Verfassungsschutzbericht 2022 Beratung Spionageabwehr Verfassung Terrorismus Information Linksextremismus Extremismusprävention Auslandsbezogener Extremismus ng su Aufklärung Islamismus s fa Bewertung se Delegitimierung Demokratie es Rechtsextremismus Pr Analyse Reichsbürgerszene Sensibilisierung Wirtschaftsschutz IMPRESSUM Herausgeber: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Halberstädter Straße / "Am Platz des 17. Juni" 39112 Magdeburg Bezugsadresse: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Postfach 18 49 39008 Magdeburg Tel: 0391/567-3900 Dieser Verfassungsschutzbericht ist auch im Internet abrufbar: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/ verfassungsschutzberichte-zum-downloaden/ Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt für das Jahr 2022 Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt InhaltsverzeIchnIs VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT 9 Gesetzliche Grundlagen und Funktion 9 Schwerpunktaufgaben 11 Arbeitsweise 16 Öffentlichkeitsarbeit 17 Präventionsarbeit 19 Auskunftserteilung 23 RECHTSEXTREMISMUS 24 Einleitung 25 Rechtsextremistisches Parteienspektrum 31 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) - Landesverband Sachsen-Anhalt 31 Partei "Der III. Weg" 38 "Neue Stärke Partei" (NSP) Abteilung Magdeburg ("Neue Stärke Magdeburg; NSMD) 45 Parteiungebundener, vornehmlich neonazistisch geprägter Rechtsextremismus 50 Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial (gewaltbereiter Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus) 71 "Neue Rechte" 90 "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) 90 "Verein für Staatspolitik e. V." firmiert unter "Institut für Staatspolitik" (IfS) 99 "REICHSBÜRGER" UND "SELBSTVERWALTER" 104 Einleitung 105 Reichsbürgerszene 107 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 118 Sammelbeobachtungsobjekt: Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates 119 LINKSEXTREMISMUS 128 Einleitung 129 VI Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 InhaltsverzeIchnIs Gewaltorientierte Linksextremisten 140 "Rote Hilfe e. V." (RH) 182 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) 188 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) 192 ISLAMISMUS 196 Einleitung 197 Salafismus 201 "Gemeinschaft der Verkündigung der Mission" (Urdu: "Tablighi Jama'at", TJ) 211 Muslimbruderschaft (MB) / "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) / HAMAS 213 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 216 Einleitung 217 "Arbeiterpartei Kurdistans" (kurdisch: Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) 219 SCIENTOLOGY ORGANISATION (SO) 233 SPIONAGEABWEHR 240 Einleitung 241 Russische Nachrichtendienste 243 Chinesische Nachrichtendienste 244 Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran 247 Andere Nachrichtendienste 248 Hybride Bedrohungen 249 Cyberabwehr 254 Wirtschaftsschutz 258 Proliferationsabwehr 262 GEHEIMSCHUTZ 265 ANHANG 267 Statistik 267 Bildnachweis 268 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 VII Verfassungsschutz in sachsen-anhalt VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT Gesetzliche Grundlagen und Funktion Die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung; sie soll den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder gewährleisten. Die Aufgaben des Verfassungsschutzes in unserem Bundesland nimmt das Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt als Verfassungsschutzbehörde wahr. Der Verfassungsschutz informiert im Rahmen seines gesetzlichen Auftrags die Landesregierung und andere Stellen. Diese sollen dadurch in die Lage versetzt werden, die erforderlichen Maßnahmen ergreifen zu können. Ebenso unterrichtet er die Öffentlichkeit über seine Aufgabenfelder (vgl. SS 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt; nachfolgend VerfSchG-LSA). Sie bestehen in der Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, 2. fortwirkende Strukturen und Tätigkeiten der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere des Ministeriums für Staatssicherheit oder des Amtes für Nationale Sicherheit, im Sinne der SSSS 94 bis 99, 129 und 129a des Strafgesetzbuches (StGB), Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 9 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt 3. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG), 4. Bestrebungen im Geltungsbereich des GG, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 5. Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG), insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG) gerichtet sind. Unter Bestrebungen im verfassungsschutzrechtlichen Sinn sind politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen in oder für einen Personenzusammenschluss zu verstehen, die sich gegen die oben unter den Ziffern 1., 4. und 5. genannten Schutzgüter richten. Ein Personenzusammenschluss besteht aus mehreren, gemeinsam handelnden Personen. Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln, gelten nur dann als Bestrebung und werden vom Verfassungsschutz beobachtet, wenn sie auf die Anwendung von Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut des VerfSchG-LSA erheblich zu beschädigen (vgl. SS 5 Abs. 1 VerfSchG-LSA). Voraussetzung für das Sammeln und Auswerten von Informationen ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für vorstehend genannte Bestrebungen oder Tätigkeiten. Für das Handeln der Verfassungsschutzbehörde ist es nicht erforderlich, dass eine konkrete Gefahr besteht oder eine begangene Straftat vorliegt. Der Verfassungsschutz wird bereits im Vorfeld konkreter Gefahren oder Straftaten tätig. Insbesondere darin kommt auch die Frühwarnfunktion des Verfassungsschutzes zum Ausdruck. 10 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Schwerpunktaufgaben Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Eine Schwerpunktaufgabe des Verfassungsschutzes besteht gemäß SS 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA im Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, mithin dem Schutz der nicht zur Disposition stehenden Elemente des Grundgesetzes. In seinem Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 - führt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aus, dass der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 GG jene zentralen Grundprinzipien umfasst, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind. Dies sind: - Prinzip der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), - Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG), - Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 GG). Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit. Ferner ist das Demokratieprinzip konstitutiver Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Unverzichtbar für ein demokratisches System sind die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Für den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind schließlich die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte bestimmend. Zugleich erfordert die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Einzelnen, dass die Anwendung physischer Gewalt Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 11 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt den gebundenen und gerichtlicher Kontrolle unterliegenden staatlichen Organen vorbehalten ist. Dem entspricht die gesetzliche Aufzählung der Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in SS 5 Abs. 2 VerfSchG-LSA, ergänzt um den Verweis auf die in der Landesverfassung konkretisierten Menschenrechte. Spionageabwehr Die Spionageabwehr ist gemäß SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA Aufgabe der Verfassungsschutzbehörde. Sie beschäftigt sich mit der Aufklärung, Abwehr und Verhinderung von Spionageaktivitäten fremder Nachrichtendienste. Auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und Völkerverständigung Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt des Verfassungsschutzes ist die Beobachtung von Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Dazu gehören in erster Linie gewaltbereite extremistische Gruppen mit Auslandsbezug, die von unserem Staatsgebiet aus gewaltsame Aktionen planen und vorbereiten, um die politischen Verhältnisse im Ausland, vordringlich in ihrem Herkunftsland, gewaltsam zu verändern und dadurch die staatlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den betroffenen Staaten beeinträchtigen (vgl. SS 4 Abs. 1 Nr. 4 VerfSchG-LSA). Sofern sich Bestrebungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker richten, unterliegen diese ebenfalls der Beobachtung durch den Verfassungsschutz (vgl. SS 4 Abs. 1 Nr. 5 VerfSchG-LSA). Davon erfasst sind Personenzusammenschlüsse, die darauf abzielen, konfessionelle oder ethnische Gruppen im Ausland zu bekämpfen. 12 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Mitwirkungsaufgaben Nach SS 4 Abs. 2 Nr. 1 VerfSchG-LSA ist die Verfassungsschutzbehörde nicht nur für Angelegenheiten des Geheimschutzes, sondern auch für weitere gesetzlich geregelte Mitwirkungsaufgaben, die so genannten Zuverlässigkeitsüberprüfungen, zuständig. Mit der Erfüllung dieses Auftrages trägt die Verfassungsschutzbehörde dazu bei, dass Extremisten weder legal in den Besitz von Waffen gelangen noch ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland verfestigen können oder Zugang zu bestimmten sicherheitsempfindlichen Bereichen erhalten. Das Verfahren richtet sich nach den jeweiligen Fachgesetzen, auf deren Grundlage die jeweils zuständigen Behörden eine Anfrage an die Verfassungsschutzbehörde stellen. In der Folge prüft der Verfassungsschutz, ob ihm zu den von der zuständigen Fachbehörde angegebenen Personen Erkenntnisse vorliegen, die für die Entscheidung der Fachbehörde sicherheitsbezogene Relevanz besitzen, mithin für die Beurteilung des Sachverhalts von Bedeutung sein könnten. Im Rahmen dieser Mitwirkung übermittelt die Verfassungsschutzbehörde die bei ihr vorliegenden Erkenntnisse unter Berücksichtigung des Geheimschutzes an die anfragende öffentliche Stelle. Sie wirkt so mit ihrer Erkenntnismitteilung an dem jeweiligen Verfahren mit; die alleinige Befugnis zur Entscheidung verbleibt jedoch bei der jeweils zuständigen Behörde. Zu den Mitwirkungsbereichen zählen insbesondere Anfragen nach dem - Waffengesetz (WaffG), - Aufenthaltsgesetz (AufenthG), - Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), - Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), - Sprengstoffgesetz (SprengG), - Atomgesetz (AtG und der - Gewerbeordnung (GewO). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 13 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Dabei gehören zu den anfragestärksten Bereichen: Anfragen nach WaffG Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Waffengesetzes und weiterer Vorschriften (3. WaffRÄndG) vom 17. Februar 2020 wurde in SS 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 WaffG eine obligatorische (Regel-) Anfrage beim Verfassungsschutz im Rahmen der Zuverlässigkeitsüberprüfung normiert. Anfragen nach GewO (Bewacher) Personen, die ein Bewachungsgewerbe betreiben oder als Wachperson tätig werden wollen, unterliegen nach SS 34a GewO einer Zuverlässigkeitsüberprüfung. Sowohl für den Gewerbetreibenden sowie für die mit der Leitung eines Betriebes oder einer Zweigniederlassung beauftragten Person als auch für Wachpersonen, die bei der Bewachung von Aufnahmeeinrichtungen und zugangsgeschützten Großveranstaltungen eingesetzt werden sollen, ist die Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde gesetzlich vorgeschrieben. Anfragen nach AufenthG Nach SS 73 Abs. 2 AufenthG können die Ausländerbehörden vor erstmaliger Erteilung oder Verlängerung von Aufenthaltstiteln die personenbezogenen Daten der Antragstellenden an die Verfassungsschutzbehörde übermitteln, um festzustellen, ob Gründe für eine Versagung vorliegen. Die Verfassungsschutzbehörde hat der Ausländerbehörde unverzüglich mitzuteilen, ob Versagungsgründe nach SS 5 Abs. 4 AufenthG oder sonstige Sicherheitsbedenken gegeben sind. Hierbei geht der Gesetzgeber davon aus, dass ein Ausweisungsinteresse besonders schwer wiegt, wenn der Ausländer die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Anfragen nach StAG (Einbürgerung) Zur Ermittlung von Ausschlussgründen i.S.d. SS 11 StAG übermit14 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt teln die Einbürgerungsbehörden gem. SS 37 Abs. 2 StAG vor ihrer Entscheidung die personenbezogenen Daten aller Antragstellenden, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, an die Verfassungsschutzbehörde. Über etwaige Erkenntnisse hat die Verfassungsschutzbehörde die Einbürgerungsbehörde unverzüglich zu unterrichten. Anfrageaufkommen im Berichtsjahr Die Verfassungsschutzbehörde hat im Berichtsjahr an insgesamt 53.936 Verfahren mitgewirkt. Dabei belief sich die Anzahl der Anfragen nach dem WaffG auf 18.365, nach der GewO auf 1.837, nach dem AufenthG auf 31.101, nach dem StAG auf 1.798 sowie nach LuftSiG, SprengG und AtG zusammen auf 835 (im nachfolgenden Diagramm unter "Sonstige" aufgeführt): Nachberichtspflicht Die Mehrzahl der Regelanfragen ist mit einer Nachberichtspflicht der Verfassungsschutzbehörde versehen, so beispielsweise Anfragen nach WaffG, AufenthG, GewO, LuftSiG, SprengG und AtG. Danach hat die Verfassungsschutzbehörde die zuständige Behörde unverzüglich zu informieren, soweit im Nachhinein für die Beurteilung der Zuverlässigkeit bedeutsame Erkenntnisse bzw. für Anfragen nach AufenthG Versagungsgründe oder sonstige Sicherheitsbedenken anfallen. Im Berichtsjahr wurde zum Beispiel zum AufenthG in über 5.400 Fällen ein Nachbericht ausgelöst. Die Verfassungsschutzbehörde prüft im Einzelfall, ob Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 15 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt relevante Erkenntnisse an die Ausländerbehörden mitzuteilen sind. Entwicklung der Anzahl der Anfragen im Mitwirkungsbereich Seit 2020 ist die Anzahl der Anfragen im Mitwirkungsbereich der Verfassungsschutzbehörde kontinuierlich angestiegen. Im Vergleich zum Vorjahr (40.268) hat sich das Aufkommen im Berichtsjahr um 13.668 Anfragen erhöht; dabei liegt der Anstieg in nahezu allen Mitwirkungsbereichen deutlich im zweistelligen prozentualen Bereich. Besonders hoch fiel der Anstieg bei der Mitwirkung im Rahmen des AufenthG aus: Hier erhöhte sich die Zahl der Anfragen um 45 Prozent, von 21.489 Anfragen im Jahr 2021 auf 31.101 Anfragen im Jahr 2022. Bei der Zuverlässigkeitsüberprüfung nach dem WaffG betrug der Anstieg der Anfragen im Vergleich zum Vorjahr 18 Prozent (2021: 15.578 Anfragen; 2022: 18.365 Anfragen). Arbeitsweise Der Verfassungsschutz stützt sich bei der Informationserhebung weitgehend auf offen zugängliches Material wie Zeitungen, wissenschaftliche Veröffentlichungen, Rundfunkberichte, Interviews, Parteiprogramme und offene Internetinhalte. 16 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Er darf Informationen auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln, insbesondere durch Einsatz von Vertrauenspersonen und Gewährspersonen, Observation, Bildund Tonaufzeichnungen und die Verwendung von Tarnpapieren und Tarnkennzeichen verdeckt erheben (vgl. SS 7 Abs. 3 VerfSchG-LSA). Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählt auch die Brief,Postund Telefonkontrolle. Der hiermit verbundene Eingriff in das Grundrecht nach Artikel 10 GG ist nach Maßgabe des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) zulässig. Die Verfassungsschutzbehörde erhebt, verarbeitet und nutzt die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten. Dies geschieht unter Beachtung des Datenschutzgesetzes Sachsen-Anhalt und der besonderen Regelungen des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt. Die Landesregierung unterliegt auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes der Kontrolle des Landtages. Diese Aufgabe nimmt das Parlamentarische Kontrollgremium wahr (vgl. SSSS 24 ff. VerfSchGLSA). Für besondere Aufgaben des Verfassungsschutzes waren im Haushaltsplan 2022 im Einzelplan 03 insgesamt 1.568.900,00 Euro angesetzt. Der Verfassungsschutzbehörde standen im Berichtsjahr 121 Dienstposten/Arbeitsplätze zur Verfügung. Öffentlichkeitsarbeit Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit unterstützt die Verfassungsschutzbehörde die geistig-politische Auseinandersetzung mit extremistischem und terroristischem Gedankengut und dient damit dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Regierung und Parlament, aber auch Bürgerinnen und Bürger werden so über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Organisationen informiert. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 17 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Verfassungsschutzbericht Die Verfassungsschutzbehörde erfüllt mit diesem Bericht ihre gesetzlichen Unterrichtungspflichten, die in SS 15 Abs. 1 und 2 VerfSchG-LSA normiert sind. Bitte beachten Sie folgende redaktionelle Hinweise: - Soweit der Verfassungsschutzbericht einzelne Gruppierungen namentlich nennt, handelt es sich - sofern nicht anders erwähnt - um Fälle, bei denen die vorliegenden Erkenntnisse in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele im Sinne des SS 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA verfolgt. Diese Gruppierungen gelten insofern als gesicherte extremistische Bestrebungen, die zielund zweckgerichtet gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorgehen (siehe Registeranhang). - Allerdings erwähnt der Verfassungsschutzbericht nicht alle Gruppierungen, die von der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt beobachtet werden. Insbesondere werden die Gruppierungen nicht erwähnt, bei denen lediglich tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen. Informationen über solche Gruppierungen darf die Verfassungsschutzbehörde gemäß SS 7 Abs. 2 VerfSchG-LSA sammeln und auswerten. Über diese Gruppierungen darf sie jedoch nicht öffentlich berichten, da von der Unterrichtungspflicht des SS 15 Abs. 2 VerfSchG-LSA nur gesicherte extremistische Bestrebungen erfasst sind. Eine Nennung von sogenannten Verdachtsfällen erfolgt daher nicht. - Die Nennung von Gruppierungen, die extremistisch beeinflusst sind, dient dem Verständnis des sachlichen Zusammenhangs. - Der Berichtszeitraum umfasst den Zeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2022. Ereignisse vor oder nach diesem Zeit18 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt raum werden nur dargestellt, sofern sie für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs erforderlich sind. - Hinweise auf Geschehnisse außerhalb Sachsen-Anhalts sind in den Bericht aufgenommen, sofern sie für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs erforderlich sind. - Die in Anführungszeichen gefassten Textteile sind, so es sich um Zitate handelt, in der Originalschreibweise wiedergegeben. - Die jeweiligen Mitgliederzahlen der Personenzusammenschlüsse sind zum Teil geschätzt und gerundet. - Personenund Funktionsbezeichnungen in diesem Bericht gelten jeweils in weiblicher und männlicher Form. - Fußnoten sind fortlaufend im jeweiligen Abschnitt ausgewiesen. Die Verfassungsschutzberichte der letzten fünf Jahre können im Internet unter der Adresse: www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz heruntergeladen oder bei der Verfassungsschutzbehörde kostenlos angefordert werden. Präventionsarbeit Die Extremismusprävention ist seit Jahren ein fester Bestandteil der Arbeit des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt. Mit der Novellierung des Verfassungsschutzgesetzes hat der Gesetzgeber in SS 4a VerfSchG-LSA klargestellt, dass die Prävention zu den Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde zählt. Demzufolge informiert die Verfassungsschutzbehörde Landtag, Landesregierung, Gerichte, Staatsanwaltschaften, Kommunen und weitere Behörden, um frühzeitig vor Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu warnen. Der Verfassungsschutz steht somit allen Menschen im Land als Informationsdienstleister zur Verfügung. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 19 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Dieser Dialog mit den Bürgern, aber auch mit Behörden sowie sonstigen privaten und zivilen Institutionen über die Aufgabenfelder des Verfassungsschutzes und die damit einhergehende Bereitstellung von Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen ist ein Bestandteil des unmittelbaren Demokratieschutzes. Die Verfassungsschutzbehörde sensibilisiert daher auf ihrer Webseite, in Informationsund Schulungsveranstaltungen, mit Publikationen und im Rahmen der Pressearbeit des Innenministeriums für Erscheinungsformen und Strategien des politischen Extremismus in Sachsen-Anhalt. Die Informationsangebote des Verfassungsschutzes umfassen alle Phänomenbereiche des Extremismus (Rechtsextremismus, Reichsbürgerszene, Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates, Linksextremismus, Islamismus, Auslandsbezogener Extremismus). Im Bereich der Spionageabwehr sowie des Wirtschaftsund Wissenschaftsschutzes bietet die Verfassungsschutzbehörde Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen neben allgemeinen Informationen auch vertrauliche Beratung und Unterstützung zum Schutz vor Spionage und Cyberangriffen an. Im Rahmen seiner Präventionsarbeit hat der Verfassungsschutz im Berichtsjahr erneut mit zielgruppenorientierten Fachvorträgen über aktuelle extremistische Entwicklungen aufgeklärt. Diese Vorträge richten sich vor allem an Multiplikatoren aus allen Teilen der Landesverwaltung (insbesondere der Polizeiund Justizbehörden), in Bildungseinrichtungen und Kommunen, aber auch an zivilgesellschaftliche Akteure (z. B. Vereine und Bürgerinitiativen) und Unternehmen. Im Rahmen seiner Beteiligung an Ausbildungsund Fortbildungsmaßnahmen des Landes und der Kommunen unterrichtet der Verfassungsschutz Bedienstete der öffentlichen Verwaltung unter anderem über relevante Akteure und Kennzeichen der verschiedenen Phänomenbereiche des politischen Extremismus sowie über geeignete Handlungsstrategien im Umgang mit extremistischen Bestrebungen. 20 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Am 21. September 2022 veranstaltete die Verfassungsschutzbehörde eine Fachtagung zum Thema "Extremismus in Zeiten der Pandemie" im Roncalli-Haus in Magdeburg. Auf dem Programm standen einerseits wissenschaftliche Referate, die eine kritische Analyse extremistischer Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und einen Überblick über sozialpsychologische Erklärungsansätze für die Verbreitung von Verschwörungstheorien boten. Zum anderen informierten Vertreter von Sicherheitsbehörden über den Verlauf der Proteste gegen die pandemiebedingten Eindämmungsmaßnahmen und die Versuche von Extremisten, diese Proteste in ihrem Sinne zu beeinflussen, sowie über Erkenntnisse zu dem im Frühjahr 2021 vom Verfassungsschutzverbund neu eingerichteten Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates". Die Tagung bot somit nicht nur ein Forum für die Bilanzierung nachrichtendienstlicher und polizeilicher Erkenntnisse zur extremistischen Instrumentalisierung der Pandemie; sie ermöglichte auch einen Dialog zwischen den Sicherheitsbehörden und der sozialwissenschaftlichen Forschung. An der Veranstaltung nahmen mehr als 100 Interessierte teil. Sie haben Interesse an den Informationsangeboten des Verfassungsschutzes? Dann wenden Sie sich bitte direkt an uns: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Nachtweide 82 39124 Magdeburg Telefon: +49(0)391/567-3900 E-Mail: verfassungsschutz@mi.sachsen-anhalt.de info.verfassungsschutz@mi.sachsen-anhalt.de oder besuchen Sie uns im Internet unter www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 21 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Hier finden Sie weitere Informationen und unsere aktuellen Publikationen, die wir Ihnen auch am Ende dieses Berichts vorstellen. EXTRA - Extremismus-Ausstieg Das bei der Verfassungsschutzbehörde angesiedelte Ausstiegshilfeprogramm EXTRA (Extremismus-Ausstieg) unterstützt seit dem Jahr 2014 erfolgreich ausstiegswillige Menschen bei der Deradikalisierung und der Lösung aus extremistischen Lebensbezügen. Die persönliche Unterstützung und Begleitung von Rechtsextremisten während eines freiwilligen und selbstmotivierten Ausstiegs als Hilfe zur Selbsthilfe bildet den Schwerpunkt der Arbeit von EXTRA. Ziel ist die Abkehr von rechtsextremistischen Einstellungen und Handlungsmustern sowie das Lösen radikalisierungsbegünstigender (sozialer) Begleitprobleme. Als Angebot im Bereich der tertiären Prävention zielt die Arbeit von EXTRA darauf ab, im kooperativen Zusammenwirken mit Ausstiegswilligen nach erkannten Regelverletzungen durch geeignete präventive Maßnahmen weitere Regelverletzungen zu vermeiden, persönliche Folgeprobleme zu lösen und negative Auswirkungen einer Radikalisierung (für Aussteiger ebenso wie für die Gesellschaft) zu verhindern. Damit nimmt EXTRA auch Aufgaben der Prävention zum Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen wahr. EXTRA ist eine gut etablierte und anerkannte Einrichtung in der Beratungslandschaft. Nach erfolgreicher und positiver Evaluation wurde EXTRA, das zunächst als Modellprojekt gestartet war, im Jahr 2022 als Regelangebot etabliert. Die Mitarbeiter von EXTRA sind wie folgt erreichbar: Kostenfreie Hotline: 0800 - 22 44 101 (24 Stunden erreichbar) E-Mail: extra@mi.sachsen-anhalt.de 22 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Auskunftserteilung Jeder Bürger kann unentgeltlich Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten beantragen. Die Verfassungsschutzbehörde ist nach SS 14 Abs. 1 VerfSchG-LSA grundsätzlich verpflichtet, Auskunft zu erteilen. Geht ein Ersuchen ein, wird der Ersuchende zunächst gebeten, eine Kopie seines Personalausweises oder eines entsprechenden Personendokuments zur Identitätsfeststellung zu übersenden. Dies soll die angefragte Person davor schützen, dass möglicherweise andere Personen in seinem Namen Auskunft verlangen und Daten möglicherweise an Unberechtigte übermittelt werden. Die Auskunft hat nach SS 14 Abs. 2 VerfSchG-LSA zu unterbleiben, wenn bestimmte, im Gesetz geregelte Ausschlussgründe vorliegen. Dies ist beispielsweise gegeben, wenn durch die Auskunftserteilung eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde drohen würde. Im Berichtsjahr gab es 111 Auskunftsersuchen: Auskunft über die zur Person gespeicherten Daten 17 Negativauskunft, keine Daten gespeichert 63 Keine Bearbeitung mangels Identifizierung des Er31 suchenden Auskunftsersuchen insgesamt 111 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 23 RechtsextRemismus Rechtsextremismus Einleitung 25 Rechtsextremistisches Parteienspektrum 31 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) - Landesverband Sachsen-Anhalt 31 Partei "Der III. Weg" 38 "Neue Stärke Partei" (NSP) Abteilung Magdeburg ("Neue Stärke Magdeburg; NSMD) 45 Parteiungebundener, vornehmlich neonazistisch geprägter Rechtsextremismus 50 Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial (gewaltbereiter Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus) 71 "Neue Rechte" 90 "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) 90 "Verein für Staatspolitik e. V." firmiert unter "Institut für Staatspolitik" (IfS) 99 24 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus RECHTSEXTREMISMUS Die Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und gegen die politische Reaktion der Bundesregierung auf den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, im Zusammenhang mit den gestiegenen Energiepreisen und der Inflation waren im Berichtsjahr auch in Sachsen-Anhalt ein bestimmendes Aktionsfeld der rechtsextremistischen Szene. Rechtsextremisten beteiligten sich in unterschiedlicher Intensität an Kundgebungen und Demonstrationen. Diese boten ihnen in Zeiten der pandemiebedingten Einschränkungen ein willkommenes Ventil. Die Szene nutzte die Möglichkeit, in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen und ihre Ideologie auch bei solchen Versammlungen zu verbreiten, deren Teilnehmer überwiegend nicht dem extremistischen Spektrum zuzurechnen waren. Rechtsextremisten zeigten sich angesichts der Radikalisierung von Teilen der Protestbewegung, die sich seit 2020 gegen die pandemiebedingten Einschränkungen formiert hatte, in ihren Bemühungen um eine Ausdehnung der Resonanzräume rechtsextremistischer Vorstellungen bestärkt.1 Zahlreichen Verlautbarungen aus der rechtsextremistischen Szene war zu entnehmen, dass ihre Protagonisten aus der Proteststimmung Kapital schlagen wollten. Eine von ihnen erhoffte Eskalation des Protestgeschehens in den Herbstmonaten ("Heißer Herbst") blieb indes aus. 1 - Die Autoren der Leipziger Autoritarismus-Studie 2022 konstatieren, dass die bei den Protesten gegen die Eindämmungsmaßnahmen vielfach verbreiteten Verschwörungsideologien als "Brückenideologie" zu betrachten seien, die diverse antidemokratische Milieus miteinander verbinde. Andere Brückenideologien, die von der rechtsextremistischen Szene in ihrem Bestreben, mit ihren Anliegen in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen, genutzt werden, seien z. B. Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Antifeminismus. Vgl. hierzu Oliver Decker et al., Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen - alte Reaktionen?, in: dies. (Hrsg.), Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen - alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus Studie 2022, Gießen 2022, S. 11-28. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 25 RechtsextRemismus Die Proteste zwangen auch die rechtsextremistische Szene, sich den neuen Umständen möglichst rasch anzupassen. Kleineren regional ausgerichteten Formationen wie der "Harzrevolte" oder der "Neuen Stärke Magdeburg" (NS MD) gelang es offenbar besser, auf gesellschaftliche Themen zu reagieren, als größeren Organisationen, wie zum Beispiel der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD). Die rechtsextremistische Szene wandte sich nach dem Wegfall der pandemiebedingten Beschränkungen den herkömmlichen Szeneaktivitäten zu. Neonazis unterstrichen mit Aktionen zum Volkstrauertag und zur Sonnenwende sowie mit anderen themenbezogenen Zusammenkünften ihre Affinität zum historischen Nationalsozialismus, der weiterhin die ideologische Klammer der gesamten neonazistischen Szene bildet. Dass die rechtsextremistische Szene in Sachsen-Anhalt den vorübergehenden Rückgang ihrer Aktivitäten während der pandemiebedingten Einschränkungen überwunden hat, zeigt insbesondere der (gegenüber den zwei vorangegangenen Jahren) deutliche Anstieg der Musikveranstaltungen, welche die Szene im zweiten Halbjahr wieder vermehrt durchführen konnte. Maßnahmen von Verwaltungsund Sicherheitsbehörden konnten jedoch Großveranstaltungen mit Open-Air-Charakter verhindern. Das rechtsextremistische Personenpotenzial blieb gegenüber dem Vorjahr im Wesentlichen unverändert, verschob sich auch nicht signifikant in den jeweiligen Erscheinungsformen. Die Zunahme im parteigebundenen Rechtsextremismus ist auf die Aktivitäten der NSP und der Partei "Der III. Weg" zurückzuführen, die Anhänger der parteiungebundenen und lose organisierten Szene für sich gewinnen konnten. Aufgrund der Verzahnung von Personen und Personenzusammenschlüssen sind Mehrfachmitgliedschaften bei der Ausweisung des Personenpotenzials zu berücksichtigen. Etwa die Hälfte des rechtsextremistischen Personenpotenzials wird als gewaltbereit eingestuft. 26 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Das Personenpotenzial des rechtsextremistischen Parteienspektrums nahm im Jahr 2022 zum zweiten Mal in Folge leicht zu, nachdem es in den 2010er Jahren einen fortlaufenden Rückgang erfahren hatte. In Sachsen-Anhalt sind die Parteien "Der III. Weg" und NPD relevante Akteure dieses Teils der rechtsextremistischen Szene. Seit einigen Jahren schon kann die NPD ihre frühere Vormachtstellung nicht mehr einnehmen. Der Mitgliederbestand im Landesverband Sachsen-Anhalt ist kontinuierlich zurückgegangen. Nur einige wenige Kreisverbände sehen sich in der Lage, eigenständige Aktivitäten zu entfalten. Das Gros der Parteiarbeit besteht in der Verbreitung von Positionen der Bundespartei auf den Social-Media-Kanälen des Landesverbandes und der Kreisverbände der NPD in Sachsen-Anhalt. "Der III. Weg" hingegen bemüht sich, mit zahlreichen öffentlichen und internen Aktivitäten in Sachsen-Anhalt weitere Zuwächse zu erzielen. Da die Programmatik dieser Partei neonazistisch konnotiert ist, gelang punktuell eine Expansion in die parteiungebundene Neonaziszene von Sachsen-Anhalt. Das Personenpotenzial stieg moderat im Vergleich zum Vorjahr. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 27 RechtsextRemismus Auch die "Neue Stärke Partei" (NSP) hat im Berichtsjahr vereinzelte Aktivitäten entfaltet, die aber deutlich hinter den Erwartungen ihrer führenden Funktionäre zurückblieben. In der zweiten Jahreshälfte deutete sich ein Niedergang dieser Kleinstpartei an, der sich gegen Ende des Jahres beschleunigte. Im Berichtszeitraum war die Partei "Die Rechte" (DR) in SachsenAnhalt weitestgehend inaktiv. Die neonazistische "Harzrevolte", die erstmals im Jahr 2021 in Erscheinung getreten war und zeitweise einen sichtbaren Einfluss auf die Außenwirkung der Proteste gegen die pandemiebedingten Eindämmungsmaßnahmen in Halberstadt (Harz) nehmen konnte, verlor in der zweiten Jahreshälfte aufgrund innerorganisatorischer Friktionen an Stabilität und Wirkkraft. Im letzten Quartal des Berichtszeitraums endete die Gruppierung schließlich in der Bedeutungslosigkeit. Demgegenüber hat das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial in den letzten Jahren einen Zuwachs erfahren. Dies lässt sich unter anderem mit der 28 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Aktionsorientierung dieses Teils der Szene erklären, deren "Erlebnischarakter" gerade für Jüngere attraktiv ist. Das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial, das überwiegend in losen lokalen Personenzusammenschlüssen agiert, ist in großen Teilen von Gewaltbereitschaft geprägt. Das rund um die Corona-Pandemie entstandene verfassungsschutzrelevante Protestgeschehen hat gezeigt, welche Rolle soziale Medien und Messenger-Dienste innerhalb der Kommunikationsstrategien von Extremisten spielen und welche Bedeutung die Rezeption dort verbreiteter Narrative auf individuelle Radikalisierungsprozesse haben kann. Da Personen, die den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, Reichsbürgerszene und "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" zuzurechnen sind, ähnliche, zum Teil gar dieselben Verschwörungsideologien verbreiten und für die Mobilisierung zu Protestkundgebungen vorwiegend soziale Medien und MessengerDienste (insbesondere Telegram) nutzten, überrascht es kaum, dass sich im Kontext der Pandemie vermehrt Überschneidungen zwischen Akteuren dieser drei Phänomenbereiche ergaben, die zuvor getrennt agierten. Diese weit verzweigten Vernetzungen im Virtuellen führten zu Kontakten zwischen Rechtsextremisten, "Reichsbürgern" und sogenannten "Delegitimierern", letztendlich auch im Realen. Bei Protesten gegen die Eindämmungsmaßnahmen wurde unter dem Motto "Wir gegen die da oben" teils eine offene Kooperation der Szenen gelebt. Extremisten nutzen soziale Medien und Messenger-Dienste nicht nur für strategische Zwecke (z. B. zur Verständigung über Strategien, mit denen der Polizei bei Demonstrationen begegnet werden kann), sondern auch zur Verbreitung von Verschwörungsideologien und verfassungsschutzrelevantem Gedankengut. Im Berichtsjahr fielen, in Bezug auf die Corona-Pandemie, die Unterstellung einer staatlicherseits geplanten Pandemie Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 29 RechtsextRemismus ("Plandemie"), die Rede vom "Great Reset"2 und Versatzstücke der QAnon-Ideologie3 als populärste Verschwörungsideologien ins Auge. In der Gesamtschau der virtuellen Aktivitäten von Rechtsextremisten und Personen, die dem Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" zuzurechnen sind, ist eine Radikalisierung der Sprache bis hin zu Aufrufen zum Mord an Politikerinnen und Politikern, eine ausgeprägte Elitenfeindlichkeit und ein enormer Anteil an Falschinformationen zu verzeichnen. Der Rückzug von Extremisten aus den großen sozialen Netzwerken, ihre Hinwendung zu Telegram und die expliziten Aufrufe der extremistischen Akteure, "alternative" Medienplattformen zu nutzen, offenbaren einen zunehmenden, zum Teil gewollten Rückzug in die eigene Meinungsblase. Eine Immunisierung dieser Personen gegen Kritik von außen wird durch diesen Trend verstärkt. 2 - Die Begrifflichkeit des "Great Reset" geht auf den Titel eines Buches von Klaus Schwab und Thierry Malleret zurück, in dem die Pandemie als Chance für einen Neustart der Wirtschaft und für gesellschaftliche Veränderung verstanden wird. Die Verschwörungsideologie des "Great Reset" benennt u. a. die Freimaurer als treibende Kraft hinter einem vermeintlichen Geheimplan, dessen Ziel die Auflösung ethnischer Identitäten und die Errichtung einer autoritären Weltregierung sei. Die Pandemie wird dabei als bewusste Inszenierung begriffen, deren Zweck u. a. damit erklärt wird, dass die besagten geheimen Eliten, unter anderem die Freimaurer, mit ihrer Strategie zur Erlangung der Weltherrschaft nicht weitergekommen seien und daher selbst einen Neustart provoziert hätten. 3 - QAnon ist eine in den USA entstandene Verschwörungsideologie, die davon ausgeht, dass ein "Deep State" - im Geheimen agierende Eliten aus Staat und Gesellschaft - die Geschicke des Landes bestimmt und satanistische Eliten in unterirdischen Lagern Kinder foltern, um so das vermeintlich lebensverlängernde "Adrenochrom" zu gewinnen. Die Bezeichnung "Q" steht dabei für einen Eingeweihten, der über die Zugangsermächtigung der "Q Clearance" der US-Regierung verfügen soll und seine "Erkenntnisse" in kryptischen Meldungen im Internet veröffentlicht. "Anon" bezeichnet die anonymen Nutzernamen in Imageboards. 30 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Rechtsextremistisches Parteienspektrum "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) - Landesverband Sachsen-Anhalt Sitz Landesverband: postalisch Berlin Verbreitung Bundesverband: Berlin Gründung Landesverband: 1990 (als Landesverband "Mitteldeutsche Nationaldemokraten") Bundesverband: 1964 Struktur Landesvorsitzender: Henry Kurt LIPPOLD (GerbAufbau stedt, Mansfeld-Südharz, seit Oktober 2019) Kreisverbände in Sachsen-Anhalt: Altmark, Anhalt-Bitterfeld, Bördekreis, Burgenlandkreis, Halle-Saale, Harz, Jerichower Land, Magdeburg, Mansfeld-Südharz, Saalekreis, Salzland, Wittenberg Unterorganisationen: "Junge Nationalisten" (JN) "Ring Nationaler Frauen" (RNF), "Kommunalpolitische Vereinigung" (KPV) Mitglieder Land: unter 100 (2021: 120) Anhänger Bund: 3.000 (2021: 3.150) VeröffentWeb-Angebote: lichungen www.facebook.com/npd.sachsen.anhalt/ https://www.npd-sachsen-anhalt.de Publikation: "Deutsche Stimme" (Bundesverband, mehrmals jährlich, frei verkäufliches Magazin) Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 31 RechtsextRemismus Kurzportrait / Ziele Die NPD ist eine rechtsextremistische Partei mit verfassungsfeindlicher Ideologie und Zielsetzung. Ihre Programmatik ist auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet und weist darin Kernelemente eines rechtsextremistischen Weltund Menschenbildes auf. Ihr Bestreben ist es, die Gesellschaft im Sinne ihrer rassistischen, nationalsozialistischen und antisemitischen Vorstellungen zu prägen. Grund der Beobachtung Die NPD vertritt ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild, dessen ideologisches Kernelement die Idee einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft" ist. Davon ausgehend propagiert sie unverhohlen rassistische und fremdenfeindliche Positionen. Die "Vier Säulen-Strategie" der Partei, bestehend aus dem "Kampf um die Köpfe", dem "Kampf um die Straße", dem "Kampf um die Parlamente" und dem "Kampf um den organisierten Willen", verdeutlicht seit Jahren das Ziel der NPD, den demokratischen Verfassungsstaat systematisch und umfassend zu bekämpfen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bundespartei Am 14. und 15. Mai 2022 fand in Altenstadt (Hessen) der erste Bundesparteitag der NPD seit 2019 statt. Das bestimmende Thema des Parteitags war neben der Neuwahl des Führungspersonals die Neuausrichtung der Partei im Licht der Wahlniederlagen und des anhaltenden Erosionsprozesses der letzten 32 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Jahre. Zum Zweck der Einleitung eines innerparteilichen Reformprozesses sollte dabei im Rahmen einer Satzungsänderung auch über eine Umbenennung der Partei in "Die Heimat" abgestimmt werden. Die für eine Satzungsänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit wurde jedoch knapp verfehlt. Gleichwohl zeigt die Diskussion um die Namensänderung die von der Partei erkannte Notwendigkeit eines Erneuerungsprozesses. Zwei "Netzwerktage" des NPD-Organs "Deutsche Stimme" im September und Dezember 2022 sind Ausdruck der neuen Parteistrategie, welche die NPD seit ihrem Bundesparteitag verfolgt. Sie will sich als "Netzwerker, Dienstleister, punktueller Bündnispartner und regionaler Motor von Bürgerprotesten und regierungskritischen Initiativen" etablieren. Ob die "Netzwerktage" eine Zukunft haben werden, bleibt abzuwarten. Landesverband Sachsen-Anhalt Im Berichtszeitraum konnte die NPD in Sachsen-Anhalt ihre politische Marginalisierung nicht stoppen. Im NPD-Landesverband organisieren sich derzeit weniger als 100 Mitglieder in zumindest zwölf formal existierenden Kreisverbänden. Wahrnehmbare Aktivitäten entfalteten lediglich die Kreisverbände Halle-Saale, Mansfeld-Südharz und Wittenberg. Der Landesverband und seine Kreisverbände sind im Internet mit eigenen Präsenzen vertreten. Hier werden fast ausschließlich Artikel des NPD-Organs "Deutsche Stimme" geteilt. Lediglich der stellvertretende Landesvorsitzende und Landespressesprecher Henrik GEHRE veröffentlicht in sogenannten Kolumnen regelmäßig Videobotschaften, in denen er sich ausländerund fremdenfeindlich sowie verunglimpfend gegen das politische System äußert. An sogenannten "Montagsdemonstrationen", die sich bis zum Frühjahr 2022 fast ausschließlich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gerichtet hatten und danach die steigenden Energieund LebenshalVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 33 RechtsextRemismus tungskosten thematisierten, nahmen auch vereinzelt Mitglieder des NPD-Landesverbandes teil. Auf den Facebook-Präsenzen des Landesverbandes, seiner Kreisverbände und einzelner Mitglieder wurde hierüber berichtet und zur Teilnahme aufgerufen. An einem sogenannten "Spaziergang" am 29. Januar 2022 in Leipzig (Sachsen), bei dem Teilnehmer ein Tor zu einem Klinikgelände gewaltsam öffneten, nahm auch Steffen THIEL (Zeitz, Burgenlandkreis), Mitglied des Landesvorstandes der NPD Sachsen-Anhalt, teil. Die Ausschreitungen während der Silvesternacht 2022 in Berlin waren auch für die NPD in Sachsen-Anhalt ein Thema. Auf Facebook führt sie hierzu aus: "An die Politkaste in Berlin! Es sind nicht die Silvesterböller die Rettungskräfte angreifen und verletzen. Es sind die Lumpen an der Zündschnur. Packen Sie ihr Taschentuch ein und stellen sie die innere Sicherheit wieder her. Der Steuerzahler hat ein Recht darauf. Täter stellen, benennen und abschieben!" In einem weiteren Beitrag hierzu heißt es: "Der importierte Krieg zum Jahreswechsel in überfremdeten Stadteilen einer Hauptstadt, steht stellvertretend für das, was uns erwartet. Verbrecher, die Rettungskräfte angreifen, nennen Kollaborateure Fachkräfte! Nie zuvor wurde unser Volk so getäuscht, nie zuvor hat es sich so täuschen lassen!" Anlässlich des Volkstrauertags am 13. November 2022, der in der rechtsextremistischen Szene als "Heldengedenken" begangen wird, führten Rechtsextremisten bundesweit Veranstaltungen durch. Für Sachsen-Anhalt berichteten die NPD-Kreisverbände AnhaltBitterfeld, Salzland, und Mansfeld-Südharz in ihren Internetauftritten über derartige Gedenkaktionen. So suchten beispielsweise mehrere Personen des Kreisverbandes Mansfeld-Südharz mit 34 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Fahnen und Fackeln ein Kriegsdenkmal, vermutlich in Gerbstedt, auf. "Junge Nationalisten" (JN) Anfang Januar wurde eine Gruppierung mit Namen "Gegengift 2022" im Rahmen öffentlichkeitswirksamer Proteste bei sogenannten "Anti-Corona-Demonstrationen" bekannt. Diese auf einem Banner beworbene Telegramund Instagram-Seite "Gegengift 2022" deutet auf ein neues Projekt der JN hin. In einem ersten Beitrag vom 11. Januar 2022 auf Instagram heißt es dazu: "Junge Deutsche haben in den letzten Wochen überall Proteste gegen die BRD-Politik aufgewertet. Optisch, durch stabile Transparente oder Schilder, sowie durch die stürmische Entschlossenheit, die mancherorts notwendig ist, um sich sein Recht zu nehmen. Unsere lose Initiative hat sich gegründet, um Ansprechpartner und Taktgeber der Jugend bei den Protesten zu sein, die in erster Linie von der Generation 30+ geprägt sind. Wir wollen hierbei keine weitere Zeit damit verschwenden, uns an einzelner Maßnahmenkritik aufzureiben, sondern systematische Zusammenhänge und Ziele der Globalisten und ihrer Nutznießer offenlegen. Ebenso wollen wir mit euch über das geistige Rüstzeug sprechen, das für eine gesunde Erneuerung nötig ist, um eine Zukunft freier Völker und Menschen zu ermöglichen." Bei Protestveranstaltungen gegen die pandemiebedingten Beschränkungsmaßnahmen wurden auch Banner der Kampagne in Sachsen-Anhalt gezeigt. Der JN-Bundesverband berichtete regelmäßig über Aktivitäten wie die Beteiligung an Demonstrationen in und außerhalb Sachsen-Anhalts in den sozialen Medien: Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 35 RechtsextRemismus Am 3. Januar 2022 beteiligten sich die JN an einer Protestveranstaltung gegen geltende Corona-Maßnahmen in der Lutherstadt Wittenberg sowie an weiteren Veranstaltungen in Zerbst/ Anhalt, Sangerhausen, Lutherstadt Eisleben, Halberstadt und Wernigerode. Am 25. März 2022 nahmen JN-Mitglieder an einer von der AfD angemeldeten Protestveranstaltung in Querfurt (Saalekreis) teil. Sichtbar wurde ein Banner der Kampagne "Gegengift 2022" im Protestzug präsentiert. Am 22. Januar 2022 beteiligten sich die JN am "Trauermarsch 16.000 unvergessen" der rechtsextremistischen Szene anlässlich des Jahrestages der Zerstörung durch alliierte Luftverbände im Zweiten Weltkrieg in Magdeburg. Am 7. Mai 2022 beteiligten sich die JN an einer Versammlung unter dem Motto "Gegen den Befreiungsmythos - nie wieder Bruderkrieg" in Lauchhammer (Brandenburg). Als Redner war der Leiter des JN-Stützpunktes "Anhaltiner Land", Björn RIMMERT (Lutherstadt Wittenberg), anwesend. In Sachsen-Anhalt existiert weiterhin allein der "Stützpunkt Anhaltiner Land" der JN, der sich im Wesentlichen aus einigen wenigen Personen um den Rechtsextremisten Björn RIMMERT zusammensetzt. Ein angestrebter struktureller Ausbau mittels öffentlichkeitswirksamer Kampagnen und Aktionen mit dem Ziel der Rekrutierung von jugendlichem Nachwuchs schlug fehl. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Ihre einstige Führungsrolle innerhalb der rechtsextremistischen Szene kann die NPD nicht mehr ausfüllen. Vielmehr ist sie mittlerweile nur noch ein Akteur unter mehreren parteipolitischen Bestrebungen im Rechtsextremismus. Die NPD befindet sich seit 2016 sowohl bei Wahlen als auch im Hinblick auf ihr Innenleben in einem beständigen Niedergangsprozess. Die Mitgliederzahlen sinken; das einstige Führungspersonal zieht sich immer mehr zurück. Hinzu kommen finanzielle 36 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Probleme, programmatische Leerstellen und nicht zuletzt ein seit Jahren schwelender Richtungsstreit. Bei der NPD steht ein Reformprozess an, dessen Ausgestaltung bislang noch nicht klar ist. In Sachsen-Anhalt fanden im Berichtszeitraum kaum öffentlichkeitswirksame politische Aktivitäten des Landesverbandes und seiner Kreisverbände statt. Aufgrund des sich fortsetzenden Verlusts aktiver Mitglieder existieren kaum noch handlungsfähige Kreisverbände. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 37 RechtsextRemismus Partei "Der III. Weg" Sitz Sachsen-Anhalt: Stützpunkt Magdeburg/Altmark Verbreitung Stützpunkt Burgenlandkreis Stützpunkt Anhalt/Harz Gründung Land: 28. August 2021 Bund: 28. September 2013 in Heidelberg (Baden-Württemberg) Struktur Bundesvorsitzender: Matthias FISCHER (BrandenAufbau burg) Mitglieder Land: etwa 45 (2020: etwa 25) Anhänger Bund: 700 (2020: 650) VeröffentWeb-Angebote: http://www.der-dritte-weg.info/ lichungen Soziale Netzwerke wie Telegram Printmedium: "Theorie und Aktion" (monatlich) Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden und Einnahmen aus dem Materialvertrieb Kurzportrait / Ziele Die 2013 gegründete Partei "Der III. Weg" ist seit Jahren fest im rechtsextremistischen Spektrum verankert. Die Partei gliedert sich in drei Landesverbände und Stützpunkte. "Der III. Weg" versteht sich als eine völkische Weltanschauungspartei innerhalb der nationalen Bewegung und verfolgt mit ihrem Auftreten einen ganzheitlichen Ansatz, der sich nicht nur 38 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus auf parteipolitische Aktionen beschränkt und das Ziel verfolgt die Erneuerung Deutschlands voranzutreiben. Grundlage der Parteiaktivitäten ist das sogenannte "Drei-Säulen-Konzept": politischer Kampf, kultureller Kampf und Kampf um die Gemeinschaft. Hierbei spielen thematische Arbeitsgruppen wie Ideologie, Sport, Umwelt und Jugendarbeit eine zentrale Rolle. Für die Jugendarbeit wurde die "Nationalrevolutionäre Jugend" (NRJ) etabliert. Dazu heißt es auf der Internetseite der Partei: "Mit der Gründung der NRJ wurde ein neuer Meilenstein im nationalrevolutionären Vorfeld gesetzt. In Sachsen und Brandenburg haben sich bereits feste Jugendstützpunkte gegründet. Auch in weiteren Regionen unserer Heimat sind Jugendstützpunkte im Aufbau". Grund der Beobachtung Führungspersonen der Partei sind seit Jahren fest im rechtsextremistischen Spektrum verankert und seit der Gründung der Partei bemüht, den Strukturaufbau weiter voranzutreiben. Das Parteiprogramm lehnt sich zum Teil an Vertreter des sogenannten "linken" Nationalsozialismus an und propagiert ein völkisch-antipluralistisches Menschenund Gesellschaftsbild. Es fordert die Erhaltung und Entwicklung der "biologischen Volkssubstanz" und die Schaffung eines "Deutschen Sozialismus". "Der III. Weg" agitiert insgesamt antisemitisch, ausländerfeindlich und revisionistisch. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bundespartei / überregionale Aktivitäten Mitglieder der Partei versuchten auch im Jahr 2022, das Corona-Protestgeschehen für ihre verfassungsfeindliche Agenda zu missbrauchen, indem sie sich an Versammlungen unterschiedlichster Spektren beteiligten. Dabei traten sie in der Regel nicht mit dem Skandieren einschlägiger Parolen, mit eigenen Bannern Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 39 RechtsextRemismus oder Parteikleidung in Erscheinung, sondern mischten sich unter die Demonstrationsteilnehmer und versuchten im Rahmen des Verteilens von Informationsmaterial und bei Gesprächen Interessenten für die Partei zu werben. Dies gelang nur marginal. In Sachen-Anhalt beteiligten sich Anhänger der Partei an den versammlungsrechtlichen Aktionen vornehmlich in den Räumen Dessau-Roßlau und Anhalt-Bitterfeld. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine war neben der Corona-Pandemie das dominierende Thema in der rechtsextremistischen Szene. Die Partei "Der III. Weg", die schon vor Kriegsbeginn bekundete, "auf der Seite der nationalrevolutionären Bewegung der Ukraine" zu stehen, hat ihre Position in mehreren ausführlichen Beiträgen näher erläutert. In einer Erklärung vom 25. Februar 2022 betonte die Partei zunächst, dass sowohl Russland als auch die USA Verantwortung für die aktuellen Entwicklungen trügen. Auf ihrer Internetseite veröffentlichte die Partei am 2. März 2022 den Aufruf "Nationalisten helfen Nationalisten", in dem sie nach "Unterbringungsmöglichkeiten in Gesamtdeutschland, Österreich und der Schweiz zur Unterbringung von ukrainischen Familien aus nationalistischen Zusammenhängen" suchte. 40 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Ein Höhepunkt der überregionalen Aktivitäten der Partei war erneut die Mobilisierung zum 1. Mai. Der stellvertretende Bundesvorsitzende Klaus ARMSTROFF (Rheinland-Pfalz) meldete hierfür eine Versammlung in Zwickau (Sachsen) an. Diese stand unter dem Motto "Ein Volk will Zukunft! - Heimat bewahren! Überfremdung stoppen! Kapitalismus zerschlagen!". Im Rahmen der Anreise zur Versammlung kam es in Chemnitz (Sachsen) und am Bahnhof Glauchau (Sachsen) zu Auseinandersetzungen mit Personen aus dem politisch linken Spektrum. Die Versammlung selbst verlief ohne besondere Vorkommnisse. Es erschienen mit etwa 250 Teilnehmern mehr als die von den Veranstaltern im Vorfeld erwarteten 200 Personen. Als Redner trat unter anderem der Parteivorsitzende Matthias FISCHER (Brandenburg) auf. Zum "Tag der deutschen Einheit" am 3. Oktober bekräftigte die Partei in einem auf ihrer Internetseite veröffentlichten Beitrag ihre Vorstellung, dass "Deutschland größer als die BRD" sei. In dem Beitrag heißt es: "Ziel der Partei 'Der III. Weg' ist die friedliche Wiederherstellung Gesamtdeutschlands in seinen völkerrechtlichen Grenzen." Mit dieser Aussage offenbart "Der III. Weg" gebietsrevisionistische Tendenzen, indem die Wiederherstellung und der Fortbestand der Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 gefordert wird. Dies geht auch aus einem weiteren Beitrag hervor, mit dem die Partei am 9. November 2022 auf ihrer Internetseite unter dem Titel "Schicksalstag der Deutschen" an den Mauerfall erinnerte: Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 41 RechtsextRemismus "Als im November 1989 die Mauer fiel und in Westund Mitteldeutschland endlich keine innervölkische Grenze mehr bestand, feierten etablierte Politiker die Wiedervereinigung des Deutschen Volkes - aber dies war nicht die Wiedervereinigung aller Deutschen!... Waren es in Mitteldeutschland vorher Kommunisten, welche die Fäden gelenkt haben, sind es nun Marionetten der US-imperialistischen Besatzerregierung, die unser Volk unterdrücken und seit mehr als 60 Jahren ausbeuten! Die Partei 'Der III. Weg' tritt für einen souveränen deutschen Staat ein. Ziel des 'III. Wegs' ist die friedliche Wiederherstellung Gesamtdeutschlands in seinen völkerrechtlichen Grenzen". Auch in diesem Jahr gab es zahlreiche Aktionen und Versammlungen der rechtsextremistischen Szene anlässlich des Volkstrauertages unter der Bezeichnung "Heldengedenken". Die Partei "Der III. Weg" meldete einen Aufzug unter dem Motto "Tot sind nur jene, die vergessen werden" für den 12. November 2022 durch Wunsiedel (Bayern) an. Die Veranstaltung verlief mit etwa 120 Versammlungsteilnehmern, darunter Mitglieder der Stützpunkte Burgenlandkreis und Magdeburg/Altmark ohne besondere Vorkommnisse. Entwicklung und Aktivitäten in Sachsen-Anhalt In Sachsen-Anhalt betreibt "Der III. Weg" mit seinen drei Stützpunkten eine vergleichsweise offensive Öffentlichkeitsarbeit. In ihren Internetpräsenzen listet die Partei minuziös ihre Aktivitäten auf. Im Berichtsjahr wurden beispielhaft folgende Aktivitäten benannt: - 23. April 2022: Gründung des Stützpunktes Burgenlandkreis in Naumburg (Saale) (Burgenlandkreis); - 8. Mai 2022: Kranzniederlegungen an Soldatendenkmälern und -gräbern in Sangerhausen, Eisleben, Allstedt (alle Mansfeld-Südharz) und Köthen (Anhalt-Bitterfeld) sowie in Magdeburg und im Burgenlandkreis; 42 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus - Ende September 2022: "Gemeinschaftstag" des Stützpunktes Burgenlandkreis. Neben einer Wanderung zur Burg Saaleck (Burgenlandkreis) gab es Vorträge über die Umgebung und die geschichtlichen Hintergründe der Burg Saaleck; - Mitte Oktober 2022: Flugblattverteilung "Die wahre Krise ist das System" in den Städten Aken (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) und Dessau-Roßlau; - Mitte November 2022: "Harzmarsch 2022" des Stützpunktes Anhalt/Harz; - 12. November 2022: Nachtwanderung (mit "Heldengedenken") des Stützpunktes Burgenlandkreis im Raum Elsteraue; - 13. November 2022: Auf dem Friedhof in Köthen wurden Gläser mit Teelichtern abgestellt, welche die Aufschrift "Tot sind nur jene, die vergessen werden" und das Parteisymbol des "III. Wegs" trugen; - 20. November 2022: "Heldengedenken" der Stützpunkte Anhalt/Harz und Burgenlandkreis zusammen mit den "Freien Kräften" in Köthen (Anhalt); - 3. Dezember 2022: "Brockensturm 2022" mit Angehörigen der Stützpunkte Mittelland (Sachsen) und Anhalt/Harz. "Der III. Weg" berichtete 2022 beinahe wöchentlich über seine angebliche Teilnahme an über das ganze Land verteilten Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. So nahm "Der III. Weg" nach unbestätigten Eigenangaben über das Jahr hinweg an einer ganzen Reihe von Versammlungen, beispielsweise in Dessau-Roßlau, Köthen (Anhalt), Coswig (Anhalt), Weißenfels, Naumburg, Zeitz, Hohenmölsen, Teuchern, und Lützen teil. Belege für diese Veranstaltungsteilnahmen fehlen allerdings oftmals. Auch abseits von Protestveranstaltungen wurden regelmäßig Flyer, beispielsweise mit den Slogans "Nein zur Impfpflicht" und "Das System ist gefährlicher als Corona", verteilt, so etwa in Magdeburg und Naumburg (Burgenlandkreis). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 43 RechtsextRemismus Bewertung, Tendenzen, Ausblick Für die drei Stützpunkte in Sachsen-Anhalt waren die pandemiebedingten Beschränkungsmaßnahmen und die ImpfpflichtDebatte Themenschwerpunkte in ihrer regionalen Arbeit. Mit ihren zahlreichen vorgeblich sozialen Aktivitäten in der Öffentlichkeit versuchte die Partei, sich als "Kümmerer" und Ansprechpartner mit Problemlösungskompetenz zu inszenieren, um ihren Bekanntheitsgrad außerhalb des rechtsextremistischen Spektrums zu erhöhen. Mit ihren drei Stützpunkten gelang es der Partei in SachsenAnhalt, neue Mitglieder zu gewinnen. Hierbei handelt es sich jedoch zumeist um Personen, die bereits seit Jahren in der rechtsextremistischen Szene aktiv sind. Die Partei dient diesen Personen als Auffangstruktur, die sie nutzen, um ihre neonazistische Ideologie unter dem Schutzmantel des Parteienprivilegs verbreiten zu können. Die Stützpunkte der Partei in Sachsen-Anhalt sind mit den Parteigliederungen in anderen Regionen gut vernetzt. Verbindungen bestehen nach Bayern, Berlin und Thüringen. Eine Zusammenarbeit der Stützpunkte in Sachsen-Anhalt erfolgte nur sporadisch, zumeist wenn für Veranstaltungen (wie etwa für den "Brockensturm 2022") überregional zur Teilnahme aufgerufen wurde. Wenn diese Zusammenarbeit in der Zukunft intensiviert und ausgebaut werden kann, ist auch weiterhin mit einem Mitgliederzuwachs zu rechnen. 44 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus "Neue Stärke Partei" (NSP) Abteilung Magdeburg ("Neue Stärke Magdeburg; NSMD) Sitz NSMD: Magdeburg Verbreitung NSP: Erfurt (Thüringen) Gründung Herbst 2021 (Bundesparteitag mit Gründung am 13. November 2021), erstmaliges öffentliches Auftreten (ohne Gründung) am 11. September 2021 Struktur Bundesweit aktive Partei mit sogenannten "AbAufbau teilungen" in Magdeburg, Erfurt, Gera, Sachsen, Rheinhessen und Mecklenburg-Vorpommern Vorsitzende: Michel FISCHER (Thüringen; bis September 2022), Bryan KAHNES (Thüringen; bis Oktober 2022), Sara STORCH (Sachsen; bis Februar 2023), Christoph THEWS (MecklenburgVorpommern; seit Februar 2023) Mitglieder Land: etwa 30 Anhänger Bund: etwa 100 VeröffentWebsite: https://neue-stärke.eu lichungen Präsenz in sozialen Netzwerken (Telegram, Twitter) Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden Kurzportrait / Ziele Die NSP ging am 13. November 2021 aus der neonazistischen Gruppierung "Neue Stärke Erfurt" hervor. Gleichzeitig wurde (als regionale "Abteilung" der Bundespartei) die NSMD gegründet. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 45 RechtsextRemismus Wichtige Protagonisten der Kleinstpartei waren zuvor in Parteien wie "Der III. Weg" und "DIE RECHTE" aktiv. Wie diese propagiert auch die NSP eine neonazistische Ideologie. Nach eigenen Angaben verfolgt die NSP das Ziel, gegen "Überfremdung" und gegen eine "kommunistische Umerziehung der deutschen Volksseele [...] organisationsübergreifend Widerstand zu leisten". Zudem will die Partei Deutschland als "Machtzentrum [...] innerhalb des Abendlandes" installieren. Grund der Beobachtung Die NSP steht in der Tradition des historischen Nationalsozialismus. Sie propagiert ein rassistisches und antisemitisches Weltbild und strebt die Errichtung eines Einparteienstaates an. In ihrem Parteiprogramm fordert die NSP, dass Grundrechte nur für "Volksangehörige" gelten sollen, die sich "nicht gegen das Leben und Überleben des deutschen Volkes versündigen". Die Agenda der Partei widerspricht damit explizit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Jahr 2021 trat im Rahmen rechtsextremistischer Veranstaltungen erstmals ein Personenzusammenschluss unter der Bezeichnung "Neue Stärke Magdeburg" (NSMD) in Erscheinung, dem überwiegend Personen angehörten, die der Verfassungsschutzbehörde bereits seit mehreren Jahren als - teils gewaltbereite - Rechtsextremisten bekannt sind. Im Berichtsjahr bestätigte sich die organisatorische Anbindung der NSMD an die "Neue Stärke Erfurt" beziehungsweise an die aus ihr entstandene NSP. Die dem Verfassungsschutz hinlänglich bekannten Rechtsextremisten Patrick SCHMIDT (Oschersleben, Landkreis Börde) und Martin SCHOCK (Magdeburg) übernahmen Führungspositionen innerhalb der NSP. 46 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Bei der NSMD handelt es sich um eine regionale Gliederung (im Sprachgebrauch der NSP eine "Abteilung") eben dieser. Mit der Konstituierung der Magdeburger Abteilung machte die NSP unmittelbar nach ihrem (in Magdeburg veranstalteten) ersten Bundesparteitag ihren Anspruch deutlich, ihren Aktionsradius auf Regionen außerhalb Thüringens auszudehnen. In den ersten Monaten nach der Gründung im November 2021 entfaltete die NSP sowohl in Magdeburg als auch deutschlandweit Aktivitäten. Im Winter 2021/2022 nahmen Mitglieder der NSMD regelmäßig an diversen Versammlungen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie teil. Zudem trat die Gruppierung im Zusammenhang mit der Planung und Durchführung der wiederkehrenden Versammlung der rechtsextremistischen Szene am Jahrestag der Bombardierung der Stadt Magdeburg im Zweiten Weltkrieg am 22. Januar 2022 in Erscheinung, was - auch wegen der teilnehmenden Personen - einmal mehr ihre Zugehörigkeit zur neonazistischen Szene belegt. Die Versammlung fand unter dem Motto "Trauermarsch 16.000 unvergessen" statt und wurde insgesamt von rund 150 Rechtsextremisten aus Sachsen-Anhalt und aus anderen Bundesländern besucht. Hierbei wurden die fortbestehenden engen Verbindungen zu anderen rechtsextremistischen Parteien und Gruppierungen deutlich. Die expansive Phase der NSP endete im Sommer des Berichtszeitraums. Zwar meldete ihre Magdeburger "Abteilung" weiterhin Veranstaltungen in Magdeburg und Umgebung an; diese wurden aber entweder mit geringer öffentlicher Resonanz durchgeführt oder kurzfristig abgesagt. Für eine Versammlung gegen die Magdeburger Kundgebung zum "Christopher Street Day" am 21. August 2022, mit der sie nach eigener Darstellung gegen einen "kranken Buntheitswahn" protestieren wollte, konnte die NSMD lediglich rund zehn Teilnehmer mobilisieren. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 47 RechtsextRemismus Auch die zu Beginn des Berichtsjahres angekündigten Demonstrationen unter dem Motto "Kampfkultur - hol dir deine Stadt und dein Land zurück" in Mainz (Rheinland-Pfalz) und Magdeburg erreichten nicht ansatzweise die avisierten Teilnehmerzahlen. Statt der angemeldeten 100 Personen nahmen an der von Gegenprotesten begleiteten Kundgebung in Magdeburg am 3. September 2022 lediglich 45 NSP-Anhänger teil. Die Teilnehmer stammten aus den "Abteilungen" der NSP in Thüringen, Rheinland-Pfalz, Hessen, Nordrhein-Westfahlen und Mecklenburg-Vorpommern. Im Verlauf der Veranstaltung nahm die NSP öffentlich Neumitglieder auf; entsprechende Videos inklusive des Ausspruchs "Heil der neuen Stärke" wurden im Internet verbreitet. Sowohl die Aktivitäten der Partei als auch dieser auf Video festgehaltene Ausspruch sind Hinweise auf den von der NSP verwendeten nationalsozialistischen Duktus. Auffällig an dieser Veranstaltung war das Fehlen von Führungskräften der Gruppierung aus Magdeburg, das als Hinweis auf interne Verwerfungen innerhalb der NSP gewertet werden 48 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus konnte, die sich im Verlaufe des Spätsommers immer deutlicher abzeichneten. Die Symptome des Niedergangs der NSP wurden im Vorfeld ihres Bundesparteitags in Erfurt am 5. November 2022 deutlich sichtbar. Nach Rückund Austrittsbekundungen von NSP-Funktionären versuchten die verbliebenen Mitglieder eine komplette personelle Neuaufstellung der Partei. Auf dem Parteitag wählte die NSP daher einen neuen Bundesvorstand. Diesem gehört nur noch eine Person aus Sachsen-Anhalt als Beisitzerin an. Zuletzt trat die NSP mit der Planung einer Versammlung zum 78. Jahrestag der Bombardierung Magdeburgs im Zweiten Weltkrieg in Erscheinung.1 Seit dem Spätsommer entfaltete die "Neue Stärke Magdeburg" keine eigenen öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Am 12. Februar 2023 verkündete die NSP auf ihrem TelegramKanal schließlich die Auflösung ihrer Magdeburger "Abteilung". Vor diesem Hintergrund ist aktuell nicht davon auszugehen, dass von den ehemaligen Mitgliedern noch Aktionen mit Bezug zur NSP ausgehen werden. Da sich die Gruppierung größtenteils aus langjährigen Rechtsextremisten zusammengesetzt hat, ist aber zu erwarten, dass diese Personen auch künftig innerhalb der potenziell gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene aktiv sein werden. 1 - Die Versammlung, für die auf Telegram unter dem Motto "16.000 Tote! Ihr Opfer ist unser Auftrag" geworben wurde, fand am 21. Januar 2023 mit lediglich 30 Teilnehmern ohne größere, organisationsübergreifende Mobilisierung statt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 49 RechtsextRemismus Parteiungebundener, vornehmlich neonazistisch geprägter Rechtsextremismus Gründung Neonazistische Organisationen etablierten sich insbesondere in den 1970er Jahren und existieren in Sachsen-Anhalt seit der Wiedervereinigung. Struktur Die heterogene neonazistische Szene in SachsenAufbau Anhalt agiert in aktionsorientierten, regionalen Gruppierungen, die teilweise durch unterschiedliche ideologische Strömungen des Rechtsextremismus charakterisiert sind. Diese Personenzusammenschlüsse sind nicht nur untereinander, sondern auch überregional vernetzt. Zudem nehmen Verflechtungen innerhalb dieser Szene weiter zu. Es bestehen Kontakte zu den rechtsextremistischen Parteien "DIE RECHTE", NPD und "Der III. Weg". In jüngerer Zeit ist vermehrt zu beobachten, dass sich Personen, die bislang in bestehenden parteiunabhängigen Personenzusammenschlüssen aktiv waren, von diesen plötzlich und unvermittelt abwenden und sich parteiförmigen Strukturen, wie zum Beispiel der Partei "Der III. Weg", anschließen. Informelle Personenzusammenschlüsse finden sich in der Altmark-Region, im Burgenlandkreis und in den Landkreisen Harz und Mansfeld-Südharz. Diese Personenzusammenschlüsse, die kaum über feste Strukturen verfügen, unterhalten gute Kontakte zu Szeneangehörigen in Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen. Neonazis stellen den größten Teil des parteiungebundenen Rechtsextremismus dar. Das 50 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Personenpotenzial umfasst dabei sowohl Gruppierungen mit einem subkulturellen "Einschlag" als auch Gruppierungen, die für ideologische Varianten des Nationalsozialismus und die Übernahme neuer Verhaltensweisen aufgeschlossen sind sowie Gruppierungen, die den historischen Nationalsozialismus verherrlichen. Oft werden die Zusammenschlüsse vorrangig von einzelnen Akteuren geeint und zur Zusammenarbeit untereinander gesteuert. Mitglieder Land: 255 (2021: 395) Anhänger Bund: 8.500 (2021: 8.500) VeröffentWeb-Angebote: diverse, teils wechselnde Auftritlichungen te in den sozialen Medien (vor allem Facebook und Instagram mit verstärkter Nutzung von geschlossenen Gruppenchats, aber auch von Telegram-Kanälen zur Kommunikation mit der Öffentlichkeit) Publikation: Zeitschrift "N.S. Heute" Finanzierung Zumeist existiert in den Gruppierungen eine so genannte "Kameradschaftskasse". In der Regel zahlen Teilnehmer einen Unkostenbeitrag bei Vortragsveranstaltungen. Es werden mitunter auch Spendengelder gesammelt. Einige Gruppierungen bewerben eigene Merchandise-Produkte in Form von Bekleidung und Aufklebern. Kurzportrait / Ziele Neonazis stellen sich in die ideologische Tradition des historischen Nationalsozialismus. Sie treten bei geschichtsträchtigen Ereignissen, vornehmlich aus der Zeit des Dritten Reiches oder bei der Glorifizierung einzelner prominenter Nationalsozialisten auch öffentlichkeitswirksam in Erscheinung (z. B. "TrauermärVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 51 RechtsextRemismus sche" zum Gedenken an die Zerstörung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg, Geburtstag von Adolf Hitler, Veranstaltungen zum 1. und 8. Mai, "Gedenken" an die Rathenau-Attentäter Fischer und Kern am 17. Juli, "HeßGedenkaktionen" und germanische Brauchtumspflege wie Sonnenwendfeiern). Der Neonazismus ist bemüht, sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten, insbesondere im Hinblick auf aktuelle sozialoder gesellschaftspolitische Fragen, stetig anzupassen. Tagespolitische Themen werden in den sozialen Medien und auf der Straße aufgegriffen und zum Zweck der Propagierung des neonazistischen Weltbildes instrumentalisiert. Grund der Beobachtung Neonazistische Gruppierungen zeichnen sich durch eine vor allem von Rassismus und Antisemitismus geprägte Ideologie aus, welche sich am Nationalsozialismus orientiert und somit im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht. Teile der Bevölkerung werden als minderwertig angesehen und ihnen werden in der Konsequenz ihre verfassungsrechtlich verbrieften Grundrechte, wie Menschenwürde und Gleichheit vor dem Gesetz, abgesprochen. Die Umdeutung oder Relativierung des Nationalsozialismus, als Revisionismus bezeichnet, gehört zu den zentralen Ideologemen des deutschen Neonazismus. Aufgrund ihrer Vorstellung von einer antipluralistischen Gesellschaft und einem autoritären Staat, in dem politischen Gegnern als "Feinden" das Existenzrecht abgesprochen wird, ist Neonazis eine grundsätzliche Gewaltorientierung zuzuschreiben. Gewalt gegen "Fremde" und "Feinde" wird auf dieser Basis legitimiert. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum "Harzrevolte" Bei der "Harzrevolte" handelt es sich um eine rechtsextremistische Gruppierung, die vornehmlich seit dem Jahr 2021 auf Demonstrationen in Halberstadt, Blankenburg und Wernigerode 52 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus (alle Landkreis Harz) und in den sozialen Medien in Erscheinung tritt. Die Initiatoren und Führungspersonen Marcel KRETSCHMER (Thale, Landkreis Harz) und Martin SCHÜTTPELZ (Huy, Landkreis Harz) sind einschlägig als langjährige Angehörige der rechtsextremistischen Szene bekannt. Insbesondere im Winter 2021/2022 trat die "Harzrevolte" bei Demonstrationen in Erscheinung, die sich gegen die coronabedingten Beschränkungsmaßnahmen richteten. Dabei schien es der Gruppierung weniger um pandemiebedingte Themen zu gehen als um den Versuch, ihre Beteiligung an dem Protestgeschehen zum Zweck ihrer Selbstdarstellung zu nutzen. Um öffentlichkeitswirksam aufzutreten, führte die "Harzrevolte" auf Demonstrationen regelmäßig Banner mit den Slogans "Die Regierung ist das Virus - Deutsch, stabil, ungeimpft" oder "Das System ist der Fehler" mit. Zusätzlich verteilte die Gruppierung im Rahmen des Protests mehrfach Fackeln an Mitdemonstrierende. Obgleich die "Harzrevolte" oder ihre Mitglieder die Demonstrationen nicht anmeldeten, gelang es ihr insbesondere zu Beginn des Jahres 2022, eine entscheidende und zunächst unwidersprochene Rolle in der Organisation und Durchführung der Demonstrationen einzunehmen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 53 RechtsextRemismus So nahm sie von Anfang Januar bis zum 14. Februar 2022 in Halberstadt (Landkreis Harz) mit jeweils etwa 15 bis 30 Personen nicht nur an den Versammlungen und Aufzügen teil, sondern führte sie mit den erwähnten Bannern an. Dass die "Harzrevolte" zwischenzeitlich an Selbstbewusstsein gewonnen hatte und nun eine Führungsrolle im Protestgeschehen beanspruchte, machten die Ereignisse des 14. Februar 2022 in Halberstadt, die den Höhepunkt der öffentlichen Aktivitäten der Gruppierung bildeten, besonders deutlich. An diesem Tag zogen die Teilnehmer der wöchentlichen unangemeldeten Versammlung gegen die staatlichen Maßnahmen zur Pandemieeindämmung in Halberstadt unter der Führung von etwa 25 bis 30 Mitgliedern der "Harzrevolte" mit Banner, Fackeln und Bengalischem Feuer an dem Haus des Halberstädter Oberbürgermeisters vorbei, vor dem sie circa zehn Minuten verblieben. Diese Aktion wurde von der "Harzrevolte" videographisch begleitet und auf Telegram zusammen mit dem Kommentar "Halberstadt besucht den Oberbürgermeister von Halberstadt! Staat Vs. Volk" veröffentlicht. Nach diesem Ereignis zog sich die "Harzrevolte" zunächst von dem Versammlungsgeschehen in Halberstadt zurück. Ab dem 21. März 2022 spielte sie aber erneut eine prominente Rolle bei den Protesten und nahm mit etwa 30 Personen an den nunmehr angemeldeten Demonstrationen teil, diesmal mit einem neuen Banner, das die Aufschrift "Das System ist der Fehler" trug. Dieser nun gegen das demokratische System insgesamt gerichtete Slogan in Verbindung mit dem von der Gruppierung veröffentlichten Video mit den Worten "Wie in alten, guten Zeiten", das die "Harzrevolte" in vorderster Linie bei den Versammlungen zeigt, illustriert, dass die "Harzrevolte" auch abseits der CoronaPolitik eine erneute Führungsrolle im Protestgeschehen anstrebte, die sie allerdings bis zum Ende des Berichtszeitraumes nicht mehr einnehmen konnte. 54 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus In der Folgezeit versuchte die Gruppierung, neben der Kritik an den pandemiebedingten Eindämmungsmaßnahmen andere Themenfelder zu besetzen. In den Nachtstunden des 16. Juni 2022 errichtete die "Harzrevolte" an verschiedenen Tankstellen im Landkreis Harz kurzzeitig Absperrungen, an denen Plakate mit der Aufschrift "Diesem Staat bist DU egal" angebracht waren. In einem in den sozialen Medien mit Bildern der Aktion geposteten Text wurde der Staat aufgrund seiner Steuern auf Kraftstoffe als der eigentlich Schuldige an den hohen Preisen dargestellt. Daneben organisierte die "Harzrevolte" eigene Veranstaltungen wie Liederabende, eine Gedenkveranstaltung anlässlich der Bombardierung Halberstadts im Zweiten Weltkrieg und ein rechtsextremistisch geprägtes "Heldengedenken" am Volkstrauertag, mit dem Rechtsextremisten an gefallene deutsche Soldaten erinnern. Auch nahmen Angehörige der "Harzrevolte" an "klassischen" rechtsextremistischen Veranstaltungen teil, die von anderen rechtsextremistischen Gruppierungen organisiert worden waren. Beispielsweise besuchten Anhänger der "Harzrevolte" einen "Zeitzeugenvortrag" der Holocaustleugnerin Ursula HAVERBECK-WETZEL (Nordrhein-Westfalen), den "Trauermarsch" der rechtsextremistischen Szene zum Gedenken an die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg und die rechtsextremistische Veranstaltung "Ausbruch 60 Gedenkmarsch" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 55 RechtsextRemismus am 12. Februar 2022 in Ungarn. Auch auf der Beerdigung der rechtsextremistischen Szenegröße Siegfried Borchardt (Nordrhein-Westfahlen) zeigten Mitglieder der "Harzrevolte" Präsenz. Beiträge, die diese Aktivitäten dokumentieren, werden in den sozialen Medien geteilt. Neben Eigenwerbung und der Darstellung eigener, kameradschaftlicher Aktivitäten, die für ein gestiegenes Sendungsbewusstsein sprechen, werden auch Beiträge und Musikvideos von extremistischen Akteuren und Künstlern geteilt. Für ein erhöhtes Sendungsbewusstein der "Harzrevolte" spricht auch die Tatsache, dass diese im Berichtszeitraum massiv für ihr eigenes Merchandise warb,1 das sie gemeinsam mit dem rechtsextremistischen Szenegraphiker "Vlanze"2 entworfen hat. Diese Zusammenarbeit thematisierte sie ebenso offensiv wie eine gemeinsame Kampagne mit den JN, was deutlich macht, dass die Gruppe kaum noch darum bemüht war, ihren Charakter als offen rechtsextremistische Gruppierung zu verschleiern. Darauf deutete auch ein später vom eigenen Kanal gelöschtes Video hin, mit dem die "Harzrevolte" Mitglieder der "Antifa-Harz" "outete", indem sie diese gezielt auf Video aufzeichnete und im dazu geposteten Text erläuterte, dies seien die Menschen, "bei de[nen] ihr euch bedanken könnt". Später ohne Kommentar entfernt, fand sich dieses Video auch auf dem Telegram-Kanal der JN. Seit Dezember 2022 gingen die Aktivitäten der "Harzrevolte" deutlich zurück. Es ist aber davon auszugehen, dass die Personen, die sich in dieser Gruppierung zusammengefunden haben, die neonazistische Szene im Harz-Raum auch in den kommenden Jahren prägen werden. 1 - Siehe dazu auch Seite 83 f. 2 - Betreiber des Labels Vlanze Graphics (Dortmund, Nordrhein-Westfalen). 56 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Rechtsextremistische Aktivitäten von Sven LIEBICH Im Berichtszeitraum trat der Rechtsextremist Sven LIEBICH erneut landesund bundesweit in Erscheinung. Das Durchführen von Versammlungen bleibt für LIEBICH essenziell. Quantitativ betrachtet sind sie bundesweit ohne Vergleich. Neben seinen etablierten "Montagsdemos" führte er im Zusammenhang mit den coronabedingten Beschränkungsmaßnahmen zusätzlich eine Vielzahl von Versammlungen in Halle (Saale) unter dem Motto "Die Revolution ist noch nicht zu Ende" durch. Mit dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine erweiterte LIEBICH das Themenspektrum seiner versammlungsrechtlichen Aktionen. Dabei bezog er durchweg eine pro-russische Position, indem er die Kriegsschuld Russlands relativierte und stattdessen die NATO und die westliche Politik für den Konflikt verantwortlich machte. Der von ihm verwendete Schriftzug "Frieden mit Russland", das Zeigen der russischen Flagge oder das Verwenden des "Z"-Symbols unterstreichen seine Haltung. Auf seinem Telegram-Kanal "InSvensWelt" teilte LIEBICH permanent Beiträge des pro-russischen Telegram-Kanals "DeutschRussische Freundschaft". In seinem Online-Shop "politaufkleber. de" bot er unter anderem Aufkleber mit dem Z-Symbol und der Aufschrift "Zorro" oder "Zitronenlimonade" an. Dabei handelte es sich um seine bereits bekannte Strategie, mögliche strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn zu erschweren. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 57 RechtsextRemismus Im Berichtszeitraum versuchte LIEBICH, sowohl inhaltlich als auch organisatorisch an andere Strukturen mit dem Ziel anzudocken, seine Anhängerschaft zu vergrößern und seine Bekanntheit zu steigern. So schloss er sich insbesondere lokalen und auch überregionalen Aktivitäten im Kontext der Proteste gegen die pandemiebedingten Beschränkungsmaßnahmen an. Einzelne Anhänger LIEBICHs nahmen regelmäßig an den Versammlungen der "Bewegung Halle"3 teil, videografierten diese und bildeten bei einzelnen Versammlungen sogar kurzzeitig die Aufzugsspitze. Insoweit muss konstatiert werden, dass offensichtlich ideologische Überschneidungen bestehen und LIEBICH auch hier versucht, die Meinungsbildung zu beeinflussen. Eine Lenkung der Versammlungen der "Bewegung Halle" vom ihm war aber nicht erkennbar. Außerhalb Sachsen-Anhalts besuchte LIEBICH mehrfach "Spaziergänge" in Dresden (Sachsen) und eine Veranstaltung in Greiz (Thüringen). Am 25. Januar 2022 war LIEBICH in Gera (Thüringen), um an einem geplanten "Spaziergang" teilzunehmen, der aber von Polizeikräften unterbunden wurde. Er begab sich daraufhin zum Haus des Oberbürgermeisters von Gera und rief: "Hier sprechen die Taschenlampen-Terroristen! Wir sind das Volk! Frieden, Freiheit, keine Diktatur!" Im Juli 2022 unterstützte er eine Versammlung der NSP in Warnemünde (MecklenburgVorpommern) unter dem Motto "Sichere und saubere Straßen - Sichere und saubere Heimat" und trat dort als alleiniger Redner auf. Einzelne Anhänger aus seinem Hallenser Umfeld begleite- 3 - Siehe dazu auch Seite 125. 58 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus ten ihn. Insgesamt nahmen ca. 25 Personen der rechtsextremistischen Szene an der Versammlung teil. Anlässlich des Besuchs der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth (Bayern) führte LIEBICH am 25. Juli 2022 eine Versammlung unter dem Motto "Hallo Elite, das Volk ist da - Merkeljugend in Bayreuth" durch. Zunächst fand eine Kundgebung mit LIEBICH und seinen mitgereisten Anhängern an der Fahrtstrecke zum Veranstaltungsort der Festspiele statt. Danach zog LIEBICH mit den Versammlungsteilnehmern in einem Aufzug durch die Bayreuther Innenstadt. Im Rahmen des Versammlungsgeschehens wurde gegen LIEBICH ein (von der Staatsanwaltschaft Bayreuth mittlerweile eingestelltes) Strafverfahren eingeleitet, da an seinem Transporter ein Plakat mit einem ehrverletzenden Abbild der Bundeskanzlerin a. D. angebracht war. Sein homophobes Weltbild brachte LIEBICH im Juni 2022 anlässlich des "Pride Month"4 zum Ausdruck. Auf seinem TelegramKanal war ein Foto mit einer brennenden Regenbogenflagge zu sehen. Die Bildunterschrift lautete: 4 - Der Juni gilt in der Homosexuellenbewegung als "Pride Month", dessen Ursprünge im New Yorker "Stonewall riots" liegen, die am 28. Juni 1969 begannen. Im "Pride Month" werden mit verschiedensten Veranstaltungen die eigene Identität und der Kampf gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten gefeiert. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 59 RechtsextRemismus "Fröhlichen Pride-Month euch allen - Endlich werden die marginalisierten Alphabet-Leute für einen Monat wieder sichtbar gemacht bis es dann die restlichen 11 Monate auch nur darum geht diese sichtbar zu machen. Passt auf euch auf und holt euch keine Affenpocken bei der spontanen Grinder-Begegnung5 auf der Bahnhofstoilette." Trotz großer Anstrengungen und seines Drangs, sich unermüdlich öffentlichkeitswirksam darzustellen, gelang es LIEBICH nicht, sein Mobilisierungspotenzial auszubauen. Seine Versammlungsaktionen wurden von einem gleichbleibenden Personenkreis besucht und unterstützt. Es handelte sich um bis zu maximal 50 Personen, die seine Aktivitäten mitunter auch überörtlich begleiteten. LIEBICHs Versuche, die Mitte der Gesellschaft für seine rechtsextremistischen Ideen zu begeistern, blieben weiterhin erfolglos. Davon ist auch in Zukunft auszugehen. Allerdings wird dies seinen Aktivismus nicht schmälern: Vielmehr wird LIEBICH auch künftig jede öffentliche Plattform nutzen, um sich und sein rechtsextremistisches Weltbild zu präsentieren. Rechtsextremistische Szene im Landkreis Mansfeld-Südharz Die rechtsextremistische Szene im Landkreis Mansfeld-Südharz tritt unstrukturiert auf. Der Verfassungsschutz rechnet dieser Szene derzeit etwa 40 aktive Personen zu. Rechtsextremisten aus dieser Region verfügen über gute Kontakte zu anderen örtlichen Szenen, z.B. zu Akteuren im Burgenlandkreis und im Saalekreis. Es bestehen aber auch gute überregionale Kontakte zu Szeneangehörigen in Berlin, Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Im Berichtsjahr bildeten insbesondere die Aktivitäten um Enrico MARX (Sotterhausen) den Schwerpunkt im Landkreis. Das alljährlich zu Pfingsten stattfindende Questenfest in Questenberg wird seit Jahren auch von Rechtsextremisten aufge- 5 - Gemeint ist Grindr, eine Dating-App ausschließlich für Männer. 60 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus sucht. Der Questenbaum6 wird von diesem Personenkreis mit der germanischen Mythologie in Verbindung gebracht und daher zum Anlass genommen, Brauchtumspflege öffentlich darzustellen. Am 6. Juni 2022 wanderten etwa 50 Rechtsextremisten im Laufe des Tages zum neu gesetzten Questenbaum, darunter namhafte Szeneangehörige wie Enrico MARX (Landkreis Mansfeld-Südharz), Sven LIEBICH (Halle (Saale)) und Nikolai NERLING alias "Der Volkslehrer" (Thüringen). Die Partei "Der III. Weg" stellte auf ihrer Homepage einen Bericht zur Pfingstwanderung ein. Seit 2020 finden auf dem Grundstück von MARX in Allstedt, OT Sotterhausen, "Nationale Handwerkermärkte" statt. Der Markt am 3. September 2022 stand unter dem Motto "Hand in Hand - Für Erhalt und Bestand". Die Teilnehmer kamen u. a. aus den Landkreisen Bördekreis, Mansfeld-Südharz, Saalekreis sowie aus Hessen und Sachsen. Aus einem Bericht, den "Der III. Weg" auf seiner Internetseite veröffentlichte, geht hervor, dass die Partei bei dieser Veranstaltung ihr Programm vorgestellt hat. Neben einem Vortrag habe es zudem eine Kampfsportvorführung gegeben. Ebenfalls auf dem Grundstück von MARX fand am 3. Dezember 2022 der "1. Nationale Weihnachtsmarkt" statt. Zwischen 70 und 80 Personen, vor allem aus Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, besuchten diese Veranstaltung, darunter Familien mit Kindern. Des Weiteren wurde in Sotterhausen eine Wintersonnenwendfeier festgestellt, an der Rechtsextremisten aus mehreren Bundesländern teilnahmen. Rechtsextremistische Szene in Dessau-Roßlau und im Landreis Anhalt-Bitterfeld Die nicht parteigebundene rechtsextremistische Szene in Dessau-Roßlau und im Landkreis Anhalt-Bitterfeld ist weitgehend 6 - Ein geschälter Eichenstamm dem ein aus Zweigen gefertigtes und mit Quasten geschmücktes Radkreuz aufgesetzt wurde. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 61 RechtsextRemismus unstrukturiert. In Dessau-Roßlau werden ihr etwa 40 Personen, im Landkreis Anhalt-Bitterfeld etwa 70 Personen zugeordnet. Etwa 50 Prozent dieses Personenpotenzials sind in die Gruppierungen "Brigade 8 Chapter Mittel/Elbe"7 und "Aktionsgruppe Dessau-Bitterfeld", in den JN-Stützpunkt "Anhaltiner Land"8 sowie in das Personenumfeld um Alexander WEINERT (DessauRoßlau) eingebunden. Rechtsextremisten aus den genannten Regionen verfügen über gute Kontakte zu Szeneangehörigen in Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen. Alexander WEINERT (Dessau-Roßlau) meldete für den 19. Januar 2022 in Dessau-Roßlau eine Mahnwache anlässlich des Jahrestages eines Körperverletzungsdeliktes an Personen der rechtsextremistischen Szene an. Die Versammlung stand unter dem Motto "Solidarität mit den Opfern des 19.01.2019 - Wir fordern Aufklärung". An der Aktion beteiligten sich sieben Personen. Es wurden zwei schwarz-weiß-rote Fahnen gezeigt. Anlässlich des Jahrestages der Bombardierung der Stadt Dessau am 7. März 1945 fand in Dessau-Roßlau eine Kundgebung des Netzwerks "Gelebte Demokratie" unter dem Motto "Gedenken an alle Opfer des 2. Weltkriegs" mit etwa 280 Teilnehmern statt. Laut Eigenangaben der Partei "Der III. Weg" im Internet beteiligten sich auch dessen Mitglieder am Kundgebungsgeschehen. Ebenso hätten Parteiangehörige auf dem Ehrenfriedhof DessauRoßlau an "die zivilen Opfer der Bombardierung" gedacht. Beteiligung von Rechtsextremisten am Protestgeschehen In der ersten Jahreshälfte beteiligten sich Rechtsextremisten zunächst noch in größerer Zahl an den Protesten gegen die pandemiebedingten Eindämmungsmaßnahmen, indem sie mehrfach an versammlungsrechtlichen Aktionen teilnahmen beziehungsweise diese anzuführen versuchten. Dies stellte jedoch kein Massenphänomen dar und blieb auf einzelne Orte beziehungsweise Regionen begrenzt. 7 - Siehe dazu auch Seite 80f. 8 - Siehe dazu auch Seite 36. 62 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine und nachdem im April im Bundestag die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gescheitert war, ging das Mobilisierungspotenzial der Bewegung, die sich gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen formiert hatte, zurück und der thematische Fokus des Protestgeschehens verlagerte sich auf den Krieg bzw. dessen ökonomische Folgen (insbesondere die Energiesituation und die Inflationsentwicklung). Einige rechtsextremistische Akteure waren bemüht, sich auf diesen neuen thematischen Schwerpunkt des Protestgeschehens einzustellen, um dieses in ihrem Sinne zu beeinflussen. Allerdings zeigte sich insbesondere im vierten Quartal 2022, dass die neonazistische Szene die Energiekrise und die Inflation nicht in demselben Maße wie zuvor die pandemiebedingten Eindämmungsmaßnahmen für eine Mobilisierung nutzen konnte. Zwar versuchte die Szene zunächst, die steigenden Flüchtlingszahlen für die Mobilisierung zu Anti-Asyl-Protesten zu instrumentalisieren, doch abgesehen von vereinzelten Aktionen spielten neonazistische Gruppierungen nicht mehr die Rolle im Protestgeschehen, die sie noch im letzten Winter eingenommen hatten. Stattdessen zogen sich rechtsextremistische Gruppierungen zunehmend in die sozialen Medien zurück und agitierten dort gegen tagespolitische Entscheidungen, allerdings ohne dass sich hieraus bedeutsame realweltliche Aktionen ergaben. Neonazistische Akteure traten im Rahmen des Protestgeschehens in der zweiten Jahreshälfte bei großen Versammlungen überwiegend nicht in szenetypischer Kleidung oder Symbolik und somit nicht als erkennbare Rechtsextremisten in Erscheinung. Viele Rechtsextremisten scheinen zu der Erkenntnis gelangt zu sein, dass sie als eindeutig rechtsextremistische Akteure nicht an den nichtextremistischen Protest anschlussfähig sind. Daher instrumentalisierten sie Protestveranstaltungen nicht mehr offen sichtbar für ihre Ziele, sondern reihten sich als "normale" Protestteilnehmende ein. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 63 RechtsextRemismus Rechtsextremistische Aktivitäten zum Todestag der RathenauMörder In der Gaststätte "Burgblick" in Naumburg OT Saaleck (Burgenlandkreis) gedenken Angehörige der rechtsextremistischen Szene jährlich des Todestages der Mörder von Walther Rathenau, Erwin Kern und Hermann Fischer, die am 17. Juli 1922 auf der Burg Saaleck zu Tode kamen. Anlässlich des 100. Todestages der Rathenau-Attentäter trafen sich am 16. Juli 2022 etwa 35 Personen im "Burgblick" zu einem Vortrag. Aufgrund eines Kirchenratsbeschlusses der Gemeinde ist eine Ehrung der Attentäter an der ehemaligen Grabstätte auf dem Saalecker Friedhof nicht gestattet. Einige Personen der Zusammenkunft begaben sich stattdessen in Kleingruppen zum Grab des im Februar 2022 verstorbenen Rechtsextremisten Lutz Battke (Burgenlandkreis), um dort einen Eichenkranz niederzulegen. Aktivitäten zu den Jahrestagen alliierter Luftangriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg Anlässlich des 77. Jahrestages der Bombardierung Magdeburgs während des Zweiten Weltkriegs veranstaltete die rechtsextremistische Szene am 22. Januar 2022 eine Kundgebung unter dem Motto "Trauermarsch 16.000 unvergessen". An der Versammlung nahmen etwa 150 Personen teil, unter anderem aus Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen. Reden hielten unter anderen Funktionäre der NSP, der DR und der JN. Alljährlich findet im Zusammenhang mit dem Gedenken an die Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 eine Veranstaltung des "Aktionsbündnis gegen das Vergessen" statt. Das diesjährige "Gedenken" meldete der bekannte Neonazi Lutz GIESEN (Sachsen) unter dem Motto "Vergesst niemals Dresden! Gedenken zu Ehren der Dresdner Luftkriegstoten des 13. Februar 1945 Dresden - Gedenken 2022" an. Neben dem Versammlungs64 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus leiter GIESEN traten Sven SKODA (DR, Nordrhein-Westfalen), Alexander DONNINGER (Baden-Württemberg) sowie Jens BAUER und dessen Ehefrau (Elsteraue, Burgenlandkreis) als Redner auf. Die BAUERs und Alexander DONNINGER verlasen die Namen deutscher Städte, die im Zweiten Weltkrieg "von anglo-amerikanischen Terrorbombern" zerstört worden seien. Zusätzlich verlas Jens BAUER Grußworte von französischen Kameraden. Insgesamt beteiligten sich etwa 750 Personen an dem "Gedenkmarsch". Neben den bereits Genannten nahmen aus SachsenAnhalt Angehörige der NSP, der NPD, der JN und der "Harzrevolte" teil. Aktionsform "Schwarze Kreuze" Zum neunten Mal haben Rechtsextremisten organisationsübergreifend am 13. Juli 2022 in mehreren Bundesländern einen Aktionstag unter dem Motto "Schwarze Kreuze Deutschland" durchgeführt. Hierbei wurden schwarz bemalte Kreuze an öffentlichen Straßen und Plätzen aufgestellt.9 Auf dem Telegram-Kanal "Aktion Schwarze Kreuze" sind zahlreiche Bilder und Videos zur Vorbereitung auf die Aktion am 13. Juli eingestellt worden. Im Landkreis Wittenberg wurden "Schwarze Kreuze" in der Lutherstadt Wittenberg, in Schweinitz, in Jessen (Elster) und am "Lutherstein" an der B2 bei Gräfenhainichen aufgestellt. Auch die Gruppierung "Nordic 12 Gardelegen" beteiligte sich am 13. Juli an der diesjährigen "Schwarze Kreuze"-Aktion und stellte Kreuze am Ortseingang der Hansestadt Gardelegen (Altmarkkreis Salzweldel) auf. Die "Harzrevolte" stellte in 9 - Rechtsextremisten versuchen den 13. Juli als "inoffizielle[n] Gedenktag" zu etablieren, "an dem deutschlandweit an die Opfer multikultureller Gewalttaten erinnert" werden soll. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 65 RechtsextRemismus Halberstadt, Wernigerode, Quedlinburg und Thale (alle Landkreis Harz) schwarze Holzkreuze auf und veröffentlichte Fotos der Aktion auf Instagram und Telegram. Völkische Siedlungsbestrebungen Im Rahmen der Beobachtung rechtsextremistischer Aktivitäten sind dem Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt auch völkische Siedlungsbestrebungen bekannt geworden. Völkische Siedlungsbestrebungen sind begrifflich bisher nicht abschließend definiert. Es gibt Gemeinschaften, die ihre Überzeugungen ohne Anspruch auf eine politisch-gesellschaftliche Umgestaltung ausleben; sie gelten nicht als eine verfassungsfeindliche Bestrebung. Daneben können für den Verfassungsschutz relevante rechtsextremistische Siedlungsbestrebungen detektiert werden. Derartige Bestrebungen liegen vor, wenn Akteure aus dem rechtsextremistischen Spektrum gezielt versuchen, Rückzugsräume zu schaffen, indem geografische Gebiete durch Zuzug und/oder ideologische/kulturelle Prägung vereinnahmt werden. Völkische Siedler pflegen eine naturorientierte, ökologische Lebensweise und lassen sich daher vorrangig in ländlich geprägten Gebieten nieder. Sie vertreten zumeist nationalistische, rassistische, antisemitische und/oder homophobe Ansichten. Einige rechtsextremistische Akteure der völkischen Siedlungsbewegung können der "Anastasia-Bewegung" zugerechnet werden, einer esoterisch-ökologischen, neu-religiösen Bewegung, die ursprünglich aus Russland stammt und seit einigen Jahren versucht, auch in Deutschland lokale Strukturen (sogenannte Familienlandsitze) aufzubauen. Die "Anastasia-Bewegung" ist ein sehr heterogenes internationales Netzwerk, das sich aus verschiedenen Einzelpersonen und Organisationen zusammensetzt. Die ideologische Grundlage der Bewegung bildet die zehnbändige "Anastasia"-Buchreihe von Wladimir Megre, die ein völkisches und antisemitisches Weltbild propagiert. 66 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus "Weda Elysia e. V." Ein zentraler Akteur der "Anastasia"-Siedlungsbestrebungen in Deutschland ist der Verein "Weda Elysia e. V." mit Sitz in Blankenburg, OT Wienrode (Harzkreis). Der Verein, dem laut Satzung etwa 15 Personen angehören, strebt den Aufbau einer eigenen Familienlandsitz-Siedlung an und hat zu diesem Zweck die ehemalige Dorfschänke im Ortskern von Wienrode erworben, um diese zu renovieren und zu einem Kulturzentrum auszubauen. "Weda Elysia e. V. " versteht sich als eine Glaubensgemeinschaft, die sich auf die Lebensweise ihrer "Ahnen" beruft und eine esoterische Brauchtumspflege betreibt. In seiner Publikation "Weda Elysia - Fahrt ins Paradies" macht der Verein unmissverständlich deutlich, dass er sich auf Megres "Anastasia"-Buchreihe beruft. Ein Imagefilm mit dem Titel "HERZKRAFT", den "Weda Elysia e. V." im Dezember 2020 auf Youtube veröffentlicht hat, verdeutlicht die Vorstellung des Vereins von einem "autarken Leben" in der Siedlungsgemeinschaft. Leitmotiv des Videos ist der Wunsch nach einer Rückkehr zu einem ursprünglichen, freien, individuellen und autarken Leben im Einklang mit der Natur. Die als "unfrei" empfundene Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland wird darin als negativer Gegenpol zu der Utopie einer unabhängigen "Familienlandsitzsiedlung" dargestellt. Aus der Perspektive der Anhänger des Vereins steht die ausschließlich positive, sinnerfüllte Welt von "Weda Elysia e. V." einer gänzlich von Leid und Krieg geprägten, von bösen Hintergrundmächten beherrschten Außenwelt gegenüber. Ein derart simplifizierendes Schwarz-Weiß-Denken ist ein typisches Merkmal extremistischer Argumentationsmuster. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 67 RechtsextRemismus In seiner Außendarstellung betont der Verein, dass er sich der Wahrung des "Brauchtums unserer Ahnen", dem Naturschutz und der Biolandwirtschaft verpflichtet fühlt. Diese Verknüpfung von Ökologie und der Begeisterung für völkische Brauchtumspflege ist ein Kennzeichen aller völkischen Siedlungsbestrebungen. "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." ("Artgemeinschaft") Einige Akteure von "Weda Elysia e. V." pflegen Kontakte zu dem neonazistischen Verein "Artgemeinschaft" und nahmen im Berichtsjahr vereinzelt an dessen "Gemeinschaftstagen" in Ilfeld (Thüringen) im Südharz teil. Die "Artgemeinschaft" ist die größte deutsche neonazistische Vereinigung mit völkischer, rassistischer, antisemitischer sowie antichristlicher Ausprägung. Damit fungiert sie als wichtige Schnittstelle der deutschen Neonaziszene. Die Mitglieder der "Artgemeinschaft" leben strikt nach dem "Sittengesetz ihrer Ahnen". Darin heißt es: "Das Sittengesetz in uns gebietet Tapferkeit und Mut in jeder Lage, Kühnheit und Wehrhaftigkeit bis zur Todesverachtung gegen jeden Feind von Familie, Sippe, Land, Volk, germanischer Art und germanischen Glaubens [....] Das Sittengesetz in uns gebietet Einsatz für Wahrung, Einigung und Mehrung germanischer Art [...] Das Sittengesetz in uns gebietet Gefolgschaft dem besseren Führer, mit Recht und Pflicht zu abweichendem Rat, nach bestem Wissen und Gewissen." Die sogenannten Gemeinschaftstage sind für völkische Siedlungsbestrebungen eine gute Möglichkeit, die Ideen eines autarken Lebens in der Gemeinschaft umzusetzen sowie heid68 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus nisch-germanische Rituale zu bewahren, mögliche neue Mitglieder zu gewinnen und damit die vorhandenen Strukturen auszudehnen. Neonazis erhalten durch diese Veranstaltungen die Möglichkeit, auch ihre Familien einschließlich ihrer Kinder an die rechtsextremistische Szene zu binden und rassistische Überzeugungen wie eben jene der "eigenen Art" und "Rasse" weiterzugeben. Auch in diesem Jahr nahm ein fester Personenkreis aus Sachsen-Anhalt an diesen Veranstaltungen teil. Die "Artgemeinschaft" konnte wenige neue Mitglieder gewinnen. Die Organisation nutzt in zunehmendem Maße die sozialen Medien. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Berichtsjahr dominierten regionale Personenzusammenschlüsse die rechtsextremistische Szene in Sachsen-Anhalt. Deutlich zu erkennen ist eine überregionale Beteiligung von Szeneangehörigen an rechtsextremistischen Veranstaltungen wie Sonnenwendfeiern und Geburtstagsfeiern, aber auch eine zunehmende überregionale Vernetzung und Unterstützung untereinander. Die Kooperation von parteiungebundenen Personenzusammenschlüssen mit Parteien wie der NPD und "Der III. Weg" ist Ausdruck dieser fortschreitenden Vernetzung. Im Verlaufe des Berichtsjahres sank die Zahl rechtsextremistischer Teilnehmer an den Corona-Protestveranstaltungen; aber auch der Einfluss rechtsextremistischer Akteure auf das Protestgeschehen nahm insgesamt ab, da es ihnen nicht gelang, sich wie im Winter 2021/22 einer nichtextremistischen Mehrheit programmatisch anzubiedern. Aktuell besteht die Möglichkeit, dass sich bestehende Gruppierungen in stärker und weniger aktionsorientierte Teilgruppen aufspalten. Es ist davon auszugehen, dass die Aktivitäten der neonazistischen Szene auch in der nahen Zukunft nicht nur von Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 69 RechtsextRemismus der ritualisierten Durchführung geschichtsrevisionistischer und NS-verherrlichender Aktionen, sondern auch vom tagesaktuellen politischen Geschehen bestimmt sein werden. 70 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial (gewaltbereiter Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus) Sitz Bundesweit Verbreitung Gründung Im Zuge der Erosion der bis dahin klar abgrenzbaren Erscheinungsformen des Rechtsextremismus in Gestalt von Neonazis, Parteienspektrum und Skinheads der 1990er Jahre bildete sich in den letzten Jahren eine als vielschichtig zu charakterisierende Szene heraus, die sich unterschiedlicher Aktionsund Organisationsformen bedient. Struktur Neben gewaltbereiten Einzelpersonen tritt das Aufbau weitgehend unstrukturierte Personenpotenzial in regional verankerten Personenzusammenschlüssen oder virtuellen Gruppen auf, teilweise mit überregionaler Vernetzung. Es sind dabei nunmehr auch Strukturformen festzustellen, die ursprünglich in der neonazistischen Szene genutzt wurden. Zudem werden parteiähnliche und vermehrt rockerähnliche Strukturen adaptiert, um sich zumindest in kleinen Gruppen regional zu organisieren. Neben dem Vorhandensein fester innerer Strukturen, autoritärer Führungspersonen oder der Finanzierung über Mitgliedsbeiträge ist diese Entwicklung auch damit zu beschreiben, dass oftmals nicht mehr allein das aktionsorientierte Verüben von Straftaten im Vordergrund steht, sondern ebenso das Planen und Durchführen von Versammlungen, Konzerten, Liederabenden oder anderen Szeneveranstaltungen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 71 RechtsextRemismus Mitglieder Land: etwa 900 (2021: etwa 780) Anhänger Bund: etwa 16.000 (2021: 15.000) VeröffentMessengerdienste und soziale Netzwerke zum lichungen Zwecke der schnellen Mobilisierung Kurzportrait / Ziele Das Personenpotenzial der weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Szene weist ein sehr heterogenes Erscheinungsbild auf und bedient diverse Aktionsfelder. Es zeichnet sich durch eine hohe Gewaltbereitschaft aus. Aktuell sind einige klassisch subkulturelle Akteure darum bemüht, parteiförmige Gruppierungen zu gründen, um diese unter dem Schirm des Parteienprivilegs nach Art. 21 Abs. 1 GG gegen Verbote abzusichern, gleichzeitig aber gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu agitieren. Ideologische Ziele sind dabei kaum auszumachen; diese sind eher situativ bedingt, was einem Merkmal der früheren subkulturell geprägten (Skinhead-)Szene entspricht. Im Zuge der zu beobachtenden Verjüngung der Szene ist zudem eine Zunahme der aktionsorientierten Motivation zu verzeichnen, da gerade bei jüngeren Szeneangehörigen Aktivitäten mit "Erlebnischarakter" im Vordergrund stehen, die auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Grund der Beobachtung Das Weltbild der weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Szene wird unverändert von antidemokratischen, rassistischen, antisemitischen, fremdenfeindlichen sowie Gewalt gegen Ausländer und politisch Andersdenkende befürwortenden Ideologiebestandteilen geprägt. Dies wird in Aktionen, Strafund Gewalttaten, zahlreichen Liedtexten einschlägiger Musikgruppen oder auch Programmen und Manifesten offen zum Ausdruck gebracht. Gerade die Liedtexte fungieren als wichtiges Medium, um rechtsextremistische und zum Teil gewaltbefürwortende Inhalte zu verbreiten. Zuletzt rückten vermehrt Kampfsportver72 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus anstaltungen in den Vordergrund, bei denen vor allem jungen Menschen die Ideologieelemente der Szene nahegebracht und zum Teil auch Hemmschwellen in Bezug auf das Anwenden von Gewalt abgebaut werden sollen. All dies steht im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Daneben sind es gewaltbereite Einzelpersonen und klandestin organisierte Kleinstgruppen aus dem weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Spektrum, welche mit der Androhung, Planung oder Ausübung von schweren Gewalttaten in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten. In derartigen Fällen nimmt die Verfassungsschutzbehörde neben einer originär sachund strukturorientierten Auswertung von Informationen auch eine gezielt persönlichkeitsorientierte Auswertung vor, die Rückschlüsse auf mögliche Gefährdungsszenarien zulässt. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Rechtsterrorismus Dass einige Akteure des weitgehend unstrukturierten Teils des Rechtsextremismus dazu bereit sind, ihre politischen Ziele auch mit Waffengewalt durchzusetzen, hat der rechtsterroristische Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle (Saale) gezeigt. Der Täter, Stephan BALLIET, wurde für seinen Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) und den Mord an zwei Personen am 21. Dezember 2020 vom Oberlandesgericht (OLG) Naumburg zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Auch aus der Haft heraus versuchte er, in die Öffentlichkeit zu wirken. Sein Versuch, am 12. Dezember 2022 mittels einer Geiselnahme aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) Burg (Landkreis Jerichower Land) gewaltsam zu entfliehen, hat deutlich gemacht, dass das von BALLIET ausgehende Sicherheitsrisiko keinesfalls unterschätzt werden darf. Am 20. Dezember 2022 wurde er in eine JVA im Freistaat Bayern verlegt. Der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt wurden im Berichtszeitraum weiterhin Personen bekannt, die in einem fortVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 73 RechtsextRemismus währenden Briefkontakt mit BALLIET standen. Die Motivation dieser Personen dürfte unterschiedlich begründet sein, wenngleich einzelne Briefe auch bei ihnen ein punktuell rechtsextremistisches und antisemitisches Weltbild erkennen lassen. In einem weiteren Kontext zum Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle (Saale) steht die am 31. März 2022 erfolgte Verurteilung des österreichischen rechtsextremistischen Rappers "Mr. Bond". Das Wiener Landesgericht (Österreich) verurteilte ihn wegen einer nationalsozialistischen Wiederbetätigung zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe. Im Strafverfahren sei vom Gericht auch berücksichtigt worden, dass BALLIET den Livestream seines Anschlags unter anderem mit Musik von "Mr. Bond" unterlegt hatte, was laut Gericht die besondere Gefährlichkeit des "Mr. Bond" unterstreiche. Die Verfassungsschutzbehörde geht unverändert davon aus, dass rechtsextremistische Terrorakte in die gewaltbereite rechtsextremistische Szene wirken und Nachahmer entsprechend motivieren können. Insbesondere in alternativen sozialen Netzwerken, Videoportalen und Imageboards hat sich im Laufe der 2010er Jahre eine rechtsextremistische und extrem gewaltverherrlichende Subkultur herausgebildet, die Rechtsterroristen wie Anders BREIVIK, Brenton TARRANT oder Timothy MCVEIGH als "saints" ("Heilige") verehrt. In dieser Subkultur hatte sich auch BALLIET bewegt. Dieser hatte seinen Anschlag vom 9. Oktober 2019 unter anderem nach dem Vorbild von BREIVIK und TARRANT geplant. Wie diese hatte er nicht nur vorab ein in englischer Sprache verfasstes Manifest im Netz veröffentlicht; er hatte, wie zuvor Tarrant, seinen Anschlag auch per Livestream im Internet übertragen und in englischer Sprache kommentiert. Als ein Beispiel für diese Internationalisierung des gewaltbereiten Rechtsextremismus ist der rechtsterroristische Anschlag vom 14. Mai 2022 in Buffalo/USA zu nennen, bei dem zehn Menschen ermordet wurden. Der 18jährige Täter nimmt in dem (mutmaßlich) von ihm verfassten "Manifest" unter anderem Bezug auf BALLIET und dessen rechtsterroristischen Anschlag. 74 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Gewaltbereite Rechtsextremisten nutzen die Angebote der sozialen Netzwerke nicht nur zur Vernetzung, sondern treten mit expliziten Gewaltaufrufen oder mit dem Veröffentlichen von Bildern mit Waffen in Erscheinung. Die Verfassungsschutzbehörde geht solchen anfänglich oftmals diffusen Hinweisen nach, die in einer nicht geringen Anzahl von Fällen weitergehende umfangreiche Internetrecherchen oder Maßnahmen operativer Art zur Folge haben. Im Zusammenhang mit dem am 2. Juni 2019 verübten Mord am Regierungspräsidenten von Kassel (Hessen) bestätigte der Bundesgerichtshof (BGH) am 24. August 2022 die Entscheidung des OLG Frankfurt am Main, wonach einem zwischenzeitlich in Sachsen-Anhalt wohnhaften Rechtsextremisten der Tatverdacht der Beihilfe zum Mord nicht nachgewiesen werden konnte. Mithin bleibt es für diesen bei einer Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz. Das OLG München hat am 1. September 2022 im Beschlussverfahren entschieden, dass der am 11. Juli 2018 wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilte NSU-Unterstützer Ralf WOHLLEBEN die nach Abzug der Zeiten in der Untersuchungshaft verbliebene Restfreiheitsstrafe noch ableisten muss. Damit hat das Gericht dem Antrag von WOHLLEBEN auf Aussetzung der Strafe nicht stattgegeben. Die Entscheidung wurde vom BGH am 2. November 2022 bestätigt. WOHLLEBEN hat inzwischen die Haftstrafe in einer Justizvollzugsanstalt in Sachsen-Anhalt angetreten. Die Verfassungsschutzbehörde verzeichnete bereits unmittelbar nach dem Haftantritt entsprechende Solidaritätsbekundungen und Spendensammlungen innerhalb der rechtsextremistischen Szene. Zudem beschloss das BVerfG am 30. September 2022, dass die von der dem sogenannten "NSU-Trio" angehörenden Beate ZSCHÄPE eingelegte Verfassungsbeschwerde nicht zur EntscheiVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 75 RechtsextRemismus dung angenommen wird. Diese richtete sich gegen das Strafurteil des OLG München vom 11. Juli 2018, mit dem ZSCHÄPE unter anderem wegen mittäterschaftlicher und mitgliedschaftlicher Beteiligung an mehreren Mordtaten einer rechtsterroristischen Vereinigung zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld verurteilt worden war. Gegen das Urteil war ZSCHÄPE zuvor in Revision gegangen, die vom BGH verworfen wurde. Am 17. November 2022 hat das Landgericht Frankfurt am Main den Urheber einer Serie von Drohschreiben mit dem Absender "NSU 2.0" zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der aus Berlin stammende Mann hatte mit etwa 80 Drohschreiben unter anderem Politiker, Journalisten und andere Vertreter des öffentlichen Lebens bedroht und rassistisch beleidigt. Mögliche Beteiligung von Rechtsextremisten am Krieg in der Ukraine Seit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 ist aus Sicht der Sicherheitsbehörden zu befürchten, dass sich auch gewaltbereite Rechtsextremisten aus Deutschland an den Kampfhandlungen beteiligen könnten. Bereits in der Vergangenheit hatte die Verfassungsschutzbehörde Bezüge von Rechtsextremisten aus Sachsen-Anhalt zum "Regiment Asow" und zu der sogenannten "Misanthropic Division" in der Ukraine feststellen können. Bei der "Misanthropic Division" handelt es sich um ein internationales neonazistisches Netzwerk, das Rechtsextremisten in ganz Europa rekrutiert haben soll, die dann mutmaßlich innerhalb des "Regiments Asow" an bewaffneten Kampfhandlungen gegen die prorussischen Separatisten in der Ukraine beteiligt waren. Mit Blick auf die Entwicklung der Kampfhandlungen wurden von der Verfassungsschutzbehörde Maßnahmen getroffen, um entsprechende Ausreisen feststellen und gegebenenfalls auch zu deren Verhinderung beitragen zu können. Im Berichtszeitraum wurden der Verfassungsschutzbehörde keine 76 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Rechtsextremisten aus Sachsen-Anhalt bekannt, die zum Zwecke der aktiven Beteiligung an Kampfhandlungen in die Ukraine ausgereist sind. Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden Die Bundesministerin des Innern und für Heimat (BMI) stellte am 13. Mai 2022 das fortgeschriebene Lagebild "Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden" vor. Demnach lagen für den Erhebungszeitraum 1. Juli 2018 bis 30. Juni 2021 in insgesamt 327 Fällen bei Bediensteten in Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder tatsächliche Anhaltspunkte für eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vor. Auf Sachsen-Anhalt entfielen davon 17 Verdachtsund erwiesene Fälle, denen überwiegend politisch motivierte Beleidigungen oder als rechtsextremistisch zu bewertende Äußerungen zugrunde lagen. Rechtsextremisten und Waffen Gerade subkulturell geprägte und gewaltbereite Rechtsextremisten weisen häufig eine besondere Affinität zu Waffen auf. Waffen haben in der rechtsextremistischen Szene aus milieuspezifischen und insbesondere ideologischen Gründen eine große Bedeutung. Die für diese Szene typische Kombination einer menschenverachtenden Weltanschauung mit einer niedrigen Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt und einer Faszination für Waffen stellt ein Bedrohungspotenzial dar, wie die rechtsterroristischen Aktivitäten des NSU und die Taten von Halle (Saale), Kassel und Hanau (Hessen) gezeigt haben. Im Berichtszeitraum sind der Verfassungsschutzbehörde Rechtsextremisten bekannt geworden, die an Schießtrainings im Inund Ausland teilnahmen. Gerade im osteuropäischen Ausland haben Rechtsextremisten die Möglichkeit, das Schießen mit vollautomatischen Kriegswaffen zu trainieren. Aber auch in Deutschland stehen ihnen privat betriebene Schießstände offen, wo sie zum Teil mit entsprechend vorgehaltenen Leihwaffen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 77 RechtsextRemismus schießen können. Einige Rechtsextremisten kennen legale Waffenbesitzer persönlich, die mit ihnen trainieren und hierfür die Schusswaffen auf dem Schießstand zur Verfügung stellen. Dass private Schießstandbetreiber oder Schützenvereine Rechtsextremisten gezielt unterstützen hat die Verfassungsschutzbehörde bislang nicht festgestellt. Gerade um die Möglichkeiten des sportlichen Schießens wahrnehmen zu können, dürften es viele Rechtsextremisten bei solchen Veranstaltungen vermeiden, ihre ideologische Einstellung offen zu artikulieren. Daneben verzeichnet die Verfassungsschutzbehörde immer noch eine größere Zahl an Rechtsextremisten mit waffenrechtlichen Erlaubnissen, die sie zum Besitz von erlaubnispflichtigen und mithin sogenannten scharfen Schusswaffen berechtigen. Soweit der Verfassungsschutzbehörde ausreichend mitteilbare Erkenntnisse zu diesen Personen vorliegen, werden die zuständigen Waffenbehörden auf der Grundlage von SS 18 Abs. 1 VerfSchG-LSA hierüber informiert. In einzelnen Fällen hat die zuständige Untere Waffenbehörde daraufhin bereits die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen. Im Berichtszeitraum traten Rechtsextremisten wiederkehrend mit Verstößen gegen das Waffengesetz oder mit illegalem Waffenoder Munitionsbesitz in Erscheinung. So gab am 23. Januar 2022 ein bis dahin bei der Verfassungsschutzbehörde nicht bekannter 55-jähriger Mann aus Halle (Saale) aus seiner Wohnung heraus mehrere Schüsse aus einem Luftgewehr auf das Islamische Kulturzentrum (IKC) in Halle (Saale) ab. Zum Zeitpunkt der Schussabgabe befanden sich eine Person aus Syrien und eine Person aus Libyen vor dem Gebäude. Im Objekt befanden sich zudem etwa 50 Personen beim Gebet; gleichzeitig nahmen etwa 100 Kinder am Arabischunterricht teil. Niemand wurde verletzt. Wenngleich der Schütze bei der Polizei zuvor nicht staatsschutzrelevant in Erscheinung getreten war, lässt die Schussabgabe in Richtung des IKC eine islamund fremdenfeindliche Gesinnung des Tatverdächtigen vermuten. 78 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus In einem anderen Beispielfall wurden der Verfassungsschutzbehörde am 18. November 2022 im Rahmen einer Internetrecherche zwei Instagram-Profile bekannt, auf denen offenkundig durch sogenanntes Sondeln1 aufgefundene Waffenund Munitionsteile abgebildet waren. Eines der beiden Profile enthielt zudem Darstellungen von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Beide Profile konnten einem der Verfassungsschutzbehörde bereits bekannten Mitglied der rechtsextremistischen Gruppierung "Harzrevolte"2 zugerechnet werden. Die Erkenntnisse zu der Person und dem mutmaßlich illegalen Waffenbesitz wurden an die Polizei übermittelt. Rechtsextremisten und Kampfsport Die Verfassungsschutzbehörde hat in den zurückliegenden Jahren ein gesteigertes Interesse an der Ausübung von Kampfsport innerhalb der rechtsextremistischen Szene beobachten können. Diese Entwicklung ist neben der Faszination der Szene für Kampf und Männlichkeit und der Vorstellung vom Recht des Stärkeren auch auf die Popularität des sogenannten "NS Straight Edge"-Kults3 in Teilen der Szene zurückzuführen, der eine bewusste, gesunde Lebensweise sowie sportliche Ertüchtigung fordert und diese Forderung mit dem völkischen Postulat eines "gesunden Volkskörpers" verbindet. Ein Kampfsport-Großereignis wie der so genannte "Kampf der Nibelungen", der im Jahr 2020 in Magdeburg stattfinden sollte und rechtzeitig von der Polizei untersagt worden war, fand im Berichtszeitraum in Sachsen-Anhalt nicht statt. Gleichwohl erlangte die Verfassungsschutzbehörde vermehrt Informationen über kleinere, aber dennoch professionell vorbereitete Kampf- 1 - Die Suche von Gegenständen, insbesondere Waffenund Munitionsteilen, im Boden mittels Metalldetektor. 2 - Siehe dazu auch Seite 52. 3 - Der Begriff "Straight Edge" beschreibt eine (Jugend)Kultur, deren Anhänger komplett auf Alkohol, Tabak und Drogen verzichten und oftmals auch eine vegetarische/vegane Lebensweise favorisieren. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 79 RechtsextRemismus sporttrainings, die zum einen der Ertüchtigung dienen, zum anderen aber gerade von Personen aus dem Bereich des gewaltbereiten Rechtsextremismus für die Vorbereitung auf den "Kampf auf der Straße" genutzt werden. Bei Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben Rechtsextremisten versucht, vor allem jüngere Demonstrationsteilnehmer für die Teilnahme an Kampfsporttrainings anzuwerben. Verbindungen zu anderen Subkulturen Bei der Betrachtung der Schnittmengen zwischen der rechtsextremistischen Szene und der Rockerszene fokussierte die Verfassungsschutzbehörde im Berichtsjahr unverändert auf die Aktivitäten der rechtsextremistisch geprägten Rockergruppierung "MC Division 39 Magdeburg". Beginnend mit einer Aktion dieser Gruppe am 16. Januar 2022 anlässlich des Jahrestages der Bombardierung der Stadt Magdeburg im Jahr 1945 stellte die Verfassungsschutzbehörde im Berichtszeitraum wiederkehrende Teilnahmen von Personen des "MC Division 39 Magdeburg" an Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene fest. Auch ließen sich enge Verbindungen zum "Chapter Altmark" des Hells Angels MC in Salzwedel (Altmarkkreis Salzwedel) dokumentieren, das ebenfalls personelle Schnittmengen mit der rechtsextremistischen Szene aufweist. Neben den Schnittmengen zwischen Rechtsextremisten und Rockern lassen sich innerhalb des Rechtsextremismus noch rockerähnliche Gruppierungen wie die "Brigade 8" feststellen. Bei der "Brigade 8" handelt es sich um eine Gruppierung, die aufgrund ihrer Beteiligung an rechtsextremistischen Veranstaltungen (z. B. Versammlungen, Liederabende oder Geburtstagsfeiern von Szeneangehörigen) der rechtsextremistischen Szene zugeordnet werden kann. Ähnlich wie Mitglieder eines Rockerclubs tragen die Angehörigen rockertypische Kleidung (Kutten mit Patches) und übliche Funktionsbezeichnungen ("President", "Sergeant at Arms", "Prospect" u.s.w.). Die "Brigade 8" verfügt über mehrere regionale "Chapter" innerhalb Deutschlands. 80 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus In Sachsen-Anhalt agiert seit zwei Jahren das "Chapter Mittel/ Elbe", dessen Mitglieder zum Teil überregional sehr gut vernetzt sind und an überregionalen Treffen teilnehmen. In Sachsen-Anhalt können diesem Chapter etwa 20 Personen zugerechnet werden. Im Berichtsjahr beteiligte sich die "Brigade 8" am 22. Januar 2022 an einer versammlungsrechtlichen Aktion anlässlich des Jahrestages der Zerstörung der Stadt Magdeburg durch alliierte Luftverbände im Zweiten Weltkrieg. Im Rahmen einer Geburtstagsfeier eines Mitglieds des "Chapters Mittel/Elbe" am 29. Oktober 2022 in Bitterfeld-Wolfen (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) führte die Polizei Aufklärungsmaßnahmen durch. Etwa 80 Personen nahmen teil, darunter Mitglieder der "Brigade 8" aus Sachsen. Es wurden Fahrzeuge aus Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Sachsen, SachsenAnhalt und der Schweiz festgestellt. Eine gezielte Beobachtung der Fußballfanoder Hooliganszene erfolgt von der Verfassungsschutzbehörde in Sachsen-Anhalt nicht, weil keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass von dieser Szene Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen. Dennoch stellt die Verfassungsschutzbehörde regelmäßig personelle Schnittmengen zwischen der rechtsextremistischen Szene und der Hooliganszene fest. Dies gilt vor allem, wenn bekannte Rechtsextremisten erkennbar und aktiv in der Hooliganszene auftreten oder Mitglieder von Hooliganoder Fangruppierungen mit Straftaten der politisch motivierten Kriminalität - rechts - in Erscheinung treten. Gerade die letztgenannte Schnittmenge besteht zu einem nicht unerheblichen Teil aber auch aus Fällen, bei denen nicht der politische Aktivismus im Vordergrund steht, sondern vielmehr der Hang zur Gewaltausübung oder die Provokation gegnerischer Fans. Ein Beispiel für solch eine Schnittmengenbetrachtung ist der Fall eines Landfriedensbruchs, der sich am 26. März 2022 in Wernigerode (Landkreis Harz) ereignete. Etwa 80 Mitglieder der FanVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 81 RechtsextRemismus bzw. Hooligangruppierung "Saalefront", welche der Fanszene des Halleschen Fußballclubs zuzurechnen ist, griffen vor einem Fußballspiel im Wettbewerb um den Landespokal Sachsen-Anhalt eine andere Personengruppe an. Unter den Angreifern befanden sich acht Personen, die die Verfassungsschutzbehörde als Rechtsextremisten einstuft. Zudem ist die "Saalefront" ein Beispiel für eine Fangruppierung, die wiederkehrende Schnittmengen mit der rechtsextremistischen Szene aufweist. Rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Musiker vermitteln mit ihren Texten - offen oder unterschwellig - nationalistische, fremdenfeindliche, antisemitische und antidemokratische Inhalte, die zur Verfestigung rechtsextremistischer Feindbilder innerhalb der Szene beitragen. Rechtsextremistische Musik dient neben ihrer identitätsstiftenden Funktion als Lockmittel, um Jugendliche oder junge Erwachsene an die rechtsextremistische Szene sowie deren Ideologie heranzuführen und zu binden. Rechtsextremistische Musikveranstaltungen in Sachsen-Anhalt In Sachsen-Anhalt fanden im Berichtsjahr insgesamt sechs (2021: vier) rechtsextremistische Konzerte und 13 (2021: zehn) Liederabende statt. Daneben wurden 26 (2021: sieben) sonstige Musikveranstaltungen registriert, in deren Verlauf Livemusik dargeboten wurde. Hierzu zählen unter anderem Veranstaltungen, bei denen die Musikdarbietung eine untergeordnete Rolle gespielt hat und nur der musikalischen Umrahmung diente. Die Teilnehmerzahlen bewegten sich sowohl bei Konzerten als auch bei Liederabenden und sonstigen Veranstaltungen durchschnittlich im mittleren zweistelligen Bereich. Wie in den Vorjahren war festzustellen, dass die Musikveranstaltungen größtenteils in Räumlichkeiten stattfanden, die sich in privatem Besitz befinden. Um behördliche Untersagungen oder Auflagen zu vermeiden, bemühen sich Rechtsextremisten häufig um eine konspirative Planung und Durchführung. Ein Beispiel hierfür ist eine Musik82 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus veranstaltung, die am 10. Dezember 2022 in Benneckenstein (Landkreis Harz) stattfand. Bei dem Konzert, das ursprünglich in Sachsen stattfinden sollte, trat u. a. die rechtsextremistische Band "Endstufe" auf. An der Veranstaltung sollen etwa 300 Personen aus ganz Deutschland teilgenommen haben. Musikgruppen und Liedermacher In Sachsen-Anhalt sind zwölf rechtsextremistische Musikgruppen und vier Liedermacher bekannt. Von den Musikgruppen trat jedoch eine im Berichtszeitraum nicht aktiv in Erscheinung. Die aktiven Musikgruppen und Liedermacher spielten im Berichtszeitraum nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern traten auch bundesweit auf, unter anderem bei zwei Großveranstaltungen in Sachsen. Rechtsextremistische Vertriebsszene Innerhalb der rechtsextremistischen Szene gibt es immer wieder Bestrebungen, über diverse Vertriebsorganisationen einen Geldund Warentransfer zu etablieren. Die jeweiligen Vertriebe führen ein zielgruppenorientiertes Angebot, das unter anderem Tonträger und Merchandise-Produkte rechtsextremistischer Musikgruppen sowie Bekleidung mit szenebezogenen Aufdrucken (insbesondere einschlägige Zifferund Buchstabencodes oder entsprechende Parolen) umfasst. Diese Angebote richten sich häufig vor allem an die subkulturell geprägte Szene. Für die eher neonazistisch orientierte Zielgruppe finden sich dagegen vermehrt positive Bezüge zur Wehrmacht beziehungsweise eine Verherrlichung und Romantisierung derselben oder es ist eine Zuordnung zu rechtsextremistischen Parteien oder Gruppierungen erkennbar. Der internetbasierte Vertriebsweg hat sich durchgesetzt. Rechtsextremisten bieten ihre Waren unkompliziert an und potenzielle Kunden haben die Möglichkeit, anonym und unbehelligt das Angebot zu sichten und Produkte zu erwerben. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 83 RechtsextRemismus Dem Verfassungsschutz wurde im Berichtsjahr bekannt, dass der Rechtsextremist Sven LIEBICH4 wieder alleiniger Geschäftsführer des Onlinevertriebs "l & h-shirtzshop GmbH" mit Sitz in Halle (Saale) ist. Zuvor war seine Schwester, die ebenfalls der rechtsextremistischen Szene angehört, mit der Geschäftsführung betraut. Die neonazistische "Harzrevolte"5 hat im Berichtszeitraum über ihren Telegramkanal Bekleidungsgegenstände zum Kauf angeboten. Dabei handelte es sich vornehmlich um T-Shirts und Sweatshirts mit Logos, die einen Bezug zur "Harzrevolte" oder zur Harzregion haben. Rechtsextremistische Objekte und Immobilienerwerb von Rechtsextremisten Immobilien, die sich im Besitz von Rechtsextremisten befinden und von diesen für rechtsextremistische Zwecke (zum Beispiel für Schulungen, Vortragsabende, Parteiversammlungen, Konzerte oder Liederabende) genutzt werden, dienen der Szene als Rückzugsorte, Anlaufstätten und Sammelpunkte. Als solche sind sie nicht nur für die Vernetzung und Stabilisierung der Szene nach innen von großer Bedeutung. Sie erleichtern rechtsextremistischen Akteuren die Verankerung in der jeweils betroffenen Gemeinde oder Stadtgesellschaft und ermöglichen es somit der Szene, ihre Präsenz in der betroffenen Region ausbauen. Szeneimmobilien haben eine wichtige wirtschaftliche Funktion für den organisierten Rechtsextremismus. Dies gilt insbesondere für Gewerbeimmobilien, die für den Handel mit rechtsextremistischen Devotionalien oder für die Produktion rechtsextremistischer Musik genutzt werden, sowie für Objekte, in denen regelmäßig Veranstaltungen stattfinden, mit denen sich Einnahmen generieren lassen, die der Szene insgesamt zugutekommen. In diesem Kontext gilt weiterhin, dass gastronomische Einrichtun gen, die von Rechtsextremisten betrieben werden, eine größere 4 - Siehe dazu auch Seite 57 ff. 5 - Siehe dazu auch Seite 52 ff. 84 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Bedeutung für die rechtsextremistische Szene haben, weil sie laufende Einnahmen generieren und als Veranstaltungsräume genutzt werden können. Ein Beispiel für ein solches Objekt in SachsenAnhalt ist das in Naumburg (Burgenlandkreis) ansässige "Lokal 18", das sich inzwischen als ein fester Anlaufpunkt für Rechtsextremisten etabliert hat. Politisch motivierte Kriminalität - rechts - (PMK - rechts -) Die subkulturell geprägte rechtsextremistische Szene mit ihrem immanenten rassistischen und fremdenfeindlichen Weltbild, das Gewalt gegen Ausländer befürwortet und umsetzt, findet in den Daten der PMK - rechts - eine statistische Größe und bietet den Sicherheitsbehörden eine Basis, Häufungen oder Tendenzen zu erkennen und einzuordnen. Die PMK - rechts - ist ein wichtiger Indikator für die Beurteilung der Gewaltbereitschaft des Rechtsextremismus. Im Berichtsjahr wurden insgesamt 1.847 (2021: 1.560) Straftaten im Bereich der PMK - rechts - erfasst. Damit ist im Vergleich zum Vorjahr eine deutliche Steigerung zu konstatieren, die im Wesentlichen auf die Zahl der erfassten Propagandastraften zurückzuführen ist. Mit 1.220 (2021: 1.000) Straftaten macht diese Deliktsgruppe weiterhin den mit Abstand größten Teil der PMK - rechts - aus. Auch die Zahl der Gewaltstraftaten ist gegenüber dem Vorjahr leicht gestiegen (2022: 111 / 2021: 84). Fremdenfeindlich motivierte Strafund Gewalttaten Die fremdenfeindliche Agitation gegen die Asylund Migrationspolitik war auch im Jahr 2022 ein zentrales Betätigungsfeld der rechtsextremistischen Szene. Die etablierten und szeneimmanenten Anknüpfungspunkte wie Fremdenfeindlichkeit und der damit eng verbundene RassisVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 85 RechtsextRemismus mus, meistens gepaart mit einem Bezug zur Flüchtlingspolitik, werden situationsbedingt für Agitationszwecke genutzt und fallen auf fruchtbaren Nährboden. Hierzu bedienen sich die Rechtsextremisten weiterhin intensiv der sozialen Medien. Öffentlichkeitswirksame Vorfälle und Straftaten unter Beteiligung Geflüchteter waren ebenfalls Anstoß für rechtsextremistische Aktionen. Ein Beispiel für eine fremdenfeindliche Straftat ist ein Sachverhalt vom 5. Juni 2022, der sich in Magdeburg ereignete. Hier kam es zu einer Körperverletzung, Volksverhetzung und Beleidigung zum Nachteil eines 29-jährigen Syrers. Die beiden Angreifer attackierten den Syrer zunächst mit xenophoben Parolen ("Was machst du hier? Du fährst in unserer Straßenbahn und auf unseren Steuergeldern.") und rassistischen Bezeichnungen wie "Kanake". Im weiteren Verlauf verletzte einer der Angreifer sein Opfer mit einem Kopfstoß. Zuletzt wurde der Angegriffene gewürgt, bis er zu Boden fiel. Danach verließen die Angreifer den Tatort in unbekannte Richtung. Am 2. Juli 2022 ereignete sich eine fremdenfeindlich motivierte Gewalttat im Magdeburger Osten. Fünf syrisch stämmige Personen wurden mit Schlägen gegen den Kopf und Tritten gegen die Beine von einer Gruppe Deutscher attackiert, nachdem sie nicht auf ihre verbalen Provokationen wie "Scheiß Ausländer, raus aus Deutschland" reagiert hatten. Die Ermittlungen der Polizei ergaben einen Tatverdacht gegen einen 49-jährigen deutschen Staatsbürger aus Magdeburg. In dem Verfahren wurde am 14. November 2022 Anklage erhoben. Häufig haben fremdenfeindlich motivierte Straftaten auch einen islamfeindlichen Hintergrund. Ein Beispiel hierfür ist ein Propagandadelikt vom 13. November 2022: In Halle (Saale) hatten unbekannte Täter mehrere Aufkleber mit politischem Inhalt an Hinweistafeln ansässiger Institutionen angebracht. Auf einem Hinweisschild der Landespolizei Sachsen-Anhalt be86 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus fanden sich Aufkleber mit Schriftzügen wie "NAFRIS NOT WELCOME" und "ISLAMISTS NOT WELCOME, SHARIA FREE ZONE". Antisemitisch motivierte Strafund Gewalttaten Rechtsextremisten praktizieren und leben den Antisemitismus in unterschiedlichen Formen. So kommt es immer wieder zu ehrverletzenden Ansprachen, Beleidigungen, Bedrohungen von und auch Angriffen auf Juden oder jüdische Einrichtungen. Auch zukünftig werden jüdische Personen und Einrichtungen ein Ziel von antisemitisch ideologisierten Straftätern bleiben. Im Berichtszeitraum setzte sich die ansteigende Tendenz bei den antisemitischen Straftaten der letzten Jahre fort. So kam es am 13. Oktober 2022 in Köthen (Anhalt-Bitterfeld) aufgrund von Ruhestörungen, die von einem 42-jährigen Deutschen ausgingen, zu einem Polizeieinsatz an dessen Wohnort. Dabei äußerte der Tatverdächtige mehrfach die Worte "Judensau", "Judenschwein", anschließend skandierte er die Parole "Sieg Heil!". Ein Angriff auf eine jüdische Einrichtung ereignete sich in der Nacht vom 17. auf den 18. Februar 2022 in Gommern (Jerichower Land). In die Eingangstür der dortigen jüdischen Gedenkstätte ritzten unbekannte Täter ein Hakenkreuz. Ein Beispiel für eine antisemitisch motivierte Tat im Internet ist ein Sachverhalt vom 16. März 2022, der im Bereich der Polizeiinspektion Halle (Saale) registriert wurde. Ein unbekannter Tatverdächtiger postete in der Telegram-Gruppe "Weißenfels spaziert" unter einer Diskussion über die Impfmittelbeschaffung der Bundesregierung ein animiertes Bild, welches das antisemitische Klischee vom geldgierigen Juden propagierte. Am 6. Juni 2022 zeigte ein Fahrgast in der Regionalbahn von Halle (Saale) nach Eisenach (Thüringen) offen eine an seinem rechten Unterarm ersichtliche Tätowierung, welche die Schriftzüge "Jedem Das Seine" und "KZ" enthielt. Die Person stieg Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 87 RechtsextRemismus am Bahnhof Weißenfels aus und entfernte sich in unbekannte Richtung. Am 29. August 2022 beleidigte ein ortsansässiger 22-Jähriger auf dem Loburger Marktplatz (Jerichower Land) Passanten als "Judenschweine". Die eingesetzten Polizeibeamten wurden von dem Täter mit erhobenen Fäusten angegriffen und mit derselben antisemitischen Bezeichnung beleidigt. Zudem skandierte der Täter die Parole "Sieg Heil!". Der Tatverdächtige ist dem Verfassungsschutz seit 2020 als rechtsextremistischer Straftäter bekannt. Straftaten gegen den politischen Gegner Die gewaltorientierte Haltung von Rechtsextremisten gegenüber Personen, die als politische Gegner identifiziert werden, entlädt sich in unterschiedlichen Formen: in Angriffen auf Mitglieder und Einrichtungen politischer Parteien, in der Zerstörung von Wahlplakaten, in verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen im Rahmen von versammlungsrechtlichen Aktionen sowie in Form der Verbreitung von Hasspostings und Drohschreiben. In Quedlinburg (Landkreis Harz) beschmierten unbekannte Täter am 27. Mai 2022 im Eingangsbereich des Regionalbüros der Partei Bündnis 90/Die Grünen den Briefkasten und ein Schild, das auf die Nutzung des Regionalbüros als Kontakt-Cafe für ukrainische Vertriebene hinweist, mit zwei Hakenkreuz-Symbolen. Am 5. Juli 2022 ging im Bürgerbüro eines Bundestagsabgeordneten der SPD in Halle (Saale) ein volksverhetzendes Schreiben ein, in dem der Abgeordnete ausländerfeindlich beschimpft und diffus bedroht wurde. Vergleichbare Schreiben waren zuvor bereits im Mai und im Juni in dem Bürgerbüro eingegangen. 88 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Bewertung, Tendenzen, Ausblick Das Personenpotenzial der weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Szene ist in Sachsen-Anhalt im Vergleich zum Vorjahr angestiegen; dies zeigt sich auch in einem Anstieg der Strafund Gewalttaten der PMK-rechts. Unverändert stehen die asylfeindliche und antisemitische Propaganda sowie die Auseinandersetzung mit den als politischen Gegner Identifizierten im Zentrum der Agitation. Mit dem Wegfall der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ging eine Wiederbelebung der Szeneaktivitäten einher, die wiederum eine Mobilisierung und Aktivierung der Anhängerschaft zur Folge hatte. Die Verjüngung der rechtsextremistischen Szene hat dazu beigetragen, dass diese verstärkt soziale Medien und Messengerdienste zum Zweck der Planung von größeren Veranstaltungen oder Aktionen nutzt, teils im Rahmen von nur temporär bestehenden beziehungsweise "projektbezogenen" Gruppen. Dies erschwert den Sicherheitsbehörden die Bewertung der Mobilisierungsund Gefährdungspotenziale erheblich. Auch künftig wird es deren Hauptaufgabe sein, frühzeitig tatsächliche Gewaltabsichten und Gewaltankündigungen sowie Radikalisierungstendenzen im virtuellen Raum zu erkennen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 89 RechtsextRemismus Neue Rechte1 "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) Sitz bundesweit Verbreitung Gründung Oktober 2012 (Am 11. Oktober 2012 wurde die Facebook-Seite "Identitäre Bewegung Deutschland" eingerichtet) Struktur IB Sachsen-Anhalt (IB ST) Aufbau Verein "Identitäre Bewegung Deutschland e. V." bundesweite Regionalgruppen lokale IBD-Gruppen (Ortsgruppen) identitäre Projekte Mitglieder Land: etwa 20 (2021: 25) Anhänger Bund: 500 (2021: 500) VeröffentWeb-Angebote: Homepage, lichungen soziale Netzwerke und Blogs Materialversand "Phalanx" Finanzierung Spenden, Merchandising 1 - Darunter wird ein informelles Netzwerk von Gruppierungen, Einzelpersonen und Organisationen verstanden, in dem rechtskonservative bis rechtsextremistische Kräfte zusammenwirken, um anhand unterschiedlicher Strategien antiliberale sowie antidemokratische Positionen in Gesellschaft und Politik durchzusetzen. 90 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Kurzportrait / Ziele Die IBD geriert sich als Bewegung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welche die eigene Kultur beziehungsweise das eigene Volk vor den vermeintlichen Gefahren von Multikulturalismus, Masseneinwanderung und Identitätsbeziehungsweise Werteverlust bewahren will. Sie betrachtet sich eigenen Aussagen zufolge als deutscher Ableger der rechtsextremistischen Bewegung "Generation Identitaire" (GI)2 aus Frankreich. Die IBD ist in der realen und virtuellen Welt gleichermaßen vertreten. Alle virtuellen Möglichkeiten (Soziale Netzwerke, Foren, Video-Plattformen) werden genutzt, um über Aktionen und Ziele der IBD zu informieren. So wird versucht, eine große Öffentlichkeit herzustellen ohne auf eine hohe Anzahl von Aktivisten angewiesen zu sein. Die Aktionen und Veranstaltungen der IBD sind in den letzten Jahren hingegen wenig geeignet, ein größeres Publikum anzusprechen oder eine größere mediale Aufmerksamkeit zu generieren. Häufig waren die für die Sozialen Medien produzierten Bilder wichtiger als das eigentliche Ereignis, wenn beispielsweise das Anfertigen eines Banners als politische Aktion verkauft werden sollte. Es besteht grundsätzlich die Bereitschaft, thematisch flexibel (Ukrainekrieg, Inflation u. ä.) zu reagieren. Die Selbstdarstellung der IBD ist popkulturell geprägt, ihre Botschaften klar und einfach, ihre Wortwahl ist provokant und pseudo-intellektuell. Ihre Aktivisten geben sich jung und modern, demgemäß ist ihre verfassungsfeindliche Gesinnung nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Die IBD, als eine Vertreterin der "Neuen Rechten", steht für einen modernisierten Rechtsextremismus, der mit einem Themenkomplex aus Anti-Islam, Anti-Asyl und Anti-Establishment versucht, bis weit in breite gesellschaftliche Kreise hinein 2 - Wurde am 3. März 2021 per Dekret des französischen Innenministers aufgelöst. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 91 RechtsextRemismus anschlussfähig zu sein. Begriffe wie Rasse und Volksgemeinschaft werden durch unverfängliche Begriffe wie Ethnie, Identität und Kultur ersetzt. Mit Blick auf die bezweckte Anschlussfähigkeit der eigenen Ideologie an die Gesellschaft nahm sich die IBD zuletzt auch der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden behördlichen Eindämmungsmaßnahmen sowie geopolitischen Themen und deren Auswirkungen an, darunter die Inflation und die Energiesituation. Grund der Beobachtung Ideologisch orientiert sich die "Identitäre Bewegung" an den Theorien der "Neuen Rechten" und vertritt programmatisch einen ethnopluralistischen, antiliberalen und kollektivistischen Ansatz. Beim Ethnopluralismus handelt es sich um eine modernisierte Variante völkischer Ideologie. Das Konzept billigt ethnischen Gruppen in räumlicher Trennung vorgeblich ihre Eigenständigkeit zu, zielt aber tatsächlich anhand von Kollektivmerkmalen wie Kultur, Herkunft und Geschichte auf die Betonung ethnisch bzw. rassisch begründeter Gruppenunterschiede ab. Eine Zuwanderung von "Fremden", die nicht Teil dieser "ethnokulturellen Identität" sind, wird grundsätzlich abgelehnt. Die "Identitären" inszenieren sich als die wahren Verteidiger von Vielfalt und Freiheit gegen die angebliche Gleichmacherei vermeintlich linker Ideologen. In ihrer Kritik zeigt sich ein übersteigerter Nationalismus, der das Individuum weitgehend negiert und stattdessen kollektivistisch die Volksgemeinschaft in den Mittelpunkt stellt. Die IBD propagiert die Auflösung der EU und die Bildung eines Europas der "identitären Nationalstaaten", die selbstbestimmt koexistieren. Hier besteht eine Verbindung zur NPD-Forderung nach einem "Europa der Vaterländer". In der IBD und für die IBD engagieren sich auch Personen, die einen Vorlauf im traditionellen Rechtsextremismus aufweisen. 92 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) Das Verwaltungsgericht (VG) Köln wies am 13. Oktober 2022 die Klage der IBD auf Unterlassung der Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz ab. Das Gericht führte unter anderem aus, dass das Hauptanliegen der IBD die Bewahrung der "ethnisch-kulturellen Identität" ist. Damit verfolgt die IBD zwar nicht dem Begriff, aber der Sache nach einen völkisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff, der gegen die Menschenwürde verstößt. Denn die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG umfasst die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, ungeachtet aller tatsächlich bestehenden Unterschiede. Die Beobachtung der IBD durch das Bundesamt für Verfassungsschutz ist geeignet, den auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützten Verdacht der verfassungsfeindlichen Bestrebung weiter abzuklären.3 Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Deutschland und Österreich thematisierte die "Identitäre Bewegung" (IB) fortwährend. Mit der Inszenierung auf entsprechenden Protestveranstaltungen4 gelang es der IB zeitweise, sowohl in Österreich als auch in Deutschland nahezu konstant in der medialen Berichterstattung präsent zu sein. Die durch das "Deplatforming"5 reduzierte Reichweitenstärke konnte so zum Teil kompensiert werden, was eine Wiederbelebung der realweltlichen Präsenz der IB zur Folge hatte. Auch wenn die pandemiebedingte Situation der IB zum Vorteil gereichte, mahnte Martin SELLNER ("Identitäre Bewegung 3 - Vgl. Urteil VG Köln vom 13.10.2022, Az.: 13 K 4222/18. 4 - Beispielhaft: Coronaprotest am 5. März 2022 in Chemnitz (Sachsen); IB bildete mit Frontbanner die erste Reihe des Protestzuges. 5 - Ausschluss einzelner Personen oder Gruppen aus den sozialen Netzwerken. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 93 RechtsextRemismus Österreich", IBÖ) in einem Online-Artikel6 an, den thematischen Kern der IB, den "Bevölkerungsaustausch", nicht zu vergessen: "Es gilt daher in erster Linie (auch über die Coronakrise hinaus) die Priorität des Volkserhalts, konkret den Erhalt unseres Volkes, durch diese Phase der Auflösung und Verflüssigung hindurch. Die Abwendung des Bevölkerungsaustauschs durch die Ersetzungsmigration ist das entscheidende Ziel für unsere Generation und unsere Zeit." Im Frühjahr 2021 startete, unter Einbindung deutscher und österreichischer "Identitärer", das Projekt "GegenUni" (GU). Am 23. Februar 2022 veröffentlichte die GU ihren "Zweijahresplan" für eine Bildungsoffensive: "Die Vision der GU ist klar, der Aufbau einer neurechte Bildungsstätte und die politische Aktivierung des rechten studentischen Potentials an allen deutschsprachigen Unis. Wie wollen wir dieses Ziel erreichen?". Die GU strebt die Etablierung als "E-Learning"-Plattform im neurechten Lager an. Darüber hinaus soll es Seminare und eine UniTour7 geben. Ob die Angebote Resultate im Sinne einer erfolgreichen Rekrutierungsstrategie zeitigen, ist derzeit nicht erkennbar. Am 30. April 2022 führte die IBD in den Räumlichkeiten des MDR in Erfurt (Thüringen) eine Plakataktion durch. Hintergrund dieser Aktion war ein Überfall am 23. April 2022 auf einen Thor Steinar-Laden in Erfurt.8 Die IBD vermutet hier einen "linksterroristischen Angriff" und unterstellt dem MDR, in seiner Berichterstattung bewusst den politischen Hintergrund der Tat 6 - "Die Priorität des Themas Bevölkerungsaustausch" in Sezession Online, 27. Januar 2022 (Sezession-Online). 7 - Die Tour soll in Gegenden führen, in denen sich GU-Studenten kumulieren. Ziel ist die Bildung "aktiver Zellen" und deren Vernetzung. 8 - Siehe dazu auch Seite 178 f. 94 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus nicht genau zu benennen und fordert eine "klare Benennung des Offensichtlichen". Im August 2022 kamen circa 50 Aktivisten der IBD und der IBÖ im Rahmen eines IB-Bundeslagers zusammen. Wie bereits in der Vergangenheit standen neben Kraftund Ausdauersporttrainings nach eigenen Angaben auch Vorträge auf der Agenda. Demonstrationsgeschehen Am 29. August 2022 kam es in Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern) zu einer Protestaktion an der Anschlussstelle der Gas-Pipeline Nord Stream 2. Hierbei versuchten circa 10 bis 15 Personen auf das Gelände vorzudringen, um nach eigenen Angaben, "die Leitung eigenständig anzuschließen um die Gaskrise zu beenden." Das Gesicht dieser Aktion war SELLNER, der während der Veranstaltung in einem Redebeitrag die Öffnung der Pipeline forderte. Auffallend war, dass die Aktion nicht im Namen der IB durchgeführt wurde. Stattdessen bezeichneten sich die teilnehmenden Personen als Teil der "Aktion Solidarität". Laut eigenen Angaben handelt es sich bei der "Aktion Solidarität" um eine "Identitäre Initiative für Autarkie, Souveränität und Remigration". Auf dem Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 95 RechtsextRemismus Logo sind zwei Hände auf blauem Grund zu sehen; bei näherer Betrachtung erinnert dies stark an das Lambdasymbol der IB. Die "Aktion Solidarität" ist eine Aktion der IBÖ und der IBD. Sie vermittelt den Eindruck eines "Aktionsbündnisses" und den Anschein von Gemeinsamkeit, Zusammengehörigkeit und Verbundenheit in der Krise. Kurz nach der Aktion in Lubmin konnten auf verschiedenen Protestveranstaltungen Banner mit dem Logo der "Aktion Solidarität" festgestellt werden. Die IB schürte den "Heißen Herbst",9 so wie sie auf das Protestgeschehen während der Corona-Pandemie Einfluss nahm. Strategiewechsel der IB Im Jahr 2021 wurde bei der IBD und insbesondere bei der IBÖ ein angehender Strategiewechsel sichtbar, der sich 2022 fortsetzte. Zunehmend treten IB-Ortsgruppen unter unverfänglichen Namen realweltlich sowie in den Sozialen Medien auf. Auf einem der IBD zuzurechnenden Instragramprofil war eine Übersichtskarte veröffentlich, welche verschiedene dezentral agierende Regionalgruppen zeigt, die alle unter dem Dach der IBD operieren, ohne aber direkt einen Bezug erkennen zu lassen. Die bereits im Jahr 2021 angestoßene Neuausrichtung der IBD beinhaltet ein verändertes äußerliches Auftreten (Vermummung) sowie Veränderungen hinsichtlich der praktizierten Aktivismusformen. Aktionen sehen eine autarke Vorbereitung und Durchführung vor, und weisen verstärkt einen regionalen Bezug auf. Für Sachsen-Anhalt ist in der Übersichtskarte keine Aktionsgruppe aufgeführt. 9 - Beispielhaft: Demonstration am 12.11.2022 in Erfurt; Teilnahme von sechs vermummten Mitgliedern der "Kontrakultur Erfurt" mit eigenem Banner "Unser Volk Zuerst. Autarkie-Souveränität-Remigration". 96 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus "Identitäre Bewegung Sachsen-Anhalt" (IB ST) Obwohl führende Funktionäre der IBD in Sachsen-Anhalt wohnhaft sind, ist Sachsen-Anhalt kein Operationsland der IBD. Die IB ST entfaltete keine wahrnehmbaren Aktivitäten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 97 RechtsextRemismus Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die IB ist als solche öffentlich kaum noch wahrnehmbar, dennoch ist sie aktiv. Sie "zerfasert" sich unter dem Markenzeichen IB in größtenteils eigenständige Ortsgruppen, in neue Formate, Projekte und Unternehmen. Ihnen allen ist gemein, dass sie von Mitgliedern der IB (aktive oder ehemalige) gegründet oder geführt, zumindest aber unterstützt werden. So versucht die IB ihren Einfluss zu vergrößern, da sie nunmehr nicht nur auf Aktionismus festgelegt ist. Diese Entwicklung zeigt sich im begrenzten Rahmen erfolgversprechend und wird fortgeführt werden. Die bisherigen Neuerungen verblieben im Wesentlichen im Resonanzraum der eigenen Szene erfolgreich. Die IB ST ist inaktiv. Sie besteht aus Mitgliedern, die sich vereinzelt an fremdorganisierten Veranstaltungen beteiligen. Es fehlt ihr weiterhin an zielgerichteter Lenkung und Leitung. Hinzu kommt, dass in Sachsen-Anhalt andere politische Gruppierungen das von der IB anvisierte Personenpotenzial binden. 98 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus "Verein für Staatspolitik e. V." firmiert unter "Institut für Staatspolitik" (IfS) Sitz Steigra OT Schnellroda Verbreitung (Saalekreis) Gründung 2000 Struktur Einzelpersonen Aufbau Vorstandsmitglieder: Dr. Erik LEHNERT (Brandenburg) Götz KUBITSCHEK (Schnellroda) Mitglieder etwa 5 (2021: etwa 10) Anhänger VeröffentHomepage, soziale Netzwerke, Podcasts, lichungen "Sezession Online", Publikation "Sezession" Finanzierung Erlöse aus Veranstaltungen und dem Verkauf von Publikationen, Spenden Kurzportrait / Ziele Das IfS ist eine private, nichtuniversitäre Einrichtung und wurde nach eigenen Angaben im Jahr 2000 unter anderem von Götz KUBITSCHEK gegründet. Innerhalb des "neurechten" Netzwerks nimmt das IfS die Rolle eines "geistigen Gravitationszentrums"1 ein. Kernthema des IfS ist die "staatspolitische Ordnung", die es in folgende Arbeitsgebiete unterteilt: "Staat und Gesellschaft", "Politik und Identität", "Zuwanderung und Integration", "Er- 1 - Backes, Uwe: Zum Weltbild der Neuen Rechten in Deutschland. In: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.): Analysen & Argumente Nr. 321. Sankt Augustin 2018, S. 8. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 99 RechtsextRemismus ziehung und Bildung", "Krieg und Krise" sowie "Ökonomie und Ökologie". Diese werden sowohl in Veranstaltungen (Akademien) als auch in Publikationen aufgegriffen.2 Unter den Veröffentlichungen des IfS ragt die Zeitschrift "Sezession" besonders hervor, da sie innerhalb der neurechten Szene sehr bekannt und wirkmächtig ist. Sie erscheint aktuell sechsmal im Jahr. Zu ihrem Autorenstamm zählen mehrere Personen, die dem Rechtsextremismus zuzurechnen sind. Das IfS will durch eine Diskursverschiebung nach "rechts" eine vermeintlich linke Hegemonie in Gesellschaft und Politik aufbrechen. Der "Raum des Sagbaren" soll ausgedehnt werden. Das IfS strebt nach Deutungshoheit im vorpolitischen und nach Einfluss im parlamentarischen Raum. Stärker als viele andere rechtsextremistische Gruppierungen setzt das IfS auf die Schrift als Mittel zur Verbreitung der eigenen Ideologie. Grund der Beobachtung Die vom IfS herausgegebenen Schriften und die Äußerungen seiner führenden Vertreter zeichnen sich - wenn auch in geringerem Ausmaß als bei anderen rechtsextremistischen Bestrebungen - durch rassistische und biologistische Sichtweisen aus. Den Wesenskern der Ideologie des IfS stellt (wie auch im Falle der IBD) der Ethnopluralismus dar. In unmittelbarem Zusammenhang mit seiner ethnopluralistischen Agitation steht die Ausländerund Islamfeindlichkeit des IfS. Das IfS diskriminiert ausgewählte Personengruppen, wenn es diesen pauschal negative Eigenschaften zuschreibt und die persönliche Identität im Sinne des Art. 2 GG sowie die Gleichheitsrechte nach Art. 3 GG abspricht. Die pauschale Verächtlichmachung von ethnischen und kulturellen Minderheiten verstößt außerdem gegen das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG vor. Das IfS richtet sich damit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. 2 - Beispielweise die "Wissenschaftliche Reihe" oder das "Staatspolitische Handbuch" des IfS. 100 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus In seiner Rolle als "think tank" der "Neuen Rechten" unterhält das IfS eine Vielzahl von Kontakten und Beziehungen zu anderen Gruppen und Personen der "Neuen Rechten". Insbesondere besteht eine enge Bindung an den rechtsextremistischen Verlag "Antaios". Es ist somit bestrebt, Dritte mit seinem extremistischen Denken und Handeln zu beeinflussen. Dabei scheut es eine teils offensive, teils subversive Pflege und Verbreitung verschwörungsideologischer Argumentationsmuster nicht. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Das IfS ist primär publizistisch tätig. Jedoch waren im Berichtszeitraum auch realweltliche Aktivitäten (z. B. Treffen, thematische "Akademien", Kampagnen oder Schulungen) wahrnehmbar. Drei Veranstaltungen des IfS prägten den Berichtszeitraum: Mit der "Frühjahrsakademie" vom 8. bis 10. April 2022 kooperierte das IfS erstmals in Organisation und Durchführung mit anderen Projekten des "neurechten" Spektrums. Inhaltlich widmete sich die Veranstaltung dem Thema "Der Mensch". Wie die Kooperation seine "Akademie" beeinflusste, legte Götz KUBITSCHEK in seinem Artikel "Wir, der Mensch, ich - ein Akademiebericht" auf der Internetpräsenz der "Sezession" dar. Darin stellt er fest, dass die Kooperation einen positiven Einfluss auf die Zusammensetzung der "Hörerschaft" gehabt habe. Es seien "weniger virtuelle Haltungsprofis" und "weniger LebensgefühlClique" spürbar gewesen. Stattdessen: "mehr Wissen, mehr Notizen, mehr thematisches Interesse". Zudem bewertet KUBITSCHEK den "Generationenmix unter den Referenten" positiv: Er konstatiert, dass glücklicherweise bereits die nächste Generation nachgerückt sei. Die "Sommer-/Herbstakademie" vom 2. bis 4. September 2022 in Schnellroda verlief wie gewohnt, diesmal unter dem Thema "Geopolitik". Die circa 120 Teilnehmer trafen auf "akademieVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 101 RechtsextRemismus erfahrene" Referenten, die in ihren Beiträgen auch ihre Sicht auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine darlegten. An den Akademien nehmen in der Regel Unterstützer sowie Angehörige der "Neuen Rechten" teil. Sie sind Personen unter 35 Jahren vorbehalten, was die Bedeutung des IfS als Schulungszentrum der "Neuen Rechten" verdeutlicht. Am 30. und 31. Juli 2022 veranstaltete das IfS ein Sommerfest mit über 200 Teilnehmern. Veranstaltungen wie das Sommerfest oder auch der "Tag der offenen Tür" (zuletzt im Jahr 2021) bieten wie die "Akademien" eine Vielzahl von Vorträgen und sind somit Schulungsveranstaltungen. Sie dienen der Bindung der Kundschaft an das IfS und den Antaios-Verlag sowie der Förderung politischer Kontakte. Dennoch kann der Veranstaltungscharakter als gelöster und weniger formalisiert beschrieben werden. Eine Altersbeschränkung für die Teilnehmer besteht nicht. Die Veranstaltungsreihe "Staatspolitischer Salon" erfuhr mit einer Veranstaltung, die am 20. Juni 2022 in Berlin stattfand und sich dem Thema "Nach dem Parteitag - die AfD und ihr Wählerpotenzial" widmete, eine Neuauflage. Bis 2019 hatten die "Salons" regelmäßig stattgefunden und Einzelthemen behandelt. Die Wiederaufnahme hatte jedoch weniger Zulauf als die vorangegangenen Veranstaltungen. Neben Veranstaltungen prägte die publizistische Tätigkeit des IfS die Entwicklungen im Berichtszeitraum. In vier Artikeln zum Thema "Heißer Herbst" warb KUBITSCHEK für eine Beteiligung an dem für den Herbst 2022 erwarteten Protestgeschehen. In einem Beitrag auf dem Blog der von ihm redaktionell verantworteten Zeitschrift "Sezession" erklärte er, ein "Aufstand" im Herbst sei aus seiner Sicht "unumgänglich". Deshalb habe das IfS entschieden, die Proteste zu unterstützen und sich dafür einzusetzen, dass sie "nachhaltig, unversöhnlich 102 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 RechtsextRemismus und grundsätzlich" werden. Allerdings hat KUBITSCHEK (trotz eigener Teilnahme am Protestgeschehen3) in seinen Texten auch deutlich gemacht, dass er und das IfS derzeit nicht bestrebt seien, über den publizistischen Bereich hinaus direkt auf die Proteste einzuwirken. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Das IfS ist nach wie vor als ideologischer Ideengeber und wichtiger Schulungsort in das Netzwerk der "Neuen Rechten" eingebunden. Veranstaltungen des IfS genießen in der Szene einen hohen Stellenwert, teilweise Kultcharakter. Seit der Corona-Pandemie setzt das IfS zunehmend auf virtuelle Aktivitäten wie Podcasts oder Videoformate, mit denen es seine Reichweitenstärke ausbauen konnte. Das IfS wird weiter bemüht sein, den vorpolitischen Raum ideologisch und, wenn möglich, auch strukturell zu beeinflussen. Ziel ist die Verbreitung des eigenen rechtsextremistischen Gedankenguts, auch außerhalb der "Mosaik-Rechten".4 Bereits in der Vergangenheit hat das IfS bewiesen, dass es lehrend und belehrend Umstände aufgreift, die insbesondere in KUBITSCHEKs Kalkül vielund erfolgsversprechend erscheinen. Dies wird das IfS als bewährt fortführen. 3 - KUBITSCHEK nahm an einer Demonstration am 5. September 2022 in Leipzig teil, die von der rechtsextremistischen Kleinstpartei "Freie Sachsen" angemeldet worden war. 4 - Der Begriff "Mosaik-Rechte" umschreibt ein informelles neurechtes Netzwerk mit verschiedenen Akteuren aus dem vorpolitischen und parlamentarischen Raum. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 103 ReichsbüRgeRszene "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" Einleitung 105 Reichsbürgerszene 107 104 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 ReichsbüRgeRszene REICHSBÜRGERSZENE Die Szene der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" ist sowohl in Sachsen-Anhalt als auch im gesamtdeutschen Raum weiter gewachsen. In der Phase der pandemiebedingten Beschränkungsmaßnahmen war eine deutlich sichtbare Vergrößerung des Personenpotenzials festzustellen. Die Mehrzahl der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" fällt aufgrund ihres Verhaltens bei der Korrespondenz mit staatlichen Behörden auf, indem sie diesen gegenüber in sehr spitzfindischer Art und Weise die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnen und wahrheitswidrig behaupten, dass das Deutsche Reich nicht untergangen sei und bis heute fortbestehe. Die Bundesrepublik Deutschland sei demnach nicht existent und besitze allenfalls den Status einer GmbH. Die deutsche Rechtsordnung wird schlichtweg abgelehnt. Personen, die auf der Basis dieser Einstellung eigene "Staatskonstrukte" entwickeln, werden als "Selbstverwalter" bezeichnet. Sie wollen in einer Parallelgesellschaft autark leben, vor allem keine Steuern und Sozialabgaben leisten und nach ihren eigenen Gesetzen handeln. Beispiele für Akteure der Selbstverwalterszene in Sachsen-Anhalt sind das "Königreich Deutschland" (KRD) und vereinzelte Gruppierungen, die sich selbst als politisch autonome "Gemeinden" bezeichnen oder sich als Teil des Königreichs Preußen betrachten. Insgesamt werden der Reichsbürgerszene in Sachsen-Anhalt etwa 650 Personen zugerechnet, hiervon sind etwa 25 % in Gruppierungen wie dem KRD aktiv. Bei den übrigen Szeneangehörigen handelt es sich in der Regel um Einzelpersonen, die in der Kommunikation mit Ämtern und Behörden auf reichsbürgertypische Argumentationsmuster und die damit einhergehende "Vielschreiberei" zurückgreifen. Ihr Ziel ist Negieren der staatlichen Rechte und Pflichten, hierzu versuchen sie behördliches Handeln in ihrem Sinne zu beeinflussen und Behördenmitarbeiter einzuschüchtern. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 105 ReichsbüRgeRszene Mit Beginn der Beobachtung der Reichsbürgerszene und der damit verbundenen systematischen Auswertung von bei Behörden vorliegenden Informationen über das Handeln von "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" stiegen die Erkenntnisse und damit das Personenpotenzial zunächst, um sich dann bei etwa 500 Personen zu stabilisieren. Mit Beginn der Corona-Pandemie kam es zu einem Anstieg. In Sachsen-Anhalt werden etwa 50 Personen dieser Szene als gewaltbereit eingestuft. Dazu zählen gewalttätige Szeneangehörige sowie Personen, die beispielsweise durch Drohungen oder gewaltbefürwortende Äußerungen auffallen. Die im Dezember 2022 bekannt gewordenen Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft gegen die Gruppe um Heinrich XIII. Prinz REUSS, der die Bildung einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung eines gewaltsamen Umsturzes vorgeworfen wird, verdeutlichen das erhebliche Gewaltpotenzial der Szene. 106 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 ReichsbüRgeRszene Reichsbürgerszene ("Reichsbürger" und "Selbstverwalter") Gründung Die seit Jahren agierende Reichsbürgerszene hat ihren Ursprung in der in 1980er Jahren entstandenen "Kommissarischen Reichsregierung" (KRR) um Wolfgang Ebel (+, Berlin). Verbreitung "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" sind bundesweit aktiv. Schwerpunktregionen in Sachsen-Anhalt sind die Altmark, der Salzlandkreis, die Landkreise Mansfeld-Südharz und Wittenberg sowie der Raum Halle (Saale). Struktur Die Reichsbürgerszene ist sehr heterogen, zerAufbau splittert und vielschichtig. Sie lässt sich in "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" unterscheiden. Als "Reichsbürger" bezeichnen sich Einzelpersonen und verschiedene Gruppierungen, die sich als Angehörige eines "Deutschen Reiches" wähnen. Bei den "Selbstverwaltern" handelt es sich um eine heterogene Gruppe von Einzelpersonen, die im Gegensatz zu den "Reichsbürgern" nicht vom Weiterbestehen des Deutschen Reiches überzeugt sind, sondern behaupten, sie könnten aufgrund einer Erklärung aus der Bundesrepublik Deutschland ausscheiden oder diese sei gar nicht existent. Entsprechend seien sie nicht mehr ihren Gesetzen unterworfen. Manche "Selbstverwalter" rufen sogar eigene "Staatsgebilde" aus. Neben den Einzelakteuren existieren eine Vielzahl an Kleinstund Kleingruppen sowie virtuelle Netzwerke und darüber hinaus auch überregional agierende Personenzusammenschlüsse. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 107 ReichsbüRgeRszene Mitglieder Land: etwa 650 (2021: 600) - davon sind etwa Anhänger 9 % der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen; 8 % sind gewaltorientiert Bund: 23.000 (2021: 21.000) - davon sind etwa 5 % der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen; 10 % sind gewaltorientiert VeröffentWeb-Angebote: lichungen diverse teils wechselnde Facebook-Auftritte und Internetseiten, Telegram-Kanäle Kurzportrait / Ziele In der Reichsbürgerszene werden gemeinhin folgende Botschaften vertreten: - Die Bundesrepublik Deutschland sei kein echter Staat im völkerrechtlichen Sinn, sondern eine Firma mit staatsähnlichen Strukturen, eine "BRD-GmbH". Es handele sich um ein reines "Verwaltungsund Firmenkonstrukt". - "Reichsbürger" bestreiten die Unabhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Sie behaupten, die Bundesrepublik Deutschland sei juristisch nicht existent, also illegal. - Hingegen bestehe das Deutsche Reich völkerrechtlich fort. Dabei wird oft in den Grenzen von 1937 gedacht. Allerdings sei das Reich immer noch besetzt: Um ihre Behauptung zu untermauern, dass Deutschland kein souveräner Staat sei, verweisen "Reichsbürger" meist auf die Militärpräsenz der USA, die eines der bevorzugten Feindbilder der Szene darstellen. "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" streben den Aufbau pseudostaatlicher Strukturen an und sind daher bemüht, eigene Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Szeneakteure stellen zu diesem Zweck u. a. eigene Legitimationspapiere aus, geben sich selbst Regierungsämter oder rufen pseudostaatliche Behörden ins Leben. 108 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 ReichsbüRgeRszene Grund der Beobachtung Die fundamentale Ablehnung des Staates und seiner gesamten Rechtsordnung beinhaltet unter anderem die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Zudem können sich Bestrebungen von "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes und, soweit sie im Einzelfall mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, auch gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. Zuweilen werden auch antisemitische Verschwörungsideologien bis hin zur Holocaust-Leugnung verbreitet. Ein Teil der Personen ist zudem der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In Sachsen-Anhalt ist etwa ein Viertel der Personen, die der Reichsbürgerszene zuzurechnen sind, in Personenzusammenschlüssen organisiert. Hierzu zählen das "Königreich Deutschland" (KRD), das "Amt für Menschenrecht", die "Samtgemeinde Alte Marck", das "Gemeindeamt Schinne", der "Stille Protest" oder die "Verfassunggebende Versammlung" . Diesen Gruppierungen kommt ein besonderer Stellenwert zu, da sie zielund zweckgerichtet agieren. Sie sind im Internet auch mit überregionalen Personenzusammenschlüssen vernetzt. Der Protest gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie war auch im Jahr 2022 ein bevorzugtes Aktionsfeld der Reichsbürgerszene. Szeneangehörige verbreiteten diverse Verschwörungsideologien und Falschinformationen, unter anderem die Behauptung, die Pandemie sei von langer Hand geplant gewesen und werde von der Regierung zum Zweck der Errichtung einer autoritären Diktatur missbraucht. Den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nahm die Reichsbürgerszene zum Anlass, um ihre funVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 109 ReichsbüRgeRszene damentale Ablehnung der NATO und der westlichen Unterstützung für die Verteidigung der Ukraine zum Ausdruck zu bringen. Die Szene verbreitete Verschwörungsideologien, die auf der Behauptung basieren, dass eine Elite im Hintergrund, welche die Entwicklungen in der Welt lenkt, Russland in diesen Krieg "gezwungen" habe. Viele Szeneakteure betrachten Russland als "Schutzmacht" und als Bollwerk gegen einen von "Reichsbürgern", "Selbstverwaltern" und der rechtsextremistischen Szene gleichermaßen abgelehnten Liberalismus, als dessen treibende Macht die Vereinigten Staaten von Amerika identifiziert werden. Angehörige der Reichsbürgerszene versuchten im Berichtsjahr erneut, mit ihren Ideen an die Mitte der Gesellschaft anzudocken. So meldeten zum Beispiel die der Reichsbürgerszene zugehörigen Eheleute MERX (Magdeburg) die montags wöchentlich in Magdeburg stattfindenden Kundgebungen gegen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und die militärischen Unterstützung der Ukraine an. An diesen Versammlungen nahmen auch Personen teil, die dem nichtextremistischen Bereich zuzuordnen sind. Die Organisatoren dieser Versammlungen waren darauf bedacht, ihre Reichsbürgerideologie zu verschleiern. Sie griffen z. B. die pazifistische Parole "Frieden schaffen ohne Waffen" auf oder stellten den Wunsch nach einer Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung in den Vordergrund, um ihren Veranstaltungen so eine positiv gestimmte Emotionalität zu verleihen. Aktive Gruppierungen der Reichsbürgerszene in Sachsen-Anhalt "Königreich Deutschland" (KRD) Im Jahr 2009 gründete Peter FITZEK (Lutherstadt Wittenberg) den Verein "NeuDeutschland e. V.". Seit 2012 tritt er als Monarch bzw. "Oberster Souverän" des KRD in Erscheinung. Den von ihm konstruierten Fantasiestaat versucht er unter anderem mit der Etablierung eigener Institutionen (z. B. einer "Gesundheitskasse" oder einer "Gemeinwohlkasse") mit Leben zu füllen. Die KRD-Programmatik basiert auf der Annahme, dass die 110 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 ReichsbüRgeRszene hoheitlichen Befugnisse und Rechtsgrundlagen der Bundesrepublik Deutschland nicht gelten. Die politische Ideologie des selbsternannten "Königs" steht den im Grundgesetz verbrieften Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entgegen. Seit 2019 dehnte FITZEK die KRD-Aktivitäten auf weitere Bundesländer aus. Diese Aktivitäten, die auf einen starken Expansionsdrang hindeuten, umfassten vielfältige Maßnahmen zur Rekrutierung neuer Anhänger und zur Herstellung neuer Allianzen. Dass FITZEK dabei nicht die Kooperation mit bekannten Rechtsextremisten scheut, hat zum Beispiel der Besuch des Holocaust-Leugners Nikolai NERLING (Thüringen) im KRD im März 2022 gezeigt, der mit einem gemeinsamen Video dokumentiert wurde. Darin ist zu sehen, wie FITZEK NERLING über das Objekt in Wittenberg führt und seine "Errungenschaften" anpreist. FITZEK nutzt mittlerweile auch die digitale Welt sehr intensiv, um für seine Ideen zu werben. So veranstaltete er im Berichtszeitraum Online-Seminare und regelmäßige Livestreams. Allerdings wurde hier thematisch wenig Neues geboten. Die Inhalte seiner Darstellungen wiederholen sich. Auch im dritten Jahr der Corona-Pandemie polemisierte FITZEK weiter gegen die staatlichen Eindämmungsmaßnahmen. Wiederholt erklärte er, dass diese Maßnahmen - wie alle anderen Regeln der Bundesrepublik Deutschland - im Bereich seines "Staatsgebietes" nicht gelten. FITZEK selbst betont, dass sein KRD von der gesellschaftlichen Verunsicherung im Zuge der Pandemie profitiert habe. So erklärte er in einem Interview, das auszugsweise in einer Reportage des ZDF-Magazins "FAKT" ausgestrahlt wurde, dass die Zahl seiner Anhänger während der Pandemie stark angewachsen sei: "Je mehr Leidensdruck da draußen, desto besser ist das für uns." Der weiter anhaltende Zuspruch für das KRD lässt sich zudem damit erklären, dass sich Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 111 ReichsbüRgeRszene FITZEK mit seinen Angeboten an Menschen richtet, die sich von der modernen Gesellschaft entfremdet fühlen und nach alternativen Lebensweisen suchen. Die Anhängerschaft des KRD weist eine starke Affinität für esoterische, spiritistische und verschwörungsideologische Narrative auf, die FITZEK mit seinen Botschaften zuverlässig bedient. Das KRD wirbt weiterhin offensiv um Gewerbetreibende. Die vermeintliche Aussicht auf ein "steuerfreies Wirtschaftssystem", "verminderte Sozialabgaben" sowie ein "autarkes und geschlossenes zinsfreies Geldsystem" soll Unternehmer und Selbständige dazu motivieren, sich dem KRD anzuschließen. Die Rekrutierung von neuen Anhängern und Investoren erfolgt über "Unternehmerseminare" oder "Tage der offenen Tür", die in der KRD-Zentrale in der Lutherstadt Wittenberg abgehalten werden. Exemplarisch für die umfangreichen wirtschaftlichen Aktivitäten des KRD steht der in Tangermünde (Landkreis Stendal) ansässige Ladenund Onlinehandel für Bio-Artikel "Kieken und Koofen". Das Kleinunternehmen weist im Impressum seiner Internetseite aus, dass es sich um einen "Betrieb im KRD" handele, dessen Hauptsitz sich in Wittenberg befinde. Im Bereich der "Datenschutzerklärung" wird ebenfalls explizit auf das KRD verwiesen. Der Betreiber des Handels ist als Mitglied des KRD bekannt. Die territoriale Erweiterung seines Einflussbereiches war im Berichtsjahr ein zentrales Thema auf den Online-Kanälen des KRD. FITZEK verfolgt das Ziel, auf "eigenem Territorium" ein von der Bundesrepublik Deutschland autarkes Gebiet zu schaffen, das sich selbst versorgen kann. Für den Erwerb von Immobilien wurden verschiedene Vereine zu dem Zweck ins Leben gerufen, um bei Kaufanfragen die Verbindung des Interessenten zum KRD zu verschleiern. Ein Beispiel dafür ist der Verein "FairTeilen e. V." mit Sitz in Aschaffenburg (Bayern), der auf seiner Internetseite fairteilen.org ein Postfach in der Lutherstadt Wittenberg angibt. 112 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 ReichsbüRgeRszene Die Vereine fragen Kommunen nach Immobilien und Grundstücken an, die geeignet sind, eine Eigenversorgung zu ermöglichen. Zu den Kriterien, welche die Objekte erfüllen sollen, zählen beispielsweise eine eigene Wasserversorgung durch einen See oder Fluss und eine möglichst große Fläche des Grundstücks von bis zu 50 Hektar, die ein Zusammenleben von bis zu 300 Personen ermöglichen soll. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass es FITZEK offensichtlich gelungen ist, zwei neue Objekte für das KRD in Sachsen zu erwerben. In Eibenstock OT Wolfsgrün kaufte er für über zwei Millionen Euro ein ehemaliges Hotel. Dafür leistete er eine Anzahlung von 1,6 Millionen Euro, indem Einzelinvestoren fünfstellige Summen auf das Konto des Verkäufers überwiesen. Das villenartige Gebäude wird als "Gesundheitszentrum" und Seminarort genutzt. Bei dem zweiten Objekt handelt es sich um eine schlossähnliche Anlage in Bärwalde (Lausitz), das als sogenanntes "Gemeinwohldorf" ausgebaut werden soll. Hier soll der Kaufpreis im sechsstelligen Bereich liegen. In dem Objekt in Bärwalde fanden im Berichtsjahr bereits Arbeitseinsätze von KRD-Anhängern unter dem Motto "Vision wird Tat" statt. Um seine propagandistischen Aktivitäten auszudehnen, bildet das KRD Vortragsredner aus. Die Kosten der Ausbildung liegen im vierstelligen Bereich und müssen von den Interessenten selbst getragen werden. Die ersten Einsätze der ausgebildeten Vortragsredner haben bereits außerhalb Sachsen-Anhalts stattgefunden. "Stiller Protest" Die bereits seit 2020 stattfindenden regelmäßigen Versammlungen in der Ortslage Gröningen, OT Heynburg (Landkreis Börde), an der B 81 von Personen, die der Reichsbürgerszene zugerechnet werden, setzten sich auch im Jahr 2022 fort. Die TeilnehmerVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 113 ReichsbüRgeRszene zahlen bewegten sich stabil im niedrigen zweistelligen Bereich. Die Anhänger der Gruppierung strebten eine weitere Expansion und größere Vernetzung an. Im Berichtszeitraum fanden auch in Dessau-Roßlau, Sangerhausen (Mansfeld-Südharz) und Förderstedt (Salzlandkreis) wiederkehrend Versammlungen statt, die aber nur sehr geringe Teilnehmerzahlen aufwiesen. Zudem wurden gleichgelagerte Versammlungen in anderen Bundesländern wie Brandenburg oder Niedersachsen personell unterstützt. Angehörige der Gruppierung nahmen an vielen Kundgebungen anderer Initiatoren in Sachsen-Anhalt und anderen Bundesländern teil, die sich gegen die pandemiebedingten Eindämmungsmaßnahmen richteten, und hielten dabei auch Reden. Es ist festzustellen, dass die Aggressivität der Äußerungen zunimmt und mittlerweile auch erste Straftaten in der Realwelt (zum Beispiel Beleidigungen von Polizeibeamten) begangen wurden. "Verfassunggebende Versammlung" (VV) Die VV ist laut Eigenangabe im Oktober 2015 entstanden. Sie tritt meist im virtuellen Raum in Erscheinung. Die VV versucht, einen neuen Staat nach eigenen Vorgaben zu errichten und zu diesem Zweck parallelstaatliche Strukturen aufzubauen. Der schwerpunktmäßig im digitalen Bereich agierenden Gruppierung werden in Sachsen-Anhalt etwa 20 Personen zugerechnet. "Gemeindeamt Schinne" Der "Vorsteher" des "Gemeindeamt Schinne" wandte sich im Berichtszeitraum als Vertreter von anderen "Reichsbürgern" an Behörden und gab in seinen Schreiben "Rechtsauskünfte". Zudem verschickte das "Gemeindeamt Schinne" bundesweit Schreiben an verschiedene Ministerpräsidenten, in denen die Aufhebung aller staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gefordert wurde, und so genannte "Haftungsübernahmebescheide" an verschiedene Landesregierungen. 114 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 ReichsbüRgeRszene "Samtgemeinde Alte Marck" Auch die "Samtgemeinde Alte Marck" trat nach einer inaktiven Phase im Berichtsjahr erneut in Erscheinung. So übersandte die Gruppierung mehrere Schreiben an das Amtsgericht Stendal und ein Schreiben an den Präsidenten des Thüringer Landesverwaltungsamtes. In Thüringen wurde eine Phantasiegemeinde "reaktiviert", die laut einer "Gründungsurkunde" von der "Samtgemeinde Alte Marck" verwaltet wird. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 115 ReichsbüRgeRszene "Vaterländischer Hilfsdienst" (VHD) Der VHD ist eine Unterorganisation der "Reichsbürger"-Gruppierung "Bismarcks Erben / Ewiger Bund", die das Ziel verfolgt, Verwaltungsstrukturen außerhalb der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland aufzubauen. Die Gruppierung orientiert ihre regionale Gliederung an den historischen Armeekorpsbereichen, wie sie in der Zeit des Deutschen Kaiserreiches bestanden. Der VHD-Ableger in Sachsen-Anhalt agiert demnach unter der Bezeichnung "IV. Armeekorpsbezirk", seine Mitglieder trafen sich mehrfach an verschiedenen Orten in Sachsen-Anhalt. Bei den Treffen sollen nach eigenen Angaben Interessenten beschult, Auszeichnungen verliehen und sogenannte "Eidesleistungen" vollzogen worden sein. Mit "Eidesleistungen" verpflichten sich Personen, die in der Gruppierung mitwirken wollen, für die Interessen des VHD einzutreten. Meist ist mit einer solchen "Eidesleistung" die Übertragung von Funktionen innerhalb der Organisation verbunden. Bewertungen, Tendenzen, Ausblick Sowohl in der Realwelt als auch im virtuellen Raum entfaltete die Reichsbürgerszene erneut vielfältige Aktivitäten. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine hat die Szene im Berichtszeitraum weiter an Zulauf gewonnen. Gleichzeitig haben sich ihre ideologischen Positionen verfestigt. Anhänger der Szene führen alles Übel, das in der Welt geschieht, auf das Wirken einer geheimen Elite im Hintergrund zurück und erklären sich die Ursachen des Krieges und der Pandemie so, dass diese Erklärung sie in ihrer verschwörungsideologischen Weltsicht bestätigt. In den Filterblasen einschlägiger Social-Media-Kanäle und Online-Foren bestärken sich "Reichsbürger" und "Selbst116 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 ReichsbüRgeRszene verwalter" gegenseitig in diesen Erklärungen. Hierfür nutzen sie vor allem szeneintern etablierte Telegram-Kanäle, deren Zahl zuletzt stark angewachsen ist. Nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Vernetzung der Szene im digitalen Raum muss daher von einer weiteren Radikalisierung ihrer Anhängerschaft ausgegangen werden. Im Berichtszeitraum haben mehrere Ereignisse außerhalb Sachsen-Anhalts erneut die Gewaltbereitschaft von Teilen der Szene demonstriert, so etwa der Schusswechsel zwischen einem "Reichsbürger" und der Polizei in Boxberg (Baden-Württemberg) am 20. April 2022 und die bundesweite Razzia gegen die Gruppe um Heinrich XIII. Prinz REUSS am 7. Dezember 2022, bei der zahlreiche (legale und illegale) Schusswaffen sichergestellt wurden, mit deren Hilfe die Gruppe einen gewaltsamen Umsturz herbeiführen wollte. Diese Ereignisse zeigen, dass Teile der Reichsbürgerszene nicht davor zurückschrecken, ihre Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen. Die Beobachtung der Aktivitäten von Szeneangehörigen, die über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügen und sich waffenaffin zeigen, ist deshalb weiterhin ein Schwerpunkt der Arbeit des Verfassungsschutzes. In Sachsen-Anhalt sind etwa fünf Prozent der Personen, die der Verfassungsschutz der Reichsbürgerszene zurechnet, im Besitz einer waffenrechtlichen Erlaubnis. Im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten1 unterrichtet der Verfassungsschutz die unteren Waffenbehörden daher über seine (mitteilbaren) Erkenntnisse. Die Waffenbehörden prüfen dann, ob das Versagen einer beantragten beziehungsweise der Entzug einer bereits erteilten Waffenerlaubnis auf der Basis dieser Erkenntnisse rechtlich möglich ist. 1 - Siehe dazu auch Seite 13. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 117 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 118 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates Beobachtungsobjekt: Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates Die Corona-Pandemie führte im April 2020 zu tiefgreifenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Es kam zu legitimen Protesten, vor allem von Personen, die stark von diesen Einschränkungen betroffen waren. Neben diesen nachvollziehbaren, vom Grundgesetz ausdrücklich gedeckten Unmutsbekundungen bildete sich aber auch eine neue, verfassungsschutzrelevante Form des Protests heraus. Demonstranten unterstellten Regierungsverantwortlichen und staatlichen Stellen pauschal, sie missbrauchten die Pandemie dazu, Bürgerinnen und Bürger zu entrechten und zu überwachen. Das Protestgeschehen brachte nicht nur eine bis dato unbekannte Form des Extremismus hervor, sondern auch eine Gefährdung der Sicherheit, vor allem von öffentlichen Personen. Um extremistische Personenzusammenschlüsse und Gruppierungen zu bearbeiten, die nicht den bekannten Extremismusbereichen wie Rechtsoder Linksextremismus zugeordnet werden können, wurde der neue Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" mit dem untergeordneten Beobachtungsobjekt "Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegtimierung des Staates" geschaffen. Die Szene der sogenannten Delegitimierer hat sich mittlerweile auch abseits des sichtbaren Protestgeschehens, insbesondere in den sozialen Netzwerken, verstetigt. Der Verfassungsschutzbehörde geht es mit Blick auf die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates nicht um zu radikale Kritik an der Politik und deren Vertretern und auch nicht um die Erfassung von Kritikern an pandemiebedingten Einschränkungsmaßnahmen. Vielmehr geht es um demokratiefeindliche Verhaltensweisen, die dem Ziel der Delegitimierung der bestehenden politischen Verhältnisse dienen und erheblich Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 119 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates sind, indem sie einen relevanten Wirkungskreis erreichen oder sich durch ihre Intensität auszeichnen. Erstes Kernelement ist die ständige und pauschale verfassungsschutzrelevante Agitation gegen staatliche Institutionen und insbesondere demokratisch legitimierte Repräsentanten des Staates, ohne die Kritik zu konkretisieren und ohne eine mit der Demokratie verträgliche Alternative aufzuzeigen. Derartige Aussagen äußern sich in systematischen Beschimpfungen, Verdächtigungen, Verleumdungen und Verunglimpfungen. Aufgrund dieser ständigen Verächtlichmachung wird das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert, was letztendlich dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigen kann. Mediale Begrifflichkeiten wie "Impfgegner", "Coronaleugner" und "Maskenverweigerer" sind nicht unmittelbar von Relevanz für das Beobachtungsobjekt. Es muss vielmehr eine massive und verunglimpfende Verächtlichmachung staatlicher Repräsentanten und ihrer demokratisch legitimierten Entscheidungen zum Ausdruck gebracht werden, damit eine verfassungsschutzrelevante Demokratiefeindlichkeit vorliegt. Im Fokus des Verfassungsschutzes stehen zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Diese äußern sich beispielsweise durch die Unterstellung, die Einschränkungsmaßnamen im Zuge der Corona-Pandemie führten zu einem Leben wie in einer Diktatur, die dem Nationalsozialismus oder dem DDR-Regime gleichzusetzen sei. Damit wird nicht nur das Vertrauen der Bevölkerung in die verfassungsmäßige Ordnung erschüttert, ebenso werden Gewaltherrschaften autoritär-repressiver Systeme massiv verharmlost. Das zweite Kernelement des Phänomenbereichs umfasst die Sicherheitsgefährdung durch extremistische Bestrebungen in Form von Gewaltandrohungen gegen Vertreterinnen und Vertre120 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates ter der parlamentarischen Demokratie oder auch Blockadeund Sabotageaktionen gegen staatliche Einrichtungen sowie lebenswichtige Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen. Die Szene legitimiert Gewaltund Widerstandshandlungen, indem sie sich auf ein vermeintliches Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG gegen aus ihrer Sicht illegitime staatliche Maßnahmen bezieht. Dabei wird das Recht auf Widerstand, teilweise bewusst, falsch verstanden. Dieses Recht bezieht sich originär auf einen Angriff auf die Verfassung, der die grundgesetzliche Ordnung als solche beseitigen soll, wie beispielsweise der Versuch einer Partei, eine Alleinherrschaft zu errichten. Das Widerstandsrecht wird erst relevant, wenn die verfassungsmäßige Ordnung aktiv von Akteuren beseitigt wird, woraufhin sich die Bürgerinnen und Bürger gegen dieses Unrechtssystem wenden, beispielsweise mittels Anwendung von Gewalt. Diese Handlungen gegen das entstehende Unrechtssystem hätten dadurch eine verfassungsrechtliche Legitimation. Einzelne staatliche Grundrechtseinschränkungen sind vom Widerstandsrecht nicht abgedeckt. Bei diesen haben Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, gerichtlich zu klagen, was bei Corona-Einschränkungen auch - zum Teil erfolgreich - in Anspruch genommen wurde. Ein drittes Kernelement bildet die Verbreitung von Verschwörungserzählungen. Diese forcieren die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates durch eine ausgeprägte Elitenfeindlichkeit sowie ein kategorisches "Freund-Feind-Denken". Diese dualistische Sichtweise kann eine katalysatorische Wirkung in Bezug auf die Radikalisierung der Szene entfalten. Ein häufig verbreitetes Narrativ der Delegitimierer stellt beispielsweise die Einführung einer Zwangsimpfung zur Errichtung eines globalen Überwachungsregimes dar. Derartige Argumentationsmuster zu vermeintlichen Handlungen einer globalen geheimen Elite oder eines "Deep State" sind häufig auf die Verschwörungsideologien des "Great Reset" oder "QAnon" zurückzuführen. Ein Großteil der Kommunikation und damit auch der Vernetzung und Radikalisierung erfolgt über soziale Medien und MessengerVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 121 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates dienste. Insbesondere Telegram nahm weiterhin eine zentrale Funktion zur Organisation, Mobilisierung und Information der Szene der verfassungsschutzrelevanten Delegtimierung des Staates ein. Inhaltlich versuchten Akteurinnen und Akteure, vor allem über soziale Medien, Fehlinformationen mit Anknüpfungspunkten zu verschiedenen Verschwörungsideologien zu verbreiten. Sie unterstellten den politischen Verantwortlichen ein diktatorisches Verhalten und riefen zum Widerstand gegen diese auf. Dabei war im Jahr 2022 im Vergleich zum Jahr 2021 eine thematische Diversifizierung zu beobachten. Im Jahr 2021 dienten fast ausschließlich pandemiebedingte Themen als Ausgangspunkt, um den eigentlichen Fokus auf die Errichtung einer Widerstandsbewegung zur Abschaffung des "Systems" zu lenken. Insbesondere im zweiten Quartal des Jahres 2022 und auch, um dem Rückgang der Teilnehmerzahlen bei den Protesten entgegen zu wirken, versuchte die Delegitimiererszene sich thematisch breiter aufzustellen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und dessen politischen und wirtschaftlichen Folgen nährten das Themenspektrum der Delegitimierer im Jahr 2022. So traten die Inflation, die Energiesituation, die Sanktionen gegen Russland oder die Waffenlieferungen an die Ukraine hinzu. Dies war sowohl in den sozialen Netzwerken als auch bei Protesten auf der Straße festzustellen. Die Delegitimiererszene reagiert somit inhaltlich flexibel auf neue Krisen. Diese Krisen werden adaptiert und instrumentalisiert, indem die Ursachen vereinfacht dargestellt und die Verantwortung für die bedrohlichen Veränderungen Einzelpersonen oder Personengruppen zugeschrieben werden. Aus Sicht der Delegitimiererszene werden die vermeintlichen Nutznießer und Verantwortlichen für Krisen meist durch eine aus ihrer Sicht diktatorisch agierende Regierung und allmächtige Eliten im Hintergrund verkörpert. 122 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates Es war außerdem zu beobachten, dass Personen der Delegitimiererszene auch Argumentationsmuster aus anderen Phänomenbereichen, insbesondere der Reichsbürgerszene, übernahmen. Dies deutet auf eine hohe Anschlussfähigkeit von Delegitimiererzu Reichsbürgernarrativen hin. Entwicklung des Protestgeschehens im Jahresverlauf Im Januar gestaltete sich das Protestgeschehen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen konstant hoch mit regelmäßigen Versammlungen mit Teilnehmerzahlen im bis zu mittleren vierstelligen Bereich und dem Montag als Protestschwerpunkt. Im Mittelpunkt stand dabei der Protest gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Während der Großteil der Demonstrierenden als nicht-extremistisch zu beurteilen war, erwiesen sich vor allem die großen Demonstrationen als Anziehungspunkt für Akteure des klassischen Rechtsextremismus, der Neuen Rechten, der Reichsbürger und Selbstverwalter und der Delegitimiererszene. Im vorderen Teil der Protestmärsche waren oftmals gewaltbereite Personen unter anderem aus der Hooliganund Rockerszene festzustellen, welche die direkte Konfrontation mit den Polizeikräften suchten. Bei den unangemeldeten Demonstrationen in Magdeburg waren eine aufgeheizte Stimmung und ein Katzund Mausspiel der Demonstrierenden mit der Polizei zu beobachten. Mutmaßlich aufgrund der starken Polizeipräsenz und der negativen medialen Berichterstattung über die Demonstrationen in Magdeburg sanken die Teilnehmerzahlen dort bereits im ersten Quartal 2022 stark und pendelten sich dann in ganz Sachsen-Anhalt bis zum Sommer auf einem stabilen niedrigen Niveau ein. Da zu diesem Zeitpunkt die Mobilisierung der bürgerlichen Klientel kaum mehr gelang, kristallisierte sich ein "harter Kern" heraus, der versuchte, die Proteste weiter fortzusetzen - unabhängig vom Wegfall der Corona-Schutzmaßnahmen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 123 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates Als im Juli 2022 zunehmend die mit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine einhergehenden wirtschaftlichen und energiepolitischen Auswirkungen die öffentliche Diskussion prägten, versuchten Extremisten verschiedener Phänomenbereiche diese Themen zu instrumentalisieren und eine neue Welle der Bürgerproteste zu initiieren. Eine erste größere Veranstaltung, bei der eine aus dem Frühjahr 2022 bekannte Mischszene aus 1.200 Teilnehmenden in Erscheinung trat, fand am 18. Juli 2022 in Lutherstadt Wittenberg statt. Dort wurden neben dem überwiegend nicht-extremistischen Personen Angehörige der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates, Rechtsextremisten sowie Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene unter den Teilnehmenden festgestellt. Während sich im Juli die Teilnehmerzahlen ansonsten noch größtenteils auf einem konstant niedrigen Niveau befanden, war im August ein Anstieg festzustellen, der in einem sprunghaften Aufwuchs der Zahlen zum 5. September 2022 mündete. An diesem Tag fanden etliche landesweite Versammlungen statt, die aus Sicht der Anmelder den "heißen Herbst" eingeleitet hätten. Politik und Medien verwendeten den Begriff des "Heißen Herbst" bzw. des "Wutwinter" bereits im Vorfeld, in Erwartung eines intensiven Protestgeschehens anlässlich der vor allem finanziellen Belastungen im alltäglichen Leben. Eine Instrumentalisierung des bürgerlichen Protests durch Extremisten wurde prognostiziert. Unter anderem griffen Angehörige der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates ihrerseits diese Formulierung dankbar auf, um für ihre Versammlungen, insbesondere die montäglichen "Spaziergänge" zu mobilisieren. Insgesamt zeigte sich im vierten Quartal 2022, dass aktuelle Themen wie die Energiesituation, Inflation und der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine nicht dasselbe Mobilisierungspotenzial wie die staatlichen Einschränkungsmaßnahmen aufgrund der Corona-Pandemie entfalten konnten. Es fiel auf, dass zunehmend Veranstaltungen 124 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates abgesagt wurden oder deutlich weniger Personen an den Kundgebungen teilnahmen. Aktive Gruppierungen "Mitteldeutschland TV" Die Internetpräsenzen und Livestreams von "Mitteldeutschland TV" informieren über aktuelle Geschehnisse und Veranstaltungen, verbreiten verfassungsschutzrelevante, delegitimierende Inhalte und unterstützen die Organisation des Protestgeschehens in Sachsen-Anhalt, insbesondere in Magdeburg. Die Onlinekanäle werden zudem genutzt, um die Stimmung aufzuheizen, beispielsweise durch Zusammenschnitte von Videos der Protestveranstaltung mit dramatischer Musikuntermalung. Das Katzund Mausspiel mit der Polizei in Magdeburg zu Beginn des Jahres 2022 wurde ebenfalls über die Präsenzen bei Telegram angeheizt. Mitglieder der Gruppierung wiesen explizit darauf hin, Versammlungen nicht anzumelden und somit staatliche Vorschriften zu missachten. Die Gruppierung weist Verbindungen zu anderen Phänomenbereichen auf, beispielsweise indem sie bekannte Szeneangehörige interviewt oder im Rahmen der Organisation von Demonstrationen mit diesen zusammenarbeitet. "Bewegung Halle" Die "Bewegung Halle" organisiert die Montagsproteste in Halle (Saale). Auf ihrem Telegram-Kanal wurden Inhalte mit agitatorischen Verächtlichmachungen ohne Sachbezug verbreitet, indem beispielsweise dem Staat ein totalitäres Handeln unterstellt wurde und Inhalte von bekannten Szeneangehörigen der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung weitergeleitet wurden. Flyer der Bewegung Halle bezogen sich auf die Verschwörungsideologie des "Great Reset", bei Versammlungen rekurrierten Rednerinnen und Redner unter anderem auf ein vermeintliches Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG, zogen Vergleiche zum Nationalsozialismus, sprachen Deutschland die Souveränität Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 125 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates ab und unterstellten Migranten pauschal Gewalttätigkeit. Die "Bewegung Halle" distanzierte sich von rechtsextremistischen Äußerungen und unterband das Verteilen von Flyern rechtsextremistischer Organisationen auf ihren Veranstaltungen. Radikalisierung der Protestformen Über den gesamten Jahresverlauf war der Großteil der Proteste friedlich. Ein erhöhtes Gewaltpotenzial konnte aber im ersten Quartal des Berichtszeitraumes bei großen Aufzügen und in deren vorderem Teil festgestellt werden. Dabei kam es auch zu Gewaltdelikten, insbesondere tätlichen Angriffen auf Polizeikräfte, und zu "Durchbruchversuchen" bei polizeilichen Absperrungen. Zu Beginn des Jahres 2022 konnten auch mehrere strafrechtlich relevante Delikte, wie beispielsweise Beschädigungen durch verfassungsschutzrelevante Beschriftungen, in Bezug auf CoronaImpfund Testzentren festgestellt werden. Radikalisierung in den sozialen Medien Immer wieder, zunehmend auch im realweltlichen Kontext und hierbei insbesondere gegen Personen des öffentlichen Lebens, äußerten Akteure der Delegitimiererszene verbale Aggressionen, die das Risiko einer Radikalisierung von Teilnehmenden bei Versammlungen bergen. Bei Einzelpersonen könnten derartige Äußerungen den Handlungsdruck gegen öffentliche Personen oder Einrichtungen erhöhen und im Extremfall zu Gewalthandlungen führen. Ebenso wie im Jahr 2021 war die Stimmung, die in den sozialen Netzwerken von der Szene verbreitet wurde, deutlich aggressiver, radikaler und aufgeheizter als bei Protesten auf der Straße. So wurde beispielsweise im Berichtszeitraum in einschlägigen Telegram-Gruppen geschrieben, man wolle die aktuellen Politiker hängen sehen und Polizistinnen und Polizisten wurden als seelenloser Abschaum bezeichnet. Eine intensive und kontinu126 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 VerfassungsschutzreleVante Delegitimierung Des staates ierliche Beschäftigung mit derartigen Inhalten ohne die Existenz eines adäquaten Korrektivs kann nach wie vor zu einer Radikalisierung von Personen oder Personengruppen führen. Der über das Internet verbreitete Hass birgt stets die Gefahr, auch realweltliche Gewalthandlungen zu provozieren. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 127 Linksextremismus Linksextremismus Einleitung 129 Gewaltorientierte Linksextremisten 140 "Rote Hilfe e. V." (RH) 182 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) 188 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) 192 128 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus LINKSEXTREMISMUS Linksextremismus als heterogenes Phänomen stellt ein Sammelbecken für unterschiedliche Strömungen dar, die jeweils gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Bei aller Vielschichtigkeit wissen sich Linksextremisten in der Verabsolutierung der menschlichen Fundamentalgleichheit einig, aus der sie denkbar radikale Konsequenzen ziehen. Das Ziel ist die totale Befreiung des Menschen aus allen gesellschaftlichen, politischen oder sozio-ökonomischen Zwängen und die Errichtung einer herrschaftsbzw. klassenlosen Ordnung. In dem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit haben sich mit der Zeit die unterschiedlichsten Strömungen innerhalb des Linksextremismus ausgebildet. Je nach Ansatz soll das Ziel einer Gesellschaftsformation der Freien und Gleichen auf dem Wege der Diktatur einer zentralistischen (Einheits-) Partei, einer dezentralen Selbstorganisation oder mit der Abschaffung jeglicher Staatsund Herrschaftsstrukturen erreicht werden. Diese Methoden widersprechen den Werten und Verfahrensregeln des demokratischen Verfassungsstaates, dessen Bestand Linksextremisten angreifen und auf revolutionärem Wege überwinden wollen. Alle linksextremistischen Strömungen lassen sich auf die ideengeschichtlichen Ideologiefamilien des Kommunismus auf der einen und des Anarchismus auf der anderen Seite zurückführen. Während beide Phänomene in der Vorstellung von einer befreiten Gesellschaft als utopisches Endziel übereinstimmen, unterscheiden sie sich doch in der Vorstellung davon, wie dies zu erreichen sei. So schließen anarchistische Ideologien aus ihrem übersteigerten Gleichheitspostulat auf einen absoluten Freiheitsgedanken im Sinne einer herrschaftslosen Gesellschaft. Damit lehnen Anarchisten jedwede staatliche Ordnung ab. Anarchisten verzichten darauf, einen umfassenden und systematischen Theorieentwurf für die kommende Utopie vorzulegen, und beschränken sich stattdessen auf eine FundamentalVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 129 Linksextremismus opposition gegenüber der bestehenden Ordnung. Vor diesem Hintergrund rückt das individuelle Freiheitsrecht in den Mittelpunkt ihrer Weltsicht, sodass bereits in dem eigenen Tun und Handeln der kommende Umbruch vorgelebt werden soll. Dabei bildet ein geradezu dogmatisches Vertrauen der anarchistischen Bewegung in die Einsichtsfähigkeit und in die grenzenlose Vernunft des Menschen eine der ideologischen Prämissen ihrer Utopie einer staatenlosen Gesellschaft. Während der Anarchismus den Wert der individuellen Freiheit verabsolutiert, strebt der Kommunismus eine Ausweitung des Gleichheitspostulats auf sämtliche gesellschaftlichen Lebensbereiche an. Zu diesem Zweck soll das bestehende politische System auf revolutionärem Wege zerschlagen und von einer "Diktatur des Proletariats" abgelöst werden. Eine "proletarische Avantgarde" bringt in einer Übergangsphase des Sozialismus den Staat zum Absterben und ersetzt ihn schließlich durch die Etablierung einer klassenlosen (Welt-) Gesellschaft. Die Auseinandersetzungen mit der Frage, wie die Revolution letztlich zu organisieren sei, begründen das ungebrochene Theoriebewusstsein kommunistischer Gruppierungen, die zur Beantwortung dieser Frage meist auf die geistigen Väter des Kommunismus wie Marx, Lenin, Trotzki, Stalin oder Mao zurückgreifen. 130 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Aus dieser sehr unterschiedlichen Gewichtung der Werte Freiheit und Gleichheit ergeben sich immer wieder fundamentale ideologische Konflikte zwischen kommunistischen Gruppierungen und linksextremistischen Akteuren, die eher in der Tradition des Anarchismus stehen. Eine Zusammenarbeit gibt es wiederum dort, wo soziale Problemlagen für die revolutionären Ziele eingespannt und im Sinne einer vorgeschobenen Gesellschaftskritik instrumentalisiert werden können. Die linksextremistische Szene bedient sich unterschiedlicher Mittel, um auf die Gesellschaft einzuwirken und diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. So gründen parlamentsund organisationsorientierte Linksextremisten Parteien bzw. Gruppen, mit denen sie einen legalistischen Weg einschlagen, um an Wahlen teilzunehmen bzw. öffentlich für ihre Agenda zu werben. Dagegen versuchen diskursorientierte Linksextremisten, die demokratische Gesellschaft auf einer metapolitischen Ebene zu unterminieren und auf das Moment eines revolutionären Wandels hinzuarbeiten. Von diesen gewaltlosen Strategien unterscheiden sich die aktionsorientierten Gruppierungen. Vor allem die Autonomen wählen das Mittel der Gewalt, um mit Ausschreitungen, Anschlägen oder Überfällen ihre linksextremistischen Ziele zu erreichen. Unabhängig von der jeweiligen Strategie arbeiten alle Linksextremisten auf eine Zielsetzung hin, die über kurz oder lang auf die Abschaffung der demokratischen Rechtsund Gesellschaftsform hinausläuft. Das linksextremistische Personenpotenzial stellt sich für Sachsen-Anhalt wie folgt dar: Das linksextremistische Personenpotenzial in Sachsen-Anhalt stagnierte im Jahr 2022. Vor allem im gewaltorientierten Spektrum des Linksextremismus war ein leichter Rückgang zu beobachten. Dies ging nicht zuletzt auf Zerwürfnisse zurück, die in Teilen der Szene zu beobachten waren. Insgesamt werden 600 Personen dem linksextremistischen Spektrum in Sachsen-Anhalt zugeordnet, wobei von einer Doppelzählung von Anhängern des Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 131 Linksextremismus gewaltorientierten Linksextremismus und den Mitgliedern der dem gewaltunterstützenden Spektrum zuzurechnenden "Roten Hilfe e. V." (RH) auszugehen ist. Eine Betrachtung des linksextremistischen Personenpotenzials über einen Zeitraum von fünf Jahren zeigt, dass dieses zuletzt auf einem gleichbleibenden Niveau verharrte, nachdem es bis 2020 noch deutlich zugenommen hatte: 132 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Linksextremismus und der russische Angriff auf die Ukraine: Zwischen Friedensund Sozialprotest Mit dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 kam es in der linksextremistischen Szene zu intensiven Debatten über die Frage, wie der Krieg zu deuten und welche Schlussfolgerung hieraus zu ziehen sei. Zwar lehnen die Akteure aller Spektren der linksextremistischen Szene den russischen Angriffskrieg ab, doch unterscheiden sich aufgrund der divergierenden Grundüberzeugungen auch die ideologischen Positionierungen zu diesem Konflikt. Im Wesentlichen lassen sich hierbei drei Gruppen ausmachen: - Antiimperialisten, - Anarchisten, - Ideologiekritiker. Innerhalb der linksextremistischen Szene waren vor allem die Antiimperialisten angesichts des Krieges mit erheblichen ideologischen Widersprüchen konfrontiert. Antiimperialisten sehen Kriege als eine unmittelbare Folge des Kapitalismus bzw. des Kampfes kapitalistischer Staaten um Exportmärkte, Handelswege und Ressourcen in der Welt. Bezeichnenderweise machten sie daher vor allem den westlichen "Imperialismus" in Form der NATO, der EU und der USA im Allgemeinen und den "BRDImperialismus" im Besonderen für die militärische Eskalation verantwortlich. Dementsprechend zogen sich Antiimperialisten nach Kriegsausbruch auf marxistisch-leninistische Allgemeinplätze zurück, um sich unter der von Karl Liebknecht formulierten Parole "Der Hauptfeind steht im eigenen Land" sowohl gegen den Krieg Russlands als auch gegen den "Imperialismus" des Westens positionieren zu können. In einem Aufruf zu einer antiimperialistischen Demonstration am 27. Februar 2022 in Magdeburg heißt es dementsprechend: Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 133 Linksextremismus "Wir stehen auf der Seite der lohnabhängigen Klasse weltweit. Unsere Solidarität gilt weltweit unseren proletarischen Brüdern und Schwestern und nicht irgendeiner Seite der kriegstreibenden Bourgeoise". In der Folge schlossen sich Teile des antiimperialistischen Spektrums in Magdeburg zu einer "Initiative Frieden" zusammen, um sich im Sinne einer "klassenkämpferischen Friedensbewegung" gegen "Imperialismus und Krieg weltweit einzusetzen", wie es in dem Gründungsaufruf heißt. Die einseitige Positionierung gegen den "US/NATO Imperialismus"machte allerdings schnell deutlich, was hinter dem Ruf nach Frieden im antiimperialistischen Spektrum vornehmlich zu verstehen war: eine ideologische Aversion gegen den Westen. Auch Teile des anarchistischen Spektrums lehnten den Krieg unter der Losung "No War But Class War" ab und bedienten damit eine Diktion des "internationalen Klassenkampfes". Doch anders als die Antiimperialisten suchen Anarchisten die Ursachen des Krieges nicht allein in einer geopolitisch verorteten Kapitalismuskritik, sondern vor allem in Herrschaft und Staatlichkeit per se. Vor diesem Hintergrund organisierte das 134 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus anarchistische Spektrum in Magdeburg am 4. März 2022 eine antimilitaristische Demonstration unter dem Motto "Nieder mit den Waffen. We stand with the people". Der Antimilitarismus der Anarchisten ist weitgehend internationalistisch ausgerichtet und sucht nach Organisationsformen für eine "weltweite und unabhängige Friedensbewegung". Während Antiimperialisten und Anarchisten den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands und eine militärische Intervention des Westens ablehnten, positionierten sich Teile des ideologiekritischen Spektrums auf Seiten der Ukraine. Angesichts eines neuen Imperialismus, der von Russland ausgehe, könne es "neben dem Abzug der russischen Truppen nur eine Forderung geben [...]: Waffen für die Ukraine!", wie es in einer Ankündigung für einen ideologiekritischen Vortrag heißt. Dementsprechend positionierte sich das "Offene Antifaplenum Halle" (OAP) während einer pro-ukrainischen Kundgebung am 16. April 2022 in Halle (Saale) mit einem Banner unmissverständlich: "Friede den Menschen - Krieg dem Kreml". Gleichwohl spielte die pro-ukrainische Positionierung für die weitere Aktionsorientierung des Linksextremismus in Halle (Saale) kaum eine Rolle. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 135 Linksextremismus Umso bestimmender war die antimilitaristische Verortung für Linksextremisten in Magdeburg. Wenngleich sich hier die Positionen der Anarchisten und Antiimperialisten im Ergebnis zunächst ähnelten, führten sie in der Folge nicht zu einer weitergehenden Kooperation. So riefen Teile der linksextremistischen Szene angesichts der steigenden Energieund Lebenshaltungskosten dazu auf, das Protestpotenzial in der Bevölkerung sozialpolitisch für einen "Heißen Herbst" zu nutzen und die Proteste dementsprechend zu instrumentalisieren. Schnell wurden hierbei jedoch ideologische Differenzen sichtbar, die zuvor unter der generellen antimilitaristischen Aktionsorientierung verborgen geblieben waren. Weil es auch von rechtsextremistischer Seite bzw. von Seiten der "Delegitimiererszene" Versuche gab, die Sozialproteste im Rahmen eines "Heißen Herbstes" oder eines "Wutwinters" zu beeinflussen und zu instrumentalisieren1, herrschte zunächst Uneinigkeit darüber, wie das so essentielle Aktionsfeld des Antikapitalismus bedient werden könnte, ohne dass damit zugleich die antifaschistische Positionierung konterkariert würde. Antiimperialistische und dogmatische, marxistisch geprägte Gruppierungen verstanden den Antifaschismus dabei als konsequenten Antikapitalismus und wollten dieses Dilemma auf der Grundlage eines unmittelbaren Klassenkampfes umgehen. Parteien wie die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) oder die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschland" (MLPD), aber auch Gruppierungen wie "Zusammen Kämpfen" (ZK) versuchten daher, die "Montagsdemonstrationen" gegen die sogenannten "Hartz"-Reformen in den Jahren 2003/2004 wieder aufleben zu lassen. Dabei war es ihr erklärtes Anliegen, die "Arbeiterklasse" für den "revolutionären Kampf" zu gewinnen und gerade nicht den "Faschisten" zu überlassen. Dies gelang jedoch nicht, da Akteure aus den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, Reichsbürgerszene und Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates für die montäglichen Versammlungen in Magde- 1 - Siehe dazu auch Seiten 24, 96, 102, 124. 136 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus burg und in Halle (Saale) wesentlich erfolgreicher mobilisieren konnten als Akteure aus dem linksextremistischen Spektrum. Anarchistische bzw. weniger dogmatisch geprägte Gruppen initiierten dagegen eine Sozialprotestbewegung, die sich abseits der Tradition der "Montagsdemonstrationen" positionierte - so etwa mit der Kampagne "Protestieren statt frieren" der Ortsgruppe der "Freien Arbeiter*innen Union" (FAU) Magdeburg. Die FAU zielte darauf, vermeintliche Krisenprofiteure und deren Gewinne in der Politik und Wirtschaft zu benennen, um damit eine Entlastung von armutsgefährdeten Bevölkerungsschichten Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 137 Linksextremismus zu erwirken. Mit dieser inhaltlichen Fokussierung ihrer Kampagne strebte die FAU eine Vernetzung mit nicht-extremistischen Akteuren an, was ihr im weiteren Verlauf der Proteste auch gelang. Daraufhin kritisierten jedoch antiimperialistische Gruppen, welche sich anfänglich an den Veranstaltungen beteiligt hatten, die Ausrichtung der Kampagne aufgrund der zu weichen inhaltlichen und medialen Ausformung. So versuchten Antiimperialisten wiederholt, antimilitaristische Inhalte in die Sozialproteste miteinfließen zu lassen, um damit auf die - aus antiimperialistischer Sicht - geostrategischen Ursachen der Krise aufmerksam zu machen. Der undogmatische Teil der linksextremistischen Szene blendete diese Inhalte jedoch konsequent aus. Vor diesem Hintergrund veröffentlichte das antiimperialistische ZK das Thesenpapier "Wer von Kapitalismus redet, kann über den Krieg nicht schweigen!" und prangrte so den "linkspolitischen Reformismus" der Sozialproteste an. Nur auf einer antimilitaristischen Grundlage sei es möglich, der "imperialistischen" Tragweite der aktuellen Preissteigerungen gerecht zu werden. Eine rein nationale Lösungsstrategie, wie sie seitens der politischen Rechten und im Umfeld der Sozialprotestbewegung favorisiert werde, sei abzulehnen. Trotz dieser Versuche der antiimperialistischen Szene, sich von nationalistischen Strömungen abzugrenzen, provozierte sie mit ihrem Ruf nach einem (auch bei den Montagsprotesten und seitens rechtsextremistischer Akteure geforderten) Ende der Sanktionspolitik der EUund der NATO-Staaten reflexartig Querfront-Vorwürfe, insbesondere seitens des ideologiekritischen Teils der linksextremistischen Szene. 138 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Vor diesem Hintergrund gelang es der Szene nicht, eine gemeinsam getragene Strategie zum Aufbau einer breiten Protestbewegung zu entwickeln. Diese Mobilisierungsschwäche ist Ausdruck der inneren Spaltung der Szene in eine Vielzahl gegnerischer Fraktionen, die zu einem Mangel an Strategieund Bündnisfähigkeit und somit letztlich zur Lähmung ihres Aktionspotenzials führt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 139 Linksextremismus Gewaltorientierte Linksextremisten Sitz Schwerpunktregionen in Magdeburg, Halle Verbreitung (Saale) und Burg (Landkreis Jerichower Land). Bundesweite Verteilung mit lokalen Hochburgen, vorwiegend in Großstädten Gründung Ende der 1970er Jahre als Ausläufer der Studentenbewegung, der Sponti-Szene und der PunkSubkultur; seit Anfang der 1990er Jahre in allen Bundesländern. Struktur Gewaltorientierte Linksextremisten bilden keine Aufbau strukturelle Einheit, sondern sind heterogen aufgestellt. Zum überwiegenden Teil prägen Autonome dieses Spektrum des Linksextremismus. Weitere gewaltorientierte Akteure sind Antiimperialisten und Anarchisten. Ihrem Selbstverständnis entsprechend sind Autonome hierarchiefeindlich; festgefügte Organisationen bzw. Strukturen lehnen sie ab. Vielmehr steht die bedingungslose Freiheit des Individuums im Mittelpunkt ihres Handelns. Aktionen gehen von anlassbezogenen Kleingruppen aus, die in stetig wechselnder Zusammensetzung und Namensgebung den Organisationsschwerpunkt der Autonomen darstellen. Antiimperialisten bilden weitgehend feste Strukturen aus. Aus ihrer ideologischen Fixierung folgt eine stärkere Gruppenbindung. Je dogmatischer Antiimperialisten auftreten, desto eher sind sie von den Autonomen zu unterscheiden. Anarchisten lehnen grundsätzlich jegliche Herrschaftsform ab. Feste Strukturen bilden lediglich organisationsgebundene Anarchisten aus - hier 140 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus vor allem die Anarchosyndikalisten. Sie organisieren sich in Form von Gewerkschaften, vertreten dabei jedoch anarchistische Prinzipien. Mitglieder Land: etwa 295 gewaltorientierte LinksextremisAnhänger ten, insbesondere Autonome (2021: 300) Bundesweit: 10.800 gewaltorientierte Linksextremisten, darunter 8.300 Autonome (2021: 10.300 / 8.000) VeröffentIm Internet bewegen sich gewaltorientierte lichungen Linksextremisten durchgehend konspirativ. Sie bedienen sich der Kommunikationsangebote von Linksextremisten für Linksextremisten, insbesondere um Aktionen zu planen, Gewalttaten in Selbstbezichtigungsschreiben zu rechtfertigen oder aber sich als Gruppe öffentlich zu präsentieren, ohne dass Rückschlüsse auf die dahinterstehenden Personen gezogen werden können. Selbstdarstellungen, Aufrufe zu Demonstrationen oder andere Aktivitäten erscheinen häufig auf szenebezogenen Blogs und Internetseiten, vor allem "riseup", "noblogs", "blackblogs" oder "systemli" sowie in sozialen Netzwerken wie "Twitter" und "Instagram". Selbstbezichtigungsschreiben (SBS) nach Gewalttaten werden anonym auf "de.indymedia" veröffentlicht. Szenepublikationen spielen kaum noch eine Rolle. Einzelne Akteure oder Gruppen publizieren gelegentlich in linksextremistischen Zeitungen und Zeitschriften wie "junge Welt" oder "analyse & kritik". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 141 Linksextremismus Finanzierung Spenden, Solidaritätskonzerte oder -partys für anlassbezogene Aktionen und Kampagnen, insbesondere für "Opfer staatlicher Repressionen", Einnahmen aus dem Barbetrieb in den linksextremistischen Szeneobjekten. Kurzportrait / Ziele Aus der Bandbreite kommunistischer und anarchistischer Ideologien begründet sich die Heterogenität der linksextremistischen Szene. Deren einzelne Strömungen lassen sich nicht nur nach den zugrunde gelegten Weltbildern und Zielen unterscheiden, sondern vor allem nach der Wahl der Mittel und der damit einhergehenden Strategie. Innerhalb der linksextremistischen Szene Sachsen-Anhalts lassen sich insgesamt vier Spektren unterscheiden: (Post-)Autonome, Antiimperialisten, Antideutsche und Anarchisten. (Post-)Autonome Autonome bilden den Schwerpunkt im gewaltorientierten Linksextremismus. Dies gilt sowohl für das Personenpotenzial als auch für das Verhältnis der Szene zur Gewalt. Autonome beziehen ihr Selbstverständnis nicht aus einem spezifischen Ideologiekonstrukt. Vielmehr ist die Szene von einer weitreichenden Theoriefeindlichkeit und Anti-Haltung geprägt, die nicht zuletzt auf einem diffusen Verständnis zwischen Anarchismus und Kommunismus aufbaut. Autonome setzen die bedingungslose Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt all ihres Handelns. Im Zuge dieser "Politik der ersten Person" bekämpfen sie alles, was ihrem persönlichen Freiheitsempfinden entgegensteht. Gewalt und Militanz sind dementsprechend nicht nur ein strategisches Mittel, sondern prägendes Element der Szene. Vor diesem Hintergrund lehnen Autonome Hierarchien und jede Form von Herrschaft konsequent ab. Was sie verbindet, ist eine Form des subjektiven und emotionalen Empfindens, das vor allem in der Affirmation von Gewalt zum Ausdruck kommt. Insbesondere auf Demonstrationen geht die propagierte Individualität der Auto142 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus nomen in der militanten Masse des "Schwarzen Blocks" auf. Dieser schafft Anonymität und damit Schutz für den Einzelnen und wird zugleich als identitätsstiftendes Moment wahrgenommen. Eine Demonstration ist für Autonome daher erst ein Erfolg, wenn es zu Ausschreitungen und Angriffen auf die Polizei und den politischen Gegner kommt. Den scheinbar spontan verübten Gewalttaten bei Demonstrationen gehen häufig konkrete Planungen voraus, so dass etwa im Verlauf der Aufmarschstrecke Steindepots angelegt oder Vermummungsgegenstände und Wurfgeschosse mitgeführt werden. Autonome schaffen es mittlerweile jedoch immer seltener, dieses kollektive Moment der Militanz auf die Straße zu tragen. Stattdessen fokussieren autonome Gruppen heute stärker auf klandestine Aktionen. Dafür schließen sich einzelne Akteure anlassbezogen zu Aktionsgruppen zusammen, um (Brand-) Anschläge gegen symbolträchtige Objekte wie Fahrzeuge, Gebäude oder sensible Infrastruktur zu planen und auszuführen. Es kommt zu teils erheblichen Sachschäden und immer häufiger werden dabei schwere und schwerste Verletzungen von Menschen in Kauf genommen. Die offene Gewaltbereitschaft und die fehlende inhaltliche Breite zeugen von einer zunehmenden Selbstbezogenheit der Autonomen. Statt gezielt auf gesellschaftliche Problemlagen einzuwirken, nutzen Autonome diese lediglich als vorgeschobene Rechtfertigung für die eigene Militanz. In Reaktion auf die ideologische Bedeutungslosigkeit der autonomen Szene und deren Unfähigkeit, handlungsfähige politische Strukturen aufzubauen, bildeten sich die Postautonomen heraus. Diese formieren sich vorwiegend in überregionalen Netzwerken, sind marxistisch geprägt und suggerieren nach außen einen ideologischen Minimalkonsens. Ihr Ziel ist ein revolutionärer Umsturz, also nicht nur die Abschaffung des Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 143 Linksextremismus Kapitalismus, sondern auch die Überwindung des demokratischen Verfassungsstaates als dessen inhärente Herrschaftsform. Mit einer breiten Bündnispolitik bringen sie linksextremistische Akteure unterschiedlicher ideologischer Prägung zusammen. Dazu instrumentalisieren Postautonome auf der einen Seite eine Fülle von gesellschaftlichen Protestbewegungen mit dem Ziel, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen. Auf der anderen Seite arbeiten sie mit gewaltorientierten Autonomen zusammen. Auch wenn sie sich vordergründig nicht an gewalttätigen Ausschreitungen beteiligen, so sehen sie doch in der Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. In dieser Stellung nehmen Postautonome eine Scharnierfunktion ein. Antiimperialisten und Antideutsche Maßgeblich geprägt von Lenins Schrift "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus", gehört der Antiimperialismus seit jeher zum ideologischen Fundament der linksextremistischen Szene. Aus der Sicht von Lenin sind kapitalistische Staaten in ihrem Streben nach Profitmaximierung stets auf der Suche nach neuen Rohstoffen, Absatzmärkten und billigen Arbeitskräften. Notfalls eigneten sie sich diese gewaltsam an, was unweigerlich zu Kolonialismus und Kriegen führe. Vor diesem Hintergrund vertreten Antiimperialisten ideologisch einen dogmatischen Marxismus-Leninismus. Für sie steht nicht die Freiheit des Individuums im Mittelpunkt, sondern der Klassenkampf. Dadurch argumentieren Antiimperialisten in festgefahrenen Polarisierungskategorien: auf individueller Ebene in einem Dualismus von ausgebeuteten Arbeitern und ausbeutenden Kapitalisten; im weltpolitischen Rahmen zwischen unterdrückten Völkern und unterdrückenden Staaten. Ausschlaggebend für Auseinandersetzungen in der linksextremistischen Szene ist dabei der antiimperialistische Blick auf Israel. Insbesondere seit dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg sehen Antiimperialisten im Staat Israel einen Hort der "kolonialistischen Ausbeutung" Palästinas. Dadurch bilden antiimperia144 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus listische Linksextremisten ein dezidiert antizionistisches Weltbild aus, das vereinzelt auch die Schwelle zum Antisemitismus überschreitet. Als ideologischer Gegenpol bildete sich Anfang der 1990er Jahre eine antideutsche Strömung. Hatte sich noch Mitte der 2000er Jahre eine Vielzahl von Gruppen im Spektrum der Autonomen als antideutsch verstanden, so findet der Begriff des "Antideutschen" heute in erster Linie als eine Fremdzuschreibung Verwendung. Eine eigenständige antideutsche Szene existiert nicht mehr - ihre Ideologiefragmente sind jedoch noch immer in Teilen des Linksextremismus zu finden. Die Wurzeln der Antideutschen liegen dabei in den Protesten gegen die deutsche Wiedervereinigung. Man befürchtete, dass nunmehr ein "Viertes Reich" entstehen würde, das unmittelbar an die nationalsozialistische Vergangenheit anknüpfen könnte. In einer monokausalen Fixierung auf die deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus rückten die Antideutschen den Antisemitismus in das ideologische Blickfeld. Dadurch begannen sie sich vom "Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu lösen - zunächst als "Selbstbestimmungsrecht der Deutschen", doch schon bald als ideologisches Fragment des Antiimperialismus. In der Folge zogen die Antideutschen nicht länger die ideologischen Konstrukte des Klassenkampfes und des Antiimperialismus zur Erklärung der weltpolitischen Ereignisse heran. Vielmehr traten nun der Holocaust und die damit verbundene Staatsgründung Israels in ihr Bewusstsein. In der ideengeschichtlichen Tradition der ersten Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 145 Linksextremismus Generation der Frankfurter Schule1 wurden nun die Werte des Westens (Individualität, Freiheit und Gleichheit) gegen totalitäre Ideologien wie Nationalsozialismus, Islamismus oder marxistisch-leninistischer Antiimperialismus verteidigt. Dabei begreifen Antideutsche den Antisemitismus nicht ausschließlich als Feindschaft gegenüber Juden, sondern immer auch als eine materialistische Komponente, die aus dem "kapitalistischen System" erwachse. In diesem Sinne verwerfen sie auch den "Massenansatz" im traditionellen Linksextremismus. Während orthodoxe Marxisten-Leninisten versuchen, die Arbeiterklasse für die revolutionäre Umwälzung zu mobilisieren, sehen die Antideutschen im Holocaust einen kollektiven Akt der "deutschen Volksgemeinschaft", zu der eben auch die Klasse der Arbeiter und nicht allein die Kapitalisten gehört hätten. Dementsprechend richtet sich die Strategie der Antideutschen weniger auf die Umsetzung eines revolutionären Umbruchs als vielmehr auf die Verhinderung einer Revolution unter den falschen Vorzeichen. Kritik und Provokation sind dabei die Mittel, welche antideutsch beeinflusste Gruppen in der Auseinandersetzung mit ihren politischen Gegnern - hier vor allem den Antiimperialisten - ins Feld führen. Seither geht es bei diesem szeneinternen Konflikt vor allem um die Ausdeutung des Antifaschismus. Zwar bekämpfen beide Seiten die Rechtsextremisten, doch bedingt ein unterschiedlicher Begründungszusammenhang eine verschobene Feindbildkonstruktion. Antiimperialisten argumentieren weitgehend materialistisch, das heißt sie sehen die Wurzeln des Nationalsozialismus (sie sprechen unterschiedslos vom Faschismus) im 1 - Eine geistesund sozialwissenschaftliche Denkschule, die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno begründet wurde und als deren geistiges Zentrum das an der Goethe-Universität Frankfurt am Main angesiedelte Institut für Sozialforschung gilt. Die erste Generation der Frankfurter Schule hat unter anderem einflussreiche Analysen des zeitgenössischen Autoritarismus und Antisemitismus vorgelegt, die stark von der Hegelschen Dialektik, der Marx'schen Ideologiekritik und der Psychoanalyse Sigmund Freuds beeinflusst sind. 146 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Kapitalismus, wodurch nicht nur Rechtsextremisten unter das Feindbild im Antifaschismus fallen, sondern auch Polizisten, "Kapitalisten" oder konservative Kräfte. Die Antideutschen argumentieren dagegen vermehrt auf einer historisch-ideellen Ebene, wodurch sie den Nationalsozialismus als Referenzrahmen heranziehen und auf dieser Grundlage neben Rechtsextremisten auch Islamisten (sie sprechen vom Islamofaschismus) zu ihren Gegnern zählen. Für Sachsen-Anhalt ergibt sich folgende Besonderheit: Die beiden Zentren des gewaltorientierten Linksextremismus, Magdeburg und Halle (Saale), stehen sich ideologisch unversöhnlich gegenüber. Während in Magdeburg ein Großteil der Szene antiimperialistisch aufgestellt ist, gelten Linksextremisten in Halle (Saale) nach wie vor als antideutsch geprägt. Seit einigen Jahren verliert der Konflikt jedoch auch in Sachsen-Anhalt an Bedeutung. Jüngere Generationen im gewaltorientierten Linksextremismus positionieren sich vermehrt unabhängig von einer antiimperialistischen oder antideutsch geprägten Zuschreibung. Anarchisten Anarchisten berufen sich nicht auf ein starres Ideologiegebäude; charakteristisch ist eine Vielzahl an Strömungen, die mehr oder weniger stringent nebeneinander existieren. Während alle Anarchisten die prinzipielle Realisierbarkeit einer herrschaftslosen Ordnung behaupten, vertreten sie unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Stellung des Individuums und der Frage der Gewalt. Zudem unterscheiden sich anarchistische Gruppierungen in ihrem Organisationsgrad. Zu differenzieren ist zwischen einem individualistischen und einem kollektivistischen sowie zwischen pazifistischem und aufständischem Anarchismus. Dabei konnte einzig der gewerkschaftlich organisierte Anarchismus, der bis heute als Anarchosyndikalismus existiert, eine gewisse gesellschaftspolitische Stringenz entwickeln. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 147 Linksextremismus Bei aller Heterogenität werden gewaltorientierte Linksextremisten auf den immer gleichen Aktionsfeldern aktiv. Auf der Grundlage des Antikapitalismus als genuines Thema leiten sich für Linksextremisten weitere Aktionsfelder ab - allen voran das Gebiet des "Antifaschismus" und das der "Antirepression". Grund der Beobachtung Da gewaltorientierte Linksextremisten die Prinzipien Freiheit und Gleichheit verabsolutieren, betrachten sie jede Form staatlicher Herrschaft als illegitim, so auch den demokratischen Rechtsstaat. Missstände in der Demokratie sollen nicht gelöst, sondern mitsamt der freiheitlichen Verfassungsordnung abgeschafft werden. Unabhängig von den divergierenden Zielen sehen alle Akteure und Gruppen dieser Szene Gewalt als ein legitimes Mittel an. Diese politisch bestimmten Verhaltensweisen - insbesondere das Ablehnen des staatlichen Gewaltmonopols bei gleichzeitigem Befürworten von Gewalt, um die eigenen politischen Ziele durchzusetzen - sind mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die gewaltorientierte linksextremistische Szene verfügt in Sachsen-Anhalt lediglich in Magdeburg über weitgehend feste Strukturen. Im übrigen Land ist die Szene eher locker organisiert. 148 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Vor allem folgende Gruppierungen waren im Berichtsjahr aktiv: "Zusammen Kämpfen" (ZK) ZK ist eine antiimperialistische Gruppe aus Magdeburg, die sich seit 2008 als "Teil der weltweit kämpfenden revolutionären Linken" versteht. Im Sinne eines orthodoxen Verständnisses vom Kommunismus fußen die ideologischen Grundlagen von ZK vor allem auf den Schriften von Marx und Lenin. Dementsprechend sieht sich ZK als Teil eines Versuchs der "Selbstorganisation unserer Klasse zur Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung weltweit", wie es in der Selbstdarstellung heißt. Tatsächlich gehörte ZK zu einem Netzwerk antiimperialistischer Gruppen, die sich 2010/2011 in Berlin, Stuttgart und Magdeburg zusammenfanden. Von dieser Gruppendynamik ist im Laufe der Jahre allerdings nicht viel übriggeblieben. ZK agiert heute weitgehend isoliert und engagiert sich vornehmlich in dem linksextremistischen Szeneobjekt "F52". Kontakte pflegt die Gruppe darüber hinaus zum Netzwerk "Freiheit für alle politischen Gefangenen", zu dem antikapitalistischen Bündnis "Nicht auf unserem Rücken" sowie zu der antisemitischen Kampagne "Boycott, Divestment and Sanctions" (BDS). Im Internet tritt ZK mit einer eigenen Homepage in Erscheinung. Indirekt beteiligt ist die Gruppe jedoch auch an dem Nachrichtenportal "Megaphon" sowie am "Redmedia Kollektiv" - dem multimedialen Arm der antiimperialistischen Szene Magdeburgs. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 149 Linksextremismus "Roter Aufbau Burg" (RAB) Bei dem RAB handelt es sich um eine kommunistische Gruppe aus Burg (Jerichower Land). Bis zum Ende des Jahres 2017 agierte diese noch unter dem Namen "Antifaschistische Aktion Burg", war aber bereits zu dieser Zeit marxistisch geprägt. Nachdem sich die Gruppe an den Protesten des "Roten Aufbau Hamburg" gegen den G20-Gipfel im Jahr 2017 beteiligt hatte, trat sie anschließend ebenfalls unter dem Label des "Roten Aufbau" auf. Zusammen mit den gleichnamigen Gruppen in Hamburg und im Rhein-Ruhr-Gebiet hat es sich der RAB zur Aufgabe gemacht, "linke revolutionäre Politik einer breiten Masse zugänglich zu machen". Die Gruppe betreibt das Szeneobjekt "Rotes Zentrum" in Burg, ist aber vor allem in Magdeburg auf den Aktionsfeldern des Antikapitalismus und des Antifaschismus aktiv. "Magdeburg Straight Edge" (MDSxE) Angelehnt an die Straight-Edge Bewegung aus der Musikszene des Hardcore-Punk tritt seit 2021 MDSxE als ein Zusammenschluss "junger Antifaschisten" auf, die ein drogenfreies Leben propagieren. Die Anhänger stammen zum Teil aus dem Umfeld des 2019 aufgelösten "Jugendwiderstandes" bzw. aus der Hardcore-Musikszene. Ideologisch sind sie dem dogmatischen und autoritären Spektrum im Linksextremismus zuzurechnen und organisieren in Magdeburg etwa alljährliche prosowjetische Gedenkveranstaltungen zum 8. Mai anlässlich des Jahrestages zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Überregionale Kontakte unterhält die Gruppe zu einem weiteren Ableger in Berlin sowie zu Linksextremisten aus Stuttgart. 150 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus "Offenes Antifaschistisches Treffen Magdeburg und Umgebung" (OAT) Das OAT versteht sich als eine Anlaufstelle für "klassenbewussten Antifaschismus" und ist damit dem kommunistischen Spektrum im Linksextremismus zuzuordnen. Vor diesem Hintergrund zeigen sich Verbindungen zum RAB, aber auch zu anderen kommunistischen und antiimperialistischen Gruppen. Das OAT möchte vor allem neue Akteure für die linksextremistische Szene Magdeburgs gewinnen und Aktionen auf dem Feld des Antifaschismus vorantreiben. Es lädt regelmäßig zu Vortragsund Diskussionsabenden in den "Infoladen-Stadtfeld" ein. 2022 organisierte das OAT die Kampagne "Fight NSP", die sich gegen die neonazistische "Neue Stärke Partei" (NSP) richtete. "Antifaschistische Aktion Salzwedel" (AAS) Die AAS agiert seit 2009 in der Hansestadt Salzwedel (Altmarkkreis Salzwedel) als ein loser Zusammenschluss von stetig wechselnden Einzelpersonen. In ihrem theorieund hierarchieVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 151 Linksextremismus feindlichen Auftreten entspricht die AAS dem Selbstverständnis der autonomen Szene. Sich selbst bezeichnen die Protagonisten schlichtweg als "linksradikale Gruppe". Mit dem "Autonomen Zentrum Kim Hubert" verfügt die AAS über ein eigenes Szeneobjekt, das sie als organisatorisches Zentrum für ihre Aktionen nutzt. Anlassbezogen kooperiert die AAS mit Linksextremisten aus dem Wendland (Niedersachsen), schafft es seit der Corona-Pandemie jedoch kaum noch, genügend Anhänger zu mobilisieren. "Offenes Antifaplenum" (OAP) Das OAP ist ein loser Zusammenschluss und Anlaufpunkt für alle "antifaschistisch interessierten Menschen" innerhalb der linksextremistischen Szene von Halle (Saale). Dabei vertritt das OAP einen dezidiert antideutsch beeinflussten Ansatz, programmatischer Kern ist die Solidarität mit dem Staat Israel, der als "Garant jüdischer Selbstbestimmung in einer antisemitischen Welt, als Konsequenz aus den deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus", betrachtet wird. Charakteristisch für die antideutsche Ausrichtung ist, dass sich die antifaschistische Agenda nicht nur gegen den politischen Gegner auf der rechtsextremistischen Seite, sondern auch gegen Vertreter des "politischen Islam" richtet. Das OAP lehnt nicht nur den Antiimperialismus und eine - wie es daran anschließend heißt - verkürzte Kapitalismuskritik ab. Vielmehr kritisiert es auch die identitätspolitischen Einflüsse und den damit einhergehenden Partikularismus innerhalb der linksextremistischen Szene. Im Berichtsjahr fand dies ihren Ausdruck in einem Konflikt zwischen dem OAP und queerfeministischen Akteuren, der zu einer nachhaltigen Spaltung innerhalb der linksextremistischen Szene von Halle (Saale) führte. Der Treffpunkt des OAP ist das hallesche Szeneobjekt "Reil 78". 152 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus "Freie Arbeiter*innen-Union" (FAU) Die 1977 gegründete FAU versteht sich als ein Verbund anarchistisch organisierter Gewerkschaften und beruft sich hierbei auf den Anarchosyndikalismus. Mit diesem strebt die FAU die Abschaffung jeglicher Herrschaft von Menschen über den Menschen an. Regierungen, Parlamente oder Gesetze werden dementsprechend als Instrumente zur Unterdrückung der natürlichen Freiheit wahrgenommen. Die Aktivitäten der FAU sind daher vor allem gegen den Staat als Herrschaftsapparat gerichtet. In der Frage der Gewalt laviert die FAU zwischen einer mittelbaren Gewerkschaftsarbeit einerseits und dem Aufbau revolutionärer Gewerkschaftsund Betriebsgruppen andererseits. Ziel bleibt das unmittelbare Überwinden der bestehenden staatlichen Ordnung. Dementsprechend kooperiert die FAU auch mit gewaltorientierten Linksextremisten. Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich die FAU mehr als deutlich von den etablierten Gewerkschaften. In Sachsen-Anhalt existieren Ortsgruppen in Magdeburg und Halle (Saale). "Interventionistische Linke" - Ortsgruppe Halle (IL) In Halle (Saale) ist ein Ableger des postautonomen Zusammenschlusses "Interventionistische Linke" (IL) aktiv. Im Rahmen ihrer Scharnierfunktion kooperiert die IL mit verschiedenen Bündnissen, sowohl mit Linksextremisten aus dem gewaltorientierten und dem legalistischen Spektrum als auch mit Gruppierungen aus dem nichtextremistischen Bereich. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte sind die Aktionsfelder Antifaschismus und AntikapitaVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 153 Linksextremismus lismus; verknüpft wird dies mit Aktionen in den Bereichen der Klimaoder Gesundheitspolitik. Bewusst verzichtet die IL im Rahmen ihrer strategischen Bündnisarbeit auf eine marxistische Diktion. Ihr primäres Ziel bleibt jedoch die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus. "Offensive Jugend Dessau" (OJD) Nachdem jahrelang keine festen Strukturen in der linksextremistischen Szene von Dessau-Roßlau festzustellen waren, entfaltet seit dem Jahr 2021 die neue Gruppierung "Offensive Jugend Dessau" vermehrt linksextremistische Aktivitäten. Die zumeist noch sehr jungen Anhänger berufen sich auf einen dogmatischen Marxismus-Leninismus und agieren daher vornehmlich im antiimperialistischen Spektrum. Vor diesem Hintergrund konnte die Gruppe, die sich bereits an Veranstaltungen in Magdeburg, Leipzig und Berlin beteiligte, überregionale Kontakte innerhalb des antiimperialistischen Spektrums aufbauen. Darüber hinaus bestehen Verbindungen zu Gruppen des türkischen Linksextremismus der MLKP (Marksist Leninist Komünist Parti, türkisch für Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei) bzw. zu deren Jugendorganisation "Young Struggle". Aktionsschwerpunkte Gewaltorientierte Linksextremisten streben danach, die demokratische Staatsund Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Die Grundlage hierfür ist der Glaube an die prinzipielle Realisierbarkeit einer gesellschaftlichen Utopie der Freien und Gleichen. 154 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Der Kapitalismus wird dabei als Ursache für alle Missstände und Verwerfungen herangezogen, die einer solchen Utopie entgegenstehen. Die Frage, was im Einzelnen unter Kapitalismus zu verstehen ist und wie dieser bekämpft werden soll, beantworten linksextremistische Akteure jedoch ganz unterschiedlich. Nicht nur vor diesem Hintergrund weichen Linksextremisten auf weitere Themengebiete aus. An erster Stelle stehen dabei der Antifaschismus und das Themenfeld der Antirepression. Allerdings sind die jeweiligen Aktionsschwerpunkte der linksextremistischen Szene immer auch Ausdruck der aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen. So griffen Linksextremisten aufgrund des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Berichtszeitraum vermehrt Fragen des Antimilitarismus auf. Antikapitalismus Linksextremisten verstehen den Kapitalismus nicht nur als Wirtschaftsordnung, sondern immer auch als eine Herrschaftsform. Kapitalismus und demokratischer Verfassungsstaat werden dabei gleichgesetzt, sodass aus linksextremistischer Sicht beide zu bekämpfen sind. Die jeweiligen Strategien und bevorzugten Handlungsfelder linksextremistischer Akteure variieren je nachdem, was genau ein Akteur unter dem kapitalistischen System versteht und welche konkrete Utopie er diesem entgegensetzt. Vor allem Akteure aus dem antiimperialistischen Spektrum bedienen einen dogmatischen Marxismus, mit dem sie alle gesellschaftlichen Konflikte als Auswuchs eines allumfassenden "Klassenkampfes" deuten. Vor diesem ideologischen Hintergrund beteiligten sich Linksextremisten aus dem Umfeld von ZK am 3. Januar 2022 erstmalig an einem "Spaziergang" gegen Corona-Schutzmaßnahmen in Magdeburg. Unter dem Titel "Corona ist das Virus, Kapitalismus ist die Krise! Impfpflicht? Nicht in diesem System!" versuchten sie, Teile der Protestbewegung für eine antikapitalistische Agenda zu gewinnen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 155 Linksextremismus Zugleich wollten sie damit ein Gegengewicht zu Akteuren schaffen, die sie als Teil der politischen Rechten identifizierten. Diese, so der Vorwurf von ZK, würden Protestveranstaltungen dazu nutzen, die Ursachen der Krise zu verschleiern, um die Folgen "auf dem Rücken der ArbeiterInnenklasse abzuwälzen", wie es im klassisch marxistischen Duktus hieß. In der linksextremistischen Szene stieß die Aktion von ZK überwiegend auf Ablehnung. So wurde der Vorwurf erhoben, ZK biedere sich einer Querfront mit Akteuren der politischen Rechten an, da sich auch "Querdenker" und Rechtsextremisten der NSP an der besagten Protestkundgebung beteiligt hatten. Zwar verstand ZK die Beteiligung an der Versammlung ausdrücklich als einen Akt von "AntifaschistInnen", hierbei handelt es sich jedoch um einen Antifaschismus aus Sicht des dogmatischen Marxismus-Leninismus, der als Fortführung des Antikapitalismus zu deuten ist. Vor diesem ideologischen Hintergrund ist die Beteiligung von ZK an den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zwar ideologisch stringent, jedoch außerhalb des antiimperialistischen Spektrums nicht vermittelbar. Gleichwohl ist die Kritik an der Corona-Politik aus einer antikapitalistischen Sicht kein Alleinstellungsmerkmal antiimperialistischer Gruppen. Das OAP bemühte zum Beispiel ideologiekritische Akzente und führte am 20. Februar 2022 in Halle (Saale) eine Demonstration unter dem Slogan "Lets talk about Covid!" durch. Unter dem gleichnamigen Banner mit der zusätzlichen 156 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Aufschrift "Kapitalismus heißt Krise" versuchten die Autonomen eine Kritik auf die Straße zu tragen, die sich auch gegen Teile der politischen Linken richtete. Diesen wurde "eine überobligatorische Erfüllung der staatlichen Maßnahmen" vorgeworfen. Stattdessen forderte das OAP das Abschaffen "der schikanösen 2G Zugangsregelungen" und dass "die Corona-Krise nicht auf dem Rücken der vereinzelten Individuen ausgetragen wird." Anders als der linksextremistischen Szene in Magdeburg, deren Protestaktionen dezidiert klassenkämpferisch ausgerichtet waren, ging es dem OAP mit seiner antikapitalistischen Kritik demnach mehrheitlich um Aspekte individueller Freiheitsrechte. Nicht nur hier zeigten sich die ideologischen Differenzen in der Genese des linksextremistischen Antikapitalismus. Vor allem anlässlich des 1. Mai (dem "Tag der Arbeit") kamen diese Unterschiede vollends zum Tragen. Die linksextremistische Szene in Magdeburg organisierte sich in einem "1. Mai-Bündnis" und rief zu einem "revolutionären Arbeiterkampftag" auf. Gespickt mit einer Vielzahl marxistischer Allgemeinplätze prangerte das Bündnis in seinem Aufruf die Lebensbedingungen der "Arbeiterklasse" und die Gewinne von Großkonzernen an, die von der Corona-Krise und von der Aufrüstung in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg profitiert hätten. Vor diesem Hintergrund sollten die Betroffenen "Solidarität untereinander entwickeln und Klassenkämpfe entfalten. Die Herrschenden werden uns nichts schenken, sondern nur als vereinte kämpfende Klasse können wir uns von Ausbeutung und Unterdrückung befreien." Das Bündnis fordert daher nicht weniger als die "kommunistische Weltkommune". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 157 Linksextremismus In Abkehr von diesen Traditionsbeständen des Marxismus-Leninismus initiierte das OAP einen "Tag gegen die Arbeit" und rief verschiedene Akteure dazu auf, mit eigenen Redebeiträgen neue "Perspektiven auf etwas Besseres als das Bestehende zu eröffnen". Bei der Kundgebung war das OAP darum bemüht, eine grundlegende Kritik an der Warenund Wertform in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu üben, die es mit dem postmarxistischen Ansatz der "Wertkritik"2 theoretisch begründete. Wenngleich dabei die ideologischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus in Frage gestellt wurden, ging damit keineswegs eine demokratische Kapitalismuskritik einher. So heißt es in dem Redebeitrag des OAP: "Die Politik hat [...] eine stabilisierende Funktion auf das Warensystem, unabhängig wie rot die Fahnen vor ihren Institutionen wehen. Der Kampf gegen die Arbeit darf sich daher nicht auf das bestehende demokratische politische System verlassen, sondern muss dezidiert antipolitisch sein." Die ideologischen Begründungszusammenhänge bedingten auch die unterschiedlichen Verläufe der Veranstaltungen zum 1. Mai 2022. In Magdeburg kamen knapp 150 Personen zusammen, die mit einem Marsch durch ihr angestammtes Stadtviertel und unter Einsatz von Vermummung und Pyrotechnik ein revolutionäres Moment zu initiieren versuchten. Dagegen führte in Halle (Saale) das OAP lediglich eine ortsgebundene Versammlung mit 160 Teilnehmern durch. Das revolutionäre Moment erschöpfte sich schließlich in dem Verlesen von Redebeiträgen. 2 - Die "Wertkritik" wurde Ende der 1990er Jahre von der Gruppe "krisis" popularisiert. Mit dem 1999 veröffentlichten Essay "Manifest gegen die Arbeit" wandte sich "krisis" vor allem gegen die ideologischen Voraussetzungen der Arbeit als gesellschaftliche Wirklichkeit und kritisierte damit auch essentielle Grundlagen des Marxismus-Leninismus. 158 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Bereits am 30. April 2022 veranstaltete die OJD in Dessau-Roßlau unter der Losung "Jugend, Zukunft, Sozialismus" eine 1. MaiVorabenddemonstration. In ihrem Aufruf beschwor die Gruppe den marxistischen Allgemeinplatz von der permanenten Krise des Kapitalismus, um sogleich auszurufen: "Die Jugend wird sich nicht weiter unterdrücken lassen! Gegen Krieg und Kapitalismus! Für den Klassenkampf! Für den Sozialismus!" Aufgrund der Anreisen von Gruppen und Einzelpersonen aus Magdeburg und Leipzig (Sachsen) beteiligten sich letztlich 80 Personen an der Demonstration. Dementsprechend verbuchte die OJD ihre Veranstaltung in einem Resümee als Erfolg: "Mit unseren Forderungen und unserem Auftreten stellte diese Demonstration die erste klassenkämpferische Demonstration in Dessau seit Jahren dar. [...] Wir sind durch diesen Erfolg wieder einmal bestärkt worden, linke Politik in Dessau zu verankern und eine Organisation zu schaffen, welche noch Jahre weiter die Stadt prägen wird." Vor diesem Hintergrund kann die OJD als etablierter Bestandteil der linksextremistischen Szene im Allgemeinen und des antiimperialistischen Spektrums im Besonderen gesehen werden. Antifaschismus Neben der Kritik am Kapitalismus ist der Kampf gegen den "Faschismus" der zentrale Aktionsschwerpunkt im gewaltorientierten Linksextremismus. Dabei ist es für Linksextremisten zunächst unerheblich, ob es sich bei dem politischen Gegner tatVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 159 Linksextremismus sächlich um Rechtsextremisten handelt. Wer unter das Feindbild des Antifaschismus fällt, bestimmt die Szene eigenmächtig. Vor allem seit der Corona-Pandemie dehnten Linksextremisten den Kreis der Personen, die Ziel von gewaltorientierten Aktionen werden können, aus. So eskalierte die Auseinandersetzung zwischen Autonomen aus Halle (Saale) und der "Bewegung Halle", nachdem sogenannte Demonstrationsbeobachter aus dem Umfeld "antifaschistischer Rechercheteams" am Rande einer Demonstration der "Bewegung Halle" am 17. Januar 2022 von gewaltorientierten Teilnehmern verjagt worden waren. Den Übergriff auf die Einzelpersonen deklarierten die Autonomen sogleich als essentiellen Angriff auf das gesamte antifaschistische Spektrum. So heißt es in einem Beitrag auf der linksextremistischen Plattform "de.indymedia": "Trotz einer Blockade an der sich mindestens 60 Antifaschist_innen beteiligten und einer Gruppe Menschen, die im Norden der Stadt ihre Wut über den Mob der "Bewegung Halle" auf die Straße brachten, können wir diesen Tag nicht als Erfolg werten. Warum? Weil dieser Tag von Angriffen auf Presse, Demobeobachtung und Gegenprotest gekennzeichnet war." Vor diesem Hintergrund griffen Linksextremisten noch in derselben Nacht Akteure an, die sie der "Bewegung Halle" zurechneten. So beschmierten sie eine Druckerei großflächig mit schwarzer Farbe und sprühten an die Behandlungsräume einer Arztpraxis die Drohung "[Name der Person] du Antisemit Wir Jagen dich". Unter der Überschrift "Querdenker*innen und Nazis angreifen!" wurden die Taten in einem Selbstbezichtigungsschreiben auf "de.indymedia" als eine unmittelbare Reaktion auf die Vorfälle vom 17. Januar 2022 erklärt; zugleich wurde eine weitere Drohung ausgesprochen: "Wer mit solchen Leuten demonstriert, muss mit entsprechenden Konsequenzen rechnen - in Halle und überall!" In den Abendstunden des 18. Januar 2022 160 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus zog daraufhin eine Gruppe von Autonomen randalierend durch das Stadtgebiet von Halle (Saale). Dabei zündeten sie Pyrotechnik und warfen die Schaufensterscheiben einer Filiale der Sparkasse sowie eines Bekleidungsgeschäftes ein. Hierzu heißt es auf "de.indymedia": "Ein Angriff auf Einen von uns ist ein Angriff auf uns alle und unsere Gegenwehr ist notwendige Selbstverteidigung. Die Bullen sind entweder nicht willig oder nicht fähig uns zu schützen. Wir werden uns nicht einschüchtern lassen und wir werden uns die Straße nicht nehmen lassen!" Vor diesem Hintergrund zeigt sich der Antifaschismus im Linksextremismus als gewichtiger Ankerpunkt für eine mittelbare Gewaltorientierung. So häufen sich in Halle (Saale) seither klandestine Farbund Brandanschläge auf Häuser und Fahrzeuge von Personen, welche die dortige linksextremistische Szene unter dem Blickwinkel des "Antifaschismus" als politische Gegner wahrnimmt. Im Fokus standen etwa studentische Verbindungen in der Stadt: In unregelmäßigen Abständen kam es zu Farbangriffen auf diverse Häuser von Burschenschaften; in Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 161 Linksextremismus einem Fall setzten die Angreifer einen auf dem Grundstück der Verbindung abgestellten PKW in Brand. Darüber hinaus setzten gewaltorientierte Linksextremisten ihre Angriffe auf Anhänger der "Bewegung Halle" fort. So zündeten sie am 14. Juli sowie am 11. und 30. September 2022 die Fahrzeuge von Personen an, von denen die Angreifer vermuteten, dass sie sich in dieser Gruppierung engagieren oder mit ihr sympathisieren. Am 28. Oktober 2022 wurde das private Wohnhaus eines (vermeintlichen) Anhängers der "Bewegung Halle" mit Farbe besprüht; an einem dazugehörigen Eiscafe wurden die Fensterscheiben eingeworfen und im Inneren des Cafes wurde Buttersäure verteilt. Diesem Angriff folgte ein "Outing" auf der linksextremistischen Plattform "de.indymedia". In der dort veröffentlichten Erklärung wird der Geschädigte als lokaler AfD-Politiker, als Teilnehmer der von der "Bewegung Halle" organisierten Demonstrationen sowie als logistischer Unterstützer des Rechtsextremisten Sven LIEBICH bezeichnet. In jüngerer Zeit ist zu beobachten, dass Akteure unterschiedlicher Spektren der linksextremistischen Szene sich grundsätzlich darum bemühen, ideologische Differenzen unter dem gemeinsamen Banner des "Antifaschismus" vorübergehend einzuebnen. Wo ein gemeinsamer politischer Feind ausgemacht ist, schafft dies einen kleinsten gemeinsamen Nenner, unter dem sich Kommunisten und Anarchisten, Parteifunktionäre wie Autonome zusammenfinden. Ein solcher Aktionskonsens wurde für die Versammlungen am 21. und 22. Januar 2022 anlässlich des 77. Jahrestages der Bombardierung der Stadt Magdeburg im Zweiten Weltkrieg gesucht. Das Ziel der linksextremistischen Szene war es, eine maßgeblich von der NSP organisierte Gedenkveranstaltung3 zu verhindern. Zu diesem Zweck hatte ein Zusammenschluss "antifaschistischer Gruppen" bereits im Oktober 2021 zu einer Vorabenddemonstration am 21. Januar 2022 aufgerufen. Unter der Parole "Antifa bleibt unverzagt! Geschlossen gegen Nazis und Repression!" forderten die Organisato- 3 - Siehe hierzu Seiten 47 und 64. 162 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus ren, die sich zu einem "militanten Antifaschismus" bekannten, die Solidarität mit allen von "Repression" betroffenen Gruppen ein. Dementsprechend wurde im Vorfeld ein Mobilisierungsvideo veröffentlicht, auf dem unter anderem Angriffe auf die Wohnräume und Kraftfahrzeuge von Mitgliedern der NSP zu sehen sind. In Abgrenzung von diesem Aufruf des autonomen Spektrums veröffentlichten Akteure aus dem antiimperialistischen Spektrum ihrerseits eine Erklärung, mit der sie zur Mobilisierung eines gegen die geplante NSP-Kundgebung gerichteten "Klassenkampfblocks" aufrief: "Uns vom 'Klassenkämpferischen Antifablock' ist klar, dass ein konsequenter Antifaschismus sich nicht nur gegen die faschistischen Strukturen richten kann, sondern sich gleichzeitig gegen das kapitalistische System und seinen Institutionen richten muss, wenn es nicht beim bloßen Kampf gegen Windmühlen bleiben soll." Dementsprechend geteilt verlief schließlich auch die Vorabenddemonstration. Während sich im vorderen Teil des Aufzuges Linksextremisten aus dem autonomen und anarchistischen Spektrum hinter dem Banner "Geschlossen gegen Nazis und Repression" sammelten, formierte sich im hinteren Teil der "Klassenkampfblock" mit Gruppen wie ZK, RAB, MDSxE oder OAT. Aus dem Aufzug heraus wurde Pyrotechnik abgebrannt und in Richtung der eingesetzten Polizeibeamten geworfen, sodass es gegen Ende der Demonstration zu Auseinandersetzungen kam. Linksextremisten nutzten die Anonymität der Demonstrationsblöcke, um die Hauswand eines Mitglieds der NSP mit Farbbeuteln zu bewerfen. Insgesamt konnte mit über 500 Personen die bisher größte Zahl an Teilnehmern bei einer linksextremisVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 163 Linksextremismus tischen Vorabenddemonstration gegen rechtsextremistische "Trauermärsche" im Zusammenhang mit dem Jahrestag der Bombardierung Magdeburgs mobilisiert werden. Trotz dieses Mobilisierungserfolgs war zu erkennen, dass Teile der linksextremistischen Szene in Magdeburg selbst im Aktionsfeld des Antifaschismus nicht länger miteinander kooperieren. Darauf deutet zumindest eine Kampagne gegen die NSMD - die regionale Abteilung der NSP4 - hin, die das OAT unter dem Titel "Fight NSP" am 18. Juni 2022 mit einer Auftaktkundgebung in Magdeburg startete. Das primäre Ziel der Veranstaltung war es, eine von der NSP für den 3. September 2022 angekündigte Demonstration5 in Magdeburg zu verhindern. Dazu organisierte das OAT ein Aktionswochenende mit einer "antifaschistischen Vorabenddemo" für den 2. September 2022 und einem dezentralen Aktionstag für den Tag der NSP-Demonstration. Die Kampagne als solche umfasste vorwiegend wiederkehrende Kundgebungen und Informationsveranstaltungen im gesamten Magdeburger Stadtgebiet, die jedoch keinerlei Außenwirkung entfalten konnten. Darüber hinaus erfolgten überregionale Mobilisierungsveranstaltungen für das Aktionswochenende in Hamburg, Bremen und Leipzig (Sachsen). Dabei war jedoch schnell zu erkennen, dass sich die Mobilisierung weitestgehend auf das Umfeld des antiimperialistischen Spektrums beschränkte. Autonome Gruppen wurden dagegen kaum von dem dogmatischen Einschlag der Kampagne angesprochen. Dementsprechend eng war der Kreis der Teilnehmer der "antifaschistischen Vorabenddemo": Zwar reisten hierzu Gruppen aus Mainz (Rheinland-Pfalz), Braunschweig (Niedersachsen), Hamburg und Bremen an; letztlich waren jedoch nur 150 Personen bei der Vorabenddemonstration und weitere 200 Personen am Tag der NSP-Demonstration am 3. September 2022 zu verzeichnen. 4 - Siehe dazu auch Seite 45. 5 - Siehe dazu auch Seite 48. 164 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Aufgrund dessen war die linksextremistische Szene nicht in der Lage, den Aufzug der NSP mit gezielten Blockaden zu stoppen, sodass die Rechtsextremisten ihren Aufmarsch ungehindert durchführen konnten. Angesichts der vergleichsweise intensiv geführten Mobilisierung ist die Kampagne insgesamt gescheitert. Das mussten sich auch die Organisatoren des OAT eingestehen. In einem im Oktober 2022 veröffentlichen Intervierw mit der Onlinezeitung "Perspektive" spekulierten sie über die Gründe: "Sowohl die Vorabenddemo als auch der Tag des Naziaufmarsches werfen Fragen und Probleme auf, mit denen wir umgehen müssen. Die antifaschistische Beteiligung an diesem Wochenende hätte durchaus stärker ausfallen können, allerdings boykottierten bestimmte Gruppen wahrscheinlich bewusst unsere Veranstaltung, was für uns eine klare Absage gegenüber des antifaschistischen Kampfes ist." Tatsächlich setzte sich der Kreis der Teilnehmer ausschließlich aus Gruppen des dogmatisch-marxistischen bzw. antiimperialistischen Spektrums zusammen. Hier kann mittlerweile von einem Netzwerk dogmatisch-marxistischer, mithin "roter Jugendgruppen" gesprochen werden, die sich in den letzten Jahren in vielen deutschen Städten gegründet haben. Allerdings bleibt eben dieses Netzwerk aufgrund des sehr dogmatischen Einschlags und des damit einhergehenden Autoritarismus weitgehend unter sich. Dies ist umso bemerkenswerter, da für gewöhnlich auch die größten ideologischen Divergenzen für eine Kooperation im Aktionsfeld des Antifaschismus auf der Grundlage eines gemeinsamen Feindbildes überwunden werden. Dass dies während der "Fight NSP"-Kampagne nicht geschah, obwohl auch autonome und klassisch antifaschistische Gruppen die NSP in den Fokus nahmen, zeugt von einer zunehmenden Spaltung der linksextremistischen Szene - hier vor allem in Magdeburg. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 165 Linksextremismus Antirepression Der Kampf gegen eine vermeintliche Unterdrückung durch staatliche Institutionen ist eines der entscheidenden Aktionsfelder gewaltorientierter Linksextremisten und ihres Unterstützerfeldes. Die linksextremistische Szene sieht den Staat als ein "Repressionsinstrument" der Herrschenden zur Verhinderung eines revolutionären Prozesses. Rechtsstaatliche Maßnahmen, insbesondere der Justizund Polizeibehörden, seien daher "Repression" und somit nichts anderes als ein Akt der Herrschaftssicherung des Kapitals. Vor diesem Hintergrund organisiert sich die Szene in regionalen und überregionalen "Solidaritätsnetzwerken". Die wichtigste und größte Organisation ist dabei die "Rote Hilfe". Im Rahmen der "Antirepression" werden linksextremistische Straftäter vollumfänglich unterstützt, während entsprechende Gerichtsverfahren als politische Verfahren und inhaftierte Szeneangehörige als "politische Gefangene" deklariert werden. Vor diesem Hintergrund verbindet das Aktionsfeld der "Antirepression" die linksextremistische Szene selbst über ideologische und strategische Gräben hinweg. Zuletzt zeigte sich dies am zweiten Jahrestag der Inhaftierung der Linksextremistin Lina E. aus Leipzig (Sachsen). Ihr und drei weiteren Angeklagten wird zur Last gelegt, eine kriminelle Organisation gemäß SS 129a StGB gegründet zu haben, um systematisch, konspirativ und wiederholt Rechtsextremisten bzw. Personen, die sie für Rechtsextremisten hielten, zu überfallen und ihnen schwerwiegende Verletzungen zugefügt zu haben. Die linksextremistische Szene übt sich hierbei geschlossen in Solidarität mit den Angeklagten. In Magdeburg posierten Linksextremisten mit Pyrotechnik und der aufgemalten Parole "Free Lina" auf dem Dach des "Infoladens" in Magdeburg-Stadtfeld. In dem Begleittext zu dem anschließend auf Instagram veröffentlichten Video heißt es: "Antifaschistischer Selbstschutz ist legitim und bleibt notwendig - weg mit SS 129 a & b! Freiheit für Lina & ihre Mitangeklagten!" Die Taten der Gruppe, bei denen Rechtsextremisten wiederholt mit einem Hammer angegriffen wurden, 166 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus werden hier als Akt des präventiven Selbstschutzes der Szene verteidigt. Auch das OAT nahm den Jahrestag zum Anlass, neben einem stilisierten Hammer den "konsequenten Antifaschismus" einzufordern. Die Szene dürfe sich nicht einschüchtern lassen: "Denn wir sind nicht kriminell, kriminell ist das System!" Andere Aktionen auf dem Feld der Antirepression richteten sich direkt gegen die unmittelbaren Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols: die Polizei. So mobilisierte das OAP für den 16. Dezember 2022 in Halle (Saale) zu einer Demonstration gegen vermeintliche Polizeigewalt und stellte den Aufruf unter den Titel: "Bullen töten und ihr schweigt!". Zu einem Polizeieinsatz in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) vom 8. August 2022, bei dem ein Jugendlicher von der Polizei tödlich verwundet worden war, schrieb das OAP: "Wir wollen nicht schweigend dastehen und vergessen, welche Gefahr von bewaffneten, autoritätsverliebten Menschen in Uniform ausgeht. Kommt daher am 16.12. mit uns in Halle auf die Straße, gegen Polizeigewalt und gegen die Umstände, die sie hervorbringen." Die Demonstration verlief mit 75 Personen zwar störungsfrei, doch war eine durchgehend aggressive Grundstimmung zu verzeichnen. Die Teilnehmer brannten Pyrotechnik ab und riefen Parolen wie: "Hass wie noch nie, All Cops Are Bastards A.C.A.B.", Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 167 Linksextremismus "Bullen, Lügner, Mörder, Schweine", "Deutsche Polizisten, Mörder und Faschisten" oder "Ohne Helm und Knüppel seid ihr nix". Die Redebeiträge kreisten einerseits um Waffenverbotszonen und "Racial profiling", andererseits um eine Kritik der politischen Verhältnisse. Demnach könne einzig eine radikale Kritik die Bedingungen dafür schaffen, "die Gesellschaft von Grund auf zu verändern, schlicht den Kampf um die befreite Gesellschaft zu führen". Auseinandersetzungen über queerfeministische Standpunkte Seit einigen Jahren ist in der linksextremistischen Szene ein Spaltungspotenzial zu erkennen, das mit der Popularisierung der (nichtextremistischen) Ideologie des Queerfeminismus6 entstand. Fragen des Feminismus bzw. Queerfeminismus sind keine linksextremistischen Aktionsfelder per se. Allerdings greifen auch Linksextremisten feministische Forderungen auf, um diese mit einer linksextremistischen Ideologie zu verbinden und damit für sich nutzbar zu machen. Mit der Ausweitung queerfeministischer Theorien auf den Linksextremismus kam es nun zu Auseinandersetzungen, die einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der linksextremistischen Szene hatten und in Zukunft auch weiter haben werden. 6 - Unter dem Queerfeminismus ist eine Strömung zu verstehen, welche die soziale, politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung von eben jenen Personen anstrebt, die sich außerhalb der biologischen Geschlechterdichotomie verorten. Queerfeministische Gruppen beziehen sich dementsprechend nicht allein auf Frauen, sondern sprechen von FLINTA: Frauen, Lesben, Intersexuelle, Nicht-binäre, Transund Agender. Die queerfeministische Strömung versucht, Machtformen einer Gesellschaft auf der Grundlage sexueller Identitäten zu analysieren und diese im Sinne eines intersektionalen Ansatzes auf verschiedenen Ebenen zu durchbrechen. Ankerpunkt sind die Gefühle und die geschlechtlichen Selbstzuschreibungen von Individuen. 168 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Kritik innerhalb der linksextremistischen Szene erfährt das querfeministische Konzept nun aus zwei Richtungen. Marxistische Gruppen kritisieren vor allem die fehlende materialistische Basis und den damit nicht vorhandenen Klassenstandpunkt. Indem der Queerfeminismus auf die individuelle Betroffenheit des Einzelnen abstelle, verschleiere er bestehende Ausbeutungsverhältnisse und übe sich stattdessen in einer schlichten Symptombekämpfung. Ideologiekritische Kreise innerhalb der linksextremistischen Szene versuchen dagegen regressive Tendenzen aufzuzeigen, die aus bestimmten Ansätzen des Queerfeminismus folgen könnten. So würden unter dem Einfluss queerfeministischer Theorien die Errungenschaften des Feminismus als Frauenbewegung gefährdet: Hart erkämpfte Frauenrechte würden aufs Spiel gesetzt; der universalistische Anspruch des Feminismus werde zugunsten eines partikularistischen Betroffenheitsdiskurses veräußert. Vor allem in Halle (Saale) hat der Konflikt zwischen queerfeministischen Akteuren und deren Gegnern mittlerweile zu einer Spaltung der dortigen linksextremistischen Szene und teilweise sogar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen geführt. So wurden im Vorfeld des internationalen Frauentages am 8. März 2022 die Mobilisierungsplakate einer ideologiekritischen Frauengruppe mit den Worten "TERFs boxen!"7 und "TERFs aufs Maul" übermalt. Die ideologiekritischen Gegner des Queerfeminismus antworteten wiederum mit einer Aktion, bei der in der Nacht zum 8. März 2022 im Innenstadtbereich von Halle (Saale) Plakate aufgehängt wurden, die sich mit Parolen wie "Frau-Sein ist kein Gefühl", "Freier boxen" oder "Feminists for Israel"8 gegen ausgewählte Grundsätze des Queerfeminismus richteten. 7 - TERF = Trans-Exclusionary Radical Feminists (transausschließende radikale Feministen). 8 - Eine Anspielung auf den Slogan "Queers for Palestine", der in den antizionistisch geprägten Kreisen des Queerfeminismus verbreitet ist. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 169 Linksextremismus Nachdem es im April 2022 während einer queerfeministischen Demonstration zu weiteren Auseinandersetzungen mit dem ideologiekritischen Spektrum gekommen war, wurde am 10. Mai 2022 an die Außenwände eines Frauenzentrums und eines Büros der Partei "Die Linke" abermals die Drohung "TERFs BOXEN" gesprüht. Daraufhin erklärte das OAP in einer Stellungnahme mit dem Titel "Hass säen und nicht ernten", dass es die Zusammenarbeit mit Teilen der queerfeministisch gepägten Szene beenden werde. Es rief "alle linken Gruppen und Räume in Halle, denen etwas an kritischer Auseinandersetzung und auszuhaltenden Differenzen liegt", dazu auf, die entsprechenden Akteure aus der linksextremistischen Szene auszustoßen. 170 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Dabei ging es längst nicht mehr nur um eine Kritik am Queerfeminismus im Allgemeinen. Vielmehr hatte sich der Konflikt zwischenzeitlich zu einer Auseinandersetzung um den antideutsch aufgeladenen Antifaschismus in Teilen der linksextremistischen Szene von Halle (Saale) entwickelt. Ausgangspunkt hierfür waren zwei Vortragsveranstaltungen, die der (nichtextremistische) "Arbeitskreis Antifaschismus" (AK Antifa)9 bereits im Jahr 2021 9 - Der AK Antifa war der älteste Arbeitskreis im STURA der MartinLuther-Univerität und berief sich bereits wenige Jahre nach seiner Gründung Anfang der 2000er Jahre auf antideutsche Diskursmuster; ohne jedoch selbst extremistisch zu sein. In der Tradition der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno analysierte der Arbeitskreis den Nationalsozialismus vor allem mit Blick auf den Antisemitismus. Vor diesem Hintergrund entfaltete der AK Antifa keine direkten Aktionen gegen klassische Rechtsextremisten, sondern konzipierte zunächst Vorträge, Seminare und andere Diskussionsveranstaltungen. Antifaschismus verstand er damit als Akt der Kritik und Aufklärung, der sich zuvorderst an die politische Linke richtete. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 171 Linksextremismus im Studierendenrat (Stura) der Martin-Luther-Universität (MLU) veranstaltet hatte. Diese Vorträge hatten sich den ideologischen und aktivistischen Hintergründen innerhalb des Queerfeminismus gewidmet und bei dessen Anhängern für Empörung gesorgt. Danach war im November 2021 ein Antrag zur Auflösung des AK Antifa im STURA eingebracht worden. Angesichts der Bedeutung des Antifaschismus für das linksextremistische Milieu ist dieser Schritt bemerkenswert, zeugt er doch von einem tiefgreifenden Spaltungsmoment. In der Folge solidarisierte sich eine Vielzahl von Gruppen und Einzelakteuren, vorwiegend aus dem antideutsch und ideologiekritisch geprägten Spektrum, mit dem AK Antifa. Am 11. Juli 2022 blockierten Unterstützer des AK (darunter Anhänger des OAP) die Einund Ausgänge des Universitätsgebäudes; die herannahenden STURA-Mitglieder wurden von ihnen mit "Nazis Raus!"-Chören vertrieben. Nachdem die STURA-Sitzung wegen der Blockade abgebrochen werden musste, bildeten die Unterstützer einen Demonstrationszug, in dessen Verlauf es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Nachdem am 18. Juli 2022 die Auflösung des AK Antifa endgültig vollzogen worden war, zog eine Gruppe von Autonomen mit Pyrotechnik und antifaschistischen Parolen in Richtung des Universitätsgeländes. Dabei griffen sie eine bei Anhängern der queerfeministischen Strömung beliebte Buchhandlung an und warfen im weiteren Verlauf einen Stein in das Fenster des STURA-Zimmers. In einer Nachbetrachtung heißt es zu den Vorfällen: "Antifaschismus lässt sich nicht verbieten: weder von säuberungswütigen studentischen Sozialdemokraten und Grünen, die sich hier schon mal auf ihre spätere Rolle als Personalchefs, Propagandisten der weiteren Verschärfung von Hartz 4 oder Gazprom-Aktionäre vorbereiten, noch von den knüppelnden Polizisten, die sie zu ihrer Unterstützung rufen. [...] Antifas aus Halle". Die aus dem Konflikt hervorgegangenen Lager sind aufgrund der Auflösung des AK Antifa mittlerweile gefestigt. Teile des 172 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus queerfeministisch geprägten Szenespektrums sprechen bereits von einer "Entflechtung der linken Szene" - einer Prognose, der durchaus zuzustimmen ist. Wo in der Vergangenheit angesichts antifaschistischer Feindbilder ein spektrenübergeifender Konsens hergestellt werden konnte, scheint dieser kleinste gemeinsame Nenner nunmehr aufgekündigt. Es ist daher eine merkliche Abnahme der Szeneaktivität zu verzeichnen. Inwieweit mit der Auflösung des AK Antifa auch ein Rückgang des antideutschen bzw. ideologiekritischen Einflusses in Teilen der linksextremistischen Szene von Halle (Saale) einhergeht, bleibt abzuwarten. Antigentrifizierung Der Begriff "Gentrifizierung" kommt ursprünglich aus der Stadtsoziologie und bezeichnet städtebauliche Aufwertungen und die damit einhergehenden sozialen Umstrukturierungsprozesse, die zu steigenden Mieten und einer Verdrängung der bisherigen Bewohner führen können. Tatsächlich sind die Menschen in den Städten immer häufiger von diesem Prozess betroffen. Linksextremisten greifen die Problemlage auf, um sie zu einem systemischen Konflikt zuzuspitzen. Sie sehen in der Gentrifizierung nicht nur eine unmittelbare Auswirkung des Kapitalismus, sondern zugleich einen existenzbedrohenden Angriff auf ihre reklamierte Autonomie und die damit einhergehende Lebensweise. In eigenen Initiativen versuchen Linksextremisten dementsprechend Druck auf Vermieter auszuüben und damit zugleich auch Unterstützer aus dem zivilgesellschaftlichen Umfeld zu erreichen. Eine solche Strategie war zuletzt in Halle (Saale) zu beobachten. Mit dem Ende des Szeneobjekts "Hasi" im Jahr 2018 war das Aktionsfeld Antigentrifizierung lange Zeit ein Nebenschauplatz der linksextremistischen Szene. Dies änderte sich Anfang des Jahres 2022; seitdem stehen diverse szenenahe Objekte vor einer "Entmietung", wie es im Szenejargon heißt. So kamen am 30. April 2022 unter der Parole "Vermieten verbieten - Wohnen für H(alVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 173 Linksextremismus le)" verschiedene Gruppen, Kampagnen und Initiativen zu einer Demonstration zusammen, um im Rahmen von einer Art Stadtrundgang die von "Entmietung" bedrohten Orte abzuschreiten. Neben der IL-Halle und dem OAP beteiligten sich auch nichtextremistische Akteure an der Demonstration. Im Aktionsfeld "Antigentrifizierung" sind Schnittstellen zwischen linksextremistischen und nichtextremistischen Milieus dort vorhanden, wo Kapitalismuskritik mit dem Protest gegen "Verdrängung" und steigende Mieten einhergeht. Hierbei gilt es zu bedenken, dass nicht jede kapitalismuskritische Kritik an einer "Gentrifizierung" als linksextremistisch zu werten ist. Allerdings greifen Linksextremisten gesellschaftliche Probleme wie die Verdrängung von Menschen mit niedrigen Einkommen aus den Innenstadtbereichen häufig mit dem Ziel auf, auf soziale Konfliktlagen radikalisierend einzuwirken und so auf die von ihnen herbeigesehnte "Systemüberwindung" hinzuarbeiten. Am 13. Mai 2022 kam es zu einer (Schein-)Besetzung des "Schiefen Hauses" in der Breiten Straße 28 in Halle (Saale). Dabei drangen maskierte Personen in das seit Kurzem leerstehende Gebäude ein und zündeten unter dem gehissten Banner der Hausbesetzerszene Pyrotechnik. Auf der linksextremistischen Plattform "de.indymedia" heißt es dazu: "Im Namen aller bedrohten Häuser haben wir die Breite Straße 28 besetzt. [...] Guter Wohnraum ist ein Grundrecht und keine Kapitalanlage! Mietende aller Häuser vereinigt 174 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus euch! Kampf dem Kapitalismus in Halle und überall! Für die befreite Gesellschaft!" In der Nacht zum 23. Dezember 2022 spitzte sich der Konflikt abermals zu: So wurden die PKW und ein Privathaus zweier Immobilienbesitzer aus Halle (Saale) angegriffen. Die Täter zerstachen alle vier Reifen und zerstörten anschließend die Seitenund Heckscheibe des Fahrzeugs, um im Fahrzeuginneren Buttersäure zu verteilen. Auf die Wohnhausfassade des anderen Vermieters sprühten sie die Worte "Jede Räumung hat ihren Preis". Auf "de.indymedia" bekannten sich Linksextremisten in einem Text mit dem Titel "Weihnachtsgrüße für Immobilienhaie" zu der Tat. Die Vorfälle in Halle (Saale) zeigen eindrücklich, wie regionale Konflikte um Gentrifizierung sich unter dem Einfluss der linksextremistischen Szene schrittweise verschärfen und schließlich sogar in gewaltsame Auseinandersetzungen umschlagen können. Umso bedeutender ist die klare Abgrenzung bestehender Mieterinitiativen von linksextremistischen Versuchen der Einflussnahme. Linksextremistische Beeinflussung im Aktionsfeld des Klimaschutzes Auch im Jahr 2022 versuchten Linksextremisten, Teile der Klimaschutzbewegung zu beeinflussen, um den Protest im Sinne einer antikapitalistischen Agenda auf einen systemischen Konflikt hin zuzuspitzen. So beteiligten sich Magdeburger Anarchisten aus dem Umfeld der FAU an den Protestveranstaltungen der nichtextremistischen Gruppierung "Fridays for Future" am 25. März 2022 in Magdeburg. Ideologiegerecht präsentierten sie dabei eine staatenund herrschaftslose Gesellschaft als Lösung für "Klimakrise, Krieg oder Pandemie". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 175 Linksextremismus Daneben waren Anarchisten vor allem im Umfeld von Waldbesetzungen aktiv. Seit 2021 hatten Akteure der anarchistischen Szene versucht, die Besetzung des Losser Forstes "Moni" (eine Kiefernmonokultur) in der Altmark in ihrem Sinne zu beeinflussen. Offizielles Ziel der Besetzung war das Verhindern des Ausbaus der Bundesautobahn A 14. Wenngleich anarchistische Akteure im zweiten Jahr der Besetzung bemüht waren, mit überregionalen Mobilisierungsaufrufen und -veranstaltungen szeneintern für eine Unterstützung ihres Anliegens zu werben, konnte die Besetzung letztlich personell nicht mehr aufrechterhalten werden. Im August 2022 verließen die letzten Personen den Wald und beendeten damit die Besetzung, noch bevor es zur Trassenfällung auf diesem Gebiet kam. Insgesamt lässt sich eine systematische linksextremistische Beeinflussung der Klimaschutzbewegung nicht belegen. So ist ein steuernder Einfluss von Linksextremisten auf die Ausrichtung und Organisation der Klimaschutz-Proteste bisher nicht festzustellen. Gleichwohl muss von einer zunehmenden Erosion zwischen der demokratischen und linksextremistischen Protestbewegung gesprochen werden, wenn dezidiert linksextremistisch beeinflusste Blöcke von den Organisatoren geduldet werden. Nicht nur vor diesem Hintergrund dürfte die Klimaschutzbewegung auch zukünftig im Fokus von Linksextremisten 176 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus stehen; insbesondere im Aktionsfeld des "Antikapitalismus" ergeben sich entsprechende Schnittstellen. Nach Jahren des erfolglosen Protestes steht zu befürchten, dass sich die Grenzen zwischen demokratischem Protest und linksextremistischen Diskursmustern weiter verschieben und damit auch die Protestaktionen radikalere Formen annehmen werden. Die Frage, inwieweit linksextremistische Ideologiefragmente und Akteure die Klimaschutzbewegung beeinflussen, muss von der Verfassungsschutzbehörde deswegen stets aufs Neue analysiert und bewertet werden. Politisch motivierte Kriminalität - links - Die Darstellung des gewaltorientierten Linksextremismus findet in den Daten der politisch motivierten Kriminalität (PMK) - links - eine statistische Größe. Mit insgesamt 314 Straftaten ging die Anzahl der Delikte merklich zurück (2021: 529). Die Gründe hierfür sind nicht zuletzt in dem Spaltungsmoment und der sich daran anschließenden Mobilisierungsschwäche der linksextremistischen Szene in Sachsen-Anhalt zu suchen. Gleichwohl kam es auch im Jahr 2022 zu einschlägigen Strafund Gewaltdelikten, von denen einige prägnante Fälle im Folgenden dargestellt werden. In den frühen Morgenstunden des 7. Januar 2022 entzündeten Unbekannte vor dem Haupteingang des Justizzentrums in Halle (Saale) eine Matratze, die mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen war. In einem Bekennerschreiben auf der linksextremistischen Plattform "de.indymedia.org" heißt es: "In Erinnerung an Oury Jalloh und alle anderen Opfer der Polizei und des Staates. Feuer und Flamme den Repressionsbehörden!" Seit mehreren Jahren greifen Linksextremisten Jallohs Tod in einer Dessauer Polizeizelle auf, um gegen die Polizei und staatliche Herrschaft per se vorzugehen. Dementsprechend verkündeten die Verfasser: "Wir werden nicht aufhören gegen euch zu agitieren, euch anzugreifen und an eurer Abschaffung zu arbeiten." Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 177 Linksextremismus Am 16. Februar 2022 sprühten Unbekannte die Parole "VIVA PALESTINA IHR RASSISTEN" an die Hauswand eines Gebäudes, in dem der Stadtverband Magdeburg der Partei "DIE LINKE" über ein Büro verfügt. Zwei zum Büro gehörende Fenster wurden zudem mit Pflastersteinen eingeworfen. Aufgrund der Botschaft ist davon auszugehen, dass die Täter aus dem antiimperialistischen Spektrum stammen dürften. Darauf deutet auch ein mittlerweile gelöschter Beitrag auf "de.indymedia" hin, dessen Autoren die Tat kritisieren und auf einen internen Szenekonflikt verweisen, mit dem die Tat im Zusammenhang stehe. Derartige Aktionen hätten in Bereichen der "linken Szene Magdeburgs eine krude Tradition und mithin abscheuliche Ausmaße angenommen". Man nenne bewusst keine Namen oder Strukturen, sei sich jedoch gewiss, dass die Betroffenen wüssten, dass sie gemeint seien. Am 23. April 2022 griffen Unbekannte die Geschäfte des (unter Rechtsextremisten beliebten) Modelabels "Thor Steinar" in Magdeburg und Halle (Saale) sowie in Erfurt (Thüringen) und Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) an. Dabei stürmten in Magdeburg drei Vermummte kurz nach der Öffnung den Verkaufsraum, um die dort ausgelegten Bekleidungsstücke mit einer Bitumenmischung aus einem eigens dafür präparierten Feuerlöscher zu besprühen und zusätzlich im Innenraum des Geschäfts Buttersäure zu verschütten. In allen vier Fällen konnten die Täter unerkannt flüchten. Insgesamt kann aufgrund des Angriffsziels und des Tathergangs von einer koordinierten Aktion der linksextremistischen Szene ausgegangen werden. Vor allem im Aktionsfeld des Antifaschismus nutzen Linksextremisten militante Aktionsformen, um die Infrastruktur des politischen Gegners anzugreifen und damit dessen Kosten hochzutreiben. Zu diesen Kosten zählen Linksextremisten neben materiellen Werten auch die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit ihrer politischen Gegner. Dabei ist es aus ihrer Sicht unerheblich, ob es sich bei den angegriffenen Personen um 178 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus genuine oder vermeintliche Rechtsextremisten handelt. Vielmehr können auch solche Personen zum Ziel militanter Antifaschisten werden, die lediglich am Rande oder gar außerhalb der rechtsextremistischen Szene agieren und dieser jedoch zugerechnet werden. In der Nacht zum 26. August 2022 besprühten Unbekannte in Halle (Saale) auf einer Länge von über 100 Metern eine Mauer mit dem Schriftzug "Freiheit für Lina" sowie mit den Botschaften "Samstag nach Urteil alle nach Leipzig", "Free All Antifas" und "9mm für 31".10 Insbesondere die letztgenannte Botschaft stellt eine Morddrohung gegen den Kronzeugen im laufenden Gerichtsverfahren gegen die angeklagte Linksextremistin Lina E. dar. Mit einem auf "de.indymedia" verlinkten Video wurde die Aktion dokumentiert. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die gewaltorientierte linksextremistische Szene in SachsenAnhalt befindet sich in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Selten waren sich linksextremistische Akteure so uneinig darüber, wie eine gemeinsam getragene Strategie entwickelt werden kann. Die internen Auseinandersetzungen deuten auf einen langfristigen Prozess der Neuordnung hin. 10 - Die Kennzahl 31 steht über die linksextremistische Szene hinaus für Verräter und bezieht sich auf SS 31 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG), der Tätern in einem gerichtlichen Verfahren Strafmilderung für verwertbare Aussagen zusichert. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 179 Linksextremismus Dabei hätten die Gegebenheiten für eine gemeinsam getragene Aktionsorientierung aus Sicht der Szene kaum besser sein können: Aus den enormen Steigerungen für Energieund Lebenskosten ergaben sich vielfältige Gelegenheiten für eine umfassende antikapitalistische Agitation. Allerdings ist etwa in Magdeburg der dogmatische Anspruch der linksextremistischen Szene mittlerweile so aufgeweicht, dass einstmals führende Kräfte und Gruppen an Bedeutung verlieren und dadurch Akteure mit divergierenden Grundpositionen um Einfluss konkurrieren. Dieses Moment der Spaltung war in allen Aktionsfeldern zu beobachten, sodass sich bei den jeweiligen Veranstaltungen entweder zwei konkurrierende Veranstaltungen oder Blöcke ausbildeten oder aber Teile der Szene gänzlich abwesend waren. Diese Auseinandersetzungen müssen auch als Ausdruck eines Generationenkonflikts gesehen werden, in dem sich vor allem jüngere Linkextremisten von einem alteingesessenen Szenekonsens lösen. War dieser etwa in Halle (Saale) mehr als ein Jahrzehnt mehrheitlich antideutsch und ideologiekritisch geprägt, so beginnen sich nun identitätspolitisch geprägte Gruppen in Teilen der linksextremistischen Szene durchzusetzen - eine Entwicklung, die in anderen Städten schon sehr viel früher durchlaufen wurde. Vor diesem Hintergrund war in Halle (Saale) eine merkliche Mobilisierungsschwäche des linksextremistischen Spektrums zu verzeichnen. Zugleich kann mit dem Strukturwandel auch ein Niedergang des lokalen linksextremistischen Potenzials einhergehen. So bestehen vor allem in der Hansestadt Salzwedel (Altmarkkreis Salzwedel) zwar noch die einst geschaffenen Organisationsstrukturen der Szene wie das AZ "Kim Hubert"; doch gehen von diesen kaum noch Aktivitäten aus. Während sich hier ältere Akteure der linksextremistischen Szene in das Privatleben zurückziehen, verlassen die jüngeren Linksextremisten den ländlichen Raum. Dementsprechend konnte etwa auch die linksextremistisch be180 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus einflusste Waldbesetzung "Moni"11 in der Altmark keine neuen Akteure gewinnen, sodass die verbliebenen Personen die Besetzung im August 2022 schließlich aufgaben. Für den Norden von Sachsen-Anhalt ist somit eine anhaltende Rekrutierungsschwäche der linksextremistischen Szene zu erwarten. Trotz der beschriebenen Mobilisierungsschwäche besteht die Möglichkeit, dass die Szene aus dieser Entwicklung am Ende gestärkt hervorgehen könnte. Dies betrifft vor allem eine neuerliche Kooperation der linksextremistischen Szene in Magdeburg mit Linksextremisten in Halle (Saale). Wo eine gemeinsame Strategie über Jahrzehnte aufgrund der ideologischen Differenzen zwischen antideutschen und antiimperialistischen Szeneteilen unmöglich erschien, könnten diese Kooperationshindernisse in Zukunft wegfallen. Es bleibt daher abzuwarten, ob etwaige Szenekontakte zwischen Magdeburg und Halle (Saale) in einem neuerlichen Annährungsprozess ausgebaut werden können. 11 - Siehe Seite 176. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 181 Linksextremismus "Rote Hilfe e. V." (RH) Sitz Bundesverband: Göttingen Verbreitung (Niedersachsen) bundesweite Verbreitung Gründung 1975 In Sachsen-Anhalt seit 1996 mit der ersten RHOrtsgruppe in Halle (Saale) existent Struktur Bundesweit existieren 50 Ortsgruppen. Aufbau Die lokalen Gruppen wählen auf Mitgliederversammlungen ihre Abgesandten für die Bundesdelegiertenkonferenz; diese tritt mindestens alle zwei Jahre zusammen. Der Bundesvorstand wird für eine Dauer von zwei Jahren gewählt und organisiert als oberstes Organ der RH deren bundesweite Arbeit. Er tagt mindestens zweimal jährlich, verwaltet die Finanzen des Vereins und gibt dessen Zeitung heraus. In Sachsen-Anhalt existieren Ortsgruppen in Halle (Saale), Magdeburg und Salzwedel (Altmarkkreis Salzwedel). Mitglieder Land: etwa 295 (2021: 290) Anhänger Bund: 13.100 (2021: 12.100) VeröffentliWeb-Angebote: www.rote-hilfe.de chungen Publikationen: "Die Rote Hilfe" (quartalsweise) Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Vertrieb von Büchern, Broschüren, Informationsmaterial. 182 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Kurzportrait / Ziele Die RH ist nach ihrem Selbstverständnis eine "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation" zur Unterstützung von Personen, die nach ihrer Auffassung in der "Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden". Dabei vertritt die RH kein eigenständiges weltanschauliches Programm; sie ist jedoch ein bedeutender Bestandteil der linksextremistischen Szene und wirkt organisationsübergreifend. Die RH stellt die Sicherheitsund Justizbehörden als Teile eines umfassenden Repressionsapparates dar, mit dem der Staat ihm politisch missliebige Personen unterdrückt, kriminalisiert und letztlich wegsperrt. Dadurch spricht sie der Bundesrepublik Deutschland die Eigenschaft als Rechtsstaat ab und sieht in ihr stattdessen ein Willkürregime. Die RH unterstützt Linksextremisten in Ermittlungsund Strafverfahren sowie im Strafvollzug. Erkennt die RH eine Person als "Unterstützungsfall" an, so beteiligt sie sich an Prozessund Anwaltskosten (sowie Strafund Bußgeldern) und vermittelt erforderlichenfalls anwaltliche Unterstützung. Zudem organisiert die RH Kampagnen, die auf die Diskreditierung von Sicherheitsund Justizbehörden zielen. Im Rahmen von Schulungen gibt die RH Szeneangehörigen Handlungsempfehlungen zur Minimierung des Risikos einer Strafverfolgung im Anschluss an begangene Straftaten. Grund der Beobachtung Die RH ist ein zentraler Bestandteil der linksextremistischen Szene und betätigt sich in deren Kampagnenfeld "Antirepression". Sie ist eine organisationsübergreifende Unterstützerin von Straftätern aus den unterschiedlichen Bereichen der linksextremistischen Szene. Die RH betrachtet die Bundesrepublik Deutschland als einen Willkürstaat, von dem eine systematische Verfolgung der politischen Opposition ausgehe. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 183 Linksextremismus In dieser Funktion stabilisiert und motiviert die RH die gewaltorientierte linksextremistische Szene, indem sie das strafrechtliche Abschreckungspotenzial für Linksextremisten verringert. Sie erfüllt damit eine Gewalt unterstützende Funktion. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bei Veranstaltungen der RH (z. B. "Rechtsberatungen", Vorträgen und Sprechstunden) oder Redebeiträgen ihrer Vertreter auf Demonstrationen wird deutlich, dass es lediglich eine kleine Anzahl von Mitgliedern gibt, die tatsächlich in die aktive Vereinsarbeit eingebunden ist. Dem steht eine wesentlich größere Gruppe von passiven Mitgliedern gegenüber. So unterstützt diese Gruppe zwar die Ziele der linksextremistischen Szene im Allgemeinen und jener der RH im Besonderen, doch beschränkt sich diese Unterstützung mittelbar auf die Beitragszahlungen für eine linksextremistische Organisation. 184 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Im Fokus der Arbeit der RH stehen neben der Bearbeitung individueller Unterstützungsfälle vor allem die Beteiligung an szeneund spektrenübergreifenden Veranstaltungen der linksextremistischen Szene, zum Beispiel an der Vorabenddemonstration am 21. Januar 2022 in Magdeburg. Hier beklagte die Ortsgruppe der RH in altbewährter Manier die rechtsstaatliche Duldung von Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene, während sie zugleich den Ordnungsund Sicherheitsbehörden vorwarf, den Gegenprotest zu kriminalisieren. Die Gruppe drohte den Vertretern dieser Behörden, insbesondere den Polizeikräften, unverhohlen, wenn sie "politische und persönliche Konsequenzen für diejenigen" forderte, "die für das Durchsetzen solcher Naziaufmärsche verantwortlich sind". Des Weiteren erklärte die RH sich "mit allen von Repression betroffenen Antifaschist:innen uneingeschränkt solidarisch" und sicherte diesen zu, sie "auch weiterhin mit all unseren Mitteln unterstützen" zu wollen. Ein zentraler Agitationstag für die RH ist in jedem Jahr der 18. März, der sogenannte "Tag der Freiheit für alle politischen Gefangenen".1 Seit 1996 ruft die linksextremistische Szene an diesem Tag alljährlich mit verschiedenen Veranstaltungen zur Solidarisierung mit inhaftierten Linksextremisten auf. So organisierte etwa die Ortsgruppe in Magdeburg eine Kundgebung unter unter dem Motto "Linke Politik Verteidigen! Solidarität ist unsere Ant- 1 - Den Hintergrund für die Wahl dieses Datums bildet die blutige Niederschlagung eines Aufstandes in Berlin am 18. März 1848. Im Zuge der Märzrevolution kam es an diesem Tage in Berlin zu Barrikadenkämpfen zwischen dem preußischen Militär und Demonstranten, überwiegend Handwerker, Arbeiter und Studenten. Es starben 270 Demonstranten ("Märzgefallene"), weitere 1.000 wurden verletzt. Unter den Soldaten gab es etwa 200 Tote und 250 Verletzte. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 185 Linksextremismus wort gegen Kriminalisierung und Repression!" vor dem Gelände des Universitätsklinikums. Dabei unterstrich sie abermals ihre szeneübergreifende Funktion und rief unabhängig von der ideologischen und strategischen Verortung zur Solidarität mit linksextremistischen Gewalttätern auf. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Strukturwandel in der linksextremistischen Szene war in den letzten Jahren auch anhand der Entwicklung der RH zu beobachten: Während bis zum Jahr 2021 ein kontinuierlicher Mitgliederzuwachs zu verzeichnen war, konsolidierte sich im Berichtsjahr die Gesamtzahl auf einem hohen Niveau. Der Generationenwechsel in der linksextremistischen Szene dürfte sich damit auch auf die Entwicklung der RH ausgewirkt haben. 186 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Nichtsdestoweniger bleibt die RH weiterhin einer der wichtigsten Stabilitätsfaktoren für die Szene. Mit ihrer gut vernetzten Struktur und der finanziellen Unterstützung von Strafund Gewalttätern trägt sie zu einer spektrenübergreifenden Konsolidierung bei. Dabei bietet die RH eine Organisationsorientierung für jene Linksextremisten, die gemeinschaftlich aktiv sein wollen, ohne jedoch in die starren Zwänge einer Partei eingebunden zu sein. Entscheidend für den Erfolg der RH ist vor allem ihre ideologische Flexibilität, sodass ihre Unterstützung jedem potenziellen Gewalttäter gilt, solange dieser nur eine linksextremistische Zielsetzung verfolgt. Sie begründet damit einen ideologischen Rahmen, der die Legitimität des demokratischen Verfassungsstaats systematisch infrage stellt und dabei Gewalt als politisches Mittel befürwortet. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 187 Linksextremismus "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Sitz Sitz des Bundesverbandes: Gelsenkirchen Verbreitung (Nordrhein-Westfalen) Bundesweite Verbreitung Sachsen-Anhalt: angegliedert im Landesverband Ost Gründung 1982 In Sachsen-Anhalt seit 1992 mit einzelnen Strukturen existent Struktur Parteivorsitzende: Gabi FECHTNER (NordrheinAufbau Westfalen) Die Partei ist in vier Organisationsebenen gegliedert. Betriebsund Wohngebietsgruppen bilden die erste Ebene der Partei. Die zweite Organisationsebene stellen die Ortsgruppen dar. Danach folgt der Kreisverband. Als letzte Ebene folgen die derzeit sieben Landesverbände. Der Jugendverband "REBELL" ist die Jugendorganisation der MLPD. Vorsitzender des Landesverbandes Ost: Andrew SCHLÜTER (Berlin) Mitglieder Land: etwa 15 (2021: 20) Anhänger Bund: 2.800 (2021: 2.800) VeröffentliWeb-Angebote: www.mlpd.de, www.rf-news.de chungen Publikationen: "Rote Fahne" (RF, (zweiwöchentlich) "Lernen und Kämpfen" (LuK, mehrmals jährlich) "Rebell" (zweimonatlich) 188 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Verglichen mit ihrer politischen Bedeutungslosigkeit verfügt die MLPD über ein überdurchschnittlich hohes Parteivermögen Kurzportrait / Ziele Die MLPD ist eine maoistisch-stalinistisch ausgerichtete Partei, die sich an den Lehren von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao orientiert. Ihrem Verständnis nach kann der Kapitalismus nicht reformiert werden; er muss daher revolutionär durch den "echten" Sozialismus abgelöst werden. Trotz der Probleme und Niederlagen habe der Sozialismus seine wirtschaftliche, politische und moralische Überlegenheit über den Kapitalismus bewiesen. Über die Mitgliedschaft ihrer Angehörigen in Gewerkschaften versucht die MLPD Einfluss auf die Arbeiter als "Subjekt des Klassenkampfes" zu erlangen. Sie unterstützt die Forderungen der Gewerkschaften bei Streiks, verbindet deren Ziele aber jeweils mit ihrer fundamentalen Kapitalismuskritik und der Forderung nach einer kommunistischen Gesellschaft. Grund der Beobachtung Die MLPD versteht sich als Repräsentantin einer radikal linken und revolutionären Perspektive des "echten" Sozialismus. Bereits in der Präambel ihrer Parteistatuten formuliert sie als ihr grundlegendes Ziel "de[n] revolutionäre[n] Sturz der Diktatur des Monopolkapitals". Dafür strebt sie die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft als Übergang zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft an. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 189 Linksextremismus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In Sachsen-Anhalt ist die MLPD mit Kontaktadressen in Magdeburg, Halle (Saale), Dessau-Roßlau und Bitterfeld-Wolfen (Anhalt-Bitterfeld) vertreten. Ausgehend von diesen Ortsgruppen versucht die MLPD mit einer Vielzahl von Kundgebungen, ihre revolutionären Ideen auf die Straße zu tragen. So finden in Magdeburg und Halle (Saale) regelmäßig (Montags-)Kundgebungen statt, bei denen die Beteiligten mit einem sogenannten "Offenen Mikrofon" aktuelle politische Themen diskutieren. Angesichts des russischen Angriffskjrieges auf die Ukraine positionierte sich die MLPD gegen "jede imperialistische Aggression, ob von USA/NATO oder Russland!", wie es in einer Erklärung des Zentralkomitees hieß. Entsprechend ihrer Ideologie postuliert die MLPD, dass nun die "Krise des imperialistischen Weltsystems Offen aufbricht." Der Imperialismus führe gesetzmäßig zu Krieg. Konkret habe Russland aggressiv und mit imperialistischer Motivation den Angriff auf die Ukraine begonnen. Die Situation sei jedoch von den USA und ihren Verbündeten in der NATO heraufbeschworen worden. 190 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine befassten sich die Montagskundgebungen zunächst mit Fragen des Antiimperialismus, ehe im weiteren Verlauf des Jahres auch die steigenden Energieund Lebenshaltungskosten thematisiert wurden. Zuweilen beteiligten sich in Magdeburg gewaltorientierte Linksextremisten aus dem antiimperialistischen Spektrum an den Veranstaltungen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sah sich die MLPD in ihrer streng antiimperialistischen Ausrichtung bestätigt. Doch obwohl sie ihre Bemühungen, die Bevölkerung von der maoistisch-stalinistischen Idee zu überzeugen, abermals intensivierte, verharrte die Partei einmal mehr in Isolation. Einzig in Magdeburg konnte die Partei auf dem Gebiet des Antimilitarismus mit anderen Linksextremisten des antiimperialistischen Spektrums kooperieren. In den übrigen Teilen von Sachsen-Anhalt fristet die Partei jedoch ein beständiges Schattendasein. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 191 Linksextremismus "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Sitz Sitz des Bundesverbandes: Verbreitung Essen (Nordrhein-Westfalen) Bundesweite Verbreitung Gründung 1968 In Sachsen-Anhalt seit 1997 mit einzelnen Parteigruppen existent Struktur Parteivorsitzender: Patrick KÖBELE (Essen, NordAufbau rhein-Westfalen) Die Partei gliedert sich in Grund-, Kreis-, Bezirksund/oder Landesorganisationen sowie eine Bundesorganisation. In Sachsen-Anhalt gibt es in Halle (Saale) eine Ortsgruppe, in Magdeburg sowie in der Region Altmark Einzelmitglieder. Innerhalb der Parteigesamtstruktur ist der Status einer Bezirksbzw. Kreisorganisation nicht erreicht. Daher verfügt die DKP in Sachsen-Anhalt lediglich über einen so genannten "Koordinierungsrat". Mitglieder Land: etwa 15 (2021: 15) Anhänger Bund: 2.850 (2021: 2.850) VeröffentliWeb-Angebote: www.dkp.de chungen Publikationen: "Unsere Zeit" (UZ (wöchentlich) "Marxistische Blätter" (zweimonatlich) Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden 192 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus Kurzportrait / Ziele Die DKP ist eine marxistisch-leninistische Kernorganisation. Die Partei versteht sich als politische Nachfolgerin der 1956 vom BVerfG verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD). Ihr Ziel ist die Errichtung einer sozialistischen/kommunistischen Gesellschaft durch einen revolutionären Bruch mit den kapitalistischen Machtund Eigentumsverhältnissen. Als Richtschnur ihres politischen Handelns bekennt Sie sich zur Ideologie von Marx, Engels und Lenin. Grund der Beobachtung Die DKP strebt langfristig einen Systemwechsel in Richtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung an. In einem klassenkämpferisch-revolutionären Akt sollen die kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnisse, der Parlamentarismus und der politisch-gesellschaftliche Pluralismus überwunden werden. Gewaltanwendung wird dabei nicht ausgeschlossen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Unter der Bezeichnung "DKP Magdeburg/Schönebeck" initiierten lokale DKP-Mitglieder eine "Energiepreisstopp-Kampagne", die am 25. März 2022 mit der Sammlung von Unterschriften startete. Dabei war eine grundlegende Unterstützung von gewaltorientierten Linksextremisten aus dem Umfeld des "Infoladen-Stadtfeld" zu verzeichnen. DKP-Mitglieder sind gemeinsam mit Vertretern des antiimperialistischen Spektrums im Magdeburger "1. Mai Bündnis" organisiert. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 193 Linksextremismus Vor diesem Hintergrund beteiligten sich am 14. April 2022 Linksextremisten aus dem gewaltorientierten Spektrum an einer Kundgebung, welche die DKP in Magdeburg unter dem Motto "STROM UND GAS EIN RECHT, KEIN LUXUS" organisiert hatte. Es folgten weitere Kundgebungen am 7. September 2022 in Schönebeck (Elbe) (Salzlandkreis) sowie am 26. November 2022 in Magdeburg. Damit wurde die Kampagne größtenteils von dem antiimperialistischen Spektrum im gewaltorientierten Linksextremismus getragen. Diese Verbindungen dürften auf personelle Überschneidungen und damit einhergehende Vertrauensverhältnisse zurückzuführen sein, die von dem langjährigen DKP-Mitglied Matthias Kramer, zuletzt Vorsitzender des "Koordinierungsrates" SachsenAnhalt, aufgebaut worden waren. Dementsprechend bestürzt reagierte die Szene auf dessen Tod im Dezember 2022. In einem gemeinsam verfassten Nachruf wird sein Leben und Wirken in der linksextremistischen Szene von Magdeburg gewürdigt. Zudem beschmierten Linksextremisten in Gedenken an Kramer einen S-Bahn-Waggon in Magdeburg. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Entgegen der Entwicklung der letzten Jahre entfaltete die DKP in Sachsen-Anhalt wieder vermehrt Aktivitäten. Diese waren jedoch fast ausschließlich auf neuerliche Verbindungen in das antiimperialistische Spektrum des gewaltorientierten Linksex194 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Linksextremismus tremismus zurückzuführen. So beteiligten sich dessen Anhänger nicht nur an der "Energiepreisstopp-Kampagne"; vielmehr wurden auf Veranstaltungen der linksextremistischen Szene ebenso Fahnen der DKP geschwenkt. Die Partei kann mit ihren Aktivitäten somit als der verlängerte Arm des antiimperialistischen Spektrums gesehen werden. Dass sich diese Entwicklung in einer Beteiligung an Wahlen niederschlagen wird, bleibt jedoch unwahrscheinlich. Die Kooperation dürfte hier allein auf personelle und ideologische Schnittmengen zurückzuführen sein. Die Möglichkeit, dass die DKP sich auf die Parlamentsorientierung als alleinige Strategie zur Überwindung des demokratischen Systems festlegen wird, erscheint ausgeschlossen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 195 IslamIsmus Islamismus Einleitung 197 Salafismus 201 "Gemeinschaft der Verkündigung der Mission" (Urdu: "Tablighi Jama'at", TJ) 211 Muslimbruderschaft (MB) / "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) / HAMAS 213 196 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 IslamIsmus ISLAMISMUS Der Begriff "Islamismus" bezeichnet eine spezifische Form des politischen Extremismus. Unter Berufung auf die Religion des Islam zielt der Islamismus auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Islamismus ist von der Überzeugung geprägt, dass Religion nicht nur eine persönliche, quasi private Angelegenheit ist, sondern auch das öffentliche gesellschaftliche Leben sowie die politische Ordnung eines Staates bestimmen oder zumindest in Teilen regeln soll. Diese von Gott gewollte und somit "wahre" (und zugleich absolute) Ordnung, rangiere in ihrer Wertigkeit vor allen von Menschen gemachten Ordnungssystemen. Im Islamismus lassen sich verschiedene Strömungen feststellen. Diese unterscheiden sich teilweise hinsichtlich ihrer ideologischen Prämissen, ihrer geographischen Orientierung, ihrer Strategien und der Wahl ihrer Mittel. Sie können sich aber auch überschneiden, zum Beispiel in der Strömung des Jihadsalafismus. Hier werden Ideologieelemente des Salafismus mit dem Jihadismus zu einer gewaltorientierten und kämpferischen Strömung vereint. - Die Anhänger islamistisch-terroristischer Gruppierungen wie der im Gazastreifen aktiven palästinensischen HAMAS oder der libanesischen "Hizb Allah"1, deren Ziel die Vernichtung des jüdischen Staates Israel ist, sind im Wesentlichen auf ihre Herkunftsregionen fokussiert und wenden schwerpunktmäßig dort terroristische Gewalt an. - So genannte legalistische Strömungen versuchen, über politische und gesellschaftliche Einflussnahme eine nach ihrer Interpretation islamkonforme Ordnung durchzusetzen. 1 - Das BMI hat die "Hizb Allah" mit Verfügung vom 26. März 2020 mit einem Betätigungsverbot belegt und dabei auch verboten, Kennzeichen der "Hizb Allah" zu verbreiten oder zu verwenden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 197 IslamIsmus - Salafisten orientieren sich ausschließlich an einem wortgetreuen Verständnis von Koran und Sunna2 nach ihrer Interpretation sowie am Vorbild der Gefährten Mohammeds, den so genannten rechtschaffenen Altvorderen.3 Sie vertreten dabei einen Exklusivitätsanspruch, beanspruchen die einzig "wahren" Muslime zu sein und lehnen die geschichtliche Entwicklung der Religion des Islam und ihre vielschichtige Ausübung und Interpretation seitens der Muslime ab.4 In der gesellschaftlichen Wahrnehmung werden islamistische Bestrebungen vor allem mit dem terroristischen Islamismus und Jihadismus in Verbindung gebracht. Entsprechend motivierte Anschläge und Straftaten sowie mit islamistischen Bestrebungen verbundene konkrete Gefahren sind Ereignisse bzw. Phänomene, die sich unschwer als Bedrohungen erkennen lassen. Das Erfordernis eines entschlossenen Einschreitens gegen diese Phänomene ist unstrittig. Verfassungsschutz, Polizei und Justiz arbeiten bei der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung auf diesem Feld mit ihren jeweiligen Aufgaben und Befugnissen eng zusammen. Aktuell sind damit Fragen verbunden, die sich aus der tatsächlichen oder möglichen Rückkehr von Personen ergeben, welche sich freiwillig in das Jihadgebiet begeben und dort terroristischen Gruppen angeschlossen hatten. Dies trifft insbesondere auf die Personen zu, die aus ihren (europäischen) Heimatländern in das "Kalifatsgebiet" des IS gereist waren und sich dort dem IS angeschlossen hatten. Nach der weitgehenden militärischen Niederlage der IS-Jihadisten sind viele dieser Personen in Gefangenenlagern vor allem in Nordsyrien festgesetzt worden. Darunter befanden sich zwei aus Sachsen-Anhalt stammende 2 - Zur Nachahmung empfohlene Handlungsweisen und Aussagen des Propheten Mohammed. 3 - Arabisch: al-Salaf al-Salih. 4 - Vgl. Kompendium des BfV - Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte, S. 61 f. 198 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 IslamIsmus junge Frauen, die 2015 nach Syrien ausgereist waren. Beide Frauen sind inzwischen zurückgekehrt. Angesichts weiterer möglicher Rückkehrer nach Deutschland ist zu klären, ob und inwieweit diese Personen weiterhin einer islamistischen Ideologie anhängen, ob von ihnen eine Gefährdung ausgeht und wie erforderlichenfalls darauf behördlich reagiert werden sollte. Ein weiteres Hauptaugenmerk der Sicherheitsbehörden liegt auf dem Bearbeiten von Hinweisen auf (vermeintliche) Jihadisten. In einzelnen Fällen hat dies dazu geführt, dass die Verfassungsschutzbehörde gemäß SS 19 VerfSchG-LSA Informationen an die Strafverfolgungsbehörden übermittelt hat, damit diese die entsprechenden Ermittlungen aufnehmen konnten. Wie schon in den vorangegangen Berichtsjahren handelte es sich dabei hauptsächlich um Hinweise auf Personen mit Migrationshintergrund, bei denen eine Betätigung in jihadistischen Gruppen anzunehmen ist, die als Kriegsparteien im syrischen Bürgerkrieg aktiv waren. Ebenso bedeutsam, aber weniger offensichtlich ist die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die vom legalistischen Islamismus ausgeht, der scheinbar im Einklang mit den Prinzipien unseres Rechtsstaates steht. Legalistische Strömungen des Islamismus sind in der Regel weder mit Straftaten noch mit konkreten Gefahren verbunden. Daher stehen sie - zu Unrecht - wesentlich weniger im Fokus der Öffentlichkeit und werden als weitaus geringere Bedrohung empfunden. Dabei wird verkannt, dass Bestrebungen dieser Art zielgerichtet an der Umsetzung ihres ideologischen Weltbilds arbeiten und ständig versuchen, ihren gesellschaftlichen und politischen Einfluss auszuweiten. Dies ist ein schleichender Prozess, der für Außenstehende schwer nachzuvollziehen ist, da sich die entsprechenden Akteure in der Regel nach außen angepasst verhalten. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie das Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 199 IslamIsmus bestehende politische System durch eine vermeintlich von Gott gewollte Ordnung ersetzen wollen, die über allen von Menschen gemachten Regeln steht. Diese Doktrin ist mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar. Das in den letzten Jahren zu verzeichnende Anwachsen des Bevölkerungsanteils mit muslimischer Religionszugehörigkeit bietet den Anhängern legalistischer Strömungen verstärkt die Gelegenheit, für ihre Überzeugungen zu werben. Der Gefahr, dass ihre Vorstellungen und Ideologien auf breitere Akzeptanz stoßen, ist entgegenzuwirken. Dies gilt umso mehr, als die Bereitschaft Einzelner, sich für einen jihadistischen Weg zu entscheiden, durch die Beschäftigung mit legalistischen Ideologieelementen zumindest mittelbar gefördert werden kann. Relevant sind insoweit auch Predigten, die in Sachsen-Anhalt in Moscheen und Gebetsraumen gehalten wurden und werden. In einem kleineren Teil der Predigten konnten Elemente extremistischer Ideologien festgestellt werden. Ein wesentliches ideologisches Element des gesamten islamistischen Spektrums ist der Antisemitismus.5 Dieser Antisemitismus äußert sich teils latent, teils offen und oft im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt in Form von Israelfeindlichkeit. Nach wie vor beläuft sich das islamistische Personenpotenzial in Sachsen-Anhalt auf etwa 400 Personen. 5 - "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." (Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance). 200 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 IslamIsmus Salafismus Sitz Schwerpunkte in Nordrhein-Westfalen in BalVerbreitung lungszentren In Sachsen-Anhalt landesweit, doch ohne gefestigte Strukturen Gründung Ursprünge in Entwicklungen der islamischen Welt besonders im 18. und 19. Jahrhundert Struktur in Sachsen-Anhalt sind einzelne SzeneangehöriAufbau ge feststellbar Mitglieder Land: etwa 100 Personen (2021: etwa 100) Anhänger Bund: etwa 11.000 (2021: etwa 11.900) VeröffentliWeb-Angebote, soziale Netzwerke chungen Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Kurzportrait / Ziele Der Verfassungsschutz versteht unter "Salafismus" eine besonders radikale Strömung innerhalb des Islamismus. Salafisten streben nach Wiederherstellung des "authentischen Islam" und nach Umsetzung islamischer Rechtsvorschriften (Scharia), die nach ihrer Auffassung als Gesetz Gottes prinzipiell für die gesamte Menschheit gültig ist. Die Verwirklichung des "authentischen Islam" steht für eine politische Agenda, die in der Errichtung eines islamischen "Gottesstaates" münden soll. Grund der Beobachtung Das verfassungsschutzrelevante salafistische Spektrum wird in die Kategorien "jihadistischer Salafismus" und "politischer Salafismus" unterteilt. Beiden Strömungen gemein sind ideologische Grundlagen und die grundsätzliche Befürwortung von Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 201 IslamIsmus Gewalt; die Übergänge zwischen den Strömungen sind fließend. Politische Salafisten vermeiden offene Aufrufe zur Gewalt; sie wollen die Gesellschaft von innen heraus durch Missionierung islamkonform umgestalten. Jihadistische Salafisten verstehen die islamische Religion als eine Ideologie, die es kompromisslos - auch mit Gewalt - durchzusetzen gilt. Die von Gott vorgeschriebenen Regeln sollen über allem stehen. Die salafistische Ideologie steht damit im grundsätzlichen Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der freien Religionsausübung sowie der allgemeinen Gleichberechtigung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In den Moscheen des Landes traten vereinzelt Prediger auf, welche die salafistische Ideologie propagierten. Ein typischer Topos der salafistischen Propaganda ist das Opfernarrativ. Darin wird eine Opferrolle der vermeintlich stets ungerecht behandelten Muslime in einer Welt voller Feinde konstruiert. Das Bedienen eines solchen simplen "FreundFeind"-Schemas kann eine gegen Nichtmuslime gerichtete Grundstimmung erzeugen, wodurch in der Folge individuelle Radikalisierungsverläufe in Gang gesetzt oder verstärkt werden können. Dieses Vorgehen war z. B. bei der Gruppierung "Realität Islam" (RI) zu beobachten, die eine ideologische Nähe zur in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegten "Hizb ut-Tahrir" (HuT)1 aufweist. Die bundesweite Berichterstattung zu Luftgewehrschüssen auf das "Islamische Kulturcenter in Halle" (IKC) am 23. Januar 20222 führte unter anderem dazu, dass auch RI das Opfernarrativ aktivierte. Auf ihrem Instagram-Kanal be- 1 - Die HuT kann in Deutschland wegen des Betätigungsverbots (Verbotsverfügung des BMI vom 10. Januar 2003) keine öffentlichen Aktivitäten entfalten, setzt jedoch ihre Agitation und die Rekrutierung neuer Mitglieder im Untergrund fort. 2 - Siehe dazu auch Seite 78. 202 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 IslamIsmus hauptete die Gruppierung, dass die vermeintlich "islamfeindliche Assimilationspolitik" in Deutschland sowie "Politiker" und "islamhassende Polit-Aktivisten" die Ursache der Schüsse seien. Als neuere Entwicklung im Bereich der salafistischen Bestrebungen ist festzustellen, dass sich in den sozialen Medien salafistische Prediger zunehmend als "Influencer" etablieren, denen inzwischen auch eine Relevanz im gesamten Bundesgebiet zugeschrieben werden kann. Zu ihnen gehört unter anderem der überregional bekannte Prediger Ibrahim EL AZZAZI aus München, der zahlreiche persönliche Kontakte zu Salafisten, darunter auch in Sachsen-Anhalt, unterhält. Salafistische Agitatoren nutzen für die Verbreitung ihrer Propaganda diverse Social Media-Plattformen, u. a. das Videoportal TikTok. Seit Beginn der Corona-Pandemie stellen Onlineangebote zum Teil auch einen Ersatz für realweltliche Aktivitäten dar: Neben steigenden Abonnentenzahlen ist seit dem Frühjahr 2020 eine Zunahme von salafistischen Video-Streams, Podcasts, Onlineseminaren (z. B. via Zoom) und plattformübergreifenden Internetpräsenzen zu verzeichnen. Salafistische Influencer reagieren auf Social-Media-Trends, um ein junges Zielpublikum zu erreichen, und passen ihre OnVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 203 IslamIsmus linepräsenz an die aktuellen Formate und Codes der sozialen Medien an: Die veröffentlichten Inhalte sollen kürzer, effektorientierter und leichter rezipierbar gestaltet werden. Inhalte werden primär visuell und in Form von Kurzvideos transportiert, die vor allem alltägliche und gesellschaftliche Themen ideologisch aufladen. Es werden multimodale Angebote genutzt, um das Publikum zu erreichen. Dazu zählen zahlreiche Formate wie Predigten, regelmäßige Frageund Antwortrunden, Podcasts, und teilweise Einblicke in das Alltagsleben salafistischer Multiplikatoren. Islamistischer Terrorismus und jihadsalafistische Organisationen Jihadistische Gruppierungen, wie zum Beispiel der "Islamische Staat" (IS) und "al-Qaida" zuzurechnende Organisationen, sehen in ihrem Kampf für die Errichtung eines "Gottesstaates" mit terroristischer Gewalt ein legitimes und effektives Mittel im Kampf gegen "Ungläubige" und gegen von ihnen als korrupt betrachtete Regime in der islamischen Welt. Ihre terroristische Agenda ist teilweise global und bedroht folglich die gesamte internationale Staatengemeinschaft. Das von den deutschen Sicherheitsbehörden identifizierte islamistisch-terroristische Personenpotenzial (itP) belief sich 2022 bundesweit auf rund 1.900 Personen. In Sachsen-Anhalt liegt dieses Personenpotenzial im mittleren zweistelligen Bereich. Über das itP werden "gewaltbereite Extremisten im Bereich Islamismus/islamistischer Terrorismus, also (Einzel-) Personen, zu denen Hinweise auf eine persönliche Gewaltbereitschaft vorliegen", unabhängig von ihrer Organisationszugehörigkeit erfasst. Hierunter befindet sich eine Vielzahl von Jihadisten bzw. Mitgliedern und Unterstützern von islamistisch-terroristischen Vereinigungen, die aus ihren jeweiligen Herkunftsländern (insbesondere Syrien) nach Deutschland geflohen sind. Diese betreffen unter anderem folgende Terrororganisationen: 204 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 IslamIsmus - "Islamischer Staat" (IS), - vormalige "Jabhat al-Nusra", jetzt "Hai'at Tahrir al-Sham", - "Al-Shabab", - "Ahrar al-Sham". Die Zahl der Hinweise auf Personen, die dem vorgenannten Personenkreis potenziell zugeordnet werden können, bewegt sich seit Einsetzen der Flüchtlingssituation insbesondere mit Schutzsuchenden aus dem Herkunftsland Syrien seit 2015 auf hohem Niveau. Dass die Gefahren für die innere Sicherheit, die vom Islamismus ausgehen, auch in Sachsen-Anhalt nicht unterschätzt werden dürfen, lässt sich anhand eines konkreten Gefährdungssachverhalts aus dem Februar 2021 darstellen. Bei einer Wohnungsdurchsuchung bei einem syrischen Staatsangehörigen stellte die Polizei in Dessau-Roßlau neben jihadistischem Propagandamaterial diverse Chemikalien sicher, die zur Herstellung von Sprengstoff verwendet werden können. Der Wohnungsbesitzer hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Dänemark bei seinem Bruder auf; beide wurden dort auch verhaftet. Inzwischen haben die dänischen Behörden gegen sie Anklage erhoben. Von einem Strafgericht in Dänemark wurde der (ehemalige) Mieter der durchsuchten Wohnung in Dessau-Roßlau im Dezember 2022 unter anderem wegen Terrorismusfinanzierung zu einer entsprechenden Freiheitsstrafe verurteilt. Auch Rückkehrer, die sich dem IS oder anderen islamistischen Terrorgruppierungen in Syrien oder im Irak angeschlossen hatten, stellen eine potenzielle Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland dar. Hiervon ist auch Sachsen-Anhalt betroffen. Gegen eine aus Sangerhausen (Mansfeld-Südharz) stammende IS-Rückkehrerin hatte der Generalbundesanwalt am 7. Juli 2021 vor dem Staatsschutzsenat des OLG Naumburg Anklage wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an der ausländischen terroristischen Vereinigung IS, Beihilfe zu einem Verbrechen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 205 IslamIsmus gegen die Menschlichkeit sowie wegen des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und das Waffengesetz erhoben. Am 18. Mai 2022 wurde sie nach dem Jugendstrafrecht zu zwei Jahren Freiheitstrafe, ausgesetzt für drei Jahre zur Bewährung, verurteilt. Das Urteil ist seit dem 4. Januar 2023 rechtskräftig. Bei einer weiteren IS-Rückkehrerin aus Syrien handelt es sich um eine junge Frau aus Aschersleben (Salzlandkreis), die im Dezember 2014 freiwillig über die Türkei nach Syrien ausgereist war, um sich dort dem IS anzuschließen. Kurz nach ihrer Ankunft in Syrien hatte sie einen IS-Kämpfer nach islamischem Ritus geheiratet. Nach ihrer Rückkehr im März 2022 nach Deutschland zusammen mit ihren Kindern wurde sie am Flughafen Frankfurt am Main wegen des Verdachts der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland festgenommen. Im Dezember 2022 wurde sie zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt ist. Das Urteil ist mittlerweile ebenfalls rechtskräftig. Ausreisen bzw. Ausreiseversuche aus Deutschland seit 20113 Derzeit liegen Erkenntnisse zu etwa 1.150 deutschen Islamisten bzw. Islamisten aus Deutschland vor, die seit 2011 in Richtung Syrien/Irak gereist sind und sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aktuell dort aufhalten bzw. aufgehalten haben. Hiervon sind etwa 25 % weiblich. Zu etwa 65 % dieser ausgereisten Personen liegen konkrete Anhaltspunkte vor, dass sie auf Seiten des IS, von al-Qaida oder diesen Organisationen nahestehenden Gruppierungen sowie anderen terroristischen Gruppierungen an Kampfhandlungen teilnehmen bzw. teilgenommen haben oder diese in sonstiger Weise unterstützen bzw. unterstützt haben. Dies bedeutet, dass zu einem Teil der ausgereisten Personen bislang keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für die Einleitung von Ermittlungsverfahren durch die zuständigen Justizbehörden vorliegen. 3 - Stand: 25. Oktober 2022. 206 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 IslamIsmus Darüber hinaus sind etwa 240 Personen bekannt, deren geplante bzw. versuchte Ausreise nach Syrien oder in den Irak scheiterte bzw. verhindert werden konnte, z. B. aufgrund von behördlichen Maßnahmen. Mehr als die Hälfte der Personen, die ausgereist sind oder deren Ausreise verhindert wurde bzw. scheiterte, besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Hierzu zählen auch Personen, die neben der deutschen eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen. Die meisten Ausreisen bzw. Ausreiseversuche waren in den Jahren 2013 bis 2015 zu verzeichnen. In den Folgejahren gingen die Zahlen sukzessive zurück. Seit 2019 werden Ausreisen bzw. Ausreiseversuche nur noch sehr vereinzelt registriert. 2022 bewegte sich die Zahl der bundesweit registrierten Ausreiseversuche bislang im unteren zweistelligen Bereich. Aktuell halten sich etwa 36 % der etwa 1.150 gereisten Personen im Ausland auf. Von diesen befinden sich etwa 20 % in Syrien, im Irak oder in der Türkei in Haft bzw. in Gewahrsam; hiervon sind 37 % weiblich. Etwa 80 % dieser Personen befinden sich auf freiem Fuß, mehrheitlich in Syrien bzw. im Irak, hiervon sind etwa 35 % weiblich. Für den Großteil der Personen liegen keine Erkenntnisse zum konkreten Aufenthaltsort vor. Es ist davon auszugehen, dass sich einzelne Personen zwischenzeitlich in anderen Drittstaaten/ Staaten außerhalb von Syrien/Irak aufhalten und ein nicht unerheblicher Anteil der Personen bei Kampfhandlungen verstorben ist. Zu etwa 25 % der etwa 1.150 gereisten Personen liegen Hinweise vor, dass sie in Syrien oder im Irak ums Leben gekommen sind. Etwa 40 % der etwa 1.150 gereisten Personen kehrten bislang nach Deutschland zurück, hiervon sind etwa 25 % weiblich. Mindestens 25 Personen haben Deutschland nach ihrer Rückkehr aufgrund behördlicher Maßnahmen (z. B. Abschiebung) Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 207 IslamIsmus zwischenzeitlich wieder verlassen oder sind freiwillig in einen Drittstaat ausgereist. Zu über 150 der bislang zurückgekehrten Personen liegen den Sicherheitsbehörden Erkenntnisse vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligt oder hierfür eine Ausbildung absolviert haben. Gegen 304 der zurückgekehrten Personen wurde ein Ermittlungsverfahren aufgrund von Straftaten, die im Zusammenhang mit deren Ausreise in Richtung Syrien/ Irak stehen, eingeleitet; hiervon sind 84 weiblich. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Salafismus kann auf Menschen, die Schwierigkeiten bei der Ausbildung einer stabilen persönlichen Identität haben und auf der Suche nach Orientierung sind, eine große Anziehungskraft ausüben. Auf längere Sicht wird sich diese Entwicklung auch in Sachsen-Anhalt quantitativ manifestieren. Dieser Einschätzung liegt zum einen die Zunahme der Einwohner von Sachsen-Anhalt, die aus muslimisch geprägten Kulturkreisen stammen, zugrunde, von denen ein gewisser Prozentsatz eine Nähe zum Salafismus aufweist. Zum anderen ist die bereits seit Jahren zu beobachtende Anziehungskraft charismatischer salafistischer Prediger der Rekrutierung von salafistischem Nachwuchs förderlich. Dies gilt nicht nur für junge Menschen aus Einwandererfamilien, sondern auch für Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Es ist damit zu rechnen, dass der IS infolge der Einschränkung seines Aktionsfeldes im Irak und in Syrien sich bietende Tatgelegenheiten gegen deutsche Interessen auch im Bundesgebiet nutzen wird. Die geschickte mediale Darstellung der Erfolge des IS und der Anschläge in Ländern, die der IS zu Feinden des Islam erklärt hat, wird auch 2023 fortgesetzt und zur Inspirationsquelle von Gruppen oder Einzeltätern werden, die mit herkömmli208 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 IslamIsmus chen nachrichtendienstlichen Mitteln nur eingeschränkt identifiziert oder beobachtet werden können. Die Verdrängung von IS-Kämpfern aus jener Region kann zur Verlagerung ihrer Aktivitäten nach Europa führen und dadurch direkte Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland haben. Die Ideologie des IS existiert weiter, aber nach dessen militärischen Niederlagen in Syrien und im Irak drängen andere Organisationen nach. Al-Qaida-nahe Terrororganisationen wie die in Nordwestsyrien aktive "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS) werden mit dem IS auch weiterhin um die regionale Vormacht im Nahen Osten konkurrieren. (Flagge der HTS) Zuletzt war innerhalb der jihadistischen Szene zu beobachten, dass sich viele ihrer Anhänger von den einschlägigen Organisationen dieser Szene ideologisch zunehmend entfernen. Die entsprechenden Personen sind vergleichsweise sehr jung (Alter 14 bis 18 Jahre), weisen häufig psychische Probleme auf und verfügen in der Regel über keine tiefergehenden ideologischen Kenntnisse. Oftmals handelt es sich hierbei um Salafisten/Jihadisten der 2. Generation, die sich hauptsächlich über die sozialen Medien (TikTok, Instagram, YouTube) darstellen und versuchen, möglichst viele Abonnnten bzw. Anhänger zu gewinnen. Mittels einschlägiger Messenger-Dienste wie WhatsApp und Telegram werden unter anderem Anschlagspläne (z. B. gegen Polizeibeamte) ausgetauscht. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 209 IslamIsmus Eine große Herausforderung für die nachrichtendienstliche Arbeit besteht darin, ein dauerhaftes Monitoring dieses Personenpotenzials sicherzustellen, um Akteure zu identifizieren und entsprechende Gefährdungssachverhalte aufzuklären. Im Herbst 2022 fanden deutschlandweit polizeiliche Exekutivmaßnahmen gegen eine Gruppe von fast ausschließlich jugendlichen Islamisten statt, die dem oben skizzierten Personenpotenzial entsprechen. Hiervon betroffen war unter anderem auch ein 16jähriger Jugendlicher aus Halle (Saale). 210 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 IslamIsmus "Gemeinschaft der Verkündigung der Mission" (Urdu: "Tablighi Jama'at", TJ) Sitz drei religiöse Zentren in Pakistan, Indien und Verbreitung Bangladesch in Deutschland keine offizielle Niederlassung Gründung 1926 in Britisch-Indien Struktur Leitung: Führungszirkel (Schura) Aufbau In Deutschland koordinieren zentrale Akteure über informelle Kontakte in einem hierarchisch aufgebauten Netzwerk die Arbeit der TJ. Mitglieder Sachsen-Anhalt: mittlerer zweistelliger Bereich Anhänger (2021: ebenso) Bund: etwa 550 (2021: ebenso) Veröffent--lichungen Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele Die TJ ist eine transnationale Missionierungsbewegung mit etwa 12 Millionen Anhängern weltweit. Sie orientiert sich eng an dem Islamverständnis der islamischen Frühzeit. Ein wesentlicher Schwerpunkt der Aktivitäten der TJ in Deutschland ist die Gewinnung neuer Anhänger, die Missionierung und ideologische Schulung der Mitglieder. Grund der Beobachtung Die TJ propagiert eine wörtliche Auslegung des Korans und der Sunna, eine rigorose Abgrenzung zu Nichtmuslimen und eine Ausgrenzung von Frauen von der politischen und gesellschaftlichen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 211 IslamIsmus Teilhabe. Die Ablehnung der weltlichen Prinzipien und die Abgrenzung gegenüber Nichtmuslimen begünstigen die Bildung von Parallelgesellschaften und fördern individuelle Radikalisierungsprozesse. Die Erreichung eines auf den in der Scharia enthaltenen Rechtsvorschriften basierenden Lebens ist das erklärte Ziel der TJ. Damit gehen von der TJ Bestrebungen aus, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Aktivitätsmöglichkeiten der TJ-Anhänger waren infolge der coronabedingten Eindämmungsmaßnahmen auch 2022 zeitweise eingeschränkt. Nach dem Auslaufen dieser Maßnahmen kam es jedoch wieder zu einem Anstieg der Reisetätigkeiten von TJ-Anhängern in und nach Sachsen-Anhalt. Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten waren verschiedene Gebetsräume im Bundesland. Im Rahmen der Kontaktaufnahme wurden Einladungen zu Gebeten, Moscheebesuchen oder anderen Veranstaltungen ausgesprochen. Zielgruppen waren einerseits Muslime mit vermeintlich unzureichender Beachtung der Glaubensriten und anderseits Nichtmuslime. Die Anhänger der TJ aus Sachsen-Anhalt sind an das globale Netzwerk der TJ angeschlossen. Sie beteiligen sich an Missionierungsreisen sowie an bundesweiten und europaweiten Treffen, auf denen u. a. die Planung zukünftiger Aktivitäten abgestimmt wird. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Anhängerzahl in Sachsen-Anhalt ist weitestgehend gleich geblieben. Es ist davon auszugehen, dass sich die Anzahl der Missionierungstätigkeiten weiter relativieren wird. 212 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 IslamIsmus Muslimbruderschaft (MB) / "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) / HAMAS Sitz Hauptsitz der DMG in Köln Verbreitung (Nordrhein-Westfalen) in Sachsen-Anhalt landesweit, Gründung MB: 1928 in Ägypten DMG (IGD): 1958 HAMAS: 1987 Struktur Die im Jahr 2018 in DMG umbenannte IGD gehörte zu den Gründungsmitgliedern der "Föderation islamischer Organisationen in Europa" (FIOE), die als Sammelbecken für Organisationen der MB in Europa gilt. Mitglieder Sachsen-Anhalt: 17 (2021: 20) Anhänger Bund: etwa 1.450 (2021: 1.450) VeröffentWeb-Angebote: diverse Internetauftritte lichungen soziale Netzwerke Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele Die MB gilt als älteste und einflussreichste organisierte sunnitische islamistische Bewegung. Zahlreiche islamistische Organisationen, zum Beispiel die DMG oder die terroristische palästinensische HAMAS, sind aus der MB hervorgegangen. Programmatischer Kernpunkt der MB ist die Einheit von Religion und Staat. Ihr Ziel ist die schrittweise Durchsetzung islamischer Rechtsvorschriften (Scharia). Gewaltanwendung wird dabei nicht ausgeschlossen, doch nicht vorrangig angestrebt. In mehreren islamischen Ländern ist die MB verboten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 213 IslamIsmus Die MB lehnt demokratische Staatssysteme ab, agiert aber pragmatisch. Ihre meist gebildeten und eloquenten Vertreter engagieren sich häufig gesellschaftlich, um Einfluss zu gewinnen. Vertreter der MB stellen nach außen hin demokratische Prinzipien nicht in Frage und erwecken häufig den Anschein, eine vergleichsweise "moderate" Islamauslegung zu vertreten. Grund der Beobachtung Die von Gott vorgeschriebenen Regeln sollen über allem stehen. Damit steht die Ideologie der Muslimbruderschaft im Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der freien Religionsausübung sowie der allgemeinen Gleichberechtigung. Die DMG ist die wichtigste und zentrale Organisation von Anhängern der MB in Deutschland. Ihr Ziel ist, sich als anerkannter Ansprechpartner zum Thema Islam zu etablieren. Zu diesem Zweck werden offene Bekenntnisse zur MB möglichst vermieden. Bezüglich der HAMAS ist festzustellen, dass sie für zahlreiche Selbstmordattentate und Raketenangriffe auf israelisches Territorium verantwortlich ist. Ihre Aktivitäten richten sich somit gegen den Gedanken der Völkerverständigung und sind geeignet, deutsche Interessen im Ausland zu gefährden. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Vereinzelt traten in Moscheen Prediger auf, die ideologische Standpunkte der Muslimbruderschaft propagierten. Die Erwähnung einschlägiger Aktivitäten im Land in den Verfassungsschutzberichten des Landes Sachsen-Anhalt seit 2017 führte zur Zurückhaltung bei den öffentlichen Äußerungen von Anhängern der MB. Dominierender Einfluss von MB-Anhängern auf einen Moscheeverein war bis 2020 wahrnehmbar. 214 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 IslamIsmus Bewertung, Tendenzen, Ausblick In Sachsen-Anhalt gibt es nach wie vor Personen, die der Ideologie der Muslimbruderschaft folgen. Die in Sachsen-Anhalt aktiven 17 Personen sind größtenteils Persönlichkeiten, die führende Funktionen in ihren jeweiligen Gemeinden innehaben. Ihr Ziel ist letztlich die Abschaffung der Demokratie und die Gründung eines auf religiösen Regeln basierenden Gottesstaates. Sie sind bestrebt, das Gedankengut der Muslimbruderschaft weiter zu verbreiten, und bemüht, sich als gemäßigte Muslime darzustellen. Es besteht unverändert die Gefahr, dass die Selbstinszenierung der MB-Anhänger als vertrauenswürdige zivilgesellschaftliche Akteure bei Verantwortungsträgern in Kommunen, Land, Kirchen und Zivilgesellschaft verfängt und zu Fehleinschätzungen führen kann. Mitarbeiter von Behörden, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sind daher gehalten, kritisch darauf zu achten, wem sie eine Plattform als Gesprächspartner bieten. Als besonders problematisch erweist sich dabei die Tatsache, dass die MB gezielt akademisch ausgebildete Personen akquiriert, die über einen entsprechenden Intellekt und oftmals auch über überdurchschnittliche rhetorische Fähigkeiten verfügen. Diese Fähigkeiten und die Tatsache, dass die MB in Deutschland gewaltlos agiert, lässt MB-Anhänger in den Augen von Politikern, der öffentlichen Verwaltung und von Sozialpartnern (wie z. B. Kirchen) oftmals als seriöse, vertrauenswürdige Gesprächspartner erscheinen, insbesondere dann, wenn die Bezüge der agierenden Personen zur MB nicht bekannt sind. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 215 AuslAndsbezogener extremismus Auslandsbezogener Extremismus Einleitung 217 "Arbeiterpartei Kurdistans" (kurdisch: Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) 219 216 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 AuslAndsbezogener extremismus AUSLANDESBEZOGENE SICHERHEITSGEFÄHRDENDE UND EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN Auslandsbezogener Extremismus ist ein Sammelbegriff für sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von ausländischen Organisationen und von ihren von Deutschland aus agierenden Strukturen, die nicht religiös motiviert sind. Im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus finden sich Ideologieelemente sowohl aus dem Rechtsund Linksextremismus als auch aus dem Separatismus.1 Die Aktivitäten extremistischer Organisationen mit Auslandsbezug in Deutschland werden stark von der Situation in den jeweiligen Herkunftsländern bestimmt. Ihr Ziel ist zumeist die radikale Veränderung der politischen Verhältnisse in diesen Ländern, was in vielen Fällen auch mittels Gewalt erreicht werden soll. Der Verfassungsschutz beobachtet diese Bestrebungen, wenn sie durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden (SS 4 Abs. 1 Nr. 4 VerfSchG-LSA) oder gegen das Prinzip der Völkerverständigung gerichtet sind (SS 4 Abs. 1 Nr. 5 VerfSchG-LSA). Nach wie vor tritt in Sachsen-Anhalt lediglich die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) mit bedeutenden Strukturen in Erscheinung. Die Aktivitäten ihrer Anhänger beschränken sich im Allgemeinen auf das Requirieren von Spendengeldern und die Durchführung von anlassbezogenen, in der Regel friedlich verlaufenden versammlungsrechtlichen Aktionen. Der Anlass für diese Aktionen sind zumeist politische oder militärische Ereignisse in den kurdischen Siedlungsgebieten in der Türkei, in Syrien oder im Irak. Regelmäßig nehmen PKK-Anhänger aus Sachsen-Anhalt an alljährlichen zentralen Großveranstaltungen wie dem zentralen Newroz-Fest oder dem Internationalen Kurdistanfestival teil. 1 - Separatismus bedeutet, dass ein Teil einer Bevölkerung sich und ihr Heimatgebiet aus ihrem aktuellen Staat herauslösen möchte. Ziel kann die Gründung eines neuen eigenständigen Staates sein oder der Anschluss an einen anderen Staat. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 217 AuslAndsbezogener extremismus Die PKK nutzt diese Ereignisse, um ihre politischen Forderungen (Anerkennung der kurdischen Identität und Autonomie, Aufhebung des PKK-Verbots) zu propagieren. Im Berichtszeitraum waren die Aktivitäten der PKK-Anhänger in Sachsen-Anhalt aufgrund intensivierter Angriffe der türkischen Streitkräfte auf kurdische Siedlungsgebiete von entsprechenden, oft spontanen, Protestveranstaltungen geprägt. Dabei erfuhr die Organisation merkliche Unterstützung aus der linksextremistischen Szene. Darüber hinaus standen Bemühungen um eine Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots im Fokus. Nachdem eine Teilnahme an Großveranstaltungen in den vergangenen Jahren nicht oder nur selten möglich gewesen war, nahmen PKK-Anhänger entsprechende Reiseaktivitäten im Berichtsjahr nach und nach wieder auf. Die Teilnehmerzahlen der zentralen Großveranstaltungen stiegen zwar, erreichten jedoch nicht das hohe Niveau der Jahre vor der Corona-Pandemie. Das Vereinsleben der PKK-nahen kurdischen Vereine in SachsenAnhalt konnte auch 2022 nicht merklich wiederbelebt werden. 218 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 AuslAndsbezogener extremismus "Arbeiterpartei Kurdistans" (kurdisch: Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) Weitere - "Volkskongress Kurehemalige distans" (KONGRA GEL) und bestehen- - "Freiheitsund Demokratiekongress" (KAde BezeichDEK) nungen: - "Gemeinschaften der Kommunen Kurdistans" (KKK) - "Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" (kurdisch: Koma Civaken Kurdistan, KCK) Sitz Sitz der Parteiführung in den Kandil-Bergen/ Verbreitung Nord-Irak Verbreitung in Kurdistan (Teile der Türkei, Syriens, Iraks und Irans) sowie Europa Gründung 27. November 1978 in der Türkei Struktur Trotz ihrer mehrfachen öffentlichen AnkündiAufbau gungen, demokratische Strukturen einführen zu wollen, hält die PKK intern nach wie vor an ihrer strengen autoritären Führung fest. Das höchste Entscheidungsorgan der PKK ist der KCK mit seinem Präsidenten Abdullah ÖCALAN. Gemeinsame Vorsitzende des KCK sind Cemil BAYIK und Bese HOZAT. In Europa werden die Aktivitäten der PKK maßgeblich vom "Kongress der kurdischen demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa" (kurdisch: Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen li Ewropa, KCDK-E), dem politischen Arm der Partei in Europa, bestimmt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 219 AuslAndsbezogener extremismus Deren Weisungen werden von regelmäßig wechselnden Führungskadern an die Basis weitergegeben. Die PKK unterteilt das Bundesgebiet in neun Regionen (Eyalet), die wiederum in 30 verschiedene Gebiete (Bölge) aufgeteilt sind. Sachsen-Anhalt findet sich hierbei im Gebiet Sachsen bzw. dem übergeordneten Eyalet Berlin wieder. Zur Umsetzung ihrer Vorgaben bedient sich die PKK-Führung in Europa und Deutschland der örtlichen kurdischen Kulturvereine. Diese Vereine sind zu einem großen Teil in der Dachorganisation "Konföderation der Gesellschaften Mezopotamiens in Deutschland" (kurdisch: Konfederasyona Civaken Mezopotamyaye li Elmanyaye, KON-MED) organisiert. Mithilfe ihrer fünf untergeordneten Föderationen führt sie die Aufgaben als nun zuständiger Dachverband weiter. PKK-nahe Vereine auf dem Gebiet Sachsen-Anhalts werden von der "Freien Kurdistan Föderation Ostdeutschland" (kurdisch: Federasoyna Kurdistaniyen Azad li Rojhilate Almayna, FED-KURD) vertreten. Dazu gehören das "Demokratische Kurdische Gesellschaftszentrum (Kurdisch: Demokratik Kürt Toplum Merkezi, DKTM) Magdeburg" sowie der Verein "Mezopotamien Kulturhaus e. V. in Halle (Saale) (auch DKTM Halle (Saale)). 220 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 AuslAndsbezogener extremismus Die kurdischen Vereine dienen den PKK-Anhängern als Anlaufstelle und Treffpunkt. Überdies versucht die PKK mithilfe von Massenorganisationen, in denen sich PKK-Anhänger entsprechend ihrer Berufsund Interessengruppen zusammenfinden, Kurden weiter an die Partei zu binden. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Jugendorganisation "Komalen Ciwan"/"Ciwanen Azad" bzw. deren europäische Jugenddachorganisation "Tevgera Ciwanen Soresger" (TCS), die "Kurdische Frauenbewegung in Europa" (kurdisch: Tevgera Jinen Kurd li-Ewropaye, TJKE) und die Studentenorganisation "Verband der Studierenden aus Kurdistan" (kurdisch: Yekitiya Xwendekaren Kurdistan, YXK). Die Mitglieder beziehungsweise Anhänger dieser Organisationen bilden ein großes Mobilisierungspotenzial für die zahlreichen Veranstaltungen der PKK. Zudem rekrutiert die PKK insbesondere in den Jugendorganisationen ihren Nachwuchs für den bewaffneten Kampf in den kurdischen Siedlungsgebieten. Mitglieder Land: etwa 250 (2021: etwa 250) Anhänger Bund: etwa 14.500 (2021: etwa 14.500) VeröffentliPKK-Nachrichtenagentur "Ajansa Nuceyan a chungen Firate" (ANF), Publikationen: "Yeni Özgür Politika" (YÖP) "Serxwerbun" (Unabhängigkeit) Finanzierung Die PKK sowie ihre Folgeund Nebenorganisationen finanzieren sich zum größten Teil über ihre jährlichen "Spendenkampagnen" sowie Einnahmen aus dem Verkauf kurdischer Publikationen und Eintrittskarten für diverse GroßveranstaltunVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 221 AuslAndsbezogener extremismus gen. Auch Mitgliedsbeiträge von der PKK nahestehenden Vereinen kommen der Organisation zugute. Das Geld dient vor allem dem Unterhalt der hiesigen Organisationsstrukturen, aber auch der Unterstützung der Guerilla in den Kampfgebieten. Das Einsammeln der Spenden stellt einen Schwerpunkt der Parteiarbeit, insbesondere für ihre Führungskader, dar. Die anhaltenden militärischen Konflikte in Nordsyrien, dem NordIrak und den kurdischen Siedlungsgebieten in der Türkei führen nach wie vor zu einem hohen Finanzbedarf der PKK, aber auch zu einer anhaltend hohen Spendenbereitschaft in der kurdischen Gemeinde. Die sich in Deutschland bisher Jahr für Jahr kontinuierlich steigernde Gesamtspendensumme erreicht mittlerweile eine Höhe von mehr als 16 Millionen Euro pro Jahr. Kurzportrait / Ziele Abdullah ÖCALAN gründete gemeinsam mit weiteren Protagonisten im Jahr 1978 die marxistisch ausgerichtete PKK, deren ursprüngliches Ziel in der Schaffung eines unabhängigen kurdischen Staates auf den Gebieten Südostanatolien, Nord-Irak sowie Teilen des westlichen Irans und des nördlichen Syriens bestand. In dem Selbstverständnis, alleiniger Interessenvertreter der kurdischstämmigen Bevölkerung zu sein, rief Öcalan 1984 zur Durchsetzung dieses Ziels zum bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat auf. In der Folge kam es zu zahlreichen terroristischen Anschlägen innerhalb und außerhalb der Türkei, so auch gegen türkische Einrichtungen in Deutschland. Bis heute sind diesen Auseinandersetzungen mehr als 45.000 Menschen zum Opfer gefallen. Aufgrund dessen unterliegen die PKK sowie ihre Nachfolgeorganisationen seit 1993 in Deutschland einem Betätigungsverbot. Seit 2002 ist die PKK darüber hinaus bei der Europäischen Union als terroristische Organisation gelistet. Mit Urteil vom 28. Oktober 2010 (3 StR 179/10) bestätigte der Bun222 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 AuslAndsbezogener extremismus desgerichtshof, dass es sich bei den Strukturen der PKK nicht um selbständige Teilorganisationen handelt, sondern insgesamt um eine terroristische Vereinigung im Ausland. Die ständige (aktuelle) Rechtsprechung bundesdeutscher Oberlandesgerichte stuft die PKK auch weiterhin als terroristische Vereinigung ein. Mit der Verhaftung Abdullah ÖCALANs im Jahr 1999 rückte die PKK zwar von ihren separatistischen Zielen ab; seitdem bemüht sie sich um eine autonome Selbstverwaltung der Kurden innerhalb der bestehenden Ländergrenzen. Dennoch versucht sie weiterhin, ihre Ziele mit gewaltsamen Mitteln, einschließlich der Tötung von Menschen, zu erreichen. Während die PKK auf dem Gebiet der Türkei terroristische Anschläge durchführt, bemüht sie sich in Europa um ein gewaltfreies Auftreten. Europa und insbesondere Deutschland stellen für die PKK eine unverzichtbare rückwärtige Basis dar, aus der die Organisation den Großteil ihrer personellen und finanziellen Ressourcen schöpft. Zur Propagierung ihrer Ideologie nutzt die PKK insbesondere ihre jährlich wiederkehrenden zentralen Großveranstaltungen, zu denen sich in der Vergangenheit teils tausende Anhänger mobilisieren ließen. Das vorhandene Mobilisierungspotenzial kann dabei deutlich über die genannte Anhängerzahl hinausgehen. Grund der Beobachtung Trotz ihres Kurswechsels Mitte der neunziger Jahre zu weitgehend friedlichem Verhalten in Deutschland stellt die PKK, insbesondere wegen ihrer fortwährenden Bereitschaft, zu gewaltorientierten Aktionen zurückzukehren, nach wie vor eine Bedrohung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Darüber hinaus verfolgt die PKK ihre Ziele besonders in den kurdischen Siedlungsgebieten weiterhin mit Waffengewalt. Mit diesem Verhalten gefährdet sie die auswärtigen Belange Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 223 AuslAndsbezogener extremismus der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des SS 4 Abs. 1 Nr. 4 VerfSchG-LSA. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Wiederkehrendes Veranstaltungsgeschehen Mit fortschreitendem Rückgang der pandemiebedingten Einschränkungen konnten auch die für die PKK wichtigen jährlichen Veranstaltungen wieder zunehmend unbeeinflusst stattfinden. So gedachten etwa 1.000 Teilnehmer am 8. Januar 2022 in Paris (Frankreich) der Ermordung der PKK-Aktivistinnen Sakine Canzis, Fidan Dogan und Leyla Saylemez.1 Motto dieser zentralen Veranstaltung war "Solange die Gerechtigkeit im Dunkeln bleibt, ist Frankreich schuldig". Der Jahrestag stellt den jährlichen Auftakt der demonstrativen Aktionen der PKK dar. Bundesweit fanden zahlreiche dezentrale Veranstaltungen statt, zu denen der KONMED aufgerufen hatte. In Halle (Saale) organisierte das "Rojava Solibündnis Halle"2 eine Kundgebung unter dem Motto "In Gedenken an Leyla Saylemez, Fidan Dogan und Sakine Cansiz" an der sich etwa 80 Personen beteiligten. An der nächsten Großveranstaltung der PKK im Berichtsjahr, der zentralen Demonstration anlässlich des Jahrestags der Festnahme von Abdullah ÖCALAN in Strasbourg (Frankreich), nahmen am 12. Februar 2022 bereits 3.000 Anhänger teil. Zu der zentralen Veranstaltung anlässlich des Newroz-Fests,3 die am 19. März 2022 unter dem Motto "Newroz das Fest der 1 - Die drei Frauen wurden am 9. Januar 2013 Paris erschossen. Saylemez stammte aus Halle (Saale) und war zuletzt als Funktionärin in der PKK-Jugend bekannt. 2 - Siehe dazu auch Seite 228. 3 - Kurdisches Neujahrsoder Frühlingsfest am 21. März. Vor dem Hintergrund einer alten kurdischen Legende wird Newroz als Fest des Widerstands gegen Tyrannei und als Symbol für den kurdischen Freiheitskampf verstanden. 224 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 AuslAndsbezogener extremismus Freiheit - Freiheit für alle politischen Gefangenen" in Frankfurt am Main (Hessen) stattfand, kamen 17.000 Personen. Darunter befanden sich auch PKK-Anhänger aus Sachsen-Anhalt. Für die Fahrt nach Frankfurt waren Busreisen aus Halle (Saale) und Magdeburg organisiert worden. Am 17. September 2022 fand in Landgraaf (Niederlande) das diesjährige "Internationale Kurdistan-Festival" statt, welches unter dem Motto stand: "Gegen Besatzung und Völkermord - Kurdistan verteidigen, Öcalan befreien" . Daran sowie an dem im Vorfeld vom 11. bis 16. September 2022 durchgeführten sogenannten Langen Marsch der Jugend nahmen Personen aus Sachsen-Anhalt teil. Der "Lange Marsch" führte von Essen über verschiedene Städte nach Aachen (beide Nordrhein-Westfalen). Der aus Deutschland stammende Teilnehmerkreis setzte sich aus PKK-Anhängern und Linksextremisten zusammen. Am 15. September 2022 kam es auf der Etappe nach Köln (Nordrhein-Westfalen) infolge von Verstößen gegen das Vereinsgesetz zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 225 AuslAndsbezogener extremismus Reaktionen auf Angriffe der türkischen Streitkräfte auf kurdische Siedlungsgebiete Im Berichtszeitraum führten die türkischen Streitkräfte wiederholt militärische Operationen, zumeist Luftangriffe, auf kurdische Siedlungsgebiete in Irak und Syrien durch. Ziel der Angriffe waren nach Angaben der türkischen Regierung PKK-Stellungen und deren Infrastruktur. Die kurdische Diaspora reagiert auf entsprechende Ereignisse zumeist unmittelbar und bundesweit mit Protestaktionen. So kam es infolge von Luftangriffen im Februar, April und November zu Protestwellen, die jeweils mehrere Tage bis Wochen anhielten. Eine führende Rolle bei der Mobilisierung ihrer Anhänger spielten die KON-MED und der KCDK-E. Die zahlenmäßig größten Demonstrationen fanden am 30. April 2022 mit 4.400 Teilnehmern und am 12. November 2022 mit 4.000 Teilnehmern in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) statt. Auch regionale Bündnisse in Sachsen-Anhalt warben für beide Veranstaltungen. Diverse kleinere Kundgebungen fanden im Zuge der jeweiligen Aufrufe der KON-MED auch in Magdeburg und Halle (Saale) statt. Bemühungen um eine Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots Bei einer Pressekonferenz, die am 11. Mai 2022 im Haus der Bundespressekonferenz stattfand, verkündete der "Verein für Demokratie und Internationales Recht" (MAF-DAD e. V.)4, beim BMI die Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots beantragt zu haben. Für die Beantwortung des Antrags sei eine Frist von 4 - Bei MAF-DAD handelt es sich um einen PKK-nahen Verein, der bereits in der Vergangenheit durch Öffentlichkeitsarbeit insbesondere in Zusammenarbeit mit dem "AZADI Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland e. V." (AZADI e. V.) auf juristische Fragen im Zusammenhang mit der PKK aufmerksam gemacht hat und für eine Aufhebung der gegen die PKK verhängten Verbote eingetreten ist. 226 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 AuslAndsbezogener extremismus einem Jahr gesetzt. Die bei der Pressekonferenz anwesenden vom KCK beauftragten Anwälte argumentierten, dass sich die Verhältnisse seit dem Betätigungsverbot der PKK im Jahr 1993 geändert hätten und dessen Aufrechterhaltung daher nicht mehr zu rechtfertigen sei. Die PKK begehe in Deutschland keine Straftaten und stelle somit keine Gefahr für die innere Sicherheit dar. Am 26. November 2022 führte das linksextremistisch geprägte Bündnis "PKK-Verbot aufheben" in Berlin eine Demonstration unter dem Motto "PKK-Verbot aufheben, Freiheit für Abdullah Öcalan" durch. Das "Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg"5 warb in den sozialen Medien für eine Teilnahme an der Versammlung. Im Zusammenhang mit der Mobilisierung stand auch eine Graffitischmiererei an einem Wohnhaus in Magdeburg. 5 - Siehe dazu auch Seite 228 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 227 AuslAndsbezogener extremismus Bestätigung des Verbots der "Mezopotamien Verlag und Vertriebs GmbH" und der "MIR Multimedia GmbH" Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) wies am 26. Januar 2022 die Klage der "Mezopotamien Verlag und Vertriebs GmbH" und der "MIR Multimedia GmbH" gegen das am 1. Februar 2019 vom BMI verhängte Verbot der beiden Firmen als Teilorganisationen der PKK ab (AZ: BVwerG 6 A 7.19). In der Verbotsverfügung vom 1. Februar 2019 stellte das BMI fest, dass die Firmen derart in die Struktur der PKK eingegliedert seien, dass sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse als nichtgebietliche Teilorganisationen der PKK anzusehen seien. Die PKK nutze die Firmen zur Aufrechterhaltung des organisatorischen Zusammenhalts der Organisation, indem diese PKK-Propagandamaterial verbreiteten und durch dessen Verkauf die PKK finanziell unterstützten. Das Verbot der genannten Verlage wird von Seiten der PKK-nahen Verbände als fortgesetzte Kriminalisierung der gesamten kurdischen Diaspora verurteilt. Der deutschen Regierung wird unterstellt, lediglich die Interessen der türkischen Regierungsparteien durchzusetzen und damit der Unterdrückung aller Kurden Hilfe zu leisten. Kurdistansolidarität Die in den vergangenen Jahren festgestellte zunehmende Kooperation von Linksextremisten und PKK-Anhängern konnte auch im Berichtsjahr 2022 weiter beobachtet werden. In Sachsen-Anhalt wurden öffentlichkeitswirksame Aktionen zu kurdisch geprägten Kernthemen zuletzt vorrangig von regionalen Bündnissen aus PKK-Anhängern und Linksextremisten initiiert. Entsprechende Bündnisse sind bundesweit zu finden; in Sachsen-Anhalt gehören das "Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg" und das "Rojava Solibündnis Halle" dazu. 228 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 AuslAndsbezogener extremismus Zu den von ihnen initiierten Veranstaltungen zählen unter anderem Kundgebungen in Reaktion auf die Luftangriffe der türkischen Streitkräfte auf kurdische Siedlungsgebiete oder auch Vortragsveranstaltungen über Abdullah ÖCALAN sowie die aktuelle politische Lage in den Gebieten, die PKK-Anhänger als 'Kurdistan' deklarieren. Das "Solidaritätsbündnis KurdistanMagdeburg" organisiert seit einigen Jahren anlässlich des Jahrestags der Aufnahme des bewaffneten Kampfes der Guerilla-Truppen6 der PKK am 15. August 1984 eine "Gedenkfeier" und bietet damit der Verherrlichung des gewaltsamen Kampfes eine Bühne. Auch seitens überregional agierender Organisationen bestehen offensichtliche Verbindungen nach Sachsen-Anhalt. So veröffentlichten Anhänger der Initiative "Defend Kurdistan"7 am 14. Juni 2022 auf der linksextremistischen Internetplattform "de.indymedia. 6 - Die bewaffneten Einheiten der PKK, die "Hezen Parastina Gel" (HPG), werden auch als Guerilla bezeichnet. 7 - Eine seit 2001 bestehende internationale Initiative und Plattform, der verschiedene Privatpersonen, Organisationen und Kampagnen angehören. In Deutschland beteiligen sich vorrangig linksextremistische Organisationen an der Initiative. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 229 AuslAndsbezogener extremismus org" einen Text mit dem Titel "Blutbrunnenaktion in Reform", in dem sie sich für eine Sachbeschädigung an einem Springbrunnen in Magdeburg verantwortlich erklärten. Die Täter hatten das Wasser in dem Springbrunnen zuvor rot eingefärbt und in unmittelbarer Nähe Pflastersteine mit den Schriftzügen "Defend Kurdistan" und "Waffentransporte stoppen" beschmutzt. Offenbar sollte mit der Aktion auf den anhaltenden Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Minderheit sowie auf eine vorgebliche Mitverantwortung des deutschen Staates, aufgrund von Waffenlieferungen an die Türkei, aufmerksam gemacht werden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Mit dem Auslaufen der meisten pandemiebedingten Eindämmungsmaßnahmen bestand im Verlauf des Jahres 2022 auch für die PKK wieder die Möglichkeit, eine Vielzahl von Anhängern für ihre Großveranstaltungen zu mobilisieren. Dies gelang insbesondere bei den zentralen Newroz-Feierlichkeiten am 19. März 2022 in Frankfurt am Main, die mit 17.000 Teilnehmern ein annäherndes Niveau wie vor der Pandemie erreichten. Ob es der PKK gelingen wird, zu den ehemals hohen Teilnehmerzahlen von bis zu 30.000 Personen zurückzufinden, bleibt abzuwarten. Eine eher rückläufige Tendenz war bereits vor der Pandemie erkennbar, was sich auch anhand der geringen Beteiligung von PKK-Anhängern aus Sachsen-Anhalt zeigte. Das verstärkte militärische Vorgehen der Türkei gegen Stellungen der PKK in den kurdischen Siedlungsgebieten in Irak, Syrien und der Türkei in den letzten Jahren hat zu einer anhaltenden Emotionalisierung innerhalb der PKK-Anhängerschaft geführt. Solange die Angriffe der Streitkräfte unvermindert fortgeführt werden, wird es in Deutschland auch weiterhin zu unmittelbaren und spontanen Protestaktionen kommen. Auf die jeweiligen Teilnehmerzahlen und den Verlauf von geplanten Veranstaltun230 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 AuslAndsbezogener extremismus gen der PKK werden daher eventuelle Lageverschärfungen im Konfliktgebiet einen bedeutenden Einfluss haben. Die Sorge um die Gesundheit und die Haftbedingungen des PKK-Führers Abdullah ÖCALAN wird weiterhin eine große Rolle innerhalb der PKK-Anhängerschaft spielen, auch wenn sich dies im Veranstaltungsgeschehen des Jahres 2022 in Sachsen-Anhalt nicht öffentlichkeitswirksam widergespiegelt hat. Dieses stets mit hoher Emotionalisierung verbundene Thema ist jederzeit geeignet, PKK-Anhänger in großer Anzahl zu mobilisieren. Auch wenn Gewalt eine strategische Option der PKK-Ideologie ist, wird die Organisationsführung in Deutschland weiterhin bemüht sein, ihre öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen gewaltfrei und friedlich verlaufen zu lassen, um ihre bisherigen Bestrebungen in Richtung einer Aufhebung des Betätigungsverbots nicht zu gefährden. Gewaltsame Aktionen würden unter anderem dem aktuellen Antrag des "MAF-DAD e. V." beim BMI zuwiderlaufen, in dem insbesondere damit argumentiert wird, dass die PKK keine Straftaten mehr begehe. Vor diesem Hintergrund stellt die Bestätigung des Vereinsverbots der "Mezopotamien Verlag und Vertriebs GmbH" sowie "MIR Multimedia GmbH" einen Rückschlag für die PKK dar. Damit wurde letztlich auch dem Bestand des PKK-Betätigungsverbots selbst Rechnung getragen. Auch im Hinblick auf die Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 231 AuslAndsbezogener extremismus ständige Rechtsprechung erscheint derzeit eine gerichtliche Aufhebung des Betätigungsverbots unwahrscheinlich. Dennoch wird dies eines der Kernthemen zukünftiger PKK-Aktionen bleiben. Die militärischen Auseinandersetzungen in den kurdischen Siedlungsgebieten und die Unterhaltung der Organisationsstrukturen in Deutschland und Europa bedingen einen ständigen hohen Finanzbedarf der PKK. Die Jahresspendenkampagne als Haupteinnahmequelle der PKK wird demnach auch zukünftig eine der wichtigsten Aktivitäten ihrer Führungskader sein. Ebenso werden die Bemühungen, auch in Deutschland Kämpfer für die Truppen der PKK zu gewinnen, auf einem hohen Niveau bleiben. In den vergangenen Jahren war in Sachsen-Anhalt eine zunehmende Verfestigung der Zusammenarbeit zwischen PKK-Anhängern und Linksextremisten zu beobachten. Linksextremistische Gruppierungen haben die Anliegen der PKK zuletzt ungewöhnlich intensiv propagiert. Im Berichtszeitraum haben die entsprechenden Bündnisse sogar eine führende Rolle im Bereich der öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen eingenommen. Hiesige PKK-Anhänger haben möglicherweise noch nicht zu ihrem vorpandemischen Aktionismus zurückgefunden und überlassen daher das aktuelle Veranstaltungsgeschehen dem Engagement der linksextremistischen Szene. 232 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Scientology organiSation Scientology Organisation Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 233 Scientology organiSation SCIENTOLOGY ORGANISATION (SO) Sitz Los Angeles (USA) Verbreitung "Scientology-Kirche Deutschland" (SKD) München; weitere Niederlassungen in Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Hannover und Stuttgart Gründung 1954 von Lafayette Ronald Hubbard (1911-1986) in den USA 1970 erste Niederlassung in Deutschland Struktur Die SO ist streng hierarchisch organisiert. NachAufbau folger des 1986 verstorbenen Gründers L. Ron Hubbard ist David MISCAVIGE, der die Organisation bis heute als Vorsitzender des Religious Technology Centers (RTC) steuert. Der Dachverband in Deutschland ist die "Scientology-Kirche Deutschland" (SKD) mit Sitz in München. Die lokalen Niederlassungen gliedern sich in sieben sogenannte Kirchen (Orgs), mehrere kleinere Missionen und zwei sogenannte Celebrity Centres in München und Düsseldorf. Große und repräsentative Orgs mit überregionaler Bedeutung, die möglichst alle Dienstleistungen der SO unter einem Dach anbieten, werden als "Ideale Orgs" bezeichnet. Im Rahmen der "Ideal-Org"Kampagnen will die SO weltweit in Städten, die sie zur Erreichung ihrer Ziele als politisch und wirtschaftlich bedeutsam erachtet, Ideale Orgs aufbauen bzw. bestehende Einrichtungen vergrößern. Dieser Aufbau wird allein aus Spenden finanziert. Derzeit existieren drei Ideale Orgs in Deutschland, in Berlin, Hamburg und Stuttgart. 234 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Scientology organiSation Die SO verfügt über einen eigenen Geheimdienst, das "Office of Special Affairs" (OSA), welches gegen SO-kritische Positionen und Personen vorgehen soll. Es ist davon auszugehen, dass die SO mithilfe des OSA zielgerichtet personenbezogene Informationen zu ihren Kritikern und Gegnern sammelt und diese in gerichtlichen Verfahren oder für Diffamierungskampagnen nutzt. Der Church-Bereich (d.h. der Bereich der ideologischen und indoktrinären Kernarbeit) ist neben den Tarnorganisationen "World Institute of Scientology Enterprise" (WISE) und "Association for Better Living and Education" (ABLE) eine der wichtigsten organisatorischen Säulen der SO. Mit Hilfe dieser und anderer Tarnund Nebenorganisationen, wie bspw. "The Way to Happiness Foundation" (TWTH-Foundation), "Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben", "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V." (KVPM), soll der Schein einer attraktiven, humanitären und sozialen Organisation gewahrt werden. Da diese Nebenund Tarnorganisationen auf den ersten Blick einen Zusammenhang mit der SO nicht erkennen lassen, wird hierüber versucht, sich in unterschiedliche gesellschaftliche und politische Themen einzubringen, um die Ideologie der SO in die Gesellschaft zu tragen. Hierbei besteht grundsätzlich die Gefahr, dass Veranstaltungen der Nebenund Tarnorganisationen nicht als Aktivität der SO erkannt werden und daher unwissentlich auf Kontaktangebote der SO eingegangen wird. Mitglieder Sachsen-Anhalt: einstelliger Bereich Anhänger (2021: einstelliger Bereich) Bund: 3.500 (2021: etwa 3.500) Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 235 Scientology organiSation VeröffentliWeb-Angebot: www.scientology.de chungen Internationale Publikationen: Impact, Scientology News, Celebrity, Source, Freewinds, OT-Universe, The Auditor, Advance Deutschsprachige Publikation: Freiheit Finanzierung Vertrieb von kostenpflichtigen Kursen und Materialien; Spenden Kurzportrait / Ziele 1 2 Gemäß der von SO-Mitgliedern als unabänderlich und bindend betrachteten Ideologie von Hubbard strebt die SO die Erreichung eines "Clear-Planet" an: In einem idealen Endzustand sollen alle Menschen der scientologischen Gesellschaft angehören. Die SO will eine Weltordnung errichten, in der die Werte und Ansichten von Scientology universelle Geltung haben. Dem Gleichheitsprinzip würde diese Ordnung grundlegend widersprechen, da die SO alle Menschen in "Aberrierte", d.h. Nicht-Scientologen, "Nichtaberrierte" (= Scientologen) und geistig Gestörte, deren Menschenrechte eingeschränkt werden sollen, unterteilt. Um die scientologische "Ethik" durchzusetzen, ist die SO darum bemüht, Einfluss auf die Gesellschaft, Wirtschaft und Politik auszuüben. Grund der Beobachtung Seit 1997 steht die SO unter der Beobachtung der Verfassungsschutzbehörden. Ihre Lehre zielt auf die Einschränkung oder Außerkraftsetzung wesentlicher Grundund Menschenrechte 1 - Das "S" steht für Scientology. Das untere ARCDreieck steht für Affinität, Realität und Kommunikation (Communication), das obere KRC-Dreieck steht für Wissen (knowledge), Verantwortung (responsibility) und Kontrolle (control). 2 - Das Scientology-Kreuz entstand 1954, L. Ron Hubbard fand den grundlegenden Entwurf für das Sonnenkreuz der Scientology in einer alten spanischen Mission in Arizona. 236 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Scientology organiSation (etwa der Unantastbarkeit der Menschenwürde, der Meinungsfreiheit und der Gleichheit aller vor dem Gesetz) ab. Zudem strebt die SO eine Gesellschaft ohne allgemeine und gleiche Wahlen an. Während die Organisation ihre extremistischen Ziele nach außen verbergen will oder leugnet, vertritt sie diese unverstellt gegenüber ihren Anhängern und offenbart dabei ihr totalitäres Programm. Mit der Entscheidung des OVG Münster vom 12. Februar 2008 ist die Rechtmäßigkeit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz bestätigt worden. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Vom 18. bis 21. Mai 2022 machte die SO-Tarnorganisation KVPM mit ihrer Wanderausstellung "Psychiatrie: Tod statt Hilfe" Halt in Magdeburg, wo sie ihr Ausstellungszelt in unmittelbarer Nähe des Landtags aufbauen konnte. Am 20. Mai 2022 führte die KVPM eine Demonstration unter dem Motto "Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie" in Magdeburg durch. An der Versammlung waren schätzungsweise 70 Personen beteiligt. Diese reisten (mit eigens organisierten Bussen und Personenkraftwagen) aus anderen Bundesländern an. Ein großer Teil der Versammlungsteilnehmer trug schwarze T-Shirts und Basecaps mit dem Logo der KVPM (erhobenen Faust und der Waagschale). Ferner konnten unterschiedliche Aufdrucke und Logos auf den T-Shirts wahrgenommen werden, welche eindeutig der KVPM zugeordnet werden. So trugen die Teilnehmer bspw. T-Shirts mit dem Namen der "Citizens Commission on Human Rights International (CCHR)"3 oder die entsprechenden Slogans, wie "Psychiatrie tötet!" etc. Hintergrund der Wanderausstellung und der Demonstration war ein Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, der zeitgleich in Magdeburg stattfand. Die SO ist der Auffassung, dass Kinder mit Tests und erfundenen Diagnosen willkür- 3 - Die CCHR ist eine Tarn-Organisation der SO, die sich für die Menschenrechte in der Psychiatrie einsetzt. In Deutschland ist die CCHR als KVPM bekannt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 237 Scientology organiSation lich als Kranke abgestempelt und mit schädigenden Psychopharmaka behandelt werden. Sie steht der Kinderund Jugendpsychiatrie daher grundsätzlich ablehnend gegenüber. Die KVPM kommuniziert ihre Zugehörigkeit zur SO bei Veranstaltungen nicht offen. Mögliche Interessierte können somit über deren eigentliche Zielsetzung und ideologische Ausrichtung getäuscht werden. Es besteht daher die Gefahr, dass interessierte Teilnehmer und Beobachter über solche Informationsveranstaltungen bzw. Demonstrationen versteckt an die Geschäftspraktiken und die Ideologie der SO herangeführt werden. 238 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Scientology organiSation Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die SO wendet zur Erreichung ihrer Ziele nach wie vor dieselben Mittel wie in den vergangenen Jahren an und erschließt sich zusätzlich Teile des digitalen Raums. Sie unternimmt weiterhin Anstrengungen, um gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen, die Organisation zu vergrößern und die finanziellen Einnahmen zu erhöhen. Hierzu versucht sie insbesondere junge Erwachsene anzusprechen. Ihrem Ziel der Errichtung einer scientologischen Gesellschaft wird SO in Sachsen-Anhalt jedoch nicht näherkommen. Ihr gelingt es hierzulande nach wie vor nicht, Mitglieder zu gewinnen und Strukturen aufzubauen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 239 Spionageabwehr SPIONAGEABWEHR Einleitung 241 Russische Nachrichtendienste 243 Chinesische Nachrichtendienste 244 Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran 247 Andere Nachrichtendienste 248 Hybride Bedrohungen 249 Cyberabwehr 254 Wirtschaftsschutz 258 Proliferationsabwehr 262 240 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr EINLEITUNG Unter Spionage versteht man die verdeckte nachrichtendienstliche Beschaffung und Erlangung nichtöffentlich zugänglicher Informationen oder geschützten Wissens durch fremde Mächte. Die Regierungen von beinahe allen Staaten dieser Welt setzen ihre Nachrichtendienste auch zu dem Zweck ein, an vertrauliche Informationen über strategische Vorhaben anderer Staaten zu gelangen. Die Abwehr solcher Spionageaktivitäten fremder Nachrichtendienste ist eine der wesentlichen Aufgaben des Verfassungsschutzes. Aufgrund ihrer geostrategischen Lage, ihrer bedeutenden Position innerhalb der Europäischen Union und der NATO sowie als eine der führenden Exportnationen mit Standorten zahlreicher Unternehmen der Spitzentechnologie ist die Bundesrepublik Deutschland ein prioritäres Aufklärungsziel für Nachrichtendienste fremder Staaten. Daher ist es die Aufgabe der Spionageabwehr, sich mit der Aufklärung, der Abwehr und der Prävention von Spionageaktivitäten fremder Nachrichtendienste zu beschäftigen. Vor diesem Hintergrund sammelt die Spionageabwehr Informationen über geheimdienstliche Aktivitäten und wertet sie aus. Die gesetzliche Grundlage dafür bildet SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA. Im Rahmen der sog. "360-GradBearbeitung" geht sie allen tatsächlichen Anhaltspunkten für sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht nach. Hierbei erfolgt eine enge Zusammenarbeit mit dem BfV, den Landesbehörden für Verfassungsschutz, dem Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) und allen anderen Sicherheitsbehörden. Da die Tätigkeit von Nachrichtendiensten im Zielland von der jeweiligen Spionageabwehr beobachtet wird, werden Nachrichtendienstangehörige unter dem Schutz des Diplomatenstatus oder der konsularischen Immunität in den Auslandsvertretungen der fremden Staaten untergebracht. Man spricht von sogenannten Legalresidenturen. Fremde Nachrichtendienste setzen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 241 Spionageabwehr zur Erlangung nichtöffentlicher bzw. geheimhaltungsbedürftiger Informationen nicht nur ihr eigenes Personal ein, sondern versuchen regelmäßig auch, Bürgerinnen und Bürger des Gastlandes für ihre Zwecke zu gewinnen. Diese Vorgehensweise ist als Agentenführung bekannt. Abseits dieser "klassischen" Form der Spionage versuchen fremde Nachrichtendienste, mithilfe der Cyberspionage an vertrauliche Daten zu gelangen. Dabei richten sich staatlich gelenkte Cyberangriffe nicht nur gegen staatliche Institutionen und Unternehmen, sondern auch gegen Privatpersonen, insbesondere Amtsund Mandatsträger, die durch das Erbeuten sensibler personenbezogener Daten erpressbar gemacht werden sollen. Mit dem "Leaken" der illegal erlangten Daten soll das Opfer bloßgestellt werden, um es so seines Einflusses zu berauben oder lächerlich zu machen. Häufig werden die erbeuteten Dateien zudem mit Malware versehen und somit einer "zweiten Nutzung" zugeführt. Um die staatlichen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland zu schwächen, versuchen fremde Nachrichtendienste außerdem, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, indem sie die Verbreitung von Desinformation in den sozialen Medien forcieren. Zu den Hauptakteuren solcher nachrichtendienstlichen Aktivitäten in Deutschland zählen die Russische Föderation, die Volksrepublik China und die Islamische Republik Iran. Im Hinblick auf Auslandsreisen, insbesondere in die Russische Föderation und die Volksrepublik China, besteht für deutsche Staatsangehörige die Gefahr, das Interesse dortiger Nachrichtendienste zu wecken. Dies kann vor allem Firmenvertreter und Angehörige des Öffentlichen Dienstes betreffen. Erfahrungen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass immer wieder Reisende mit Vorwürfen zu vermeintlichem Fehlverhalten angesprochen und kompromittierende Situationen geschaffen werden, um Druck auszuüben und in diesem Kontext erfolgreich für nachrichtendienstliche Tätigkeiten zu werben bzw. die Preisgabe von Informationen zu erwirken. Ebenso muss bei solchen Reisen mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass mitgeführte Unterla242 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr gen und Technik (Mobiltelefone, Laptops etc.) im Interesse eines Nachrichtendienstes ausspioniert werden. Russische Nachrichtendienste Aufklärungsmaßnahmen russischer Nachrichtendienste in Deutschland richten sich in erster #linie gegen politische Mandatsträger, Denkfabriken, Nichtregierungsorganisationen und Vereine mit Bezügen zu Russland oder anderen osteuropäischen Staaten. Mittels Propaganda und der Verbreitung von Desinformation, die insbesondere über staatliche Institutionen, staatlich gelenkte Medien und soziale Netzwerke gestreut wird, versuchen russische Nachrichtendienste, Einfluss auf Willensbildungsprozesse auszuüben, Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen zu erregen und die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland auf diese Weise langfristig zu destabilisieren. Die drei maßgeblichen Nachrichtendienste der Russischen Föderation sind: - der Auslandsnachrichtendienst Sluschba Wneschnei Raswedki (SWR), - der Inlandsnachrichtendienst Federalnaja Sluschba Besopasnosti (FSB) und - der militärische Nachrichtendienst Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU). Diese Nachrichtendienste haben weitreichende gesetzliche Befugnisse und flankieren die Interessen ihrer Regierung mittels verborgener und offener Maßnahmen, zu denen auch geheimdienstliche Morde zählen.1 Neben den Ministerien für Verteidigung, Inneres und Justiz sowie weiteren Sicherheitsbehörden gehören sie zum unmittelbaren Einflussbereich des russischen Staatspräsidenten. Angehörige russischer Nachrichtendienste, die in Deutschland aus den Botschaften und Konsulaten heraus ihre nachrichten- 1 - Vgl. Urteil des Berliner Kammergerichts vom 15. Dezember 2021, Az.: 2 StE 2/20 und 3 StE/20-1. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 243 Spionageabwehr dienstliche Tätigkeit entfalten, missbrauchen ihren diplomatischen Status und das Vertrauen ihrer nicht selten arglosen Kontaktpersonen. Oft kommen sie allein durch geschickte Gesprächsführung an schutzbedürftige Informationen heran. Sofern Kontaktpersonen interessante Informationen liefern können, versuchen diese "Legalresidenturoffiziere" die bislang offenen Kontakte auszubauen und konspirative Elemente in die Verbindung einzuführen. Persönliche Zuwendungen werden intensiviert, offene Telefonate vermieden und konspirative Treffen im Voraus festgelegt. Die Nachrichtendienstmitarbeiter bauen eine vertrauensvolle und freundschaftliche Verbindung auf, die dem Abschöpfen von Informationen dienen. Dazu werden Bitten um Zusammenstellung unverfänglicher Informationen geäußert, denen konkrete Beschaffungsaufträge folgen können, die mit Sachoder Geldleistungen honoriert werden. Die Bitte um absolute Verschwiegenheit, die von einem Vertreter einer konsularischen oder diplomatischen Vertretung geäußert wird, kennzeichnet eine konspirative, nachrichtendienstliche Verbindung. Chinesische Nachrichtendienste In der Volksrepublik China (VRC) bedient sich die Führung der "Kommunistischen Partei" (KPCh) der Nachrichtendienste zu dem Zweck, ihren absoluten Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Klar definiertes Ziel der politischen Führung in Peking ist es, strategische Vorteile zu gewinnen, die eigenen wirtschaftlichen Interessen zu fördern und die Position der weltweit führenden Industrienation einzunehmen. Die Aufgabe der Nachrichtendienste ist es, das Erreichen dieser Ziele durch Informationsgewinnung in Politik, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft zu unterstützen und damit die geostrategischen Ambitionen der VRC zu fördern. Mitarbeiter der Nachrichtendienste agieren konspirativ und häufig getarnt als Journalisten, Studenten oder Diplomaten, die an den amtlichen Vertretungen in der Bundesrepublik Deutschland (Legalresidenturen) eingesetzt werden. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist das Ausspähen und Unter244 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr wandern von in Deutschland lebenden Oppositionellen sowie von Aktivitäten, die von der chinesischen Regierung unter der Bezeichnung "Fünf Gifte" zusammengefasst und als staatsfeindlich angesehen werden: Dies sind die Meditationsbewegung Falun Gong, die Demokratiebewegung, die Bewegungen für Autonomie in den Provinzen Tibet und Xinjiang sowie Befürworter eines unabhängigen Taiwan. Die KPCh nimmt innerstaatliche Konflikte mit Oppositionellen und nationalen Minderheiten als Bedrohung der inneren Sicherheit und ihrer autoritären Herrschaft wahr. Die VRC verfügt über folgende Nachrichtendienste: - den zivilen Inund Auslandsnachrichtendienst Ministry of State Security - Ministerium für Staatssicherheit (MSS), - das Ministry of Public Security - Ministerium für Öffentliche Sicherheit (MPS) und - den militärischen Nachrichtendienst Military Intelligence Directorate - Direktorium für den Militärischen Nachrichtendienst (MID). Zudem unterhält die KPCh mehrere parteieigene funktionale Nachrichtendienste:2 - "Büro 610" dient der weltweiten Überwachung der Meditationsbewegung "Falun Gong", - International Liaison Department of the Central Committee of the Communist Party of China (IDCPC), das Tatsachen und Erkenntnisse über Partnerparteien und Kontrahenten der KPCh sammelt und auswertet, - United Front Work Department (UFWD), welches Mitglieder und Nicht-Mitglieder der KPCh innerhalb der VRC und weltweit an die Interessen der KPCh bindet und für die Umsetzung der Parteilinie sorgt. 2 - Ein funktionaler Nachrichtendienst ist eine Organisation, die Spionage betreibt, ohne Nachrichtenoder Geheimdienst zu sein. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 245 Spionageabwehr Daneben verfügt die chinesische Regierung über weitere Instrumente zur Durchsetzung ihrer Interessen im Ausland. Ein Beispiel hierfür sind die Konfuzius-Institute (KI), die die VRC seit 2004 offiziell mit dem Ziel des kulturellen und wissenschaftlichen Austauschs im Ausland gründet. Die KI sind immer im Umfeld einer Universität oder Hochschule angesiedelt und werden von diesen materiell unterstützt. Derzeit gibt es 19 KI in Deutschland. Das Lehrpersonal wird hingegen von staatlichen chinesischen Institutionen ausgewählt und ausgebildet. Dies unterscheidet sie von vergleichbaren Kultureinrichtungen anderer Staaten, zum Beispiel dem deutschen Goetheoder dem spanischen Cervantes-Institut. Die Kl werden seit Jahren verdächtigt, Werkzeuge chinesischer Einflussnahme in der Bundesrepublik Deutschland zu sein. Nach dem Willen des Staatsund Parteichefs Xi Jinping sollen sich die Kl künftig neu ausrichten und einen Fokus dem "Aufbau der sozialistischen Kultur" und der Unterstützung einer "Diplomatie chinesischer Prägung" zuwenden.3 Mehrere Universitäten haben die Kooperation oder ihre finanzielle Unterstützung eingestellt. Die KI gefährden weiterhin die akademische Freiheit in Forschung und Lehre und werden als wichtige politische Einflussakteure und Instrumente der Machtprojektion der KPCh im Ausland aktiv bleiben. China verfolgt auch weiterhin konsequent ein ambitioniertes und langfristiges Programm, um in zukunftsweisenden Bereichen der Hochtechnologie Anschluss an die führenden Industrienationen zu erlangen. Neben dem Ausbau von Macht und Einfluss und dem Umbau der eigenen Volkswirtschaft hin zu mehr Unabhängigkeit, strebt die Staatsund Parteiführung eine globale Technologieführerschaft an. Dieses Ziel soll spätestens im Jahr 2049 zum 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China erreicht werden. Wichtige Elemente sind z. B. die Strategie "China Standards 2035", mit der eigene Standards bei neuen Produkten und Technologien international durchgesetzt 3 - Zitiert nach: Antwort der Bundesregierung auf Frage 6 in der Bundestagsdrucksache 19/15560, S. 3. 246 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr werden sollen, und das geostrategische Projekt "Neue Seidenstraße" bzw. "Belt and Road Initiative" (BRI), mit dem länderübergreifende bzw. globale Transportinfrastrukturen im chinesischen Interesse gefördert oder geschaffen werden. Aufgrund der Vorfinanzierung der Errichtungsund Ausbaukosten z. B. von Häfen, Bahntrassen und Straßen im Ausland seitens der VRC entstehen Abhängigkeiten der Transitund Zielländer. Schließlich setzt die VRC auf verschiedene Methoden des Know-HowErwerbs, vor allem bei Zukunftstechnologien. So stellt neben nachrichtendienstlichen Aktivitäten der legale Erwerb von westlichen Unternehmen mit strategischem Know-how seit Jahren eine wichtige Methode dar. 4 Um an Informationen zu gelangen, die ihren strategischen Interessen förderlich sind, entsendet die VRC außerdem chinesische Masteroder Promotionsstudenten an europäische bzw. deutsche Universitäten. Einige dieser Studenten stammen von chinesischen Universitäten, an denen zu militärischen Technologien geforscht wird oder von denen die Rüstungsindustrie Chinas bevorzugt ihre Nachwuchskräfte rekrutiert. Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran Das vorrangige Interesse iranischer Nachrichtendienste gilt der Bekämpfung und Ausspähung von im Inund Ausland lebenden bzw. tätigen oppositionellen Personen und Gruppierungen, zu denen insbesondere der "Nationale Widerstandsrat Iran" und sein ehemals militärischer Arm, die "Volksmodschahedin IranOrganisation", sowie monarchistische und kurdische Gruppierungen zählen. In diesem Zusammenhang mehren sich seit Jahren Hinweise auf staatsterroristische Aktivitäten der iranischen Regierung in europäischen Ländern. Das Ministry of Intelligence of the Islamic Republic of Iran (MOIS) gilt als Hauptakteur nachrichtendienstlicher Aktivitäten gegen die Bundesrepublik Deutschland. Daneben verfügen die 4 - Siehe hierzu auch die Ausführungen zu Ausländischen Direktinvestitionen im Abschnitt "Wirtschaftsschutz" auf S. 259 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 247 Spionageabwehr sogenannten Revolutionsgarden (Islamic Revolutionary Guard Corps (IRGC)) über einen eigenen Nachrichtendienst, das Revolutionary Guard Intelligence Directorate (RGID), und mit den Quds Force5 außerdem über Spezialkräfte für militärische Kommandoaktionen und Staatsterrorismus. Die Ausspähungsaktivitäten der Quds Force richten sich in Deutschland insbesondere gegen (pro-)jüdische bzw. (pro-)israelische Institutionen und Unternehmen sowie einzelne exponierte, für diese Einrichtungen tätige Personen, die in Vorbereitung auf den Bedarfsfall als potenzielle Anschlagsziele aufgeklärt werden. Andere Nachrichtendienste Neben den angeführten Ländern sind insbesondere die Nachrichtendienste Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens in Deutschland aktiv. Ihre Tätigkeiten richten sich hauptsächlich gegen im Exil lebende Oppositionelle, speziell wenn diese in Deutschland an Demonstrationen teilnehmen oder sich an Kampagnen gegen die Regierungen ihrer Herkunftsländer beteiligen. Wenngleich die Türkei zur NATO gehört, ist hier auch der türkische Inund Auslandsnachrichtendienst "Milli Istihbarat TeSSkiläti" (MIT) als Beispiel zu nennen. Der MIT stellt ein zentrales Element der türkischen Sicherheitsarchitektur dar; den Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Aufklärung der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) und der sogenannten Gülen-Bewegung. Türkische Stellen werfen dem islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen Anhängern vor, den gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 initiiert zu haben. Zu weiteren nachrichtendienstlichen Aktivitäten, die im Zuge der Flüchtlingsbewegung erkannt wurden, aber auch heute noch weitgehend fortgesetzt werden, wird auf diese Broschüre verwiesen: 5 - Al-Quds bedeutet "die Heilige", die arabische Bezeichnung für Jerusalem. 248 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr "Aktivitäten extremistischer Akteure im Zusammenhang mit Flüchtlingen" (S. 41ff.). Diese kann unter: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/ publikationen/publikationen-tagungsbaende/ heruntergeladen oder bestellt werden. Hybride Bedrohungen Immer relevanter werden die sogenannten hybriden Bedrohungen. Ihr Kennzeichen ist das kombinierte Anwenden konventioneller und nicht-konventioneller Mittel im gesamten Spektrum ziviler bis hin zu (para-)militärischen Maßnahmen, wobei die Urheberschaft im Regelfall gezielt verschleiert wird. Hybride Aktivitäten zielen darauf ab, das gesellschaftliche und politische Gefüge in einem Land nachhaltig zu schwächen. Diese Aktivitäten sind in den letzten Jahren zu einem bedeutsamen Mittel im Kampf um Einfluss und Vorherrschaft im globalen Gefüge geworden. Mit der gezielten Verbreitung von Falschinformationen wird versucht, Politik, Gesellschaft oder bestimmte Personengruppen anderer Länder zu beeinflussen. Der Einsatz von Desinformationskampagnen stellt in diesem Zusammenhang ein herausragendes Instrument dar. Zielrichtung solcher Kampagnen ist die Infragestellung freiheitlicher, demokratischer Werte sowie des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland und in westlichen Staaten allgemein. Dabei bietet das Internet die idealen Voraussetzungen für entsprechende Desinformationskampagnen. Online ausgelöste und gesteuerte Initiativen sind verhältnismäßig kostengünstig umzusetzen und leicht zu tarnen, häufig ist der Verursacher nicht erkennbar und bleibt anonym. Desinformationskampagnen zielen auf eine schnelle Verbreitung und breite Wirkung falscher Nachrichten und Narrative. Ein bewusstes Verbreiten (Wissen um Falschheit, Identifikation mit Botschaft und Urheber) ist ebenso beabsichtigt wie ein unbewusstes. Unkritische VerbreiVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 249 Spionageabwehr tung ohne Bewertung oder ein "Aufspringen" funktionieren, wenn Desinformation z. B. Aufmerksamkeit erregt, Stimmungen bedient oder in vorhandene Deutungsmuster zu passen scheint. So entwickelt sich häufig eine hohe Eigendynamik. Wenn Diskussionen in sozialen Netzwerken gezielt gesteuert und Nachrichten manipuliert oder aus dem Kontext gerissen werden, kann Verwirrung entstehen und dies wiederum die öffentlichen Debatten beeinflussen. Ziel dieser hybriden Maßnahmen ist es, das Vertrauen in staatliche Stellen zu untergraben, Politiker und demokratische Prozesse zu delegitimieren oder gesellschaftliche Konfliktlinien zu vertiefen. Offene, pluralistische und demokratische Gesellschaften, die ein breites Meinungsspektrum zulassen und gerade nicht - wie in Autokratien zu beobachten - den Meinungskorridor verengen, sind besonders anfällig für solche Einflussoperationen. Russische Desinformation im Kontext Hybrider Bedrohungen und des Angrifskrieges gegen die Ukraine Insbesondere die Russische Föderation versucht seit Jahren, den öffentlichen Diskurs in westlichen Demokratien durch die Verbreitung von Desinformation in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie ist bestrebt, die politische und öffentliche Meinung in Deutschland und anderen Staaten durch das Verbreiten von Desinformation, Propaganda sowie durch weitere Versuche illegitimer Einflussnahme zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Dafür nutzt sie u. a. auch solche Medien, die Teil ihres staatlichen Propagandaapparates sind. Eine eindeutige Zuordnung der Urheberschaft solcher Kampagnen zu staatlichen Stellen der Russischen Föderation ist zwar häufig nicht möglich, aber Vorgehensweisen, thematische Aspekte und beteiligte Akteure liefern starke Indizien für mutmaßlich von staatlichen Institutionen der Russischen Föderation intendierte und koordinierte Desinformationskampagnen. Nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der Russischen Föderation gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 250 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr haben russische Desinformationskampagnen ein bislang nicht gekanntes Ausmaß erreicht. Vermehrt traten dabei nicht nur offizielle russische Stellen als Desinformationsakteure in Erscheinung, die alle ihnen zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel nutzten, z. B. offizielle Pressestatements des Außenministeriums, eigene Kanäle in sozialen Medien sowie Webseiten der russischen Botschaften. Ebenso verbreiteten staatsnahe russische Medien zielgerichtet Falschinformationen, Desinformation und Propaganda. Seit der durch die Sanktionen bewirkten Einschränkung der Reichweite russischer staatsnaher Medien in Europa (wie z. B. des Auslandsprogramms von Russia Today "RT DE") wurden pro-russische Desinformation und Propaganda verstärkt über Accounts in sozialen Medien verbreitet. Auch in Westeuropa lebende Personen, die dem russischen Angriffskrieg und der aktuellen russischen Regierung unkritisch gegenüberstehen, erwiesen sich als wertvolle Multiplikatoren der Verbreitung dieser Narrative und Propaganda. So erreichten beispielsweise Telegram-Kanäle wie "Neues aus Russland" (Telegram-Kanal) und "Russländer & Friends", Youtube-Kanäle wie "InfraRot Medien" und Webseiten wie "Anti-Spiegel" (Webseite) und "SouthFront" hohe Followerbzw. Abonnentenzahlen. Dabei waren und sind mehrere Zielrichtungen pro-russischer Desinformationskampagnen erkennbar: Gezielte Propaganda mit Desinformationen gegenüber der eigenen Bevölkerung (einschließlich der im Ausland lebenden eigenen Staatsbürger) soll den Krieg gegen die Ukraine als Reaktion auf angebliche Bedrohungen der Russischen Föderation rechtfertigen und die NATO und den Westen als eigentliche Aggressoren und den Überfall auf die Ukraine als legitimen Akt der Verteidigung russischer Sicherheitsinteressen darstellen. Gleichzeitig wird die militärische und politische Überlegenheit des eigenen Staates betont, während die westlichen Staaten als schwach darstellt werden. So soll eine hohe Zustimmung der russischen Bevölkerung zum Vorgehen in der Ukraine sichergestellt werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 251 Spionageabwehr In Bezug auf die internationale Wahrnehmung steht das Bemühen der russischen Regierung, die Deutungshoheit über die Bewertung des Angriffskriegs gegen die Ukraine aufrecht zu erhalten. Zudem sollen negative Reaktionen der Staatengemeinschaft sowie eine ausländische ideelle und materielle Unterstützung der Ukraine erschwert oder verhindert werden. Hybride Maßnahmen zielen auch darauf, den inneren Zusammenhalt der EU und der NATO zu destabilisieren und mögliche Spaltungslinien in den westlichen Gesellschaften zu verschärfen. Gängige Narrative, die russische Interessen und Sichtweisen in propagandistischer und desinformierender Weise bedienen, wurden wiederkehrend medial thematisiert, kommentiert, überhöht und weiterverbreitet. Dazu zählen beispielsweise: - Dem Westen wird aufgrund seiner Waffenund Sanktionspolitik eine Mitverantwortung und Mitschuld am Krieg attestiert. - Es wird regelmäßig auf die angeblich fehlende Einigkeit Europas in den aktuellen Krisen hingewiesen. - Behauptungen zu von den USA finanzierten Laboren in der Ukraine, die angeblich an der Entwicklung von Biowaffen beteiligt seien, werden regelmäßig wiederholt. - Es wurde Angst vor einer existenzbedrohenden Energieund Lebensmittelknappheit in Europa geschürt. Die Verantwortung für die aktuelle Krisensituation wird dabei den westlichen Regierungen zugeschrieben. - In Bezug auf gedrosselte bzw. ausgesetzte Gaslieferungen nach Europa wurde auf mangelnde Wartungsbzw. verzögerte Reparaturleistungen westlicher Staaten und deren Vertragsbrüchigkeit (Sanktionen der EU, "Gaspreisdeckel") verwiesen. - Wiederholt wird auf eine angebliche "Russophobie" in Europa verwiesen. Dazu wurden vermeintliche "Beispiele" im Internet und in den sozialen Medien verbreitet und geteilt. 252 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr Ebenso war zu beobachten, dass die Verbreitung pro-russischer Narrative in der Szene der sog. Corona-Leugner, Impfgegner und im verschwörungsgläubigen Milieu zunimmt. Die russischen Auslandsmedien in Deutschland, die bereits während der Corona-Pandemie zu einem führenden Medium in diesem Milieu geworden sind, knüpften gezielt an verbreitete Narrative in diesen Gruppen an, indem z. B. eine möglicherweise existenzbedrohende Energieund Lebensmittelkrise suggeriert wurde, um das Narrativ zu bestärken, die westlichen Regierungen handelten irrational und gegen das Interesse der eigenen Bevölkerung. Was können Bürgerinnen und Bürger gegen Desinformation tun? Desinformation entfaltet vor allem dadurch ihre Wirkung, dass ihre wahrheitswidrigen Inhalte bewusst emotionalisieren und dann von vielen Menschen ungeprüft und unkritisch weiterverbreitet werden. Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Widerstandskraft im Informationsraum sind Kernelemente eines wirksamen Schutzes. Die Verfassungsschutzbehörde gibt folgende Handlungsempfehlungen, um nicht Opfer von Desinformation zu werden. - Informationen kritisch hinterfragen statt weiterleiten. - Erfahrungsgemäß werden Meldungen umso häufiger verbreitet, je emotionaler oder dramatischer sie formuliert sind. Desinformationskampagnen zielen genau darauf ab, dass sich falsche Meldungen und Nachrichten viral verbreiten und so Verunsicherung schüren und Ängste auslösen - ohne dass deren Wahrheitsgehalt hinterfragt wird. - Deshalb ist es wichtig, sich nicht daran zu beteiligen. Fragliche oder zweifelhafte Inhalte sollten nicht ungeprüft weitergeleitet oder geteilt werden. - Seriöse Berichterstattung ist unabhängig und faktenbasiert. Desinformation erfolgt zielgerichtet, parteiisch und häufig unter Verschleierung ihres wahren Urhebers. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 253 Spionageabwehr - Daher sollten stets Quelle und Urheber kritisch geprüft werden. - Faktenchecks nutzen und Informationen lesen. - Inhalte sollten mit weiteren vertrauenswürdigen Quellen, z. B. Medienangebote der Nachrichtensender und Tagesund Wochenzeitungen, verglichen werden. - Unabhängige Medien recherchieren zu ihren Meldungen und bieten Zusatzund Hintergrundinformationen bzw. Faktenchecks an. Bei Unsicherheiten finden sich in der Regel Hinweise, das Bildund Videomaterial oder Berichte aus Krisengebieten nicht unabhängig überprüft werden können. Cyberabwehr Für fremde Nachrichtendienste sowie andere fremde staatliche oder staatlich unterstützte Akteure ist der Cyberraum ein wichtiges Operationsgebiet, das auch zum Kriegsschauplatz werden kann. Auf Grund der technologischen und informationstechnischen Entwicklung der vergangenen Jahre in Verbindung mit der fortschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche wachsen die Gefahren, Opfer eines Cyberangriffs zu werden. Grundsätzlich kann jedes Gerät mit Internetschnittstelle von Cyberakteuren identifiziert und angegriffen werden. Der Verfassungsschutz bietet Unternehmen und Behörden eine Mitarbeitersensibilisierung zum Schutz vor nachrichtendienstlich gesteuerten Cyberangriffen an. Ransomwareangriffe werden nach derzeitigem Kenntnisstand überwiegend von Kriminellen mit der Absicht ausgeführt, ein Lösegeld zu erpressen. Sie werden strafrechtlich von der Polizei und den Staatsanwaltschaften verfolgt. Angesichts der umfassenden Überwachungsund Unterdrückungsmechanismen in der Russischen Föderation, China und Nordkorea ist allerdings davon auszugehen, dass deren staatliche Stellen Cyberangriffe zumindest dulden, da diese in den Zielländern destabilisierend wirken. Nordkoreanische staatliche 254 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr Hacker generieren mittels Erpressungen, die mit Cyberangriffen umgesetzt werden, zudem Devisen zur Unterstützung des Staatshaushaltes. Cyberangriffe der Russischen Föderation Russische Nachrichtendienste nutzen den Cyberraum seit mehr als einem Jahrzehnt zur Unterstützung der offiziellen Regierungspolitik, aber auch um (Wirtschafts-)Spionage und Sabotage zu betreiben. Daneben gibt es in der Russischen Föderation Cyberakteure, die staatlich gegründet oder staatlich unterstützt, bisweilen auch nur staatlich geduldet sind und die aus kriminellen, nachrichtendienstlichen oder politisch-aktivistischen Motiven gegen europäische und deutsche Ziele handeln. Mit Beginn seiner völkerrechtswidrigen Invasion in der Ukraine verstärkte Russland massiv den Cyberkrieg gegen die Ukraine. Die Staaten der NATO und der EU hatten der Ukraine ihre Unterstützung zugesichert und wurden daher ebenfalls verstärkt von russischen Cyberakteuren angegriffen. Im Zuge des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gelang es deutschen Sicherheitsbehörden, technische Hinweise zu generieren, die der Identifizierung von Cyberangriffen russischer Herkunft dienen konnten. Diese technischen Hinweise, die auch als Indicators of Compromise (IoC) bezeichnet werden, können IP-Adressen, URLs, Hashwerte, E-Mail-Adressen umfassen. Sicherheitshinweise des BfV, die sich an staatliche Behörden und an die Wirtschaft richteten, gab die Verfassungsschutzbehörde das Landes Sachsen-Anhalt an die obersten Landesbehörden, an mehrere Wirtschaftsverbände, Kritische Infrastrukturen, Unternehmen sowie Hochschulen in Sachsen-Anhalt weiter. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 255 Spionageabwehr Ghostwriter Der Cyberakteur Ghostwriter, der dem GRU zuzurechnen ist und der bereits 2021 sehr aktiv gewesen war, setzte seine Hack-andLeak-Operationen gegen Stellen in der Bundesrepublik Deutschland und in Sachsen-Anhalt fort und griff 2022 mehrfach Personen des öffentlichen Lebens an. Mittels gefälschter Warnmeldungen, die denen zweier großer Internetprovider ähnelten, täuschte Ghostwriter vor, an der Sicherheit der anvisierten IT-Netzwerke interessiert zu sein. Dadurch sollten die Anwender dazu verleitet werden, Kennwort und Passwort der E-Mail-Software preiszugeben. Ghostwriter erhofft sich, neben verborgenen und möglicherweise kompromittierenden Details aus dem Privatleben der angegriffenen Personen auch weitere E-Mail-Adressen zu erlangen, um die Angriffe ausweiten zu können. Die sachsen-anhaltische Verfassungsschutzbehörde hat betroffene Institutionen und Personen diesbezüglich beraten und unterstützt. Cyberkrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine Parallel zum völkerrechtswidrigen Angriff der Invasionsstreitkräfte griffen russische Hacker den KA-SAT-Kommunikationssatelliten des US-amerikanischen Unternehmens Viasat an. Dort befanden sich Teile der informationstechnischen Infrastruktur der ukrainischen Armee, diese setzte die Cyberattacke außer Funktion. Da derselbe Satellit für die softwaretechnische Fernwartung hunderter Windkraftanlagen, an Land und auf hoher See, genutzt worden war, wurden auch diese in Mitleidenschaft gezogen. Dies betraf auch Anlagen in Sachsen-Anhalt. Nach kurzer Zeit konnte jedoch ein anderer Satellit für diese Aufgabe genutzt werden, sodass sich dieser Kollateralschaden in Grenzen hielt. Killnet Seit April 2022 zog der pro-russische Cyberakteur Killnet Aufmerksamkeit auf sich. Er griff mittels technisch niederschwelli256 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr ger DDoS-Attacken6 die Internetseiten namhafter Institutionen (z. B. die Homepage der Bundeswehr) an. Die betroffenen Homepages fielen für kurze Zeit aus, waren zumeist aber bald wieder erreichbar. Die Aufmerksamkeit, die der Gruppierung in den Medien zuteil wird, steht daher in einem umgekehrten Verhältnis zum tatsächlich entstandenen Schaden. Jedoch können DDoS-Angriffe zeitlich länger und intensiver geführt werden. Sie können eine Gefahr für Online-Dienste und die E-Government-Infrastruktur sein, indem sie Zweifel an der Zuverlässigkeit und technischen Sicherheit erwecken. Cyberangriffe aus dem Iran Iranische Cyberakteure handeln weitüberwiegend im Interesse des staatlichen Machtapparats. Das den Revolutionsgarden zuzurechnende "Mabna Institut" griff in den vergangenen Jahren immer wieder deutsche Universitäten an, um wissenschaftliche Arbeiten zu erbeuten. Hierbei nutzte es seit 2021 u. a. Sicherheitslücken im Microsoft Exchange Server. Im Berichtszeitraum wurden zudem Cyberangriffe auf kleine und mittlere Unternehmen bekannt. Geschädigte Unternehmen müssen dabei nicht zwangsläufig in irgendeiner Weise eine Verbindung zum Iran haben. Im Zuge der Angriffe erbeutet das "Mabna Institut" E-Mails, deren Weiterverbreitung der Reputation des Unternehmens schaden können. Eine erpresserische Absicht kann nicht ausgeschlossen werden. Cyberangriffe aus der Volksrepublik China Chinesische Cyberangriffskräfte sind innerhalb der Volksbefreiungsarmee in einer separaten Teilstreitkraft, den Strategic Support Forces, organisiert. Diese betreiben Cyberspionage gegen Deutschland. Gegenüber dem Branchenverband BITKOM gaben 43 % der befragten Unternehmen an, von China aus angegriffen worden zu sein. Weiterhin hat die VRC in den letzten Jahren 6 - Distributed-Denial-of-Service attack (verteilter Dienstverweigerungsangriff), in der Regel wird das Ziel von einer Vielzahl von Quellen aus angegriffen, was zur Überlastung und damit zur Nichtverfügbarkeit des Internetdienstes führt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 257 Spionageabwehr ihre Cyber-Gesetzgebung zu Lasten von in China tätigen ausländischen Unternehmen verschärft und es gelingt ihr, sensible personenbezogene Daten und Unternehmensdaten in ihren Machtbereich zu bringen. Auch sachsen-anhaltische Unternehmen waren im Berichtszeitraum von illegalen chinesischen Cyberaktivitäten betroffen. Wirtschaftsschutz Der Wirtschaftsschutz informiert über Mittel und Methoden, mit denen sich fremde Nachrichtendienste illegal Know-how verschaffen. Zudem informiert er über Extremismus und Staatsterrorismus. Er berät Unternehmen, Wirtschaftsverbände, Forschungseinrichtungen, Hochschulen und andere Institutionen, um diese dabei zu unterstützen, eigenverantwortlich und effektiv Maßnahmen gegen Ausforschung (insbesondere Wirtschaftsspionage), Sabotage und andere schädliche Einwirkungen zu ergreifen. Russlandgeschäft im Visier pro-ukrainischer Hacker Als Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands griffen ukrainische Hacker Stellen in der Russischen Föderation an. Dabei gerieten auch deutsche Unternehmen, die weiterhin in der Russischen Föderation tätig waren, in den Fokus dieser Cyberakteure. Die Ukrainer setzten u. a. so genannte "Wiper" ein, eine Verschlüsselungssoftware, die eigentlich für RansomwareAngriffe7 vorgesehen war, jedoch nicht mehr der Erpressung dient, sondern die angegriffenen IT-Systeme unwiederbringlich verschlüsselt. Es gerieten auch deutsche Energieversorgungsunternehmen in den Blick, deren Geschäftsmodell die Verarbeitung russischen Mineralöls oder die Speicherung und der Transport russischen Erdgases darstellte. Der Cyber-Angriff auf die PCKRaffinerie GmbH in Schwedt (Brandenburg) sowie zwei weitere Raffinerien im Bundesgebiet, die zum russischen Unternehmen 7 - Erpressungssoftware, die das angegriffene Gerät verschlüsselt und erst nach Zahlung eines Lösegeldes wieder freigibt. 258 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr Rosneft gehören, waren am 12. März 2022 Ziel eines Hackerangriffs, bei dem mehrere Terabyte Daten erbeutet worden sein sollen. Wirtschaftsschutz gegen chinesische Aktivitäten Das im Außendienst beschäftigte Firmenpersonal, das Auslandsdienstreisen unternehmen muss, unterliegt der stärksten Gefährdung, von fremden Nachrichtendiensten angesprochen oder verdeckt ausgeforscht zu werden, insbesondere in autoritär regierten Staaten wie China. Die VRC setzt in ihrem erklärten Bestreben, bis zur Mitte dieses Jahrhunderts zur weltweit führenden Technologieund Wirtschaftsmacht zu werden, auch gezielt unlautere Methoden des Wissensund Technologietransfers ein. Die VRC strebt bis zu ihrem 100-jährigen Bestehen 2049 die weltumfassende Technologieführerschaft an, die unter aktuellen Vorzeichen auch eine militärische sein soll. Eine Vielzahl von globalen Strategien dient dem Erlangen der beabsicgtigten Technologieführerschaft. Die VRC verfolgt das Fernziel, aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Staaten eine politische zu generieren und in deren Souveränität einzugreifen. Die Strategie "Made in China 2025" wird auch mittels Direktinvestitionen zum Zweck von legalem Know-how-Erwerb umgesetzt. In den dort benannten Schlüsseltechnologien soll eine beherrschende Stellung erlangt werden. Von hohem Interesse sind die sogenannten "Emerging Technologies" (z. B. Künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, 3D-Druck, Quantentechnologie): Das sind zukunftsweisende Technologien, deren Beherrschung erhebliche technische und technologische Fortschritte für viele Bereiche, insbesondere auch die militärische Rüstung, verspricht. Mit der Strategie "China Standards 2035" beabsichtigt die VRC, eigene Standards bei neuen Produkten und Technologien international durchzusetzen. Das geostrategische Projekt "Neue Seidenstraße" bzw. BRI soll den Zustrom von Rohstoffen in die Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 259 Spionageabwehr VRC beflügeln und den eigenen Warenabsatz verbessern. Um die gesteckten Ziele im Bereich der Zukunftstechnologien zu erreichen, setzt die VRC auf verschiedene Methoden des Knowhow-Erwerbs. Eine seit Jahren wichtige Strategie ist dabei der Kauf westlicher Unternehmen. Als Ausländische Direktinvestitionen (ADI) bezeichnet man den sonst üblichen Erwerb oder Teilerwerb von deutschen Unternehmen durch ausländische Investoren, deren Firmensitz oder der des Mutterkonzerns sich nicht in einem EU-Mitgliedstaat befindet. Insbesondere die chinesische Botschaft unterstützt solche strategisch wichtigen Erwerbsvorhaben mit entsprechender Medienarbeit. Zur Vorsorge und zum Schutz kritischer Infrastrukturen sowie der für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bedeutsamen Unternehmen wurden daher gesetzliche Regelungen geschaffen. Wenn Akteure außerhalb der EU ein solches Unternehmen erwerben möchten, greift ein staatliches Prüfverfahren. Die außenwirtschaftsrechtliche Investitionsprüfung in Deutschland wird durch das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) und die Außenwirtschaftsverordnung (AWV) geregelt. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) ist die für die Investitionsprüfung zuständige Behörde. Die Übernahme von Unternehmen aus strategisch wichtigen oder sensiblen Industriesektoren wird damit zum Schutz nationaler und europäischer Sicherheitsinteressen erschwert. Im Vorfeld von Unternehmenskäufen, die einer Investitionsprüfung bedürfen, bietet der Wirtschaftsschutz an, den Veräußerer entsprechend zu sensibilisieren. Präventionsarbeit des Wirtschaftsschutzes Der Wirtschaftsschutz geht auf Unternehmen und Institutionen zu, wenn dies gewünscht ist oder wenn konkrete Gefährdungshinweise vorliegen. Im Rahmen seiner Präventionsarbeit sucht der Wirtschaftsschutz insbesondere zu kleinen und mittleren Unternehmen Kontakt und wirbt dafür, Risiken und Bedrohungen durch fremde Nachrichtendienste ernst zu nehmen, entsprechend sensibel zu reagieren und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. 260 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr Für die Sensibilisierung des in Unternehmen beschäftigten Personals können folgende Informationsblätter vom Wirtschaftsschutz angefordert werden: - Methoden der Spionage: HUMINT8, - Schutz vor Phishing, - Schutz vor Social Engineering. Hinweise für Leitungsebene und Sicherheitsverantwortliche, - Schutz vor Social Engineering. Hinweise für Beschäftigte, - Sicherheit auf Geschäftsreisen (mit Checkliste), - Sicherheit auf Geschäftsreisen: China (mit Checkliste). Weitergehende Präventionsangebote können gerne im Rahmen eines persönlichen Kontaktes erarbeitet werden. Der Wirtschaftsschutz ist mit den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder, den Industrieund Handelskammern in Sachsen-Anhalt, mit Wirtschaftsverbänden sowie wissenschaftlichen Lehrund Forschungseinrichtungen vernetzt, um das Wissen, Analysen und Warnmeldungen aus dem gesamten Verfassungsschutzverbund und im Interesse der Sicherheit von Wirtschaft und Forschung zu teilen. Allen sachsen-anhaltischen Unternehmen, Unternehmensverbänden, Forschungsund Wissenschaftseinrichtungen steht der Wirtschaftsschutz mit seinem Informationsangebot in Form von Publikationen, Sensibilisierungen und Vorträgen kostenfrei zur Verfügung. Treten Sie mit uns in Kontakt: Telefon: 0391/567 3900 E-Mail: wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de 8 - Human Intelligence: Gewinnung von Informationen mittels menschlicher Quellen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 261 Spionageabwehr Proliferationsabwehr Die Weiterverbreitung atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen sowie bestimmter Trägersysteme (Raketen, Drohnen etc.) und des dafür erforderlichen Knowhows bedrohen den Frieden und unterliegen in der Bundesrepublik Deutschland der Exportkontrolle. Die Finanzierung der Proliferation unterliegt einem strengen Sanktionsregime. Die Exportkontrolle fußt auf mehreren internationalen Verträgen, welche die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert hat. Als Beispiel sei hier das Chemiewaffenübereinkommen genannt. Mit der Durchführung der Exportkontrollen sind die Zollbehörden beauftragt. Die Verfassungsschutzbehörden stellen jedoch immer wieder fest, dass für den illegalen Export von sensiblen Gütern verdeckte Methoden eingesetzt werden, die auf das Wirken von fremden Nachrichtendiensten schließen lassen. Die Nachrichtendienste der Staaten Indien, Iran, Nordkorea, Pakistan, Syrien und China stehen im Verdacht, Proliferation zu betreiben oder logistisch und personell Unterstützung zu leisten. Um illegale Exporte durchzuführen, wird beispielsweise der Endnutzer einer sensiblen Ware verschleiert und eine Beschaffung über Umweglieferländer gewählt; zudem werden Tarnfirmen und Strohmänner genutzt. Weitere Hinweise und Merkmale für Proliferation finden Sie in der Broschüre "Proliferation. Wir haben Verantwortung", die von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder herausgegeben wird. Sie kann im Internet unter: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/publikationen/ publikationen-spionage-und-proliferationsabwehr/ 262 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Spionageabwehr heruntergeladen oder als Druckschrift per E-Mail bei wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de angefordert werden. Mitarbeit der Bevölkerung Die Verfassungsschutzbehörde hat gemäß SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA den gesetzlichen Auftrag, Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen über geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht zu sammeln und auszuwerten. Damit sie ihren Auftrag erfüllen kann, benötigt sie auch Hinweise auf die Tätigkeit fremder Nachrichtendienste aus der Bevölkerung. Alle Bürgerinnen und Bürger, die von derartigen Sachverhalten Kenntnis haben oder von fremden Nachrichtendiensten zur Mitarbeit aufgefordert wurden, werden gebeten, ihr Wissen zum Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung und zur eigenen Sicherheit an die Verfassungsschutzbehörde weiterzugeben. Die Verfassungsschutzbehörde kann Menschen, die bereits im Interesse fremder Staaten nachrichtendienstlich tätig geworden sind, dabei helfen, sich aus einer ausweglos erscheinenden Situation zu befreien. Die Verfassungsschutzbehörden unterliegen nicht wie die Strafverfolgungsbehörden dem Legalitätsprinzip und sind daher nicht in jedem Fall verpflichtet, die Strafverfolgungsbehörden über Hinweise auf Spionagedelikte zu informieren. Voraussetzung ist die freiwillige Aufgabe der nachrichtendienstlichen Tätigkeit und eine umfassende Offenbarung. Die Verfassungsschutzbehörde bietet jederzeit Hilfe an und sichert Vertraulichkeit zu. Dasselbe gilt für die Übermittlung etwaiger Verdachtsmomente sowie von Informationen über mögliche Sicherheitsvorfalle und Cyberangriffe. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 263 Spionageabwehr Die Spionageabwehr des Landes Sachsen-Anhalt ist zu erreichen unter: Telefon: 0391/567 3900 Fax: 0391/567 3999 E-Mail: wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de Sie bietet allen Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen, Interessenverbänden, Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Behörden Sensibilisierungen zu den Themen Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr an. 264 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2021 Geheimschutz Geheimschutz Allgemeines Verschlusssachen (VS) sind Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die - unabhängig von ihrer Darstellungsform - geheim zu halten und entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit mit einem der Geheimhaltungsgrade STRENG GEHEIM, GEHEIM, VS-VERTRAULICH oder VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH zu kennzeichnen sind. Alle Institutionen des Bundes und der Länder müssen sich darauf verlassen können, dass Informationen, deren Kenntnisnahme von Unbefugten den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder gefährden können, als im staatlichen Interesse geheim zu haltende Informationen wirkungsvoll geschützt werden. Jeder, dem eine VS anvertraut oder zugänglich gemacht worden ist, trägt die persönliche Verantwortung für ihre sichere Aufbewahrung und vorschriftsmäßige Behandlung sowie für die Geheimhaltung ihres Inhalts gemäß den Bestimmungen der Verschlusssachenanweisung für das Land Sachsen-Anhalt (VSA). Geheimschutz im öffentlichen Bereich Personeller Geheimschutz Mit dem personellen Geheimschutz soll verhindert werden, dass Personen mit Sicherheitsrisiken Zugang zu VS erhalten. Das hierzu genutzte Instrument ist die Sicherheitsüberprüfung von Personen, die mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen. Die Verantwortung für diese Sicherheitsmaßnahmen liegt bei den zuständigen Stellen. Im öffentlichen Bereich des Landes ist die zuständige Stelle in der Regel die Beschäftigungsbehörde. Die zuständige Stelle bestellt zur Erfüllung ihrer Aufgaben einen Geheimschutzbeauftragten und einen Vertreter. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 265 Geheimschutz Das Sicherheitsüberprüfungsverfahren ist im Sicherheitsüberprüfungsund Geheimschutzgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (SÜG-LSA) geregelt. Die Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalts beruht auf SS 4 Abs. 2 Nr. 1 VerfSchG-LSA in Verbindung mit SS 4 Abs. 3 SÜG-LSA. Gründe, die einem Einsatz in einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit entgegenstehen, können sich ergeben aus insbesondere: - Zweifeln an der Zuverlässigkeit (z. B. aufgrund von Straftaten, Drogenoder Alkoholmissbrauch); - Gefährdungen durch Anbahnungsund Werbungsversuche fremder Nachrichtendienste (z. B. im Falle einer Überschuldung, da dies ein Ansatzpunkt sein kann, um den Betroffenen gegen Geldzahlung zu einer Verletzung seiner Pflichten zu veranlassen); - Zweifeln am Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (z. B. wegen extremistischer Betätigung). Die Frage, ob sich aus einem derartigen Umstand tatsächlich ein Sicherheitsrisiko ergibt, ist in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Art der vorgesehenen sicherheitsempfindlichen Tätigkeit zu prüfen. Eine Sicherheitsüberprüfung darf nur mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung des Betroffenen erfolgen. Materieller Geheimschutz Der materielle Geheimschutz befasst sich mit technischen und organisatorischen Sicherheitsvorkehrungen, die verhindern oder zumindest erschweren sollen, dass Unbefugte an geschützte Informationen gelangen. Die Verfassungsschutzbehörde hat hierbei die Aufgabe, öffentliche Stellen und geheimschutzbetreute Unternehmen des Landes zu beraten, wie sie am besten technische Sicherungsmaßnahmen planen und durchführen können. 266 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 StatiStik Extremistisches Personenpotenzial in Sachsen-Anhalt 2020 2021 2022 Rechtsextremisten Weitgehend unstrukturierter, meist subkulturell geprägter Rechtsextre770 780 900 mismus Parteiungebundener Rechtsextre365 395 255 mismus Parteigebundener Rechtsextremis155 165 190 mus (Parteien) Summe: 1.290 1.340 1.345 Gesamt (nach Abzug der Mehrfach1.230 1.250 1.270 mitgliedschaften) Linksextremisten Gewaltorientierte Linksextremisten 300 300 295 Nicht gewaltorientierte 290 300 305 Linksextremisten Gesamt: 590 600 600 Islamisten 400 400 400 Reichsbürgerszene (inkl. Rechtsextremisten innerhalb 500 600 650 dieser Szene) PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) 250 250 250 Summe 2.970 3.100 3.170 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 267 Bildnachweis Seite 31 Logo NPD Seite 32 https://www.facebook.com/npd.sachsen.anhalt/ photos/1024225311039528 Seite 35 Logo "Gegengift" Seite 38 https://der-dritte-weg.info/ Seite 40 https://www.materialvertrieb.de/produkt/impfpflicht-verhindern-aufkleber-lang/ Seite 41 https://der-dritte-weg.info/2022/02/nationalrevolutionaere-erklaerung-zum-ukrainekrieg/ Seite 44 MI LSA Seite 45 Logo NSP Seite 48 https://t.me/NationZumSchwert Seite 53 https://t.me/harzrevolte Seite 55 https://t.me/harzrevolte Seite 58 https://t.me/InSvensWelt Seite 59 https://t.me/InSvensWelt Seite 65 https://www.schwarzekreuze.info/ Seite 67 https://wedaelysiabuch.wordpress.com/ Seite 68 https://t.me/artgemeinschaft Seite 70 MI LSAl Seite 85 t.me/Lokal18 Seite 89 MI LSA Seite 90 https://t.me/IdentitaereDeutschland/ Seite 95 https://aktionsmelder.de/2022/04/30/aktionbeim-mdr/ (Screenshot) Seite 96 Logo der "Aktion Solidarität" Seite 97 https://www.instagram.com/heimwaerts_mv/ Seite 99 Logo IfS Seite 113 https://fairteilen.org/ Seite 115 MI LSA Seite 116 Logo "IV. Armeekorpsbezirk" des VHD Seite 130 MI LSA Seite 134 https://www.instagram.com/p/Ca6wLGGMEc7/ (Screenshot) 268 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Bildnachweis Seite 135 https://solibuendnis.noblogs.org/post/2022/03 /05/bericht-fotos-demonstration-gegen-aufrustung-und-krieg-in-magdeburg-durchgefuhrt/ (Screenshot) Seite 137 https://t.me/protestieren_statt_frieren_MD (Screenshot) Seite 139 https://www.instagram.com/p/CiskPf6sVki/ (Screenshot) Seite 143 MI LSA Seite 145 http://zusammenkaempfen.bplaced.net/ 2022/11/palaestina-infoveranstaltung/ Seite 148 MI LSA Seite 149 https://www.instagram.com/p/CYRPb7fsAS8/ Seite 150 MI LSA; Logo MD SxE Seite 151 https://www.instagram.com/p/CrLkYmVMV8b/ Seite 152 https://www.facebook.com/AntifaschistischeAktion-Salzwedel-AAS-295430033810546/ photos/5251143011572532 Seite 153 MI LSA Seite 154 MI LSA Seite 156 https://de.indymedia.org/sites/default/ files/2022/01/82314.JPG Seite 157 http://zusammenkaempfen.bplaced.net/ 2022/03/heraus-zum-1-mai-2022/ Seite 158 https://www.facebook.com/profile. php?id=100064921111494 Seite 159 https://www.instagram.com/p/CdDwJ0pDlWd/ (Screenshot) Seite 161 https://de.indymedia.org/sites/default/ files/2022/01/82568.JPG Seite 163 https://archive.org/details/mobi-video-2022 (Screenshot) Seite 167 MI LSA Seite 168 https://www.instagram.com/p/Clo7L3Asvf_/ Seite 170 https://www.instagram.com/p/Cbrv-dBN3Rl/ Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 269 Bildnachweis Seite 171 https://www.facebook.com/ 1469641089934066/photos/a. 1503288553235986/3297848877113269/ Seite 174 https://twitter.com/IL_Halle/status/ 1520387523012403203 (Screenshot) Seite 176 https://www.instagram.com/p/CbkBRJDuzYz/ (Screenshot) Seite 179 https://vimeo.com/754019650 (Screenshot) Seite 181 https://megaphon.org/plakate-gegen-antideutsche-in-halle/ Seite 182 Logo RH Seite 184 https://www.instagram.com/p/ChX7PDerNVe/ Seite 185 https://www.rote-hilfe.de/news/bundesvor stand/1229-termine-und-sonderzeitung-zum18-maerz Seite 186 https://twitter.com/RoteHilfeMD/status/ 1504192565658243074 Seite 187 https://twitter.com/RoteHilfeMD/status/ 1474035316260548620 Seite 188 Logo MLPD Seite 189 https://www.inter-liste.de/startseite-interlistemlpd/ Seite 190 https://www.rf-news.de/rote-fahne/2022/nr05/ rote-fahne-05-2022 Seite 191 https://www.mlpd.de/broschueren/der-ukraine krieg-und-die-offene-krise-des-imperialistischenweltsystems Seite 192 Logo DKP; https://www.marxistische-blaetter.de/de/ topic/2.alle-ausgaben-seit-1963.html Seite 193 MI LSA Seite 194 http://zusammenkaempfen.bplaced.net/ 2022/12/nachruf-fuer-matthias-kramer/ Seite 195 MI LSA Seite 203 https://www.youtube.com/ watch?v=88Ds69cI_XA (Screenshot) 270 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 Bildnachweis Seite 209 https://de.wikipedia.org/wiki/Hai%CA%BEat_ Tahrir_asch-Scham Seite 211 Logo TJ Seite 218 https://twitter.com/solibuendnis/ status/1596528661561102336/photo/2 Seite 219 Logo PKK; Logo KCDK-E Seite 220 Logo Kon-Med; Logo Fed-Kurd Seite 225 https://anfdeutsch.com/aktuelles/langer-jugendmarsch-startet-am-sonntag-in-essen-33913 (Screenshot) Seite 226 https://twitter.com/solibuendnis/ status/1594253936399380480/photo/1 Seite 227 https://twitter.com/solibuendnis/ status/1587765812772933635 Seite 229 Logo "Solidaritätsbündnis KurdistanMagdeburg"; Logo "Rojava Solibündnis Halle"; https://twitter.com/solibuendnis/ status/1559273400304025601 Seite 231 MI LSA Seite 236 Logo und Zeichen SO Seite 238 MI LSA Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2022 271