeit keine Namensanpassung." Ungeachtet der Streitigkeiten innerhalb der Mutterpartei hegen auch die JN weiterhin den Anspruch, eine relevante Organisation darzustellen. So fand am 30. September 2023 in den Räumlichkeiten des "Deutsche Stimme"-Verlags in Riesa (Sachsen) ein Treffen des JN-Gebietsverbandes "Mitte"2 mit anschließendem Erntedankfest statt. Im Rahmen dieses Treffens wurde ein neuer Vorstand gewählt, dem weiterhin ein Mitglied aus Sachsen-Anhalt angehört. Mit dem Rückzug von Björn Rimmert, dem ehemaligen Leiter des JN-Stützpunktes "Anhaltiner Land", aus der JN und seinem Engagement in der Partei "Der III. Weg"3 sind keine festen Strukturen der JN in Sachsen-Anhalt mehr festzustellen. Die wenigen Aktivitäten der JN hängen von Einzelpersonen ab. Zwar zog im Jahr 2023 der Bundesvorsitzende der JN, Sebastian Weigler, nach Sachsen-Anhalt. Eine Verlagerung seiner politischen Aktivitäten nach Sachsen-Anhalt war aber nicht wahrnehmbar. 2 - Dieser umfasst die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt, Berlin, Brandenburg und Thüringen. 3 - Siehe dazu auch S. 67 ff. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 65 RechtsextRemismus Deutschlandweit scheint die JN aktuell zu versuchen, anders als die Mutterpartei eigene, dezentrale und eher aktionistisch orientierte Wege der Mitgliederwerbung zu gehen. So gründete die Organisation den Internetkanal "Inferno Deutschland", über den sich rechtsextremistische Gruppen unter dem Dach der JN vernetzen und austauschen sollen. Größere durch die Seite beworbene Aktionen in Sachsen-Anhalt sind bislang nicht bekannt geworden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die einstige Führungsrolle der NPD innerhalb der rechtsextremistischen Szene kann die Partei nicht mehr ausfüllen. Vielmehr ist sie mittlerweile nur noch ein marginaler Akteur unter mehreren rechtsextremistischen Bestrebungen. Die Bundespartei befindet sich seit 2016 sowohl bei Wahlen als auch im Hinblick auf ihr "Innenleben" in einem beständigen Niedergang. Die Mitgliederzahlen sinken, die Partei hat erhebliche finanzielle Probleme und ein seit Jahren schwelender Richtungsstreit, der im Zuge der Umbenennung in "Die Heimat" öffentlich sichtbar wurde, führte im Berichtsjahr zur Abspaltung von Parteistrukturen. Ob der angestoßene Reformkurs innerhalb der Partei "Die Heimat" diesem Verfallsprozess entgegenwirken kann, bleibt abzuwarten. In Sachsen-Anhalt fanden im Berichtszeitraum kaum öffentlichkeitswirksame und anschlussfähige politische Aktivitäten des Landesverbandes und seiner Kreisverbände statt. Aufgrund des sich fortsetzenden Verlusts aktiver Mitglieder existieren die meisten Kreisverbände nur noch "auf dem Papier" oder in den sozialen Netzwerken. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 66 RechtsextRemismus Partei "Der III. Weg" Gründung 2013 Sitz Weidenthal (Rheinland-Pfalz) Vorsitz Matthias Fischer (Brandenburg) Mitglieder Landesverband: 60 (2022: etwa 45) Anhänger Bundesverband: etwa 800 (2022: etwa 700) Struktur Bundesweite Gliederung in vier Landesverbände Aufbau und 24 regionale "Stützpunkte" (in Sachsen-Anhalt existieren die Stützpunkte Magdeburg/Altmark und Burgenlandkreis1) "Nationalrevolutionäre Jugend" (NRJ, Jugendorganisation) VeröffentWeb-Angebote: lichungen http://www.der-dritte-weg.info Soziale Netzwerke (Telegram) Printmedium "Theorie und Aktion" (monatlich) FinanzieMitgliedsbeiträge, Spenden und Einnahmen aus rung dem Materialvertrieb Kurzportrait / Ziele Die 2013 gegründete Partei "Der III. Weg" ist seit Jahren fest im rechtsextremistischen Spektrum verankert. Die Partei gliedert 1 - Beide Stützpunkte nutzen jeweils eigene Telegram-Kanäle. Daneben existieren die Telegram-Kanäle "Der III. Weg Anhalt" und "Der III. Weg Harz". Erkenntnisse zu einer etwaigen Konstituierung von "Stützpunkten" unter diesen Namen liegen der Verfassungsschutzbehörde für den Berichtszeitraum nicht vor. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 67 RechtsextRemismus sich in drei Landesverbände und Stützpunkte. "Der III. Weg" versteht sich als eine völkische Weltanschauungspartei innerhalb der nationalen Bewegung und verfolgt mit ihrem Auftreten einen ganzheitlichen Ansatz, der sich nicht nur auf parteipolitische Aktionen beschränkt und das Ziel verfolgt, die Erneuerung Deutschlands voranzutreiben. Grundlage der Parteiaktivitäten ist das sogenannte "Drei-Säulen-Konzept": politischer Kampf, kultureller Kampf und Kampf um die Gemeinschaft. Hierbei spielen thematische Arbeitsgruppen wie Ideologie, Sport, Umwelt und Jugendarbeit eine zentrale Rolle. Diese Arbeitsgruppen sollen alle Lebensbereiche der Parteimitglieder abdecken, eine Verbindung zu anderen Rechtsextremisten schaffen und die Werbung von Neumitgliedern forcieren. Für die Jugendarbeit wurde die "Nationalrevolutionäre Jugend" (NRJ) etabliert. Das Ziel der NRJ ist die Bindung von Jugendlichen an die Partei und die ideologische Indoktrinierung von Jugendlichen. Darüber hinaus kann sie als eine Art Kaderschmiede für neue Parteifunktionäre - wie beispielsweise "Stützpunktleiter" - fungieren. Sie dient somit auch der Nachwuchsförderung. Grund der Beobachtung Führungspersonen der Partei sind seit Jahren fest im rechtsextremistischen Spektrum verankert und seit der Gründung der Partei bemüht, den Strukturaufbau weiter voranzutreiben. Das Parteiprogramm lehnt sich zum Teil an Vertreter des sogenannten "linken" Nationalsozialismus an und propagiert ein völkisch-antipluralistisches Menschenund Gesellschaftsbild. Es fordert die Erhaltung und Entwicklung der "biologischen Volkssubstanz" und die Schaffung eines "Deutschen Sozialismus". "Der III. Weg" agitiert insgesamt antisemitisch, ausländerfeindlich und revisionistisch. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 68 RechtsextRemismus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Positionierung zum völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und zum Nahost-Konflikt Wie schon in den vorangegangenen Jahren betonte die Partei auch im Jahr 2023 weiterhin öffentlich ihre Solidarität mit der Ukraine. In einem Beitrag auf der Homepage der Partei zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine rief "Der III. Weg" unter dem Motto "Nationalisten helfen Nationalisten" zu Geldspenden zwecks Materiallieferungen für das Regiment Asow und zu der Bereitstellung von Unterkünften für Angehörige ukrainischer Kämpfer auf. Im Nachgang des Angriffs der HAMAS auf Israel im Oktober 2023 äußerte sich "Der III. Weg" mehrfach zum Nahost-Konflikt, zu dem die Partei eine dezidiert anti-israelische Position einnahm, die aber nicht mit einer pro-palästinensischen Haltung einherging. In Veröffentlichungen auf der Homepage von "Der III. Weg" wird Israel als "imperialistischer Terrorstaat" bezeichnet, mit dem es keine Solidarität geben könne. Allerdings dürften aus Sicht der Partei auch die Folgen der "Asylflut nach Deutschland" nicht vergessen werden, sodass es eine echte Solidarität mit Palästina erst dann geben könne, wenn die von "Arabern okkupierten Gebiete in Deutschland" wieder freigegeben Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 69 RechtsextRemismus würden. Die Telegram-Kanäle Anhalt, Burgenlandkreis und Harz schlossen sich dieser Sichtweise an, indem sie auf die Artikel der Partei verwiesen. Überregionale Aktivitäten Die überregionalen Aktivitäten der Partei begannen im Jahr 2023 mit einem "Winterseminar" der AG "Feder & Schwert" am 7. Januar 2023 in Ohrdruf (Thüringen), an dem etwa 70 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet teilnahmen. Unter den Teilnehmern befanden sich auch Mitglieder aus dem Burgenlandkreis. In den vergangenen Jahren führte "Der III. Weg" alljährlich zum 1. Mai in einer ausgewählten Stadt eine Großdemonstration durch. Im Berichtszeitraum schlug die Partei einen neuen Weg ein, indem unter dem Motto "Die wahre Krise ist das System!" alle Parteizentralen geöffnet wurden, um über die Parteiarbeit zu informieren und "Bürgernähe" zu zeigen. Anhänger der Partei aus Sachsen-Anhalt wurden in der Parteizentrale in Ohrdruf festgestellt. Am 2. September 2023 fand der Bundesparteitag von "Der III. Weg" in Hilchenbach (Nordrhein-Westfalen) statt, bei dem ein neuer Vorstand gewählt wurde. Matthias Fischer (Brandenburg) wurde in seinem Amt als Vorsitzender bestätigt, Klaus Armstroff (Rheinland-Pfalz) fungiert weiter als Stellvertreter. Im Herbst 2023 rief "Der III. Weg" nach 2021 erneut eine "Grenzgänger"-Kampagne ins Leben. Unter dem Motto "Schütze deine Heimat, werde Grenzgänger. Kein zweites 2015!" rief die Partei dazu auf, "verdächtige Beobachtungen" an den Grenzen zu melden. Die Partei unterstellt dem Staat ein Versagen in der Asylpolitik und gibt vor, dass der "endlosen Masseneinwanderung" nur mit selbständigen Grenzschutzaktionen (also mit einer rechtwidrigen Aneignung des staatlichen Gewaltmonopols) wirksam begegnet werden könne. Der Stützpunkt BurgenVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 70 RechtsextRemismus landkreis sowie die Telegram-Kanäle Anhalt und Harz posteten hierzu Beiträge. Im Oktober 2023 veröffentlichte die Partei auf ihrer Internetseite den Beitrag "Verteidigt Europa! - 'III. Weg' beteiligt sich an Kampagne von Casa Pound". Die rechtsextremistische italienische Organisation "Casa Pound" hatte eine Banneraktion initiiert, um gegen die Einwanderung von Asylsuchenden nach Europa zu protestieren. Gemeinsam mit Rechtsextremisten aus anderen europäischen Staaten brachten Vertreter des "III. Weges" in ihren jeweiligen Heimatregionen Banner mit der Aufschrift "Italy Defend Europe Defend Italy - #BloccaNavaleAdesso"2 an, um "dem kollektiven Verrat der Regierungen der EU-Staaten ein Symbol des Zusammenhalts der europäischen Freiheitsbewegungen" entgegenzusetzen, wie es in dem Internetbeitrag hieß. An dieser überregionalen Bannerkampagne beteiligte sich am 27. Oktober 2023 in Kretzschau Ortsteil Grana (Burgenlandkreis) ein unbekannter Personenkreis, der ein Banner mit der Aufschrift "ITALY DEFEND EUROPE DEFEND ITALY #BLOCCANAVALEADESSO" und ein Wappen des "III. Weges" am Zaun des örtlichen Fußballplatzes anbrachte. 2 - Blocca Navale Adesso = Seeblockade Jetzt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 71 RechtsextRemismus Entwicklung und Aktivitäten in Sachsen-Anhalt In Sachsen-Anhalt betreiben die Mitglieder von "Der III. Weg", die in den Stützpunkten Magdeburg/Altmark und Burgenlandkreis organisiert sind, eine vergleichsweise offensive Öffentlichkeitsarbeit. In ihren Internetpräsenzen listet die Partei minuziös ihre Aktivitäten auf. Im Berichtsjahr wurden beispielhaft folgende Aktivitäten benannt: - Am 25. März 2023 wurde ein "Gemeinschaftstag" unter dem Motto "Frühlingserwachen" mit einer Wanderung im Kyffhäuserkreis (Thüringen) und ein "Heldengedenken" auf einem lokalen Friedhof durchgeführt. Anfang Dezember 2023 organisierten Mitglieder des Stützpunktes Magdeburg/Altmark einen weiteren "Gemeinschaftstag", der im Raum Halberstadt (Landkreis Harz) mit einer Harzwanderung begann und in den Abendstunden mit einem "Julfest" in Burg (Landkreis Jerichower Land) endete. - Im August 2023 warben sowohl die NRJ als auch der Stützpunkt Burgenlandkreis mit der Forderung "Setz dich zu Wehr!" auf Telegram für die Teilnahme an Selbstverteidigungskursen, die die NRJ für ihre Mitglieder regelmäßig im Harz durchführe. - Die im Jahr 2021 begonnene Schulhof-Kampagne wurde im Jahr 2023 wieder aufgenommen. In diesem Zusammenhang wurden Flugblätter der NRJ in Sekundarschulen in Zörbig (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) und in Dessau-Roßlau ausgelegt. - Am 23. September 2023 fand anlässlich des zweijährigen Bestehens des Stützpunktes Magdeburg/Altmark ein Aktionstag mit Wanderung vom Magdeburger Herrenkrug in Richtung Biederitz (Landkreis Jerichower Land) statt. Nach der Wanderung wurde der Tag mit einem "Erntedankfest" auf einem Privatgrundstück abgeschlossen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 72 RechtsextRemismus - Am 9. Dezember 2023 nahmen Parteimitglieder, darunter Angehörige aus dem Burgenlandkreis, dem Raum Anhalt und dem Harz an einer von der "AG Körper & Geist" organisierten, jährlich unter dem Namen "Brockensturm 2023" stattfindenden Wanderung teil. Im gesamten Berichtszeitraum fanden regelmäßig Verteilungsaktionen von Flyern in etlichen Städten in Sachsen-Anhalt statt. Am 12. August 2023 wurden Teilnehmer des "Christopher Street Day" (CSD) in Weißenfels (Burgenlandkreis) von 23 Personen attackiert und beleidigt. Eine anschließende polizeiliche Kontrolle ergab, dass einige dieser Personen Flugblätter des "III. Weges" bei sich trugen. Aktivitäten anlässlich des Volkstrauertages Das "Heldengedenken" am Volkstrauertag stellt für die Partei eine der wichtigsten Veranstaltungen im Jahr dar. Der Stützpunkt Burgenlandkreis berichtet auf seinem Telegram-Kanal, dass man am 19. November 2023 eine Gedenkfeier im Burgenlandkreis durchgeführt habe, auf welcher der Stützpunktleiter eine Ansprache gehalten und die Bedeutung des "Heldengedenkens" hervorgehoben habe. Der Stützpunkt Magdeburg/Altmark erwähnt auf seinem Telegram-Kanal eine durchgeführte "Heldengedenkfeier" in Magdeburg, in deren Rahmen ein Kranz mit der Aufschrift "Tot sind nur jene, die vergessen werden; Der III. Weg Magdeburg/Altmark" abgelegt wurde. Mitglieder aus der Region Anhalt trafen sich am 19. November 2023, um sich am Vormittag im Rahmen der "AG Köper & Geist" sportlich zu betätigen. Im Anschluss absolvierten sie das "Monatstreffen" für Parteimitglieder. In den Abendstunden wurde an einem Ehrenmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 73 RechtsextRemismus ein Kranz mit der Aufschrift "In Erinnerung an die Toten unseres Volkes; Der III. Weg Anhalt" abgelegt. Laut Eigenangabe auf dem Telegram-Kanal Harz wurden im Harzkreis an mehreren Soldatendenkmalen Trauergestecke abgelegt und Kerzen entzündet. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Auch im Jahr 2023 konnte "Der III. Weg" die Strukturen in Sachsen-Anhalt weiter ausbauen und neue Mitglieder für die Partei gewinnen. Die Parteimitglieder nutzen den "III. Weg" als Auffangstruktur für Angehörige der Neonaziszene, um rechtsextremistische Aktivitäten unter dem Schutzmantel des Parteienprivilegs fortsetzen zu können.3 In Sachsen-Anhalt sind die Mitglieder von "Der III. Weg" sowohl regional als auch überregional sehr gut vernetzt. Verbindungen bestehen nach Bayern, Berlin, Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Seit Beginn des Jahres 2023 forcierte "Der III. Weg" seine Jugendarbeit. Im Hinblick auf das Selbstbild der Partei als nationalrevolutionäre Avantgarde innerhalb der rechtsextremistischen Szene bietet die NRJ folglich die Möglichkeit, den eigenen Strukturausbau zu erweitern, ohne dabei auf Personen zurückgreifen zu müssen, die eventuell nicht den Ansprüchen der Partei genügen. Der Partei gelingt auf diese Weise der Ausbau ihrer Strukturen mit selbst ausgewählten und innerhalb der Partei ideologisch sozialisierten Mitgliedern. Im Jahr 2023 berichtete "Der III. Weg" auf vier Telegram-Kanälen über seine Aktivitäten in Sachsen-Anhalt. Die Beiträge sind eine Sammlung von Aktivitäten aus den Regionen Anhalt, Burgenlandkreis, Magdeburg/Altmark und Harz. Angesichts der Berichterstattungen für Anhalt und Harz sind im Jahr 2024 weitere 3 - Vgl. hierzu auch das Teilkapitel "Parteiungebundener, vornehmlich neonazistisch geprägter Rechtsextremismus", S. 79 ff. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 74 RechtsextRemismus Stützpunktgründungen in diesen Regionen zu erwarten. Allerdings fällt auf, dass die vielfachen Berichterstattungen zu Aktionen der Partei sich stetig wiederholen und lediglich der Propaganda dienen. Überdies suggeriert man mit Themen wie Tierschutz und Umweltschutz Bürgernähe, um fortwährend neue Anhänger für die Partei zu gewinnen. Die Berichterstattungen auf den Telegram-Kanälen sind mitunter ausgedacht, gedoppelt oder übernommen. Im Berichtsjahr wurde nahezu wöchentlich über Flugblattverteilaktionen zu Themen wie "Asylflut stoppen", "Kriminelle Ausländer raus!" und "Jugend voran" in den Landkreisen Anhalt-Bitterfeld, Burgenlandkreis, Saalekreis, Mansfeld-Südharz sowie in den Städten Magdeburg, Halle (Saale) und Dessau-Roßlau berichtet. Mit dieser umfangreichen Berichterstattung versucht die Partei den Anschein einer gesellschaftlichen Wirksamkeit ihrer Aktivitäten zu erwecken, die sie aufgrund ihres begrenzten Personenund Aktionspotenzials in Wirklichkeit nicht zu entfalten vermag. Es ist davon auszugehen, dass "Der III. Weg" auch in Zukunft anstreben wird, sich weiter in Sachsen-Anhalt zu etablieren. Um dies zu erreichen, wird die Partei weiterhin versuchen, ihre Strukturen auszubauen, weitere Mitglieder zu werben, ihre "Nachwuchsarbeit" zu verstetigen und ihre Präsenz in der Öffentlichkeit sowie in den sozialen Medien zu erhöhen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 75 RechtsextRemismus "Neue Stärke Partei" (NSP) Abteilung Magdeburg ("Neue Stärke Magdeburg; NSMD) Gründung 2021 Sitz ehemals Erfurt (Thüringen) Vorsitz Sara Storch (bis Februar 2023) und Christoph Thews (seit Oktober 2022 als Co-Vorsitzender, seit Februar 2023 alleiniger Vorsitzender) Mitglieder Landesverband: bis zum Zeitpunkt der Auflösung Anhänger der "Neuen Stärke Magdeburg" (NSMD) am 12. Februar 2023 etwa fünf Mitglieder (2022: etwa 30) Bundesverband: unklar (2022: etwa 100) Struktur "Abteilungen" in Magdeburg (aufgelöst), Sachsen Aufbau (aufgelöst), Thüringen (aufgelöst), Rheinhessen und Mecklenburg-Vorpommern VeröffentSoziale Netzwerke (Telegram) lichungen FinanzieMitgliedsbeiträge und Spenden rung Kurzportrait / Ziele Die NSP ging am 13. November 2021 aus der neonazistischen Gruppierung "Neue Stärke Erfurt" hervor. Gleichzeitig wurde (als regionale "Abteilung" der Bundespartei) die "Neue Stärke Magdeburg" (NSMD) gegründet. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 76 RechtsextRemismus Wichtige Protagonisten der Kleinstpartei waren zuvor in Parteien wie "Der III. Weg" und "DIE RECHTE" aktiv. Wie diese propagiert auch die NSP eine neonazistische Ideologie. Nach eigenen Angaben verfolgt die NSP das Ziel, gegen "Überfremdung" und gegen eine "kommunistische Umerziehung der deutschen Volksseele [...] organisationsübergreifend Widerstand zu leisten". Zudem will die Partei Deutschland als "Machtzentrum [...] innerhalb des Abendlandes" installieren. Nach internen Querelen, die zur Auflösung der Abteilungen Magdeburg, Leipzig, Erfurt und Gera führten, liegt der Aktivitätsschwerpunkt in Mecklenburg-Vorpommern. Grund der Beobachtung Die NSP steht in der Tradition des historischen Nationalsozialismus. Sie propagiert ein rassistisches und antisemitisches Weltbild und strebt die Errichtung eines Einparteienstaates an. In ihrem Parteiprogramm fordert die NSP, dass Grundrechte nur für "Volksangehörige" gelten sollen, die sich "nicht gegen das Leben und Überleben des deutschen Volkes versündigen". Die Agenda der Partei widerspricht damit explizit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die expansive Phase der NSP endete spätestens im Sommer 2022. So wurden ab diesem Zeitpunkt geplante Veranstaltungen entweder kurzfristig abgesagt oder nur mit minimaler öffentlicher Resonanz durchgeführt. Nach internen Verwerfungen sowie Rücktrittsund Austrittsbekundungen führender NSPFunktionäre kam es am 5. November 2022 in Erfurt im Rahmen eines "Bundesparteitages" zu einer kompletten personellen Neuaufstellung der Partei. Dem neuen Vorstand gehörte, nachdem bereits ab dem Sommer 2022 ein Großteil der Mitglieder aus der NSMD ausgetreten war, lediglich eine Person aus Sachsen-Anhalt als Beisitzerin an. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 77 RechtsextRemismus Dem Rückzug eines Großteils der Mitglieder aus Sachsen-Anhalt zum Trotz plante die NSP, am 21. Januar 2023 eine Kundgebung zur Erinnerung an die Bombardierung der Stadt Magdeburg im Zweiten Weltkrieg durchzuführen. Ein entsprechender Aufruf zu der Veranstaltung (unter dem Motto "16.000 Tote - ihr Opfer ist unser Auftrag") wurde über den Telegram-Kanal der NSP verbreitet. Im Zuge der Vorbereitung kam es innerhalb der NSP jedoch zu internen Konflikten und Unklarheiten, die dazu führten, dass die Versammlung letztendlich mit nur etwa 30 Teilnehmern ohne eine größere, organisationsübergreifende Mobilisierung stattfand. Weitere Aktionen gingen von der NSP in Sachsen-Anhalt im Jahr 2023 nicht aus. Am 12. Februar 2023 gab die damalige Parteivorsitzende Sara Storch sowohl ihren eigenen Parteiaustritt als auch "die schließung der Abteilung Leipzig und Magdeburg [sic!]" bekannt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Niedergang der NSP hat sich im Berichtszeitraum fortgesetzt. Im November 2023 wurde im Telegram-Kanal der Partei sogar die Auflösung der "Gründungs-Abteilung" der Partei in Erfurt bekanntgegeben. Dies verdeutlicht, dass die Funktionsträger der NSP nicht in der Lage oder willens sind, in einer auf Dauer angelegten Struktur politisch zu arbeiten. Der Aktionsschwerpunkt hat sich mittlerweile zum Wohnsitz des Bundesvorsitzenden nach Mecklenburg-Vorpommern verlagert, wo die NSP Aktionen auf niedrigem Niveau und mit geringer Resonanz durchführt. Nach der Auflösung der NSMD sind in Sachsen-Anhalt bislang keine Nachfolgebestrebungen bekannt geworden. Das Personenpotenzial der Partei ist weitgehend zersplittert und hat sich nicht erneut in einer festen Gruppierung zusammengefunden, so dass die Partei in Sachsen-Anhalt keine Relevanz mehr aufweist. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 78 RechtsextRemismus Parteiungebundener, vornehmlich neonazistisch geprägter Rechtsextremismus Gründung Neonazistische Organisationen etablierten sich insbesondere in den 1970er Jahren und existieren in Sachsen-Anhalt seit der Wiedervereinigung. Struktur Die rechtsextremistische Szene hat sich in den Aufbau letzten Jahren modernisiert und passt sich der gesellschaftlichen Entwicklung an. Die heterogene neonazistische Szene in Sachsen-Anhalt agiert weiterhin in aktionsorientierten, regionalen Gruppierungen, die teilweise durch unterschiedliche ideologische Strömungen des Rechtsextremismus charakterisiert sind. Gruppenbezeichnungen wie "Divisionen", "Brigaden", "Aktionsbündnisse" oder "Bruderschaften" suggerieren eine Handlungsbereitschaft und deuten auch auf eine Gewaltorientierung innerhalb der Szene hin. Diese Personenzusammenschlüsse sind nicht nur untereinander, sondern auch überregional vernetzt. Die Verflechtungen untereinander nehmen zu. Es bestehen vornehmlich Kontakte zu den rechtsextremistischen Parteien "Der III. Weg" und "Die Heimat". Informelle neonazistisch geprägte Personenzusammenschlüsse finden sich in der Altmark-Region, im Burgenlandkreis, im Raum Anhalt und in den Landkreisen Harz und Mansfeld-Südharz. Diese kleineren und auf die Region begrenzten Personenzusammenschlüsse, die kaum über feste Strukturen verfügen, unterhalten gute Kontakte zu Szeneangehörigen in Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen. Die eher lose Organisation und vergleichsweise geringe Bindungskraft solcher Gruppen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 79 RechtsextRemismus bietet den Vorteil, dass diese flexibel agieren und ihre Strukturen relativ schnell an neue rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen anpassen können. Neonazis stellen den größten Teil des parteiungebundenen Rechtsextremismus dar. Das Personenpotenzial umfasst dabei sowohl Gruppierungen mit einem subkulturellen "Einschlag" als auch Gruppierungen, die für ideologische Varianten des Nationalsozialismus und die Übernahme neuer Verhaltensweisen aufgeschlossen sind sowie Gruppierungen, die den historischen Nationalsozialismus verherrlichen. Oft werden die Zusammenschlüsse vorrangig von einzelnen Akteuren geeint und zur Zusammenarbeit untereinander gesteuert. Mitglieder Land: 250 (2022: 255) Anhänger Bund: 8.500 (2022: 8.500)1 VeröffentWeb-Angebote: diverse, teils wechselnde Auftritlichungen te in den sozialen Medien (vor allem Facebook und Instagram mit verstärkter Nutzung von geschlossenen Gruppenchats, aber auch Telegram-Kanäle zur Kommunikation mit der Öffentlichkeit) Publikation: Zeitschrift "N.S.Heute" FinanzieMitgliedsbeiträge, Gruppenkassen, rung Eintrittsgelder, Spenden und Verkauf von Merchandise-Produkten 1 - Die Angabe 8.500 umfasst das gesamte Potenzial parteiunabhängiger bzw. parteiungebundener Strukturen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 80 RechtsextRemismus Kurzportrait / Ziele Neonazis stellen sich in die ideologische Tradition des historischen Nationalsozialismus. Sie treten bei geschichtsträchtigen Ereignissen, vornehmlich aus der Zeit des Dritten Reiches, oder bei der Glorifizierung einzelner prominenter Nationalsozialisten auch öffentlichkeitswirksam in Erscheinung (z. B. "Trauermärsche" zum Gedenken an die Zerstörung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg, Geburtstag von Adolf Hitler, Veranstaltungen zum 1. und 8. Mai, "Gedenken" an die Rathenau-Attentäter Fischer und Kern am 17. Juli, "Heß-Gedenkaktionen" und germanische Brauchtumspflege wie Sonnenwendfeiern). Der Neonazismus ist bemüht, sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten, insbesondere im Hinblick auf aktuelle sozialoder gesellschaftspolitische Fragen, stetig anzupassen. Tagespolitische Themen werden in den sozialen Medien und auf der Straße aufgegriffen und zum Zweck der Propagierung des neonazistischen Weltbildes instrumentalisiert. Grund der Beobachtung Neonazistische Gruppierungen zeichnen sich durch eine vor allem von Rassismus und Antisemitismus geprägte Ideologie aus, welche sich am Nationalsozialismus orientiert und somit im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht. Teile der Bevölkerung werden als minderwertig angesehen und ihnen werden in der Konsequenz ihre verfassungsrechtlich verbrieften Grundrechte, wie Menschenwürde und Gleichheit vor dem Gesetz, abgesprochen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 81 RechtsextRemismus Die Umdeutung oder Relativierung des Nationalsozialismus, als Revisionismus bezeichnet, gehört zu den zentralen Ideologemen des deutschen Neonazismus. Aufgrund ihrer Vorstellung von einer antipluralistischen Gesellschaft und einem autoritären Staat, in dem politischen Gegnern als "Feinden" das Existenzrecht abgesprochen wird, ist Neonazis eine grundsätzliche Gewaltorientierung zuzuschreiben. Gewalt gegen "Fremde" und "Feinde" wird auf dieser Basis legitimiert. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Allgemeines Im September 2023 wurden die rechtsextremistischen Gruppierungen "Hammerskins Deutschland" und "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." ("Artgemeinschaft") einschließlich ihrer Teilorganisationen vom BMI verboten. Diese Verbote sorgten innerhalb der rechtsextremistischen Szene für eine starke Verunsicherung. Verschiedene rechtsextremistische Gruppierungen gaben in der Folge öffentlich ihre (angebliche) Selbstauflösung bekannt. Hierzu zählten die "Arische Bruderschaft" inklusive ihrer Support-Organisation "Brigade 12", die "Kameradschaft Northeim", die "Initiative Zusammenrücken", die "Division 45", die "Brigade 8" und die "Brothers of Honour". Ob diese Selbstauflösungen allerdings mehr sind als eine im Lichte der Vereinsverbote erfolgte taktische Finte, lässt sich angesichts der Tatsache, dass die meisten der beteiligten Personen seit vielen Jahren (zum Teil seit Jahrzehnten) in der rechtsextremistischen Szene aktiv sind, bezweifeln. Im Berichtsjahr ist augenfällig geworden, dass sich etablierte Neonazis, die bislang in bestehenden parteiunabhängigen Personenzusammenschlüssen aktiv waren, weiter parteiförmigen Strukturen (insbesondere der Partei "Der III. Weg") anschließen und in diesen auch führende Positionen einnehmen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 82 RechtsextRemismus Rechtsextremistische Szene im Landkreis Harz Die parteiungebundene rechtsextremistische Szene im Landkreis Harz operiert überwiegend in informell strukturierten, lose organisierten Personenzusammenschlüssen. "Harzrevolte" Die 2021 bekannt gewordene neonazistische Gruppierung "Harzrevolte" schloss im Februar 2023 sämtliche ihr zuzurechnenden Kanäle in den sozialen Medien, so dass sie seit diesem Zeitpunkt keine mediale Außenwirkung mehr entfaltete. Auch bei rechtsextremistischen Szeneveranstaltungen trat die Gruppierung in der Folgezeit nicht mehr in Erscheinung. Die Gruppe hat sich allem Anschein nach aufgrund interner Zwistigkeiten und widerstreitender Machtpole aufgelöst. Ihre ehemaligen, in der Szene weiterhin verwurzelten Mitglieder treten zwar bei rechtsextremistischen Versammlungen in Erscheinung, jedoch nicht in einer Art und Weise, die auf die Formierung einer Nachfolgebestrebung hindeuten würde. Zuzug von Rechtsextremisten in den Landkreis Harz Der bundesweit bekannte Rechtsextremist und Gründer des Labels "Kampf der Nibelungen" Alexander Deptolla verlagerte seinen Lebensmittelpunkt von Dortmund (Nordrhein-Westfalen) nach Halberstadt (Landkreis Harz). Im September 2023 erfolgte der Umzug seiner Firma "Tremonia Druck" dorthin. Seit 2022 ist ein Zuzug weiterer rechtsextremistischer Akteure, insbesondere aus Nordrhein-Westfalen, in den Landkreis Harz zu beobachten. Diese Zuzugsbewegungen sind vor allem auf Kennverhältnisse oder persönliche Beziehungen zurückzuführen, die zwischen Neonazis aus der Harzregion und Akteuren der neonazistischen Szene Nordrhein-Westfalens, insbesondere aus dem Umfeld des Kreisverbandes Dortmund der Partei "Die Heimat", bestehen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 83 RechtsextRemismus Rechtsextremistische Szene im Landkreis Mansfeld-Südharz Aktivitäten der Szene um Enrico Marx Die parteiungebundene rechtsextremistische Szene im Landkreis Mansfeld-Südharz tritt zum großen Teil unstrukturiert auf. Etwa 15 Personen gehören gleichwohl der Partei "Die Heimat" (vormals NPD) und dem Personenumfeld des Rechtsextremisten Enrico Marx (Allstedt OT Sotterhausen, Landkreis Mansfeld-Südharz) an. Im Berichtsjahr bildeten insbesondere die Aktivitäten um Enrico Marx den Schwerpunkt im Landkreis. Am 3. Februar 2023 fand auf dem Grundstück von Enrico Marx die Geburtstagsfeier eines Szeneangehörigen statt, an der etwa 100 Personen aus mehreren Bundesländern teilnahmen. An demselben Ort richtete Enrico Marx am 18. März 2023 eine Solidaritätsveranstaltung für "politische Gefangene" aus. Er folgte damit einem Aufruf des "Freundeskreises Gefangenenhilfe", der die Szene alljährlich dazu auffordert, am 18. März Aktionen für inhaftierte Rechtsextremisten durch zuführen2. Bei der Solidaritätsveranstaltung in Sotterhausen stellte die Polizei im Rahmen von Aufklärungsmaßnahmen etwa 25 Fahrzeuge aus den Bundesländern Bayern, Brandenburg, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersaschen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen fest. Seit vier Jahren organisiert Enrico Marx "Nationale Kunstund Handwerkermärkte" auf seinem Grundstück. Am 2. September 2023 fand ein solcher Markt erneut unter dem Motto "Hand in Hand -Für Erhalt und Bestand" statt. Die Polizei führte Maß- 2 - Der "Freundeskreis Gefangenenhilfe" will mit derartigen Veranstaltungen an den "Internationalen Tag der Solidarität mit den politischen Gefangenen" erinnern. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 84 RechtsextRemismus nahmen zur Verhinderung von anlassbezogenen Straftaten durch, nachdem sie Personen in T-Shirts mit der Aufschrift "Der III. Weg" feststellt hatte, die Kisten mit unbekanntem Inhalt in das Objekt transportierten. Die Polizei kontrollierte die Anreisenden und stellte dabei fünf Verstöße gegen das WaffG und einen Verstoß gegen das SprengstoffG fest. Auf dem Veranstaltungsgelände befanden sich am frühen Abend etwa 70 Personen; später wurde die Veranstaltung untersagt und aufgelöst, um weitere Straftaten zu verhindern. Bei den vor Ort festgestellten Personen handelte es sich um Rechtsextremisten aus Niedersachsen, Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt (Landkreise Anhalt-Bitterfeld, Wittenberg und Mansfeld-Südharz). Auf mehreren Telegram-Kanälen, wie z. B. "Gefangenenhilfe" oder "Recht und Wahrheit", reagierte die Szene heftig und mit Vorwürfen gegen den Polizeieinsatz. Aktivitäten zum Questenfest Das Questenfest ist ein alter Pfingstbrauch aus einer heute nicht mehr bestimmbaren Epoche. Es wird in dieser Form alljährlich nur in Questenberg - einem Ortsteil der westlich von Sangerhausen gelegenen Gemeinde Südharz - gefeiert. Das namensgebende Symbol, die "Queste" - ein an einem rund zehn Meter hohen Baumstamm befestigter Kranz - befindet sich auf einem westlich von Questenberg gelegenen Felsen. Seit Jahren wird das Questenfest auch von Rechtsextremisten besucht, welche die Queste mit der germanischen Mythologie in Verbindung bringen und daher zum Anlass nehmen, ihre Version der Brauchtumspflege öffentlich darzustellen. Im Berichtsjahr nahmen die Neonazis Nikolai Nehrling (Niedersachsen) alias "Der Volkslehrer" und Sven Liebich (Halle (Saale)) am Questenfest teil. Wie bereits im Jahr 2022 reiste auch 2023 eine etwa zehnköpfige Gruppe von Mitgliedern der "Jungen Alternative" (JA) zum Questenfest. Im März 2023 bewarb die rechtsextremistische "Initiative Zusammenrücken" das Fest auf ihrem Telegram-Kanal. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 85 RechtsextRemismus Rechtsextremistische Szene in Dessau-Roßlau Die nicht parteigebundene rechtsextremistische Szene in Dessau-Roßlau wird von dem Personenumfeld des Rechtsextremisten Alexander Weinert (Dessau-Roßlau) und den Aktivitäten der Partei "Der III. Weg" dominiert. Rechtsextremisten aus der Region verfügen über gute Kontakte zu Szeneangehörigen im Burgenlandkreis sowie in den Bundesländern Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen. Alexander Weinert meldete für den 19. Januar 2023 in Dessau-Roßlau eine versammlungsrechtliche Aktion anlässlich des Jahrestages eines Körperverletzungsdeliktes an Personen der rechtsextremistischen Szene an. Diese stand, wie schon im Vorjahr, unter dem Motto "Solidarität mit den Opfern des 19.01.2019 - Wir fordern Aufklärung". An der Aktion beteiligten sich etwa 50 Personen, darunter Mitglieder der "Brigade 8 Chapter Mittel/Elbe", der "Aktionsgruppe Dessau/Bitterfeld", der "Neue Stärke Partei" aus dem Raum Magdeburg und Gera (Thüringen) sowie der Partei "Die Heimat". Während des Aufzugs führten die Teilnehmer zwei Transparente, schwarz-weiß-rote Fahnen und Fackeln mit sich. Außerdem skandierten sie für die rechtsextremistische Szene typische Parolen wie "Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen" und "frei, sozial und national". Rechtsextremistische Aktivitäten von Sven Liebich Im Berichtszeitraum trat der Rechtsextremist Sven Liebich erneut landesund bundesweit in Erscheinung. Die Durchführung von Versammlungen blieb auch im Jahr 2023 für Sven Liebich essenziell. Quantitativ betrachtet sind sie bundesweit weiterhin ohne Vergleich. Wie schon im Vorjahr führte er neben seinen etablierten "Montagsdemos" eine Vielzahl von Versammlungen in Halle (Saale) unter dem Motto "Die Revolution ist noch nicht zu Ende" durch. Zusätzlich meldete er immer wieder anlassbezogen Spontanversammlungen an. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 86 RechtsextRemismus Thematisch dominierte nach wie vor die aktuelle Flüchtlingspolitik der Bundesregierung Sven Liebichs Versammlungen. In Bezug auf den Angriff der palästinensischen Terrororganisation HAMAS auf Israel und die israelische Reaktion darauf bezog Liebich keine Partei; stattdessen nahm er die jüngste Eskalation des Nahostkonflikt zum Anlass, um Angst vor einer wachsenden Gefahr islamistischer Anschläge auf deutschem Boden infolge der Ereignisse zu schüren. Zum völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nahm Sven Liebich weiterhin eine pro-russische Position ein. Beispielsweise störte er am 24. Februar 2023 zwei Versammlungen in Halle (Saale), die den Krieg in der Ukraine zum Thema hatten. Bei einer der Versammlungen unter dem Motto "Stoppt das Töten in der Ukraine" kam Sven Liebich einem Platzverweis der Polizei nicht nach; diese musste ihn daher unter Anwendung von körperlichem Zwang aus der Versammlung entfernen. Daraufhin meldete er eine Spontanversammlung unter dem Motto "Gegen falsche Kriegsfreunde" an. Trotz seiner Anstrengungen gelang es Sven Liebich auch im Jahr 2023 nicht, sein Mobilisierungspotenzial auszubauen. Seine Versammlungen und "Auftritte" wurden von einem gleichbleibenden Personenkreis besucht und unterstützt. Es handelte sich um bis zu maximal 30 Personen, die Liebichs Aktivitäten mitunter auch überörtlich begleiteten. Außerhalb Sachsen-Anhalts lagen seine Aktivitäten schwerpunktmäßig in den Nachbarländern Thüringen und Sachsen. U. a. beteiligten sich Sven Liebich, dessen Lebensgefährtin und weitere Personen seines Umfeldes am 3. Oktober 2023 in Gera (Thüringen) an einer unter dem Motto "Tag der Deutschen Freiheit" durchgeführten Kundgebung mit ca. 1.300 Teilnehmenden, die neben rechtsextremistischen sowohl Bezüge zum Phänomenbereich der "Reichsbürgerszene" als auch zur "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" aufwies. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 87 RechtsextRemismus Im Berichtsjahr musste sich Sven Liebich für seine Taten mehrfach juristisch verantworten. Im Juni 2023 begann vor dem Amtsgericht (AG) Halle (Saale) ein Prozess gegen Sven Liebich, bei der ihm die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) 24 Anklagepunkte vorwarf. Dazu zählten u. a. Delikte wie Volksverhetzung, Beleidigungen, Hausfriedensbruch, Gefährdung des Straßenverkehrs, Üble Nachrede sowie ein Verfahren wegen der Billigung von Straftaten, da er im März 2022 ein ca. 40 cm großes "Z" an seinem Transporter angebracht und somit den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine unterstützt hatte. Am 13. Juli 2023 wurde Sven Liebich u. a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Bereits zwei Monate später, im September 2023, fand am AG Leipzig eine weitere Gerichtsverhandlung gegen Sven Liebich und gegen dessen Lebensgefährtin sowie zwei weitere Personen seines Umfeldes wegen des Vorwurfs der Körperverletzung statt. Ihnen wurde vorgeworfen, am 7. November 2020 am Rande einer Versammlung gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Leipzig (Sachsen) einen Fotografen angegriffen zu haben. Das Gericht verurteilte Sven Liebich im September 2023 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten ohne Bewährung. Die anderen Angeklagten erhielten mehrmonatige Freiheitsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Im Februar 2023 sprach die Stadt Halle (Saale) eine Gewerbeuntersagung gegen Sven Liebich aus, so dass dieser - wie schon zeitweise in der Vergangenheit - seine Tätigkeit als Geschäftsführer des Onlinevertriebs "l & h-shirtzshop GmbH" mit Sitz in Halle (Saale) aufgeben musste.3 3 - Vgl. hierzu auch den Abschnitt "Rechtsextremistische Vertriebsszene" im Kapitel "Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial", S. 110 ff. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 88 RechtsextRemismus Rechtsextremistische Aktivitäten zum Todestag der RathenauMörder Auch im Berichtsjahr 2023 gedachten Rechtsextremisten in Naumburg OT Saaleck (Burgenlandkreis) der Rathenau-Mörder Hermann Fischer und Erwin Kern, die am 17. Juli 1922 auf der Burg Saaleck zu Tode kamen. Am 23. Juli 2023 trafen sich hierzu etwa 35 Personen der rechtsextremistischen Szene aus dem Burgenlandkreis und dem Saalekreis, um unter anderem einen Kranz auf dem Friedhof in Saaleck niederzulegen. Aktivitäten zu den Jahrestagen alliierter Luftangriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg Anders als im Jahr 2022 kam es 2023 nicht zu einer größeren Kundgebung der rechtsextremistischen Szene anlässlich der Bombardierung Magdeburgs am 16. Januar 1945. Hatten 2022 noch etwa 150 Rechtsextremisten organisationsübergreifend an einer entsprechenden Versammlung teilgenommen, beteiligten sich im Jahr 2023 nur noch etwa 30 Personen, die fast alle der NSP zuzuordnen waren. Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren regelmäßig am 16. Januar unangemeldete Gedenkaktionen der rechtsextremistischen Szene auf dem Magdeburger Domplatz. Im Berichtsjahr versammelten sich hierzu etwa 15 Rechtsextremisten. Am 11. Februar 2023 fand in Dresden (Sachsen) die alljährliche rechtsextremistische Gedenkveranstaltung anlässlich des Jahrestags der Bombardierung der Stadt durch alliierte Fliegerverbände im Zweiten Weltkrieg statt. Die diesjährige Gedenkveranstaltung meldete erneut der Neonazi Lutz Giesen (Sachsen) unter dem Motto "GEDENK DRESDEN" an. Insgesamt beteiligten sich etwa 670 (2022 etwa 750) Personen an dem "Gedenkmarsch", der mit einer "Gedenkkundgebung" mit einer Schweigeminute und dem Singen des "Deutschlandlieds" endete. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 89 RechtsextRemismus Neben dem Versammlungsleiter Lutz Giesen nahmen unter anderem Sven Skoda ("DIE RECHTE", Duisburg), Thorsten Heise ("Die Heimat", Thüringen), Nicolai Nerling alias "Der Volkslehrer" sowie Jens und Peggy Bauer (Burgenlandkreis) teil. Lutz Giesen und Gitta Schüssler (Partei "Die Heimat", Sachsen) traten als Redner auf. Jens Bauer las Grußbotschaften rechtsextremistischer Politiker vor. Aktionsform "Schwarze Kreuze" Zum zehnten Mal haben Rechtsextremisten organisationsübergreifend am 13. Juli 2023 in mehreren Bundesländern einen Aktionstag unter dem Motto "Schwarze Kreuze Deutschland" durchgeführt. Hierbei wurden schwarz bemalte Kreuze an öffentlichen Straßen und Plätzen aufgestellt. An der bundesweiten Aktion beteiligten sich aus SachsenAnhalt die Gruppierungen "Nordic 12" aus Gardelegen (Altmarkkreis Salzwedel) und die "Brigade 8 Chapter Mittel-Elbe" sowie Rechtsextremisten aus den Landkreisen Anhalt-Bitterfeld und Wittenberg. Es wurden "Schwarze Kreuze" in Raguhn-Jeßnitz (Landkreis Anhalt-Bitterfeld), im Landkreis Börde, in Dessau-Roßlau OT Mildensee und Oranienbaum (Landkreis Wittenberg) festgestellt. Völkische Siedlungsbestrebungen Im Rahmen der Beobachtung rechtsextremistischer Aktivitäten sind dem Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt sogenannte völkische Siedlungsbestrebungen bekannt geworden. Völkische Siedlungsbestrebungen sind begrifflich bisher nicht abschließend definiert. Es gibt Gemeinschaften, die ihre Überzeugungen ohne Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 90 RechtsextRemismus Anspruch auf eine politisch-gesellschaftliche Umgestaltung ausleben; sie gelten nicht als eine verfassungsfeindliche Bestrebung. Daneben können für den Verfassungsschutz relevante rechtsextremistische Siedlungsbestrebungen detektiert werden. Derartige Bestrebungen liegen vor, wenn Akteure aus dem rechtsextremistischen Spektrum gezielt versuchen, Rückzugsräume zu schaffen, indem geografische Gebiete durch Zuzug und/oder ideologische/kulturelle Prägung vereinnahmt werden. Völkische Siedler pflegen eine naturorientierte, ökologische Lebensweise und lassen sich daher vorrangig in ländlich geprägten Gebieten nieder. Sie vertreten zumeist nationalistische, rassistische, antisemitische und/oder homophobe Ansichten. Einige rechtsextremistische Akteure der völkischen Siedlungsbewegung können der "Anastasia-Bewegung" zugerechnet werden, einer esoterisch-ökologischen, neu-religiösen Bewegung, die ursprünglich aus Russland stammt und seit einigen Jahren versucht, auch in Deutschland lokale Strukturen, sogenannte "Familienlandsitze", aufzubauen. Die "Anastasia-Bewegung" ist ein sehr heterogenes internationales Netzwerk, das sich aus verschiedenen Einzelpersonen und Organisationen zusammensetzt. Die ideologische Grundlage der Bewegung bildet die zehnbändige "Anastasia"-Buchreihe von Wladimir Megre, die ein völkisches und antisemitisches Weltbild propagiert. So wird beispielsweise in der Romanreihe das Narrativ der jüdischen Weltverschwörung aufgegriffen, wenn dort behauptet wird: "Die meisten Veröffentlichungen zum Thema 'Juden', die mir in die Hände gefallen sind, haben auf mich einen recht primitiven Eindruck gemacht. Fast alle laufen auf die Feststellung der gleichen Tatsachen hinaus: 'Die Juden haben die Presse verschiedener Länder unter ihre Kontrolle gebracht'; 'das Fernsehen ist von Grund auf jüdisch'; 'der Geldfluss in der Welt wird zum größten Teil von Juden kontrolliert'. Das ist alles so, keine Frage, Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 91 RechtsextRemismus auch im heutigen Russland. Aber dies allein ist nicht mehr als eine Feststellung von Tatsachen." 4 "Weda Elysia e. V." (Weda Elysia) Ein Akteur der "Anastasia"-Siedlungsbestrebungen in Deutschland ist der Verein "Weda Elysia" mit Sitz in Blankenburg, Ortsteil Wienrode (Landkreis Harz). Der Verein, dem etwa 15 Personen angehören, strebt den Aufbau einer eigenen Familienlandsitz-Siedlung an und hat zu diesem Zweck die ehemalige Dorfschänke im Ortskern von Wienrode erworben, um diese zu renovieren und zu einem Kulturzentrum auszubauen. Im Mai 2023 wurde auf diesem Gelände eine "Kaffeeund Trachtenstube" eröffnet, die in selbstorganisierten Veranstaltungen mit eingebunden ist. "Weda Elysia" versteht sich als eine Glaubensgemeinschaft, die sich auf die Lebensweise ihrer "Ahnen" beruft und eine esoterische Brauchtumspflege betreibt. In seiner Publikation "Weda Elysia - Fahrt ins Paradies" macht der Verein unmissverständlich deutlich, dass er sich auf Megres "Anastasia"-Buchreihe beruft. "Weda Elysia" strebt nach einem "autarken Leben" in der Siedlungsgemeinschaft, nach einer Rückkehr zu einem ursprünglichen, freien und individuellen Leben im Einklang mit der Natur. Die als "unfrei" empfundene Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland wird als negativer Gegenpol zu der Utopie einer unabhängigen Familienlandsitz-Siedlung wahrgenommen. Aus der Perspektive der Anhänger des Vereins steht die ausschließlich positive, sinnerfüllte Welt von "Weda Elysia" einer gänzlich von Leid und Krieg geprägten, von bösen Hintergrundmächten beherrschten Außenwelt gegenüber. Ein derart simplifizierendes 4 - Wladimir Megre: Anastasia. Band 8.1: Neue Zivilisation. Silberschnur Verlag 2005, S. 138. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 92 RechtsextRemismus Schwarz-Weiß-Denken ist ein typisches Merkmal extremistischer Argumentationsmuster. Im Berichtsjahr zeigten die Protagonisten von "Weda Elysia" mit ihren Aktivitäten eine zunehmende öffentliche Präsenz. Eine steigende Anzahl an Veranstaltungen, die Teilnahme an zahlreichen Gemeindeund Ortschaftsratssitzungen und die intensive Nutzung der sozialen Medien sind Ausdruck dessen. Diese stringente Öffentlichkeitsorientierung weist darauf hin, dass der Verein darum bemüht ist, für seine politischen Ziele zu werben und sich aktiv in das gesellschaftliche Leben einzubringen. "Weda Elysia" ist mit dieser "Imagekampagne" durchaus erfolgreich: Ein Teil der lokalen Bevölkerung scheint die Aktivitäten des Vereins zu akzeptieren. Davon zeugt z. B. die Tatsache, dass es einem führenden Mitglied von "Weda Elysia" gelungen ist, bei einer Ergänzungswahl des Ortschaftsrates von Wienrode am 12. November 2023 eines von drei zu vergebenden Mandaten zu erringen. Mitglieder und Anhänger von "Weda Elysia" waren zu dieser Wahl mit einer eigenen Liste angetreten, die den Namen "Schönes Wienrode" trug. An den von "Weda Elysia" durchgeführten Veranstaltungen in Wienrode nahmen zahlreiche Personen teil, die der Verfassungsschutz dem Rechtsextremismus, der Reichsbürgerszene und der Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates zurechnet. Dies zeigt die Nähe zu und den Willen zur Zusammenarbeit mit anderen extremistischen Akteuren. Einige Akteure von "Weda Elysia" pflegten Kontakte zu dem mittlerweile verbotenen neonazistischen Verein "Artgemeinschaft", an dessen "Gemeinschaftstagen" sie vereinzelt teilnahmen. "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." ("Artgemeinschaft") Die "Artgemeinschaft" war bis zu ihrem Verbot die größte deutsche neonazistische Vereinigung. Sie sah den historischen Nationalsozialismus als politisches Referenzmodell an; ihr WeltVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 93 RechtsextRemismus bild war von einer rassistischen, antichristlichen und antisemitischen Grundhaltung geprägt. Der Verein fungierte als wichtige Schnittstelle der deutschen Neonaziszene. Bei der "Artgemeinschaft" handelte es sich um einen ideologisch gefestigten Personenzusammenschluss, der bei seinen Mitgliedern nicht zuletzt aufgrund der strengen Voraussetzungen, an die eine Mitgliedschaft geknüpft war, ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl erzeugte. Das BMI hat die "Artgemeinschaft" einschließlich aller Teilorganisationen verboten und aufgelöst. Das Verbot wurde am 27. September 2023 mit Durchsuchungen und Beschlagnahmungen in zwölf Bundesländern vollzogen. Im Zuge der Durchsetzung des Verbotes wurden auch waffenrechtliche Erlaubnisse aberkannt. Das Vereinsverbot untersagt jede Fortführung der Vereinsaktivität durch die bisherigen Mitglieder und jede Aktivität Dritter zugunsten des verbotenen Vereins. Der Verein weist einen bundesweiten Wirkungskreis auf. Die 39 Hauptakteure der "Artgemeinschaft", die auch Adressaten der Verbotsverfügung waren, kommen aus zwölf verschiedenen Bundesländern5 und haben dort als aktive Mitglieder die Ziele und Zwecke des Vereins vorangetrieben und verfolgt. In Sachsen-Anhalt haben vier Personen eine Verbotsverfügung erhalten und es wurden drei Objekte durchsucht. Neben Datenträgern, Publikationen und Dokumenten mit Bezug zum Verein und zur rechtsextremistischen Szene wurden auch Devotionalien der "Artgemeinschaft" (z. B. eine lebensgroße Irminsul-Statue6) beschlagnahmt. Unter den beschlagnahmten Waffen befanden sich u. a. Karabiner7 und Messer. 5 - Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, MecklenburgVorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. 6 - Im Nationalsozialismus stellte die Irminsul das Gegensymbol zum christlichen Kreuz dar, um einen sinnfälligen Ausdruck für die völkische Idee des Ahnenerbes zu haben. 7 - Kurzläufiges Gewehr. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 94 RechtsextRemismus Bewertung, Tendenzen, Ausblick Auch in diesem Berichtsjahr dominierten regionale Personenzusammenschlüsse die parteiungebundene rechtsextremistische Szene in Sachsen-Anhalt. Deutlich zu erkennen ist eine überregionale Beteiligung von Szeneangehörigen an rechtsextremistischen Veranstaltungen wie Sonnenwendfeiern und Geburtstagsfeiern, aber auch eine zunehmende überregionale Vernetzung und Unterstützung untereinander. Die rechtsextremistische Szene in Sachsen-Anhalt baut auf die Kooperation rechtsextremistischer Parteien wie "Der III. Weg", da diese sich als Teil der gemeinsamen "nationalen Bewegung" definieren. Die Verbote der "Hammerskins Deutschland" und der "Artgemeinschaft" brachten viel Unruhe in die Szene. Einige Gruppierungen gaben ihre Selbstauflösung bekannt, um einem möglichen Verbot zuvorzukommen. Ob diese Sorge zu einer Fragmentierung der Szene oder zu einem noch konspirativeren Handeln führt, wird die Zukunft zeigen. Das Verbot der "Artgemeinschaft" führte in der neonazistischen Szene zu einem weiteren Strukturverlust. Erst die Zukunft wird zeigen, ob ehemalige Mitglieder der "Artgemeinschaft" versuchen werden, neue Strukturen zu bilden, ob sie sich anderen Gruppierungen bzw. Parteien anschließen oder auf einem niedrigschwelligen Niveau versuchen werden, ihrer politischen Gesinnung nachzugehen. Angesichts langjähriger Sozialisation der früheren Mitglieder der "Artgemeinschaft" in der Neonaziszene, von denen viele bereits in der Kindheit von den eigenen Eltern an die rassistische Ideologie der "Artgemeinschaft" herangeführt wurden, ist davon auszugehen, dass der weit überwiegende Teil dieser Personen in der Neonaziszene verbleiben wird. Um Bürgernähe zu zeigen und ihr Mobilisierungspotenzial zu steigern, wird die neonazistische Szene sich in naher Zukunft Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 95 RechtsextRemismus nicht nur auf die ritualisierte Durchführung geschichtsrevisionistischer und NS-verherrlichender Aktionen beschränken, sondern weiterhin darum bemühen, das tagesaktuelle politische Geschehen aufzugreifen. Auch in Zukunft werden Neonazis auf Themen fokussieren, die in der Gesellschaft kontrovers und emotional diskutiert werden. Die Kritik an der Flüchtlingsund Sozialpolitik der Bundesregierung wird daher weiterhin die Aktionen und Kampagnen bestimmen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 96 RechtsextRemismus Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial (gewaltbereiter Rechtsextremismus / Rechtsterrorismus) Gründung Im Zuge der Erosion der bis dahin klar abgrenzbaren Erscheinungsformen des Rechtsextremismus in Gestalt von Neonazis, Parteienspektrum und Skinheads der 1990er Jahre bildete sich in den letzten Jahren eine als vielschichtig zu charakterisierende Szene heraus, die sich unterschiedlicher Aktionsund Organisationsformen bedient. Struktur Neben gewaltbereiten Einzelpersonen tritt das Aufbau weitgehend unstrukturierte Personenpotenzial in regional verankerten Personenzusammenschlüssen oder virtuellen Gruppen auf, teilweise mit überregionaler Vernetzung. Es sind dabei nunmehr auch Strukturformen festzustellen, die ursprünglich in der neonazistischen Szene vorherrschten. Zudem werden vermehrt rockerähnliche Strukturen adaptiert, um sich zumindest in kleinen Gruppen regional zu organisieren. Neben dem Vorhandensein fester innerer Strukturen, autoritärer Führungspersonen oder der Finanzierung über Mitgliedsbeiträge ist diese Entwicklung auch damit zu beschreiben, dass oftmals nicht mehr allein das aktionsorientierte Verüben von Straftaten im Vordergrund steht, sondern ebenso das Planen und Durchführen von Versammlungen, Konzerten, Liederabenden oder anderen Szeneveranstaltungen. Dafür nutzen die in diesem Spektrum verorteten Rechtsextremisten überwiegend soziale Netzwerke und Messengerdienste zum Zwecke der schnellen Mobilisierung. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 97 RechtsextRemismus Mitglieder Land: etwa 970 (2022: 900) Anhänger Bund: etwa 17.000 (2022: 16.000) VeröffentMessengerdienste und soziale Netzwerke zum lichungen Zwecke der schnellen Mobilisierung Kurzportrait / Ziele Das Personenpotenzial der weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Szene weist ein sehr heterogenes Erscheinungsbild auf und bedient diverse Aktionsfelder. Es zeichnet sich durch eine hohe Gewaltbereitschaft aus. Im Zuge der zu beobachtenden Verjüngung der Szene ist zudem eine Zunahme der aktionsorientierten Motivation zu verzeichnen, da gerade bei jüngeren Szeneangehörigen Aktivitäten mit "Erlebnischarakter" im Vordergrund stehen, die auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Grund der Beobachtung Das Weltbild der weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Szene wird unverändert von antidemokratischen, rassistischen, antisemitischen, fremdenfeindlichen sowie Gewalt gegen Ausländer und politisch Andersdenkende befürwortenden Ideologiebestandteilen geprägt. Dies wird in Aktionen, Strafund Gewalttaten, zahlreichen Liedtexten einschlägiger Musikgruppen oder auch Programmen und Manifesten offen zum Ausdruck gebracht. Gerade die Liedtexte fungieren als wichtiges Medium, um rechtsextremistische und zum Teil gewaltbefürwortende Inhalte zu verbreiten. Unverändert stehen auch vermehrt Kampfsportveranstaltungen im Vordergrund, bei denen vor allem jungen Menschen die Ideologieelemente der Szene nahegebracht und zum Teil auch Hemmschwellen in Bezug auf das Anwenden von Gewalt abgebaut werden sollen. All dies steht im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 98 RechtsextRemismus Daneben sind es gewaltbereite Einzelpersonen und klandestin organisierte Kleinstgruppen aus dem weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Spektrum, welche mit der Androhung, Planung oder Ausübung von schweren Gewalttaten in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten. In derartigen Fällen nimmt die Verfassungsschutzbehörde neben einer originär sachund strukturorientierten Auswertung von Informationen auch eine gezielt persönlichkeitsorientierte Auswertung vor, die Rückschlüsse auf mögliche Gefährdungsszenarien zulässt. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Rechtsterrorismus Stephan Balliet Der Rechtsterrorist Stephan Balliet verübte am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale), bei dem er in unmittelbarer Nähe der Synagoge zwei Menschen ermordete. Am 21. Dezember 2020 verurteilte ihn das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Wegen einer am 12. Dezember 2022 verübten Geiselnahme in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Burg (Landkreis Jerichower Land) verurteilte das Landgericht Stendal ihn am 27. Februar 2024 zu einer weiteren Freiheitsstrafe von sieben Jahren. In der Haft tritt Balliet wiederkehrend mit rechtsextremistischen Äußerungen und Thesen in Erscheinung. Die Verfassungsschutzbehörde geht unverändert davon aus, dass rechtsextremistische Terrorakte in die gewaltbereite rechtsextremistische Szene wirken und Nachahmer entsprechend motivieren können. Der Fokus der Verfassungsschutzbehörde ist insbesondere auf Personen gerichtet, die etwa in den sozialen Netzwerken mit Sympathiebekundungen und Nachahmungsfantasien auffallen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 99 RechtsextRemismus Bereits im Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 wurde über einen damals 19-jährigen Mann aus dem Burgenlandkreis berichtet, der damit drohte, dass er "den Attentäter aus Halle nachahmen" wolle, mit diesem sympathisiere und Verständnis für dessen Motive habe.1 Im Rahmen einer Befragung der Verfassungsschutzbehörde führte der derzeit wegen diverser nicht staatsschutzrelevanter Strafund Gewalttaten inhaftierte Mann im September 2023 aus, dass er tatsächlich einen Anschlag in Erwägung gezogen und dafür bereits Gegenstände wie Helm, Schutzweste, Macheten, umgebaute Schreckschusspistolen und eine GoPro-Kamera in einem Depot verwahrt habe. Die Art, wie sich die Person die Begehung eines möglichen Anschlags im Einzelnen vorgestellt hatte, erinnert an das Auftreten Balliets. "Gruppe S." In einem anderen Fall des Rechtsterrorismus verurteilte das OLG Stuttgart am 30. November 2023 insgesamt sechs Mitglieder, drei Unterstützer und einen Beihelfer der rechtsterroristischen "Gruppe S." zu mehrjährigen Freiheitsstrafen. Unter den Verurteilten befinden sich auch zwei Männer aus Sachsen-Anhalt. Das OLG Stuttgart stellte fest, dass die verurteilten Mitglieder der so genannten "Gruppe S." seit spätestens Mitte 2019 insbesondere dunkelhäutigen Menschen und Muslimen feindselig gegenüberstanden und die Auffassung vertraten, die Ausbreitung des Islam in Deutschland stoppen zu müssen. In sozialen Netzwerken sei zunächst nach Gleichgesinnten gesucht worden, welche bereit gewesen wären, dieses Ziel mit dem Einsatz von massiver Gewalt zu verfolgen. In der Folge kam es zu realweltlichen Treffen, bei denen unter anderem die Planung von Anschlägen, etwa auf mehrere kleine, nicht konkret genannte Moscheen, besprochen worden sei. An mindestens einem dieser Treffen nahmen die beiden Personen aus Sachsen-Anhalt teil. Die Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt informierte bereits im Verfassungsschutzbericht 2020 über die damals 1 - Vgl. Verfassungsschutzbericht Sachsen-Anhalt 2020, S. 32. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 100 RechtsextRemismus bekannt gewordenen Pläne der "Gruppe S." und die aktive und teils führende Einbindung der beiden Personen in die regionalen Strukturen der rechtsextremistischen, bürgerwehrähnlichen Gruppierung "Vikings Security Germania - Division SachsenAnhalt", welche sich im Zuge der asylfeindlichen Mobilisierung seit 2015/16 herausgebildet und verfestigt hatte.2 Ein weiterer Mann aus Sachsen-Anhalt, der ebenfalls in den Strukturen von "Vikings Security Germania" verortet wurde und zumindest mit Bezügen zur "Gruppe S." aufgefallen war, wurde am 10. August 2023 vom AG Magdeburg wegen des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und das Waffengesetz zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt. Ralf Wohlleben Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte am 2. November 2022 die Entscheidung des OLG München vom 1. September 2022 bestätigt, dass der am 11. Juli 2018 wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilte NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben die nach Abzug der Zeiten in der Untersuchungshaft verbliebene Restfreiheitsstrafe noch ableisten muss. Er hat daraufhin am 9. Januar 2023 seine Resthaftstrafe in der JVA Burg angetreten. Die Verfassungsschutzbehörde registriert seither wiederkehrend Solidaritätsbekundungen und Solidaritätsveranstaltungen mit Spendenaktionen für Ralf Wohlleben innerhalb der rechtsextremistischen Szene. Im Berichtszeitraum richteten mehrere Rechtsextremisten Briefe und Postkarten an den inhaftierten Ralf Wohlleben. Einige davon enthielten typische Kennzeichen aus der Zeit des Nationalsozialismus oder andere rechtsextremistische Symbole. So erhielt Ralf Wohlleben unter anderem eine Postkarte, auf der ein verschnörkeltes Hakenkreuz und das kleine Bild einer Irminsul3 abgebildet war. Die Karte war zudem mit einem aufgedruckten, verblassten Wasserzeichen versehen, auf dem ein Reichsadler und der Aufdruck "Zulassungsmarke Deutsche Feldpost" abgebildet war. 2 - Vgl. Verfassungsschutzbericht Sachsen-Anhalt 2020, S. 34 f. 3 - Zur Irminsul siehe S. 94. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 101 RechtsextRemismus Mögliche Beteiligung von Rechtsextremisten am Krieg in der Ukraine Der Verfassungsschutzbehörde sind seit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 keine Rechtsextremisten aus Sachsen-Anhalt bekannt geworden, die nachweislich zum Zwecke der aktiven Beteiligung an Kampfhandlungen in die Ukraine ausgereist sind. Gleichwohl sind der Verfassungsschutzbehörde Personen bekannt, die zumindest Verbindungen und Bezüge zu dem auf der Seite der Ukraine kämpfenden "Regiment Asow" und der "Misanthropic Division" aufweisen. Bei der "Misanthropic Division" handelt es sich um ein internationales neonazistisches Netzwerk, das bereits vor Ausbruch des Krieges Rechtsextremisten aus ganz Europa rekrutiert haben soll, die mutmaßlich innerhalb des "Regiments Asow" an bewaffneten Kampfhandlungen gegen die prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine beteiligt waren. Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden Im Februar 2023 wurde an der Fachhochschule Polizei Sachsen-Anhalt eine Chatgruppe bekannt, in der Polizeivollzugsbeamtenanwärter in der Zeit von 2017 bis 2020 unter anderem antisemitische, nationalsozialistische, rassistische sowie gewaltverherrlichende Inhalte veröffentlicht und untereinander geteilt hatten. Die Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt hat auf der Grundlage der ihr übermittelten Erkenntnisse zu den Chatinhalten bei einzelnen Beamten Hinweise und erste Anhaltspunkte für eine mögliche rechtsextremistische Ideologie festgestellt. Rechtsextremisten und Waffen Gerade subkulturell geprägte und gewaltbereite Rechtsextremisten weisen häufig eine besondere Affinität zu Waffen auf. Waffen haben in der rechtsextremistischen Szene aus milieuspezifischen und insbesondere ideologischen Gründen eine große Bedeutung. Die für diese Szene typische Kombination einer menschenverachtenden Weltanschauung mit einer niedVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 102 RechtsextRemismus rigen Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt und einer Faszination für Waffen stellt ein Bedrohungspotenzial dar, wie die rechtsterroristischen Aktivitäten des NSU und die Taten von Halle (Saale), Kassel und Hanau (Hessen) sowie zuletzt die Verurteilung von Mitgliedern der rechtsterroristischen "Gruppe S." gezeigt haben. Die Verfassungsschutzbehörde verzeichnet noch immer zahlreiche Rechtsextremisten mit waffenrechtlichen Erlaubnissen, die zum Besitz von erlaubnispflichtigen und mithin sogenannten scharfen Schusswaffen berechtigen. Soweit der Verfassungsschutzbehörde ausreichend mitteilbare Erkenntnisse zu diesen Personen vorliegen, werden die zuständigen Waffenbehörden auf der Grundlage von SS 18 Abs. 1 VerfSchG-LSA hierüber informiert. In einzelnen Fällen hat die zuständige Untere Waffenbehörde daraufhin bereits die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen. Die Verfassungsschutzbehörde erlangt zudem regelmäßig Informationen über Rechtsextremisten, die illegal im Besitz von erlaubnispflichtigen Schusswaffen sind oder die aktiv versuchen, an solche Waffen zu gelangen. Sollten sich diese Informationen bestätigen, werden diese an die Strafverfolgungsbehörden übermittelt. Auf umgekehrtem Weg erlangt die Verfassungsschutzbehörde aus Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden Kenntnis von illegalen Waffen, die sich im Besitz von Rechtsextremisten befunden haben. So durchsuchte die Polizei im Oktober 2023 aufgrund eines Hinweises die Wohnung eines der Verfassungsschutzbehörde bekannten Rechtsextremisten im Landkreis Jerichower Land, wo neben NS-Devotionalien und weiteren Bekleidungsstücken mit rechtsextremistischen Aufdrucken diverse Waffen und Munition gefunden wurden. Im Rahmen der Ermittlungen wurde bekannt, dass der Rechtsextremist in einem Kampfmittelbeseitigungsunternehmen tätig war, was auf die Herkunft der aufgefundenen Waffen und Munition schließen lässt. Aufgrund der gesetzlichen Regelanfrage im Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 103 RechtsextRemismus Sprengstoffrecht erhält die Verfassungsschutzbehörde frühzeitig Kenntnis, wenn Rechtsextremisten eine sprengstoffrechtliche Erlaubnis erteilt werden soll. Im vorliegenden Fall verfügte der Rechtsextremist nicht über eine solche Erlaubnis. Er hatte offenbar aber dennoch Zugriff auf geborgene Fundwaffen und Fundmunition. Darüber hinaus haben die österreichischen Sicherheitsbehörden am 26. Juni 2023 im Rahmen von Durchsuchungsmaßnahmen in der Rockerszene eine Vielzahl von illegalen Kriegsund Schusswaffen, Munition, NS-Devotionalien, Betäubungsmittel sowie eine große Menge Bargeld aufgefunden. Die österreichische Presse stellte in den Berichten zu dieser Maßnahme die entsprechenden Bezüge zu dem in Österreich verbotenen neonazistischen Netzwerk "Objekt 21" dar, da von den Exekutivmaßnahmen auch ein bekannter Rechtsextremist aus Österreich mit Führungsrolle im früheren Netzwerk betroffen war. Dieser hielt sich vor seiner Inhaftierung in Österreich regelmäßig in einem der Verfassungsschutzbehörde bekannten Szeneobjekt im Landkreis Burgenlandkreis auf. Rechtsextremisten und Kampfssport Die Verfassungsschutzbehörde hat in den zurückliegenden Jahren ein gesteigertes Interesse am Kampfsport innerhalb der rechtsextremistischen Szene beobachten können. Dieses Interesse umfasst nicht nur die passive Teilnahme als Zuschauer an Kampfsportveranstaltungen als Teil einer erlebnisorientierten Szenekultur, sondern auch die aktive Teilnahme an Kampfsporttrainings und Wettkämpfen. Die Entwicklung folgt dabei zum einen der Faszination der Szene für Kampf und Männlichkeit, zum anderen der in Teilen der jüngeren rechtsextremistischen Szene populären Hingabe zu einer gesunden Lebensweise und sportlichen Ertüchtigung, die mit der völkischen Idealvorstellung von einem "gesunden Volkskörper" begründet wird. In Sachsen-Anhalt führen Rechtsextremisten wiederkehrend Kampfsporttrainings in kleineren Gruppen durch, die in der Regel konspirativ Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 104 RechtsextRemismus geplant werden und abseits der Öffentlichkeit stattfinden. Gerade in solchen Trainings steht indes nicht der sportliche Charakter im Vordergrund, sondern eher die Vorbereitung auf eine mögliche Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Ein herausragendes internationales Kampfsportgroßereignis der rechtsextremistischen Szene im Berichtszeitraum war die am 6. Mai 2023 in der Nähe der ungarischen Hauptstadt Budapest von Rechtsextremisten durchgeführte "European Fight Night" mit bis zu 400 Teilnehmern. Die vom rechtsextremistischen Kampfsportlabel "Kampf der Nibelungen" mitorganisierte Veranstaltung gilt als Ersatzveranstaltung für das gleichnamige Event, welches zuletzt in Deutschland regelmäßig behördlich untersagt worden ist (so auch im Jahr 2020, als die Veranstaltung in Magdeburg stattfinden sollte). Im Vorfeld der Veranstaltung untersagten Sicherheitsbehörden einzelnen Rechtsextremisten mit Bezug zur rechtsextremistischen Kampfsportszene die Ausreise zur Teilnahme. Dies betraf auch Personen aus Sachsen-Anhalt. Subkultureller Rechtsextremismus Hammerskins Mit Wirkung vom 19. September 2023 wurde die rechtsextremistische Vereinigung "Hammerskins Deutschland" vom BMI nach SS 3 Abs. 1 Satz 1 Vereinsgesetz (VereinsG) verboten. Das Verbot schließt die einzelnen regionalen Chapter sowie die Teilorganisation "Crew 38"4 mit ein. In Sachsen-Anhalt existierte kein Chapter der "Hammerskins Deutschland" oder der "Crew 38". Allerdings haben einzelne Personen, die Mitglieder oder Sympathisanten dieser Organisationen waren, ihren Wohnsitz in Sachsen-Anhalt. 4 - 38 steht für die Buchstaben C und H und damit für die gekreuzten Hämmer des Hammerskinslogos (Crossed Hammers). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 105 RechtsextRemismus Blood & Honour (B&H) Obwohl es sich bei B&H um eine vom BMI seit dem Jahr 2000 rechtskräftig verbotene Organisation handelt, organisieren Rechtsextremisten im gesamten Bundesgebiet und im europäischen Ausland mehrfach im Jahr Veranstaltungen, die eindeutig Bezüge zu B&H aufweisen. Die Veranstaltungen werden in hohem Maße konspirativ vorbereitet und beworben; Eintrittskarten werden häufig über persönliche Kennverhältnisse verkauft. Nur in wenigen Fällen gelingt es, derartige Veranstaltungen vorzeitig zu beenden oder gar im Vorfeld zu verbieten. Auf Grund des koordinierten und konsequenten Vorgehens der Sicherheitsbehörden konnte am 28. Januar 2023 eine Veranstaltung im Naumburger Szeneobjekt "Lokal 18"5 von der Polizei vorzeitig beendet und in der Folge aufgelöst werden. Es handelte sich um ein Ian Stuart Donaldson-Memorial (ISDM). Die Einsatzkräfte stellten umfangreiches Beweismaterial im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Straftaten sicher und konnten über 130 Teilnehmende identifizieren. Diese waren aus dem gesamten Bundesgebiet und dem europäischen Ausland angereist. Von den festgestellten Personen kamen etwa 20 aus Sachsen-Anhalt. Verbindungen zu anderen Subkulturen Rockerszene Die Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt stellte im Berichtszeitraum wiederholt Bezüge und Schnittmengen zwischen der rechtsextremistischen Szene und der Rockerszene fest, die sich u. a. in der Teilnahme von Rechtsextremisten an Veranstaltungen der Rockerszene und umgekehrt manifestierten. Hier ist insbesondere die Rockergruppierung "MC Division 39 Magdeburg" hervorzuheben, die aufgrund der Anzahl und Art ihrer Veranstaltungen von der Verfassungsschutzbehörde als rechtsextremistischer Personenzusammenschluss eingestuft wird. 5 - Zum "Lokal 18" siehe auch S. 114 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 106 RechtsextRemismus Neben den Schnittmengen zwischen Rechtsextremisten und Rockern lassen sich innerhalb des Rechtsextremismus noch rockerähnliche Gruppierungen wie die "Brigade 8" feststellen. Bei der "Brigade 8" handelte es sich um eine Gruppierung, die aufgrund ihrer Beteiligung an rechtsextremistischen Veranstaltungen (z. B. Versammlungen, Liederabende oder Geburtstagsfeiern von Szeneangehörigen) der rechtsextremistischen Szene zugeordnet werden kann. Ähnlich wie Mitglieder eines Rockerclubs tragen die Angehörigen rockertypische Kleidung (Kutten mit Patches) und übliche Funktionsbezeichnungen ("President", "Sergeant at Arms", "Prospect" usw.). Die "Brigade 8" verfügte über mehrere regionale "Chapter" innerhalb Deutschlands. Dem in Sachsen-Anhalt agierenden "Chapter Mittel/Elbe" waren im Berichtszeitraum etwa 20 Personen zuzurechnen. Neben einer Reihe anderer rechtsextremistischer Gruppierungen hat auch die "Brigade 8" (inklusive ihrer Untergruppierungen "Mittel/Elbe", "Spreewald" und "Schlesien") am 8. Oktober 2023 ihre Selbstauflösung bekannt gegeben. Der Anlass hierfür war das am 27. September 2023 vom BMIverkündete Verbot des rechtsextremistischen Vereins "Artgemeinschaft".6 Die bisherigen Mitglieder des "Chapter Mittel/Elbe" haben sich nach der Selbstauflösung der "Brigade 8" der Motorradgruppierung "Freeway Rider's MC" angeschlossen und sind nunmehr als "Freeway Rider's MC Mittel/Elbe Prospect Chapter" aktiv. 6 - Siehe dazu auch S. 93 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 107 RechtsextRemismus Rechtsextremismus und Fußball Die Fußballfanoder Hooliganszene wird von der Verfassungsschutzbehörde in Sachsen-Anhalt nicht gezielt beobachtet, weil keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass von dieser Szene Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen. Dennoch stellt die Verfassungsschutzbehörde regelmäßig personelle Schnittmengen zwischen der rechtsextremistischen Szene und der Hooliganszene fest. Dies gilt vor allem dann, wenn bekannte Rechtsextremisten erkennbar und aktiv in der Hooliganszene auftreten oder Mitglieder von Hooliganoder Fangruppierungen mit Straftaten der Politisch motivierten Kriminalität -rechtsin Erscheinung treten. Ein Beispiel für den letztgenannten Fall im Berichtszeitraum war eine mutmaßlich fremdenfeindlich motivierte gewaltsame Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe von reisenden Fußballfans des 1. FC Magdeburg und zwei Asylbewerbern sowie einem Deutschen mit Migrationshintergrund, die sich am 3. Dezember 2023 in einer Regionalbahn auf dem Weg von Magdeburg nach Halberstadt (Landkreis Harz) ereignete. Der körperlichen soll eine verbale Auseinandersetzung vorausgegangen sein, in der einige Fußballfans rassistische Parolen gerufen und den Hitlergruß gezeigt haben sollen. Die als tatverdächtig ermittelten Fußballfans waren der Verfassungsschutzbehörde zuvor noch nicht als Rechtsextremisten bekannt. Rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Musik dient neben ihrer identitätsstiftenden Funktion als Lockmittel, um Jugendliche oder junge Erwachsene an die rechtsextremistische Szene sowie deren Ideologie heranzuführen und zu binden. Diese Art Musik besitzt somit unverändert eine herausragende Bedeutung für die Bildung und den Bestand der gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene. Rechtsextremistische Musiker vermitteln mit ihren Texten, offen oder unterschwellig, nationalistische, fremdenfeindliche, antiVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 108 RechtsextRemismus semitische und antidemokratische Inhalte, die zur Verfestigung rechtsextremistischer Feindbilder innerhalb der Szene beitragen. Rechtsextremistische Musikveranstaltungen in Sachsen-Anhalt In Sachsen-Anhalt wurden im Berichtsjahr insgesamt zehn (2022: sechs) rechtsextremistische Konzerte organisiert, von denen vier verhindert werden konnten. Im bundesweiten Vergleich kam es innerhalb von Sachsen-Anhalt besonders häufig zu rechtsextremistischen Liederabenden: Im Berichtszeitraum wurden insgesamt 26 (2022: 13) solcher Liederabende organisiert, von denen drei verhindert werden konnten. Daneben hat die Verfassungsschutzbehörde 20 (2022: 26) sonstige Musikveranstaltungen registriert, in deren Verlauf Livemusik dargeboten wurde. Hierzu zählen unter anderem Veranstaltungen, bei denen die Musikdarbietung eine untergeordnete Rolle gespielt hat und nur der musikalischen Umrahmung diente. Nach einem pandemiebedingten Einbruch hat die Zahl der rechtsextremistischen Musikveranstaltungen damit wieder das Niveau aus den Jahren vor 2020 erreicht. Wie in den Vorjahren war festzustellen, dass die Musikveranstaltungen größtenteils in Räumlichkeiten stattfanden, die sich in privatem Besitz befinden. Die Teilnehmerzahlen lagen sowohl bei Konzerten als auch bei Liederabenden und sonstigen Veranstaltungen durchschnittlich im mittleren zweistelligen Bereich. Musikgruppen und Liedermacher In Sachsen-Anhalt sind 19 rechtsextremistische Musikgruppen und acht Liedermacher bekannt, von denen sechs Bands und zwei Liedermacher im Jahr 2023 nicht aktiv in Erscheinung traten. Die aktiven Musikgruppen und Liedermacher spielten im Berichtszeitraum nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern traten auch bundesweit auf. So trat die Band "Sick Society" (Burgenlandkreis) beispielsweise am 1. April 2023 bei einem Konzert in Zeulenroda in Thüringen auf, das von der Polizei aufgelöst werden konnte. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 109 RechtsextRemismus Vereinzelt kam es auch zu Auftritten von rechtsextremistischen Bands aus Sachsen-Anhalt im europäischen Ausland. So wurde die Band "Sick Society" im Mai 2023 für einen Auftritt bei einem größeren Konzert mit mehreren europäischen Bands in der Tschechischen Republik gebucht. Mehrere Liedermacher aus Sachsen-Anhalt sind landesund bundesweit sehr aktiv. Herausragende Beispiele für Liedermacher aus Sachsen-Anhalt sind "Der Visionär" alias Björn Pessel (Landkreis Bördekreis), der im Berichtszeitraum unter anderem einen Auftritt in Sachsen hatte, und "Eidstreu" alias Maik Sundermann (Landkreis Jerichower Land). Neben Live-Auftritten sind in der rechtsextremistischen Szene die Veröffentlichungen von einschlägigen Tonträgern bedeutsam. So veröffentlichte die rechtsextremistische Band "Brachial" im März 2023 ein neues Album mit dem Titel "zu jung um alt zu sein". Auf dem Album sind insgesamt elf neue Lieder der Band zu finden. Dieses Album ist die erste musikalische Neuerscheinung von "Brachial" seit fast 20 Jahren. Rechtsextremistische Vertriebsszene Innerhalb der rechtsextremistischen Szene gibt es immer wieder Bestrebungen, über diverse Vertriebsorganisationen einen Geldund Warentransfer zu etablieren. Die jeweiligen Vertriebe führen ein zielgruppenorientiertes Angebot, das unter anderem Tonträger und Merchandise-Produkte rechtsextremistischer Musikgruppen sowie Bekleidung mit szenebezogenen Aufdrucken (insbesondere einschlägige Ziffernund Buchstabencodes oder Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 110 RechtsextRemismus entsprechende Parolen) umfasst.7 Diese Angebote richten sich vor allem an die subkulturell geprägte Szene. Für die eher neonazistisch orientierte Zielgruppe finden sich dagegen vermehrt positive Bezüge zur Wehrmacht beziehungsweise eine Verherrlichung und Romantisierung derselben oder es ist eine Zuordnung zu rechtsextremistischen Parteien oder Gruppierungen erkennbar. Der internetbasierte Vertriebsweg hat sich durchgesetzt. Einer der bekanntesten rechtsextremistischen Vertriebe aus SachsenAnhalt ist der "Heimdall-Versand". Zu dessen Portfolio gehören neben Bekleidung und Devotionalien mit szenetypischen Symbolen auch vereinzelt szenebezogene Schriften und CDs. So bot der "Heimdall-Versand" im Berichtszeitraum über seinen Onlineshop und seinen Telegram-Kanal das Album "Zurück in die Vergangenheit" des aus Hessen stammenden rechtsextremistischen Musikers "Der Reichstrunkenbold" an. Zudem wurde eine Zusammenarbeit mit der im Salzlandkreis ansässigen rechtsex- 7 - Einen Überblick über die gängigsten Codes, Symbole und Bekleidungsmarken finden Sie in der Broschüre "Kennzeichen des Rechtsextremismus" sowie in dem dazugehörigen Plakat. Beides kann bei der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt kostenfrei bestellt werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 111 RechtsextRemismus tremistischen Band "Ahnenerbe" angekündigt. Dem Gründer der in Deutschland verbotenen rechtsextremistischen Organisation "Blood & Honour", Ian Stuart Donaldson, wird auf dem Telegram-Kanal des "Heimdall-Versands" offen gehuldigt. Ein weiterer Onlinevertrieb in Sachsen-Anhalt, dessen Produkte innerhalb der rechtsextremistischen Szene populär sind, ist die "l & h-shirtzshop GmbH" mit Sitz in Halle (Saale), die im Jahr 2011 von dem Rechtsextremisten Sven Liebich gegründet wurde. Der Schwerpunkt des Warenangebots liegt auf T-Shirts und Aufklebern, deren Inhalte Bezüge zu rechtsextremistischen Verschwörungstheorien aufweisen. Im Berichtsjahr verhängte die Stadt Halle (Saale) eine Gewerbeuntersagung gegen Sven Liebich mit der Begründung, seine Steuerrückstände und seine strafrechtlichen Verurteilungen (u. a. wegen Volksverhetzung und Beleidigung) ließen darauf schließen, dass dieser nicht gewillt sei, die geltende Rechtsordnung einzuhalten. Zum Ende des Jahres 2023 musste Sven Liebich die Geschäftsführung der "l & h-shirtzshop GmbH" daher erneut aufgeben, nachdem er sie erst im Jahr zuvor von einer seiner Schwestern übernommen hatte. Nunmehr liegt die Geschäftsführung erneut bei einer Schwester von Sven Liebich, die ebenfalls der rechtsextremistischen Szene angehört. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 112 RechtsextRemismus Im Berichtszeitraum wurde bekannt, dass sich das Bekleidungslabel "Isegrim Fashion" in Naumburg OT Bad Kösen (Burgenlandkreis) angesiedelt hat. Inhaber der Firma, die ihren Sitz zuvor in Sachsen hatte und im Internet auch unter den Bezeichnungen "Isegrim Clothing" und "BK Textilveredelung" firmiert, ist der Rechtsextremist Markus Baumgart. Die von "Isegrim Fashion" produzierte Oberbekleidung ist in der rechtsextremistischen Szene beliebt. Viele Kleidungsartikel dieses Unternehmens, auf denen häufig das in der rechtsextremistischen Szene beliebte Wolf-Motiv8 abgebildet ist, wirken auf den ersten Blick unverfänglich, während andere die rechtsextremistische Ideologie des Firmeninhabers offen zum Ausdruck bringen: So zeigt das T-Shirt auf dem hier abgebildeten Foto das Farbmuster der schwarz-weißroten Reichsflagge, die von Rechtsextremisten und "Reichsbürgern" oft für Propagandazwecke verwendet wird. Diverse Bekleidungsstücke von "Isegrim Fashion" werden in einem Musikvideo des aus Sachsen stammenden rechtsextremistischen Rappers "Proto" von NDS9 präsentiert. Die folgende Abbildung zeigt einen Screenshot des Videos: 8 - Isegrim ist der Name des Wolfs in der mittelalterlichen Tierfabel vom "Reineke Fuchs", die von Johann Wolfgang von Goethe in einem gleichnamigen Versepos verarbeitet wurde. 9 - NDS = "Neuer Deutscher Standard" ist ein rechtsextremistisches Musiklabel mit Sitz in Sachsen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 113 RechtsextRemismus Rechtsextremistisch genutzte Immobilien Immobilien, die sich im Besitz von Rechtsextremisten befinden und von diesen für rechtsextremistische Zwecke (zum Beispiel für Schulungen, Vortragsabende, Parteiversammlungen, Konzerte oder Liederabende) genutzt werden, dienen der Szene als Rückzugsorte, Anlaufstätten und Sammelpunkte. Als solche sind sie nicht nur für die Vernetzung und Stabilisierung der Szene nach innen von großer Bedeutung. Sie erleichtern rechtsextremistischen Akteuren die Verankerung in der jeweils betroffenen Gemeinde oder Stadtgesellschaft und ermöglichen es somit der Szene, ihre Präsenz in der betroffenen Region auszubauen. Szeneimmobilien haben eine wichtige wirtschaftliche Funktion für den organisierten Rechtsextremismus. Dies gilt insbesondere für Gewerbeimmobilien, die für den Handel mit rechtsextremistischen Devotionalien oder für die Produktion rechtsextremistischer Musik genutzt werden, sowie für Objekte, in denen regelmäßig Veranstaltungen stattfinden, mit denen sich Einnahmen generieren lassen, die der Szene insgesamt zugutekommen. In diesem Kontext gilt weiterhin, dass gastronomische Einrichtungen, die von Rechtsextremisten betrieben werden, eine größere Bedeutung für die Szene haben, weil sie laufend Einnahmen generieren und als Veranstaltungsräume genutzt werden können. Ein Beispiel für ein solches Objekt in SachsenAnhalt war das in Naumburg (Burgenlandkreis) ansässige "Lokal 18", das sich als ein fester Anlaufpunkt für Rechtsextremisten etabliert hatte. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 114 RechtsextRemismus Infolge staatlicher Maßnahmen wurde in der Gaststätte "Lokal 18" der Schankbetrieb Ende 2023 eingestellt. Ein weiteres Beispiel für eine rechtsextremistische Szeneimmobilie mit gastronomischer Nutzung ist das sogenannte "Haus Lindenquell", der Sitz des rechtsextremistischen Vereins "Weda Elysia e. V." in Blankenburg, Ortsteil Wienrode (Landkreis Harz). Dort betreibt "Weda Elysia" seit Mai 2023 eine "Kaffeeund Trachtenstube".10 Die Zahl der Szeneimmobilien ist in den letzten Jahren gestiegen. Verglichen mit der Entwicklung in den anderen ostdeutschen Flächenländern stellt die Situation in Sachsen-Anhalt keinen Sonderfall dar. Auch in anderen ostdeutschen Bundesländern ist die Zahl der rechtsextremistisch genutzten Immobilien seit 2017 gestiegen. Die Gründe für den Anstieg sind vielfältig. Die rechtsextremistische Szene in Sachsen-Anhalt entwickelt sich dynamisch. In den vergangenen Jahren wurden neue rechtsextremistische Personenzusammenschlüsse festgestellt, die ihrerseits bereits über Immobilien verfügen oder bestrebt sind, eigene Szeneobjekte zu generieren. Politisch motivierte Kriminalität - rechts - (PMK - rechts -) Die subkulturell geprägte rechtsextremistische Szene mit ihrem immanenten rassistischen und fremdenfeindlichen Weltbild, das Gewalt gegen Ausländer befürwortet und umsetzt, findet in den Daten der PMK - rechts - eine statistische Größe und bietet den Sicherheitsbehörden eine Basis, Häufungen oder Tendenzen zu erkennen und einzuordnen. Die PMK - rechts - ist ein wichtiger Indikator für die Beurteilung der Gewaltbereitschaft des Rechtsextremismus. Im Berichtsjahr wurden insgesamt 2.036 (2022: 1.847) Straftaten im Bereich der PMK - rechts - erfasst. Die Fallzahlen erhöhten sich im Vergleich zum Vorjahr und stiegen damit, nach rückläufigen Zahlen im Jahr 2021 (1.560), das zweite Jahr in Folge an. 10 - Siehe hierzu auch S. 92 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 115 RechtsextRemismus Mit 1.225 (2022: 1.220) Straftaten machte die Deliktsgruppe der Propagandastraftaten wie in den Vorjahren den mit Abstand größten Teil der PMK - rechts - aus. Die rechtsmotivierten Gewaltstraftaten haben im Jahr 2023, wie bereits im Vorjahreszeitraum, erneut zugenommen: Mit 123 Delikten (2022: 111) hat die Zahl dieser Straftaten den höchsten Stand seit 2016 erreicht. Antisemitisch motivierte Strafund Gewalttaten Der Antisemitismus nimmt innerhalb des rechtsextremistischen Weltbilds eine zentrale Stellung ein und ermöglicht eine Verbindung der verschiedenen rechtsextremistischen Szenen. Antisemitische Verschwörungstheorien finden sich jedoch grundsätzlich in allen Phänomenbereichen des politischen Extremismus. Dieser Umstand erschwert mitunter eine Zuordnung antisemitischer Straftaten zu den entsprechenden Phänomenbereichen, vor allem bei Sachverhalten mit unbekannter Täterschaft. Infolge der Terroranschläge der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) phänomenübergreifend einen erheblichen Anstieg antisemitischer Straftaten in Deutschland. Es ist in diesem Zusammenhang von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen. In Sachsen-Anhalt weist die statistische Erhebung im Bereich der PMK - rechts - für das Berichtsjahr 109 antisemitische Straftaten aus. Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten antisemitischen Straftaten ist somit im Vergleich zum Vorjahr (2022: 126) leicht gesunken, bleibt aber auf einem relativ hohen Niveau. Im Berichtszeitraum wurden mehrere Sachbeschädigungen an jüdischen Einrichtungen und Gedenkstätten registriert. Dabei wurden oftmals verbotene rechtsextremistische Symbole an den Tatorten hinterlassen. Ein Beispiel für eine solche antisemitisch motivierte Straftat war die Beschmutzung einer Stele im Eingangsbereich der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge in Halberstadt OT Langenstein (Landkreis Harz) mit zwei Hakenkreuzen und SS-Runen am 25. Mai 2023. In der Lutherstadt EisleVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 116 RechtsextRemismus ben (Landkreis Mansfeld-Südharz) schmierten unbekannte Täter am 2. November 2023 mit weißer Kreide ein Hakenkreuz sowie die Schriftzüge "Balliet" und "Jude" an die Fassade der ehemaligen Synagoge Eisleben. Fremdenfeindlich motivierte Strafund Gewalttaten Die rechtsextremistische Szene nutzt zunehmend fremdenfeindliche Propaganda gegen die Asylund Migrationspolitik der Bundesregierung. Die etablierten und szeneimmanenten Anknüpfungspunkte wie Fremdenfeindlichkeit und der damit eng verbundene Rassismus werden situationsbedingt für Agitationszwecke genutzt. Neben fremdenfeindlichen Straftaten im Internet kommt es weiterhin zu Straftaten zum Nachteil von Personen mit Migrationshintergrund. Dabei schrecken die Täter immer weniger vor einer Gewaltanwendung gegenüber Menschen zurück. Öffentlichkeitswirksame Vorfälle und Straftaten unter Beteiligung von Personen mit Migrationshintergrund werden intensiv in den sozialen Medien thematisiert und geben Anstoß für rechtsextremistische Aktionen. Im Folgenden werden zwei Fälle beispielhaft skizziert. Am 19. April 2023 rief ein 32jähriger Mann, dessen Wohnung sich in direkter Nähe zu einer Moschee in Halle (Saale) befand, während der in der Moschee stattfindenden Nachtgebete im Ramadan in der Öffentlichkeit: "Scheiß Ausländer! Ihr solltet alle getötet werden! Ich sollte euch alle töten!". Zwei Moschee-Besucher teilten den Sachverhalt den Polizeikräften der Schutzmaßnahme am Objekt mit. Im Rahmen der Ermittlungen konnte der Beschuldigte namentlich bekannt gemacht und an seiner Wohnanschrift angetroffen werden. Vor Ort und in der späteren Beschuldigtenvernehmung beschwerte sich der Mann über die Lautstärke der täglich stattfindenden Gebete, äußerte fortlaufend eine ablehnende Haltung gegenüber Personen mit Migrationshintergrund und drohte, in der Nacht mit einem Messer in die Moschee gehen zu wollen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 117 RechtsextRemismus In Hettstedt (Landkreis Mansfeld-Südharz) wurde am 27. Juni 2023 ein 14-jähriges Mädchen mit Migrationshintergrund, das sich nach Schulschluss auf dem Heimweg befand, von einem zunächst unbekannten Täter aufgefordert, ihr Kopftuch abzunehmen. Da sich die Geschädigte weigerte, schlug der Beschuldigte das Mädchen mit den Fäusten gegen Arm und Kopf. Die Geschädigte ging zu Boden und der Täter zog ihr das Kopftuch vom Kopf. Nach weiteren Schlägen entfernte sich der Täter und die Geschädigte konnte nach Hause flüchten. Im Rahmen der Ermittlungen konnte ein polizeibekannter 14-jähriger Junge als Tatverdächtiger ermittelt werden. Straftaten gegen den politischen Gegner Die konfrontative, mitunter gewaltorientierte Haltung von Rechtsextremisten gegenüber Personen, die als politische Gegner identifiziert werden, entlädt sich in unterschiedlichen Formen: in Angriffen auf Mitglieder und Einrichtungen politischer Parteien, in der Zerstörung von Wahlplakaten, in verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen im Rahmen von versammlungsrechtlichen Aktionen sowie in Form der Verbreitung von Drohmails oder Drohschreiben. Ein Beispiel für einen gewaltsamen Angriff auf den politischen Gegner im Berichtszeitraum war ein Brandanschlag auf ein Wahlkreisbüro der SPD in Halle (Saale), der am 3. Mai 2023 verübt wurde. Von einem Zeugen wurde der mutmaßliche Täter, ein dem Verfassungsschutz bekannter Rechtsextremist, dabei beobachtet, wie dieser vom Treppenaufgang außerhalb des brennenden Tatobjektes zurück auf die Straße lief. Anhand der Spurenlage ist anzunehmen, dass der Beschuldigte flüssigen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 118 RechtsextRemismus Brandbeschleuniger in den Briefkastenschlitz der Hauseingangstür geschüttet und entzündet hatte. Das entstandene Feuer führte zu starken Beschädigungen an der Hauseingangstür und breitete sich auch auf dem Holzfußboden im Hausflur aus. Die Feuerwehr konnte ein Ausbreiten des Feuers verhindern. Der Beschuldigte hatte in der Vergangenheit mehrfach unfrankierte, handgeschriebene Briefe mit verfassungsschutzrelevanten Inhalten am Tatobjekt hinterlassen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Das Personenpotenzial der weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Szene ist in Sachsen-Anhalt im Vergleich zum Vorjahr angestiegen. Unverändert stehen die migrationsfeindliche und antisemitische Propaganda sowie die Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen politischen Gegner im Zentrum der Agitation. Die Verjüngung der rechtsextremistischen Szene hat dazu beigetragen, dass diese verstärkt soziale Medien und Messengerdienste zum Zweck der Planung von größeren Veranstaltungen oder Aktionen nutzt, teils im Rahmen von nur temporär bestehenden bzw. "projektbezogenen" Gruppen. Diese Entwicklung erschwert die Bewertung der Mobilisierungsund Gefährdungspotenziale für die Sicherheitsbehörden erheblich. Auch künftig wird es deren Hauptaufgabe sein, frühzeitig tatsächliche Gewaltabsichten und Gewaltankündigungen sowie Radikalisierungstendenzen im virtuellen Raum zu erkennen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 119 RechtsextRemismus Neue Rechte1 "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) Gründung Oktober 2012 (Am 11. Oktober 2012 wurde die Facebook-Seite "Identitäre Bewegung Deutschland" eingerichtet.) Struktur Der Verein "Identitäre Bewegung Deutschland Aufbau e. V." (IBD) ist bundesweit aktiv. Er gliedert sich in Regionalgruppen wie die IB Sachsen-Anhalt (IB ST) und lokale IBD-Gruppen (Ortsgruppen), weiterhin betreibt er identitäre Projekte. Mitglieder Land: 15 (2022: etwa 20) Anhänger Bund: 500 (2022: 500) VeröffentWeb-Angebote: lichungen Homepage, Soziale Netzwerke und Blogs; Materialversand "Phalanx" FinanzieSpenden, Merchandising rung Kurzportrait / Ziele Die IBD geriert sich als Bewegung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welche die eigene Kultur beziehungsweise das eigene Volk vor den vermeintlichen Gefahren von Multikultura- 1 - Darunter wird ein informelles Netzwerk von Gruppierungen, Einzelpersonen und Organisationen verstanden, in dem rechtskonservative bis rechtsextremistische Kräfte zusammenwirken, um anhand unterschiedlicher Strategien antiliberale sowie antidemokratische Positionen in Gesellschaft und Politik durchzusetzen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 120 RechtsextRemismus lismus, Masseneinwanderung und Identitätsbeziehungsweise Werteverlust bewahren will. Sie betrachtet sich eigenen Aussagen zufolge als deutscher Ableger der rechtsextremistischen Bewegung "Generation Identitaire" (GI)2 aus Frankreich. Die IBD ist in der realen und virtuellen Welt gleichermaßen vertreten. Mithilfe der intensiven Nutzung des Internets (soziale Netzwerke, Messenger-Dienste, Foren, Video-Plattformen) für die Dokumentation ihrer Aktionen und zur Information über ihre Ziele versucht die IBD, eine breite Öffentlichkeit herzustellen, ohne dabei auf eine hohe Anzahl von Aktivisten angewiesen zu sein. Die Aktionen und Veranstaltungen der IBD waren in den letzten Jahren allerdings wenig geeignet, ein größeres Publikum anzusprechen oder eine größere mediale Aufmerksamkeit zu generieren. Häufig waren die für die sozialen Medien produzierten Bilder wichtiger als das eigentliche Ereignis. So zeigten sich Mitglieder der IBD u. a. dabei, wie sie Dächer erklommen, Rauchpatronen zündeten und Banner entrollten. Wenngleich asylund migrationsfeindliche Agitation den Hauptfokus dieser Aktionen bildet, ist die IBD grundsätzlich bereit, ihre Aktionen inhaltlich an das aktuelle politische Geschehen anzupassen. Die Selbstdarstellung der IBD ist "popkulturell" geprägt, ihre Botschaften sind klar und einfach, ihre Wortwahl ist provokant und pseudointellektuell. Ihre Aktivisten geben sich jung und modern; demgemäß ist ihre verfassungsfeindliche Gesinnung nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Die IBD, als eine Vertreterin der "Neuen Rechten", steht für einen modernisierten Rechtsextremismus, der mit einem Themenkomplex aus Anti-Islam, Anti-Asyl und Anti-Establishment versucht, auf diese Weise Anschluss an gesellschaftliche Kreise zu erhalten. Begriffe wie Rasse und Volksgemeinschaft werden durch unverfängliche Begriffe wie Ethnie, Identität und Kultur ersetzt. 2 - Die GI wurde am 3. März 2021 per Dekret des französischen Innenministers aufgelöst. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 121 RechtsextRemismus Grund der Beobachtung Die IBD orientiert sich ideologisch an den Theorien der "Neuen Rechten" und vertritt programmatisch einen ethnopluralistischen, antiliberalen und kollektivistischen Ansatz. Beim Ethnopluralismus handelt es sich um eine modernisierte Variante völkischer Ideologie. Das Konzept billigt ethnischen Gruppen in räumlicher Trennung vorgeblich ihre Eigenständigkeit zu, zielt aber tatsächlich anhand von Kollektivmerkmalen wie Kultur, Herkunft und Geschichte auf die Betonung ethnisch bzw. rassisch begründeter Gruppenunterschiede ab. Eine Zuwanderung von "Fremden", die nicht Teil dieser "ethnokulturellen Identität" sind, wird grundsätzlich abgelehnt. Die stattfindende Migration wird seitens der IBD mit der Verschwörungstheorie des "Großen Austausches" (oder "Bevölkerungsaustausches") erklärt: Kern dieser Verschwörungstheorie ist die Behauptung, dass mithilfe der Migrationsbewegungen nach Europa die "autochthone" Bevölkerung Europas bewusst durch Zuwanderer ersetzt werden soll. Dieser Entwicklung soll mit "Remigration" entgegengewirkt werden. In seiner sozialwissenschaftlichen Anwendung beschreibt der Begriff "Remigration" lediglich die (freiwillige) Rückwanderung von Menschen in ihr Heimatland, aus dem sie ursprünglich migriert sind. Die IBD hat sich diesen Begriff in den vergangenen Jahren angeeignet und versteht unter "Remigration", dass eine große Zahl von Menschen ausländischer Herkunft Deutschland verlassen soll, durchaus auch unter Zwang. So stellt der von der IBD geprägte Ausdruck eine Missachtung der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG dar. Die "Identitären" inszenieren sich als die wahren Verteidiger von Vielfalt und Freiheit gegen die angebliche Gleichmacherei vermeintlich linker Ideologen. In ihrer Kritik zeigt sich ein übersteigerter Nationalismus, der das Individuum weitgehend negiert und stattdessen kollektivistisch die Volksgemeinschaft in den Mittelpunkt stellt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 122 RechtsextRemismus Die IBD propagiert die Auflösung der EU und die Bildung eines Europas der "identitären Nationalstaaten", die selbstbestimmt koexistieren. Hier besteht eine Verbindung zur NPD-Forderung nach einem "Europa der Vaterländer". In der und für die IBD engagieren sich auch Personen, die einen Vorlauf im traditionellen Rechtsextremismus aufweisen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) Im Mai 2023 startete die IBD ihre neue Kampagne "No Way", eine "Aufklärungskampagne" in Afrika. Um potenzielle Migranten abzuschrecken, ließ sie u. a. in Uganda, Ghana und Somalia Großflächenplakate mit der Aufschrift "No way - do not come to Europe" anbringen. Auf ihrer Homepage erklärte die IB, sie wolle mit dieser Kampagne "ein deutliches Zeichen gegen den zunehmenden Ansturm aus Afrika in die europäischen Länder" setzen. Sie wolle zeigen, "was die Regierung tatsächlich unternehmen müsste, um die Wanderungsbewegungen nach Europa schon in den Herkunftsländern der Migranten zu stoppen." Der Generalsekretär der AfD Sachsen-Anhalt, Jan Wenzel Schmidt (MdB), kommentierte die Kampagne mit den folgenden Worten: "Großartige Aktion. Diese Plakate sollte eigentlich die Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 123 RechtsextRemismus Bundesregierung in Afrika anbringen lassen. Stattdessen verfolgt sie die Identitären und diffamiert sie als 'rechtsextrem'". Im Juni jeden Jahres wird der "Pride Month"3 gefeiert, der in der gesamten rechtsextremistischen Szene auf Widerspruch stößt. Die IBD behauptet, dass die Feierlichkeiten und Kundgebungen während des "Pride Month" letztlich dazu dienten, eine Minderheit in der Bevölkerung als angeblich neue "Normalität" darzustellen und einer angeblichen "Frühsexualisierung" von Kindern Vorschub zu leisten. Die neurechte Szene hat daher eine "patriotische" Gegenkampagne zum "Pride Month" initiiert, die sie als "Stolzmonat"4 bezeichnet. Dieser Gegenbewegung schlossen sich vor allem Akteure aus dem Umfeld der IBD an. Ursprünglich für den digitalen Raum konzipiert, wurde der "Stolzmonat" von der IBD auch realweltlich umgesetzt. Wer den "Stolzmonat" unterstützen wollte, aktualisierte das eigene Profilbild in den sozialen Medien mit den Farben der deutschen Nationalfahne oder schloss sich realweltlich einer "Herausforderung" (im Sinne einer Mutprobe) an. Diesem Aktionsprinzip folgend veröffentlichten verschiedene neurechte Gruppierungen im Juni 2023 Beiträge zu vergleichbaren Aktionen, darunter die "Revolte Rheinland". Deren Mitglieder überklebten am 27. Juni 2023 einen regenbogenfarbenen Zebrastreifen am Bonner Hauptbahnhof mit den Farben Schwarz, Rot und Gold und warfen Flugblätter, auf denen "STOLZ STATT PRIDE" zu lesen war. 3 - Während des "Pride Month" feiert die LGBTQ+ Community die eigene Identität und ihren Kampf gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten. Die Ursprünge des "Pride Month" liegen in den New Yorker "Stonewall riots", die am 28. Juni 1969 begonnen hatten. 4 - Der "Stolzmonat" fand in der aktuellen Form mutmaßlich seinen Ursprung in einem Tweet der AfD-Fraktion im Stadtrat von Wuppertal (Nordrhein-Westfalen). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 124 RechtsextRemismus Im August 2023 kamen Aktivisten der IBD, der "Identitären Bewegung Österreichs" (IBÖ) und Gäste aus Frankreich und Dänemark im Rahmen eines IB-Bundeslagers zusammen. Wie bereits in der Vergangenheit standen neben Kraftund Ausdauersport sowie Aktionstrainings auch Weiterbildungen auf dem Programm. In seiner Zeitschrift "Blaue Zukunft" (Ausgabe 2/2023) berichtete Jan Wenzel Schmidt (MdB, AfD), dass er bei der Veranstaltung als Redner aufgetreten sei. Er behauptete in seinem Artikel u. a., dass die IBD-Aktivisten zu Unrecht vom Verfassungsschutz beobachtet und als Extremisten verleumdet würden. Daher habe er das Bundeslager mit einer Spende unterstützt. Das Projekt "GegenUni" (GU) ist eine "E-Learning"-Plattform im neurechten Lager unter Einbindung der IBD. Anfang des Berichtsjahres erweiterte die GU mit "Blitzwissen" ihr Portfolio. Auf der Internetseite werden sogenannte Blitze zur Verfügung gestellt. Dabei handelt es sich um kurze Zusammenfassungen der Kernaussagen von Büchern der "Neuen Rechten", die innerhalb von 25 Minuten gelesen oder angehört werden können. Damit wolle man die Reichweite von Autoren, "die der Mainstream gerne totschweigen würde" vergrößern. Eine von zwei IBD-Mitgliedern gegründete Immobilienfirma erwarb im Berichtsjahr ein Objekt in Chemnitz (Sachsen). Dieses wurde zu einem IBD-Zentrum ("Zentrum Chemnitz") umgebaut und am 3. November 2023 eröffnet. Vergleichbar mit dem ehemaligen "Haus Flamberg" in Halle (Saale) soll das Haus als Treff-, Veranstaltungsund Rückzugsort sowie als Vernetzungspunkt für Mitglieder der IBD und deren Umfeld dienen. Darüber hinaus eröffnete in den Räumen ein Antiquariat. An der Eröffnungsfeier nahmen etwa 90 Personen teil. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 125 RechtsextRemismus Am 10. Januar 2024 veröffentlichte das Recherchenetzwerk "CORRECTIV" eine Reportage über ein am 25. November 2023 veranstaltetes Treffen in einem Potsdamer Hotel, bei dem der Österreicher Martin Sellner, das führende Gesicht der IB, u. a. in Anwesenheit von Funktionsund Mandatsträgern der AfD über seine Pläne zur "Remigration" von in Deutschland lebenden Ausländern und deutschen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund referiert haben soll. Die Reportage hatte eine breite gesellschaftliche Debatte über den Einfluss der IB auf die AfD und die Bedeutung des Begriffs "Remigration" im Sprachgebrauch von Funktionsund Mandatsträgern der AfD zur Folge. Demonstrationsgeschehen Am 29. Juli 2023 fand eine Demonstration der IB und anderer rechtsextremistischer Gruppierungen in der Wiener Innenstadt statt. An der Kundgebung unter dem Motto "Remigration" hatten sich mehrere Hundert Teilnehmer - darunter auch Personen aus dem Ausland - beteiligt. Anlässlich dieses Ereignisses waren zahlreiche Akteure der IBD nach Österreich gereist, darunter auch Mitglieder aus Sachsen-Anhalt. Dieser grenzüberschreitende Schulterschluss zwischen Parteivertreten und Repräsentanten des neurechten Vorfelds war in seiner Form bislang einzigartig und wurde von Martin Sellner als "metapolitischer Erfolg" nach außen kommuniziert. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 126 RechtsextRemismus "Identitäre Bewegung Sachsen-Anhalt" (IB ST) Einige führende Funktionäre der IBD haben ihren Wohnsitz auch nach der Auflösung des Objekts in der Adam-Kuckhoff-Straße in Halle (Saale) weiterhin in Sachsen-Anhalt. In Schkopau (Saalekreis) wird eine Immobilie von IBD-Funktionären genutzt. Die IB ST entfaltete keine wahrnehmbaren Aktivitäten. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der IBD mangelt es an Zulauf. Die strukturellen Änderungen der letzten Jahre (neue Projekte, Formate oder Unternehmen) halfen ihr jedoch dabei, in der neurechten Szene fest verankert zu sein. In der IB "sozialisierte" Personen sind in Teilen lenkend und leitend innerhalb des neurechten Spektrums tätig, beispielsweise in der AfD und deren Jugendorganisation JA. Die IB ST ist weiterhin inaktiv. Sie besteht aus Mitgliedern, die sich vereinzelt an fremdorganisierten Veranstaltungen beteiligen. Das Personenpotenzial der IB in Sachsen-Anhalt ist vornehmlich in anderen politischen Gruppierungen wie etwa der JA gebunden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 127 RechtsextRemismus "Verein für Staatspolitik e. V." firmiert unter "Institut für Staatspolitik" (IfS) Gründung 2000 Sitz Steigra OT Schnellroda (Landkreis Saalekreis) Struktur Einzelpersonen Aufbau Vorstandsmitglieder: Erik Lehnert (Brandenburg) Götz Kubitschek (Schnellroda) Mitglieder bundesweit etwa 15 (2022: etwa 5) Anhänger VeröffentHomepage, soziale Netzwerke, Podcasts, "Sezeslichungen sion Online", Publikation "Sezession" FinanzieErlöse aus Veranstaltungen und dem Verkauf von rung Publikationen, Spenden Kurzportrait / Ziele Das IfS ist eine private, nichtuniversitäre Einrichtung und wurde nach eigenen Angaben im Jahr 2000 unter anderem von Götz Kubitschek gegründet. Innerhalb des "neurechten" Netzwerks nimmt das IfS die Rolle eines "geistigen Gravitationszentrums"1 ein. Kernthema des IfS ist die "staatspolitische Ordnung", die es in folgende Arbeitsgebiete unterteilt: "Staat und Gesellschaft", "Politik und Identität", "Zuwanderung und Integration", "Er- 1 - Backes, Uwe: Zum Weltbild der Neuen Rechten in Deutschland. In: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.): Analysen & Argumente Nr. 321. Sankt Augustin 2018, S. 8. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 128 RechtsextRemismus ziehung und Bildung", "Krieg und Krise" sowie "Ökonomie und Ökologie". Diese werden sowohl in Veranstaltungen (Akademien) als auch in Publikationen aufgegriffen.2 Unter den Veröffentlichungen des IfS ragt die Zeitschrift "Sezession" besonderes hervor, da sie innerhalb der neurechten Szene sehr bekannt und wirkmächtig ist. Sie erscheint aktuell sechsmal im Jahr. Zu ihrem Autorenstamm zählen mehrere Personen, die dem Rechtsextremismus zuzurechnen sind. Das IfS will zugunsten einer Diskursverschiebung nach "rechts" eine vermeintlich linke Hegemonie in Gesellschaft und Politik aufbrechen. Der "Raum des Sagbaren" soll ausgedehnt werden. Das IfS strebt nach Deutungshoheit im vorpolitischen und nach Einfluss im parlamentarischen Raum. Stärker als viele andere rechtsextremistische Gruppierungen setzt das IfS auf die Schrift als Mittel zur Verbreitung der eigenen Ideologie. Grund der Beobachtung Die vom IfS herausgegebenen Schriften und die Äußerungen seiner führenden Vertreter zeichnen sich durch rassistische und biologistische Sichtweisen aus. Den Wesenskern der Ideologie des IfS stellt (wie auch im Falle der IBD) der Ethnopluralismus dar. In unmittelbarem Zusammenhang mit seiner ethnopluralistischen Agitation steht die Ausländerund Islamfeindlichkeit des IfS. Das IfS diskriminiert ausgewählte Personengruppen, wenn es diesen pauschal negative Eigenschaften zuschreibt und die persönliche Identität im Sinne des Art. 2 GG sowie die Gleichheitsrechte nach Art. 3 GG abspricht. Die pauschale Verächtlichmachung von ethnischen und kulturellen Minderheiten verstößt außerdem gegen das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG. Die vom IfS propagierte Vorstellung von einem "deutschen Volk" jenseits des im Grundgesetz als der Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen definierten Staatsvolkes impliziert eine Herabsetzung von ein- 2 - Beispielweise die "Wissenschaftliche Reihe" oder das "Staatspolitische Handbuch" des IfS. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 129 RechtsextRemismus gebürgerten Staatsangehörigen zu Deutschen "zweiter Klasse". Das IfS richtet sich damit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. In seiner Rolle als "think tank" der "Neuen Rechten" unterhält das IfS eine Vielzahl von Kontakten und Beziehungen zu anderen Gruppen und Personen der "Neuen Rechten". Insbesondere besteht eine enge Bindung an den rechtsextremistischen Verlag "Antaios" und an Funktionsund Mandatsträger der Partei AfD. Das IfS ist somit bestrebt, Dritte mit seinem extremistischen Denken und Handeln zu beeinflussen. Dabei scheut es eine teils offensive, teils subversive Pflege und Verbreitung verschwörungsideologischer Argumentationsmuster nicht. Das BfV gab am 26. April 2023 die Einstufung des IfS als gesichert rechtsextremistische Bestrebung bekannt, nachdem zuvor eine Beobachtung als Verdachtsfall erfolgt war. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Am 23. Februar 2023 lehnte das VG Magdeburg den Antrag des IfS gegen dessen Nennung im Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 ab. Das Gericht führte hierzu aus, dass die Aufnahme des IfS in den Verfassungsschutzbericht nicht zu beanstanden sei, da das IfS verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolge. So vertrete das IfS einen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstoßenden völkisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff und setze sich - gemäß der von ihm propagierten Ideologie des Ethnopluralismus - für den Erhalt der ethnokulturellen Identität des deutschen Volkes ein. Die Entscheidung ist rechtskräftig. Das IfS ist primär publizierend tätig. Neben der "Sezession" zählt insbesondere der Online-Blog "Sezession im Netz" (SiN) zu seinen publizistischen Erzeugnissen. Darüber hinaus veröfVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 130 RechtsextRemismus fentlicht das IfS Publikationen im Verlag "Antaios"3. Die größte Aufmerksamkeit und Reichweite entfaltet die SiN. Hier veröffentlicht das IfS eine Mischung aus bereits in der Zeitschrift publizierten Artikeln, Nachbetrachtungen zu Veranstaltungen und Meinungsbeiträgen zum tagespolitischen Geschehen. Dass das IfS keineswegs den Kontakt zum neonazistischen Spektrum des traditionellen Rechtsextremismus scheut, hat ein am 20. Dezember 2023 auf dem SiN-Blog veröffentlichtes Interview mit dem Vorsitzenden der Partei "Die Heimat" (ehemals NPD) gezeigt. Das Interview thematisiert die Verfahren zum Verbot der Partei bzw. zum Entzug der staatlichen Parteienfinanzierung.4 Einleitend wird erklärt, dass die "Sezession" nachfragen könne, wo es eine Partei wie die AfD nicht kann. Anlass sei die aktuelle AfD-Verbotsdebatte gewesen. Darüber hinaus führt das IfS regelmäßig Veranstaltungen durch, von denen insbesondere die "Akademie"-Tagungen innerhalb der neurechten Szene großen Anklang finden. An den "Akademien" nehmen in der Regel Unterstützer sowie Angehörige der sogenannten Neuen Rechten teil. Sie sind Personen unter 35 Jahren vorbehalten, was die Bedeutung des IfS, als "Schulungszentrum der Neuen Rechten" verdeutlicht. Der Nachwuchs wird so ideologisch gefestigt. Vom 27. bis 29. Januar 2023 veranstaltete das IfS in Schnellroda seine "Winterakademie", die sich dem Thema "100 Jahre Parlamentarismus - 10 Jahre AfD" widmete. Unter den etwa 150 Teilnehmenden befanden sich zahlreiche Mitglieder der JA und der AfD. Neben den thematischen Vorträgen referierte Martin Sellner (Identitäre Bewegung Österreich) zum Thema "Demographie schlägt Demokratie" und erläuterte die "demographische Wahl". 3 - Der Verlag "Antaios" ist eng mit dem IfS verbunden. Sitz des Vereins (IfS) ist das Rittergut Schnellroda, das gleichzeitig auch Wohnsitz von Kubitschek und Firmensitz seines Verlags "Antaios" ist. 4 - Siehe dazu auch S. 62 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 131 RechtsextRemismus Mit Letztgenannter würden sich die Altparteien eine wachsende Wählerschaft schaffen. Gemeint ist hier, dass die "Ersetzungsmigration" Wahlen zu "ethnischen Wahlen"5 verwandele. Zum Abschluss der "Winterakademie" führte das IfS am 29. Januar 2023 eine Podiumsdiskussion zum Thema "AfD - bekämpft aber harmlos?" durch. Der teilnehmende Chefredakteur des "Deutschlandkurier" äußerte in Bezug auf eine Kritik an der Regierung und deren Regierungspolitik: "Wir können die Altparteien nur als politischen Feind betrachten, noch nicht mal als Konkurrenten, sondern das ist nicht der politische Gegner, sondern es ist der Feind. [...] Wir müssen einen Vernichtungsfeldzug führen gegen die Altparteien!" Am Rande der "Winterakademie" interviewte der "Deutschlandkurier" Kubitschek. Er erklärte in diesem Interview, dass die AfD eine Partei sei, auf die das IfS seit langem gehofft habe. Das IfS trage Anteil an der Änderung des Parteiprogramms. Selbst die "Akademien" des IfS hätten sich dadurch verändert. Sie entwickelten sich von reinen Studientagen zu wichtigen "Vernetzungstreffen" mit Bildungsanteil. Die "Sommerakademie" vom 22. bis 24. September 2023 in Schnellroda stand unter dem Thema "Propaganda und öffentliche Meinung" und griff damit ein beliebtes Thema im Rechtsextremismus auf. Akteure im Rechtsextremismus unterstellen, dass die öffentliche Meinungsbildung einer Manipulation durch Politik, Medien und Industrie unterliegt. Die circa 120 Teilnehmer trafen auf "akademieerfahrene" Referenten. 5 - Hier wird unterstellt, dass Wahlergebnisse anders ausfallen würden, wenn nur Deutsche ohne Migrationshintergrund wählen dürften. Weiter wird behauptet, dass ethnische Gruppen, dort, wo sie als solche von den Parteien umworben wurden, ein höchst volatiles, nicht ideologisch motiviertes, sondern stets auf den konkreten Vorteil für die eigene ethnische Gruppe gerichtetes Wahlverhalten gezeigt haben. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 132 RechtsextRemismus Kontakte nach Österreich Vom 14. bis 16. April 2023 führte das IfS gemeinsam mit dem "Freiheitlichen Akademikerverband Steiermark"6 eine "Frühjahrsakademie 2023" zum Thema "Geopolitik" mit 40 Teilnehmenden in Kärnten durch. Die "Akademien" in Österreich sind thematisch an die "Akademien" in Schnellroda angelehnt. Die Vortragenden gehören dem IfS-Referentenstamm an. Am 15. September 2023 war Götz Kubitschek Gast in der ersten Ausgabe der "Runde der Chefredakteure", einem gemeinsamen Projekt "alternativer Medien" aus Österreich. Die Runde soll dazu beitragen, die aus ihrer Sicht ganze Bandbreite und Vielfältigkeit alternativer Medien sichtbar zu machen. Diskutiert wurde u. a. über die (von den Teilnehmern als Gefahr betrachtete) Möglichkeit einer "Melonisierung"7 der "Freiheitlichen Partei Österreichs" (FPÖ) und der AfD sowie über die Auswirkungen von Parteineugründungen auf die AfD und FPÖ. Im November 2023 sollte Götz Kubitschek auf Einladung der Vereinigung "Ring Freiheitlicher Studenten" (RFS, Österreich) an der Wiener Universität einen Vortrag halten. Die Universitätsleitung untersagte die Veranstaltung wegen der Person des Vortragenden. Bei einer aus Protest gegen diese Entscheidung durchgeführten Demonstration am 17. November 2023 vor dem Universitätsgebäude hielt Götz Kubitschek eine Rede. Im Anschluss hielt er den versagten Vortrag in einem Saal der "Österreichischen Landsmannschaft" (ÖLM)8. Später war er Teilnehmer einer Podiumsdiskussion zum Thema "Linksextremismus als wachsen- 6 - Bindeglied zur FPÖ. 7 - Der Begriff bezieht sich auf die italienische Ministerpräsidentin und meint das Aufgeben von politischen Positionen/Versprechen, die vor einer Wahl gegeben wurden. 8 -Die ÖLM ist ein österreichischer Vertriebenenverband und Nachfolgerin des 1938 aufgelösten "Deutschen Schulvereins", der die deutschen Volksgruppen in den Kronländern der ehemaligen Österreichischen Reichshälfte durch Schulbauten förderte. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 133 RechtsextRemismus de Gefahr", die in den Räumlichkeiten des FPÖ-Parlamentsklubs im Parlamentsgebäude in Wien stattfand. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Das Ansehen des IfS als ideologischer Ideengeber und wichtiger Schulungsort hat sich insbesondere in der neurechten Szene weiter verfestigt. Götz Kubitschek wird in Teilen der Szene verehrt, wie anschaulich an der Demonstration in Wien im November deutlich wurde. Hinsichtlich der Arbeitsweise hält das IfS an Bewährtem fest. Das IfS kann als Ideengeber und Weiterentwicklung neurechter Ideologie bezeichnet werden und wirkt mit seinen Aktivitäten zielund zweckgerichtet auf Akteure im rechtsextremistischen Lager der "Neuen Rechten". Entgegen aller Bemühungen der Selbstverharmlosung handelt es sich beim IfS um eine rechtsextremistische Vereinigung, wie die Entscheidung des VG Magdeburg vom 23. Februar 2023 unzweifelhaft bestätigt. Das IfS zielt auf die Ausgrenzung vermeintlich "Fremder" ab und arbeitet daran, derartige Positionen gesellschaftlich und insbesondere in der AfD anschlussfähig zu machen. Das IfS hat seine Organisationsform als Verein durch Beschluss der Mitgliederversammlungen vom 28. Februar und 20. März 2024 aufgegeben und betreibt nun zwei wirtschaftliche Unternehmen. Die rechtsextremistische Ausrichtung des IfS sowie dessen Aktivitäten werden davon aller Wahrscheinlichkeit nach nicht betroffen sein. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 134 "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" Einleitung 136 Reichsbürgerszene 138 ReichsbüRgeRszene REICHSBÜRGERSZENE Die multiplen Krisenlagen der letzten Jahre (u. a. Corona-Pandemie, völkerrechtswidriger Angriff Russlands auf die Ukraine) führten zu Unsicherheiten und (Zukunfts-)Ängsten innerhalb der Bevölkerung. "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" nutzten diese Situation und boten den Menschen mit ihrer Ideologie vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme an. In der Folge stieg die Zahl der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" in den letzten Jahren sukzessive an. Diese Entwicklung war auch für das Berichtsjahr festzustellen. Mittlerweile sind etwa 700 Personen (2022: 650) der Reichsbürgerszene zuzurechnen. Damit ist die Zahl der Personen, die der Verfassungsschutz der Reichsbürgerszene in Sachsen-Anhalt zuordnet, seit dem Beginn der Corona-Pandemie (2020: 500) um mehr als ein Drittel angestiegen. Von den insgesamt 700 "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" in Sachsen-Anhalt sind fast ein Drittel in Gruppierungen wie "Königreich Deutschland" (KRD) oder "Vaterländischer Hilfsdienst" (VHD) aktiv. Bei den übrigen Szeneangehörigen handelt es sich in der Regel um Einzelpersonen, die in der Kommunikation mit Ämtern und Behörden als "Vielschreiber" auftreten. Etwa acht Prozent der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 136 ReichsbüRgeRszene in Sachsen-Anhalt werden als gewaltorientiert eingestuft. Diese Kategorie umfasst gewalttätige Szeneangehörige sowie Personen, die mit gewaltbefürwortenden Aussagen oder Drohungen in Erscheinung treten. Zehn Prozent der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" in Sachsen-Anhalt sind gleichzeitig der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen. Die Beobachtung des KRD als bundesweit größte und aktivste Gruppierung dieses verfassungsfeindlichen Spektrums bildete, wie schon in den vorangegangenen Jahren, einen Schwerpunkt der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalts im Berichtszeitraum. Das KRD entfaltete auch im Jahr 2023 bundesweit umfangreiche Aktivitäten, um die Zahl seiner Anhänger und Immobilien zu erweitern. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 137 ReichsbüRgeRszene Reichsbürgerszene ("Reichsbürger" und "Selbstverwalter") Gründung Die Reichsbürgerszene hat ihren Ursprung in der in den 1980er Jahren entstandenen "Kommissarischen Reichsregierung" (KRR) um Wolfgang Ebel (+, Berlin). VerbreiSchwerpunktregionen in Sachsen-Anhalt sind der tung Salzlandkreis, der Landkreis Wittenberg und der Landkreis Mansfeld-Südharz. Struktur Die Reichsbürgerszene ist sehr heterogen, zerAufbau splittert und vielschichtig. Sie lässt sich in "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" unterscheiden. Als "Reichsbürger" bezeichnen sich Einzelpersonen und verschiedene Gruppierungen, die sich als Angehörige eines "Deutschen Reiches" wähnen. Bei den "Selbstverwaltern" handelt es sich um eine heterogene Gruppe von Einzelpersonen, die im Gegensatz zu den "Reichsbürgern" nicht vom Weiterbestehen des Deutschen Reiches überzeugt sind, sondern behaupten, sie könnten aufgrund einer Erklärung aus der Bundesrepublik Deutschland ausscheiden oder diese sei gar nicht existent. Entsprechend seien sie nicht ihren Gesetzen unterworfen. Manche "Selbstverwalter" rufen sogar eigene "Staatsgebilde" aus. Neben den Einzelakteuren existieren eine Vielzahl an Kleinstund Kleingruppen sowie virtuelle Netzwerke und darüber hinaus auch überregional agierende Personenzusammenschlüsse. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 138 ReichsbüRgeRszene Mitglieder Land: etwa 700 (2022: 650) Anhänger davon sind etwa 10 % der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen; 8 % gelten als gewaltorientiert Bund: 25.000 (2022: 23.000) - davon sind etwa 5 % der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen; 10% gelten als gewaltorientiert VeröffentWeb-Angebote: diverse, teils wechselnde Facelichungen book-Auftritte und Homepages, Telegram-Kanäle Kurzportrait / Ziele Kennzeichnend für die Reichsbürgerszene sind gemeinhin folgende Behauptungen: - Die Bundesrepublik Deutschland sei kein echter Staat im völkerrechtlichen Sinn, sondern eine Firma mit staatsähnlichen Strukturen, eine "BRD-GmbH". Es handele sich um ein reines "Verwaltungsund Firmenkonstrukt". - "Reichsbürger" bestreiten die Unabhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Sie behaupten, die Bundesrepublik Deutschland sei juristisch nicht existent, also illegal. - Hingegen bestehe das Deutsche Reich völkerrechtlich fort; oft wird auf die Grenzen von 1937 verwiesen. Allerdings sei das Reich immer noch besetzt. Um ihre Behauptung zu untermauern, dass Deutschland kein souveräner Staat sei, verweisen "Reichsbürger" meist auf die Militärpräsenz der Vereinigten Staaten von Amerika, die eines der bevorzugten Feindbilder der Szene darstellen. "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" streben den Aufbau pseudostaatlicher Strukturen an und sind daher bemüht, eigene Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Szeneakteure stellen zu diesem Zweck u. a. eigene Legitimationspapiere aus, geben sich selbst Regierungsämter oder rufen pseudostaatliche BeVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 139 ReichsbüRgeRszene hörden ins Leben. Mit einer Vielzahl an Schreiben, die reichsbürgertypische Argumentationsund Sprachmuster beinhalten, versuchen sie, behördliches Handeln in ihrem Sinne zu beeinflussen und Behördenmitarbeiter einzuschüchtern. Ziel dieser Handlungsweise ist letztlich das Negieren staatlicher Rechte und Pflichten, um beispielsweise finanzielle Forderungen des Staates wie Bußgelder oder Steuern nicht bezahlen zu müssen. Grund der Beobachtung "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" erkennen die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht an. Sie verstoßen damit gegen das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 des GG. Einige Szeneakteure (z. B. das KRD) propagieren darüber hinaus eine antidemokratische Ideologie und richten sich somit gegen das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und 2 GG. Zudem können sich Bestrebungen von "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes und, soweit sie im Einzelfall mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, auch gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. Zuweilen werden auch antisemitische Verschwörungsideologien bis hin zur HolocaustLeugnung verbreitet. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine spielte im Berichtszeitraum weiterhin eine wichtige Rolle in der Szene. Auch im Jahr 2023 verbreitete die Szene Verschwörungsideologien, die auf der Behauptung basieren, dass eine im Hintergrund agierende globale Elite Russland in diesen Krieg "gezwungen" habe. Viele "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" betrachten Russland als eine Art "Schutzmacht"; einige von ihnen sind sogar der Auffassung, dass auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch immer das sowjetische Besatzungsrecht die Grundlage der bestehenden Rechtsordnung bilde und die Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 140 ReichsbüRgeRszene Sowjetische Militäradministration (SMAD) die rechtmäßige Regierungsgewalt ausübe. So heißt es z. B. in einem "Reichsbürger"-Schreiben, das im Sommer 2023 von einem unbekannten Verfasser unter dem Pseudonym "Magdalena Müller" an zahlreiche kommunale Amtsund Mandatsträger in Sachsen, SachsenAnhalt und Mecklenburg-Vorpommern versendet wurde: "Es gilt weiterhin das sowjetische Besatzungsrecht auf dem Gebiet der Ex-DDR mit den SMAD-Befehlen (sowjet. Militäradministration in Deutschland). Das russische Militär ist real nie abgezogen, bestenfalls umgekleidet worden." Im Berichtsjahr führte eine überregional agierende Gruppe von "Reichsbürgern" zwei Kundgebungen unter dem Namen "Großes Treffen der Bundesstaaten" in Magdeburg und Dresden durch, die der Vernetzung der Reichsbürgerszene dienen sollten. Einer der Organisatoren dieser Veranstaltungen war der bekennende "Reichsbürger" Thiemo Althaus (Landkreis Börde), der auch als einer der Organisatoren der "Stillen Proteste" an Bundesstraßen agiert. Die erste Versammlung fand unter dem Motto "Heimath und Weltfrieden" am 19. August 2023 in Magdeburg statt. Ziel der Versammlung sollte es sein, "Repräsentanten" aller Bundesstaaten1 des Deutschen Kaiserreiches zu versammeln, um Einigkeit innerhalb der Reichsbürgerszene zu demonstrieren. Etwa 350 Teilnehmende versammelten sich unter den mitgeführten Fahnen der Bundesstaaten des Deutschen Kaiserreiches auf dem Magdeburger Domplatz. Es wurden mehrere Reden mit reichsbürgertypischen Inhalten gehalten. 1 - Und des Reichslandes Elsaß-Lothringen, weswegen die Organisatoren von "25+1 Bundesstaaten" sprechen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 141 ReichsbüRgeRszene Kundgebungen mit mehreren hundert Teilnehmern, die allesamt der Reichsbürgerszene zuzurechnen sind, sind aufgrund der Zerstrittenheit dieser Szene unüblich. Die Versammlung ist daher als ein Mobilisierungserfolg der Szene zu werten. Aufgrund des aus Sicht der Reichsbürgerszene erfolgreichen Verlaufes kam es am 28. Oktober 2023 in Dresden (Sachsen) zu einer gleichartigen Veranstaltung mit etwa 500 Teilnehmenden, die ebenfalls von Althaus mitorganisiert wurde und an der auch Angehörige der Reichsbürgerszene aus Sachsen-Anhalt teilnahmen. Die Versammlungsreihe stellt mittlerweile das größte sich wiederholende bundesweite Vernetzungstreffen der Reichsbürgerszene dar. Aktive Gruppierungen der Reichsbürgerszene in Sachsen-Anhalt "Königreich Deutschland" (KRD) Im Jahr 2009 gründete Peter Fitzek (Lutherstadt Wittenberg) den Verein "NeuDeutschland e. V.". Seit 2012 tritt er als Monarch bzw. "Oberster Souverän" des KRD in Erscheinung. Den von ihm konstruierten Fantasiestaat versucht er unter anderem mit der Etablierung eigener Institutionen (z. B. einer "Gesundheitskasse" oder einer "Gemeinwohlkasse") mit Leben zu füllen. Die KRD-Programmatik basiert auf der Annahme, dass die hoheitlichen Befugnisse und Rechtsgrundlagen der Bundesrepublik Deutschland nicht gelten. Die politische Ideologie des selbsternannten "Königs" steht den im Grundgesetz verbrieften Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (insbesondere dem Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und 2 GG und dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG) entgegen. Seit 2019 dehnte Peter Fitzek die KRD-Aktivitäten auf weitere Bundesländer aus. Im ersten Halbjahr 2023 forcierte das KRD sein Expansionsstreben. So erwarb Peter Fitzek mit Hilfe einer Anhängerin des KRD als "Strohfrau" ein leerstehendes ehemaliVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 142 ReichsbüRgeRszene ges Hotel in Bad Lauterberg (Niedersachsen), das sich allerdings in einem sehr schlechten baulichen Zustand befindet. Zudem erwarb das KRD im Berichtsjahr ein weiteres prestigeträchtiges Objekt in Halsbrücke (Sachsen), welches (anders als das Objekt in Bad Lauterberg) sofort genutzt werden konnte: Der ehemalige Gutshof - inklusive landwirtschaftlicher Flächen, eines Waldstücks, eines Steinbruchs, mehrerer Ferienwohnungen, einer Käserei und einer Grundstücksfläche von ca. 120 ha - wurde für einen Kaufpreis von sechs Millionen Euro erworben. Das auf der Homepage des KRD als "königliches Lehngut" bezeichnete Objekt soll laut Peter Fitzek dazu genutzt werden, die Versorgung des KRD mit landwirtschaftlichen Produkten sicherzustellen, um "Eigenwirtschaftlichkeit und Unabhängigkeit vom alten System" zu erreichen. Auf dem Gutshof sollen aber auch Seminare, Schulungen und Urlaubsmöglichkeiten angeboten werden. Allerdings haben die örtlich zuständigen Gemeinden angekündigt, dass sie das Vorkaufsrecht für das Objekt in Halsbrücke wahrnehmen werden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass das KRD dieses Objekt perspektivisch wieder verlieren wird. Im zweiten Halbjahr 2023 schränkten restriktive staatliche Maßnahmen das Handeln des KRD deutlich ein. Eine von Peter Fitzek großangelegte Jubiläumsveranstaltung zum 11-jährigen Bestehen des KRD und 100-jährigen Bestehen des vom KRD im Jahr 2022 erworbenen Schlosses Bärwalde in der Gemeinde Boxberg (Sachsen) vom 15. bis 17. September 2023 wurde aufgrund einer fehlenden Veranstaltungsanmeldung von der Gemeinde verboten. Das Veranstaltungsverbot wurde von der Polizei durchgesetzt; im Ergebnis wurden 400 Fahrzeuge mit potenziellen Besuchern am Schloss Bärwalde von der Polizei abgewiesen. Kurzfristig organisierte Fitzek eine deutlich reduzierte Ersatzveranstaltung im Objekt in Halsbrücke. Erfolgreich gegen das KRD waren polizeiliche Maßnahmen des Landeskriminalamts (LKA) Sachsen und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Das LKA Sachsen führt Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 143 ReichsbüRgeRszene seit dem Jahr 2021 gegen Peter Fitzek als Hauptbeschuldigten ein Verfahren wegen des Betreibens von rechtswidrigen Versicherungsgeschäften. So soll das KRD unter dem Namen "Deutsche Heilfürsorge" (DHF) eine "Gesundheitskasse" anbieten, die ähnlich wie eine Krankenversicherung funktioniert, ohne eine entsprechende Genehmigung zu besitzen. Die BaFin ging wegen unerlaubter Bankgeschäfte gegen Peter Fitzek und das KRD vor. In diesem Zusammenhang fanden am 29. November 2023 umfangreiche Exekutivmaßnahmen an neun verschiedenen Objekten in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Hessen statt, darunter Durchsuchungen in Lutherstadt Wittenberg OT Reinsdorf (Landkreis Wittenberg), Eibenstock OT Wolfsgrün und Boxberg OT Bärwalde (beide Sachsen). Dabei wurden zahlreiche Beweismittel beschlagnahmt, u. a. Datenträger, Mobiltelefone, eine Vielzahl von Aktenordnern und Fantasiedokumenten des KRD. Darüber hinaus wurden 60 Identitätsfeststellungen und fünf erkennungsdienstliche Maßnahmen durchgeführt sowie Bargeld und Goldbarren im Gesamtwert von über 360.000 Euro beschlagnahmt. Bei den Maßnahmen in einer Bäckerei in Dresden (Sachsen), in der ein Anhänger des KRD ein Gewerbe ausübt, wurden 60 Schuss scharfe Munition aufgefunden. Neben dem LKA Sachsen vollzog die BaFin eigene Maßnahmen. So wurde an verschiedenen Standorten des KRD eine große Zahl von Sachgegenständen eingezogen, die ein bestellter Abwickler im Nachgang verwerten wird. Die Objekte in Lutherstadt Wittenberg und Eibenstock sind seit den Exekutivmaßnahmen vom 29. November 2023 nicht mehr für die Anhänger des KRD nutzbar. Die dargestellten Maßnahmen stellen einen harten Schlag gegen das KRD dar, da ihm sowohl seine Hauptaktionsorte als auch erhebliche finanzielle Mittel entzogen werden konnten. Mit dem Verlust des Zugangs zu seinem Standort in Lutherstadt Wittenberg steht Fitzek auch seine "Verwaltungszentrale" nicht mehr zur Verfügung. Den Nimbus des "Unantastbaren" kann Peter Fitzek seither nicht mehr aufrechterhalten. EntVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 144 ReichsbüRgeRszene sprechend impulsiv reagierte er in einer ersten Stellungnahme per Video. Er behauptete, dass die Maßnahmen rechtswidrig seien, beschimpfte die staatlichen Behörden als "Mafia" und mit reichsbürgertypischen Begriffen wie "Wortmarke Polizei", was er normalerweise in der Öffentlichkeit vermeidet, um nicht als "Reichsbürger" bezeichnet zu werden. Zudem griff er erneut Verschwörungsideologien auf und versicherte gleichzeitig, seine Ideen weiter zu verwirklichen und niemals aufzugeben. In diesem Kontext bat er unverzüglich um Spenden jeglicher Art. In gleichem Maße, in dem das KRD an Einfluss verlor, verstärkte eine von Peter Fitzek autorisierte Gruppierung unter dem Namen "Leucht-Turm" seine Aktivitäten. Hierbei handelt es sich um Anhänger des KRD, die als Vortragsredner ausgebildet wurden und mittlerweile bundesweit Wanderungen und Seminare mit relativ kleinen Personenkreisen veranstalten. Das Team "LeuchtTurm" soll offensichtlich die Ideen des KRD "im Kleinen" weiterverbreiten. "Stiller Protest" Im Jahr 2023 setzten sich die bereits seit dem Jahr 2020 stattfindenden regelmäßigen Versammlungen von "Reichsbürgern" in Gröningen OT Heynburg (Landkreis Börde) an der B 81 fort. Die Teilnehmerzahlen sanken allerdings in einen einstelligen Bereich. Die Anhänger der Gruppierung strebten trotzdem eine weitere Vernetzung an: So fanden auch in Dessau-Roßlau und Sangerhausen (Mansfeld-Südharz) wiederkehrend Versammlungen statt, die aber ebenfalls nur sehr geringe Teilnehmerzahlen aufwiesen. Zudem wurden gleichgelagerte Versammlungen in anderen Bundesländern wie Brandenburg oder Niedersachsen personell unterstützt. Einer der Protagonisten des "Stillen Protests" übernahm im Berichtszeitraum die Anmeldung und Organisation einer regelmäßigen Protestveranstaltung in Quedlinburg (Landkreis Harz), die sich ursprünglich gegen die Maßnahmen zur Eindämmung Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 145 ReichsbüRgeRszene der Corona-Pandemie gerichtet hatte, und verbreitete bei diesen wiederkehrenden Versammlungen nun reichsbürgertypische Thesen. Teilnehmer dieser Versammlungen weisen enge Kontakte zu dem rechtsextremistischen Verein "Weda Elysia e. V."2 auf. "Samtgemeinde Alte Marck" Die "Samtgemeinde Alte Marck" trat im Berichtsjahr erneut in Erscheinung und versandte u. a. mehrere Schreiben an Behörden innerund außerhalb Sachsen-Anhalts. In diesen Schreiben, bei denen es sich meist um Reaktionen auf behördliche Schreiben handelte, legten Angehörige der Gruppierung in szenetypischer Weise ihre Auffassung dar, dass für sie ausschließlich die Gesetze des Deutschen Kaiserreiches gelten würden und die bundesdeutschen Behörden für sie daher nicht zuständig seien. "Gemeine Südharz" Im Landkreis Mansfeld-Südharz bildete sich im September 2022 eine Personengruppe von "Reichsbürgern" heraus, die immer wieder mit Schreiben an verschiedene staatliche Institutionen auffiel. In diesen Schreiben wird u. a. behauptet, ausschließlich die "Gemeine Südharz" sei verwaltungsrechtlich befugt, Maßnahmen gegenüber ihren Anhängern zu veranlassen; die Zuständigkeit staatlicher Behörden wird bestritten. Der Gruppierung werden inzwischen etwa 20 "Reichsbürger" zugerechnet, die auch in anderen Landkreisen oder außerhalb Sachsen-Anhalts wohnen. "Vaterländischer Hilfsdienst" (VHD) Der VHD ist eine Unterorganisation der "Reichsbürger"-Gruppierung "Bismarcks Erben / Ewiger Bund", die das Ziel verfolgt, Verwaltungsstrukturen außerhalb der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland aufzubauen. Hierbei verfolgt der VHD nicht (wie andere Gruppierungen) die Strategie, Auseinandersetzungen mit der staatlichen Verwaltung zu führen; statt- 2 - Zu "Weda Elysia" siehe S. 92 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 146 ReichsbüRgeRszene dessen steht der Aufbau der eigenen Handlungsfähigkeit im Zentrum der Aktivitäten. Die Gruppierung orientiert ihre regionale Gliederung an den historischen Armeekorpsbereichen, wie sie in der Zeit des Deutschen Kaiserreiches bestanden. Der VHD-Ableger in Sachsen-Anhalt agiert demnach unter der Bezeichnung "IV. Armeekorpsbezirk"; seine Mitglieder trafen sich mehrfach an verschiedenen Orten in Sachsen-Anhalt. Bei den Treffen sollen nach eigenen Angaben Interessenten beschult, Auszeichnungen verliehen und sogenannte "Eidesleistungen" vollzogen worden sein. Mit "Eidesleistungen" verpflichten sich Personen, die in der Gruppierung mitwirken wollen, für die Interessen des VHD einzutreten. Meist ist mit einer solchen "Eidesleistung" die Übertragung von Funktionen innerhalb der Organisation verbunden. Waffenbesitz von "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" Die Beobachtung der Aktivitäten von Szeneangehörigen, die über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügen und sich waffenaffin zeigen, ist weiterhin ein Schwerpunkt der Arbeit des Verfassungsschutzes. Im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten bei waffenrechtlichen Zuverlässigkeitsprüfungen nach SS 5 WaffG3 unterrichtet der Verfassungsschutz die Unteren Waffenbehörden über seine (mitteilbaren) Erkenntnisse. Die Waffenbehörden prüfen eigenständig, ob das Versagen einer beantragten oder der Entzug einer bereits erteilten Waffenerlaubnis auf der Basis dieser Erkenntnisse rechtlich möglich ist. Ein Beispiel dieser Zusammenarbeit ist der Entzug von waffenrechtlichen Erlaubnissen bei Mitgliedern des Vereins "Schützengilde Roßla e. V." im Landkreis Mansfeld-Südharz. Nach Hinweisen der Verfassungsschutzbehörde an den Landkreis Mansfeld-Südharz, wonach zwei Vorstandsmitglieder der "Schützengilde Roßla" der Reichsbürgerszene zuzuordnen sind, erfolgte am 23. August 2023 eine Durchsuchung des Vereins- 3 - Siehe dazu auch Kapitel 1, Abschnitt "Mitwirkungsaufgaben", S. 12. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 147 ReichsbüRgeRszene sitzes und der Wohnsitze der beiden "Reichsbürger", deren Waffenerlaubnisse und Waffen dabei eingezogen wurden. Bei dem Einsatz wurden auch mehrere Verstöße gegen die Aufbewahrungspflichten von Waffen, Zubehörteilen und Munition festgestellt. Bewertungen, Tendenzen, Ausblick Im Berichtsjahr entfaltete die Reichsbürgerszene vielfältige Aktivitäten sowohl in der analogen Welt als auch im virtuellen Raum. Die Vernetzung der Szene in den sozialen Medien hat zuletzt weiter zugenommen; herauszuheben ist in diesem Zusammenhang das weitere Anwachsen von Telegram-Kanälen, die sich szeneintern etabliert haben. Diese digitale Vernetzung wirkt sich aber auch in der realen Welt aus. Beispielhaft dafür sind die "Treffen der Bundesstaaten" zu nennen, die zum persönlichen Kennenlernen und ideologischen Austausch genutzt werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 148 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates Beobachtungsobjekt: Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie führten im Frühjahr 2020 zu tiefgreifenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens. In der Folge entwickelte sich ein dynamisches Protestgeschehen in Gestalt regelmäßiger Versammlungen, die auf dem Höhepunkt der Proteste im Januar 2022 landesweit von über 18.000 Teilnehmern besucht wurden. Neben den von der Versammlungsund Meinungsfreiheit ausdrücklich gedeckten Unmutsbekundungen bildete sich auch eine neue, verfassungsschutzrelevante Form des Protests heraus. Demonstranten unterstellten Regierungsverantwortlichen und staatlichen Stellen pauschal, sie missbrauchten die Pandemie dazu, Bürgerinnen und Bürger zu entrechten und zu überwachen. Das Protestgeschehen brachte nicht nur eine bis dato unbekannte Form des Extremismus hervor, sondern auch eine Gefährdung der Sicherheit, vor allem von öffentlichen Personen. Um extremistische Personenzusammenschlüsse und Gruppierungen zu bearbeiten, die nicht den bekannten Extremismusbereichen wie Rechtsoder Linksextremismus zugeordnet werden können, wurde bundesweit der neue Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" geschaffen. Die Szene der sogenannten Delegitimierer hat sich mittlerweile auch abseits des sichtbaren Protestgeschehens, insbesondere in den sozialen Netzwerken, verstetigt. Der Verfassungsschutzbehörde geht es mit Blick auf die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates nicht um eine Erfassung von Regierungskritikern, d. h. von Personen, die z. B. die pandemiebedingten Einschränkungsmaßnahmen abgelehnt haben, die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland kritisieren, gegen die militärische Unterstützung der von Russland angegriffenen Ukraine protestieren oder die energieund klimapolitischen Maßnahmen der Bundesregierung Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 150 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates ablehnen. Vielmehr geht es um demokratiefeindliche Verhaltensweisen, die dem Ziel der Delegitimierung der bestehenden politischen Verhältnisse dienen und die aufgrund ihrer Intensität und Wirksamkeit verfassungsschutzrechtlich relevant sind. Erstes Kernelement ist die ständige und pauschale verfassungsschutzrelevante Agitation gegen staatliche Institutionen und insbesondere demokratisch legitimierte Repräsentanten des Staates, ohne die Kritik zu konkretisieren und ohne eine mit der Demokratie verträgliche Alternative aufzuzeigen. Kennzeichnend für derartige Aussagen sind systematische Beschimpfungen, Verdächtigungen, Verleumdungen und Verunglimpfungen. Aufgrund dieser ständigen Verächtlichmachung wird das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert, was letztendlich dessen Funktionsfähigkeit erheblich beeinträchtigen kann. Mediale Begrifflichkeiten wie "Impfgegner", "Coronaleugner", "Maskenverweigerer", "Russland"oder "Putinversteher" allein sind für das Beobachtungsobjekt nicht maßgeblich. Im Fokus des Verfassungsschutzes stehen zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Diese äußern sich beispielsweise in der Unterstellung, die Einschränkungsmaßnamen im Zuge der CoronaPandemie führten zu einem Leben wie in einer Diktatur, die dem Nationalsozialismus oder dem DDR-Regime gleichzusetzen sei. Damit wird nicht nur das Vertrauen der Bevölkerung in die verfassungsmäßige Ordnung erschüttert, ebenso werden Gewaltherrschaften autoritär-repressiver Systeme massiv verharmlost. Das zweite Kernelement des Phänomenbereichs umfasst die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in Form von Gewaltandrohungen gegen Vertreterinnen und Vertreter der parlamentarischen Demokratie oder auch Blockadeund Sabotageaktionen gegen staatliche Einrichtungen sowie lebenswichtige Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen. Die Szene legitimiert Gewaltund Widerstandshandlungen, indem sie sich auf ein Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 151 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates vermeintliches Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG gegen aus ihrer Sicht illegitime staatliche Maßnahmen bezieht. Dabei wird das Recht auf Widerstand, teilweise bewusst, falsch verstanden. Dieses Recht bezieht sich originär auf einen Angriff auf die Verfassung, der die grundgesetzliche Ordnung als solche beseitigen soll, wie beispielsweise der Versuch einer Partei, eine Alleinherrschaft zu errichten. Das Widerstandsrecht kommt zum Tragen, wenn die verfassungsmäßige Ordnung aktiv beseitigt zu werden droht und sich die Bürger gegen dieses Unrechtssystem wenden, beispielsweise mittels Anwendung von Gewalt. Handlungen gegen das entstehende Unrechtssystem hätten dadurch eine verfassungsrechtliche Legitimation. Hingegen sind einzelne staatliche Grundrechtseinschränkungen nicht vom Widerstandsrecht gedeckt. Gegen diese können Bürger gerichtlich vorgehen - eine Möglichkeit, die im Falle der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auch (zum Teil erfolgreich) in Anspruch genommen wurde. Ein drittes Kernelement bildet die Verbreitung von Verschwörungserzählungen; diese forcieren die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates durch eine ausgeprägte Elitenfeindlichkeit einerseits sowie ein kategorisches "FreundFeind-Denken" andererseits. Eine solche dualistische Sichtweise kann eine katalysatorische Wirkung in Bezug auf die Radikalisierung der Szene entfalten. Ein häufig verbreitetes Narrativ der Delegitimierer stellt beispielsweise die Einführung einer Zwangsimpfung zur Errichtung eines globalen Überwachungsregimes dar. Derartige Argumentationsmuster zu vermeintlichen Handlungen einer globalen geheimen Elite oder eines "Deep State" sind häufig auf die Verschwörungsideologien des "Great Reset" oder "QAnon" zurückzuführen. Lediglich die Begrifflichkeit des "Great Reset" geht auf den Titel eines Buches von Klaus Schwab und Thierry Malleret zurück, in dem die Pandemie als Chance für einen Neustart der Wirtschaft und für gesellschaftliche Veränderung verstanden wird. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 152 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates Die Verschwörungsideologie des "Great Reset" selbst benennt u. a. die Freimaurer als treibende Kraft hinter einem vermeintlichen Geheimplan, dessen Ziel die Auflösung ethnischer Identitäten und die Errichtung einer autoritären Weltregierung sei. Die Pandemie wird dabei als bewusste Inszenierung begriffen, deren Zweck u. a. damit erklärt wird, dass die besagten geheimen Eliten, unter anderem die Freimaurer, mit ihrer Strategie zur Erlangung der Weltherrschaft nicht weitergekommen seien und daher selbst einen Neustart provoziert hätten. "QAnon" ist eine in den USA entstandene Verschwörungsideologie, die davon ausgeht, dass ein "Deep State" - im Geheimen agierende Eliten aus Staat und Gesellschaft - die Geschicke des Landes bestimmt und satanistische Eliten in unterirdischen Lagern Kinder foltern, um so das vermeintlich lebensverlängernde "Adrenochrom" zu gewinnen. Die Bezeichnung "Q" steht dabei für einen Eingeweihten, der über die Zugangsermächtigung der "Q Clearance" der US-Regierung verfügen soll und seine "Erkenntnisse" in kryptischen Meldungen im Internet veröffentlicht. "Anon" bezeichnet die anonymen Nutzernamen in Imageboards. Ein Großteil der Kommunikation und damit auch der Vernetzung und Radikalisierung erfolgt über soziale Medien und Messengerdienste. Insbesondere Telegram nahm im Berichtszeitraum eine zentrale Funktion für die Organisation, Mobilisierung und Information der Szene der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates ein. Inhaltlich versuchten Akteurinnen und Akteure, vor allem über soziale Medien, Fehlinformationen mit Anknüpfungspunkten zu verschiedenen Verschwörungsideologien zu verbreiten. Sie unterstellten den politisch Verantwortlichen ein diktatorisches Verhalten und riefen zum Widerstand gegen diese auf. Dabei war, wie bereits im Jahr 2022, im Berichtszeitraum erneut eine thematische Diversifizierung zu beobachten. Die Delegitimiererszene versuchte sich thematisch breiter aufzustellen. Insbesondere wurden der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 153 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates und dessen politische und wirtschaftliche Folgen sowohl in den sozialen Medien als auch bei Protesten auf der Straße von der Szene erneut thematisiert. Der Angriff der HAMAS auf Israel im Oktober 2023 und die Reaktionen Israels waren nur für eine kurze Zeitspanne und vorrangig in den sozialen Medien Gegenstand der politischen Agitation von Anhängern der Delegitimiererszene. Die Szene reagiert somit inhaltlich flexibel auf neue Krisen. Diese Krisen werden adaptiert und instrumentalisiert, indem die Ursachen vereinfacht dargestellt und die Verantwortung für die bedrohlichen Veränderungen Einzelpersonen oder Personengruppen zugeschrieben werden. Aus Sicht der Delegitimiererszene werden die vermeintlichen Nutznießer und Verantwortlichen für Krisen meist durch eine aus ihrer Sicht diktatorisch agierende Regierung und allmächtige Eliten im Hintergrund verkörpert. Es war außerdem zu beobachten, dass Personen der Delegitimiererszene auch Argumentationsmuster aus anderen Phänomenbereichen, insbesondere der Reichsbürgerszene, übernahmen. Dies deutet auf eine hohe Anschlussfähigkeit von Reichsbürgernarrativen für die Delegitimiererszene hin. Im Berichtjahr lag das Personenpotenzial der Delegitimiererszene in Sachsen-Anhalt bei rund 100 Personen. Entwicklung des Protestgeschehens im Jahresverlauf Die Proteste der Delegitimiererszene wiesen einen stark ritualisierten Charakter auf und wurden überwiegend von einem "harten Kern" getragen, der es nicht vermochte, ein nicht-extremistisches Klientel zu mobilisieren. Den konstant niedrigen Teilnehmendenzahlen versuchte die Delegitimiererszene mit Vernetzungsbestrebungen und der Vermischung von extremistischen Ideologemen zu begegnen. Insbesondere bei Telegram Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 154 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates spiegelte sich eine länderund phänomenbereichsübergreifende Zusammenarbeit wider. Gut sichtbar war die intensive Vernetzung der Szene bei einer Veranstaltung in Magdeburg am 29. April 2023. An der "MegaDemo" mit etwa 2.650 Teilnehmenden beteiligten sich verschiedene Akteure aus unterschiedlichen Phänomenbereichen. Bei der Versammlung vernetzten sich die Organisatoren von Protestveranstaltungen vor allem aus Sachsen-Anhalt, Thüringen, Niedersachsen und Brandenburg mit Mitgliedern der AfD sowie mit "Querdenken"-Gruppierungen, "alternativen" Berichterstattern wie "Mitteldeutschland TV", Akteuren aus der Reichsbürgerszene und nichtextremistischen Gruppierungen. Als Rednerinnen und Redner traten "Delegitimierer", "Reichsbürger", Rechtsextremisten und ein Vertreter der AfD auf. Die Veranstaltung belegt den starken Vernetzungswillen der verfassungsschutzrelevanten Szene, die mit der phänomenübergreifenden und überregionalen Mobilisierung zu größeren Versammlungen der allgemein abgeflachten Aufmerksamkeit für ihre Agitation entgegenzuwirken versucht. Die Durchlässigkeit für andere Formen des Extremismus zeigte sich auch bei zwei Veranstaltungen im Oktober 2023, die von der Delegitimiererszene getragen wurden. Ein HAMAS-Unterstützer erhielt dort jeweils die Gelegenheit, seine israelfeindlichen Verschwörungsideologien zu den Angriffen der HAMAS auf Israel zu verbreiten. Er äußerte sich wiederkehrend antizionistisch1 und antisemitisch. Außerdem rechtfertigte und verteidigte er die terroristischen Angriffe der HAMAS auf Israel und verknüpfte dies mit einer pauschalen Kritik und Verächtlichmachung westlicher Demokratien im Allgemeinen sowie der deutschen Bundesregierung im Besonderen. Eine solche Verächtlichmachung des Regierungssystems und seiner Repräsentanten stellt das Bindeglied zur Delegitimiererszene dar. 1 - Zum Antizionismus siehe S. 169. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 155 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates Die Teilnehmenden der Proteste verbreiteten häufig pro-russische Narrative und unternahmen den Versuch, sich als neue Friedensbewegung zu inszenieren. Diese Bemühungen waren wenig erfolgreich. Das Hauptaktionsfeld der Delegitimiererszene im Berichtszeitraum bildete das Teilen von Inhalten in sozialen Netzwerken, insbesondere bei Telegram: Die dabei verbreiteten Inhalte greifen häufig pro-russische Narrative auf und weisen einen hohen Grad an Desund Misinformation2 auf; sie werden von einigen Akteuren der Delegitimiererszene äußerst aggressiv und mit gesteigerter Vehemenz geäußert. Insbesondere der Verein "Bernburg steht auf" sticht hier heraus. Aktive Gruppierungen "Bewegung Halle" Die "Bewegung Halle" ist nach wie vor dem Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" zuzuordnen, auch wenn die extremistische Intensität der geäußerten Inhalte im Vergleich zu anderen Gruppen der Szene geringer ist. Beispielsweise äußerte eine Hauptprotagonistin im Rahmen eines Redebeitrags bei einer montäglichen Versammlung die Ansicht, die Regierenden würden die Gerichte stellen und manipulieren, weshalb es 2 - Der Begriff der Desinformation beschreibt das gezielte und wissentliche Verbreiten von falschen Informationen mit dem Ziel, die Adressaten in die Irre zu führen. Dies ist zu unterscheiden von falschen oder irreführenden Informationen, die irrtümlich bzw. ohne Täuschungsabsicht entstehen und verbreitet werden (Misinformation). Desinformation wird von nicht-staatlichen Akteuren aus dem Inund Ausland sowie von ausländischen staatlichen Akteuren aus unterschiedlichen Motivationen heraus eingesetzt. In dem vorliegenden Kapitel bezieht sich der Begriff der Desund Misinformation auf das Agieren nichtstaatlicher Akteure im Inland. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 156 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates keine Gerechtigkeit und keine Grundrechte gebe. Auf Telegram verbreitet die "Bewegung Halle" weiterhin Inhalte mit agitatorischen Verächtlichmachungen ohne Sachbezug. Sie unterstellt beispielsweise dem Staat ein totalitäres Handeln und leitet Inhalte von bekannten Protagonisten der Delegitimiererszene weiter. Die "Bewegung Halle" organisiert nach wie vor die Montagsproteste in Halle (Saale), die über den Berichtszeitraum hinweg eine konstant niedrige dreistellige Teilnehmendenzahl aufwiesen. "Mitteldeutschland TV" Die Internetpräsenzen und Livestreams von "Mitteldeutschland TV" informieren über aktuelle Geschehnisse und Veranstaltungen, verbreiten verfassungsschutzrelevante, delegitimierende Inhalte und unterstützen die Organisation des Protestgeschehens in Sachsen-Anhalt. Auf den zugehörigen Social Media-Kanälen und in den Telegram-Gruppen von "Mitteldeutschland TV" werden neben Aufrufen zu Demonstrationen und Videos von vergangenen Kundgebungen verschwörungsideologische und pro-russische Inhalte gezeigt. In einigen Beiträgen wird die derzeitige Bundesregierung mit einer Diktatur, insbesondere mit dem nationalsozialistischen Terrorregime, gleichgesetzt. Die Gruppierung weist Verbindungen zu anderen Phänomenbereichen auf, beispielsweise indem sie bekannte Rechtsextremisten oder "Reichsbürger" interviewt oder im Rahmen der Organisation von Demonstrationen mit diesen zusammenarbeitet. "Bernburg steht auf e. V." ("Bernburg steht auf") Der Verein "Bernburg steht auf" verstößt in besonders ausgeprägter Weise, in Form von ständiger agitatorischer Verächtlichmachung des Staates und seiner Vertreter ohne Sachbezug, gegen das Demokratieprinzip. Beschimpfungen, VerdächtigunVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 157 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates gen, Verleumdungen, Unterstellungen und Verunglimpfungen treten häufig und mit Vehemenz auf. Daneben finden sich auch antisemitische und ethnopluralistische Aussagen, die sich gegen das Prinzip der Menschenwürde richten. Ebenso sind Aussagen einschlägig, die sich gegen das Rechtsstaatsprinzip richten, etwa wenn den heutigen Gerichten die Unabhängigkeit abgesprochen wird. "Bernburg steht auf" arbeitet aktiv mit Extre-misten zusammen bzw. bindet diese in die Vereinsarbeit ein. Der Verein beteiligte sich am 28. Oktober 2023 an dem "großen Treffen der 25+1 Staaten" in Dresden (Sachsen), einer "Reichsbürger"-Veranstaltung.3 Mit ihren (insbesondere im Internet getätigten) Äußerungen, die wiederkehrend latente Gewaltandrohungen enthalten, bauen die Mitglieder des Vereins eine Drohkulisse auf. Im Internet verbreitet der Verein zudem Desund Misinformation mit starkem pro-russischem Duktus. Im Folgenden werden beispielhaft einige Äußerungen zitiert, die in den Telegram-Chats4 des Vereins getätigt wurden: * "Ein widerliches Subjekt und ein politischer Brunnenvergifter, dieser Gauck!" Das Motiv des "Brunnenvergifters" entstand im Mittelalter, als Juden die Schuld am Ausbruch der Pest durch das Vergiften des Wassers zugeschrieben wurde. Dieses antisemitische Gleichnis findet nach wie vor Verwendung, um Juden zu dämonisieren und diese als Feindbild zu markieren. * "Zuviel Goldstücke beschenkt für nichts, zusätzlich die Ukraine Goldstücke! Auch in Form von Tagestouristen zum Money Ab- 3 - Siehe dazu auch S. 141 f. 4 - Schreibweise wie im Original wiedergegeben. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 158 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates greifen! Ausser grosse Haufen machen, kommt da nichts!" Die Formulierung "Goldstücke" geht auf die Äußerung eines SPD-Politikers aus dem Jahr 2016 zurück, der Geflüchtete als "wertvoller als Gold" bezeichnete. Diese von Extremisten sarkastisch benutzte Formulierung weist einen rassistischen Hintergrund auf. Zuwanderern wird pauschal unterstellt, dass sie weniger "Wert" für die deutsche Gesellschaft hätten als Nicht-Zugewanderte. Diese pauschale Abwertung wird - wie in dem vorliegenden Zitat - oft mit dem Vorwurf verbunden, Zuwanderer kämen nur aus finanziellen Gründen nach Deutschland, was wiederum die individuellen Fluchtgründe verkennt. * "ARD ist 100 Prozent drittes Reich geworden. Die AFD wird heute so beleidigt wie die Juden 1933" In der Gleichsetzung der Medienberichterstattung zur AfD mit der Judenverfolgung und der Gleichschaltung der Presse im Dritten Reich kommt eine Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus zum Ausdruck. Das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland wird mit dem totalitären NS-Staat auf eine Stufe gestellt. * "Der Tag X klopft schon leise an der Tür, an dem sich alle aber wirklich alle dafür verantworten müssen. Niemand wird straffrei davon kommen" "Die deutsche Polizei ist so Lächerlich. Aber ich finde es gut das die mit Dreck und Molotowcocktails beschmissen werden und mit Steinen Attackiert werden. [...]" Diese Zitate sind Beispiele für die innerhalb der Delegitimiererszene weitverbreiteten Gewaltphantasien, welche sich primär gegen Vertreter der staatlichen Ordnung richten. Der "Tag X" ist ein insbesondere unter Rechtsextremisten beliebter Ausdruck für einen Zeitpunkt, an dem die öffentliche Ordnung zusammenbrechen werde. Einige extremistische Kreise sehnen diesen Zeitpunkt geradezu herbei und verbinden diese Erwartung mit Rachephantasien: Sie hoffen auf Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 159 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates einen Umsturz, der mit der gewaltsamen "Bestrafung" der Vertreter der bestehenden Ordnung einhergeht. "Bernburg steht auf" ist aktiv in das Protestgeschehen in Sachsen-Anhalt eingebunden. Neben der ideologischen Komponente legt "Bernburg steht auf" Wert auf die interne Vereinsarbeit und veranstaltete beispielsweise ein Sommerfest mit dem Schwerpunkt auf Musik und Unterhaltung. Im Fokus stand der Zusammenhalt der Vereinsmitglieder und Sympathisanten, weniger die politische Agenda, wenngleich diese stets präsent war. Das Finanzamt Bitterfeld-Wolfen entzog "Bernburg steht auf" die Gemeinnützigkeit, da die Vereinsaktivitäten nicht (mehr) den satzungsgemäßen und damit steuerbegünstigten Zwecken und Tätigkeiten entsprachen. Vielmehr betätigt sich der Verein rein politisch, was nicht als gemeinnützig im Sinne des SS 52 Abs. 2 Abgabenordnung anzusehen ist. Radikalisierung der Protestformen Aufgrund der rückläufigen Teilnehmendenzahlen und gegebenenfalls auch aufgrund der Selbstidentifikation der Delegitimiererszene als "Friedenbewegung" stellte sich das Protestgeschehen weitgehend störungsfrei und geordnet dar. Nur vereinzelt kam es zu versammlungstypischen Delikten. Die Szene schürt jedoch bewusst Ängste vor einem Dritten Weltkrieg, vor Massenarmut und Versorgungsengpässen. Zudem könnte infolge des zunehmenden Wegfalls des nicht-extremistischen Personenpotenzials bei den Protesten eine Radikalisierung des "harten Kerns" erfolgen. Da die Forderungen der Delegitimiererszene nach einem Systemsturz, die vermeintliche Bedrohung durch antizipierte Untergangsszenarien und der Aufruf zum Widerstand eine Drohkulisse mit potenziellem Handlungsdruck für "Aufgewachte" schaffen, bleibt das grundsätzliche Gefährdungspotenzial der Delegitimiererszene weiterhin bestehen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 160 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates Radikalisierung in den sozialen Medien Immer wieder, zunehmend auch im realweltlichen Kontext und hierbei insbesondere gegen Personen des öffentlichen Lebens, äußerten Akteure der Delegitimiererszene verbale Aggressionen, die das Risiko einer Radikalisierung von Teilnehmenden bei Versammlungen bergen. Bei Einzelpersonen könnten derartige Äußerungen den Handlungsdruck gegen öffentliche Personen oder Einrichtungen erhöhen und im Extremfall zu Gewalthandlungen führen. Insbesondere die ständige Diffamierung von Repräsentanten des Staates, die nicht selten auch in Form von Gewaltfantasien geäußert wurde, senkt die Hemmschwelle, tatsächlich zur Tat zu schreiten. Eine intensive und kontinuierliche Beschäftigung mit derartigen Inhalten ohne die Existenz eines adäquaten Korrektivs kann nach wie vor zu einer Radikalisierung von Personen oder Personengruppen führen. Der über das Internet verbreitete Hass verändert die Gesellschaft, verschiebt den Raum des Sagbaren und birgt stets die Gefahr, auch realweltliche Gewalthandlungen zu provozieren. Bewertungen, Tendenzen, Ausblick Im Berichtszeitraum hat das Mobilisierungspotenzial der Delegitimiererszene in Sachsen-Anhalt weiter abgenommen. Die Teilnehmerzahlen der von den relevanten Akteuren organisierten Versammlungen sind konstant niedrig; seit dem Auslaufen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie stoßen diese Versammlungen kaum noch auf Resonanz im nichtextremistischen Teil der politischen Öffentlichkeit. Mit ihrem Versuch, für die Delegitimierung staatlichen Handelns aktuelle politische Konflikte zu nutzen, konnte die Szene diesen Abwärtstrend bislang nicht stoppen. Neben dem Bedeutungsverlust der Corona-Thematik ist die hohe Anschlussfähigkeit der in der Szene verbreiteten Verschwörungsideologien für Narrative und Denkmuster, die für die Phänomenbereiche RechtsextVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 161 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates remismus und Reichsbürgerszene typisch sind, ein Grund für diese Entwicklung: Einige Einzelpersonen, die sich während der Corona-Pandemie radikalisiert und in Gruppierungen der Delegitimiererszene engagiert haben, propagieren mittlerweile rechtsextremistische oder "Reichsbürger"-Ideologeme und werden daher von der Verfassungsschutzbehörde dem Phänomenbereich Rechtsextremismus oder Reichsbürgerszene zugerechnet. Die schwindende Mobilisierungsfähigkeit geht indes nicht mit einer abnehmenden Radikalität der verbliebenen Anhänger des Phänomenbereichs einher. Im Gegenteil: Die extremistische Intensität der Äußerungen von Szeneangehörigen ist weiter hoch. Insbesondere die Wortbeiträge auf Telegram-Kanälen, die der Delegitimiererszene zuzurechnen sind, enthalten zahlreiche demokratiefeindliche Aussagen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 162 Linksextremismus Einleitung 164 Gewaltorientierte Linksextremisten 173 "Rote Hilfe e. V." (RH) 210 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) 215 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) 219 Linksextremismus LINKSEXTREMISMUS Linksextremismus als heterogenes Phänomen stellt ein Sammelbecken für unterschiedliche Strömungen dar, die jeweils gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Bei aller Vielschichtigkeit wissen sich Linksextremisten in der Verabsolutierung der menschlichen Fundamentalgleichheit einig, aus der sie radikale Konsequenzen ziehen. Das Ziel ist die totale Befreiung des Menschen aus allen gesellschaftlichen, politischen oder sozio-ökonomischen Zwängen und die Errichtung einer herrschaftsbzw. klassenlosen Ordnung. In dem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit haben sich mit der Zeit die unterschiedlichsten Strömungen innerhalb des Linksextremismus herausgebildet. Das Ziel einer Gesellschaft aus freien und gleichen Menschen soll je nach ideologischen Ansatz im Wege der Diktatur einer zentralistischen (Einheits-) Partei, einer dezentralen Selbstorganisation oder durch die Abschaffung jeglicher Staatsund Herrschaftsstrukturen erreicht werden. Diese Methoden widersprechen den Werten und Regeln des demokratischen Verfassungsstaates, dessen Bestand Linksextremisten angreifen und auf revolutionärem Wege überwinden wollen. Alle linksextremistischen Strömungen lassen sich auf die ideengeschichtlichen Ideologiefamilien des Kommunismus auf der einen und des Anarchismus auf der anderen Seite zurückführen. Während beide Ideologiefamilien in der Vorstellung von einer befreiten Gesellschaft als utopisches Endziel übereinstimmen, unterscheiden sie sich doch in der Vorstellung davon, wie dies zu erreichen sei. So schließen anarchistische Ideologien aus ihrem übersteigerten Gleichheitspostulat auf einen absoluten Freiheitsgedanken im Sinne einer herrschaftslosen Gesellschaft. Damit lehnen Anarchisten jedwede staatliche Ordnung ab. Anarchisten verzichten darauf, einen umfassenden und systematischen Theorieentwurf für die kommende Utopie zu entwickeln, und beschränken sich stattdessen auf eine umfassende Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 164 Linksextremismus Anti-Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung. Vor diesem Hintergrund rückt die individuelle Freiheit in den Mittelpunkt ihrer Weltsicht, so dass bereits in dem eigenen Tun und Handeln der kommende Umbruch vorgelebt werden soll. Das Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit und die grenzenlose Vernunft des Menschen ist dabei geradezu dogmatisch als ideologischer Eckpfeiler des revolutionären Moments gesetzt. Während der Anarchismus den Wert der individuellen Freiheit verabsolutiert, strebt der Kommunismus eine Ausweitung des Gleichheitspostulats auf sämtliche gesellschaftlichen Lebensbereiche an. Zu diesem Zweck soll das bestehende politische System auf revolutionärem Wege zerschlagen und von einer "Diktatur des Proletariats" abgelöst werden. Eine "proletarische Avantgarde" bringt in einer Übergangsphase des Sozialismus den Staat zum Absterben und ersetzt ihn schließlich durch die Etablierung einer klassenlosen (Welt-)Gesellschaft. Die Auseinandersetzungen mit der Frage, wie die Revolution letztlich zu organisieren sei, begründen das ungebrochene Theoriebewusstsein kommunistischer Gruppierungen, die zur Beantwortung dieser Frage meist auf die geistigen Väter des Kommunismus wie Marx, Lenin, Trotzki, Stalin oder Mao zurückgreifen. Aus dieser sehr unterschiedlichen Gewichtung der Werte Freiheit und Gleichheit ergeben sich immer wieder fundamentale ideologische Konflikte zwischen kommunistischen Gruppierungen und linksextremistischen Akteuren, die eher in der Tradition des Anarchismus stehen. Eine Zusammenarbeit gibt es wiederum dort, wo soziale Problemlagen für die revolutionären Ziele eingespannt und im Sinne einer vorgeschobenen Gesellschaftskritik instrumentalisiert werden können. Die linksextremistische Szene bedient sich unterschiedlicher Mittel, um auf die Gesellschaft einzuwirken und diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. So gründen parlamentsund organisationsorientierte Linksextremisten Parteien bzw. Gruppen, mit Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 165 Linksextremismus denen sie einen legalistischen Weg einschlagen, um an Wahlen teilzunehmen bzw. öffentlich für ihre Agenda zu werben. Dagegen versuchen diskursorientierte Linksextremisten, die demokratische Gesellschaft auf einer metapolitischen Ebene anzugehen und auf das Moment eines revolutionären Wandels hinzuarbeiten. Von diesen gewaltlosen Strategien unterscheiden sich die aktionsorientierten Gruppierungen. Vor allem die Autonomen wählen das Mittel der Gewalt, um mit Ausschreitungen, Anschlägen oder Überfällen ihre linksextremistischen Ziele zu erreichen. Unabhängig von der jeweiligen Strategie arbeiten alle Linksextremisten auf eine Zielsetzung hin, die über kurz oder lang auf die Abschaffung der demokratischen Rechtsund Gesellschaftsform hinausläuft. Das linksextremistische Personenpotenzial in Sachsen-Anhalt stieg im Jahr 2023 deutlich an. Dieser Anstieg ist auf eine relativ dynamische Entwicklung im nicht gewaltorientierten Spektrum des Linksextremismus zurückzuführen. Zu einem Mitgliederzuwachs kam es vor allem bei vergleichsweise formal organisierten Gruppierungen wie dem Verein "Rote Hilfe e. V." (RH) und der "Freien Arbeiter:innenUnion" (FAU), die von ihren Mitgliedern lediglich die Zahlung eines Mitgliedsbeitrags, nicht aber die Bereitschaft zum aktiven Engagement verlangen. Im gewaltorientierten Spektrum des Linksextremismus stagnierte das Personenpotenzial. Insgesamt werden 680 Personen dem linksextremistischen Spektrum in Sachsen-Anhalt zugeordnet, wobei von personellen SchnittmenVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 166 Linksextremismus gen zwischen Anhängern des gewaltorientierten Linksextremismus und den Mitgliedern der RH auszugehen ist. Reaktion der linksextremistischen Szene nach dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 Im vierten Quartal des Berichtsjahres bestimmten der Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 und die militärische Reaktion Israels das Versammlungsund Agitationsgeschehen der linksextremistischen Szene Sachsen-Anhalts. Dabei zeigte sich abermals, wie unversöhnlich sich die beiden geographischen Zentren des gewaltorientierten Linksextremismus im Land, Magdeburg und Halle (Saale), ideologisch gegenüberstehen. Während in Magdeburg ein Großteil der Szene antiimperialistisch orientiert ist und sich mit den Palästinensern solidarisierte, sprachen sich Linksextremisten in Halle (Saale), die nach wie vor als "antideutsch" bzw. ideologiekritisch geprägt gelten, für Israel aus. Dementsprechend fielen auch die Reaktionen der linksextremistischen Gruppen aus: In Halle (Saale) forderte u. a. das "Offene Antifaplenum" (OAP) das "Ende des Appeasements gegenüber dem politischen Islam und den Feinden Israels - sowohl im Nahen Osten, als auch in Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 167 Linksextremismus Deutschland!" Die Gruppe zieht eine ideologische Verbindung zwischen Nationalsozialismus und Islamismus und sieht die Ursprünge der Terrororganisation HAMAS dementsprechend in der Synthese von Islam und Faschismus. Die partielle Gleichsetzung von Islamismus und Nationalsozialismus gehört seit dem Terrorangriff vom 11. September 2001 in den USA zu einer ideologischen Grundkonstante der "Antideutschen" und bewirkt, dass etwa das OAP die Kritik am "politischen Islam" bis heute als notwendigen Bestandteil des antifaschistischen Engagements betrachtet. Bei den sogenannten "Antideutschen" handelt es sich um eine Strömung, die sich innerhalb des Linksextremismus Anfang der 1990er Jahre zunächst als diskursorientiertes Spektrum etablierte, ehe sich Mitte der 2000er Jahre vermehrt auch aktionsorientierte Gruppen im Spektrum der Autonomen als "antideutsch" definierten. Im Zentrum der "antideutschen" Strömung steht der Holocaust und eine damit verbundene Selbstkritik der linksextremistischen Szene. So kritisieren "Antideutsche" insbesondere die Unfähigkeit antiimperialistischer Gruppen, den Antisemitismus als Bedingung des Holocaust wahrzunehmen und ihre Vorstellung vom Kommunismus daran auszurichten. "Antideutsche" fordern daher eine bedingungslose Unterstützung Israels. Heute findet der Begriff des "Antideutschen" in erster Linie als eine Fremdzuschreibung Verwendung - eine bundesweite "antideutsche" Szene existiert nicht mehr, wie die (ausbleibenden) Reaktionen auf den 7. Oktober 2023 zuletzt gezeigt haben. Gleichwohl war der Einfluss der "Antideutschen" nachhaltig genug, dass einzelne ideologische Elemente bis heute im gewaltorientierten Linksextremismus nachwirken. Neben einer bedingungslos proisraelischen Positionierung ist eine ebenso rigorose Feindbestimmung für das "antideutsche" Spektrum charakteristisch. So wurde in Reaktion auf den 7. Oktober 2023 während einer Demonstration in Halle (Saale) mit einem Redebeitrag eine unmittelbare Analogie zum NatioVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 168 Linksextremismus nalsozialismus gezogen und die Palästinenser wurden kollektiv als "Tätervolk" bezeichnet. Vor diesem Hintergrund spielten die Auswirkungen der militärischen Operationen auf die palästinensische Zivilbevölkerung für das Solidaritätsverständnis mit Israel für "antideutsch" beeinflusste Gruppen aus Halle (Saale) keine Rolle. Vielmehr betonten sie, dass die israelische Selbstverteidigung mit allen Mitteln notwendig sei. In Magdeburg hingegen solidarisierte sich der antiimperialistische Teil der linksextremistischen Szene mit den palästinensischen Angreifern. Diese Positionierung resultiert aus dem in der Szene vorherrschenden orthodoxen Marxismus-Leninismus und einem damit verbundenen dogmatischen Antikapitalismus. Antiimperialisten leiten daraus eine strikte Freund-Feind-Unterscheidung ab: Während sie sich einerseits gegen die "kapitalistischen" Staaten des "Westens" als vermeintliche "Kriegstreiber", "Kolonialisten" und "Imperialisten" positionieren, solidarisieren sie sich andererseits nahezu bedingungslos mit den "Befreiungskämpfen" der von den "Imperialisten" "unterdrückten Völker". Zu letzteren zählen sie auch die Palästinenser. Spätestens seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 betrachten Antiimperialisten "den Zionismus" und den Staat Israel als "verlängerten Arm" der "imperialistischen" USA. Über den Antizionismus1 im Namen der "Palästina-Solida- 1 - Der Antizionismus ist ein Sammelbegriff politischer Ideologien, die sich gegen den Zionismus und damit gegen den Staat Israel als jüdischen Staat richten. Antizionismus ist zwar nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen, geht aber oft mit antisemitischen Ressentiments einher. Vgl. hierzu Armin Pfahl-Traughber: Antizionistischer und israelfeindlicher Antisemitismus. Definitionen - Differenzierungen - Kontroversen, in: bpb.de, 30.04.2020, (www.bpb.de/themen/antisemitismus/ dossier-antisemitismus/307746/antizionistischer-und-israelfeindlicher-antisemitismus/). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 169 Linksextremismus rität" werden dabei häufig Diskursmuster des israelbezogenen Antisemitismus transportiert. So deklarieren Antiimperialisten auf der einen Seite Israel als "kolonialistische" Übermacht, als "rassistischen" oder gar "faschistischen" "Fremdkörper im Nahen Osten"; auf der anderen Seite verklären sie Muslime, Araber und insbesondere Palästinenser exklusiv als Opfer der israelischen "Besatzer" oder gar als "Juden von heute", die jedes Recht hätten, sich gewaltvoll gegen den "Apartheidstaat" Israel zu wehren. Ähnlich wie in der rechtsextremistischen Propaganda werfen antiimperialistisch orientierte Linksextremisten Israel bzw. "den Zionisten" einen "Völkermord", "Pogrome" oder die "Wiederholung des Holocaust" an den Palästinensern vor und setzen israelische Militäraktionen mit den Verbrechen des NSRegimes gleich. Auf diese Weise soll der Staat Israel dämonisiert und dessen Existenzrecht delegitimiert werden. So wurden auch die Angriffe der HAMAS auf Israel vom 7. Oktober 2023 in einer am 16. Oktober 2023 von "Zusammen Kämpfen" (ZK) veröffentlichten Verlautbarung unter der Überschrift "Der Widerstand gegen Besatzung ist legitim - Frieden für Palästina" als eine "Offensive gegen die zionistischen Besatzungsgruppen" dargestellt. Israel wurde hierbei die alleinige Schuld für die Eskalation des Konflikts zugesprochen und, in Anlehnung an die Kampagne "Boykott, Desinvestitionen & Sanktionen" (BDS2), als "Apartheidstaat" bezeichnet. Dagegen sei der "palästinensische Widerstand" legitim. So hieß es: "Der palästinensische Widerstand kämpft tapfer seit der Nakba vor 75 Jahren gegen die Massaker, die Unterdrückung, die Vertreibung, die Bombardements gegen die Apartheid. Er kämpft gegen die seit 75 Jahren all- 2 - "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" (engl. "Boycott, Divestment and Sanctions") ist eine internationale Bewegung, die den Boykott und Rückzug von Investitionskapital sowie Sanktionen gegen den Staat Israel fordert. Sie wird seit 2019 vom Bundesamt für Verfassungsschutz als Verdachtsfall beobachtet. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 170 Linksextremismus gegenwärtigen und kontinuierlichen Angriffe des Zionismus -und Imperialismus. Der Geschichte der palästinensischen Befreiungsbewegung wurzelt in dieser 75-jährigen Geschichte des Widerstands: im Kampf für die Millionen Vertriebenen, für die Ermordeten und Gefangenen in den israelische Kerkern, für die Kinder und Jugendlichen, für die MärtyerInnen von Jenin, Nablus, al-Aqsa, Hebron, Gaza und der Westbank; Für die Befreiung des palästinensischen Volkes von Krieg und Besatzung." (Alle Fehler im Original.) Die Verlautbarungen der Szene changieren zwischen einem antiimperialistischen Antizionismus und israelbezogenem Antisemitismus. Zugleich geht es den Antiimperialisten in ihrer einseitigen "Palästina-Solidarität" stets um Kritik am Kapitalismus, nicht um eine Feindschaft gegen Juden als Personen oder den jüdischen Glauben als Religionszugehörigkeit. Allerdings wird die antiimperialistische Agitation auch der Magdeburger Szene in der Gesamtschau von Äußerungen dominiert, die den Staat Israel mittels Täter-Opfer-Umkehr und anderen antisemitischen Diskursmustern zu dämonisieren, diffamieren und delegitimieren versuchen und die damit eindeutig in die Kategorie des israelbezogenen Antisemitismus fallen. Zudem gehen linksextremistische Gruppierungen unter dem Mantel des Antizionismus Kooperationen mit offen antisemitischen Organisationen ein oder unterstützen diese. So solidarisieren sie sich mit den zu "Märtyrern" und "Widerstandskämpfern" verklärten HAMASTerroristen sowie mit sogenannten "fortschrittlichen Kräften" in "Palästina", worunter auch die antisemitische BDS-Kampagne und terroristische Organisationen wie die "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP3) gefasst werden. Antizionismus und israelbezogener Antisemitismus fungieren hier als ideologische Klammer für die Solidarisierung von Linksextremisten auch mit Handlungen und Akteuren, denen sie in anderen Kontexten 3 - Die Abkürzung steht für den englischsprachigen Namen dieser Terrororganisation: "Popular Front for the Liberation of Palestine". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 171 Linksextremismus "Reaktionismus" vorwerfen würden. Ähnlich wie Akteure des gewaltbereiten Islamismus bezweifeln Antiimperialisten und andere dogmatische Linksextremisten jedoch grundsätzlich, dass eine antiimperialistisch begründete Kritik an Israel antisemitisch sein kann, und lehnen dementsprechend die Kategorie des israelbezogenen Antisemitismus per se ab. Stattdessen werfen sie im Umkehrschluss "den deutschen Medien", "Politikern" oder "den Juden" selbst vor, Antisemitismusvorwürfe als Mittel der "rassistischen Repression" gegenüber "Muslimen", "Linken" oder sonstigen "abweichenden Stimmen" einzusetzen, um diese "mundtot" zu machen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 172 Linksextremismus Gewaltorientierte Linksextremisten Gründung Ende der 1970er Jahre als Ausläufer der Studentenbewegung, der Sponti-Szene und der PunkSubkultur; seit Anfang der 1990er Jahre in allen Bundesländern. Sitz Schwerpunktregionen in Magdeburg, Halle (Saale) und Burg (Landkreis Jerichower Land) Bundesweite Verteilung mit lokalen Hochburgen, vorwiegend in Großstädten. Mitglieder Land: 295 (2022: 295) Anhänger Bund: 11.200 (darunter 8.300 Autonome) (2022: 10.800 / 8.300 ) Struktur Gewaltorientierte Linksextremisten bilden keine Aufbau strukturelle Einheit, sondern sind heterogen aufgestellt. Zum überwiegenden Teil prägen Autonome dieses Spektrum des Linksextremismus. Weitere gewaltorientierte Akteure sind Antiimperialisten und Anarchisten. Ihrem Selbstverständnis entsprechend sind Autonome hierarchiefeindlich; festgefügte Organisationen bzw. Strukturen lehnen sie ab. Vielmehr steht die bedingungslose Freiheit des Individuums im Mittelpunkt ihres Handelns. Aktionen gehen von anlassbezogenen Kleingruppen aus, die in stetig wechselnder Zusammensetzung und Namensgebung den Organisationsschwerpunkt der Autonomen darstellen. Antiimperialisten bilden demgegenüber weitgehend feste Strukturen aus. Aus ihrer ideologischen Fixierung folgt eine stärkere Gruppenbindung. Je dogmatischer Antiimperialisten Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 173 Linksextremismus auftreten, desto eher sind sie von den Autonomen zu unterscheiden. Anarchisten lehnen grundsätzlich jegliche Herrschaftsform ab. Feste Strukturen bilden lediglich organisationsgebundene Anarchisten aus - hier vor allem die Anarchosyndikalisten. Sie organisieren sich in Form von Gewerkschaften, vertreten dabei jedoch anarchistische Prinzipien. VeröffentIm Internet bewegen sich gewaltorientierte Linkslichungen extremisten durchgehend konspirativ. Sie bedienen sich der Kommunikationsangebote von Linksextremisten für Linksextremisten, insbesondere um Aktionen zu planen, Gewalttaten in Selbstbezichtigungsschreiben zu rechtfertigen oder aber sich als Gruppe öffentlich zu präsentieren, ohne dass Rückschlüsse auf die dahinterstehenden Personen gezogen werden können. Selbstdarstellungen, Aufrufe zu Demonstrationen oder andere Aktivitäten erscheinen häufig auf szenebezogenen Blogs und Internetseiten, vor allem "riseup", "noblogs", "blackblogs" oder "systemli" sowie in sozialen Netzwerken wie "X" und "Instagram". Selbstbezichtigungsschreiben (SBS) nach Gewalttaten werden anonym auf "de. indymedia" veröffentlicht. Szenepublikationen spielen dagegen kaum noch eine Rolle. FinanzieSpenden, Solidaritätskonzerte oder -partys für rung anlassbezogene Aktionen und Kampagnen, insbesondere für "Opfer staatlicher Repressionen", Einnahmen aus dem Barbetrieb in den linksextremistischen Szeneobjekten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 174 Linksextremismus Kurzportrait / Ziele Aus der großen Bandbreite kommunistischer und anarchistischer Ideologien begründet sich die Heterogenität der linksextremistischen Szene. Deren einzelne Strömungen lassen sich nicht nur nach den zugrunde gelegten Weltbildern und Zielen unterscheiden, sondern vor allem nach der Wahl der Mittel und der damit einhergehenden Strategie. Innerhalb der linksextremistischen Szene Sachsen-Anhalts lassen sich insgesamt drei Spektren unterscheiden: (Post-)Autonome, Antiimperialisten und Anarchisten. (Post-)Autonome Autonome bilden den Schwerpunkt im gewaltorientierten Linksextremismus. Dies gilt sowohl für das Personenpotenzial als auch für das Verhältnis der Szene zur Gewalt. Autonome beziehen ihr Selbstverständnis nicht aus einem spezifischen Ideologiekonstrukt. Vielmehr ist die Szene von einer weitreichenden Theoriefeindlichkeit und Anti-Haltung geprägt, die nicht zuletzt auf einem diffusen Verständnis von Anarchismus und Kommunismus aufbaut. Autonome setzen die bedingungslose Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt all ihres Handelns. Im Zuge dieser "Politik der ersten Person" bekämpfen sie alles, was ihrem persönlichen Freiheitsempfinden entgegensteht. Vor diesem Hintergrund lehnen Autonome Hierarchien und jede Form von Herrschaft konsequent ab. Was sie verbindet, ist eine Form des subjektiven und emotionalen Empfindens, das vor allem in der Affirmation von Gewalt zum Ausdruck kommt. Gewalt und Militanz sind dementsprechend nicht nur ein strategisches Mittel, sondern prägendes Element der Szene. Insbesondere auf Demonstrationen geht die propagierte Individualität der Autonomen in der militanten Masse des "Schwarzen Blocks" auf. Dieser schafft Anonymität und damit Schutz für den Einzelnen und wird zugleich als identitätsstiftendes Moment wahrgenommen. Eine Demonstration ist für Autonome daher erst ein Erfolg, wenn es zu Ausschreitungen und Angriffen auf die Polizei und den politischen Gegner kommt. Den scheinbar spontan verübVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 175 Linksextremismus ten Gewalttaten bei Demonstrationen gehen häufig konkrete Planungen voraus, so dass etwa im Verlauf der Aufmarschstrecke Steindepots angelegt oder Vermummungsgegenstände und Wurfgeschosse mitgeführt werden. Autonome schaffen es mittlerweile jedoch immer seltener, dieses kollektive Moment der Militanz auf die Straße zu tragen. Stattdessen fokussieren sich autonome Gruppen heute stärker auf klandestine Aktionen. Dafür schließen sich einzelne Akteure anlassbezogen zu Aktionsgruppen zusammen, um (Brand-)Anschläge gegen symbolträchtige Objekte wie Fahrzeuge, Gebäude oder sensible Infrastruktur zu planen und auszuführen. Es kommt zu teils erheblichen Sachschäden und immer häufiger werden dabei schwere und schwerste Verletzungen von Menschen in Kauf genommen. Die offene Gewaltbereitschaft und die fehlende inhaltliche Breite zeugen von einer zunehmenden Selbstbezogenheit der Autonomen. Statt gezielt auf gesellschaftliche Problemlagen einzuwirken, nutzen Autonome diese lediglich als vorgeschobene Rechtfertigung für die eigene Militanz. In Reaktion auf die ideologische Bedeutungslosigkeit, die fehlende Einflussnahme sowie Anschlussfähigkeit bildeten sich die Postautonomen heraus. Diese formieren sich vorwiegend in überregionalen Netzwerken, sind marxistisch geprägt und suggerieren nach außen einen ideologischen Minimalkonsens. Ihr Ziel ist ein revolutionärer Umsturz, also nicht nur die Abschaffung des Kapitalismus, sondern auch die Überwindung des demokratischen Verfassungsstaates als dessen inhärente Herrschaftsform. Mit einer breiten Bündnispolitik bringen sie linksextremistische Akteure unterschiedlicher ideologischer Prägung zusammen. Dazu instrumentalisieren Postautonome auf der einen Seite eine Fülle von gesellschaftlichen Protestbewegungen mit dem Ziel, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen. Auf der anderen Seite arbeiten sie mit gewaltorientierten Autonomen zusammen. Auch wenn sie sich vordergründig nicht an gewalttätigen Ausschreitungen beteiligen, so sehen sie doch in der Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer poliVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 176 Linksextremismus tischen Ziele. Mit dieser Positionierung nehmen Postautonome eine Scharnierfunktion ein. Antiimperialisten Anders als die Autonomen orientieren sich Antiimperialisten ideologisch an einem dogmatischen Kommunismus. Kleinster gemeinsamer Nenner sind hierbei die weltanschaulichen Grundlagen des Marxismus-Leninismus. Für Antiimperialisten steht nicht die Freiheit des Individuums im Mittelpunkt, sondern das kollektive Moment des Klassenkampfes. Daher argumentieren Antiimperialisten in festgefahrenen Polarisierungskategorien: auf individueller Ebene in einem Dualismus von ausgebeuteten Arbeitern und ausbeutenden Kapitalisten; im weltpolitischen Rahmen zwischen unterdrückten Völkern und unterdrückenden Staaten. Ideologisch stehen die Antiimperialisten deshalb eher den kommunistischen Parteien nahe, während sie strategisch wie die Autonomen das Mittel der Gewalt und damit auch militante Aktionsformen zur Durchsetzung ihrer Ziele wählen. Anarchisten Anarchisten berufen sich nicht auf ein starres Ideologiegebäude; charakteristisch ist eine Vielzahl an Strömungen, die mehr oder weniger stringent nebeneinander existieren. Während alle Anarchisten mit der verabsolutierten Freiheit und Einsichtsfähigkeit des Individuums die prinzipielle Realisierbarkeit einer herrschaftslosen Ordnung begründen, unterscheiden sie sich hinsichtlich der Stellung des Individuums, der Frage der Gewalt und ihres Organisationsgrades. Zu differenzieren ist zwischen einem individualistischen und einem kollektivistischen sowie zwischen einem pazifistischen und einem aufständischen Anarchismus. Bislang konnte einzig der gewerkschaftlich organisierte Anarchosyndikalismus eine für die linksextremistische Szene relevante Stringenz entwickeln. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 177 Linksextremismus Grund der Beobachtung Da gewaltorientierte Linksextremisten die Prinzipien Freiheit und Gleichheit verabsolutieren, betrachten sie jede Form staatlicher Herrschaft als illegitim, so auch den demokratischen Rechtsstaat. Missstände in der Demokratie sollen nicht gelöst, sondern mitsamt der freiheitlichen Verfassungsordnung abgeschafft werden. Unabhängig von den divergierenden Zielen sehen alle Akteure und Gruppen dieser Szene Gewalt als ein legitimes Mittel an. Diese politisch bestimmten Verhaltensweisen - insbesondere das Ablehnen des staatlichen Gewaltmonopols bei gleichzeitigem Befürworten von Gewalt, um die eigenen politischen Ziele durchzusetzen - sind mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die gewaltorientierte linksextremistische Szene in Sachsen-Anhalt lässt sich sowohl ideologisch als auch strukturell in mehrere regionale Zentren einordnen. Weitgehend feste Strukturen bestehen lediglich in Magdeburg; im übrigen Land sind die gewaltorientierten Linksextremisten eher lose organisiert. Im Berichtsjahr waren vor allem folgende Gruppierungen aktiv: "Zusammen Kämpfen" (ZK) ZK ist eine antiimperialistische Gruppe aus Magdeburg, die sich seit 2008 als "Teil der weltweit kämpfenden revolutionären Linken" versteht. Im Sinne eines dogmatischen Verständnisses vom Kommunismus fußen dieideologischen Grundlagen von ZK vor allem auf den Schriften von Marx und Lenin. Dementsprechend sieht sich ZK als Teil eines Versuchs der "Selbstorganisation unserer Klasse zur Überwindung von Ausbeutung und UnterdrüVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 178 Linksextremismus ckung weltweit", wie es in der Selbstdarstellung heißt. Tatsächlich gehörte ZK zu einem Netzwerk antiimperialistischer Gruppen, die sich 2010/2011 auch in Berlin und Stuttgart zusammenfanden, von denen sich jedoch einzig in Magdeburg die Gruppenstrukturen erhalten konnten. Von sogenannten "Magdeburger Verhältnissen" ist hierbei die Rede, wenn es um den Dogmatismus geht, mit dem ZK den Antiimperialismus gegen konkurrierende Strömungen im Linksextremismus durchsetzt. Bisher engagiert sich die Gruppe vornehmlich im linksextremistischen Szeneobjekt "F52". Sie versucht hier, eine Art "Nachbarschaftshilfe" zu etablieren. Während ZK in der linksextremistischen Szene Magdeburgs weitgehend isoliert agiert, zeichnet sich bundesweit eine Renaissance des dogmatischen Linksextremismus ab. Ob sich ZK vor diesem Hintergrund wieder bundesweit aufstellen kann, bleibt abzuwarten. "Roter Aufbau Burg" (RAB) Bei dem RAB handelt es sich um eine kommunistische Gruppe aus Burg (Jerichower Land), die jedoch überwiegend in der linksextremistischen Szene von Magdeburg organisiert ist. Bis zum Ende des Jahres 2017 agierte der RAB noch unter dem Namen "Antifaschistische Aktion Burg", war aber bereits zu dieser Zeit marxistisch geprägt. Nachdem sich die Gruppe an den Protesten des "Roten Aufbau Hamburg" gegen den G20-Gipfel beteiligt hatte, trat sie anschließend ebenfalls unter dem Label des "Roten Aufbau" auf. Im Sinne des marxistischen Klassenkampfes versucht der RAB, "linke revolutionäre Politik einer breiten Masse zugänglich zu machen" und initiiert dementsprechend niedrigschwellige Organisationsund Aktionsangebote. Dabei ist eine organisatorische und ideoVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 179 Linksextremismus logische Nähe zu dem Bündnis "Perspektive Kommunismus"1 zu erkennen. "Offenes Antifaschistisches Treffen Magdeburg und Umgebung" (OAT) Das OAT versteht sich als eine Anlaufstelle für "klassenbewussten Antifaschismus" und ist damit dem kommunistischen Spektrum im Linksextremismus zuzuordnen. Vor diesem Hintergrund zeigen sich Verbindungen zum RAB, aber auch zu anderen kommunistischen und antiimperialistischen Gruppen. Das OAT möchte vor allem neue Akteure für die linksextremistische Szene Magdeburgs gewinnen und Aktionen auf dem Feld des Antifaschismus vorantreiben. Es lädt regelmäßig zu Vortragsund Diskussionsabenden in den "Infoladen-Stadtfeld" ein. "Antifaschistische Aktion Salzwedel" (AAS) Die AAS agiert seit 2009 in der Hansestadt Salzwedel (Altmarkkreis Salzwedel) als ein loser Zusammenschluss von stetig wechselnden Einzelpersonen. In ihrem theorieund hierarchiefeindlichen Auftreten entspricht die AAS dem Selbstverständnis der Autonomen. Sich selbst bezeichnen die Protagonisten schlichtweg als "linksradikale Gruppe". Mit dem "Autonomen Zentrum Kim Hubert" des "Kultur & Courage e. V." verfügt die AAS über ein linksextremistisches Szeneobjekt, das sie als "autonomen Freiraum" nutzt und in dem sie Konzerte, Kneipenabende oder Vortragsveranstaltungen durchführt. Daneben versucht die AAS jedoch zugleich, das für die Autonomen charakteristische militante Selbstverständnis zu bedienen. Für den Aufruf zur 15-JahrFeier des "Kim Hubert" inszenierte die AAS auf einem Bild ein "Kaffeekränzchen", zu dem nicht nur Kaffee und Rosen aufge- 1 - Die "Perspektive Kommunismus" ist eine Plattform antiimperialistischer Gruppen des gewaltorientierten Linksextremismus, mit der seit 2014 eine bundesweite Vernetzung innerhalb des dogmatischen Linksextremismus erreicht werden soll. Das erklärte Ziel ist die Stärkung einer kommunistischen Bewegung, die "auf ideologischer, kultureller und politischer Ebene eine reale Gegenmacht zur Macht von Staat und Kapital aufbaut". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 180 Linksextremismus tischt wurden, sondern auch Boxhandschuhe, ein Baseballschläger, Reizgas sowie - in Anspielung auf die Taten des "Netzwerks Antifa-Ost"2 - ein Hammer. Das "Kim Hubert" ist von zentraler Bedeutung für die gewaltorientierte linksextremistische Szene im Norden Sachsen-Anhalts und im angrenzenden Wendland in Niedersachsen. "Offenes Antifaplenum" (OAP) Das OAP ist ein loser Zusammenschluss und Anlaufpunkt für alle "antifaschistisch interessierten Menschen" innerhalb der linksextremistischen Szene von Halle (Saale). Dabei vertritt das OAP einen dezidiert antideutsch beeinflussten Ansatz. So lehnt die Gruppe nicht nur den Antiimperialismus und eine (aus ihrer Sicht im antiimperialistischen Milieu weit verbreitete) "verkürzte Kapitalismuskritik" ab; sie kritisiert auch die poststrukturalistischen Einflüsse und die damit einhergehende Identitätspolitik innerhalb der linksextremistischen Szene. Programmatischer 2 - Akteure dieses Netzwerks haben im Zeitraum 2018 bis 2020 eine Reihe von Personen, die der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen waren oder von dem Netzwerk dieser Szene zugerechnet wurden, angegriffen und zum Teil schwer verletzt. Weil die Täter bei ihren Angriffen häufig Hämmer als Waffen einsetzten, wurde das Netzwerk in einigen Medien als "Hammerbande" bezeichnet. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 181 Linksextremismus Kern des OAP ist bedingungslose Solidarität der Gruppe mit dem Staat Israel, der von ihr als "Garant jüdischer Selbstbestimmung in einer antisemitischen Welt, als Konsequenz aus den deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus" betrachtet wird. Charakteristisch für die antideutsche Ausrichtung des OAP ist, dass sich die antifaschistische Agenda der Gruppe nicht nur gegen den politischen Gegner auf der rechtsextremistischen Seite, sondern auch gegen Vertreter des "politischen Islam" richtet. Der Treffpunkt des OAP ist das hallesche Szeneobjekt "Reil 78". "Freie Arbeiter:innen-Union" (FAU) Die 1977 gegründete FAU versteht sich als eine anarchistisch organisierte Gewerkschaft, die im "weltweiten Kampf der Anarchosyndikalisten" in der "International Workers Association" (IWA) eingebunden ist. Ideologisch zielt der Anarchosyndikalismus auf die Abschaffung jeglicher Herrschaft von Menschen über den Menschen. Regierungen, Parlamente oder Gesetze werden dementsprechend als Instrumente zur Unterdrückung der natürlichen Freiheit wahrgenommen. Die Aktivitäten der FAU sind vor allem gegen den Staat als Herrschaftsapparat gerichtet. Den Schwerpunkt dieser Aktivitäten bilden eine mittelbare Gewerkschaftsarbeit und die Bereitstellung von Hilfsangeboten für (potenzielle und bestehende) Mitglieder bei Arbeitslosigkeit oder Streiks einerseits und der Aufbau revolutionärer Gewerkschaftsund Betriebsgruppen andererseits. Ziel bleibt das unmittelbare Überwinden der bestehenden staatlichen Ordnung. Dementsprechend kooperiert die FAU auch mit gewaltorientierten Linksextremisten. Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich die FAU mehr als deutlich von den etablierten Gewerkschaften. In Sachsen-Anhalt existieren Ortsgruppen in Magdeburg und Halle (Saale). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 182 Linksextremismus "Kiezkommune-Stadtfeld" Die "Kiezkommune-Stadtfeld" ist ein Ableger der FAU in Magdeburg und organisiert im Stadtteilladen "Mitmischen" eine Nachbarschaftshilfe in Form von Beratungsterminen, Essensausgaben und Spielenachmittagen. Das Konzept der "Kiezkommune" ist hierbei Teil einer anarchistischen Freiraumstrategie, mit der die "revolutionäre Bestrebung nach Selbstverwaltung" im urbanen Raum praktisch realisiert werden soll. Das Ziel der Kommune ist es demnach, eine niedrigschwellige Organisationsmöglichkeit zu bieten, um über den eigenen Bereich hinaus Menschen anzusprechen, ohne sogleich den anarchistischen Hintergrund zu offenbaren. Für die linksextremistische Szene in Magdeburg kann das Angebot der "Kiezkommune-Stadtfeld" als unmittelbare Konkurrenz zur Nachbarschaftshilfe von ZK im Szeneobjekt "F52" gesehen werden. Der Versuch, eine gemeinsam getragene Nachbarschaftsstrategie zu entwickeln, war 2020 gescheitert. "Frauenkampftag.SFO" (FKT) Die Gruppe FKT aus Magdeburg versteht sich als "Basisgruppe für Frauen zur klassenkämpferischen Organisation" und ist dem Spektrum der Antiimperialisten zuzuordnen. Bis Ende 2019 waren die Anhänger der Gruppe noch Teil eines szeneübergreifenden Bündnisses, ehe es hier zu internen Differenzen kam. Seither versucht FKT, eine "materialistisch"3 fundierte Variante des Feminismus zu etablieren: Im Unterschied zu liberalen oder queerfeministischen Ansätzen will die Gruppe eine dezidiert 3 - Der von Karl Marx und Friedrich Engels geprägte historische Materialismus geht davon aus, dass politische und gesellschaftliche Prozesse maßgeblich von den Produktionsverhältnissen (d. h. von der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte) bestimmt werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 183 Linksextremismus sozialistische Perspektive innerhalb des Feminismus aufzeigen. Zugleich betont FKT den "internationalistischen" Aspekt des materialistischen Feminismus. Als Ausdruck dieses Internationalismus betrachtete die Gruppe beispielsweise die von ihr propagierte Solidarität mit den Palästinensern nach dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023, wobei sie vor allem auf das Schicksal der palästinensischen Frauen im Gazastreifen während der von Israel als Reaktion auf den Angriff der HAMAS durchgeführten Militäroperation aufmerksam machte. Dass es ihr hierbei jedoch weniger um individuelle Belange der palästinensischen Frauen, sondern vielmehr um einen antiimperialistischen Antizionismus geht, zeigt die Vehemenz, mit der FKT die Dokumentation der systematischen Vergewaltigungen israelischer Frauen durch die HAMAS-Terroristen während des Angriffs am 7. Oktober 2023 als eine vorgeschobene "Rechtfertigung für Israels völkermörderischen Krieg" kritisierte. "Offensive Jugend Dessau" (OJD) / "Young Struggle Dessau" (YS) / "ZORA Dessau" Bei der OJD handelt es sich um eine antiimperialistische Gruppe, die seit 2021 ihre Strukturen stetig ausbauen konnte. So wurde die ideologische Nähe zum türkischen Linksextremismus der MLKP ("Marksist Leninist Komünist Parti", türkisch für "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei") bzw. zu deren Jugendorganisation "Young Struggle" im Juli 2023 auch organisatorisch verfestigt. Seither tritt die OJD offiziell als Ortsgruppe von YS auf, während sich die "Frauen in der OJD" als offizielle Ortsgruppe der Frauenorganisation "ZORA" präsentieren. Dabei ist bemerkenswert, wie erfolgreich die Strategie von YS ist, eine Kooperation mit deutschen Linksextremisten auch ohne Migrationshintergrund einzugehen, insbesondere da in Sachsen-Anhalt zuvor keine Strukturen der MLKP existierten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 184 Linksextremismus Neben der ideologischen Nähe dürfte das niedrigschwellige Aktionsund Organisationsangebot von YS diese Entwicklung begünstigt haben. YS schafft es vermehrt, das Erstarken dogmatischer Ideologiemuster im gewaltorientierten Linksextremismus in der jüngeren Generation für seine Zwecke zu nutzen und dabei strategisch und organisatorisch flexibel genug aufzutreten, um neue Mitglieder in ihrer konkreten Lebenswirklichkeit einzufangen und weiter zu prägen. Aktionsschwerpunkte Gewaltorientierte Linksextremisten streben danach, die demokratische Staatsund Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Die Grundlage hierfür ist der Glaube an die prinzipielle Realisierbarkeit einer gesellschaftlichen Utopie der Freien und Gleichen. Der Kapitalismus wird dabei als Ursache für alle Missstände und Verwerfungen herangezogen, die der Realisierung einer solchen Utopie entgegenstehen. Dergestalt gehört der Antikapitalismus zum primären Betätigungsfeld im Linksextremismus. Die Frage, was im Einzelnen unter Kapitalismus zu verstehen ist und wie dieser bekämpft werden soll, beantworten linksextremistische Akteure jedoch ganz unterschiedlich. Dabei sind die Aktionsschwerpunkte immer auch Ausdruck aktueller gesellschaftlicher Problemlagen. So organisierten Linksextremisten im Vorfeld der Verkündung des Urteils des OLG Dresden im sogenannten "Antifa-Ost-Verfahren"4 am 31. Mai 2023 und in Reaktion darauf schwerpunktmäßig Aktionen im Feld der Antirepression. Nach dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde dagegen vermehrt der Internationalismus als Begründungszusammenhang für Aktionen der Szene heranzogen. Die einzelnen Aktionsfelder können jedoch niemals isoliert voneinander betrachtet werden; vielmehr bedingen sie sich gegenseitig. So ist z. B. die antikapitalistische Motivation bei allen Aktionen der linksextremistischen Szene präsent, da der Antikapitalismus den ideologischen Kern des Linksextremismus bildet. 4 - Siehe die Ausführungen zum Urteil auf S. 197. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 185 Linksextremismus Antikapitalismus Der Antikapitalismus ist das zentrale Aktionsfeld im Linksextremismus. Dabei bekämpfen sowohl Kommunisten als auch Anarchisten den Kapitalismus nicht allein als Wirtschaftsordnung, sondern stets auch als eine Herrschaftsform. Den Kampf gegen den Kapitalismus verstehen Linksextremisten daher als Kampf gegen die demokratische Staatsund Gesellschaftsordnung. Die jeweiligen Strategien und bevorzugten Handlungsfelder linksextremistischer Akteure variieren je nachdem, was genau ein Akteur unter dem kapitalistischen System versteht und welche konkrete Utopie er diesem entgegensetzt. Vor allem Akteure aus dem antiimperialistischen und dogmatischen Spektrum bedienen sich marxistischer Ideologieelemente, mit denen sie alle gesellschaftlichen Konflikte als Auswuchs eines allumfassenden "Klassenkampfes" deuten. Dabei ist es unerheblich, ob die entsprechenden Gruppen sich im Weiteren auf Lenin, Stalin oder Mao beziehen. Die marxistische Grundlage schafft vielmehr einen Handlungskonsens, auf dessen Basis verschiedene Gruppen aus dem dogmatischen Spektrum zueinanderfinden können. So versuchten etwa in Magdeburg verschiedene Akteure der antiimperialistischen Szene, mit der Kampagne "Sozialrevolutionäre Offensive" (SRO) "verschiedene sozialrevolutionäre Ansätze [...] zu verbinden und verstärkt Klassenkämpfe zu organisieren", wie es in einer Selbstbeschreibung hieß. Beteiligt waren neben den antiimperialistischen Gruppen ZK, RAB und FKT auch das "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" (Netzwerk) sowie die Ortsgruppe Magdeburg/ Schönebeck der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP). Dabei setzte die Kampagne vor allem auf Proteste im gesundheitspolitischen Sektor, so dass unter dem Motto "Gesundheit ist keine Ware" wiederholt Kundgebungen vor Krankenhäusern und Werkstätten für Menschen mit Behinderung abgehalten wurden. Darüber hinaus versuchten die Akteure der SRO mit dem Format "Das Leben ist zu teuer" einen Podcast zu etablieren, der allerdings nach vier veröffentlichten Folgen eingestellt wurde. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 186 Linksextremismus Die Kampagne beschränkte sich auf die bereits etablierten Aktionsrituale des antiimperialistischen Spektrums. So stand nun die SRO hinter den Aufrufen fest etablierter Versammlungslagen, etwa zum 1. Mai oder zum 3. Oktober 2023. Inhaltlich hatte sich an der marxistisch-leninistischen Ausrichtung der Veranstaltungen und Aktionen jedoch nichts geändert: Zur Erklärung der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung wurde allein ein dogmatischer Klassenstandpunkt herangezogen. So hieß es im Aufruf zur "Revolutionären 1. MaiDemonstration" in Magdeburg: "Krisen sind keinesfalls ein Fehler im System. Der Kapitalismus funktioniert genauso wie er es seinem Wesen nach muss. Hungersnöte, Armut und Kriege sind seine natürliche Erscheinungsform. Er legt die Mehrheit der Weltbevölkerung in Ketten. Diese Ketten des Kapitals gilt es mit allen Mitteln zu brechen! Dafür bedarf es einer Klassenfront, einer Bewegung, welche über die Umverteilung hinaus bis zum Bruch mit diesem fauligen System kämpft! [...] Dem Klassenkampf von oben gilt es mit einem organisierten, vereinten und entschiedenen KlasVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 187 Linksextremismus senkampf von unten zu begegnen! Für eine bessere Zukunft jenseits des Kapitalismus! Lasst uns als Klasse an diesem 1. Mai und über diesen Tag hinaus kämpfen." Insgesamt kann die Kampagne als Versuch der zersplitterten linksextremistischen Szene gewertet werden, zumindest für die Seite der antiimperialistischen und dogmatischen Gruppen wieder einen gemeinsamen Aktionskonsens herzustellen. Eine Integration anderer Spektren des Linksextremismus in die Kampagne gelang jedoch nicht. Auch die linksextremistische Szene in Halle (Saale) führte anlässlich des 1. Mai 2023 antikapitalistische Aktionen durch. So organisierte das OAP eine Kundgebung unter dem Motto "So wie's ist, kann es nicht bleiben!", die jedoch nicht (wie die SROKampagne) auf klassenkämpferische Forderungen fokussierte, sondern in ideologiekritischem Duktus für eine grundlegende Änderung des Bestehenden warb. Anders als im dogmatischen Spektrum des Linksextremismus bleibt die Utopie bei undogmatischen Gruppen weitgehend nebulös, so dass es in der Ankündigung des OAP lediglich hieß: "Die Unfähigkeit sich eine bessere Welt auch nur vorzustellen, lässt die Unterworfenen in der Hoffnungslosigkeit zurück, doch es braucht mehr als bloße Symptombekämpfung, es braucht mehr als den Versuch sich in der falschen Gesellschaft zu arrangieren. Es braucht den Kampf für die bessere, die befreite Gesellschaft." An der Kundgebung des OAP beteiligten sich weitere GruppieVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 188 Linksextremismus rungen aus dem ideologiekritischen bzw. antideutschen Spektrum mit Redebeiträgen, so etwa mit einer Kritik am Erstarken antiimperialistischer Gruppen innerhalb der linksextremistischen Szene von Leipzig (Sachsen) oder mit einem Beitrag zum deutschen Arbeitsethos. Die Kritik an dem vermeintlich spezifisch deutschen Arbeiterkampf ist seit jeher eine Konstante antideutscher Ideologiekritik. Jenseits dieser grundsätzlichen Form der antikapitalistischen Agitation versuchen Linksextremisten regelmäßig, gesellschaftliche Problemlagen aufzugreifen, um diese als Auswuchs des "kapitalistischen Systems" zu präsentieren. Dies ließ sich im Berichtsjahr vermehrt in Aktionen zum Thema "Feminismus" beobachten. Linksextremisten organisierten in Magdeburg am 8. März 2023 zum "Internationalen Frauentag" diverse Veranstaltungen, die jeweils Ausdruck einer antikapitalistischen Agenda waren. Teile des anarchistischen und autonomen Spektrums beteiligten sich an einem feministischen Demonstrationsbündnis, so dass bereits in dem Aufruf und bei der Mobilisierung eine linksextremistische Beeinflussung festzustellen war. Unter der Überschrift "Leben im Kapitalismus heißt leben in der Krise!" hieß es in dem Aufruf: "In der Krise zeigt sich die Brutalität des Kapitalismus in besonderem Maße. Wachsende Armut, Krieg, Klimakrise und staatliche Repression, die zunehmende Prekarisierung von Sorgearbeit und alltägliche sexualisierte Gewalt machen die Notwendigkeit feministischer Veränderung immer deutlicher. [...] Feminismus, der auf reiner Repräsentation beruht und nicht den Kapitalismus als materielle Grundlage von Patriarchat und Sexismus bekämpft, kann niemals Gleichberechtigung bringen. Gleichzeitig lassen wir unsere Identitäten und feministischen Haltungen nicht gegeneinander ausspielen. An unterschiedlichen Fronten streiten wir gegen Ausbeutung und Unterdrückung für eine befreite Gesellschaft." Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 189 Linksextremismus Demonstrationsparolen wie "Zwingt die Macker in die Knie - Feminismus, Anarchie!", "FLINTAs kämpfen international gegen Faschismus, Krieg und Kapital"5 oder "Jin Jiyan Azadi!"6 deuteten darauf hin, dass sich die beteiligten Akteure mit der Ideologie des Anarchismus und mit der Frauenbewegung der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) identifizierten, was auch anhand der von einigen Demonstranten mitgetragenen schwarz-roten Anarchismus-Fahne bzw. der Fahne des kurdischen Autonomiegebietes in "Rojava" ersichtlich wurde. 5 - Das Akronym "FLINTA" steht für "Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, transgeschlechtliche und agender-Personen". 6 - Hierbei handelt es sich um den Ausspruch "Frauen, Leben, Freiheit", der zunächst in PKK-nahen und später auch in linksextremistischen Kreisen Verwendung fand, bevor er seit 2022 infolge der Proteste von Frauen im Iran auch darüber hinaus popularisiert wurde. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 190 Linksextremismus Nicht beteiligt an der Bündnisdemonstration war dagegen das antiimperialistische Spektrum in Magdeburg. Seitdem es im Jahr 2020 aufgrund persönlicher und ideologischer Zerwürfnisse zu einem Bruch mit dem feministischen Bündnis gekommen war, separieren sich Gruppen wie RAB, ZK und vor allem FKT und organisieren Parallelveranstaltungen zum "Internationalen Frauentag". In dem Aufruf des FKT für eine Kundgebung, die am 8. März 2023 in Magdeburg stattfand, hieß es: "Unser Ziel ist es deshalb die Frauenbewegung aus dem liberalen Sumpf zu holen und sie in ihren proletarischen Wurzeln zu bestärken. Dazu verzichten wir auf eine inszenierte Frauenbewegung durch Bündnisse mit Kriegstreibern und Kapitalismus-Fans." Im Gegensatz zu Autonomen und Anarchisten vertreten Antiimperialisten einen historisch-materialistischen Ansatz im Feminismus, so dass hier die Belange der Frauen als Teil eines allumfassenden Klassenkampfes gedeutet werden. Vor diesem Hintergrund organisierte FKT unter dem Motto "Kein Herz für Freier" die Veranstaltungsreihe "Prostitutionskritischer Sommer", mit der vor allem individualistische und queerfeministische Annahmen des Feminismus in der linksextremistischen Szene kritisiert werden sollten. Anhand der Prostitutionskritik plädierte FKT stattdessen für eine klassenkämpferische Sichtweise: Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 191 Linksextremismus "Unsere Sexualität wird im Kapitalismus zu einem Produkt, Sex und Körper verschmelzen zu einer Ware. Dagegen organisieren wir uns, unabhängig von Geschlecht, sondern als Klasse!" Vor diesem Hintergrund versucht FKT, gesellschaftlich relevante Themen zu besetzen, um vor allem Frauen als Anhängerinnen für eine kommunistische Zielsetzung zu gewinnen. Antifaschismus Neben der Kritik am Kapitalismus ist der "Kampf gegen den Faschismus" traditionell einer der wichtigsten Aktionsschwerpunkte im gewaltorientierten Linksextremismus. Dabei ist es für Linksextremisten zunächst unerheblich, ob es sich bei dem politischen Gegner tatsächlich um Rechtsextremisten handelt. Wer unter das Feindbild des "Faschisten" fällt, bestimmt die Szene eigenmächtig. Linksextremisten können dadurch stets neue Feindbilder generieren, um damit ebenso neue Angriffsziele für eine grundsätzliche Gewaltorientierung auszumachen. Die inhaltliche Unbestimmtheit des Feindbildes erlaubte es der linksextremistischen Szene in der Vergangenheit regelmäßig, die ideologischen Differenzen zwischen Kommunisten und Anarchisten, Parteifunktionären und Autonomen vorübergehend zu ignorieren und sich unter dem Nenner des "Kampfes gegen den Faschismus" für gemeinsame Protestaktionen zusammenzufinden. Der Strukturwandel der linksextremistischen Szene, der sich anhand von Konflikten zwischen Kommunisten und Anarchisten oder rund um die Positionierungen zum Queerfeminismus zeigt, wirkt sich jedoch mittlerweile auch auf das Aktionspotenzial im Bereich des "Antifaschismus" aus. Erstmalig fand die von der linksextremistischen Szene organsierte Vorabenddemonstration gegen die rechtsextremistischen "Trauermärsche" anlässlich der Zerstörung Magdeburgs durch alliierte Luftverbände im Zweiten Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 192 Linksextremismus Weltkrieg7 nicht statt. So habe "keine Autonome Antifa Struktur in Magdeburg" zu Aktionen aufgerufen, weshalb der "Spielraum für effektiven Antifa Widerstand" gering gewesen sei, wie es auf Instagram aus dem antiimperialistischen Spektrum hieß. Stattdessen beschränkte sich dieser Szeneteil auf den "antifaschistischen Selbstschutz" in Magdeburg-Stadtfeld. Auch bei den Protestaktionen anlässlich des Bundesparteitags der AfD am 28. und 29. Juli 2023 in Magdeburg8 spielte die linksextremistische Szene keine wesentliche Rolle. Im Gegensatz zur breiten Mobilisierung von zivilgesellschaftlichen Gruppen und Bündnissen war eine großangelegte bundesweite Mobilisierung aus dem linksextremistischen Spektrum nicht festzustellen. Lediglich das "Offene Antifaschistische Treffen Magdeburg und Umgebung" (OAT) mobilisierte für einen eigenen "klassenkämpferischen Block" innerhalb dieser Demonstration. Diesbezüglich hatte es im Vorfeld Diskussionen über ein eventuelles militantes Auftreten der linksextremistischen Akteure gegeben, so dass ein zivilgesellschaftliches Bündnis Vorkehrungen getroffen hatte, um Gewalt an diesem Aktionstag zu verhindern. Als unmittelbare Antwort darauf hieß es seitens des OAT: 7 - Siehe dazu auch S. 89 f. 8 - Siehe dazu auch S. 54 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 193 Linksextremismus "Wir verweisen in diesem Kontext deutlich darauf, dass liberale Lösungsansätze unsinnig im Kampf gegen die AfD sind. Diese werden keine wahre, emanzipatorische Veränderung für die Arbeiterklasse erwirken, viel eher schädigen sie der klassenkämpferischen Bewegung gegen den Faschismus und Kapital." In der Folge agierte der "klassenkämpferische Block" des OAT weitgehend isoliert. Überregionale Anreisen waren lediglich von antiimperialistischen Gruppen aus Hochburgen der linksextremistischen Szene wie Leipzig oder Hamburg zu verzeichnen. Eine Beteiligung von autonom-antifaschistischen Akteuren war dagegen nicht festzustellen. Vielmehr zeigte sich abermals, dass der marxistische Duktus im antiimperialistischen Spektrum nicht nur eine Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Gruppen erschwert, sondern auch ein Hindernis für die Aufrechterhaltung des traditionellen antifaschistischen Aktionskonsenses innerhalb der linksextremistischen Szene darstellt. Diese Spaltungstendenz im Aktionsfeld des Antifaschismus erreichte mit dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 ihren vorläufigen Höhepunkt. Beispielhaft soll dies im Folgenden anhand der Vorbereitung einer Demonstration verdeutlicht werden, die am 18. November 2023 in Eisenach (Thüringen) unter dem Titel "Ihr kriegt uns nicht klein - Rechte Strukturen zerschlagen" stattfinden sollte. Organisiert wurde diese Demonstration, die sich gegen rechtsextremistische Strukturen in der Region Eisenach richten sollte, von einem Bündnis mit überregionaler Beteiligung, das sich jedoch vorwiegend aus Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 194 Linksextremismus dem Spektrum der Autonomen zusammensetzte. Dementsprechend organisierte auch das OAP aus Halle (Saale) im Vorfeld einen Mobilisierungsvortrag und kündigte eine Zuganreise an. Daneben waren laut Organisatoren auch die OJD und ZORA aus Dessau-Roßlau in dem Bündnis vertreten. Da die Planung der Demonstration bereits vor dem 7. Oktober 2023 begann und sich die OJD zudem über ihre unmittelbaren Verbindungen zu "Young Struggle" bedeckt hielt, kam es hier zunächst nicht zu weiteren Differenzen. Erst nachdem "Young Struggle" am 10. November 2023 offiziell zu einer Teilnahme an der Demonstration in Eisenach aufrief, kam es zum Eklat. "Young Struggle" und die OJD veröffentlichten nach dem Terrorangriff eine Reihe von Erklärungen, in denen sie die von der HAMAS verübten Massaker als legitimen "Befreiungsschlag" bezeichneten und dem israelischen Staat ein "Massaker" am palästinensischen Volk unterstellten. Vor diesem Hintergrund erklärten die Organisatoren aus dem israelsolidarischen Spektrum der Autonomen eine Anreise von "Young Struggle"-Anhängern als "nicht erwünscht". Während aus dem autonomen Lager Vorwürfe des Antisemitismus gegen "Young Struggle" erhoben wurden, warfen deren Vertreter ihren Kritikern "Rassismus" gegen "migrantische Antifaschisten" vor und erklärten, sich von "Antideutschen (...) und pseudolinken Handlangern des Kapitals" nicht vorschreiben zu lassen, "wann, wo und wie wir gegen den Faschismus kämpfen". Um eine szeneinterne Konfrontation zu vermeiden, sagten die Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 195 Linksextremismus Veranstalter die Demonstration mit Verweis auf eine vermeintlich zu befürchtende "Repression" kurzfristig ab. Die Absage kann als Ausdruck einer Neubelebung des alten Szenekonflikts zwischen "Antideutschen" und Antiimperialisten aus den 2000er Jahren gesehen werden. Während sich das OAP in einer Stellungnahme solidarisch mit den Veranstaltern in Eisenach zeigte, rief ZK die Anhänger von "Young Struggle" überregional dazu auf, sich an einer für den 18. November 2023 in Magdeburg geplanten propalästinensischen Demonstration zu beteiligen: "Eisenach wurde aus rassistischen Gründen abgesagt, kommt dafür am Samstag nach Magdeburg! Wir stehen solidarisch an eurer Seite gegen die antideutsche Hetze und imperialistische Propaganda." Neben der OJD als "Young Struggle"-Ortsgruppe in Sachsen-Anhalt folgten "Young Struggle"-Mitglieder aus Leipzig (Sachsen) und andere dogmatische Linksextremisten dem Aufruf. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 196 Linksextremismus Antirepression Der Kampf gegen eine vermeintliche Unterdrückung durch staatliche Institutionen ist eines der charakteristischen Aktionsfelder gewaltorientierter Linksextremisten und ihrer Unterstützerkreise. Die linksextremistische Szene sieht den Staat als ein "Repressionsinstrument" der Herrschenden zur Verhinderung eines revolutionären Prozesses. Rechtsstaatliche Maßnahmen, insbesondere der Justizund Polizeibehörden, seien daher "Repression" und dienten der Herrschaftssicherung, gegen die sich die Szene in regionalen und überregionalen "Solidaritätsnetzwerken" organisiert. Die wichtigste und größte Organisation innerhalb dieser Netzwerke ist der Verein "Rote Hilfe e. V." (RH). Dieser unterstützt im Rahmen der "Antirepression" linksextremistische Straftäter vollumfänglich, während entsprechende Gerichtsverfahren als "politische Verfahren" und inhaftierte Szeneangehörige als "politische Gefangene" deklariert werden. Vor diesem Hintergrund verbindet das Aktionsfeld der "Antirepression" die linksextremistische Szene selbst über ideologische und strategische Gräben hinweg. Dies war vor allem in den Reaktionen der linksextremistischen Szene Sachsen-Anhalts auf die Urteilsverkündung im sogenannten "Antifa-Ost-Verfahren" zu beobachten. In der am 8. September 2021 begonnenen Hauptverhandlung in diesem Verfahren verkündete der Staatsschutzsenat des OLG Dresden am 31. Mai 2023 das Urteil gegen die vier Angeklagten. Das Gericht stellte fest, dass die Angeklagten und weitere Personen an einer kriminellen Vereinigung beteiligt waren. Zudem wurden die Angeklagten wegen der Beteiligung an weiteren Straftaten verurteilt, insbesondere wegen Körperverletzungsdelikten gegen den politischen Gegner, die sie als Mitglieder oder Unterstützer dieser Vereinigung begangen hatten. Alle vier Angeklagten, darunter die Linksextremistin Lina E., erhielten mehrjährige Freiheitsstrafen ohne Bewährung. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 197 Linksextremismus Nachdem es bereits im Vorfeld der Urteilsverkündungen Drohungen und Protestankündigungen gegeben hatte, reagierte die Szene mit Solidaritätsbekundungen für die Verurteilten. Hervorzuheben ist hierbei ein Beitrag aus dem Umfeld des antiimperialistischen Spektrums in Magdeburg, in dem eine unbedingte Gewaltorientierung als legitime Praxis des Antifaschismus gerechtfertigt und eingefordert wird: Zu den weiteren Reaktionen der Szene gehörten ein Solidaritätstreffen des OAT im "Infoladen-Stadtfeld" am 2. Juni 2023 unter dem Motto "Free Lina - Konsequenter Antifaschismus bleibt notwendig", eine Banner-Veröffentlichung ("Banner Drop") am selben Tag in Salzwedel am Szeneobjekt "AZ Kim Hubert" mit dem Text "#FREE LINA - FREE THEM ALL - Freiheit für alle politischen Gefangenen" sowie mehrere Graffiti-Schriftzüge u. a. in Salzwedel und in Weißenfels (Burgenlandkreis). Ferner kam es in den Abendstunden des 31. Mai 2023 in Magdeburg zu dem Versuch mehrerer Linksextremisten, sich für ein "Solibild" für die Verurteilten aufzustellen. Dabei konnten die unmittelbar eintreffenden Polizeikräfte 15 Linksextremisten mit Pyrotechnik feststellen. Eine Eigendarstellung dieses Vorfalls wurde im Nachgang sowohl auf dem Instagram-Kanal des "Redmedia Kollektivs" als auch auf "Indymedia" veröffentlicht. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 198 Linksextremismus In Erwartung des Urteils im "Antifa-Ost-Verfahren" war von der linksextremistischen Szene in Deutschland bereits lange im Voraus ein "Tag X" ausgerufen worden. Neben bundesweiten Protesten hatte die militante Szene angekündigt, staatliche Infrastruktur zu beschädigen und so Sachschäden in Millionenhöhe verursachen zu wollen. Zudem wollte die Szene am 3. Juni 2023 (dem Samstag nach der Urteilsverkündung) in Leipzig eine Großdemonstration durchführen, die jedoch von der zuständigen Versammlungsbehörde verboten wurde. Eine kurzfristig unter dem Motto "Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig" angemeldete Veranstaltung an demselben Tag nutzte die linksextremistische Szene augenscheinlich als Ersatzveranstaltung. Am Ort der Kundgebung versammelten sich bis zu 2.000 Personen, von denen über 500 Personen der gewaltbereiten linksextremistischen Szene zugeordnet werden konnten. Im Verlauf der Versammlung vermummten sich viele Teilnehmer und griffen die Polizei mit Steinen, Pyrotechnik und einem Brandsatz an. Insgesamt wurden mindestens 50 Polizisten am "Tag X"-Wochenende in Leipzig verletzt und mehrere Fahrzeuge der Polizei beschädigt. Bei mehr als 1.000 Personen wurden Maßnahmen zur Identitätsfeststellung durchgeführt; über 100 Personen wurden in Präventivhaft verbracht. Auch Linksextremisten aus Sachsen-Anhalt reisten am 3. Juni 2023 nach Leipzig, um sich an den "Tag X"-Protesten zu beteiligen. Im Zuge der Ausschreitungen wurde eine in der linksextremistischen Szene als "Tim H." bezeichnete Person aus dem Umfeld des "Infoladen-Stadtfeld" in Magdeburg und des dort ansässigen "Netzwerks Freiheit für alle politischen Gefangenen" von der Polizei festgesetzt und bis zum 19. Juni 2023 in Gewahrsam genommen. Der Person wurde die Beteiligung an einem schweren Landfriedensbruch im Kontext der Ausschreitungen vom 3. Juni 2023 in Leipzig vorgeworfen. Das "Netzwerk" und sein Mitglied "Tim H." bewegen sich seit mehreren Jahren an der Schnittstelle zwischen Linksextremismus und auslandsbezogenem Extremismus; es ist daher durchaus folgerichtig, dass Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 199 Linksextremismus sich "Tim H." auch am "Tag X" vorwiegend an den Protesten der angereisten Anhänger der linksextremistischen türkischen Partei DHKP-C ("Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front") beteiligte. Dementsprechend veröffentlichten neben der antiimperialistischen Szene Magdeburgs vor allem Anhänger der DHKP-C Solidaritätserklärungen mit "Tim H." im Nachgang der Ereignisse vom 3. Juni 2023. Internationalismus Der "Internationalismus" ist - neben dem "Antikapitalismus, dem "Antifaschismus" und der "Antirepression" - eines der zentralen Aktionsfelder für gewaltorientierte Linksextremisten unterschiedlicher Strömungen. Im linksextremistischen Kontext bezeichnet "Internationalismus" eine politische Agenda, die darauf abzielt, die Überwindung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse im Wege internationaler Solidarisierung und Kooperation mit "allen revolutionären Kräften" herbeizuführen. Mit dieser Zielsetzung ist der "Internationalismus" für Gruppierungen sowohl aus dem kommunistischen als auch aus dem anarchistischen Spektrum anschlussfähig. Gleichwohl wird der "Internationalismus" von den Akteuren dieser beiden, den Linksextremismus prägenden, Ideologiefamilien unterschiedlich interpretiert. Kommunisten verstehen "Internationalismus" als "internationalen Klassenkampf", der zunächst die gewaltsame "Befreiung der Arbeiterklasse" aus der "kapitalistisch-bürgerlichen" Gesellschaft eines Landes und den darauffolgenden Zusammenschluss der sozialistisch geführten Länder gegen die "Feinde des Kommunismus" vorsieht. Kommunistisch orientierte Akteure in der Bundesrepublik Deutschland solidarisieren sich in ihren "internationalistischen" Aktionen häufig mit Gruppen, die als Verfechter "antiimperialistischer Befreiungskämpfe" gegen den "kapitalistischen Westen" auftreten oder die von diesen Akteuren als solche gedeutet werden, so zum Beispiel die marxistisch beeinflussten, als terroristische Vereinigungen eingestuften Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 200 Linksextremismus Organisationen PFLP ("Volksfront zur Befreiung Palästinas"), die türkische DHKP-C ("Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front") oder die - auch in Deutschland aktive - "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK)9. Während kommunistische Gruppen von der Prämisse national strukturierter Gesellschaften, Klassen und Parteien ausgehen, lehnen Anarchisten eine solche Orientierung grundsätzlich ab. Mit dem Begriff des Internationalismus propagieren Anarchisten die transnationale Zusammenarbeit von Menschen in freiwillig eingegangenen, selbstorganisierten Verbindungen, um "unterdrückte Menschen" überall auf der Welt auch auf gewaltsamem Wege aus staatlichen und wirtschaftlichen Zwängen zu "befreien" und eine "herrschaftsfreie" Gesellschaft zu errichten. Syndikalistisch orientierte Anarchisten betonen hierbei vor allem die Selbstorganisation von Arbeitern in sogenannten "Kollektiven" und "Basisgewerkschaften", um "transnationale Befreiungskämpfe" gemeinsam zu führen. Entsprechend beziehen sich in Deutschland ansässige Anarchisten in ihren "internationalistischen" Aktivitäten regelmäßig auf anarchistische Gewerkschaften in anderen Ländern und auf anarchistisch orientierte Gruppen in selbstverwalteten Gebieten, wie beispielsweise die EZLN ("Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung") im mexikanischen Bundesstaat Chiapas oder die kurdische Selbstverwaltung autonomer Gebiete in Nordostsyrien ("Rojava"). Auch in Sachsen-Anhalt waren sowohl kommunistisch als auch anarchistisch orientierte Gruppierungen im Aktionsfeld des "Internationalismus" aktiv. So veranstaltete die Magdeburger Ortsgruppe der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft "Freie Arbeiter:innen Union" (FAU) einen "Internationalistischen Abend" über die Gewerkschaftsarbeit in Myanmar unter den Bedingungen der dort regierenden "Militärjunta". Am 13. Januar 2023 trugen dazu zwei Mitglieder 9 - Siehe dazu auch S. 257 ff. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 201 Linksextremismus der FAU-Ortsgruppe Hamburg im "Kiezladen Tacheles" vor, die von ihrer Reise nach Thailand und ihrem Erfahrungsaustausch mit Gewerkschaftsmitgliedern aus der Textilindustrie Myanmars berichteten. Die ebenfalls dem anarchistischen Spektrum der Landeshauptstadt zuzurechnende "Kiezkommune Stadtfeld" veranstaltete gemeinsam mit dem "Solibündnis Kurdistan-Magdeburg" am 24. Februar 2023 im "Tacheles" einen weiteren "Internationalistischen Abend", dieses Mal zum Thema "The Squatted Community of Prosfygika". Die "Community von Prosfygika" ist ein seit 13 Jahren selbstverwaltetes Wohnobjekt in der Nähe von Athen (Griechenland) , an dessen Besetzung verschiedene anarchistische Gruppierungen beteiligt sind und das von der linksextremistischen Szene als Vorbild für anarchistische OrganisationsanVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 202 Linksextremismus sätze sowie für Aktionen auf dem Feld der Antigentrifizierung10 aufgegriffen wird. Mit der Organisation des "Vortrag[s] über die wahrscheinlich größte Besetzung Europas" erklärten sich die "Kiezkommune Stadtfeld" und das "Solibündnis KurdistanMagdeburg" solidarisch mit den Bewohnern von Prosfygika. Hintergrund war eine polizeiliche Durchsuchung des Objekts Mitte November 2022, bei der 80 Personen vorübergehend festgenommen worden waren. In der Folge waren Sicherheitskräfte von den Dächern mit Steinen beworfen und dabei verletzt worden. An der Veranstaltung im "Tacheles" nahmen eigenen Angaben zufolge 45 Personen teil. 10 - Das Aktionsfeld der "Antigentrifizierung" bezieht sich auf den Begriff "Gentrifizierung", welcher der Stadtsoziologie entstammt. Er bezeichnet städtebauliche Aufwertungen und die damit einhergehenden sozialen Umstrukturierungsprozesse, die zu steigenden Mieten und einer Verdrängung der bisherigen Bewohner führen können. Linksextremisten sehen in der Gentrifizierung nicht nur eine unmittelbare Auswirkung des Kapitalismus, sondern zugleich einen existenzbedrohenden Angriff auf die von ihnen reklamierte Autonomie und die damit einhergehende Lebensweise. Unter dem Gegenbegriff der "Antigentrifizierung" greifen Linksextremisten diese Problemlagen auf, um sie zu einem systemischen Konflikt zuzuspitzen und auf die Überwindung des kapitalistischen Systems hinzuwirken. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 203 Linksextremismus Die "internationalistischen" Aktivitäten aus dem kommunistischen bzw. marxistisch-leninistischen Spektrum SachsenAnhalts wurden im Berichtszeitraum maßgeblich von den Reaktionen auf den Nahost-Konflikt bestimmt, der mit dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 eskalierte. Dabei solidarisierten sich die dogmatischen Teile der Szene, die hauptsächlich in Magdeburg und in Dessau-Roßlau zu verorten sind, mit den palästinensischen Angreifern und rechtfertigten den Angriff auf Israel als "antiimperialistischen Befreiungskampf des palästinensischen Volkes". Insbesondere Akteure antiimperialistischer Parteien und Gruppierungen, wie die "MarxistischLeninistische Partei Deutschlands" (MLPD) und ZK, prägten das Versammlungsgeschehen, welches sich hauptsächlich in der Landeshauptstadt Magdeburg konzentrierte. Nachdem zunächst mehrere aus dem antiimperialistischen Spektrum angemeldete propalästinensische Kundgebungen verboten und eine ähnlich ausgerichtete Eilversammlung am 27. Oktober 2023 aufgrund von Verstößen gegen Versammlungsauflagen aufgelöst worden waren, fand am 10. November 2023 in Magdeburg eine Demonstration zum Thema "Forderung nach einer Waffenruhe für Gaza - stoppt den Krieg in Nahost" statt. Organisator der Versammlung war ein führendes Mitglied der MLPD in Magdeburg. Daneben fand eine Mobilisierung vor allem aus dem antiimperialistischen Spektrum der linksextremistischen Szene statt. Gezielt wurde mit einer arabischen Übersetzung des Aufrufs in sozialen Medien auch die Unterstützung von Palästinensern und anderen Personen mit arabischem Migrationshintergrund gesucht, die sich zahlreich an der Versammlung beteiligten. In dem Redebeitrag eines ZK-Anhängers während der Demonstration hieß es: "Das israelische Besatzungsregime plant offen einen Genozid - und hat mit der Durchführung begonnen. Während in Palästina die Menschen täglich um ihr Leben kämpfen müssen, unterstützen Israels westliche Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 204 Linksextremismus Verbündete die Kriegspolitik. Die Bundesregierung und ihre europäischen und amerikanischen Verbündeten bekunden nicht nur ununterbrochen ihre unverbrüchliche Solidarität mit dem mörderischen Besatzungsregime in Israel, sie stellen sich auch aktiv einer bitter nötigen Waffenruhe entgegen. [...] Die aktuellen Einschränkungen der Demonstrationsund Meinungsfreiheit lassen das wahre Gesicht des deutschen Staates zutage treten." Dieser Redebeitrag verdeutlicht, wie aus dem antiimperialistischen Weltbild im Linksextremismus ein rigoroser Antizionismus hervorgeht. Die Darstellung der deutschen Bundesregierung als verlängerter Arm der USA ist Ausdruck der im antiimperialistischen Spektrum verbreiteten antiwestlichen und antikapitalistischen Ressentiments. Während des Demonstrationszuges wurden entsprechende Parolen wie "Deutschland finanziert, Israel bombardiert" geäußert. Die Veranstaltung verlief mit insgesamt 300 Teilnehmern zwar störungsfrei; allerdings wurden nach Abschluss der Kundgebung gegen einzelne Teilnehmer Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts volksverhetzender Aussagen, der Billigung von Straftaten und der Verwendung von Kennzeichen des verbotenen Vereins "Samidoun"11 eingeleitet. Militanzund Gewaltpotenzial Der gewaltorientierte Linksextremismus stellt sich nach den vom LKA Sachsen-Anhalt erhobenen Daten der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) -linkswie folgt dar: Mit insgesamt 358 Straftaten stieg die Zahl der Delikte im Jahr 2023 zwar leicht an (2022: 314); die Zahl der Gewaltstraften ging jedoch deutlich zurück, von 36 Fällen im Jahr 2022 auf 13 Fälle im Jahr 2023. Die Gründe hierfür sind sowohl in den fehlenden Tatgelegenheiten als auch in der Mobilisierungsschwäche der linksextremistischen Szene in Sachsen-Anhalt zu suchen. 11 - Siehe dazu S. 232. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 205 Linksextremismus Gleichwohl kam es auch im Jahr 2023 zu einschlägigen Strafund Gewaltdelikten, von denen einige prägnante Fälle im Folgenden dargestellt werden. Die COMPACT-Magazin GmbH bzw. deren Geschäftsführer Jürgen Elsässer, Herausgeber der Zeitschrift "COMPACT", veranstaltete am 4. November 2023 in Magdeburg die "COMPACTFriedenskonferenz". Der Eigentümer des Veranstaltungsobjekts "Halber85" zeigte an, dass in der vorangegangenen Nacht der Haupteingang des Gebäudes mit einer stark geruchsbelästigenden Flüssigkeit (vermutlich Butansäure) kontaminiert worden war. Das Objekt "Halber85" war bereits in der Vergangenheit immer wieder Angriffen aus der linksextremistischen Szene ausgesetzt. In der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember 2023 wurde in Halle (Saale) ein Fahrzeug der Bundespolizei von Linksextremisten in Brand gesteckt. In dem auf "Indymedia" veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben wurde unter der Überschrift "Nachträgliche Grüße zum 13.12. - BP Karre zu Feuertonne umfunktioniert" auf eine Reihe linksextremistischer Begründungszusammenhänge für den Angriff verwiesen. Neben dem polizeilichen Vorgehen während der Klimaproteste in Lützerath (Nordrhein-Westfalen) und den Urteilssprüchen im "Antifa-Ost-Verfahren" am 31. Mai 2023 wurde vor allem die Hausdurchsuchung bei einem Szenefotografen aus Halle (Saale) Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 206 Linksextremismus als Begründung für die Tat herangezogen. Dieser hatte während der Ausschreitungen zum "Tag X" in Leipzig am 3. Juni 2023, bei dem in zwei Fällen auch Brandsätze auf die eingesetzten Polizisten geworfen worden waren, Fotos aufgenommen, die er nachträglich anonymisierte und im Internet veröffentlichte. In Bezug auf die sich daran anschließende Hausdurchsuchung hieß es in dem Selbstbezichtigungsschreiben: "Genau aus diesem Grund stellen wir uns dem Status Quo auf allen möglichen Wegen entgegen. [...] Zur Feier des Tages gab es eine wortwörtliche Bescherung für die ansässige Vertretung des bundesweiten Repressionskörpers mit Feuer & Flamme. Wir wünschen BP am Hauptbahnhof einen hitzigen 13.12." Linksextremisten nutzen den 13. Dezember aufgrund der Zahlenkombination "1312" für "ACAB" ("All Cops Are Bastards") regelmäßig für Demonstrationen und Anschläge gegen Sicherheitsbehörden. In der Nacht des 15. Dezember 2023 verübten Linksextremisten einen Farbanschlag auf das Kampfsportstudio "La Familia" in Halle (Saale). Auf "Indymedia" hieß es zu dem Angriff: "Der La Familia Fightclub stellt sich gern als unpolitisch dar. Das ist nicht erst seit gestern gelogen. [...] Deswegen haben wir La Familia einen neuen Anstrich spendiert. Wir hoffen er gefällt. Frohe Feiertage." Die Mitglieder des Kampfsportstudios sollen personelle Schnittmengen mit rechtsradikalen und rechtsextremistisch beeinflussten Fußballund Hooligangruppen aufweisen, so dass der Verein schon länger im Fokus der linksextremistischen Szene von Halle (Saale) stand. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 207 Linksextremismus Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Strukturwandel in der gewaltorientierten linksextremistischen Szene von Sachsen-Anhalt setzte sich im Berichtsjahr fort und wurde infolge des Terrorangriffs der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 zusätzlich befeuert. Selten waren sich linksextremistische Akteure so uneinig über die Positionierung zu einem politischen Thema wie in der Frage des aktuellen NahostKonflikts. Dabei sind die szeneinternen Auseinandersetzungen zu einem großen Teil ideologisch motiviert; sie deuten auf einen langfristigen Prozess der Neuordnung hin. Vor diesem Hintergrund kamen die versammlungsrechtlichen Aktivitäten der linksextremistischen Szene in Halle (Saale) im Jahr 2023 fast vollständig zum Erliegen, während die klandestin verübten Straftaten gegen politische Gegner weiter fortgesetzt wurden. In Magdeburg zeigte sich ein entgegengesetztes Bild: Vor allem das antiimperialistische Spektrum organisierte eine Vielzahl an Kundgebungen und Demonstrationen, während die Zahl der dabei verübten Straftaten deutlich zurückging. Zugleich war in der Positionierung von ZK-Anhängern zum Nahost-Konflikt eine weitere ideologische Radikalisierung zu beobachten. Dies zeigte sich nicht nur in der wiederholten Rechtfertigung des Terrorangriffs der HAMAS auf Israel, sondern in der gesamten Agitation aus dem Umfeld von ZK, die sich zwischen einem antiimperialistisch motivierten Antizionismus auf der einen und einem israelbezogenen Antisemitismus auf der anderen Seite bewegte. Hiermit knüpft die Gruppe ideologisch an eine bundesweite Entwicklung an, in der sich eine allgemeine Renaissance des dogmatischen Linksextremismus andeutet. Ob die antiimperialistische Szene in Sachsen-Anhalt vor diesem Hintergrund auch bundesweit wieder an Bedeutung gewinnt, bleibt abzuwarten. Insgesamt lässt die anhaltende Spaltung der linksextremistischen Szene im Land, die sich in den Reaktionen auf den seit Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 208 Linksextremismus dem 7. Oktober 2023 eskalierten Nahost-Konflikt zeigte, eine weitere Schwächung des Mobilisierungspotenzials in allen relevanten Aktionsfeldern erwarten. Gleichwohl bieten sich im Verlauf des Jahres 2024 vielfache Anknüpfungspunkte für Aktivitäten der linksextremistischen Szene. Insbesondere die Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt und die Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni 2024, aber auch die Landtagswahlen in den benachbarten Bundesländer Sachsen, Thüringen (beide am 1. September 2024) und Brandenburg (am 22. September 2024) könnten linksextremistische Akteure im Land verstärkt zum Anlass für Protestaktionen und Straftaten gegen den politischen Gegner nehmen. Darüber hinaus ist im Zusammenhang mit dem geplanten Bau der Halbleiter-Fabriken des Unternehmens Intel in Magdeburg eine Mobilisierung der lokalen linksextremistischen Szene im Rahmen des Aktionsfeldes des "Antikapitalismus" möglich. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 209 Linksextremismus "Rote Hilfe e. V." (RH) Gründung 1975 In Sachsen-Anhalt seit 1996 mit der ersten RH-Ortsgruppe in Halle (Saale) existent Sitz Sitz des Bundesverbandes: Göttingen Mitglieder Land: etwa 350 (2022: 295) Anhänger Bund: 13.100 (2022: 13.100) Struktur Bundesweit existieren 50 Ortsgruppen. Aufbau Die lokalen Gruppen wählen auf Mitgliederversammlungen ihre Abgesandten für die Bundesdelegiertenkonferenz; diese tritt mindestens alle zwei Jahre zusammen. Der Bundesvorstand wird für eine Dauer von zwei Jahren gewählt und organisiert als oberstes Organ der RH deren bundesweite Arbeit. Er tagt mindestens zweimal jährlich, verwaltet die Finanzen des Vereins und gibt dessen Zeitung heraus. In Sachsen-Anhalt existieren Ortsgruppen in Halle (Saale), Magdeburg und Salzwedel (Altmarkkreis Salzwedel). VeröffentWeb-Angebot: www.rote-hilfe.de lichungen Publikationen: "Die Rote Hilfe" (quartalsweise) FinanzieMitgliedsbeiträge, Spenden rung Vertrieb von Büchern, Broschüren, Informationsmaterial Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 210 Linksextremismus Kurzportrait / Ziele Die RH ist nach ihrem Selbstverständnis eine "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation" zur Unterstützung von Personen, die nach ihrer Auffassung in der "Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden". Dabei vertritt die RH kein eigenständiges weltanschauliches Programm; sie ist jedoch ein bedeutender Bestandteil der linksextremistischen Szene und wirkt organisationsübergreifend. Die RH stellt die Sicherheitsund Justizbehörden als Teile eines umfassenden Repressionsapparates dar, mit dem der Staat ihm politisch missliebige Personen unterdrückt, kriminalisiert und letztlich wegsperrt. Dadurch spricht sie der Bundesrepublik Deutschland die Eigenschaft als Rechtsstaat ab und sieht in ihr stattdessen ein Willkürregime. Die RH unterstützt Linksextremisten in Ermittlungsund Strafverfahren sowie im Strafvollzug. Erkennt die RH eine Person als "Unterstützungsfall" an, so beteiligt sie sich an Prozessund Anwaltskosten (sowie Strafund Bußgeldern) und vermittelt erforderlichenfalls anwaltliche Unterstützung. Zudem organisiert die RH Kampagnen, die auf die Diskreditierung von Sicherheitsund Justizbehörden zielen. Im Rahmen von Schulungen gibt die RH Szeneangehörigen Handlungsempfehlungen zur Minimierung des Risikos einer Strafverfolgung im Anschluss an begangene Straftaten. Grund der Beobachtung Die RH ist ein zentraler Bestandteil der linksextremistischen Szene und betätigt sich in deren Aktionsfeld "Antirepression". Sie ist eine organisationsübergreifende Unterstützerin von Straftätern aus den unterschiedlichen Bereichen der linksextremistischen Szene. Die RH betrachtet die Bundesrepublik Deutschland als einen Willkürstaat, von dem eine systematische Verfolgung der politischen Opposition ausgehe. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 211 Linksextremismus In dieser Funktion stabilisiert und motiviert die RH die gewaltorientierte linksextremistische Szene, indem sie das strafrechtliche Abschreckungspotenzial für Linksextremisten verringert. Sie erfüllt damit eine Gewalt unterstützende Funktion. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Fokus der RH steht neben der Bearbeitung individueller Unterstützungsfälle vor allem die allgemeine "Antirepressionsarbeit". So organisierte die RH-Ortsgruppe Salzwedel eine Infoveranstaltung anlässlich des Tages der "Freiheit für alle politischen Gefangenen" am 18. März 2023 im Szeneobjekt "AZ Kim Hubert". Dabei wurde insbesondere die lang anhaltende Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 212 Linksextremismus Inhaftierung von Mumia Abu-Jamal1 thematisiert, den die RH als einen der "wohl bekanntesten politischen Gefangenen weltweit" bezeichnet, "dessen Fall exemplarisch für Klassenjustiz, Repression und politische Gefangenschaft steht". Die Ortsgruppe der RH in Halle (Saale) organisierte im Juli 2023 eine Veranstaltungsreihe unter dem Motto "Gegen Knäste - kritische Auseinandersetzung mit Inhaftierten". Dabei lag den verschiedenen Veranstaltungen jeweils die verbindende These zugrunde, dass "vor dem Gesetz nicht alle gleich sind und die ökonomische Stellung in deutschen Gerichtssälen und bei den Justizbehörden eine ausschlaggebende Rolle für die Ausschöpfung des Strafmaßes" spiele. Dementsprechend sollte mit Vorträgen, Filmen und Erfahrungsberichten nicht nur eine realpolitische Dimension abgebildet, sondern zugleich eine "Utopie von einer Gesellschaft ohne Knäste" diskutiert werden. Vor dem Hintergrund des mit dem HAMAS-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 eskalierten Nahost-Konflikts forderte die Magdeburger Ortsgruppe der RH in einer im Internet veröffentlichten Stellungnahme das Ende einer vermeintlichen "Kriminalisierung der Palästina-Solidarität". In der Stellungnahme behauptete die RH, seit Mitte Oktober 2023 seien angemeldete oder geplante Kundgebungen verboten oder Veranstalter "von der Polizei massiv bedroht" worden, Solidaritätsbekundungen mit Palästina zu unterlassen. Man sehe die Verbote und Einschränkungen als Angriffe auf die Versammlungsund Mei- 1 - Mumia Abu-Jamal wurde 1982 in den USA für den Mord an einem Polizisten zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde später von einem Bundesgericht aufgehoben und 2011 in lebenslange Haft ohne Revisionsmöglichkeit umgewandelt. Vor seiner Inhaftierung war Abu-Jamal Mitglied verschiedener militanter und anarchistischer Gruppierungen. Aufgrund seiner politischen Tätigkeiten vor und während der Haft sowie der Umstände seiner Verurteilung wird Abu-Jamal von linken und linksextremistischen Gruppierungen im Inund Ausland als "politischer Gefangener" betrachtet und unterstützt, darunter auch von der RH. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 213 Linksextremismus nungsfreiheit und fordere alle auf, gegen den fortschreitenden Abbau von "Bürgerinnenund Grundrechten" aktiv zu werden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Strukturwandel in der linksextremistischen Szene war in den letzten Jahren auch in der Entwicklung der RH zu beobachten. Dementsprechend bleibt die RH weiterhin einer der wichtigsten Stabilitätsfaktoren für die Szene. Mit ihrer gut vernetzten Struktur und der finanziellen Unterstützung potenzieller Strafund Gewalttäter trägt sie zu einer spektrenübergreifenden Konsolidierung bei. Dabei bietet die RH eine Organisationsorientierung für jene Linksextremisten, die gemeinschaftlich aktiv sein wollen, ohne jedoch in die starren Zwänge einer Partei eingebunden zu sein. Entscheidend für den Erfolg der RH ist vor allem ihre ideologische Flexibilität, so dass ihre Unterstützung jedem potenziellen Gewalttäter gilt, solange dieser nur eine linksextremistische Zielsetzung verfolgt. Sie begründet damit einen ideologischen Rahmen, der die Legitimität des demokratischen Verfassungsstaats systematisch infrage stellt und dabei Gewalt als politisches Mittel befürwortet. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 214 Linksextremismus "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung 1982 In Sachsen-Anhalt seit 1992 mit einzelnen Strukturen existent Sitz Sitz des Bundesverbandes: Gelsenkirchen (Nordrhein-Westfalen) Vorsitz Parteivorsitzende: Gabi Fechtner (NordrheinWestfalen) Vorsitzender des Landesverbandes Elbe/Saale: Jörg Weidemann (Leipzig, Sachsen) Mitglieder Land: etwa 15 (2022: 15) Anhänger Bund: 2.800 (2022: 2.800) Struktur Die Partei ist in vier Organisationsebenen geglieAufbau dert. Betriebsund Wohngebietsgruppen bilden die erste Ebene der Partei. Die zweite Organisationsebene stellen die Ortsgruppen dar. Danach folgt der Kreisverband. Als letzte Ebene folgen die derzeit acht Landesverbände; Sachsen-Anhalt ist dem Landesverband Elbe/Saale angegliedert (Sachsen-Anhalt und Sachsen). Der Jugendverband "REBELL" ist die Jugendorganisation der MLPD. VeröffentWeb-Angebote: lichungen www.mlpd.de, www.rf-news.de Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 215 Linksextremismus Publikationen: "Rote Fahne" (RF) (zweiwöchentlich) "Lernen und Kämpfen" (LuK) (mehrmals jährlich) "Rebell" (zweimonatlich) FinanzieMitgliedsbeiträge, Spenden rung Angesichts ihres vergleichsweise geringen politischen Einflusses verfügt die MLPD über ein überdurchschnittlich hohes Parteivermögen. Kurzportrait / Ziele Die MLPD ist eine maoistisch-stalinistisch ausgerichtete Partei, die sich an den Lehren von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao orientiert. Ihrem Verständnis nach kann der Kapitalismus nicht reformiert werden; er muss daher revolutionär durch einen "echten" Sozialismus abgelöst werden. Über die Mitgliedschaft ihrer Angehörigen in Gewerkschaften versucht die MLPD Einfluss auf die Arbeiter als "Subjekt des Klassenkampfes" zu erlangen. Sie unterstützt häufig die Forderungen von Gewerkschaften bei Streiks, verbindet deren Ziele aber jeweils mit ihrer eigenen, fundamentalen Kapitalismuskritik und der Forderung nach einer kommunistischen Gesellschaft. Grund der Beobachtung Die MLPD versteht sich als Repräsentantin einer radikal linken und revolutionären Perspektive des "echten" Sozialismus. Bereits in der Präambel ihrer Parteistatuten formuliert sie ihr grundlegendes Ziel: "de[n] revolutionäre[n] Sturz der Diktatur des Monopolkapitals". Dafür strebt sie die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft als Übergang zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft an. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 216 Linksextremismus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In Sachsen-Anhalt ist die MLPD mit Kontaktadressen in Magdeburg, Halle (Saale), Dessau-Roßlau und Bitterfeld-Wolfen (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) vertreten. Ausgehend von diesen Ortsgruppen versucht die MLPD mit einer Vielzahl von Kundgebungen, ihre revolutionären Ideen auf die Straße zu tragen. So finden in Magdeburg und Halle (Saale) regelmäßig (Montags-)Kundgebungen statt, bei denen die Beteiligten mit einem sogenannten "offenen Mikrofon" aktuelle politische Themen diskutieren. Nach dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 bezogen die MLPD-Ortsgruppen in Halle (Saale) und Magdeburg in mehreren Kundgebungen Stellung zum verschärften Nahost-Konflikt. Dabei argumentierten sie mit der für kommunistische Parteien typischen marxistisch-leninistischen Klassenkampfrhetorik. So bekundete ein Mitglied der MLPD-Ortsgruppe Halle (Saale) in einer Rede bei einer Kundgebung am 9. Oktober 2023 auf dem Marktplatz in Halle (Saale) die Solidarität der Kommunisten mit dem "palästinensischen Befreiungskampf". In Israel würden dagegen "faschistoide und faschistische Kräfte des israelischen Imperialismus" wirken. Entgegen der von der Versammlungsbehörde verfügten Unterlassung setzte der Redner, der die Kundgebung auch angemeldet hatte, seinen Redebeitrag mit weiteren antiisraelischen Ausführungen fort. Die Polizei beschlagnahmte das Redemanuskript und leitete ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung gemäß SS 130 des Strafgesetzbuchs (StGB) ein. Ein ähnlicher Verlauf wiederholte sich auf den MLPD-Kundgebungen in den darauffolgenden Wochen. In Magdeburg nutzte ein MLPD-Mitglied den Rahmen einer "Montagskundgebung" am 16. Oktober 2023, um ebenfalls den israelischen Verteidigungskrieg im Gazastreifen zu kritisieren und sich dabei gleichzeitig von dem Terrorangriff der "faschistischen HAMAS" zu distanzieren. Die Polizei untersagte daraufhin Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 217 Linksextremismus die Verwendung diverser propalästinensischer Kundgebungsmittel und forderte im weiteren Verlauf die Beendigung des Redebeitrags. Ein ähnlicher Vorfall wiederholte sich eine Woche später während der "Montagskundgebung" der MLPD in Magdeburg am 23. Oktober 2023. Dort behauptete der Redner unter Rückgriff auf antiimperialistische und antizionistische Narrative, dass die Aggression im Nahen Osten einzig von Israel ausgehe und die israelische Regierung "Palästina" für den Terrorangriff büßen lasse. Die Verteilung eines dazugehörigen Flugblatts, das die MLPD unter der Überschrift "Flächenbrand Nahost" veröffentlichte, wurde von der Polizei untersagt. In dem Flugblatt plädiert die MLPD gemäß ihrer marxistisch-leninistischen Ausrichtung für eine Lösung des Nahost-Konflikts durch die Überwindung des Nationalismus und die Errichtung eines "sozialistischen Staates". Bewertung, Tendenzen, Ausblick Aufgrund ihrer politischen und gesellschaftlichen Isolation ist davon auszugehen, dass die MLPD die von ihr seit Jahren vertretene ideologische Linie auch zukünftig beibehalten wird. Obwohl die Partei stetig auf der Suche nach neuen und vor allem jungen Mitgliedern ist, gelingt es ihr nicht, ihre weitgehende Isolation zu durchbrechen. Vielmehr werden MLPD-Vertreter aufgrund ihrer dogmatischen Positionen von Versammlungen und anderen Veranstaltungen häufig ausgeschlossen. Eine Außenwirkung können sie lediglich dort entfalten, wo die linksextremistische Szene eine ähnlich dogmatische Ideologie auf gemeinsamen Aktionsfeldern verfolgt. Im Berichtsjahr kooperierten MLPD-Vertreter insbesondere mit Magdeburger Linksextremisten des antiimperialistischen Spektrums im Rahmen der "Palästina-Solidarität". Im Gegensatz zur DKP ist die MLPD in Magdeburg jedoch nicht an der Kampagne "Sozialrevolutionäre Offensive" (SRO)1 beteiligt. 1 - Siehe dazu S. 186 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 218 Linksextremismus "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung 1968 In Sachsen-Anhalt seit 1997 mit einzelnen Parteigruppen existent Sitz Sitz des Bundesverbandes: Essen (NordrheinWestfalen) Vorsitz Patrick Köbele (Essen, Nordrhein-Westfalen) Mitglieder Land: etwa 15 (2022: 15) Anhänger Bund: 2.850 (2022: 2.850) Struktur Die Partei gliedert sich in Grund-, Kreis-, BeAufbau zirksund/oder Landesorganisationen sowie eine Bundesorganisation. In Sachsen-Anhalt existieren örtliche Strukturen vor allem in Halle (Saale) und Magdeburg. Innerhalb der Parteigesamtstruktur ist der Status einer Bezirksbzw. Kreisorganisation nicht erreicht. Daher verfügt die DKP in Sachsen-Anhalt lediglich über einen so genannten "Koordinierungsrat". VeröffentWeb-Angebot: lichungen www.dkp.de Publikationen: UZ - "Unsere Zeit" (wöchentlich) "Marxistische Blätter" (zweimonatlich) FinanzieMitgliedsbeiträge, rung Spenden Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 219 Linksextremismus Kurzportrait / Ziele Die DKP ist eine marxistisch-leninistische Kernorganisation. Die Partei versteht sich als politische Nachfolgerin der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD). Ihr Ziel ist die Errichtung einer sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft durch einen revolutionären Bruch mit den kapitalistischen Machtund Eigentumsverhältnissen. Als Richtschnur ihres politischen Handelns bekennt sie sich zur Ideologie von Marx, Engels und Lenin. Grund der Beobachtung Die DKP strebt langfristig einen Systemwechsel in Richtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung an. In einem klassenkämpferisch-revolutionären Akt sollen die kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnisse, der Parlamentarismus und der politisch-gesellschaftliche Pluralismus überwunden werden. Gewaltanwendung wird dabei nicht ausgeschlossen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die DKP bemüht sich, durch Teilnahme an diversen Demonstrationen und Veranstaltungen sowie durch die Veröffentlichung von Stellungnahmen zu aktuellen politischen Themen in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Aufgrund ihrer geringen Mitgliederzahl ist die DKP auf eine Zusammenarbeit mit weiteren linksextremistischen Kräften in Sachsen-Anhalt angewiesen. Diese Verbindungen dürften auch auf personelle Überschneidungen und damit einhergehende Vertrauensverhältnisse zurückzuführen sein, die das langjährige DKP-Mitglied Matthias Kramer aufgebaut hatte. Dementsprechend bestürzt reagierte die Szene auf dessen Tod im Dezember 2022. In einem gemeinsam verfassten Nachruf verschiedener linksextremistischer Gruppen (darunter ZK, RAB und RH) wurden sein Leben und Wirken in der linksextremistischen Szene Magdeburgs gewürdigt. So sei Kramer "Bestandteil so gut wie aller antiimperialistiVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 220 Linksextremismus scher, antifaschistischer, antirassistischer und sozialrevolutionärer Initiativen in [Magdeburg] seit 2007" gewesen und habe diese maßgeblich mit aufgebaut. Insbesondere an der Gründung von ZK und des "Infoladen-Stadtfeld" sei er beteiligt gewesen. Grundlegende Unterstützung von gewaltorientierten Linksextremisten aus dem Umfeld des "Infoladen-Stadtfeld" erhielt die DKP in Magdeburg auch bei der Umsetzung der bereits im März 2022 initiierten "Energiepreisstopp-Kampagne". Diese Kampagne setzte die DKP im Rahmen der "Sozialrevolutionären Offensive" (SRO) fort. Am 27. November 2023 führte die Partei im Zuge der Kampagne eine Kundgebung unter dem Motto "Energiepreisstopp - Schluss mit der Abzocke" vor dem Sitz der Städtischen Werke Magdeburg durch. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 221 Linksextremismus Bewertung, Tendenzen, Ausblick Entgegen der Entwicklung der letzten Jahre entfaltete die DKP in Sachsen-Anhalt im aktuellen Berichtsjahr wieder vermehrt Aktivitäten. Diese waren jedoch fast ausschließlich auf neuerliche Verbindungen in das antiimperialistische Spektrum des gewaltorientierten Linksextremismus in Magdeburg zurückzuführen. So beteiligten sich dessen Anhänger nicht nur an der "Energiepreisstopp-Kampagne", sondern es wurden auf Veranstaltungen der linksextremistischen Szene ebenso Fahnen der DKP geschwenkt. In Sachsen-Anhalt können die Strukturen der Partei somit als verlängerter Arm des antiimperialistischen Spektrums gesehen werden. Es bleibt jedoch unwahrscheinlich, dass sich diese Entwicklung zukünftig auch in einer gemeinsamen Beteiligung an Wahlen niederschlagen wird, da gewaltorientierte Linksextremisten aus dem antiimperialistischen Spektrum die von der DKP verfolgte Parlamentsorientierung als alleinige Strategie zur Überwindung des demokratischen Systems ablehnen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 222 Islamismus Einleitung 224 Salafismus 236 "Gemeinschaft der Verkündigung der Mission" (Urdu: "Tablighi Jama'at", TJ) 247 Muslimbruderschaft (MB) / "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) / HAMAS 249 IslamIsmus ISLAMISMUS Der Begriff "Islamismus" bezeichnet eine spezifische Form des politischen Extremismus. Unter Berufung auf die Religion des Islam zielt der Islamismus auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Islamismus ist von der Überzeugung geprägt, dass Religion nicht nur eine persönliche, quasi private Angelegenheit ist, sondern auch das öffentliche gesellschaftliche Leben sowie die politische Ordnung eines Staates bestimmen oder zumindest in Teilen regeln soll. Diese von Gott gewollte und somit "wahre" (und zugleich absolute) Ordnung rangiere in ihrer Wertigkeit vor allen von Menschen gemachten Ordnungssystemen. Der Islamismus hat somit zum Ziel, eine theokratische Staatsund Gesellschaftsordnung zu errichten (Arab.: al-nizam al-islami), d. h. ein politisches System auf der Basis von Normen und Werten zu verwirklichen, die den kanonischen Texten des SchariaRechts entnommen sind. Diese Staatsund Gesellschaftsordnung unter der Herrschaft Gottes (Arab.: hakimiyyat Allah) soll die freiheitliche demokratische Grundordnung ersetzen, die auf den Prinzipien der Menschenwürde, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit basiert. In Publikationen wie dieser von Abu Muhammad al-Maqdisi wird die Demokratie als "menschengemachte" Religion dargestellt, in der man "den Menschen" anbetet. Im Islam hingegen werde Gott angebetet; er sei "gottgemacht". Die beiden Bilder auf dem Buchtitel von einem Parlament auf der linken und der Ka'ba in Mekka auf der rechten Seite sollen den Kontrast zwischen "menschenzentriert" und "gottzentriert" versinnbildlichen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 224 IslamIsmus Die folgende Übersicht macht deutlich, dass islamistische Bestrebungen im Widerspruch zu den Strukturprinzipien des demokratischen Verfassungsstaates stehen: Gottesherrschaft Volkssouveränität Sakrale Texte als Gesetzes- 1 Legislative auf der Basis grundlage parlamentarischer Demokratie Sakrale Grundlage politi- 1 Verantwortlichkeit der Rescher Macht gierung gegenüber demo(Machtkonzentration, Unkratisch verfassten Gesetantastbarkeit der Religionszen und der Verfassung gelehrten, Oppositions(Abwählbarkeit der Regieverbot, Unabänderlichkeit rung, Änderung von Gesetgöttlicher Gesetze) zen) Totalitärer Wahrheitsan- 1 Meinungsfreiheit, Wertespruch pluralismus, Mehrparteienprinzip, Recht auf Opposition Privilegierung einer be- 1 Religionsfreiheit, Gleichbestimmten islamischen rechtigung, Recht auf freie Religionsausübung Persönlichkeitsentfaltung Im Islamismus lassen sich verschiedene Strömungen feststellen. Diese unterscheiden sich teilweise hinsichtlich ihrer ideologischen Prämissen, ihrer geographischen Orientierung, ihrer Strategien und der Wahl ihrer Mittel. Sie können sich aber auch überschneiden, zum Beispiel in der Strömung des sogenannten Jihadsalafismus, die Ideologieelemente des Salafismus mit dem Jihadismus zu einer gewaltorientierten und kämpferischen Strömung vereint. Grundsätzlich sind im islamistischen Spektrum die folgenden ideologischen Strömungen zu unterscheiden: Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 225 IslamIsmus - Die Anhänger islamistisch-terroristischer Gruppierungen wie der im Gazastreifen aktiven palästinensischen HAMAS1 oder der libanesischen "Hizb Allah"2, deren Ziel die Vernichtung des jüdischen Staates Israel ist, sind im Wesentlichen auf ihre Herkunftsregionen fokussiert und wenden schwerpunktmäßig dort terroristische Gewalt an. - So genannte legalistische Strömungen versuchen, über politische und gesellschaftliche Einflussnahme eine nach ihrer Interpretation islamkonforme Ordnung durchzusetzen. - Salafisten orientieren sich ausschließlich an einem wortgetreuen Verständnis von Koran und Sunna3 nach ihrer Interpretation sowie am Vorbild der Gefährten Mohammeds, den so genannten rechtschaffenen Altvorderen.4 Sie vertreten dabei einen Exklusivitätsanspruch, beanspruchen die einzig "wahren" Muslime zu sein und lehnen die geschichtliche Entwicklung der Religion des Islam und ihre vielschichtige Ausübung und Interpretation seitens der Muslime ab.5 In der gesellschaftlichen Wahrnehmung werden islamistische Bestrebungen vor allem mit dem terroristischen Islamismus und Jihadismus in Verbindung gebracht. Jihadistische Gruppierungen, wie zum Beispiel der "Islamische Staat" (IS) und "al-Qaida" zuzurechnende Organisationen, sehen in ihrem Kampf für die Errichtung eines "Gottesstaates" mit terroristischer Gewalt ein 1 - Das BMI hat mit Verfügung vom 2. November 2023 ein Betätigungsverbot in Deutschland unter anderem für die Terrororganisation HAMAS ausgesprochen. 2 - Das BMI hat mit Verfügung vom 26. März 2020 die Vereinigung Hizb Allah mit einem Betätigungsverbot belegt. 3 - Zur Nachahmung empfohlene Handlungsweisen und Aussagen des Propheten Mohammed. 4 - Arabisch: al-Salaf al-Salih. 5 - Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: Kompendium des BfV. Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte. Köln 2024, S. 109-156, besonders S. 111 und 130. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 226 IslamIsmus legitimes und effektives Mittel gegen "Ungläubige" und gegen von ihnen als korrupt betrachtete Regime in der islamischen Welt. Ihre terroristische Agenda ist teilweise global und bedroht folglich die gesamte internationale Staatengemeinschaft. Entsprechend motivierte Anschläge und Straftaten sowie mit islamistischen Bestrebungen verbundene konkrete Gefahren sind Ereignisse bzw. Phänomene, die sich unschwer als Bedrohungen erkennen lassen. Das Erfordernis eines entschlossenen Einschreitens gegen diese Phänomene ist unstrittig. Verfassungsschutz, Polizei und Justiz arbeiten bei der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung auf diesem Feld mit ihren jeweiligen Aufgaben und Befugnissen eng zusammen. Nach wie vor sind damit Fragen verbunden, die sich aus der tatsächlichen oder möglichen Rückkehr von Personen ergeben, welche sich freiwillig in das Jihadgebiet begeben und dort terroristischen Gruppen angeschlossen hatten. Dies trifft insbesondere auf die Personen zu, die aus ihren (europäischen) Heimatländern in das "Kalifatsgebiet" des IS gereist waren und sich dort dem IS angeschlossen hatten. Ein weiteres Hauptaugenmerk der Sicherheitsbehörden liegt auf dem Bearbeiten von Hinweisen auf mögliche jihadistische Islamisten. In einzelnen Fällen hat dies dazu geführt, dass die Verfassungsschutzbehörde nach SS 19 VerfSchG-LSA Informationen an die Strafverfolgungsbehörden übermittelt hat, damit diese die entsprechenden strafrechtlichen Ermittlungen aufnehmen konnten. Wie schon in den vorangegangenen Berichtsjahren handelte es sich dabei hauptsächlich um Hinweise auf Personen mit Migrationshintergrund, bei denen eine Betätigung in jihadistischen Gruppen anzunehmen ist, die als Kriegsparteien vor allem im syrischen Bürgerkrieg aktiv waren. Ebenso bedeutsam, aber weniger offensichtlich ist die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die vom legalistischen Islamismus ausgeht. Dieser steht nur Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 227 IslamIsmus scheinbar im Einklang mit den Prinzipien unseres Rechtsstaates. Legalistische Strömungen des Islamismus sind in der Regel weder mit Straftaten noch mit konkreten Gefahren verbunden. Daher stehen sie - zu Unrecht - wesentlich weniger im Fokus der Öffentlichkeit und werden als weitaus geringere Bedrohung empfunden. Dabei wird verkannt, dass Bestrebungen dieser Art zielgerichtet an der Umsetzung ihres ideologischen Weltbilds arbeiten und ständig versuchen, ihren gesellschaftlichen und politischen Einfluss auszuweiten. Dies ist ein schleichender Prozess, der für Außenstehende schwer nachzuvollziehen ist, da sich die entsprechenden Akteure in der Regel nach außen angepasst verhalten. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie das bestehende politische System durch eine vermeintlich von Gott gewollte Ordnung ersetzen wollen, die über allen von Menschen gemachten Regeln steht. Diese Doktrin ist mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar. Das in den letzten Jahren zu verzeichnende Anwachsen des Bevölkerungsanteils mit muslimischer Religionszugehörigkeit bietet den Anhängern legalistischer Strömungen verstärkt die Gelegenheit, für ihre Überzeugungen zu werben. Der Gefahr, dass ihre Vorstellungen und Ideologien auf breitere Akzeptanz stoßen, ist entgegenzuwirken. Dies gilt umso mehr, als die Bereitschaft Einzelner, sich für einen jihadistischen Weg zu entscheiden, zumindest mittelbar über eine Befassung mit legalistischen Ideologieelementen gefördert werden kann. Relevant sind insoweit auch Predigten, die in Sachsen-Anhalt in Moscheen und Gebetsräumen gehalten wurden und werden. In einem kleineren Teil der Predigten konnten Elemente extremistischer Ideologien festgestellt werden. Das islamistische Personenpotenzial liegt nach wie vor bei etwa 400 Personen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 228 IslamIsmus Antisemitismus im Islamismus Im Kontext des aktuellen Nahostkonflikts wurde es einmal mehr deutlich, dass Antisemitismus ein wesentliches Element in der Ideologie des gesamten islamistischen Spektrums darstellt. Unter Antisemitismus versteht man die politisch, sozial, rassistisch oder religiös begründete Feindschaft gegenüber Juden. Er richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein. Dieser Antisemitismus äußert sich teils latent, teils offen und oft im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt in Form von Israelfeindlichkeit. Nahezu alle in Deutschland aktiven islamistischen Organisationen hegen antisemitisches Gedankengut und verbreiten es auf unterschiedlichsten Wegen. Die Forderung nach der Vernichtung des jüdischen Staates stellt für diese Organisationen, ihre Mitglieder und Unterstützer einen gemeinsamen Nenner dar. Antisemitische Israelfeindschaft und judenfeindliche Erlösungserzählungen werden u. a. von der Muslimbruderschaft, der HAMAS, der "Hizb Allah", dem IS und al-Qaida vertreten und verbreitet. Dabei wird der Staat Israel zu einer Übermacht verklärt, die als "Kriegstreiber" die Weltpolitik manipuliere und für alle Krisen und Konflikte in der arabischen Welt verantwortlich sei. Die Charakterisierung Israels und aller "Zionisten" als existenzielle Feinde des Islam wird als Vorwand genutzt, um jede Form von Gewalt gegen Israel und seine Bevölkerung als legitime Akte der "Notwehr", "Selbstverteidigung" und des "Widerstands" zu rechtfertigen. Unter Rückgriff auf die antisemitische Verschwörungserzählung, wonach Juden die "Weltherrschaft" innehätten oder diese beanspruchen würden, dehnen Islamisten das Feindbild des jüdischen "Drahtund Strippenziehers" auf Israel und die mit ihm verbündeten, vermeintlich von Juden gelenkten westlichen Staaten aus - die sogenannte "zionistisch-kreuzVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 229 IslamIsmus züglerische Allianz" - und rufen zur Gewalt (u. a. in Form von Anschlägen) auch in den USA, Deutschland und anderen liberalen Demokratien auf. Ein anderes, weit verbreitetes islamistisches Narrativ des israelbezogenen Antisemitismus überträgt klassische antisemitische Vorwürfe gegen Juden als "Ritualmörder" auf den Staat Israel ("Kindermörder Israel"). Die antijüdische Legende vom "Ritualmord" stammt ursprünglich aus dem christlichen Mittelalter und unterstellte Juden, gezielt Kinder zu entführen und zu töten, um mit ihrem Blut das Brot für das Pessach-Fest zu backen. Ebenso wie beim Vorwurf des "Genozids" an Palästinensern ist allerdings weder im militärischen noch im politischen Handeln Israels im Nahost-Konflikt eine gezielte oder systematische Tötungsabsicht gegenüber Kindern erkennbar. Dennoch verbreiten Islamisten auf Demonstrationen und im Internet teils manipulierte Bilder von getöteten und verletzten Kindern mit dem damit verbundenen Vorwurf, Israel wolle durch die planvolle Tötung von Kindern das palästinensische Volk "ausrotten". Die hohe Emotionalisierung durch den Nahost-Krieg, die Normalisierung von antisemitischer Hasssprache in Online-Diskursen sowie der Kontakt mit der intensivierten Propaganda dschihadistischer und anderer islamistischer Gruppierungen im Internet können dazu führen, dass sich antisemitische Einstellungen insbesondere bei jungen Menschen mit arabischem Migrationshintergrund weiter verfestigen und auch bei bislang eher gemäßigt auftretenden Personen zu einer Radikalisierung beitragen. Folgende Narrative des israelbezogenen Antisemitismus finden in den Reaktionen auf den aktuellen Nahost-Konflikt besonders häufig Verwendung: (1) der "Genozid"-Vorwurf gegen Israel, (2) die Gleichsetzung von israelischem Regierungshandeln mit den Verbrechen des NS-Regimes und (3) die Parole "From the river to the sea, Palestine will be free". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 230 IslamIsmus Der "Genozid"-Vorwurf Vorwürfe gegen Israel, einen "Genozid", "Völkermord" oder "ethnische Säuberungen" am palästinensischen Volk zu verüben, werden besonders häufig auch vom islamistischen Spektrum aufgegriffen. Dabei wird in der Regel einseitig das militärische Vorgehen Israels im Gazastreifen kritisiert und auf die hohe Zahl ziviler Opfer hingewiesen, während die Anschläge und der Raketenbeschuss der HAMAS und anderer palästinensischer Terrororganisationen auf Israel und seine Zivilbevölkerung vor, am und nach dem 7. Oktober 2023 entweder verschwiegen oder als legitime Akte des "Widerstands gegen die Unterdrückung des palästinensischen Volkes" gerechtfertigt werden. Hierin sind die antisemitischen Diskursmuster der Täter-Opfer-Umkehr und der "doppelten Standards" erkennbar, die an Israel angelegt werden. Mit dem Ziel, Israel zu dämonisieren und zu delegitimieren, stellt der "Genozid"-Vorwurf Israel als "Unterdrücker" Palästinas dar, der allein für das Leid aller Palästinenser verantwortlich sei, während die Palästinenser ausschließlich als unbeteiligte "Opfer" des Konflikts betrachtet werden. Gleichsetzung mit dem NS-Regime Immer wieder verbreiten islamistische Akteure Narrative, die den Staat Israel oder seine politischen und militärischen Handlungen mit dem nationalsozialistischen Regime und seinen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichsetzen. Dies geschieht zum Teil in Form direkter Anschuldigungen wie mit dem Vorwurf, Israel würde die Palästinenser "im Grunde genauso behandeln" wie das nationalsozialistische Deutschland die Juden, Israel bzw. "die Zionisten" hätten im Gazastreifen ein "Konzentrationslager" bzw. ein "Ghetto" geschaffen und würden im Umgang mit den Palästinensern den "Holocaust" wiederholen ("One Holocaust does not justify another"). Zum Teil werden die Vorwürfe aber auch subtiler vorgetragen, beispielsweise in der Formulierung der Frage: "Aber was macht der 'Jude' denn jetzt mit den Palästinensern? [...] [H]at der 'Jude' damals nichts Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 231 IslamIsmus gelernt?"6 Allen Varianten dieses Narrativs ist gemein, dass sie - ähnlich wie beim Vorwurf des "Völkermords" - Israel eine Vernichtungsabsicht gegenüber dem palästinensischen Volk unterstellen und das politische und militärische Regierungshandeln Israels qualitativ mit der systematischen Judenvernichtung und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Nationalsozialismus gleichsetzen. "From the river to the sea, Palestine will be free" Die Parole "From the river to the sea, Palestine will be free" wurde bislang vor allem auf Bannern, Plakaten und in Sprechchören im Zusammenhang mit dem propalästinensischen Versammlungsgeschehen in Reaktion auf den Nahost-Konflikt verwendet. Dabei standen auch Akteure der islamistischen Szene im Vordergrund. Der Ausspruch "From the river to the sea" wurde vermutlich von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) unter Jassir Arafat geprägt und bezog sich auf deren Forderung in den 1960er Jahren, einen einzigen, zusammenhängenden palästinensischen Nationalstaat zwischen Jordan und Mittelmeer zu schaffen. Seither hat sich die Parole als fester Bestandteil der israelfeindlichen und propalästinensischen Agitation in vielen Ländern etabliert und wird von terroristischen Organisationen wie der HAMAS verwendet, welche die Formulierung in ihrer überarbeiteten Charta von 2017 aufgreift. Im Zuge des Betätigungsverbots der HAMAS und von Samidoun durch das BMI vom 2. November 2023 wurde auch die Verwendung des Ausspruchs "From the river to the sea, Palestine will be free" verboten; seither ist sie nach SS 86a StGB bzw. SS 20 Abs. 1 Satz 5 VereinsG potenziell strafbar. Außerdem haben 6 - Dieses Beispiel stammt aus Briefen und E-Mails an die israelische Botschaft und den Zentralrat der Juden in Deutschland und wird zitiert nach Armin Pfahl-Traughber: Antizionistischer und israelfeindlicher Antisemitismus. Definitionen, Differenzierungen, Kontroversen, in: bpb.de, 30.04.2020, URL: www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/307746/antizionistischer-und-israelfeindlicherantisemitismus/. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 232 IslamIsmus die Generalstaatsanwaltschaften einzelner Bundesländer die Verwendung der Parole als potenziellen Straftatbestand nach SS 130 StGB (Berlin) bzw. SS 140 StGB (Sachsen-Anhalt) eingestuft. Seither wird die Parole in ihrer ursprünglichen Form deutlich seltener offen verwendet, sondern häufig teilweise geschwärzt oder auf andere Art verfremdet, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Im Jahr 2023 kam es infolge des israelischen Verteidigungskampfes aufgrund des HAMAS-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 auch in Sachsen-Anhalt zu zahlreichen Äußerungen von Israelfeindlichkeit und von Antisemitismus. Die häufigste Art der Äußerung war die Verbreitung von gewaltverherrlichendem und volksverhetzendem antiisraelischem Propagandamaterial. Das Existenzrecht Israels wurde darin grundsätzlich in Abrede gestellt. Ferner wurden u. a. der HAMAS zuzuschreibende Videos gepostet, welche die Misshandlung von Leichen israelischer Soldaten zeigten. Die Videos waren mit Koranversen bzw. mit Kommentaren untermalt, die diese Videos verherrlichten. (Das Foto zeigt "Abu Ubaida", den Sprecher der Qassam-Brigaden, des militärischen Flügels der HAMAS. Der rot hinterlegte Schriftzug bedeutet sinngemäß: "Wir sind für einen langen Kampf bereit"). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 233 IslamIsmus Reaktionen und Lageentwicklung nach den Terroranschlägen der HAMAS am 7. Oktober 2023 Nach dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 haben sich Islamisten im virtuellen Raum weltweit darum bemüht, den Angriff zu glorifizieren. Gerade in den sozialen Medien verbreiteten Islamisten Bilder von getöteten Zivilisten (vor allem von getöteten Kindern) und von Angriffen auf die zivile Infrastruktur, um diese in ihrem Sinne propagandistisch umzudeuten und auch für spontane Mobilisierungen zu verwenden. Bundesweit gingen Droh-E-Mails bei zahlreichen privaten und öffentlichen Einrichtungen ein. Obwohl aufgrund der Vielzahl der eingegangenen E-Mails kein spezifischer Bezug zu einzelnen Bundesländern oder konkreten Einrichtungen zu erkennen war, fiel in Sachsen-Anhalt insbesondere ein Iraner auf, der mittlerweile in Nordrhein-Westfalen wohnhaft ist. Die bei den Sicherheitsbehörden als Vielschreiber bekannte Person ließ jüdischen Einrichtungen in Halle (Saale) in regelmäßigen Abständen sowohl auf elektronischem als auch postalischem Weg Schreiben mit antisemitischen, diskriminierenden und ehrverletzenden Inhalten zukommen. Überwiegend betroffen davon war die Jüdische Gemeinde in Halle (Saale) und deren Rabbiner. Wenngleich nicht alle der bundesweit versandten Droh-E-Mails einen rein islamistischen Inhalt aufwiesen und sich die Motivlagen der Verfasser unterschieden, erreichten diese mit Ihrem Vorgehen den Aufbau einer Drohkulisse und die Beeinträchtigung des subjektiven Sicherheitsgefühls der Bevölkerung. Im Rahmen der Online-Recherche zu Reaktionen in sozialen Netzwerken stieß die Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt auf einen streng konservativen Ägypter, der anlässlich der terroristischen Angriffe auf Israel auf seinem Facebookprofil gewaltverherrlichendes, antisemitisches, antiisraelisches und volksverhetzendes Propagandamaterial mit islamistischem Hintergrund verbreitete. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 234 IslamIsmus Der Anstieg der Zahl antisemitischer Ereignisse zeigt, dass eine Eskalation des Nahost-Konflikts nach wie vor auch in Deutschland zu einer erheblichen Emotionalisierung der muslimischen Bevölkerung bis hin zu gewaltsamen Angriffen führen kann. Es liegt zumindest nahe, dass, wie schon im Rahmen der antisemitischen Vorfälle vom Mai 2021,7 ein Großteil mutmaßlicher antisemitischer Straftaten von Personen aus muslimischen Bevölkerungsgruppen begangen wird, die keinen Bezug zu islamistischen Organisationen aufweisen. Infolge der Normalisierung von antisemitischer Hasssprache in Online-Diskursen, die auch im sogenannten "Mainstream" des Internets zu beobachten ist, besteht die Gefahr, dass auch bisher eher moderate Online-Milieus ein höheres Radikalisierungspotenzial entwickeln. 7 - Der Konflikt zwischen der HAMAS und Israel war am 10. Mai 2021 - dem sogenannten "Jerusalem-Tag", an dem die israelische Souveränität über ganz Jerusalem demonstrativ bekräftigt wird - militärisch eskaliert. Dies hatte seinerzeit auch zu Reaktionen in Deutschland geführt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 235 IslamIsmus Salafismus Gründung Ursprünge in Entwicklungen der islamischen Welt besonders im 18. und 19. Jahrhundert VerbreiSchwerpunkte in Nordrhein-Westfalen und in tung Ballungszentren In Sachsen-Anhalt landesweit (mit Schwerpunkt in Halle (Saale)), doch ohne gefestigte Strukturen Struktur In Sachsen-Anhalt sind einzelne Anhänger festAufbau stellbar Mitglieder Land: etwa 105 Personen (2022: etwa 100) Anhänger Bund: etwa 10.500 (2022: etwa 11.000) VeröffentWeb-Angebote, soziale Netzwerke lichungen FinanzieSpenden rung Kurzportrait / Ziele Beim "Salafismus" handelt es sich um eine besonders strikte und unduldsame Strömung innerhalb des islamistischen Spektrums. Der Begriff des "Salafismus" lehnt sich an das Selbstverständnis von Salafisten an, wonach Handlungen und Anschauungen des Propheten Muhammad und der drei nachfolgenden Generationen "rechtschaffener Altvorderer" (Arab.: al-salaf as-salih) bereits jetzt und heute als verbindlich zu gelten haben und nicht erst dann, wenn ein "islamischer Staat" errichtet worden ist. Die frühislamische Gemeinde (vom 7. bis 9. Jh. u.Z.) wird nicht nur als das "Goldene Zeitalter" des Islam idealisiert, sondern darüber hinaus als vorbildliche Richtschnur betrachtet, der detailgetreu und kompromisslos zu folgen ist. Dieser RückVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 236 IslamIsmus wärtsgewandtheit der Salafisten hin zu einem vormodernen Lebenswandel liegt die Vorstellung zugrunde, dass das damalige "Goldene Zeitalter" in der heutigen modernen Gesellschaft wiederholt werden muss, so dass dem Islam wieder zur alten Stärke verholfen werden kann. Voraussetzung hierfür ist aus salafistischer Sicht die Umgestaltung von Staat und Gesellschaft nach dem Vorbild der frühislamischen Gemeinde. Salafisten verfügen über ein sehr einseitiges, stark polarisiertes Weltund Menschenbild. Die Welt wird eingeteilt in gut oder böse, Menschen in gläubig oder ungläubig. Entsprechend dieser Zuordnungen erwartet den Menschen nach seinem Tod entweder das Paradies oder die Hölle. Zwischen dem einen und dem anderen Bereich existieren keine Übergänge. Intoleranz und Feindschaft gegenüber dem Anderen wird durch unablässige Wiederholung in sogenannten Schulungen regelrecht "eingeimpft". In ihrem Bestreben, den religiösen Eifer in der salafistischen Szene zu steigern, beschwören salafistische Prediger die Qualen des "Höllenfeuers" und die unermesslichen Freuden des "Paradieses". In diesem Jenseitsszenario wird jede kleinste Abweichung von Sunna und Koran als große Sünde deklariert, die mit drastischen Strafen am Tag des "Jüngsten Gerichts" geahndet werden würde. Auch soll der Eindruck vermittelt werden, dass eine Rettung vor diesen Höllenstrafen nur durch blinden Gehorsam und Scharia-konformes Verhalten möglich sei. Eine solche Drohpädagogik hat vor allem das Ziel, in der Religion unerfahrene/unwissende junge Menschen zu einer bestimmten, d.h. zur salafistischen Lesart von Koran/Islam zu drängen und jedes eigenständige und selbstbestimmte Reflektieren über Religion zu unterbinden. In jihadistischen Kreisen wird der Tod als Märtyrer (arab.: alshahid) als das größte Opfer für den Islam dargestellt. Man Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 237 IslamIsmus interpretiert Hadithe1 des Propheten dergestalt, dass der Märtyrertod der kürzeste Weg ins Paradies sei - das heißt unter Umgehung des "Jüngsten Gerichts" - und so von allen vorherigen Sünden befreit. Die versprochene Absolution aller begangenen Sünden ist auch ein Freibrief für kriminelle Vergehen im Namen des Jihads und für eine Brutalisierung, wie sie insbesondere bei Jihadisten des sog. "Islamischen Staates" zu sehen waren. Grund der Beobachtung Das verfassungsschutzrelevante salafistische Spektrum wird in die Kategorien "jihadistischer Salafismus" und "politischer Salafismus" unterteilt. Beiden Strömungen gemein sind ideologische Grundlagen und die grundsätzliche Befürwortung von Gewalt; die Übergänge zwischen den Strömungen sind fließend. Politische Salafisten vermeiden offene Aufrufe zur Gewalt; sie wollen die Gesellschaft von innen heraus durch Missionierung islamkonform umgestalten. Jihadistische Salafisten verstehen die islamische Religion als eine Ideologie, die es kompromisslos - auch mit Gewalt - durchzusetzen gilt. Die von Gott vorgeschriebenen Regeln sollen über allem stehen. Die salafistische Ideologie steht damit im grundsätzlichen Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der freien Religionsausübung sowie der allgemeinen Gleichberechtigung. 1 - Hadithe sind (zumeist) kurze Texte, in denen eine Begebenheit aus dem Leben des Propheten Muhammads berichtet wird. In diesen Texten wird sowohl über den Propheten berichtet als auch sein Wort bzw. Ausspruch über eine bestimmte Sache überliefert. Hadithe werden nach Sachgebieten geordnet und in Form von Hadith-Sammlungen tradiert. Je nach Hadith-Sammler können bis zu 100.000 Hadithe in solchen Sammlungen vorkommen. Als Quelle von Wissen, Weisheit und Gesetz gelten diese Sammlungen als besonders bedeutsam und rangieren gleich nach dem Koran. Hadithe werden oft herangezogen, um Koranstellen zu interpretieren, da diese ohne den historischen Kontext der Hadithe zu bedeutungsoffen wären. Modernistische Muslime lehnen hingegen die Hadithe für ihre Koraninterpretation ab, weil dadurch der Koran zu deutlich im Verstehenshorizont des 7. Jh. verbliebe. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 238 IslamIsmus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In den vergangenen Jahren traten in mehreren Moscheen vereinzelt Prediger auf, welche die salafistische Ideologie propagierten. In diesen Predigten wird häufig ein vermeintlicher Opferstatus der Muslime herausgestellt. Damit soll bei den Zuhörern eine Schwarz-Weiß-Weltsicht geschaffen, Kampfbereitschaft geweckt und eine Art Wagenburgmentalität ("wir gegen den Rest der Welt") zementiert werden. Daneben ist bei Salafisten auch eine Affinität für Verschwörungstheorien und Falschinformationen feststellbar. In ihren Predigten befürworten sie häufig die Einführung eines an der Scharia orientierten Strafrechtssystems zur Lösung aller Probleme, da die darin vorgesehenen drakonischen Körperstrafen Straftäter aus ihrer Sicht effektiver abschrecken würden. Einzelne dem Salafismus anhängende Personen mit Wohnsitz in Sachsen-Anhalt, darunter Konvertiten, engagierten sich bei salafistischen Organisationen, die ihren Sitz und ihren Aktionsraum in anderen Bundesländern haben. So wurden außerhalb von Sachsen-Anhalt z. B. Informationsstände dieser Organisationen betreut und Veranstaltungen der salafistischen Szene besucht. Die Zahl der Salafisten in Sachsen-Anhalt ist im Berichtsjahr leicht angestiegen. Die Zunahme des Personenpotenzials zeigt, dass der Salafismus auf Menschen, die nach Orientierung suchen, nach wie vor eine starke Anziehungskraft ausübt. Diese Entwicklung liegt zum einen in der Zunahme der aus muslimisch geprägten Kulturkreisen stammenden Einwohner von Sachsen-Anhalt begründet, von denen ein gewisser Prozentsatz eine Nähe zum Salafismus aufweist. Zum anderen ist die bereits seit Jahren zu beobachtende Anziehungskraft charismatischer salafistischer Prediger der Rekrutierung von salafistischem Nachwuchs förderlich. Dies gilt nicht nur für junge Menschen aus Einwandererfamilien, sondern auch für Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 239 IslamIsmus Radikalisierungsund Rekrutierungsprozesse im islamistisch-salafistischen Bereich vollziehen sich insbesondere im digitalen Raum und sind vor allem bei jungen Personen zu beobachten. Neben jungen Heranwachsenden befinden sich z. T. auch Minderjährige darunter. Bei diesem Personenkreis handelt es sich in der Regel um ein ideologisch noch nicht gefestigtes und somit relativ leicht zu beeinflussendes und emotionalisierbares Klientel. Durch geschickte strategische Anpassungen an die Mediennutzung junger Menschen kann jihadistische Propaganda in relativ kurzer Zeit zu sehr schnellen Radikalisierungsverläufen führen, einschließlich der Bereitschaft, islamistisch motivierte Gewalttaten im Sinne von SS 89a StGB zu begehen. Besonders häufig sind diese Online-Rekrutierungen dem IS zuzuordnen, aber auch andere salafistisch-jihadistische Gruppierungen wie z. B. al-Qaida kommen hierbei in Betracht. Nach einer ersten Anbahnung in den sozialen Medien nehmen Salafisten vorzugsweise über Messengerdienste bzw. in deren geschlossenen Chatgruppen (u. a. auch in Kleingruppenkommunikation) Kontakt zu radikalisierten Personen auf. Sie tauschen sich mit ihnen hier über islamistische Propaganda aus, teilen u. a. Anleitungen für Anschläge und stellen Kontakte zu Mitgliedern von terroristischen Gruppierungen her, die in die Strukturen z. B. des IS, aber auch anderer jihadistisch-terroristischer Vereinigungen wie z. B. al-Qaida entsprechend eingebunden sind. Das Thema Kampfsport gewinnt auch im Bereich Islamismus zunehmend an Bedeutung. Islamisten nutzen Kampfsport nicht nur zur körperlichen Ertüchtigung, sondern auch zum Zweck der Vernetzung und Nachwuchsrekrutierung sowie zur physischen Vorbereitung auf den Kampf gegen die vermeintlich "Ungläubigen" und gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Insbesondere salafistisch geprägte Nordkaukasier waren in Sachsen-Anhalt u. a. in Boxund Ringerclubs aktiv. Ringen ist im gesamten Kaukasus ein Volkssport. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sind Kaukasier daher überproportional in RingerverVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 240 IslamIsmus einen anzutreffen. Im Berichtszeitraum konnte nicht festgestellt werden, dass Salafisten in einem Verein eine führende Position einnahmen oder als Verantwortliche fungierten. Insgesamt kann die Entwicklung des Kampfsports im gewaltorientierten Extremismus als Bedingungsfaktor für eine zunehmende Gewaltbereitschaft herangezogen werden. Gleichzeitig bildet Kampfsport auch ein Element zur Vernetzung der Szene. Es ist davon auszugehen, dass bei einschlägigen Kampfsportveranstaltungen eine Reihe von persönlichen Kennverhältnissen entsteht bzw. neue Anhänger geworben werden können. Islamistischer Terrorismus und jihadsalafistische Organisationen Das von den deutschen Sicherheitsbehörden identifizierte islamistisch-terroristische Personenpotenzial (itP) belief sich 2023 auf rund 1.700 Personen (2022: 1.900 Personen). In Sachsen-Anhalt liegt dieses Personenpotenzial im mittleren zweistelligen Bereich. Über das itP werden "gewaltbereite Extremisten im Bereich Islamismus/islamistischer Terrorismus, also (Einzel-)Personen, zu denen Hinweise auf eine persönliche Gewaltbereitschaft vorliegen", unabhängig von ihrer Organisationszugehörigkeit erfasst. Hierunter befindet sich eine Vielzahl von Jihadisten bzw. Mitgliedern und Unterstützern von islamistisch-terroristischen Vereinigungen, die aus ihren jeweiligen Herkunftsländern (insbesondere Syrien) nach Deutschland geflohen sind. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 241 IslamIsmus Diese betreffen unter anderem folgende Terrororganisationen: - "Islamischer Staat" (IS) sowie dessen Ableger "Islamischer Staat Provinz Khorasan"2 (ISPK), - vormalige "Jabhat al-Nusra", jetzt "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS), - "Hizb ut Tahrir" (HuT) - "Al-Shabab", - "Ahrar al-Sham". - Der Islamische Staat (IS) Der IS war auch 2023 die bekannteste der jihadsalafistischen Organisationen, die in der Vergangenheit auch Jugendliche aus Sachsen-Anhalt angezogen hatte. Da Deutschland an Waffenlieferungen und Ausbildungsmaßnahmen für Gegner des IS beteiligt ist, besteht eine Gefährdungslage für deutsche Einrichtungen und Interessen. Der IS ruft explizit zum Kampf unter anderem gegen Deutschland auf. (Übersetzung: "Sie beabsichtigen, das Licht Allahs mit ihren Zungen auszulöschen.") 2 - Khorasan ist eine historische Region in Zentralasien im Gebiet der heutigen Staaten Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 242 IslamIsmus Zu einer verstärkten Bedrohung entwickelte sich im Berichtsjahr der regionale Ableger des IS in Afghanistan, der ISPK. Mit dem ISPK ist ein weiterer weitestgehend eigenständiger jihadistischer Akteur in einem erheblichen Ausmaß in Europa und damit auch in Deutschland aktiv. Beachtenswert war vor allem ein in der 22. Ausgabe der ISPKOnlinepublikation "Voice of Khorasan" veröffentlichter Gewaltaufruf. In dem Text wurde zunächst vor allem gegen die "westliche LGBTQ*-Bewegung" agitiert und anschließend zum bewaffneten "Heiligen Krieg" aufgerufen. Im Magazin fand sich zudem ein Foto einer Berliner Moschee, die als Aushängeschild eines aufgeklärten Islam gilt. Der ISPK bezeichnet Moscheen wie diese, die tolerant gegenüber LSBTIQ* Menschen auftreten, als "place[s] of worship of devils".3 Im Berichtsjahr ließ der ISPK eine wachsende Bereitschaft erkennen, in Europa Anschläge zu verüben. Der russische Angriff auf die Ukraine und die damit verbundenen Fluchtbewegungen nutzte der ISPK, um seine Anhänger im Zuge der Fluchtbewegung nach Europa zu senden. Ein erfolgreicher Anschlag im Westen würde die Reputation des ISPK erhöhen und zur Rekrutierung weiterer Kämpfer führen. Die aktuelle Bedrohungslage durch den ISPK für Deutschland und Europa ist insgesamt als hoch zu bewerten. Mit dem ISPK ist nun ein weiterer weitestgehend eigenständiger jihadistischer Akteur in einem erheblichen Ausmaß in Europa aktiv. Wie relevant diese Gefahr ist, zeigte sich u. a. im März 2023, als der Generalbundesanwalt gegen zwei junge Islamisten, die in Verbindung zum IS standen, Anklage erhob. Einer der Inhaftierten stand im direkten Kontakt zum ISPK. Beide hatten Beziehungen zu weiteren jungen Islamisten und verbreiteten über Chatgruppen Propagandamaterial des IS, Anleitungen zur Herstellung 3 - "Kultstätte der Teufel". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 243 IslamIsmus von Sprengstoffvorrichtungen, Anschlagsplanungen sowie grausame Hinrichtungsvideos. Auch ein in Sachsen-Anhalt wohnhafter Islamist wurde als Mitglied dieser Chatgruppe identifiziert. Im Berichtsjahr konnten die Sicherheitsbehörden zwei in Sachsen-Anhalt wohnhafte Flüchtlinge identifizieren, die im Verdacht stehen, unabhängig voneinander eine terroristische Vereinigung im Ausland unterstützt und eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet zu haben. Eine der beiden Personen war im Besitz eines türkischen und syrischen Passes und hielt sich von Jahresbeginn bis August 2023 an mehreren Orten in Sachsen-Anhalt auf. Der islamistische Gefährder hat sich u. a. im Internet intensiv mit Anschlagsplanungen befasst und mit islamischen Rechtsgutachten auseinandersetzt, die eine Begründung für die vermeintliche Zulässigkeit und Legitimität von islamistisch motivierten Selbstmordanschlägen liefern. Zudem gab es hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Gefährder fortdauernd in Kontakt mit Vertretern des IS stand und jenen gegenüber deutlich seine Bereitschaft, Anschläge zu verüben, geäußert hatte. Die zunächst begonnenen nachrichtendienstlichen Maßnahmen wurden schließlich durch Einbeziehung der Strafverfolgungsbehörden erweitert. So wurde der Betroffene permanent von der Polizei überwacht und es wurden weitere geeignete und erforderliche gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen ergriffen. Neben dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren insbesondere wegen des Verdachts der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat nach SS 89a StGB wurde zum Zwecke der Gefahrenabwehr eine Abschiebungsanordnung nach SS 58a AufenthG erlassen, einschließlich eines unbefristeten Einreiseund Aufenthaltsverbots für Deutschland. Im Anschluss erfolgte eine begleitete Ausreise des Betroffenen. Bei der zweiten Person, von der im Berichtszeitraum eine konkrete Gefährdung für die öffentliche Sicherheit ausging, handelte es sich um einen 20jährigen Flüchtling aus dem Irak, der in Oschersleben (Landkreis Börde) wohnte. Dieser hatte in einem Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 244 IslamIsmus Internetchat angekündigt, für den IS einen Terroranschlag auf Großveranstaltungen in der Weihnachtszeit verüben zu wollen. Die Ermittlungen ergaben, dass der Islamist mit einem Vertreter des IS in Verbindung gestanden und sich in den sozialen Medien bzw. einschlägigen Chatgruppen unter anderem mit der Frage befasst hatte, wie er Schusswaffen erwerben und mit Sprengstoff einen islamistischen Anschlag begehen könnte. Zum Zweck der Gefahrenabwehr wurde der Betroffene an seinem Arbeitsort in Niedersachsen in polizeilichen Präventivgewahrsam genommen. Auf der Grundlage einer auf Tatsachen gestützten Prognose, dass von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, wurde nach SS 58a AufenthG vom Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt eine Abschiebungsanordnung erlassen und darüber hinaus ein unbefristetes Einreiseund Aufenthaltsverbot für Deutschland verfügt. Die Rückführung des Islamisten in dessen Herkunftsland Irak ist direkt aus dem polizeilichen Präventivgewahrsam heraus vollzogen worden. Darüber hinaus erreichen die Verfassungsschutzbehörde nach wie vor Hinweise zu mutmaßlichen IS-Sympathisanten und/ oder ehemaligen Kämpfern aus dem syrischen Jihadgebiet, welche sich inzwischen als Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Hierzu zählt auch der Fall eines Syrers, der als Bataillons-Kommandeur der dem IS nahestehenden "Liwa Jund ar Rahman" im syrischen Bürgerkrieg gekämpft hat. Bei der im Februar 2013 gegründeten "Liwa Jund ar Rahman" (Brigade der Soldaten der Barmherzigen) handelt es sich um eine nach SS 129a, SS 129b StGB als terroristische Vereinigung im Ausland eingestufte, bewaffnete Rebellengruppe, deren Ziel der gewaltsame Sturz der syrischen Regierung war. Die Vereinigung bekannte sich zunächst zur "Freien Syrischen Armee" (FSA), bediente sich jedoch von Beginn an islamistischer Rhetorik und Symbolik. Spätestens seit April 2013 nahm die Vereinigung im Rahmen des syrischen Bürgerkrieges wiederholt an Kampfhandlungen teil. Anfang Juli 2014 unterstellte der Anführer der "Liwa Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 245 IslamIsmus Jund al Rahman" die Kampfgruppe samt all ihrer Kämpfer, Ausrüstung und Finanzen dem IS. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Gefährdungslage durch den IS in Deutschland und Europa war auch 2023 abstrakt hoch. Das wahrscheinlichste Anschlagsszenario stellen weiterhin durch Propaganda inspirierte Einzeltäter oder Kleinstzellen dar. Insbesondere die Gefährdung durch den IS-Ableger ISPK bietet Anlass zur Sorge. Al-Qaida-nahe Terrororganisationen wie die in Nordwestsyrien aktive "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS) werden - wie schon im Berichtsjahr - auch 2024 mit dem IS weiter um die regionale Vormacht und um Einfluss konkurrieren. (Flagge der HTS) Die erhebliche Radikalisierungsdynamik in den sozialen Medien und die verstärkte Kommunikation der islamistischen Szene über Messengerdienste bzw. in deren geschlossenen Chatgruppen werden auch in den kommenden Jahren eine der größten Herausforderungen für die Sicherheitsbehörden darstellen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 246 IslamIsmus "Gemeinschaft der Verkündigung der Mission" (Urdu: "Tablighi Jama'at", TJ) Gründung 1926 in Britisch-Indien Verbreidrei religiöse Zentren in Pakistan, Indien und tung Bangladesch in Deutschland keine offizielle Niederlassung Struktur In Deutschland koordinieren zentrale Akteure Aufbau über informelle Kontakte in einem hierarchisch aufgebauten Netzwerk die Arbeit der TJ Mitglieder Land: mittlerer zweistelliger Bereich Anhänger (2022: ebenso) Bund: etwa 550 (2022: ebenso) FinanzieSpenden rung Kurzportrait / Ziele Die TJ ist eine transnationale Massenbewegung mit etwa 12 Millionen Anhängern weltweit. Sie orientiert sich eng an dem Islamverständnis der islamischen Frühzeit. Im Jahr 2017 kam es auf der Führungsebene der TJ zu einem offenen Streit um die Einführung von Reformen. Die darauf einsetzenden Spaltungstendenzen zwischen Gegnern und Befürwortern führte zu schweren Konflikten innerhalb der internationalen TJ-Zentren. Der Schwerpunkt der Aktivitäten der TJ in Deutschland liegt weiterhin auf der Gewinnung neuer Anhänger, der Missionierung und ideologischen Schulung der Mitglieder. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 247 IslamIsmus Grund der Beobachtung Die TJ propagiert eine wörtliche Auslegung des Korans und der Sunna, eine rigorose Abgrenzung zu Nichtmuslimen und eine Ausgrenzung von Frauen von der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe. Die Ablehnung der weltlichen Prinzipien und die Abgrenzung gegenüber Nichtmuslimen begünstigen die Bildung von Parallelgesellschaften und fördern individuelle Radikalisierungsprozesse. Das Erreichen eines auf den in der Scharia enthaltenen Rechtsvorschriften basierenden Lebens ist das erklärte Ziel der TJ. Damit gehen von der TJ Bestrebungen aus, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Nach dem Auslaufen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kam es Ende 2022 zu einem Anstieg der Reisetätigkeiten der TJ-Anhänger in und nach Sachsen-Anhalt, der sich auch 2023 fortsetzte. Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten waren verschiedene Moscheen in Sachsen-Anhalt. Im Rahmen der Kontaktaufnahme wurden Einladungen zu Gebeten, Moscheebesuchen oder anderen Veranstaltungen ausgesprochen. Zielgruppen waren einerseits Muslime mit vermeintlich unzureichender Beachtung der Glaubensriten und anderseits Nichtmuslime. Die Anhänger der TJ aus Sachsen-Anhalt sind an das globale Netzwerk der TJ angeschlossen. Sie beteiligen sich an Missionierungsreisen im Inund Ausland. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Anhängerzahl der TJ in Sachsen-Anhalt ist weitestgehend gleich geblieben. Die TJ ist aber weiterhin bestrebt, mit der Ausweitung ihrer Missionierungstätigkeit neue Anhänger zu werben. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 248 IslamIsmus Muslimbruderschaft (MB) / "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) / HAMAS Gründung MB: 1928 in Ägypten DMG (IGD): 1958 HAMAS: 1987 VerbreiHauptsitz der DMG in Köln (Nordrhein-Westfalen) tung in Sachsen-Anhalt landesweit, Struktur Die im Jahr 2018 in DMG umbenannte IGD gehörAufbau te zu den Gründungsmitgliedern der "Föderation islamischer Organisationen in Europa" (FIOE), die als Sammelbecken für Organisationen der MB in Europa gilt. Mitglieder Land: 17 (2022: 20) Anhänger Bund: etwa 1.450 (2022: 1.450) FinanzieSpenden rung Kurzportrait / Ziele Die MB gilt als älteste und einflussreichste organisierte sunnitische islamistische Bewegung. Zahlreiche islamistische Organisationen, zum Beispiel die DMG in Deutschland und die terroristische palästinensische HAMAS, sind aus der MB hervorgegangen. Programmatischer Kernpunkt der MB ist die Einheit von Religion und Staat. Ihr Ziel ist die schrittweise Durchsetzung islamischer Rechtsvorschriften (Scharia). Gewaltanwendung wird dabei nicht ausgeschlossen, doch nicht vorrangig angestrebt. In mehreren islamischen Ländern ist die MB verboten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 249 IslamIsmus Die MB lehnt demokratische Staatssysteme ab, agiert aber pragmatisch. Ihre meist gebildeten und eloquenten Vertreter engagieren sich häufig gesellschaftlich, um Einfluss zu gewinnen. Vertreter der MB stellen nach außen hin demokratische Prinzipien nicht in Frage und erwecken häufig den Anschein, eine vergleichsweise "moderate" Islamauslegung zu vertreten. Die DMG ist die wichtigste und zentrale Organisation von Anhängern der MB in Deutschland. Ihr Ziel ist, sich als anerkannter Ansprechpartner zum Thema Islam zu etablieren. Zu diesem Zweck werden offene Bekenntnisse zur MB möglichst vermieden. Als Reaktion auf den Ausbruch der ersten "Intifada" ("Aufstand") der Palästinenser im Dezember 1987 schlossen sich die palästinensischen Anhänger der ursprünglich ägyptischen MB zur HAMAS zusammen. In ihrer Charta von 1988 bekennt sich die Organisation zu dem Ziel, auf dem gesamten Gebiet "Palästinas" einen islamischen Staat zu errichten - auch durch Führung eines bewaffneten Kampfes. Unter "Palästina" versteht die HAMAS dabei das Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan, welches somit auch das Territorium des Staates Israel umfasst. Grund der Beobachtung Die von Gott vorgeschriebenen Regeln sollen über allem stehen. Damit steht die Ideologie der Muslimbruderschaft im Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der freien Religionsausübung und der allgemeinen Gleichberechtigung. Bezüglich der HAMAS ist festzustellen, dass sie bereits vor ihrem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023 für zahlreiche Selbstmordattentate und Raketenangriffe auf israelisches Territorium verantwortlich war. Ihre Aktivitäten richten sich somit gegen den Gedanken der Völkerverständigung und sind geeignet, sowohl deutsche Interessen im Ausland als auch israelische und jüdische Interessen im Inland zu gefährden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 250 IslamIsmus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Vereinzelt traten in Moscheen Prediger auf, die ideologische Standpunkte der Muslimbruderschaft propagierten. Die Erwähnung einschlägiger Aktivitäten im Land in den Verfassungsschutzberichten des Landes Sachsen-Anhalt seit 2017 führte offensichtlich zur Zurückhaltung bei den öffentlichen Äußerungen von Anhängern der MB. Ein dominierender Einfluss von MB-Anhängern auf einen Moscheeverein war bis 2020 wahrnehmbar. Die HAMAS ist mit Verfügung vom 2. November 2023 vom BMI mit einem Vereinsverbot belegt worden. Infolge dieses Verbots ist u. a. auch die Verbreitung der beiden nachfolgenden Kennzeichen der HAMAS strafbar. Das offizielle Wappen der Organisation "HARAKAT AL-MUQAWAMA AL-ISLAMIYA" (HAMAS) zeigt den Felsendom in Jerusalem und davor zwei sich kreuzende Schwerter. Links und rechts sind zwei Flaggen Palästinas zu sehen, die jeweils einen Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses enthalten: "Es gibt keinen Gott außer Gott" (rechts) sowie "Muhammad ist der Gesandte Gottes" (links). Direkt unterhalb der beiden Schwerter ist der Name "Palästina" zu lesen. Darunter im grünen Band steht der Name der HAMAS. Ganz oben ist grüngefärbt die stilisierte Karte "Palästinas" in den Grenzen der Zeit vor 1947 zu sehen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 251 IslamIsmus In einer weiteren, ähnlichen Version des Wappens ist der Felsendom in Jerusalem gold-gelb eingefärbt. Die Karte "Palästinas" in den Grenzen der Zeit vor 1947 ist hier rot statt grün dargestellt. Der Text auf dem grünen Band unten im Bild gleicht demjenigen Text auf dem offiziellen Wappen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick In Sachsen-Anhalt gibt es nach wie vor Personen, die der Ideologie der Muslimbruderschaft folgen. Die in Sachsen-Anhalt aktiven 17 Personen sind größtenteils Persönlichkeiten, die führende Funktionen in ihren jeweiligen Gemeinden innehaben. Ihr Ziel ist letztlich die Abschaffung der Demokratie und die Gründung eines auf religiösen Regeln basierenden Gottesstaates. Sie sind bestrebt, das Gedankengut der Muslimbruderschaft weiter zu verbreiten, und bemüht, sich als gemäßigte Muslime darzustellen. Es besteht unverändert die Gefahr, dass die Selbstinszenierung der MB-Anhänger als vertrauenswürdige zivilgesellschaftliche Akteure bei Verantwortungsträgern in Kommunen, Land, Kirchen und Zivilgesellschaft verfängt und zu Fehleinschätzungen führen kann. Mitarbeiter von Behörden, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sind daher gehalten, kritisch darauf zu achten, wem sie eine Plattform als Gesprächspartner bieten. Als besonders problematisch erweist sich dabei die Tatsache, dass die MB gezielt akademisch ausgebildete Personen akquiriert, die über einen entsprechenden Intellekt und oftmals auch Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 252 IslamIsmus über überdurchschnittliche rhetorische Fähigkeiten verfügen. Diese Fähigkeiten und die Tatsache, dass die MB in Deutschland gewaltlos agiert, lässt MB-Anhänger in den Augen von Politikern, der öffentlichen Verwaltung und von anderen (wie z. B. Kirchen) oftmals als seriöse, vertrauenswürdige Gesprächspartner erscheinen, insbesondere dann, wenn die Bezüge der agierenden Personen zur MB nicht bekannt sind. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 253 Auslandsbezogener Extremismus Einleitung 255 "Arbeiterpartei Kurdistans" (kurdisch: Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) 257 AuslAndsbezogener extremismus AUSLANDESBEZOGENER EXTREMISMUS Auslandsbezogener Extremismus ist ein Sammelbegriff für sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von ausländischen Organisationen und von ihren von Deutschland aus agierenden Strukturen, die nicht religiös motiviert sind. Im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus finden sich Ideologieelemente sowohl aus dem Rechtsund Linksextremismus als auch aus dem Separatismus. Die Aktivitäten extremistischer Organisationen mit Auslandsbezug in Deutschland werden stark von der Situation in den jeweiligen Herkunftsländern bestimmt. Ihr Ziel ist zumeist die radikale Veränderung der politischen Verhältnisse in diesen Ländern, was in vielen Fällen auch mittels Gewalt erreicht werden soll. Deutschland gilt den meisten Organisationen im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus als Rückzugsraum. Der Verfassungsschutz beobachtet diese Organisationen, wenn sie durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden (SS 4 Abs. 1 Nr. 4 VerfSchG-LSA) oder ihre Aktivitäten gegen das Prinzip der Völkerverständigung gerichtet sind (SS 4 Abs. 1 Nr. 5 VerfSchG-LSA). Nach wie vor tritt in Sachsen-Anhalt lediglich die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) mit nennenswerten Strukturen in Erscheinung. Die Aktivitäten ihrer Anhänger beschränken sich im Allgemeinen auf das Requirieren von Spendengeldern und die Durchführung von anlassbezogenen, in der Regel friedlich verlaufenden versammlungsrechtlichen Aktionen. Der Anlass für diese Aktionen sind zumeist politische oder militärische Ereignisse in den kurdischen Siedlungsgebieten in der Türkei, in Syrien oder im Irak. Regelmäßig nehmen PKK-Anhänger aus Sachsen-Anhalt an alljährlichen zentralen Großveranstaltungen wie dem zentralen Newroz-Fest oder dem Internationalen Kurdistanfestival teil. Die PKK nutzt diese Ereignisse, um ihre politischen Forderungen (Anerkennung der kurdischen Identität und Autonomie, Aufhebung des PKK-Verbots) zu propagieren. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 255 AuslAndsbezogener extremismus Im Hinblick auf öffentlichkeitswirksame Aktivitäten wie Kundgebungen oder Demonstrationen von PKK-Anhängern in SachsenAnhalt war im Berichtszeitraum erneut ein Rückgang zu verzeichnen. Nur sporadisch wurden Veranstaltungen mit Bezügen zur PKK durchgeführt, die zudem häufig ihren organisatorischen Ursprung in der linksextremistischen Szene Sachsen-Anhalts hatten. Auch die Zahl der PKK-Anhänger aus Sachsen-Anhalt, die an den alljährlichen Großveranstaltungen teilnahmen, bewegte sich auf eher niedrigem Niveau. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 256 AuslAndsbezogener extremismus "Arbeiterpartei Kurdistans" (kurdisch: Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) Weitere - "Volkskongress Kurehemalige distans" (KONGRA GEL) und be- - "Freiheitsund Demokratiekongress" (KAstehende DEK) Bezeich- - "Gemeinschaften der Kommunen Kurdisnungen: tans" (KKK) Gründung 27. November 1978 in der Türkei VerbreiSitz der Parteiführung in den Kandil-Bergen/ tung Nord-Irak Verbreitung in Kurdistan (Teile der Türkei, Syriens, Iraks und Irans) sowie Europa Struktur Das höchste Entscheidungsorgan der PKK sind die Aufbau "Vereinigten Gemeinschaften Kurdistans" (kurdisch: Koma Civaken Kurdistan, KCK) mit ihrem Präsidenten Abdullah Öcalan. Gemeinsame Vorsitzende der KCK sind Cemil Bayik und Bese Hozat. In Europa werden die Aktivitäten der PKK maßgeblich vom "Kongress der kurdischen demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa" (kurdisch: Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen li Ewropa, KCDK-E), dem politischen Arm der Partei in Europa, bestimmt. Deren Weisungen werden von regelmäßig wechselnden Führungskadern an die Basis weitergegeben. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 257 AuslAndsbezogener extremismus Die PKK unterteilt das Bundesgebiet in neun Regionen (Eyalet), die wiederum in 30 verschiedene Gebiete (Bölge) aufgeteilt sind. Sachsen-Anhalt findet sich hierbei im Gebiet Sachsen bzw. der übergeordneten Region Berlin wieder. Zur Umsetzung ihrer Vorgaben bedient sich die PKK-Führung in Europa und Deutschland der örtlichen kurdischen Kulturvereine. Diese Vereine sind zu einem großen Teil in der Dachorganisation "Konföderation der Gesellschaften Mezopotamiens in Deutschland" (kurdisch: Konfederasyona Civaken Mezopotamyaye li Elmanyaye, KON-MED) organisiert. Mithilfe ihrer fünf untergeordneten Föderationen führt die KON-MED die Aufgaben als nun zuständiger Dachverband weiter. PKK-nahe Vereine auf dem Gebiet Sachsen-Anhalts werden von der "Freien Kurdistan Föderation Ostdeutschland" (kurdisch: Federasoyna Kurdistaniyen Azad li Rojhilate Almayna, FED-KURD) vertreten. Dazu gehören das "Demokratische Kurdische Gesellschaftszentrum (Kurdisch: Demokratik Kürt Toplum Merkezi, DKTM) Magdeburg" sowie der Verein "Mezopotamien Kulturhaus e. V. in Halle (Saale) (auch DKTM Halle (Saale)). Die kurdischen Vereine dienen den PKK-Anhängern als Anlaufstelle und Treffpunkt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 258 AuslAndsbezogener extremismus Überdies versucht die PKK mithilfe von Massenorganisationen, in denen sich PKK-Anhänger entsprechend ihrer Berufsund Interessengruppen zusammenfinden, Kurden weiter an die Partei zu binden. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Jugendorganisation "Komalen Ciwan"/"Ciwanen Azad" bzw. deren europäische Jugenddachorganisation "Tevgera Ciwanen Soresger" (TCS), die "Kurdische Frauenbewegung in Europa" (kurdisch: Tevgera Jinen Kurd li-Ewropaye, TJK-E) und die Studentenorganisation "Verband der Studierenden aus Kurdistan" (kurdisch: Yekitiya Xwendekaren Kurdistan, YXK). Die Mitglieder beziehungsweise Anhänger dieser Organisationen bilden ein großes Mobilisierungspotenzial für die zahlreichen Veranstaltungen der PKK. Zudem rekrutiert die PKK insbesondere in den Jugendorganisationen ihren Nachwuchs für den bewaffneten Kampf in den kurdischen Siedlungsgebieten. Mitglieder Land: etwa 250 (2022: etwa 250) Anhänger Bund: etwa 14.500 (2022: etwa 14.500) VeröffentPKK-Nachrichtenagentur "Ajansa Nuceyan a Firalichungen te" (ANF), Publikationen: "Yeni Özgür Politika" (YÖP) "Serxwerbun" (Unabhängigkeit) FinanzieSpenden, Einnahmen aus dem Verkauf von rung kurdischen Publikationen und Eintrittskarten für diverse Großveranstaltungen, Mitgliedsbeiträge von der PKK nahestehenden Vereinen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 259 AuslAndsbezogener extremismus Kurzportrait / Ziele Abdullah Öcalan gründete gemeinsam mit weiteren Protagonisten im Jahr 1978 die marxistisch ausgerichtete PKK, deren ursprüngliches Ziel in der Schaffung eines unabhängigen kurdischen Staates auf den Gebieten Südostanatolien, Nord-Irak sowie Teilen des westlichen Irans und des nördlichen Syriens bestand. In dem Selbstverständnis, alleiniger Interessenvertreter der kurdischstämmigen Bevölkerung zu sein, rief Öcalan 1984 zur Durchsetzung dieses Ziels zum bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat auf. In der Folge kam es zu zahlreichen terroristischen Anschlägen innerhalb und außerhalb der Türkei, so auch gegen türkische Einrichtungen in Deutschland. Bis heute sind diesen Auseinandersetzungen mehr als 45.000 Menschen zum Opfer gefallen. Aufgrund dessen unterliegen die PKK sowie ihre Nachfolgeorganisationen seit 1993 in Deutschland einem Betätigungsverbot. Seit 2002 ist die PKK darüber hinaus bei der Europäischen Union als terroristische Organisation gelistet. Mit Urteil vom 28. Oktober 2010 (3 StR 179/10) bestätigte der BGH, dass es sich bei den Strukturen der PKK nicht um selbständige Teilorganisationen handelt, sondern insgesamt um eine terroristische Vereinigung im Ausland. Die ständige (aktuelle) Rechtsprechung bundesdeutscher Oberlandesgerichte stuft die PKK auch weiterhin als terroristische Vereinigung ein. Mit der Verhaftung Abdullah Öcalans im Jahr 1999 rückte die PKK zwar von ihren separatistischen Zielen ab; seitdem bemüht sie sich um eine autonome Selbstverwaltung der Kurden innerhalb der bestehenden Ländergrenzen. Dennoch versucht sie weiterhin, ihre Ziele mit gewaltsamen Mitteln, einschließlich der Tötung von Menschen, zu erreichen. Während die PKK auf dem Gebiet der Türkei terroristische Anschläge durchführt, bemüht sie sich in Europa um ein gewaltfreies Auftreten. Europa und insbesondere Deutschland stellen für die PKK eine unverzichtbare rückwärtige Basis dar, aus der Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 260 AuslAndsbezogener extremismus die Organisation den Großteil ihrer personellen und finanziellen Ressourcen schöpft. Zur Propagierung ihrer Ideologie nutzt die PKK insbesondere ihre jährlich wiederkehrenden zentralen Großveranstaltungen, zu denen sich in der Vergangenheit teils tausende Anhänger mobilisieren ließen. Das vorhandene Mobilisierungspotenzial kann dabei deutlich über die genannte Anhängerzahl hinausgehen. Grund der Beobachtung Trotz ihres Kurswechsels Mitte der neunziger Jahre zu weitgehend friedlichem Verhalten in Deutschland stellt die PKK, insbesondere wegen ihrer fortwährenden Bereitschaft, zu gewaltorientierten Aktionen zurückzukehren, nach wie vor eine Bedrohung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Darüber hinaus verfolgt die PKK ihre Ziele besonders in den kurdischen Siedlungsgebieten weiterhin mit Waffengewalt. Mit diesem Verhalten gefährdet sie die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des SS 4 Abs. 1 Nr. 4 VerfSchG-LSA. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Wiederkehrendes Veranstaltungsgeschehen Am 7. Januar 2023 fand in Paris (Frankreich) die alljährliche PKKAuftaktdemonstration anlässlich des Jahrestags des Attentats auf die PKK-Aktivistinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez statt.1 Aus Sicht der PKK ist diese Tat bis heute nicht vollständig aufgeklärt; die Verantwortung dafür sucht sie u. a. bei den französischen Sicherheitsbehörden. Daraus leitete sich wohl das Motto der Demonstration "Staatsgeheimnis aufheben, zehn Jahre Straffreiheit beenden!" ab. Die Veranstaltung 1 - Die drei Frauen wurden am 9. Januar 2013 in Paris erschossen. Saylemez stammte aus Halle (Saale) und war zuletzt als Funktionärin in der PKK-Jugend bekannt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 261 AuslAndsbezogener extremismus wurde auch dazu genutzt, um drei weiteren am 23. Dezember 2022 ebenfalls in Paris getöteten PKK-Mitgliedern zu gedenken.2 Neben dieser zentralen Veranstaltung, an der etwa 10.000 Menschen teilnahmen, fanden bundesweit zahlreiche regionale Aktionen statt. So mobilisierte das "Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg"3 für den 7. Januar 2023 zu einer Gedenkveranstaltung in Magdeburg. In Halle (Saale) veranstaltete das "Rojava Solibündnis Halle"4 eine Kundgebung unter dem Motto "Ermordung der kurdischen AktivistInnen Sara, Rojbin und Rohnahi", an der etwa 150 Personen teilnahmen. Im Verlauf der Kundgebung skandierten einige Teilnehmer PKK-Rufe. Darüber hinaus wurden Flyer der KCK verteilt. Anlässlich des kurdischen Newroz-Festes fand am 25. März 2023 in Frankfurt am Main (Hessen) die alljährliche zentrale Großkundgebung der PKK statt. Hierzu hatten im Vorfeld die PKK-nahe Organisation KON-MED sowie deren Unterorganisationen mobilisiert. Entgegen allen Erwartungen nahmen daran etwa 35.000 Personen teil. Der Veranstalter selbst hatte mit 15.000 Teilnehmern gerechnet. Auch in Sachsen-Anhalt wurden Eintrittskarten für das zentrale Newroz-Fest verkauft. Am 15. April 2023 nahmen Personen aus Sachsen-Anhalt an einer Demonstration anlässlich des Jahrestags der Festnahme Abdullah Öcalans in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) teil. Diese sonst jeweils um den 15. Februar stattfindende Veranstaltung war aufgrund des Erdbebens, das sich am 6. Februar 2023 in der türkisch-syrischen Grenzregion ereignet hatte, verschoben worden. Erstmals seit vier Jahren fand am 9. September 2023 das Internationale Kurdistan-Festival wieder in Deutschland statt. Es 2 - Ein 69-Jähriger erschoss drei Personen und verletzte drei weitere. 3 - Auch Solibündnis Kurdistan-Magdeburg. Linksextremistisches Bündnis in Magdeburg mit Schwerpunktthema "Kurdistansolidarität". 4 - Linksextremistisches Bündnis in Halle (Saale) mit Schwerpunktthema "Kurdistansolidarität". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 262 AuslAndsbezogener extremismus stand unter dem Motto "100 Jahre nach dem Vertrag von Lausanne: Lösung der kurdischen Frage, Freiheit für Öcalan, Status für Kurdistan". Als Veranstaltungsort wurde Frankfurt am Main gewählt; die "Föderation der demokratischen Gesellschaften Kurdistans e.V." (FCDK-KAWA)5 meldete die Veranstaltung an. Mit der Teilnahme von etwa 12.000 Personen konnte die PKK nach den vergangenen Jahren, mit teils deutlich weniger Personen, einen weiteren Zuwachs verzeichnen. Aus Sachsen-Anhalt reisten einige PKK-Anhänger per Bus an. Bemühungen um eine Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots Die Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots stellt eines der wichtigsten Ziele der in Deutschland lebenden PKK-Anhänger dar. Neben Einzelaktionen führen diese nunmehr seit einigen Jahren während der Herbstmonate eine deutschlandweite Kampagne zum Thema durch. Unter dem Motto "PKK-Verbot aufheben - Demokratie stärken" wurde in PKK-nahen Medien seit September 2023 zu einer Beteiligung an der Kampagne aufgerufen. In zahlreichen deutschen Städten fanden hierzu Informationsund Mobilisierungsveranstaltungen statt, so auch am 17. Oktober 2023 in Salzwedel und am 21. Oktober 2023 in Magdeburg. Beide Veranstaltungen wurden von linksextremistischen Gruppen organisiert. 5 - Eine der fünf KON-MED-Unterorganisationen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 263 AuslAndsbezogener extremismus Bei einer weiteren von der KON-MED organisierten Mobilisierungsveranstaltung am 12. November 2023 in Halle (Saale) trat die Co-Vorsitzende der KON-MED, Ruken Akca, als Rednerin auf. Sämtliche Veranstaltungen warben für die Teilnahme an der Abschlusskundgebung der Kampagne am 18. November 2023 in Berlin, an der etwa 4.000 Personen teilnahmen. Reaktionen auf das Erdbeben in der Türkei Am 6. Februar 2023 ereignete sich im Südosten der Türkei und im Norden Syriens ein folgenschweres Erdbeben, von dem insbesondere kurdische Siedlungsgebiete betroffen waren. Unmittelbar nach dem Ereignis initiierten diverse extremistische Organisationen mit Bezug zur Türkei Sammelaktionen und Spendenaufrufe. Insbesondere die PKK nutzte diese Gelegenheit für propagandistische Zwecke. Die großen PKK-nahen Organisationen (z. B. KON-MED und KCDK-E) führten die von ihnen angekündigten Hilfsaktionen in der Regel gemeinsam mit dem "Kurdischen roten Halbmond" (kurdisch: Heyva Sor a Kurdistane e.V., HSK) durch oder leiteten die gesammelten Gelder diesem zu. Das "Solidaritätsbündnis Magdeburg-Kurdistan" rief für den 9. Februar 2023 zu einer Kundgebung in Magdeburg auf, in deren Verlauf Spenden für den HSK gesammelt wurden. Im Magdeburger Kiezladen "Tacheles" fand zudem ein "Soli-Cafe" statt, bei dem Sachund Geldspenden für die Erdbebenopfer in der Türkei gesammelt wurden. Die Geldspenden gingen ebenfalls an den HSK. Der HSK versteht sich als humanitäre Hilfsorganisation, die sich aus Spendengeldern finanziert. Er ist allerdings nicht mit den staatlich anerkannten Rotkreuzund Rothalbmondgesellschaften gleichzusetzen. Eine Nähe zur PKK streitet der Verein ab. Der gegenteilige Verdacht ergibt sich jedoch aus der regelmäßigen positiven Berichterstattung PKK-naher Medien über die Arbeit des HSK. Darüber hinaus finden auf PKK-Veranstaltungen häufig Sammlungen für den HSK statt. Einige PKK-nahe kurdische Vereine begünstigen laut ihrer Satzung im Auflösungsfall den HSK, so auch der "Mezopotamien Kulturhaus e. V." Halle (Saale). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 264 AuslAndsbezogener extremismus Rekrutierungsbestrebungen Mit ungemindertem Engagement versucht die PKK in Deutschland, junge Menschen zu indoktrinieren und damit für die eigene politische Arbeit in der Organisation oder sogar für den bewaffneten Kampf in den kurdischen Siedlungsgebieten an der Grenze zwischen der Türkei, Syrien und Irak zu gewinnen. Neben der Bildung von Massenorganisationen und der Durchführung von Großveranstaltungen nutzt die PKK auch kleinere Formate wie Vortragsevents, Schulungen oder Workshops für die Verbreitung ihrer Ideologie. Insbesondere junge Menschen werden von diesen Angeboten angesprochen. Ein Beispiel für eines dieser niedrigschwelligen Veranstaltungsformate, die nicht zuletzt der Nachwuchsrekrutierung dienen, war die bundesweite Vorstellung des Buches "Verändern wollte ich eine Menge - Aus dem Leben einer Internationalistin / Ellen Sterk", dessen Autoren und Herausgeber im Rahmen ihrer Lesetour am 7. Februar 2023 in Magdeburg und am 8. Februar 2023 in Halle (Saale) Station machten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 265 AuslAndsbezogener extremismus Das Buch soll das Leben der 2016 verstorbenen, als Internationalistin bezeichneten, Ellen Jaedicke beschreiben, die u. a. mehrere Jahre bei der PKK-Guerilla im Kandil-Gebirge (Irak) verbracht habe. Auch in Deutschland sei sie im Bereich der "Kurdistansolidarität" aktiv gewesen. Die Veranstaltungen wurden jeweils von dem "Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg" und dem "Rojava Solibündnis Halle" organisiert. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Hinblick auf öffentlichkeitswirksame Aktionen von PKK-Anhängern lässt sich für Sachsen-Anhalt eine eher rückläufige Tendenz feststellen. Im Vergleich zu den Jahren vor der Corona-Pandemie fanden im Berichtszeitraum deutlich weniger versammlungsrechtliche Aktionen statt. Selbst vor dem HinterVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 266 AuslAndsbezogener extremismus grund militärischer oder politischer Ereignisse in den kurdischen Siedlungsgebieten kam es selten zu Reaktionen der PKK-Anhänger in Sachsen-Anhalt. Eine mögliche Ursache könnte im Fehlen geeigneter örtlicher Verantwortlicher liegen. Dennoch muss jederzeit davon ausgegangen werden, dass stark emotionalisierende Ereignisse wie eine mögliche Verschlechterung des Gesundheitszustands Öcalans oder eine weitere Verschärfung der Lage in der kurdischen Konfliktregion geeignet sind, Unterstützer und Anhänger der PKK zu öffentlichkeitswirksamen Aktionen zu mobilisieren. Die aktuell rückläufige Entwicklung in Sachsen-Anhalt geht nicht mit dem sonstigen Aktionsgeschehen im Bundesgebiet einher. Deutschlandweit führten PKK-Anhänger im Berichtszeitraum zahlreiche Versammlungen durch. Die in Teilen sehr hohen Teilnehmerzahlen bei den PKK-Großveranstaltungen lassen erkennen, dass nach den pandemiebedingt aktionsarmen Jahren die PKK-Anhängerschaft wieder sehr gut mobilisiert werden kann. Ungeachtet der rückläufigen Entwicklung des versammlungsrechtlichen Geschehens wurden in Sachsen-Anhalt weiterhin uneingeschränkt Spenden für die PKK gesammelt. Diese Tatsache macht deutlich, dass die Beschaffung finanzieller Mittel die absolute Kernaufgabe der eingesetzten PKK-Führungskader darstellt und auch zukünftig sein wird. Die in Deutschland und Europa requirierten Spendengelder sind für die Organisation vor Ort und auch für die Guerilla-Einheiten in den kurdischen Siedlungsgebieten unerlässlich. Um diese Einnahmequelle nicht zu gefährden, setzt die Führung der PKK grundsätzlich auf ein gewaltfreies Auftreten ihrer Anhänger. Dennoch sind Teile der PKK nach wie vor gewillt und in der Lage, auch mit Gewalt auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. So verübten Unbekannte in der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 2023 in Offenbach (Hessen) einen Brandanschlag auf ein Gebäude, in dem mehrere türkische Vereine ihre Geschäftsräume betreiben. Zu diesem Anschlag veröffentlichte die Jugendorganisation der PKK auf ihrer Website ein BekennerVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 267 AuslAndsbezogener extremismus schreiben und ein Video der Tat. Auch wenn es sich hierbei um die Tat einzelner Anhänger handelt, zeigt dieser Anschlag, dass jederzeit auch mit einem gewalttätigen Agieren von PKK-Anhängern in Deutschland gerechnet werden muss. Die anhaltenden Kämpfe der PKK-Guerilla, insbesondere gegen das türkische Militär, führen zu anhaltenden Rekrutierungsbemühungen, da der Bedarf an Kämpfern absehbar nicht nachlassen wird. Mit Veranstaltungen wie der oben erwähnten Vorstellung eines Buches über die Biographie einer PKK-Guerilla-Kämpferin wird das Leben militanter PKK-Anhänger in Teilen romantisch verklärt, die Teilnahme am bewaffneten Kampf verherrlicht. Dies kann insbesondere bei jungen Menschen zu einer falschen Vorstellung über die politische Ideologie der PKK und das Leben in den kurdischen Kampfgebieten führen. Es besteht die Gefahr, dass solche propagandistischen Darstellungen junge Menschen dazu verleiten, sich der PKK oder sogar der Guerilla anzuschließen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 268 Scientology Organisation Scientology organiSation SCIENTOLOGY ORGANISATION (SO) Gründung 1954 von Lafayette Ronald Hubbard (1911-1986) in den USA; 1970 erste Niederlassung in Deutschland Sitz Los Angeles (USA) "Scientology-Kirche Deutschland" (SKD) München; weitere Niederlassungen in Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Hannover und Stuttgart Mitglieder Land: einstelliger Bereich (2022: ebenso) Anhänger Bund: etwa 3.600 (2022: 3.500) Struktur Die SO ist streng hierarchisch organisiert. NachAufbau folger des 1986 verstorbenen Gründers L. Ron Hubbard ist David Miscavige, der die Organisation bis heute als Vorsitzender des Religious Technology Centers (RTC) steuert. Der Dachverband in Deutschland ist die "Scientology-Kirche Deutschland" (SKD) mit Sitz in München. Die lokalen Niederlassungen gliedern sich in sieben sogenannte Kirchen (Orgs), mehrere kleinere Missionen und zwei sogenannte Celebrity Centres in München und Düsseldorf. Große und repräsentative Orgs mit überregionaler Bedeutung, die möglichst alle Dienstleistungen der SO unter einem Dach anbieten, werden als "Ideale Orgs" bezeichnet. Im Rahmen der "Ideal-Org"Kampagnen will die SO weltweit in Städten, die sie zur Erreichung ihrer Ziele als politisch und und wirtschaftlich bedeutsam erachtet, "Ideale Orgs" aufbauen bzw. bestehende Einrichtungen vergrößern. Dieser Aufbau wird allein aus Spenden Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 270 Scientology organiSation finanziert. Derzeit existieren drei "Ideale Orgs" in Deutschland, in Berlin, Hamburg und Stuttgart. Die SO verfügt über einen eigenen Geheimdienst, das "Office of Special Affairs" (OSA), welches gegen SO-kritische Positionen und Personen vorgehen soll. Es ist davon auszugehen, dass die SO mithilfe des OSA zielgerichtet personenbezogene Informationen zu ihren Kritikern und Gegnern sammelt und diese in gerichtlichen Verfahren oder für Diffamierungskampagnen nutzt. Der Church-Bereich (d. h. der Bereich der ideologischen und indoktrinären Kernarbeit) ist neben den Tarnorganisationen "World Institute of Scientology Enterprise" (WISE) und "Association for Better Living and Education" (ABLE) eine der wichtigsten organisatorischen Säulen der SO. Mit Hilfe dieser und anderer Tarnund Nebenorganisationen, wie bspw. "The Way to Happiness Foundation" (TWTH-Foundation), "Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben", "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e. V." (KVPM), soll der Schein einer attraktiven, humanitären und sozialen Organisation gewahrt werden. Da diese Nebenund Tarnorganisationen auf den ersten Blick einen Zusammenhang mit der SO nicht erkennen lassen, wird hierüber versucht, sich in unterschiedliche gesell schaftliche und politische Themen einzubringen, um die Ideologie der SO in die Gesellschaft zu tragen. Hierbei besteht grundsätzlich die Gefahr, dass Veranstaltungen der Nebenund Tarnorganisationen nicht als Aktivität der SO erkannt werden und daher unwissentlich auf Kontaktangebote der SO eingegangen wird. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 271 Scientology organiSation Kurzportrait / Ziele 1 2 Entsprechend der als unveränderlich und bindend betrachteten Ideologie von Hubbard strebt die SO die Verwirklichung eines "Clear-Planet" an: In einem idealen Endzustand sollen alle Menschen der scientologischen Gemeinschaft angehören. Die SO strebt danach, eine Weltordnung zu etablieren, in der die Werte und Ansichten von Scientology universelle Geltung haben. Dieses System würde dem verfassungsrechtlich verankerten Prinzip der Gleichheit grundlegend widersprechen, da die SO alle Menschen in Kategorien wie "Aberrierte" (Nicht-Scientologen), "Nichtaberrierte" (= Scientologen) und geistig Gestörte unterteilt, wobei letztere in ihren Menschenrechten eingeschränkt werden sollen. Um die scientologische "Ethik" durchzusetzen, setzt die SO sich dafür ein, Einfluss auf die Gesellschaft, Wirtschaft und Politik auszuüben. Grund der Beobachtung Seit 1997 wird die SO von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet. Ihre Lehre zielt auf die Einschränkung oder Außerkraftsetzung wesentlicher Grundund Menschenrechte (etwa der Unantastbarkeit der Menschenwürde, der Meinungsfreiheit und der Gleichheit aller vor dem Gesetz) ab. Darüber hinaus strebt die SO eine Gesellschaft ohne allgemeine und gleiche Wahlen an. Während die Organisation ihre extremistischen Ziele nach außen verbergen will oder leugnet, vertritt sie diese unverstellt gegenüber ihren Anhängern und offenbart dabei ihr totalitäres Programm. Mit der Entscheidung des OVG Münster vom 1 - Das "S" steht für Scientology. Das untere ARCDreieck steht für Affinität, Realität und Kommunikation (Communication), das obere KRC-Dreieck steht für Wissen (knowledge), Verantwortung (responsibility) und Kontrolle (control). 2 - Das Scientology-Kreuz entstand 1954, L. Ron Hubbard fand den grundlegenden Entwurf für das Sonnenkreuz der Scientology in einer alten spanischen Mission in Arizona. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 272 Scientology organiSation 12. Februar 2008 ist die Rechtmäßigkeit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz bestätigt worden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die SO setzte im Berichtszeitraum weiterhin auf bewährte Methoden, um ihre Ziele zu erreichen, und erschloss sich zusätzlich neue Bereiche im digitalen Raum. Die Organisation unternimmt anhaltende Bemühungen, gesellschaftliche Anerkennung zu gewinnen, ihre Mitgliederzahl zu steigern und ihre finanziellen Ressourcen zu erhöhen. Hierzu versucht sie insbesondere junge Erwachsene anzusprechen. Trotzdem wird die SO ihrem Ziel, eine scientologische Gesellschaft in Sachsen-Anhalt zu etablieren, nicht näherkommen. Nach wie vor gelingt es ihr hierzulande nicht, Mitglieder zu gewinnen und Strukturen aufzubauen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 273 SPIONAGEABWEHR Einleitung 275 Russische Föderation 277 Chinesische Nachrichtendienste 279 Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran 283 Andere Nachrichtendienste 284 Hybride Bedrohungen 285 Cyberabwehr 290 Wirtschaftsschutz 293 Proliferationsabwehr 296 Spionageabwehr EINLEITUNG Unter Spionage versteht man die verdeckte nachrichtendienstliche Beschaffung und Erlangung nichtöffentlich zugänglicher Informationen oder geschützten Wissens durch fremde Mächte. Die meisten Regierungen weltweit streben danach, umfassende Informationen aus dem Ausland zu gewinnen, insbesondere in den Bereichen Politik, Militär, Forschung und Wirtschaft, auch unter Einsatz von Nachrichtendiensten. Daher ist es die Aufgabe der Spionageabwehr, sich mit der Aufklärung, der Abwehr und der Prävention von Spionageaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste zu beschäftigen. Vor diesem Hintergrund sammelt die Spionageabwehr Informationen über geheimdienstliche Aktivitäten und analysiert und wertet sie aus. Die gesetzliche Grundlage dafür bildet SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA. Im Rahmen der sogenannten "360-Grad-Bearbeitung" geht sie allen Anhaltspunkten für sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht nach. Hierbei besteht eine enge Kooperation mit dem BfV, den Verfassungsschutzbehörden der Länder, dem Bundesamt für den militärischen Abschirmdienst (BAMAD) und allen anderen Sicherheitsbehörden. Aufgrund ihrer geostrategischen Lage, ihrer herausragenden Position in der Europäischen Union und der NATO sowie als eine der führenden Exportnationen mit zahlreichen High-Tech-Unternehmen ist die Bundesrepublik Deutschland ein vorrangiges Ziel für Ausforschungs-, Aufklärungsund Beschaffungsaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste. Da die Tätigkeit von Nachrichtendiensten im Zielland von der jeweiligen Spionageabwehr beobachtet wird, werden Angehörige von Nachrichtendiensten häufig unter dem Schutz des Diplomatenstatus oder der konsularischen Immunität in den Auslandsvertretungen der fremden Staaten untergebracht. Man spricht von sogenannten Legalresidenturen. Um an vertrauliche Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 275 Spionageabwehr Informationen zu gelangen, setzen ausländische Nachrichtendienste nicht nur eigenes Personal ein; sie sind zudem darum bemüht, Bürger des Gastlandes für ihre Zwecke zu gewinnen und zu steuern. Diese Vorgehensweise ist als Agentenführung bekannt. Abseits dieser "klassischen" Form der Spionage haben nachrichtendienstlich gesteuerte Maßnahmen im Internet in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Dabei werden verschiedene Kanäle genutzt, um die politischen und gesellschaftlichen Diskurse in den Zielländern zu beeinflussen. Die Strategien reichen von Cyberangriffen bis zur Beeinflussung von sozialen Medien, in denen sogenannte "Trollfabriken" Meinungen und Fakten mit "Fake News" vermischen. In Kurznachrichtendiensten können sogenannte "Robots" in erheblichem Umfang tendenziöse Meinungen verbreiten. Ein weiteres Mittel ist das "Leaken" von Daten, also das Veröffentlichen vertraulicher personenbezogener Informationen, die oftmals illegal erbeutet wurden. Mit dem "Leaken" dieser Daten sollen die Betroffenen bloßgestellt, ihres Einflusses beraubt oder lächerlich gemacht werden. Häufig werden die erbeuteten Dateien zudem mit Malware versehen und somit einer "zweiten Nutzung" zugeführt. Im Hinblick auf Auslandsreisen, insbesondere in die Russische Föderation und die Volksrepublik China, besteht für deutsche Staatsangehörige die Gefahr, das Interesse der Nachrichtendienste der jeweiligen Staaten zu wecken. Dies kann vor allem Firmenvertreter und Angehörige des Öffentlichen Dienstes betreffen. Erfahrungen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass immer wieder Reisende mit Vorwürfen zu vermeintlichem Fehlverhalten angesprochen und kompromittierende Situationen geschaffen werden, um Druck auszuüben und in diesem Kontext erfolgreich für nachrichtendienstliche Tätigkeiten zu werben bzw. die Preisgabe von Informationen zu erwirken. Ebenso muss bei solchen Reisen mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass mitgeführte Unterlagen und Technik (Mobiltelefone, Laptops Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 276 Spionageabwehr etc.) im Interesse eines Nachrichtendienstes ausspioniert werden. Die Russische Föderation, die Volksrepublik China und die Islamische Republik Iran gelten im Wesentlichen als Hauptakteure sicherheitsrelevanter Aktivitäten gegen Deutschland und das Bundesland Sachsen-Anhalt. Russische Föderation Spionagemaßnahmen russischer Nachrichtendienste in Deutschland richten sich in erster Linie gegen politische Mandatsträger, Denkfabriken, Nichtregierungsorganisationen und Vereine mit Bezügen zu Russland oder anderen osteuropäischen Staaten. Mittels Propaganda und der Verbreitung von Desinformation, die insbesondere über staatliche Institutionen, staatlich gelenkte Medien und soziale Netzwerke gestreut wird, versuchen russische Nachrichtendienste, Einfluss auf Willensbildungsprozesse auszuüben, Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen zu erzeugen und die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland auf diese Weise langfristig zu destabilisieren. Die russischen Nachrichtendienste interessieren sich für alle nationalen und internationalen Politikfelder Deutschlands, die eine Verbindung zur Russischen Föderation aufweisen. Dies betrifft insbesondere Bereiche der Außen-, Sicherheits-, Bündnisund Wirtschaftspolitik. Die drei maßgeblichen Nachrichtendienste sind: - der Auslandsnachrichtendienst Sluschba Wneschnei Raswedki (SWR), - der Inlandsnachrichtendienst Federalnaja Sluschba Besopasnosti (FSB) und - der militärische Nachrichtendienst Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 277 Spionageabwehr Diese Nachrichtendienste verfügen über weitreichende gesetzliche Befugnisse und unterstützen die Interessen ihrer Regierung mittels offener und verborgener Maßnahmen. Sie sind unmittelbar dem russischen Staatspräsidenten zugeordnet und arbeiten eng mit den Ministerien für Verteidigung, Inneres und Justiz sowie mit anderen Sicherheitsbehörden zusammen. Angehörige der russischen Nachrichtendienste, die von Botschaften und Konsulaten in Deutschland aus operieren ("Residenten"), nutzen ihren diplomatischen Status und das Vertrauen ihrer oft arglosen Kontaktpersonen aus. Geschickte Gesprächsführung ermöglicht es ihnen oft, schutzbedürftige Informationen zu erhalten. Wenn Kontaktpersonen als wertvoll und informationsreich erachtet werden, wird versucht, die bisherigen Kontakte zu vertiefen und konspirative Elemente einzuführen. Dazu gehören persönliche Zuwendungen, das Vermeiden offener Telefonate und genau geplante und vorbereitete konspirative Treffen. Die Nachrichtendienstmitarbeiter bauen eine vertrauensvolle und freundschaftliche Beziehung auf, die dazu dient, Informationen abzuschöpfen. Dazu werden Bitten um Zusammenstellung unverfänglicher Informationen geäußert, denen konkrete Beschaffungsaufträge folgen können, die mit Sachoder Geldleistungen honoriert werden. Die Aufforderung zur absoluten Verschwiegenheit von Vertretern konsularischer oder diplomatischer Vertretungen kennzeichnet eine konspirative, nachrichtendienstliche Verbindung. Seit dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat sich die Bedrohung durch mögliche nachrichtendienstliche Aktivitäten gegen politische, wirtschaftliche oder zivilgesellschaftliche Einrichtungen und Organisationen auch in Sachsen-Anhalt erhöht. Besonders Ministerien und nachgeordnete Behörden des Landes sind potenzielle Ziele für russische Spionageaktivitäten. Die russische Regierung flankiert ihr militärisches Vorgehen in der Ukraine und die Aktivitäten ihrer Nachrichtendienste im Cyberraum mit Desinformationsund Propagandakampagnen, welche die NATO und "den Westen" als eigentliche Aggressoren darstellen und ZweiVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 278 Spionageabwehr fel an der Legitimität und Integrität der ukrainischen Regierung hervorzurufen versuchen, um die europäische Unterstützung der Ukraine zu diskreditieren und als schädlich für Europa selbst darzustellen.1 Vor allem russischstämmige und pro-russisch eingestellte Personen im Westen sind eine wertvolle Zielgruppe der Kampagnen. Die russische Regierung nutzt seit langem soziale Netzwerke und staatliche Medien, einschließlich Russia Today (RT) und Sputnik, um Desinformation und Propaganda zu verbreiten - auch in Deutschland. Diese Medienhäuser berichten nicht journalistisch unabhängig, sondern stehen unter der Kontrolle des russischen Staates, der sie direkt für Desinformationskampagnen nutzt. Chinesische Nachrichtendienste Die politische Führung der Volksrepublik China (VRC) hat klar definierte Ziele für die politische und wirtschaftliche Entwicklung Chinas, darunter das Erlangen strategischer Vorteile, die Förderung der eigenen wirtschaftlichen Interessen und die Positionierung als führende Industrienation weltweit. Die Aufgabe der Nachrichtendienste ist es, das Erreichen dieser Ziele durch Informationsgewinnung in Politik, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft zu unterstützen und damit die geostrategischen Ambitionen der VRC zu fördern. Ein weiterer Fokus der nachrichtendienstlichen Aktivitäten liegt auf dem Ausspähen und dem Unterwandern von oppositionellen Kräften, die von der chinesischen Regierung unter dem Begriff "Fünf Gifte"2 zusammengefasst und als staatsfeindlich betrachtet werden. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) nimmt innerstaatliche Konflikte mit Oppositionellen und nationalen Minderheiten als Bedrohung der staatlichen Sicherheit wahr. 1 - Siehe auch den nachfolgenden Abschnitt "Hybride Bedrohungen", S. 285 ff. 2 - Dies sind die Meditationsbewegung Falun Gong, die Demokratiebewegung, die Bewegungen für Autonomie in den Provinzen Tibet und Xinjiang sowie Befürworter eines unabhängigen Taiwan. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 279 Spionageabwehr Die VRC verfügt über folgende Nachrichtendienste: - den zivilen Inund Auslandsnachrichtendienst Ministry of State Security - Ministerium für Staatssicherheit (MSS), - das Ministry of Public Security - Ministerium für Öffentliche Sicherheit (MPS) und - den militärischen Nachrichtendienst Military Intelligence Directorate - Direktorium für den Militärischen Nachrichtendienst (MID). Zudem unterhält die KPCh mehrere parteieigene funktionale Nachrichtendienste:3 - "Büro 610" dient der weltweiten Überwachung der Meditationsbewegung "Falun Gong", - International Department of the Central Committee of the Communist Party of China (IDCPC), das Tatsachen und Erkenntnisse über Partnerparteien und Kontrahenten der KPCh sammelt und auswertet, - United Front Work Department (UFWD), welches Mitglieder und Nicht-Mitglieder der KPCh innerhalb der VRC und weltweit an die Interessen der KPCh bindet und für die Umsetzung der Parteilinie sorgt. Die Mitarbeiter der Nachrichtendienste operieren konspirativ und nehmen häufig getarnte Identitäten als Diplomaten, Journalisten oder Studenten an. Neben den staatlichen Nachrichtendiensten verfügt die chinesische Regierung über weitere Instrumente zur Durchsetzung ihrer Interessen im Ausland. Ein Beispiel hierfür sind die Konfuzius-Institute (KI), welche die VRC seit 2004 offiziell mit dem Ziel des kulturellen und wissenschaftlichen Austauschs im Ausland gründet. Die KI sind immer im Umfeld einer Universität oder 3 - Ein funktionaler Nachrichtendienst ist eine Organisation, die Spionage betreibt, ohne Nachrichtenoder Geheimdienst zu sein. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 280 Spionageabwehr Hochschule angesiedelt und werden von diesen materiell unterstützt. Das Lehrpersonal der KI wird von staatlichen chinesischen Institutionen ausgewählt und ausgebildet. Dies unterscheidet sie von vergleichbaren Kultureinrichtungen anderer Staaten, zum Beispiel vom deutschen Goetheoder dem spanischen Cervantes-Institut. Nach dem Willen des Staatsund Parteichefs Xi Jinping sollen sich die Kl künftig neu ausrichten und auf den "Aufbau der sozialistischen Kultur" sowie auf die Unterstützung einer "Diplomatie chinesischer Prägung" fokussieren.4 China verfolgt ein ambitioniertes und langfristiges Programm, um in zukunftsweisenden Bereichen der Hochtechnologie Anschluss an die führenden Industrienationen zu erlangen. Die Staatsund Parteiführung strebt eine globale Technologieführerschaft an. Dieses Ziel soll spätestens im Jahr 2049 zum 100. Jahrestag der Gründung der VRC erreicht werden. Wichtige Elemente sind z. B. die Strategie "China Standards 2035", mit der eigene Standards bei neuen Produkten und Technologien international durchgesetzt werden sollen, und das geostrategische Projekt "Neue Seidenstraße" bzw. "Belt and Road Initiative" (BRI), mit dem länderübergreifende bzw. globale Transportinfrastrukturen im chinesischen Interesse gefördert werden, um so den Zustrom von Rohstoffen in die VRC zu erhöhen und den eigenen Warenabsatz zu verbessern. Aufgrund der Vorfinanzierung der Errichtungsund Ausbaukosten z. B. von Häfen, Bahntrassen und Straßen im Ausland seitens der VRC entstehen Abhängigkeiten der Transitund Zielländer. Schließlich setzt die VRC auf verschiedene Methoden des Know-How-Erwerbs, vor allem bei Zukunftstechnologien. So stellt neben nachrichtendienstlichen Aktivitäten der legale Erwerb von westlichen Unternehmen mit strategischem Know-how seit Jahren eine wichtige Methode dar.5 4 - Zitiert nach: Antwort der Bundesregierung auf Frage 6 in der Bundestagsdrucksache 19/15560, S. 3. 5 - Siehe hierzu auch die Ausführungen zu Ausländischen Direktinvestitionen im Abschnitt "Wirtschaftsschutz" auf S. 295. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 281 Spionageabwehr Um an Informationen zu gelangen, die ihren strategischen Interessen förderlich sind, entsendet die VRC außerdem chinesische Masteroder Promotionsstudenten an europäische bzw. deutsche Universitäten. Einige dieser Studenten stammen von chinesischen Universitäten, an denen zu militärischen Technologien geforscht wird oder von denen die Rüstungsindustrie Chinas bevorzugt ihre Nachwuchskräfte rekrutiert. Die Bundesregierung hat 2023 erstmals eine "China-Strategie" verabschiedet, die der Klarstellung des bilateralen Verhältnisses dient und eine Neuausrichtung aller Akteure bewirken soll. In dieser bezeichnet sie die Volksrepublik als "Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale"6 und definiert den letzten Begriff dahingehend, dass China andere Vorstellungen über die Prinzipien der internationalen Ordnung habe. Von besonderer Bedeutung sind die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Die Bundesregierung hat zur Kenntnis genommen, dass deutsche Unternehmen weiterhin Nachteile in China haben, u. a. durch Marktzugangsund Investitionsbeschränkungen, Ausschluss von der öffentlichen Auftragsvergabe und ungleiche Wettbewerbsbedingungen.7 In Bezug auf die Zusammenarbeit im Bereich von Forschung und Wissenschaft hält sie ebenfalls Mängel fest: "Risiken für die Freiheit von Forschung und Lehre, illegitime Einflussnahme und einseitiger Wissensbzw. Technologietransfer müssen dabei minimiert werden [...]. Die chinesische Politik der zivil-militärischen Fusion setzt unserer Zusammenarbeit Grenzen. Wir berücksichtigen, dass auch zivile Forschungsprojekte, inkl. Grundlagenforschung, von China strategisch auf ihre militärische Verwendbarkeit hin betrachtet werden." 8 6 - Auswärtiges Amt (Hrsg.), China-Strategie der Bundesregierung, Berlin, 2023, S. 10. 7 - Ebd., S. 25. 8 - Ebd., S. 29f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 282 Spionageabwehr Ebenso wird festgestellt, dass die "chinesische Sicherheitsgesetzgebung ... chinesische Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen im Inund Ausland zur Zusammenarbeit mit chinesischen Behörden und Nachrichtendiensten" verpflichtet.9 Das BfV warnt in seinem "Sicherheitshinweis für Politik & Verwaltung | 02/2023 | 28. Juli 2023" vor dem "International Department of the Central Committee of the Communist Party of China" (IDCPC). Dabei handelt es sich um eine insbesondere im Ausland aktive Organisation, die dem Zentralkomitee der KPCh untergeordnet ist und Politikerinnen und Politiker, Parteien sowie parteinahe Organisationen ausspähen und dazu beeinflussen soll, langfristig chinesische Interessen und Ziele in der Bundesrepublik Deutschland zu unterstützen. Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran Als Hauptakteur nachrichtendienstlicher Aktivitäten gegen die Bundesrepublik Deutschland gilt oft das Ministry of Intelligence of the Islamic Republic of Iran (MOIS). Die Revolutionsgarden der Iranian Revolutionary Guard Corps (IRGC) betreiben ebenfalls ihren eigenen Nachrichtendienst, das Revolutionary Guard Intelligence Directorate (RGID), und verfügen mit den Quds Force über Spezialeinheiten für militärische Kommandoaktionen und Staatsterrorismus. Die Ausspähungsaktivitäten der Quds Force richten sich insbesondere gegen (pro-)jüdische bzw. (pro-)israelische Institutionen und Unternehmen sowie einzelne exponierte, für diese Einrichtungen tätige Personen. Führende Politiker Irans haben Israel wiederholt zum Feindstaat erklärt und öffentlich mit der Vernichtung des israelischen Staates gedroht. Iranisch unterstützte Terrororganisationen greifen Israel mit Waffengewalt an. Das vorrangige Interesse der iranischen Nachrichtendienste gilt der Bekämpfung und Ausspähung von im Inund Ausland lebenden bzw. tätigen oppositionellen Personen und Gruppie- 9 - Ebd., S. 42. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 283 Spionageabwehr rungen, zu denen insbesondere der "Nationale Widerstandsrat Iran", die "Volksmodschahedin Iran-Organisation" sowie monarchistische und kurdische Gruppierungen zählen. Es gibt seit Jahren Hinweise auf staatsterroristische Aktivitäten der iranischen Regierung in europäischen Ländern. Das islamistische Regime fürchtet die wachsende Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerung auf Grund der zunehmend schlechter werdenden Versorgungslage und der Hyperinflation. Dazu kommt der aggressive Umgang der so genannten "Sittenwächter" insbesondere mit Frauen, welche die nach Verständnis des Regimes geltenden religiösen Vorschriften, wie z. B. Verhüllungsvorschriften, nicht einhalten. Der Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022 infolge brutaler Misshandlung nach der Festnahme durch die iranische Sittenpolizei wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das staatliche Hidschab-Gesetz hatte erhebliche Proteste zur Folge, gegen die das Regime mit aller Härte einschritt. Die Verfolgung oppositioneller Kräfte findet dabei nicht nur im Iran statt, sondern erstreckt sich auch auf das Ausland. Neben einem expliziten nachrichtendienstlichen Risiko besteht weiterhin die Gefahr, dass Iran Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit bei Einreisen willkürlich inhaftiert, um dies als politisches Druckmittel zu nutzen. Andere Nachrichtendienste Neben den angeführten Ländern sind insbesondere die Nachrichtendienste Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens in Deutschland aktiv. Ihre Tätigkeiten richten sich hauptsächlich gegen im Exil lebende Oppositionelle, speziell wenn diese in Deutschland an Demonstrationen teilnehmen oder sich an Kampagnen gegen die Regierungen ihrer Herkunftsländer beteiligen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 284 Spionageabwehr Als Beispiel ist der türkische Inund Auslandsnachrichtendienst "Milli Istihbarat Teskilati" (MIT) zu nennen. Der MIT stellt ein zentrales Element der türkischen Sicherheitsarchitektur dar; den Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Aufklärung der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) und der sogenannten Gülen-Bewegung. Türkische Stellen werfen dem islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen Anhängern vor, den gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 initiiert zu haben. Die türkischen Nachrichtendienste haben weltweit weitere Personen und Organisationen im Fokus, die von der türkischen Regierung als extremistisch oder terroristisch betrachtet werden. Zu weiteren nachrichtendienstlichen Aktivitäten, die im Zuge der Flüchtlingsbewegung aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa in den 2010er Jahren beobachtet wurden, aber auch heute noch weitgehend fortgesetzt werden, wird auf diese Broschüre verwiesen: "Aktivitäten extremistischer Akteure im Zusammenhang mit Flüchtlingen" (S. 41ff.). Diese kann unter: https://mi.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_ und_Verwaltung/MI/MI/4._Service/Publikationen/4._Verfassungsschutz/Brosch%C3%BCren/Broschuere_Handreichung_in_ der_Fluechtlingshilfe.pdf heruntergeladen oder bestellt werden. Hybride Bedrohungen Immer relevanter werden die sogenannten hybriden Bedrohungen. Ihr Kennzeichen ist das kombinierte Anwenden konventioneller und nicht-konventioneller Mittel im gesamten Spektrum ziviler bis hin zu (para-)militärischen Maßnahmen gegen fremde Staaten, wobei die Urheberschaft typischerweise gezielt verVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 285 Spionageabwehr schleiert wird. Hybride Aktivitäten zielen darauf ab, das gesamtgesellschaftliche und politische Gefüge eines anderen Landes nachhaltig zu schwächen. In den letzten Jahren sind hybride Aktivitäten zu einem bedeutenden Mittel im Kampf um Einfluss und Vorherrschaft im globalen Gefüge geworden. Mit der gezielten Verbreitung von Desinformationen wird versucht, Politik, Gesellschaft oder bestimmte Personengruppen anderer Länder zu beeinflussen. Der Einsatz von Desinformationskampagnen stellt in diesem Zusammenhang ein herausragendes Instrument dar. Zielrichtung solcher Kampagnen ist die Infragestellung freiheitlicher, demokratischer Werte sowie des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland und anderen westlichen Staaten. Dabei bietet das Internet ideale Bedingungen für entsprechende Initiativen zur Verbreitung irreführender Informationen. Online ausgelöste und gesteuerte Aktionen lassen sich vergleichsweise kostengünstig durchführen und sind leicht zu verschleiern; oft bleiben die Urheber unentdeckt und agieren anonym oder mit falschen Identitäten. Die Urheber und Protagonisten von Desinformationskampagnen verbreiten gezielt und wissentlich falsche Nachrichten und Erzählungen in den sozialen Medien mit dem Ziel, deren Nutzer in die Irre zu führen und auf diese Weise Schaden anzurichten. Eine unkritische Weitergabe solcher Inhalte durch Nutzer sozialer Medien, die sich der Unwahrheit dieser Inhalte und der manipulativen Absichten ihrer Urheber nicht bewusst sind, ist einer breiten Wirkung solcher Desinformationskampagnen förderlich. Diese erzeugen oft eine starke Eigendynamik. Gezielte Steuerungen von Diskussionen in sozialen Netzwerken, manipulierte oder aus dem Kontext gerissene Nachrichten können Verwirrung stiften und somit öffentliche Debatten beeinflussen. Ziel dieser hybriden Maßnahmen ist es, das Vertrauen in staatliche Stellen zu untergraben, Politiker und demokratische ProzesVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 286 Spionageabwehr se zu delegitimieren oder gesellschaftliche Konfliktlinien zu vertiefen. Offene, pluralistische und demokratische Gesellschaften, die ein breites Meinungsspektrum zulassen und gerade nicht - wie es in Autokratien geschieht - den Meinungskorridor verengen, sind besonders anfällig für solche Einflussoperationen. Russische Desinformation im Kontext Hybrider Bedrohungen und des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine Die Russische Föderation versucht seit Jahren, den öffentlichen Diskurs in westlichen Demokratien durch die Verbreitung von Desinformation in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie ist bestrebt, die politische und öffentliche Meinung in Deutschland und anderen Staaten durch das Verbreiten von Desinformation, Propaganda sowie durch weitere Versuche illegitimer Einflussnahme zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Eine eindeutige Zuordnung der Urheberschaft solcher Kampagnen zu staatlichen Stellen der Russischen Föderation ist zwar häufig nicht möglich, aber Vorgehensweisen, thematische Aspekte und beteiligte Akteure liefern starke Indizien für mutmaßlich von staatlichen Institutionen der Russischen Föderation intendierte und koordinierte Desinformationskampagnen. Nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 sind verstärkt russische Desinformationskampagnen beobachtet worden, die unmittelbar und mittelbar auch in Deutschland wirksam geworden sind. Dies erfolgt mit dem Ziel, destabilisierendes Misstrauen und negative Stimmungen in der Bevölkerung zu fördern. Auch inländische Akteure in Deutschland greifen solche Meldungen, Inhalte oder Narrative auf und verbreiten sie weiter; zum Teil aus einer russlandfreundlichen Position heraus, zum Teil aber auch ganz gezielt mit schädlicher Intention, weil auch solche inländischen Akteure die Gesellschaft polarisieren oder spalten und das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat untergraben wollen. In diesem Kontext sind z. B. pro-russisch eingestellte Personen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 287 Spionageabwehr eine wertvolle Zielgruppe im Hinblick auf die bewusste Annahme und Weiterverbreitung solcher Inhalte. Mit solchen Maßnahmen verfolgt die russische Regierung das Ziel, den inneren Zusammenhalt der EU und der NATO zu destabilisieren, mögliche Spaltungslinien in beiden Gemeinschaften bzw. in den jeweiligen Gesellschaften zu verschärfen und somit letztlich die Akzeptanz der westlichen Bevölkerungen für die politische und militärische Unterstützung der Ukraine durch die Staaten der NATO und der EU zu schwächen. Ebenso werden die deutsche Regierung und das politische System als schwach, bürgerfeindlich, verlogen und nachteilig für die Menschen dargestellt. So wurde und wird z. B. Angst vor einer möglicherweise existenzbedrohenden Energieund Lebensmittelknappheit geschürt, um das Narrativ zu bestärken, die westlichen Regierungen handelten irrational und gegen das Interesse ihrer eigenen Bevölkerungen. Auch Menschen, die dem Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" zuzurechnen sind, und Politiker der AfD Sachsen-Anhalt bedienen und wiederholen diese Narrative, schüren Hass auf die etablierten Parteien und säen Zweifel an der Integrität und der Sachund Werteorientierung politischen Handelns.10 Führende Vertreter der AfD Sachsen-Anhalt bezogen wiederholt öffentlich pro-russische Positionen und verbreiteten die Behauptung, dass westliche Waffenlieferungen an die Ukraine und europäische Sanktionen gegen Russland nicht die gewünschte Wirkung erzielen und die europäischen Staaten in tiefe wirtschaftliche Probleme stürzen. Russland wird als friedliches Land dargestellt, das von der NATO provoziert wird und sich gegen "westliche Aggression" wehrt. Demgegenüber wird die Ukraine als korrupter Staat diskreditiert, der letztlich nur kapitalistischhegemoniale Interessen der USA erfülle. 10 - Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu der AfD Sachsen-Anhalt (S. 32 ff.) und zum Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" (S. 149 ff.). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 288 Spionageabwehr Ein weiteres Beispiel russischer Hybridaktionen sind die Fake-Anrufe des russischen Komiker-Duos "Vovan & Lexus" mit vorgespiegelten Falschidentitäten bei europäischen Politikern (u. a. Franziska Giffey, Robert Habeck). Ziel des Duos ist es, kompromittierende bzw. für Desinformation geeignete Aussagen zu provozieren und anschließend zu verbreiten, z. B. bezüglich Zweifeln an Waffenlieferungen für die Ukraine, möglicher negativer Folgen des Krieges für Europa oder der Sinnhaftigkeit von Sanktionen gegen Russland. Die Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt hat hierzu die Landesverwaltung und Ministerien sensibilisiert. Was können Bürgerinnen und Bürger gegen Desinformation tun? Desinformation entfaltet vor allem dadurch ihre Wirkung, dass ihre wahrheitswidrigen Inhalte bewusst emotionalisieren und dann von vielen Menschen ungeprüft und unkritisch weiterverbreitet werden. Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Widerstandskraft im Informationsraum sind Kernelemente eines wirksamen Schutzes. Die Verfassungsschutzbehörde gibt folgende Handlungsempfehlungen, um nicht Opfer von Desinformation zu werden: - In den sozialen Medien verbreitete Informationen sollten nicht ungeprüft weitergeleitet, sondern zunächst kritisch hinterfragt werden. - Erfahrungsgemäß werden Meldungen umso häufiger verbreitet, je emotionaler oder dramatischer sie formuliert sind. Desinformationskampagnen zielen genau darauf ab, dass sich falsche Meldungen und Nachrichten viral verbreiten und so Verunsicherung schüren und Ängste auslösen - ohne dass deren Wahrheitsgehalt hinterfragt wird. Deshalb ist es wichtig, sich nicht daran zu beteiligen. Fragliche oder zweifelhafte Inhalte sollten nicht ungeprüft weitergeleitet oder geteilt werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 289 Spionageabwehr - Seriöse Berichterstattung ist unabhängig und faktenbasiert. Desinformation erfolgt zielgerichtet, parteiisch und häufig unter Verschleierung ihres wahren Urhebers. Daher ist es ratsam, * Quelle und Urheber kritisch zu prüfen, * unabhängige Faktenchecks zu nutzen und * Inhalte mit weiteren vertrauenswürdigen Quellen (z. B. unabhängigen Zeitungen oder Nachrichtensendern) zu vergleichen. - Unabhängige Medien recherchieren zu ihren Meldungen und bieten Zusatzund Hintergrundinformationen bzw. Faktenchecks an. Bei Unsicherheiten finden sich in der Regel Hinweise, dass Bildund Videomaterial oder Berichte aus Krisengebieten nicht unabhängig überprüft werden können. Cyberabwehr Gehäufte Cyberangriffe, ob nun staatlich geduldet oder unterstützt, können direkt oder indirekt eine destabilisierende Wirkung entfalten. Fremde Nachrichtendienste sowie andere fremde staatliche oder staatlich unterstützte Cyberakteure bauen daher ihre Cyberfähigkeiten immer stärker aus. Sie nutzen den Cyberraum als Operationsgebiet, um verborgene Informationen zu erlangen oder ihre Opfer mittels Ransomware zu erpressen.11 Die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche kommt dem Interesse fremder Nachrichtendienste entgegen. Grundsätzlich kann jedes Gerät mit Zugang zum Internet von Cyberakteuren identifiziert und angegriffen werden. Autoritäre Regierungen sind bestrebt, ihre Staaten auch im Internet abzuschotten und Vernetzungsmöglichkeiten unter ihre 11 - Als Ransomware werden Schadprogramme bezeichnet, die den Zugriff auf Daten und Systeme einschränken oder verhindern und diese Ressourcen nur gegen Zahlung eines Lösegeldes (englisch "ransom") wieder freigeben. Insbesondere nordkoreanische staatliche Hacker generieren mit dem Einsatz von Ransomware Devisen zur Unterstützung des Staatshaushaltes. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 290 Spionageabwehr Kontrolle zu bringen. Aus dieser umfassenden Überwachung kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass von diesen Staaten ausgehende Cyberangriffe nicht unbemerkt bleiben und von den jeweiligen Regierungen daher entweder bloß geduldet oder sogar unterstützt werden. Cyberangriffe der Russischen Föderation Russische Nachrichtendienste unterhalten Organisationseinheiten, die Cyberangriffe gegen Ziele in der Ukraine, in EUund NATO-Staaten durchführen. Sie nutzen den Cyberraum zur Unterstützung der mittelund langfristigen Absichten der Regierung, aber auch um (Wirtschafts-)Spionage und Sabotage zu betreiben. Daneben gibt es in der Russischen Föderation Cyberakteure, die staatlich gegründet oder staatlich unterstützt, bisweilen auch nur staatlich geduldet sind und die aus kriminellen, nachrichtendienstlichen oder politisch-aktivistischen Motiven gegen europäische und deutsche Ziele handeln. Mit Beginn seiner völkerrechtswidrigen Invasion in der Ukraine verstärkte Russland massiv den Cyberkrieg gegen die Ukraine. Die Staaten der NATO und der EU unterstützen die Ukraine in ihrem Kampf zur Erhaltung ihrer Staatlichkeit und wurden daher ebenfalls verstärkt von russischen Cyberakteuren angegriffen. Im Winter 2022/2023 wurden gehäuft Cyberangriffe gegen deutsche Hochschulen und Universitäten durchgeführt. Auf Grund ihrer offenen IT-Netze und sehr vieler Nutzer, die sich von außen in die Hochschulnetze einloggen, bieten sich Angreifern oft viele Möglichkeiten, um die IT-Infrastrukturen von Hochschuleinrichtungen zu infiltrieren. Ein Angriff auf eine sachsen-anhaltische Hochschule, der sich im Berichtszeitraum ereignete, konnte frühzeitig entdeckt werden, so dass eine vollständige Verschlüsselung der IT-Netzwerke unterbunden werden konnte. Entdeckte technische Indikatoren deuten auf eine Täterschaft im Umfeld staatlicher russischer Behörden hin. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 291 Spionageabwehr Ghostwriter Der Cyberakteur Ghostwriter, der dem GRU zuzurechnen ist, setzte seine (seit 2021 vermehrt zu beobachtenden) Hack-andLeak-Operationen gegen Stellen in der Bundesrepublik Deutschland und in Sachsen-Anhalt im Berichtszeitraum fort. Er griff mehrfach Personen des öffentlichen Lebens auf kommunaler Ebene an. Mittels gefälschter Warnmeldungen, die denen zweier großer Internetprovider ähnelten, täuschte Ghostwriter vor, an der Sicherheit der anvisierten IT-Netzwerke interessiert zu sein. Dadurch sollten die Anwender dazu verleitet werden, Kennwort und Passwort der E-Mail-Software preiszugeben. Ghostwriter erhofft sich, Details aus dem Privatleben der angegriffenen Personen gewinnen zu können, um diese bloßzustellen. Darüber hinaus liest Ghostwriter das Outlook-Adressbuch aus, um seine Angriffe ausweiten zu können. DDOS-Angriffe Ein DDoS-Angriff (engl. Distributed-Denial-of-Service attack) ist eine technisch niederschwellige Form des Cyberangriffs, bei dem in der Regel ein Internetdienst von einer Vielzahl von gekaperten Servern aus angegriffen wird, was zur Überlastung und damit zur Nichtverfügbarkeit des Internetdienstes führt. Es liegt in der Hand des Angreifenden, wie lange und wie intensiv der Angriff geführt wird. DDoS-Angriffe können eine Gefahr für Online-Dienste und die E-Government-Infrastruktur sein, indem sie Zweifel an der Zuverlässigkeit und technischen Sicherheit erwecken. Im März 2023 griff der prorussische Cyberakteur "NoName 057" die Internetseite der Landesregierung www.sachsen-anhalt.de an. Diese fiel infolgedessen für einen Tag aus. Cyberangriffe aus dem Iran Iranische Cyberakteure handeln weit überwiegend im Interesse des staatlichen Machtapparats. Das BfV warnte im August 2023 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 292 Spionageabwehr mit einem Cyberbrief vor Aktivitäten der iranischen APT12-Gruppierung "Charming Kitten".13 Mittels Spear-Phishing habe "Charming Kitten" versucht, an vertrauliche Opferdaten zu gelangen. Zielgruppen der Angreifer waren Dissidentenorganisationen, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. Cyberangriffe aus der Volksrepublik China Chinesische Cyberangriffskräfte sind innerhalb der Volksbefreiungsarmee in einer separaten Teilstreitkraft, den Strategie Support Forces, organisiert. Die VRC hat in den letzten Jahren ihre Cyber-Gesetzgebung zu Lasten von in China tätigen ausländischen Unternehmen verschärft und es gelingt ihr, sensible personenbezogene Daten und Unternehmensdaten in ihren Machtbereich zu bringen. Auch sachsen-anhaltische Unternehmen waren im Berichtszeitraum von illegalen chinesischen Cyberaktivitäten betroffen. Wirtschaftsschutz Der Wirtschaftsschutz informiert schwerpunktmäßig über Mittel und Methoden, mit denen sich fremde Nachrichtendienste illegal Know-how verschaffen. Zudem informiert er über Extremismus, Cyberangriffe und Staatsterrorismus sowie über deren mögliche Auswirkungen für Unternehmen, Forschungseinrichtungen und andere Institutionen. Er berät Unternehmen, Wirtschaftsverbände, Forschungseinrichtungen, Hochschulen und andere Institutionen, um diese dabei zu unterstützen, eigenverantwortlich und effektiv Maßnahmen gegen Ausforschung (insbesondere Wirtschaftsspionage), Sabotage und andere schädliche Einwirkungen fremder Staaten und Nachrichtendienste zu ergreifen. 12 - Advanced Persistent Threat = Fortgeschrittene nachhaltige Bedrohung. 13 - Der Cyberbrief Nr.1/2023 ist unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/cyberabwehr/2023-01-bfvcyber-brief.pdf?__blob=publicationFile&v=2 abrufbar. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 293 Spionageabwehr Mitarbeiter von Unternehmen, die im Außendienst tätig sind und Auslandsdienstreisen unternehmen müssen, unterliegen der stärksten Gefährdung, von fremden Nachrichtendiensten verdeckt ausgeforscht und angesprochen zu werden. Dies gilt ganz besonders für autoritär regierte Staaten wie Russland, Iran, Nordkorea und China. Diese setzen auch im Ausland zahlreiche Mittel und Methoden ein, um nicht nur auf legalem Wege vertrauliche Informationen, strategische Erkenntnisse und wertvolles Know-how zu erhalten. Wirtschaftsschutz gegen chinesische Aktivitäten In ihrem erklärten Bestreben, bis zur Mitte dieses Jahrhunderts zur weltweit führenden Technologieund Wirtschaftsmacht zu werden, setzt die VRC gezielt unlautere Methoden des Wissensund Technologietransfers ein. Die VRC verfolgt das Fernziel, aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Staaten eine politische zu generieren und in deren Souveränität einzugreifen. Die Strategie "Made in China 2025" wird auch mittels Direktinvestitionen zum Zweck von legalem Know-how-Erwerb umgesetzt. In den dort benannten Schlüsseltechnologien soll eine beherrschende Stellung erlangt werden. Von hohem Interesse sind die sogenannten "Emerging Technologies" (z. B. Künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, 3D-Druck, Quantentechnologie): Das sind zukunftsweisende Technologien, deren Beherrschung erhebliche technische und technologische Fortschritte für viele Bereiche, insbesondere auch die militärische Rüstung, verspricht. Die innerchinesische Wissenschaftsstrategie der "zivil-militärischen Fusion" trägt dem Begehren in besonderer Weise Rechnung. Anders als an deutschen Universitäten existieren militärische und zivile Forschungseinrichtungen auf demselben Campus. Zivile Forschungsergebnisse sollen nach dieser Zielsetzung unmittelbar der militärischen Forschung zufließen. Um die gesteckten Ziele im Bereich der Zukunftstechnologien zu erreichen, setzt die VRC auf verschiedene Methoden des Knowhow-Erwerbs. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 294 Spionageabwehr Eine seit Jahren wichtige Strategie ist dabei der Kauf westlicher Unternehmen. Als Ausländische Direktinvestitionen (ADI) bezeichnet man den sonst üblichen Erwerb oder Teilerwerb von deutschen Unternehmen durch ausländische Investoren, deren Firmensitz oder der des Mutterkonzerns sich nicht in einem EUMitgliedstaat befindet. Insbesondere die chinesische Botschaft unterstützt solche strategisch wichtigen Erwerbsvorhaben mit entsprechender Medienarbeit und greift dabei stark in innerdeutsche Belange ein. Zur Vorsorge und zum Schutz kritischer Infrastrukturen sowie für die Sicherheit der für die Bundesrepublik Deutschland bedeutsamen Unternehmen wurden daher gesetzliche Regelungen geschaffen. Wenn Akteure außerhalb der EU ein solches Unternehmen erwerben möchten, greift ein staatliches Prüfverfahren. Die außenwirtschaftsrechtliche Investitionsprüfung in Deutschland wird durch das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) und die Außenwirtschaftsverordnung (AWV) geregelt. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) ist die für die Investitionsprüfung zuständige Behörde. Die Übernahme von Unternehmen aus strategisch wichtigen oder sensiblen Industriesektoren wird damit zum Schutz nationaler und europäischer Sicherheitsinteressen erschwert. Im Vorfeld von Unternehmenskäufen, die einer Investitionsprüfung bedürfen, bietet der Wirtschaftsschutz an, den Veräußerer entsprechend zu sensibilisieren. Präventionsarbeit des Wirtschaftsschutzes Die in Sachsen-Anhalt tätigen Unternehmen und Institutionen können bei Bedarf kostenfrei Beratungen und Gespräche mit dem Wirtschaftsschutz in Anspruch nehmen. Sollten dem Wirtschaftsschutz konkrete oder abstrakte Gefährdungshinweise vorliegen, geht er selbständig auf die Betroffenen zu. Im Rahmen seiner Präventionsarbeit sucht der Wirtschaftsschutz insbesondere Kontakt zu kleinen und mittleren Unternehmen und wirbt im Rahmen von Informationsund Sensibilisierungsgesprächen dafür, Risiken und Bedrohungen durch fremde Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 295 Spionageabwehr Nachrichtendienste ernst zu nehmen und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Wichtige Medien für die Sensibilisierung von Unternehmen und des dort beschäftigten Personals sind auch Informationsblätter des Wirtschaftsschutzes zu speziellen Einzelthemen - z.B. Sicherheit auf Geschäftsreisen (mit Checkliste), Schutz vor Social Engineering; Spionage in Wissenschaft und Forschung, Schutz vor Phishing -, die gemeinsam im Verfassungsschutzverbund entwickelt worden sind. Diese können auch auf der Homepage des Verfassungsschutzes heruntergeladen werden. Der Wirtschaftsschutz ist mit den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder, den Industrieund Handelskammern in Sachsen-Anhalt, mit Wirtschaftsverbänden sowie wissenschaftlichen Lehrund Forschungseinrichtungen vernetzt, um Wissen, Analysen und Warnmeldungen aus dem gesamten Verfassungsschutzverbund und im Interesse der Sicherheit von Wirtschaft und Forschung zu teilen. Allen sachsen-anhaltischen Unternehmen, Unternehmensverbänden, Forschungsund Wissenschaftseinrichtungen steht der Wirtschaftsschutz mit seinem Informationsangebot in Form von Publikationen, Sensibilisierungen und Vorträgen kostenfrei zur Verfügung. Weitergehende Angebote können im Rahmen eines persönlichen Kontaktes erarbeitet werden. Treten Sie mit uns in Kontakt: Telefon: 0391/567 3900 E-Mail: wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de Proliferationsabwehr Die Weiterverbreitung atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen sowie bestimmter Trägersysteme (Raketen, Drohnen etc.) und des dafür erforderlichen Knowhows bedrohen den Frieden und unterliegen in der Bundesrepublik Deutschland der Exportkontrolle. Die Finanzierung der Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 296 Spionageabwehr Proliferation unterliegt einem strengen Sanktionsregime. Die Exportkontrolle fußt auf mehreren internationalen Verträgen, welche die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert hat. Als Beispiel sei hier das Chemiewaffenübereinkommen genannt. Mit der Durchführung der Exportkontrollen sind die Zollbehörden beauftragt. Die Verfassungsschutzbehörden stellen jedoch immer wieder fest, dass für den illegalen Export von sensiblen Gütern verdeckte Methoden eingesetzt werden, die auf das Wirken von fremden Nachrichtendiensten schließen lassen. Die Nachrichtendienste der Staaten Indien, Iran, Nordkorea, Pakistan, Syrien und die VRC stehen im Verdacht, Proliferation zu betreiben oder logistisch und personell Unterstützung zu leisten. Auch die Russische Föderation setzt nachrichtendienstliche Mittel ein, um an sensible Güter zu gelangen, die den in Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen unterliegen. Hierzu zählen insbesondere hochentwickelte Industriegüter, die, wie z. B. Mikrochips, für die russische Rüstungsproduktion von großer Bedeutung sind. Um illegale Exporte durchzuführen, verschleiern proliferatorische Akteure beispielsweise die tatsächlichen Endnutzer einer sensiblen Ware und beschaffen sie über Umweglieferländer wie die VRC oder deren Nachbarstaaten. Zudem werden Tarnfirmen und Strohmänner genutzt. Weitere Hinweise und Merkmale für Proliferation finden Sie in der Broschüre "Proliferation. Wir haben Verantwortung", die von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder herausgegeben wird. Sie kann im Internet unter: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/publikationen/ publikationen-spionage-und-proliferationsabwehr/ Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 297 Spionageabwehr heruntergeladen oder als Druckschrift per E-Mail bei wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de angefordert werden. Mitarbeit der Bevölkerung Die Verfassungsschutzbehörde hat nach SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA den gesetzlichen Auftrag, Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen über geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht zu sammeln und auszuwerten. Damit sie ihren Auftrag erfüllen kann, ist sie auch auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen. Menschen können sich ungewollt in nachrichtendienstliche Aktivitäten verstricken. Auf Grund eines Verstoßes gegen ihnen nicht bekannte Gesetze im Ausland könnten sie in das Visier fremder Nachrichtendienste geraten und zur Mitarbeit gezwungen werden. Die Verfassungsschutzbehörde kann Menschen, die bereits im Interesse fremder Staaten nachrichtendienstlich tätig geworden sind, dabei helfen, sich aus einer ausweglos erscheinenden Situation zu befreien. Da die Verfassungsschutzbehörden nicht (wie die Strafverfolgungsbehörden) dem Legalitätsprinzip unterliegen, sind sie nicht verpflichtet, die Strafverfolgungsbehörden über Hinweise auf Spionagedelikte zu informieren. Voraussetzung ist die freiwillige Aufgabe der nachrichtendienstlichen Tätigkeit und eine umfassende Offenbarung. Die Verfassungsschutzbehörde sichert allen Hilfesuchenden Vertraulichkeit zu. Dasselbe gilt für die Übermittlung etwaiger Verdachtsmomente sowie von Informationen über mögliche Sicherheitsvorfälle und Cyberangriffe. Die Spionageabwehr des Landes Sachsen-Anhalt ist zu erreichen unter: Telefon: 0391/567 3900 Fax: 0391/567 3999 E-Mail: wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 298 Spionageabwehr Die Spionageabwehr bietet allen Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen, Interessenverbänden, Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Behörden Sensibilisierungen zu den Themen Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr an. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 299 GEHEIMSCHUTZ Geheimschutz Geheimschutz Allgemeines Verschlusssachen (VS) sind Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die - unabhängig von ihrer Darstellungsform - geheim zu halten und entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit mit einem der Geheimhaltungsgrade STRENG GEHEIM, GEHEIM, VS-VERTRAULICH oder VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH zu kennzeichnen sind. Alle Institutionen des Bundes und der Länder müssen sich darauf verlassen können, dass Informationen, deren Kenntnisnahme von Unbefugten den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder gefährden können, als im staatlichen Interesse geheim zu haltende Informationen wirkungsvoll geschützt werden. Jeder, dem eine VS anvertraut oder zugänglich gemacht worden ist, trägt die persönliche Verantwortung für ihre sichere Aufbewahrung und vorschriftsmäßige Behandlung sowie für die Geheimhaltung ihres Inhalts gemäß den Bestimmungen der Verschlusssachenanweisung für das Land Sachsen-Anhalt (VSA). Geheimschutz im öffentlichen Bereich Personeller Geheimschutz Mit dem personellen Geheimschutz soll verhindert werden, dass Personen mit Sicherheitsrisiken Zugang zu VS erhalten. Das hierzu genutzte Instrument ist die Sicherheitsüberprüfung von Personen, die mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen. Die Verantwortung für diese Sicherheitsmaßnahmen liegt bei den zuständigen Stellen. Im öffentlichen Bereich des Landes ist die zuständige Stelle in der Regel die Beschäftigungsbehörde. Die zuständige Stelle bestellt zur Erfüllung ihrer Aufgaben einen Geheimschutzbeauftragten und einen Vertreter. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 301 Geheimschutz Das Sicherheitsüberprüfungsverfahren ist im Sicherheitsüberprüfungsund Geheimschutzgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (SÜG-LSA) geregelt. Die Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalts beruht auf SS 4 Abs. 2 Nr. 1 VerfSchG-LSA in Verbindung mit SS 4 Abs. 3 SÜG-LSA. Gründe, die einem Einsatz in einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit entgegenstehen, können sich insbesondere ergeben aus: - Zweifeln an der Zuverlässigkeit (z. B. aufgrund von Straftaten, Drogenoder Alkoholmissbrauch); - Gefährdungen durch Anbahnungsund Werbungsversuche fremder Nachrichtendienste (z. B. im Falle einer Überschuldung, da dies ein Ansatzpunkt sein kann, um den Betroffenen gegen Geldzahlung zu einer Verletzung seiner Pflichten zu veranlassen); - Zweifeln am Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (z. B. wegen extremistischer Betätigung). Die Frage, ob sich aus einem derartigen Umstand tatsächlich ein Sicherheitsrisiko ergibt, ist in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Art der vorgesehenen sicherheitsempfindlichen Tätigkeit zu prüfen. Eine Sicherheitsüberprüfung darf nur mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung des Betroffenen erfolgen. Materieller Geheimschutz Der materielle Geheimschutz befasst sich mit technischen und organisatorischen Sicherheitsvorkehrungen, die verhindern oder zumindest erschweren sollen, dass Unbefugte an geschützte Informationen gelangen. Die Verfassungsschutzbehörde hat hierbei die Aufgabe, öffentliche Stellen und geheimschutzbetreute Unternehmen des Landes zu beraten, wie sie am besten technische Sicherungsmaßnahmen planen und durchführen können. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 302 ANHANG Statistik 304 Bildnachweis 305 StatiStik Extremistisches Personenpotenzial in Sachsen-Anhalt 2021 2022 2023 Rechtsextremisten Parteigebundener Rechtsextremismus (Parteien) 165 190 2.345 Weitgehend unstrukturierter, meist subkulturell geprägter Rechtsextre780 900 970 mismus Parteiungebundener Rechtsextre395 255 250 mismus Summe: 1.340 1.345 3.565 Gesamt (nach Abzug der Mehrfach1.250 1.270 3.350 mitgliedschaften) Reichsbürgerszene (inkl. Rechtsextremisten innerhalb 600 650 700 dieser Szene) Delegitimiererszene 100 Linksextremisten Gewaltorientierte Linksextremisten 300 295 295 Nicht gewaltorientierte 300 305 385 Linksextremisten Gesamt: 600 600 680 Islamisten 400 400 400 PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) 250 250 250 Summe 3.100 3.170 5.480 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 304 Bildnachweis Seite 32 Logo AfD Landesverband Sachsen-Anhalt Seite 36 https://www.facebook.com/photo/?fbid=28212 92311490089&set=a.1783429571943040 Seite 48 Blaue Zukunft Ausgabe 2/2023, S. 31. Seite 60 Logo "Die Heimat" Seite 64 https://www.facebook.com/heimatpartei Seite 66 https://www.instagram.com/infernodeutschland/ Seite 67 Logo "Der III. Weg" Seite 69 https://t.me/agjugend Seite 71 https://t.me/drittewegburgenlandkreis Seite 75 https://t.me/agjugend Seite 76 Logo NSP Seite 81 www.nsheute.com Seite 84 https://t.me/gefangenenhilfe Seite 90 https://www.schwarzekreuze.info/ Seite 92 https://t.me/wedenherz Seite 96 MI LSA Seite 107 https://www.facebook.com/photo?fbid=103391 4404517213&set=a.103381294237200& locale=de_DE Seite 110 https://opos-records.com Seite 111 MI LSA Seite 112 https://t.me/HeimdallVersand (2x) Seite 113 https://www.instagram.com/isegrimclothing https://www.youtube.com/@ndsrecordsTV Seite 114 MI LSA Seite 118 MI LSA Seite 120 https://t.me/IdentitaereDeutschland Seite 123 https://www.info-direkt.eu/2023/05/10/ no-way-identitäre-bewegung-warnt-in-afrikavor-migration Seite 124 https://unzensuriert.de/194105-patriotischeaktivisten-faerben-regenbogen-zebrastreifen-inschwarz-rot-gold-um/ Seite 126 https://twitter.com/ZentrumChemnitz/ Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 305 Bildnachweis Seite 128 Logo IfS Seite 141 https://t.me/DasgrosseTreffenderBundesstaaten Seite 156 bewegunghalle.de Seite 157 https://www.facebook.com/Mitteldeutschland123 Seite 158 bernburg-steht-auf-ev.de Seite 169 http://zusammenkaempfen.bplaced.net/ Seite 178 http://zusammenkaempfen.bplaced.net/ Seite 179 MI LSA Seite 181 https://squatsalzwedel.noblogs.org Seite 183 https://www.instagram.com/p/CqGkBjVr1Vt/ Seite 184 https://www.instagram.com/youngstruggle_ dessau/ Seite 187 https://www.instagram.com/p/Cr1U4s6Ijpx/ (Screenshot) Seite 188 https://www.instagram.com/p/Cqxrfz1sBYn/ Seite 190 https://www.instagram.com/p/ Cp4seabgizN/?img_index=7 Seite 191 https://www.instagram.com/p/Co0AVyZs1rc/ https://www.instagram.com/p/CplBqgxsJ6b/ Seite 193 http://zusammenkaempfen.bplaced.net/ Seite 194 https://www.instagram.com/p/CvPmE8AMz2V/ Seite 195 https://www.instagram.com/p/ CvVaPKws8MI/?img_index=4 Seite 196 https://www.instagram.com/p/C0rpeSJs-H6 https://www.instagram.com/p/ Czvd9smMvbR/?img_index=1 Seite 198 https://twitter.com/redmedia21 https://de.indymedia.org/node/283035 Seite 202 http://www.instagram.com/p/CnPkXJqtPfR Seite 203 https://www.instagram.com/p/CnwZgLhNI0Q Seite 206 https://www.facebook.com/ watch/?v=1262949397706437 Seite 209 http://zusammenkaempfen.bplaced.net/ Seite 210 Logo RH Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 306 Bildnachweis Seite 212 https://rote-hilfe.de/unterstuetzung/haeufigefragen-zur-unterstuetzung-faqs (Screenshot, geschnitten, Collage MI LSA) Seite 215 Logo MLPD Seite 219 Logo DKP www.marxistische-blaetter.de Seite 221 https://www.instagram.com/p/CzI4EF3otys Seite 224 Die Religion der Demokratie (Online-Ausgabe) Seite 233 Facebook Seite 241 ISPK Seite 242 IS Seite 243 Logo ISPK Seite 246 Flagge HTS Seite 247 Logo TJ Seite 251 Wappen HAMAS Seite 252 Wappen HAMAS Seite 256 https://anfdeutsch.com/aktuelles/vdj-30-jahrepkk-verbot-kein-ruhmesblatt-fur-den-rechts staat-39680 Seite 257 Logo PKK Logo KCDK-E Seite 258 Logo KON-MED Logo FED-KURD Seite 263 https://mitmischen-md.de/2023/09/22/ informationsveranstaltung-30-jahre-pkk-verbot30-jahre-kriminalisierung-der-kurdischen-gesell schaft/ Seite 265 https://x.com/civaka_azad Seite 266 https://anfdeutsch.com/kultur/-36207 Logo Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg Logo Rojava Solibündnis Halle Seite 272 Logo und Zeichen SO Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2023 307 Verteilerhinweis Dieser Bericht wird vom Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt im Rahmen der gesetzlichen Verpflichtung zur Unterrichtung der Öffentlichkeit herausgegeben. Er darf weder von Parteien noch von deren Kandidaten oder Helfern während des Wahlkampfes zum Zweck der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für alle Wahlen. Missbräuchlich sind insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen und an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist auch die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer Wahl darf die vorliegende Druckschrift nicht so verwendet werden, dass sie als Parteinahme des Herausgebers zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Diese Beschränkungen gelten unabhängig vom Vertriebsweg, also unabhängig davon, auf welchem Wege und in welcher Anzahl diese Informationsschrift dem Empfänger zugegangen ist. Erlaubt ist jedoch den Parteien, die Informationsschrift zur Unterrichtung ihrer Mitglieder zu verwenden.