Verfassungsschutzbericht 2020 Verfassung Terrorismus Information Linksextremismus Extremismusprävention g Ausländerextremismus n u Aufklärung Bewertung ss Islamismus Spionageabwehr fa Demokratie e Rechtsextremismus ss Analyse Reichsbürgerszene re Sensibilisierung P Wirtschaftsschutz IMPRESSUM Herausgeber: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Halberstädter Straße / "Am Platz des 17. Juni" 39112 Magdeburg Bezugsadresse: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Postfach 18 49 39008 Magdeburg Tel: 0391/567-3900 Dieser Verfassungsschutzbericht ist auch im Internet abrufbar: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/ verfassungsschutzberichte-zum-downloaden/ Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt für das Jahr 2020 Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Sehr geehrte Leserinnen, sehr geehrte Leser, das Jahr 2020 war für uns alle durch die Corona-Pandemie geprägt. Jeder Einzelne, Staat und Gesellschaft wurden von der Pandemie und den mit ihr verbundenen Auswirkungen auf die eigene Lebensgestaltung, die Wirtschaft und staatliches Handeln betroffen. Dies gilt auch für Extremisten und ihr Streben nach einer Infiltration der Gesellschaft. Führten staatliche Eindämmungsmaßnahmen zunächst zu einem Rückgang ihrer öffentlich sichtbaren Aktivitäten, traten bald wieder altbekannte Verhaltensmuster zutage. Insbesondere Rechtsextremisten und Angehörige der Reichsbürgerszene beteiligten sich am Protestgeschehen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Sie unternahmen den Versuch, ihre politischen Ziele weiter zu verbreiten, neue Anhänger zu gewinnen und neue Allianzen mit Personen und Gruppierungen zu schmieden, die durch eine maßlose sicherheitsgefährdende und demokratiefeindliche Haltung gegenüber dem Staat und den politisch Verantwortlichen hervortraten. Extremisten instrumentalisieren bestehende gesellschaftliche Probleme und Fragen für eigene Zwecke; Lösungen stehen nicht im Vordergrund, sondern das Verbreiten der eigenen Ideologie. Extremistische Ideologien jedweder Art richten sich gegen grundlegende Werte des demokratischen Verfassungsstaats und gefährden die Freiheit. Mit ihren vermeintlich einfachen Erklärungsmustern für komplexe und miteinander verwobene Fragen finden sie vor allem bei den Menschen Anklang, die Zukunftssorgen haben, die nach Sicherheit und Halt suchen. Extremistische Weltbilder sind der denkbar größte Gegenentwurf zu unserer freiheitlichen Gesellschaft und zum demokratischen Staat. Extremisten nehmen für sich in Anspruch, dass sie die einzig wahren Vertreter eines Volkes, einer Klasse oder einer Religionsgemeinschaft seien. Zur Legitimation berufen sie sich auf vermeintlich ewige und unverrückbare "Wahrheiten", die nicht in Frage gestellt werden dürfen. Daher dulden sie weder Pluralität noch die Vielfalt und auch nicht den politischen Ausgleich verschiedener Meinungen. Menschenwürde, Gleichheitsrechte, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Privateigentum oder aber das Recht auf freie Berufswahl - alles dies sind Grundrechte, die uns die freiheitliche demokratische Grundordnung garantiert. Ihre Verteidigung gegen extremistische Einflüsse ist eine gemeinsame Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger im Land und der staatlichen Institutionen. Die Gesellschaft muss aktiv für unsere Verfassung und für die liberalen Werte unserer Gesellschaft eintreten. Demokratie kann nicht "von oben" verordnet, sie muss gelebt und ausgefüllt werden. Es betrifft uns alle, wenn Einzelne aufgrund nationalistischer, rassistischer, antisemitischer, anarchistischer oder marxistischer Stereotypen diskriminiert, ausgegrenzt oder gar bedroht werden. Eine besondere Rolle hat deshalb die Prävention. Das Aufklären über extremistische Umtriebe und die von Extremisten ausgehenden Gefahren ist eines der Aufgabenfelder des Verfassungsschutzes. Seine Beobachtungen, seine Analysen und Hintergrundinformationen stehen den Bürgerinnen und Bürgern, der Politik, den Verwaltungen und anderen Institutionen zur Verfügung, unter anderem in Form des hier vorliegenden Verfassungsschutzberichtes. Ihre Dr. Tamara Zieschang Ministerin für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt InhaltsverzeIchnIs VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT 8 GESETZLICHE GRUNDLAGEN UND FUNKTION 8 Schwerpunktaufgaben 10 Arbeitsweise 12 Öffentlichkeitsarbeit 13 Präventionsarbeit 15 Auskunftserteilung 19 RECHTSEXTREMISMUS 22 Gewaltbereiter Rechtsextremismus / Rechtsterrorismus (meist subkulturell geprägter Rechtsextremismus) 28 "Neue Rechte" 58 "Identitäre Bewegung" Deutschland" (IBD) 58 "Verein für Staatspolitik e. V." firmiert unter "Institut für Staatspolitik" (IfS) 66 Parteiungebundener, vornehmlich neonazistisch geprägter Rechtsextremismus 71 Neonationalsozialisten (Neonazis) 71 "Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäße Lebensgestaltung" e.V. ("Artgemeinschaft") 86 "Magdeburger gegen die Islamisierung des Abendlandes" 2.0 (MAGIDA 2.0) 91 Rechtsextremistisches Parteienspektrum 96 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 96 Partei "DIE RECHTE" (DR) 108 Partei "Der III. Weg" (III. Weg) 113 REICHSBÜRGERSZENE 119 "Reichsregierungen", "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" 119 LINKSEXTREMISMUS 131 Gewaltorientierte Linksextremisten 138 "Rote Hilfe e.V." (RH) 174 VI Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 InhaltsverzeIchnIs "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschland" (MLPD) 178 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) 182 ISLAMISTISCHE BESTREBUNGEN 185 Salafistische Bestrebungen 190 "Gemeinschaft der Verkündigung der Mission" (Urdu: "Tablighi Jama'at", TJ) 197 Muslimbruderschaft (MB) / "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) / HAMAS 199 SICHERHEITSGEFÄHRDENDE UND EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 203 "Arbeiterpartei Kurdistans" (kurdisch: Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) 205 SCIENTOLOGY ORGANISATION (SO) 218 SPIONAGEABWEHR 221 Russische Nachrichtendienste 223 Chinesische Nachrichtendienste 224 Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran 228 Andere Nachrichtendienste 229 Hybride Bedrohungen 230 Cyberabwehr 234 Wirtschaftsschutz 236 Proliferationsabwehr 238 Mitarbeit der Bevölkerung 240 GEHEIMSCHUTZ 241 ANHANG 243 Statistik 243 Bildnachweis 246 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 VII Verfassungsschutz in sachsen-anhalt VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT GESETZLICHE GRUNDLAGEN UND FUNKTION Die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung; sie soll den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder gewährleisten. Die Aufgaben des Verfassungsschutzes in unserem Bundesland nimmt das Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt als Verfassungsschutzbehörde wahr. Der Verfassungsschutz informiert im Rahmen seines gesetzlichen Auftrags die Landesregierung und andere Stellen. Diese sollen dadurch in die Lage versetzt werden, die erforderlichen Maßnahmen ergreifen zu können. Ebenso unterrichtet er die Öffentlichkeit über seine Aufgabenfelder (vgl. SS 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt; nachfolgend VerfSchG-LSA). Sie bestehen in der Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, 2. fortwirkende Strukturen und Tätigkeiten der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere des Ministeriums für Staatssicherheit oder des Amtes für Nationale Sicherheit, im Sinne der SSSS 94 bis 99, 129 und 129a des Strafgesetzbuches (StGB), 8 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt 3. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG), 4. Bestrebungen im Geltungsbereich des GG, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 5. Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG), insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG) gerichtet sind. Unter Bestrebungen im verfassungsschutzrechtlichen Sinn sind politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen in oder für einen Personenzusammenschluss zu verstehen, die sich gegen die oben unter den Punkten 1., 4. und 5. genannten Schutzgüter richten. Ein Personenzusammenschluss besteht aus mehreren, gemeinsam handelnden Personen. Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln, gelten nur dann als Bestrebung und werden vom Verfassungsschutz beobachtet, wenn sie auf die Anwendung von Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut des VerfSchGLSA erheblich zu beschädigen (vgl. SS 5 Abs. 1 VerfSchG-LSA). Voraussetzung für das Sammeln und Auswerten von Informationen ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für vorstehend genannte Bestrebungen oder Tätigkeiten. Für das Handeln der Verfassungsschutzbehörde ist es nicht erforderlich, dass eine konkrete Gefahr besteht oder eine begangene Straftat vorliegt. Der Verfassungsschutz wird bereits im Vorfeld konkreter Gefahren oder Straftaten tätig. Insbesondere darin kommt auch die Frühwarnfunktion des Verfassungsschutzes zum Ausdruck. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 9 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Schwerpunktaufgaben Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Eine Schwerpunktaufgabe des Verfassungsschutzes besteht gemäß SS 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA im Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, mithin dem Schutz der nicht zur Disposition stehenden Elemente des Grundgestzes. In seinem Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 - führt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aus, dass der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 GG jene zentralen Grundprinzipien umfasst, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind. Dies sind: - Prinzip der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), - Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG), - Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 GG). Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit. Ferner ist das Demokratieprinzip konstitutiver Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Unverzichtbar für ein demokratisches System sind die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Für den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind schließlich die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte bestimmend. Zugleich erfordert die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Einzelnen, dass die Anwendung physischer Gewalt den 10 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt gebundenen und gerichtlicher Kontrolle unterliegenden staatlichen Organen vorbehalten ist. Dem entspricht die gesetzliche Aufzählung der Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in SS 5 Abs. 2 VerfSchG-LSA, ergänzt um den Verweis auf die in der Landesverfassung konkretisierten Menschenrechte. Spionageabwehr Die Spionageabwehr ist gemäß SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA Aufgabe der Verfassungsschutzbehörde. Sie beschäftigt sich mit der Aufklärung, Abwehr und Verhinderung von Spionageaktivitäten fremder Nachrichtendienste. Auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und Völkerverständigung Ein anderer Arbeitsschwerpunkt des Verfassungsschutzes ist die Beobachtung von Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Dazu gehören in erster Linie gewaltbereite extremistische Gruppen mit Auslandsbezug, die von unserem Staatsgebiet aus gewaltsame Aktionen planen und vorbereiten, um die politischen Verhältnisse im Ausland, vordringlich in ihrem Herkunftsland, gewaltsam zu verändern und dadurch die staatlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den betroffenen Staaten beeinträchtigen (vgl. SS 4 Abs. 1 Nr. 4 VerfSchG-LSA). Sofern sich Bestrebungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker richten, unterliegen diese ebenfalls der Beobachtung durch den Verfassungsschutz (vgl. SS 4 Abs. 1 Nr. 5 VerfSchG-LSA). Davon erfasst sind Personenzusammenschlüsse, die darauf abzielen, konfessionelle oder ethnische Gruppen im Ausland zu bekämpfen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 11 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Mitwirkung in Angelegenheiten des Geheimschutzes Gemäß SS 4 Abs. 2 VerfSchG-LSA wirkt der Verfassungsschutz im Rahmen des Geheimschutzes und des vorbeugenden personellen Sabotageschutzes bei Sicherheitsüberprüfungen von Personen des öffentlichen und nichtöffentlichen Bereichs mit. Er berät zudem bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von Verschlusssachen. Arbeitsweise Der Verfassungsschutz stützt sich bei der Informationserhebung weitgehend auf offen zugängliches Material wie Zeitungen, wissenschaftliche Veröffentlichungen, Rundfunkberichte, Interviews, Parteiprogramme und offene Internetinhalte. Er darf Informationen auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln, insbesondere durch Einsatz von Vertrauenspersonen und Gewährspersonen, Observation, Bildund Tonaufzeichnungen und die Verwendung von Tarnpapieren und Tarnkennzeichen verdeckt erheben (vgl. SS 7 Abs. 3 VerfSchG-LSA). Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählt auch die Brief,Postund Telefonkontrolle. Der hiermit verbundene Eingriff in das Grundrecht nach Artikel 10 GG ist nach Maßgabe des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) zulässig. Die Verfassungsschutzbehörde erhebt, verarbeitet und nutzt die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten. Dies geschieht unter Beachtung des Datenschutzgesetzes Sachsen-Anhalt und der besonderen Regelungen des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt. Die Landesregierung unterliegt auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes der Kontrolle des Landtages. Diese Aufgabe nimmt das Parlamentarische Kontrollgremium wahr (vgl. SSSS 24 ff. VerfSchGLSA). 12 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Für besondere Aufgaben des Verfassungsschutzes waren im Haushaltsplan 2020 im Einzelplan 03 insgesamt 1.387.500 Euro angesetzt. Der Verfassungsschutzbehörde standen im Berichtsjahr 121 Dienstposten/Arbeitsplätze zur Verfügung. Öffentlichkeitsarbeit Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit unterstützt die Verfassungsschutzbehörde die geistig-politische Auseinandersetzung mit extremistischem und terroristischem Gedankengut und dient damit dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Regierung und Parlament, aber auch Bürgerinnen und Bürger werden so über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Organisationen informiert. Verfassungsschutzbericht Die Verfassungsschutzbehörde erfüllt mit diesem Bericht ihre gesetzlichen Unterrichtungspflichten, die in SS 15 Abs. 1 und 2 VerfSchG-LSA normiert sind. Bitte beachten Sie folgende redaktionelle Hinweise: - Soweit der Verfassungsschutzbericht einzelne Gruppierungen namentlich nennt, handelt es sich - sofern nicht anders erwähnt - um Fälle, bei denen die vorliegenden Erkenntnisse in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele im Sinne des SS 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA verfolgt. Diese Gruppierungen gelten insofern als gesicherte extremistische Bestrebungen die zielund zweckgerichtet gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorgehen (siehe Registeranhang). - Allerdings erwähnt der Verfassungsschutzbericht nicht alle Gruppierungen, die von der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt beobachtet werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 13 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Insbesondere werden die Gruppierungen nicht erwähnt, bei denen lediglich tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen. Informationen über solche Gruppierungen darf die Verfassungsschutzbehörde gemäß SS 7 Abs. 2 VerfSchG-LSA sammeln und auswerten. Über diese Gruppierungen darf sie jedoch nicht öffentlich berichten, da von der Unterrichtungspflicht des SS 15 Abs. 2 VerfSchG-LSA nur gesicherte extremistische Bestrebungen erfasst sind. - Die Nennung von Gruppierungen, die extremistisch beeinflusst sind, dient dem Verständnis des sachlichen Zusammenhangs. - Der Berichtszeitraum umfasst den Zeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2020. Ereignisse vor oder nach diesem Zeitraum werden nur dargestellt, sofern sie für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs erforderlich sind. - Hinweise auf Geschehnisse außerhalb Sachsen-Anhalts sind in den Bericht aufgenommen, sofern sie für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs erforderlich sind. - Die in Anführungszeichen gefassten Textteile sind, so es sich um Zitate handelt, in der Originalschreibweise wiedergegeben. - Die jeweiligen Mitgliederzahlen der Personenzusammenschlüsse sind zum Teil geschätzt und gerundet. - Personenund Funktionsbezeichnungen in diesem Bericht gelten jeweils in weiblicher und männlicher Form. - Fußnoten sind fortlaufend im jeweiligen Abschnitt ausgewiesen. Die Verfassungsschutzberichte der letzten fünf Jahre können im Internet unter der Adresse: www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz heruntergeladen oder bei der Verfassungsschutzbehörde kostenlos angefordert werden. 14 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Präventionsarbeit Die Extremismusprävention ist seit Jahren ein fester Bestandteil der Arbeit des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt. Mit der Novellierung des Verfassungsschutzgesetzes hat der Gesetzgeber in SS 4a VerfSchG-LSA klargestellt, dass die Prävention zu den Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde zählt. Demzufolge informiert die Verfassungsschutzbehörde Landtag, Landesregierung, Gerichte, Staatsanwaltschaften, Kommunen und weitere Behörden, um frühzeitig vor Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu warnen. Der Verfassungsschutz steht somit allen Menschen im Land als Informationsdienstleister zur Verfügung. Dieser Dialog mit den Bürgern, aber auch mit Behörden sowie sonstigen privaten und zivilen Institutionen über die Aufgabenfelder des Verfassungsschutzes und die damit einhergehende Bereitstellung von Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen ist ein Bestandteil des unmittelbaren Demokratieschutzes. Deshalb ist die Unterrichtung der Öffentlichkeit ein wichtiges Anliegen des Verfassungsschutzes. Dies geschieht mit dem jährlichen Verfassungsschutzbericht, öffentlichen Vorträgen und Fachtagungen sowie über Publikationen, unsere Internetseiten und die Pressearbeit. Themenfelder sind insbesondere die verschiedenen Erscheinungsformen des politischen Extremismus: Rechtsextremismus, Reichsbürgerszene, Linksextremismus, Ausländerextremismus und Islamismus. Im Bereich der Spionageabwehr sowie des Wirtschaftsund Wissenschaftsschutzes bietet die Verfassungsschutzbehörde Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen neben allgemeinen Informationen auch vertrauliche Beratung und Unterstützung zum Schutz vor Spionage an. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 15 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Auch wenn die öffentlichen Aktivitäten der Verfassungsschutzbehörde im Berichtsjahr aufgrund der Corona-Pandemie eingeschränkt waren, konnten einige Projekte stattfinden. So fand am 23. September 2020, unter Einhaltung der Hygieneregeln, in der Magdeburger Johanniskirche die Fachtagung "Linksextremismus: Neue Entwicklungen jenseits von Marx, Engels und Lenin" statt. Mehr als 130 Gäste, vor allem aus der Polizei, der Justiz und dem Verfassungsschutz, verfolgten die Vorträge und Gespräche über die aktuelle Ideologie und Strategie der Linksextremisten. Linksextremismus lebt von der ungebrochenen Aktualität kommunistischer und anarchistischer Doktrinen, für die jedoch stets neue Anknüpfungspunkte gefunden werden müssen. Wie auch andere Formen des Extremismus ist Linksextremismus nicht nur politische Militanz, sondern vor allem eine verfassungsfeindliche Ideologie, welche die Extremisten in der Mitte der Gesellschaft verankern wollen. Der Tagungsband zu dieser Veranstaltung kann bei der Verfassungsschutzbehörde portofrei bestellt oder auf der Internetseite des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt herunter geladen werden. 16 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Weiterhin hat der Verfassungsschutz im Berichtsjahr erneut Vorträge, Informationsveranstaltungen und Schulungen für Angehörige der Polizei, der Justiz und anderer Behörden sowie für Institutionen, Verbände und Unternehmen angeboten. Darüber hinaus nahmen Vertreter des Verfassungsschutzes als Referenten an Veranstaltungen zivilgesellschaftlicher Institutionen teil. Eine intensive Zusammenarbeit besteht auch mit Wirtschaftsverbänden und Unternehmen. Die Veranstaltungsformate richten sich sowohl an größere Personenkreise, in denen möglichst viele Adressaten erreicht werden, als auch an kleinere Runden, in denen ein gezielter und gegebenenfalls vertraulicher Austausch von Wissen und Erfahrungen stattfinden kann. Von Veranstaltern und sonstigen Interessierten kann dieses Angebot nachgefragt werden und Referenten des Verfassungsschutzes können zu Veranstaltungen eingeladen werden. Das Vortragsangebot nutzen auch diverse Bildungseinrichtungen. Dem jeweiligen Veranstalter oder dem unterrichtsgestaltenden Lehrer obliegt die Einbindung in das eigene Veranstaltungsoder pädagogische Konzept. Die Vorträge bilden Beiträge zur Information und sind Grundlage für weiterführende Diskussionen. Wünschen Sie weitere Informationen? Dann wenden Sie sich bitte direkt an uns: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Nachtweide 82 39124 Magdeburg Telefon: +49(0)391/567-3900 E-Mail: verfassungsschutz@mi.sachsen-anhalt.de info.verfassungsschutz@mi.sachsen-anhalt.de Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 17 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt oder besuchen Sie uns im Internet unter www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz Hier finden Sie weitere Informationen und unsere aktuellen Publikationen, die wir Ihnen auch am Ende dieses Berichts vorstellen. Bereits an dieser Stelle soll auf zwei weitere Publikationen hingewiesen werden. Im Januar 2020 erschien das arabischsprachige Faltblatt "Was macht der Verfassungsschutz?". Dieses wendet sich insbesondere an die nach SachsenAnhalt gekommenen Geflüchteten und Asylsuchenden aus dem arabischen Raum. Da diese aus einem Sprachund Kulturraum kommen, in dem Rechtstaatlichkeit und demokratische Kontrollen noch nicht selbstverständlich sind, kann es bei ihnen immer wieder zu Irritationen und Missverständnissen über die Arbeit von Innenund Sicherheitsbehörden in Deutschland kommen. Die zumeist äußerst negative Einordnung polizeistaatlicher Repressionsund Geheimdienstapparate in ihren Heimatstaaten wird folglich häufig aus Unkenntnis auf hiesige Behörden übertragen. Daher möchte der Verfassungsschutz die arabischen Leser auch ganz spezifisch auf die Unterschiede zu den sogenannten "Mukhabarat" aufmerksam, d. h. zu den in den meisten arabischen Herkunftsländern operierenden Geheimdiensten, deren bloße Nennung die dortige Bevölkerung schon in Angst und Schrecken versetzt. 18 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Im Dezember 2020 erschien die Broschüre "Extremistisch und gesetzeskonform? - Eine Informationsbroschüre zum "Legalistischen Islamismus". Hintergrund dieser Broschüre sind die gestiegenen Aktivitäten legalistischer Islamisten. Im Gegensatz zu salafistisch bzw. jihadistisch gesinnten Islamisten stellen diese sich bewusst als verlässliche Ansprechpersonen im muslimischen Spektrum dar und zeigen dabei keinerlei Berührungsängste. Sie gehen aktiv auf Medien, Behörden, zivilgesellschaftliche Akteure und Kirchenvertreter zu. Über diese politische und gesellschaftliche Einflussnahme versuchen sie jedoch, eine nach ihrer Interpretation islamkonforme Ordnung durchzusetzen, die letztlich der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widerspricht. Ihr Ziel ist die Errichtung einer vermeintlich von Gott gewollten Ordnung, die mit einem Absolutheitsanspruch über allen von Menschen gemachten Regeln steht. Auskunftserteilung Jeder Bürger kann unentgeltlich Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten beantragen. Die Verfassungsschutzbehörde ist nach SS 14 Abs. 1 VerfSchG-LSA grundsätzlich verpflichtet, Auskunft zu erteilen. Geht ein Ersuchen ein, wird der Ersuchende zunächst gebeten, eine Kopie seines Personalausweises oder eines entsprechenden Personendokuments zur Identitätsfeststellung zu übersenden. Dies soll die angefragte Person davor schützen, dass möglicherweise andere Personen in Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 19 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt seinem Namen Auskunft verlangen und Daten möglicherweise an Unberechtigte übermittelt werden. Die Auskunft hat nach SS 14 Abs. 2 VerfSchG-LSA zu unterbleiben, wenn bestimmte, im Gesetz geregelte Ausschlussgründe vorliegen. Dies ist beispielsweise gegeben, wenn durch die Auskunftserteilung eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde drohen würde. Im Berichtsjahr gab es 193 Auskunftsersuchen: Auskunft über die zur Person gespeicherten Daten 21 Negativauskunft, keine Daten gespeichert 137 Keine Bearbeitung mangels Identifizierung des Er35 suchenden Auskunftsersuchen insgesamt 193 20 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Rechtsextremismus Der Anschlag auf Menschen mit Migrationshintergrund am 19. Februar 2020 in Hanau (Hessen) ist ein weiteres schreckliches Beispiel für den Rechtsterrorismus. Der Hanauer Attentäter ermordete neun Menschen aus rassistischen Beweggründen. Anschließend tötete er sich selbst. Im April des Berichtszeitraumes erhob der Generalbundesanwalt gegen den geständigen Attentäter Stephan BALLIET Anklage. BALLIET hatte am 9. Oktober 2019, am jüdischen Feiertag Jom Kippur, zwei Menschen getötet und scheiterte beim Versuch, in eine Synagoge in Halle (Saale) mit der Absicht einzudringen, die dort versammelten Gläubigen zu töten. Das Oberlandesgericht Naumburg verurteilte den Attentäter am 21. Dezember 2020 wegen zweier Morde und 68 versuchter Morde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Die Dimensionen und die Modi der Anschläge verdeutlichen, vor welchen Herausforderungen die Sicherheitsbehörden bei der Verhinderung schwerster Gewalttaten und bei der Detektion von Einzeltätern stehen. Die Zunahme von Radikalisierungen und eine verstärkte Neigung zu Aggression und Gewalt als Mittel der Konfliktlösung waren im Berichtsjahr auch im virtuellen Raum ablesbar. Neben rechtsterroristischen Einzeltätern setzte sich das Bilden und das Agieren gewaltbereiter Gruppen fort, was zunächst den Anfang im Internet nimmt, mit sehr klare Vorstellungen einer gewaltsamen Umsetzung ihrer Ziele in der Realität. Im Februar 2020 wurden bei polizeilichen Maßnahmen gegen eine rechtsterroristische Gruppierung in mehreren Bundesländern, darunter auch Sachsen-Anhalt, mehrere Beschuldigte festgenommen. Die Gruppe hatte geplant, im Bundesgebiet Attentate auf Moscheen und Politiker durchzuführen. Im November 22 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus 2020 erhob der Generalbundesanwalt Anklage. Im Berichtsjahr ergingen Verbote gegen rechtsterroristische Vereinigungen. Neben den Verboten von "Combat 18", einer international agierenden neonazistischen Gruppierung, im Januar 2020 folgte im Juni das Verbot der Gruppe "Nordadler". Am 1. Dezember 2020 schließlich wurde die kriminelle Vereinigung "Wolfsbrigade 44" bzw. "Sturmbrigade 44" verboten.1 Ein wichtiges Indiz für die Gewaltbereitschaft der rechtsextremistischen Szene ist der legale und illegale Besitz von schussfähigen Waffen und Sprengstoff. Beim Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse wirkt der Verfassungsschutz aktiv mit, indem er seine Erkenntnisse den jeweils zuständigen Waffenbehörden zur Verfügung stellt und die diese in die Gesamtbewertung einzubeziehen haben. Im Dritten Waffenrechtsänderungsgesetz vom 17. Februar 2020 (BGBl. I S. 166) wurde ab 20. Februar 2020 für die Waffenbehörden im Rahmen ihrer Zuverlässigkeitsprüfung eine Regelabfrage beim Verfassungsschutz gesetzlich implementiert. Die in den letzten Jahren zu beobachtende Strukturlosigkeit der rechtsextremistischen Szene wird immer stärker durch Netzwerke im virtuellen Raum ersetzt, welche die vielfältigen Möglichkeiten der internetbasierten Kommunikation nutzen. Neben den sozialen Medien und Messengerdiensten stehen mit diversen Imageboards, mit BitChute, Twitch oder Discord eine Vielzahl weiterer Internetportale zur Verfügung. Damit wird eine größere und vor allem jüngere Zielgruppe erreicht, was zu einer neuen Dynamik der rechtsextremistischen Szene führt. Eine hohe Diversifizierung und Professionalisierung der Internetauftritte beflügeln diesen Prozess. So beherrscht es die "Neue Rechte" geschickt, ihre rechtsextremistischen Positionen im Netz zu verbreiten. Der virtuelle 1 - siehe dazu auch Seite 32 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 23 RechtsextRemismus Raum ermöglicht es der "Neuen Rechten", mit wenig Aufwand eine hohe Reichweite zu generieren. Das Netzwerk zeichnet sich durch eine arbeitsteilige Aufgliederung in kleinere Organisationen aus, die das gesamte Geflecht weniger angreifbar machen soll. Auf diese Weise soll das verfassungsfeindliche Gedankengut in weite Teile der Gesellschaft und Politik getragen werden. Soziale Medien dienen der "Neuen Rechten" hierfür als Katalysator. Wenngleich im Berichtszeitraum die Identitäre Bewegung - als ein zentraler Vertreter der "Neuen Rechten" - an Bedeutung verloren hat, so schmälert dies jedoch nicht den Bedeutungszuwachs, den die Aktivitäten der "Neuen Rechten" im Rechtsextremismus zu verzeichnen haben. Auf Grund der pandemiebedingten Beschränkungsmaßnahmen im öffentlichen und privaten Raum gingen die ansonsten öffentlichkeitswirksam angelegten Aktivitäten des traditionellen Rechtsextremismus quantitativ deutlich zurück. Die seit einiger Zeit andauernde Aktionsund Mobilisierungsschwäche der rechtsextremistischen Szene nahm weiter zu. Die eher klandestin operierenden Gruppierungen versuchten, ihren organisatorischen Zusammenhalt dennoch aufrechtzuerhalten, denn die politische Betätigung ist insbesondere für Neonazis essenziell. Die neonazistische "Artgemeinschaft" warb mit Flugblättern für ihre Organisation. Im traditionellen parteigebundenen Rechtsextremismus nahmen die Aktivitäten der neonazistisch ausgerichteten Partei "Der III. Weg" deutlich zu. Neben dem sich fortsetzenden organisatorischen und personellen Aufbau gelang es der Partei trotz pandemiebedingter Beschränkungen, Aktivitäten wie das Verteilen von thematischen Flyern, die Organisation von dezentralen "Heldengedenk"-Feiern oder die Teilnahme am Protest gegen die staatlichen pandemiebedingten Beschränkungsmaßnahmen auszuweiten. 24 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Es ist damit zu rechnen, dass diese rechtsextremistische Partei auf niedrigem Niveau weiter aufgebaut wird. Rechtsextremisten benötigen für ihre Aktivitäten Räume, in die sie sich zurückziehen und in denen sie planen und sich vernetzen können. Immobilien und Objekte in den Händen von Rechtsextremisten stellen eine Gefahr für die innere Sicherheit dar. Der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt misst daher der Informationsgewinnung über rechtsextremistischen Immobilienbesitz eine große Bedeutung zu. Rechtsextremistische Protagonisten unterstreichen intern und öffentlich die Bedeutung von eigenem Immobilienoder Objektbesitz, der sie unabhängiger und von Behörden unbehelligter Agieren lässt. Neben Privatbesitz kommt es auch zu Mietoder Pachtverhältnissen wie im Falle des "Lokals 18" in der Naumburger Innenstadt. Die Zahl der Menschen, die der Verfassungsschutz dem Phänomenbereich des Rechtsextremismus zuordnet, ist in den letzten Jahren weiter angestiegen und überschreitet bundesweit gesehen deutlich die Marke von 30.000 Personen. In Sachsen-Anhalt ist das zielund zweckgerichtet handelnde Personenpotenzial im Rechtsextremismus nahezu konstant. Innerhalb dieses Spektrums gab und gibt es aber Verschiebungen. Zudem reagieren Rechtsextremisten situativer auf gesellschaftspolitisch relevante Ereignisse und bedienen sich zunehmend Narrativen aus dem verschwörungsideologischen Milieu, die bedingt durch die Pandemie ohnehin stark präsent sind. Die hohe Zahl der gewaltbereiten, subkulturell geprägten Rechtsextremisten basiert auf der intensiven Detektion gewaltbereiter Personenzusammenschlüsse oder von Einzelpersonen seitens der Verfassungsschutzbehörde. Etwa die Hälfte des rechtsextremistischen Personenpotenzials wird als gewaltbereit eingeschätzt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 25 RechtsextRemismus Die Entwicklung des rechtsextremistischen Personenpotenzials in Sachsen-Anhalt stellt sich für das Berichtsjahr im Vergleich zu den Vorjahren wie folgt dar: Rechtsextremisten 2018 2019 2020 Weitgehend unstrukturierter, meist subkulturell geprägter Rechtsextre740 740 770 mismus Parteiungebundener Rechtsextre340 360 365 mismus Parteigebundener Rechtsextremismus (Parteien) 265 180 155 Summe: 1.345 1.280 1.290 Gesamt (nach Abzug der Mehrfach1.300 1.230 1.230 mitgliedschaften) (Zahlen zum Teil geschätzt und gerundet.) Im Berichtsjahr etablierte sich mit fortschreitender Pandemie ein kontinuierliches Protestgeschehen, das im Sommer und Herbst seinen Höhepunkt fand. Auf Grund der Teilnahme von Extremisten und Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene prüfte der Verfassungsschutz das vielfältige coronabedingte Protestgeschehen auf verfassungsfeindliche, insbesondere demokratiefeindliche Aspekte. Im Vorfeld von Demonstrationen fanden ein reger Austausch und eine Vernetzung in den Sozialen Medien statt. In einschlägigen Gruppen, Kanälen und Foren wurden Verschwörungstheorien und Falschmeldungen verbreitet. Neben einer teilweise fehlenden Distanzierung von Versammlungsteilnehmern gegenüber erkennbaren rechtsextremistischen Inhalten und Personen aus dem rechtsextremistischen 26 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Spektrum war auch eine fehlende Akzeptanz polizeilicher Maßnahmen und versammlungsrechtlicher Vorgaben bei Teilen der Versammlungsteilnehmer wahrzunehmen. Polizisten wurden dabei teilweise massiv attackiert und auch verletzt. Verbale Anfeindungen und ein hohes Aggressionspotenzial waren in der Vergangenheit wiederholt in den Sozialen Medien und auch auf Demonstrationen festzustellen. In Sachsen-Anhalt fanden Versammlungen statt, bei denen Hinweise auf Verbindungen einzelner Teilnehmer zur "QuerdenkerSzene" vorliegen. Die zahlreichen regelmäßig stattfindenden Aktivitäten des Rechtsextremisten Sven LIEBICH in Halle (Saale) stechen hervor. Im Burgenlandkreis initiierte und beteiligte sich der Vorsitzende der neonazistischen "Artgemeinschaft" am coronabedingten Protestgeschehen. Personen, die den "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" zugerechnet werden, führten regelmäßig an der B81, Höhe der Ortschaft Heynburg (Landkreis Börde), Protestveranstaltungen durch. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 27 RechtsextRemismus Gewaltbereiter Rechtsextremismus / Rechtsterrorismus (meist subkulturell geprägter Rechtsextremismus) Verbreitung Bundesweit Gründung Diese Szene ging aus der Ende der 1960er Jahre in Großbritannien entstandenen Skinheadszene hervor und breitete sich in den 1970er Jahren auch in Deutschland aus. Struktur Die subkulturell geprägte rechtsextremistische Aufbau Szene ist als heterogen und ohne feste Struktur zu beschreiben. Es mangelt ihr grundsätzlich an der Bereitschaft zur Bildung von überregionalen Organisationsformen. Die Protagonisten treten eher in kleinen Cliquen auf, die - außerhalb des virtuellen Raums - vornehmlich in ihren Regionen agieren. Ein Trend der letzten Jahre besteht zudem darin, dass Gruppierungen, die im Kern der subkulturellen Szene zuzuordnen sind, Strukturelemente der neonazistischen Szene adaptieren. Neben dem Vorhandensein fester innerer Strukturen, autoritärer Führungspersonen oder der Finanzierung über Mitgliedsbeiträge war dies auch daran festzustellen, dass das aktionsorientierte Verüben von Straftaten nicht mehr im Vordergrund steht. Zunehmend rückt das Planen und Durchführen versammlungsrechtlicher Aktionen in das Betätigungsfeld der Szene. Eine klar definierte Abgrenzung zum Neonazismus1 ist damit kaum noch möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass von dieser "Mischszene" auch Strukturen und Erscheinungsformen anderer, nicht extremistischer Sub- 1 - siehe Seite 71 ff. 28 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus kulturen, wie Rocker oder Hooligans, übernommen und Personen dieser Subkulturen rekrutiert werden. Ebenso erschwert die immer öfter festzustellende Verlagerung von rechtsextremistischen Aktivitäten in den virtuellen Raum den Sicherheitsbehörden die Beschreibung der subkulturellen Szene und vor allem aber die Bewertung möglicher Gefahren. Rechtsextremisten nutzen soziale Netzwerke und Messengerdienste zunehmend nicht nur als Propagandainstrument, sondern finden sich hierüber einfach und vor allem schnell in virtuellen Gruppen zusammen. Gerade im Bereich der gewaltbereiten Szene sind es sodann Themen mit Gewaltbezug gegen Ausländer und politisch Andersdenkende oder gar Anschlagsszenarien, die in Gruppendiskussionen festzustellen sind und die Aufmerksamkeit der Behörden erfordern. Insoweit ist es von Bedeutung, das tatsachliche Übertragen derartiger Strukturen in den realen Raum und dort sich bildende Gruppierungen beziehungsweise deren mögliches Mobilisierungspotenzial frühzeitig zu erkennen. Nach dem Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle (Saale) wird innerhalb der Verfassungsschutzbehörde möglichen rechtsterroristischen Ansätzen eine noch höhere Bedeutung beigemessen. Hier sind es vor allem Einzelpersonen und klandestin organisierte Kleinstgruppen, überwiegend aus dem Spektrum der subkulturell geprägten und in Teilen gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene, welche mit der Androhung oder Planung von schweren Gewalttaten oder Anschlägen in den Fokus der Sicherheitsbehörden Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 29 RechtsextRemismus geraten. In derartigen Fällen tritt neben die originäre sachund strukturorientierte Auswertung von Informationen auch eine gezielt persönlichkeitsorientierte Aufklärung, die sodann im Ergebnis Rückschlüsse auf mögliche Gefährdungsszenarien zulässt. Mitglieder Land: etwa 770 (2019: etwa 740) Anhänger Bund: etwa 13.700 (2019: 13.500) VeröffentWeb-Angebote: Agitationen in den Sozialen lichungen Medien; Bekanntgabe von Veranstaltungen mittels Plakaten und Foren im Internet Kurzportrait / Ziele Mit der zunehmenden Politisierung der Skinheadszene seit Mitte der 1990er Jahre und der seitdem zu beobachtenden Verwischung der bis dahin klar abgrenzbaren Erscheinungsformen des Rechtsextremismus in Gestalt von Neonazis, Parteienspektrum und Skinheads bildete sich eine subkulturelle und als vielschichtig zu charakterisierende Szene heraus. Die in der Vergangenheit dominante Skinhead-Subkultur hat in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung verloren, dies macht es kaum noch möglich, von "dem" Skinhead zu sprechen, der mit einheitlichen Dresscodes oder dem seinerzeit typischen Erscheinungsbild erkennbar wäre. Vielmehr weisen die Angehörigen der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene seit geraumer Zeit ein sehr heterogenes Erscheinungsbild auf und definieren sich eher über szenetypische Musik und den damit verbundenen Lebensstil. Gerade das Auftreten passt sich dabei aktuellen Trends und auch der Altersstruktur des Personenpotenzials an. Die der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene zuzuordnenden Personen verfügen in aller Regel nicht über ein in sich geschlossenes Weltbild, sondern werden von einzelnen rechtsextremistischen Einstellungen und Argumentationsmustern beeinflusst und geprägt. Als Kernfelder dienen hier vor allem Rassismus und Antisemitismus, untersetzt mit einer 30 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Gewaltaffinität, die sich wiederum insbesondere gegen Minderheiten und aus ihrer Sicht Andersdenkende richtet. Gewalt und Gewaltbereitschaft waren schon immer ein wesentliches Kennzeichen dieser Szene. Im Zuge der zu beobachtenden Verjüngung der Szene ist zudem eine Zunahme der aktionsorientierten Motivation zu verzeichnen, da gerade bei jüngeren Szeneangehörigen Aktivitäten mit "Erlebnischarakter" im Vordergrund stehen. Daraus resultieren meist spontan aggressive und gewalttätige Aktionen, mit denen die subkulturelle rechtsextremistische Szene in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Grund der Beobachtung Das Weltbild dieser Szene wird von rassistischen, antisemitischen, fremdenfeindlichen und Gewalt gegen Ausländer befürwortenden Ideologiebestandteilen sowie das demokratische System ablehnenden Haltungen geprägt. Dies wird in Aktionen, Strafund Gewalttaten sowie in zahlreichen Liedern einschlägiger Musikgruppen offen zum Ausdruck gebracht. Gerade die Liedtexte fungieren als wichtiges Medium, um rechtsextremistische und zum Teil gewaltbefürwortende Inhalte zu verbreiten. Gleichzeitig sollen damit bei den Hörern Hemmschwellen in Bezug auf die Ablehnung Anderer und die Anwendung von Gewalt abgebaut werden. All dies steht im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Rechtsterrorismus Im Berichtszeitraum jährte sich erstmalig der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) vom 9. Oktober 2019. Der Täter wurde vom Oberlandesgericht Naumburg am 21. Dezember 2020 zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Der Verfassungsschutzbehörde liegen auch ein Jahr nach der Tat keine Erkenntnisse vor, die auf eine aktive Einbindung des Täters in die rechtsextremistische Szene schließen lassen. Insofern wird Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 31 RechtsextRemismus unverändert davon ausgegangen, dass sich dieser allein radikalisiert und vor allem allein gehandelt hat. In der rechtsextremistischen Szene wird die Tat überwiegend kritisch und als "der Sache schadend" bewertet. Gleichwohl sind der Verfassungsschutzbehörde auch Personen bekannt geworden, die sich mit der Tat identifizierten, mit dem Inhaftierten Kontakt aufnehmen wollten oder im virtuellen Raum mit Nachahmungstaten drohten. Die Aufgabe der Verfassungsschutzbehörde besteht gerade in den letztgenannten Fällen darin, die Personen und deren ideologische Einstellung oder die aktive Einbindung in die rechtsextremistische Szene zu erkennen sowie die Ernsthaftigkeit und mögliche Gefährdung für eine Übermittlung an die Polizei zu bewerten. Beispielhaft ist der Fall eines 19-jährigen Mannes aus dem Burgenlandkreis anzuführen, der im Internet damit drohte, dass er "den Attentäter aus Halle nachahmen" wolle, mit diesem sympathisiere und dessen Motive verstünde. Die Angaben der Person zu den persönlichen Kennverhältnissen mit dem Täter stellten sich als unrichtig heraus. Die Verfassungsschutzbehörde führte zudem präventive Gespräche im engeren Familienumfeld der Person, in deren Ergebnis eine akute Gefährdung ausgeschlossen werden konnte. Ungeachtet dessen wird die Verfassungsschutzbehörde auch diese Person weiterhin und insbesondere deren mögliche Einbindung in die rechtsextremistische Szene oder Kontakte zu anderen relevanten Personen im Blick haben. Der Polizei sind die Person und der Sachverhalt ebenso bekannt. Staatliche Maßnahmen Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) hat am 23. Juni 2020 die rechtsextremistische Gruppierung "Nordadler" auf der Grundlage des Vereinsgesetzes verboten. Bei der Gruppierung handelte es sich um eine rechtsextremistische Vereinigung, die ihre nationalsozialistische und antisemitische Ideologie überwiegend im Internet propagierte. Die 32 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Gruppierung wies eine Wesensverwandtschaft zum Nationalsozialismus auf, die sich vor allem in einer Organisationsstruktur mit Bezügen zur SS sowie der Nutzung nationalsozialistischer Symbole und Sprache widerspiegelte. Die Mitglieder der Gruppierung, unter denen sich auch ein hinlänglich bekannter Rechtsextremist aus dem Landkreis Anhalt-Bitterfeld befand, planten die Rückkehr eines NS-Staates. Zudem wiesen die Mitglieder von "Nordadler" eine kämpferisch-aggressive Grundhaltung mit Gewaltphantasien auf, die sich auch in einer Befürwortung des Anschlags auf die Synagoge in Halle (Saale) am 9. Oktober 2019 niederschlug. Am 1. Dezember 2020 sprach das BMI ein weiteres vereinsrechtliches Verbot gegen die rechtsextremistische Gruppierung "Sturm-/Wolfsbrigade 44" aus. Auch diese neonazistische Vereinigung wies eine Wesensverwandtschaft zum Nationalsozialismus auf. Die Mitglieder der Gruppierung bekannten sich offen zu Adolf Hitler und traten für die Abschaffung des demokratischen Rechtsstaates und die Wiedererrichtung eines nationalsozialistischen Staates ein. Die Gruppierung trat vor allem in den sozialen Netzwerken martialisch auf. Ihre menschenverachtende Ideologie richtete sich in aggressiv kämpferischer Weise gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung. Von dem Verbot waren auch Personen aus Sachsen-Anhalt und Personen, die sich zeitweise hier aufgehalten haben, betroffen. Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden Der Bundesinnenminister stellte am 6. Oktober 2020 das vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) erarbeitete bundesweite Lagebild "Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden" vor. Dieses bildet für den Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis 31. März 2020 die Fälle ab, in denen bei Bediensteten in Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder zumindest ein Verdacht auf Bezüge zum Rechtsextremismus bestand. Für Sachsen-Anhalt beträgt diese Schnittmenge im Erhebungszeitraum neun Fälle. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 33 RechtsextRemismus Die im Einzelnen dahinter verborgenen Sachverhalte werden unter anderem auch von der Verfassungsschutzbehörde aufgearbeitet und bewertet. Das Lagebild wird weiter aktualisiert und fortgeschrieben. Bürgerwehrähnliche Strukturen in der rechtsextremistischen Szene Aus der Sicht von militanten Rechtsextremisten ist der Staat spätestens seit dem Jahr 2015 mit einem hohen Anstieg der Flüchtlingszahlen nicht mehr in der Lage, sein Gewaltmonopol auszuüben. Aus diesem Grund müsse man die "deutsche" Bevölkerung schützen und auf einen aus der Sicht der Rechtsextremisten drohenden "Rassenkrieg" vorbereitet sein. Die Verfassungsschutzbehörden haben in diesem Zusammenhang einen Zuwachs an "Bürgerwehren" oder bürgerwehrähnlichen Strukturen bereits in den letzten Jahren wahrgenommen. Rechtsextremisten versuchen über diese Aktionsform auch, eine Anschlussfähigkeit an das bürgerliche Spektrum herzustellen. Wenngleich sich die Aktivitäten von rechtsextremistischen, bürgerwehrähnlichen Strukturen in Sachsen-Anhalt überwiegend auf den virtuellen Raum beschränkt haben, traten in den Jahren 2019 und 2020 die in Sachsen-Anhalt ansässigen Mitglieder der "Vikings Security Germania" auch mit so genannten Streifengängen an diversen Orten in Erscheinung. Bei der rechtsextremistischen Gruppierung "Vikings Security Germania" handelt es sich um eine bürgerwehrähnliche Gruppierung, die sich im fremdenund muslimenfeindlichen Spektrum des Rechtsextremismus herausgebildet und verfestigt hat. Die Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt ordnet der "Division SachsenAnhalt" etwa zehn Personen zu. Am Beispiel der "Vikings Security Germania" wird zudem deutlich, dass der Übergang von einer virtuell agierenden Gruppe zu einem tatsächlichen Auftreten in der Realwelt bis hin zur Bereitschaft zur Ausübung schwerster Gewalttaten oder Anschläge fließend ist und auch der Radikalisierungsprozess innerhalb einer solchen Gruppe äußerst kurz sein kann. So werden derzeit 34 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus auch zwei Personen, die der "Vikings Security Germania" angehörten, vom Generalbundesanwalt beschuldigt, als mutmaßliche Mitglieder der so genannten "Gruppe S." an der Planung und Vorbereitung von Anschlägen auf Moscheen und Politiker beteiligt und mithin Teil einer rechtsterroristischen Vereinigung gewesen zu sein. Beide Personen befinden sich seit den polizeilichen Exekutivmaßnahmen am 14. Februar 2020 in Haft. Rechtsextremisten und Kampfsport Bereits in den Vorjahren hat die Verfassungsschutzbehörde ein gesteigertes Interesse an der Ausübung von Kampfsport innerhalb der rechtsextremistischen Szene beobachtet. Wenngleich der Verfassungsschutzbehörde in Sachsen-Anhalt keine strukturierten Verbindungen zwischen der rechtsextremistischen Szene und der Kampfsportszene bekannt sind, werden wiederkehrend Rechtsextremisten mit Bezügen zum Kampfsport festgestellt. In der Regel trainieren diese in kommerziellen Kampfsportschulen, die auch anderen Personen, teils sogar mit Migrationshintergrund oder anderer politischer Ausrichtung, offen stehen und von diesen genutzt werden. Die Affinität von Rechtsextremisten für Kampfsport lässt sich gerade in der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene bereits mit dem dort vorherrschenden Männlichkeitskult, der durchaus bestehenden Gewaltorientiertheit und dem gesteigerten Hang zu körperlichen Auseinandersetzungen begründen. Zuletzt trat hier aber auch der Glaube an einen "Untergang des Systems" oder an einen von Rechtsextremisten im Zusammenhang mit der "Corona-Krise" erwarteten Zusammenbruch der staatlichen Ordnung hinzu. Der Kampfsport dient in diesem Zusammenhang insoweit auch der Vorbereitung auf einen direkten Konflikt und zur "Verteidigung des Lebensraumes", der Familie und nicht zuletzt der "weißen Rasse". Als Beispiel sind hier etwa die wiederkehrend festgestellten Aktivitäten der "Identitären Bewegung Deutschland" anzuführen. Diese veröffentlichte am 20. August 2020 ein kurzes Video, das Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 35 RechtsextRemismus etwa 40 Personen bei Kraftund Ausdauerübungen, Kampftraining sowie bei Vorträgen zeigt. An der Veranstaltung in Südbrandenburg nahmen auch Personen aus Sachsen-Anhalt teil. Ferner dient der Kampfsport in einer sich zunehmend verjüngenden und aktionsorientierten rechtsextremistischen Szene der Rekrutierung eines bislang nicht erreichbaren Personenpotenzials. Der Event-Charakter "großer" Veranstaltungen stärkt die Attraktivität und das Rekrutierungspotenzial massiv. Die Veranstaltungen mit steigenden Zuschauerzahlen fördern die Vernetzung und dienen schlicht zudem als Geldquelle. Herausragendes Beispiel für eine solche Veranstaltung ist der jährlich wiederkehrende "Kampf der Nibelungen", der am 10. Oktober 2020 als Live-Stream im Internet gezeigt werden sollte. Die Aufzeichnung der einzelnen Kämpfe sollte bereits am 26. September 2020 auf dem Gelände des Klubhauses der als rechts-extremistisch geprägt geltenden Rockergruppierung "MC Division 39 Magdeburg" in Magdeburg-Rothensee erfolgen. Die Veranstaltung wurde von der Polizei untersagt. In der Begründung des Verbots wurde folgerichtig darauf abgestellt, dass die besagte Kampfsportveranstaltung im Wesentlichen nicht dem sportlichen Wettkampf, sondern der eigenen Ertüchtigung und Wehrhaftigkeit im Kampf gegen die demokratisch verfasste, freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland 36 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus dienen sollte und insoweit als rechtsextremistische Kampfsportveranstaltung der Vorbereitung des gewaltsamen Kampfes gegen den demokratischen Rechtsstaat bestimmt war. Zum Zeitpunkt der Auflösung der Veranstaltung durch die Polizei befanden sich bereits fast 100 Personen auf dem Veranstaltungsgelände, von denen die meisten hinlänglich bekannte Rechtsextremisten sind. Rechtsextremisten und Waffen Neben der Gewaltbereitschaft weisen Rechtsextremisten häufig eine besondere Affinität zu Waffen und Militaria auf. Waffen haben in der rechtsextremistischen Szene aus milieuspezifischen und insbesondere ideologischen Gründen eine große Bedeutung. Es ist dabei die Kombination aus menschenverachtender Weltanschauung, niedriger Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt und eben der ausgeprägten Affinität zu Waffen, die ein nicht zu vernachlässigendes Bedrohungspotenzial darstellt, wie die rechtsterroristischen Aktivitäten des NSU und zuletzt auch aktuell die Taten von Kassel, Halle (Saale) und Hanau gezeigt haben. Rechtsextremisten nehmen an Schießund militärähnlichen Übungen im Inund Ausland teil und beschaffen sich illegal Waffen. Dieses Verhalten folgt dabei der in der Szene propagandistisch geforderten stetigen Wehrhaftigkeit. Auch im Berichtszeitraum war die Teilnahme von Rechtsextremisten an Schießübungen im Ausland festzustellen. Bislang umfasst dies bezogen auf Sachsen-Anhalt aber eine geringe Anzahl. Daneben sind der Verfassungsschutzbehörde in Sachsen-Anhalt Rechtsextremisten bekannt, die über waffenrechtliche Erlaubnisse verfügen, die sie zum Besitz von erlaubnispflichtigen und mithin "scharfen" Schusswaffen berechtigen. Soweit der Verfassungsschutzbehörde ausreichend mitteilbare Erkenntnisse zu diesen Personen vorliegen, die Zweifel an der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit aufkommen lassen, werden die zuständigen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 37 RechtsextRemismus Waffenbehörden auf der Grundlage von SS 18 Abs. 1 VerfSchGLSA hierüber informiert. In einzelnen Fällen hat die zuständige Untere Waffenbehörde daraufhin bereits die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen. Auch scheint es gerade im rechtsextremistischen Parteienspektrum zum "guten Ton" zu gehören, wenn man sich mit der Beantragung eines so genannten Kleinen Waffenscheins in die Lage versetzt, erlaubnisfreie, aber nicht minder gefährliche (Schreckschuss-)Waffen in der Öffentlichkeit bei sich führen zu dürfen. Rechtsextremisten und Prepper Es ist nicht allein die Affinität zu Waffen, die die Rechtsextremisten umtreibt, sondern die Vorstellung, dass es in Deutschland vor allem aufgrund der Zuwanderung und zuletzt wegen der Einschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zu einem politischen Umbruch oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen wird, auf die man vorbereitet sein müsse. Neben der oftmals nur verbalen Bekundungen hinsichtlich der Beschaffung von Waffen geriet auch das Betätigungsfeld der so genannten "Prepper" in den Fokus der Extremisten. Der Begriff "Prepper" ist aus dem Englischen "to prepared" - vorbereitet sein - abgeleitet. Er bezeichnet Personen, die sich mittels individueller Maßnahmen auf jedwede Art von Katastrophe vorbereiten. Die Verfassungsschutzbehörde konnte durchaus feststellen, dass Rechtsextremisten die Verhaltensweisen der "Prepper" adaptieren und sich entsprechend im Rahmen interner Seminare oder Vortragsveranstaltungen schulen, jedoch aus einer anderen Motivationslage heraus. Eine gezielte rechtsextremistische Beeinflussung bzw. Unterwanderung der so genannten "Prepper"-Szene ließ sich bislang aber nicht erkennen. In dem Kontext berichteten diverse Medien am 6. Juni 2020 über eine mutmaßlich rechtsextremistische Prepper-Gruppe, der auch Reservisten der Bundeswehr mit möglichen Verwen38 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus dungen in Krisenstäben angehören sollen. Die Mitglieder dieser Gruppierung sollen unter anderem in einem geschlossenen Chat mit der Bezeichnung "Endkampf" kommuniziert und sich auf einen "Rassenkrieg" vorbereitet haben. Wenngleich sich das tatsächliche Bestehen einer solchen Gruppierung nicht mit anderen Quellen als der Presseberichterstattung belegen ließ, sprachen doch einzelne Hinweise für deren tatsächliches Bestehen. Die der Gruppierung und deren Umfeld mutmaßlich zuzurechnenden Personen sind der Verfassungsschutzbehörde in Teilen als Rechtsextremisten bekannt. Diese weisen insbesondere Verbindungen zur so genannten "Neuen Rechten" auf. Das von der Presse in dem Zusammenhang als relevanter Ort herausgearbeitete Gelände des (ehemaligen) Schießstandes "Müchauer Mühle" im Ortsteil Jüdenberg von Gräfenhainichen (Landkreis Wittenberg) geriet nach dem Bekanntwerden ebenso in den Fokus der Verfassungsschutzbehörde in Sachsen-Anhalt, da sich weitere Schnittmengen zum Rechtsextremismus abbilden ließen. Verbindungen zu anderen Subkulturen Eine gezielte Beobachtung der Fußballfanoder Hooliganszene erfolgt von der Verfassungsschutzbehörde in Sachsen-Anhalt nicht, weil keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass von dort Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen. Dennoch stellt die Verfassungsschutzbehörde regelmäßig personelle Schnittmengen zwischen der rechtsextremistischen Szene und der Hooliganszene fest, regelmäßig immer dann, wenn bekannte Rechtsextremisten erkennbar und aktiv in der Hooliganszene auftreten oder Mitglieder von Hooliganoder Fangruppierungen mit Straftaten der politisch motivierten Kriminalität (rechts) in Erscheinung treten. Gerade die letztgenannte Schnittmenge besteht zu einem nicht unerheblichen Teil aber auch aus Fällen, bei denen nicht der politische Aktivismus im Vordergrund steht, sondern vielmehr der Hang zur Gewaltausübung. Als herausgehobenes Beispiel für die vorgenannte SchnittVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 39 RechtsextRemismus mengenbetrachtung ist die im Berichtszeitraum festgestellte bundeslandübergreifende Kampagne der rechtsextremistischen Partei "Der III. Weg" anzuführen, die sich gegen den Fußballverein Türkgücü München richtete. Eine entsprechende Aktion der Partei in Gestalt eines Banners mit der Aufschrift "Türkgücü NICHT Willkommen!" wurde auch vor deren Drittligaspiel gegen den 1. FC Magdeburg am 16. Oktober 2020 vor dem Stadion in Magdeburg durchgeführt. Die Partei veröffentlichte am 15. Oktober auf ihrer Internetseite ein Bild einer Personengruppe mit einschlägigem Banner, kommentiert mit den Worten "Auch in Magdeburg zeigen Aktivisten und volkstreue Anhänger des FCM, was sie von dem neuen Türkenverein Türkgücü München halten...". Mit Blick auf die Betrachtung der Schnittmengen zwischen der rechtsextremistischen Szene und der Rockerszene geriet im Zusammenhang mit der vorgenannten rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltung "Kampf der Nibelungen" auch die rechtsextremistisch geprägte Rockergruppierung "MC Division 39 Magdeburg" wieder verstärkt in den Fokus der Verfassungsschutzbehörde. Die Rockergruppierung wies bereits bei ihrer Gründung eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an bekannten Rechtsextremisten der örtlichen Szene auf und trat in den Folgejahren vereinzelt aber wiederkehrend in Erscheinung. Mit der Bereitstellung ihres Klubhauses für eine derart große und überregional bekannte rechtsextremistische Veranstaltung wie 40 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus den "Kampf der Nibelungen" haben die Bezüge zum Rechtsextremismus eine neue Qualität erreicht. Darüber hinaus beobachtet die Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt die hiesige Rockerszene nicht gezielt, weil keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass von dort Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen. Gleichwohl sind auch hier immer wieder personelle Schnittmengen zur rechtsextremistischen Szene festzustellen. Hinweise auf eine gezielte Unterwanderung oder Beeinflussung der Rockerszene durch Rechtsextremisten gibt es indes nicht. Demonstrations-und Protestgeschehen Landkreis Anhalt-Bitterfeld Mitte Oktober 2020 wurde in Facebook ein Aufruf für eine versammlungsrechtliche Aktion in BitterfeldWolfen,OT Bitterfeld, unter dem Motto "Gegen Polizeigewalt" festgestellt. An der Kundgebung mit Aufzug beteiligten sich etwa 30 Personen, darunter Rechtsextremisten aus Bitterfeld und Dessau-Roßlau. Im Verlauf der Aktion wurden sechs Strafanzeigen gefertigt wegen Beleidigung, Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz, Waffengesetz und Versammlungsgesetz. Burgenlandkreis In den Abendstunden des 21. November 2020 wurde bekannt, dass sich bis zu 30 Personen durch den Innenstadtbereich von Naumburg bewegten und dabei Sprechchöre: "Hier regiert der nationale Widerstand", "Nationaler Widerstand" und "Ganz Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 41 RechtsextRemismus Deutschland hasst die Polizei" skandierten. Bei der Personengruppe handelte es sich um potenzielle Versammlungsteilnehmer, die in Leipzig (Sachsen) an den dort geplanten Corona-Veranstaltungen teilnehmen wollten und nunmehr auf der Rückreise in Richtung Thüringen unterwegs waren. In Naumburg bot sich für sie die Gelegenheit, auf einen Anschlusszug zu warten und so bewegten sich die Personen spontan zum Naumburger Dom und zurück zum Bahnhof. Nach Erreichen des Bahnhofs bestieg die Personengruppe einen Zug in Richtung Erfurt (Thüringen). Dessau-Roßlau Am Abend des 19. Januar 2020 veranstaltete die rechtsextremistische Szene in Dessau-Roßlau, OT Roßlau, eine Eilversammlung in Form einer Mahnwache, an der sich etwa 20 Szeneangehörige beteiligten. Sie stellten Kerzen auf und zeigten ein Transparent mit der Aufschrift "Keine Macht der linken Gewalt". Hintergrund ist der mutmaßlich linksextremistisch motivierte Angriff auf vier Szeneangehörige am 19. Januar 2019.2 In diesem Zusammenhang fand am 25. Januar 2020 in DessauRoßlau, OT Roßlau, eine weitere versammlungsrechtliche Aktion mit dem Motto "Versuchter Mord, wir fordern Aufklärung!" statt. Während des Aufzugs führten die etwa 60 Teilnehmer zwei Transparente mit der Aufschrift "Keine Toleranz für linke Gewalt" und "Linkem Terror entschlossen entgegentreten" mit sich. Als Redner traten die bekannten Rechtsextremisten Dieter RIEFLING (Niedersachsen) und Christian BÄRTHEL (Thüringen) auf. 2 - Am 19. Januar 2019 ereignete sich im Nachgang zum "Trauermarsch" der rechtsextremistischen Szene in Magdeburg ein versuchtes Tötungsdelikt in Dessau-Roßlau. Sechs Vermummte griffen vor einer Bahnhofsunterführung im Ortsteil Roßlau eine vierköpfige Gruppe an, welche sich auf dem Rückweg vom rechtsextremistischen Aufzug befand. Der offensichtlich geplante Angriff erfolgte unvermittelt und unter Einsatz eines Hammers, eines Schlagrings und eines Totschlägers, so dass die Geschädigten teils erhebliche Verletzungen erlitten. Der Tod der Geschädigten wurde zumindest billigend in Kauf genommen. 42 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Politisch motivierte Kriminalität - rechts - Die subkulturell geprägte rechtsextremistische Szene mit ihrem immanenten rassistischen und fremdenfeindlichen Weltbild, das Gewalt gegen Ausländer befürwortet und umsetzt, findet in den Daten der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) eine statistische Größe. Diese Daten geben den Sicherheitsbehörden die Möglichkeit, Häufungen oder Tendenzen von rechtsextremistischen Straftaten im Land Sachsen-Anhalt zu erkennen und auszuwerten. Die PMK ist ein wichtiger Indikator für die Beurteilung der Gewaltbereitschaft des Rechtsextremismus. Im Berichtsjahr wurden insgesamt 1.6423 Straftaten im Bereich der PMK - rechts - erfasst. Damit ist im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg zu konstatieren. Insbesondere die Anzahl der Gewaltstraftaten nahm zu. Wurden für 2019 noch 74 rechte Gewaltstraftaten erfasst, waren es im Berichtsjahr insgesamt 85 und damit 11 mehr. Die Zahl der erfassten Propagandastraftaten ist erneut gestiegen, von 1.056 (2019) auf 1.105 (2020). Damit macht diese Deliktsgruppe auch weiterhin den mit Abstand größten Teil der PMK - rechts - aus. Fremdenfeindlich motivierte Strafund Gewalttaten Auch wenn Themen mit Bezug zur Asylpolitik in der rechtsextremistischen Szene nicht mehr die andauernde Aufmerksamkeit 3 - Alle statistischen Angaben sind vom Stand: 31.01.2021, die Zahlen werden vom Landeskriminalamt (LKA) Sachsen-Anhalt bereitgestellt, Sie entsprechen der vom Innenminister veröffentlichten PMK-Statistik 2020 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 43 RechtsextRemismus und Bedeutung wie in den Jahren 2014, 2015 und 2016 einnehmen, stellt diese Thematik auch weiterhin einen zentralen Aspekt dar. Die etablierten und szeneimmanenten Anknüpfungspunkte wie Fremdenfeindlichkeit und der damit eng verbundene Rassismus, gepaart mit einem Bezug zur Flüchtlingspolitik, werden situationsbedingt für Agitationszwecke genutzt und fallen auf einen immer noch vorhandenen Nährboden. Hierfür bedienen sich die Rechtsextremisten auch weiterhin intensiv der sozialen Medien, was eine breite Resonanz bis in nahezu alle Bevölkerungsschichten hinein bewirkt. Zudem wurden öffentlichkeitswirksame Vorfälle und Straftaten unter Beteiligung Geflüchteter für rechtsextremistische Aktionen genutzt. Ein solcher schwerwiegender Fall mit bundesweiter Bedeutung, der augenscheinlich im Zusammenhang mit einer fremdenfeindlichen und Asyl ablehnenden Motivation zu sehen ist, ereignete sich am 19. Februar 2020 in Hanau (Hessen). Hier erschoss ein 43-jähriger Hanauer Bürger vor einer Shisha-Bar, einem Kiosk und einer weiteren Bar neun Personen mit Migrationshintergrund. Der Tatverdächtige tötete seine Mutter und sich selbst im Anschluss an diese Tat. Dieses schreckliche Ereignis wurde auch in Sachsen-Anhalt von rechtsextremistisch motivierten Personen aufgegriffen. So kam es am 23. Februar 2020 in Elbe-Parey OT Parey (Landkreis Jerichower Land) zu einer Bedrohungstat unter Bezugnahme auf den Anschlag von Hanau. An einem dortigen Dönerimbiss wurde von unbekannten Tätern ein Zettel mir der Aufschrift "ES LEBE DER HELD VON HANAU" angebracht. Ein weiteres Beispiel für eine fremdenfeindlich motivierte Tat ist ein Vorfall vom 19. Juni 2020 in Magdeburg. Auf dem Elberadweg wurden mehrere inkriminierte Schriftzüge festgestellt, 44 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus die mittels Schablone aufgetragen worden waren. Es waren u. a. Texte wie: "Refugees Welcome in Auschwitz", "Antifa kommt nach Nürnberg, wegen der Sonderbehandlung" und "Ausländer deutsche Volk" zu lesen. Weitere Schriftzüge lauten: "SOS, Europa, EU Diktatur; Corona aus China und HIV aus Afrika". Zudem wurden zwei Karikaturen in Form von "Galgenmännchen" festgestellt. Die Ablehnung der aktuellen Asylpolitik durch die rechtsextremistische Szene ist eng mit einer ausgeprägten Islamfeindlichkeit verbunden. Gerade derartige Korrelationen führen häufig zu Gewalttaten oder Angriffen gegen Personen, welche die Täter für Flüchtlinge oder Muslime halten. Ein Beispiel dafür ist ein Vorfall vom 31. Mai 2020 in Magdeburg im Bereich der Ar-Rahman-Moschee. Hier wurden von unbekannten Tätern 16 Papierstreifen in einer Größe von 22cm x 2cm öffentlich ausgelegt. Die Papierstreifen waren bedruckt mit der Aufschrift "FUCK ISLAM, THIS IS GERMANY". Von den Teilnehmern des Gebets wurden die Papierstreifen im Umkreis von ca. 200 Meter vor der Moschee auf der Straße liegend aufgefunden und eingesammelt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 45 RechtsextRemismus Antisemitisch motivierte Strafund Gewalttaten Die PMK - rechts - ist die unmittelbar nach außen ersichtliche Darstellung einer rechtsextremistischen Ideologie. Neben einem immanenten rassistischen und fremdenfeindlichen Weltbild, das Gewalt gegen ausländische Mitbürger befürwortet und das demokratische Mehrparteiensystem ablehnt, tritt der Antisemitismus4 hinzu. Rechtsextremisten praktizieren und leben den Antisemitismus in der unterschiedlichsten Form. So kommt es immer wieder zu verletzenden Ansprachen, Beleidigungen, Bedrohungen von und auch Angriffen auf Juden oder jüdische Einrichtungen, unabhängig davon, ob tatsächlich oder nur vermeintlich ein jüdischer Bezug besteht. Im aktuellen Berichtszeitraum setzte sich die ansteigende Tendenz bei den antisemitischen Straftaten der letzten Jahre fort. So kam es am 31. August 2020 in Zeitz (Burgenlandkreis) zu einer antisemitisch motivierten Gewalttat. Am genannten Tattag hielt ein PKW neben dem späteren Geschädigten, der seinen jüdischen Glauben durch das Tragen einer Kippa offen zeigte. Aus dem PKW stiegen drei Personen aus und gingen auf den Geschädigten zu und beschimpften diesen mit Worten wie: "Judensau" oder auch "Judenschwein". Dabei traten sie aggressiv auf, so dass der Geschädigte einen unmittelbar bevorstehenden körperlichen Angriff befürchtete. Aus Angst vor dem vermuteten körperlichen Angriff setzte der Geschädigte Pfefferspray gegen die drei Person ein. 4 - empfohlene Definition der Bundesregierung: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, viel solcher Angriffe sein." Am 16.03.2021 hat die Landesregierung beschlossen, dass diese Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) auch für die Arbeit der Landesverwaltung genutzt wird (siehe Pressemitteilung der Staatskanzlei 077/2021). 46 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Straftaten gegen den politischen Gegner Die Auseinandersetzung oder Konfrontation mit dem politischen Gegner ist ein ständiger Reizpunkt innerhalb der rechtsextremistischen Szene. Im Jahr 2020 boten sich der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene wieder zahlreiche Gelegenheiten, um offen oder im Verborgenen gegen den politischen Gegner zu agieren. Dabei handelten im Allgemeinen Einzeltäter oder mehrere Personen gemeinsam, ohne dass diese eine auf Dauer angelegte Gruppierung darstellten. Neben objektund personenbezogenen Straftaten zum Nachteil von Asylunterkünften und Asylsuchenden steht weiterhin zu befürchten, dass auch die Agitation zum Nachteil von vermeintlich politisch Verantwortlichen fortbesteht. Ein Großteil der strafbaren Handlungen im Berichtszeitraum richtete sich gegen Objekte oder Personen. Ein Beispiel für eine Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, das zudem ein bundesweites Interesse nach sich zog, ist ein Fall vom 15. Januar 2020 in Halle (Saale) zum Nachteil eines Mitgliedes des Deutschen Bundestages der SPD. Hier verübten unbekannte Täter eine Sachbeschädigung an einer großen Scheibe des Bürgerbüros des Abgeordneten. Bei der Tatortaufnahme wurden fünf kreisrunde Löcher mit einem Durchmesser von 4 bis 6 mm in der äußeren Scheibe des doppelverglasten Fensters festgestellt. Es bestand hier der Verdacht, dass es sich um Einschusslöcher handeln könnte. Projektile und Hülsen konnten nicht festgestellt werden. Ein auf der Fensterscheibe aufgebrachter ca. 2x2 m großer Aufkleber mit dem Bild des MdB wurde nicht beschädigt. Im Rahmen der Ermittlungen vor Ort konnten zwei weitere Tatorte mit ähnlichem Schadensbild festgestellt werden. In den Folgetagen und -wochen kam es immer wieder zu ähnlich gelagerten Sachbeschädigungen an diversen staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen in Halle (Saale). Darunter befand sich auch der "Kiez-Döner", der bei dem Anschlag am 9. Oktober 2019 ebenfalls betroffen war. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 47 RechtsextRemismus Ein Beispiel für eine in diesem Kontext mittels Internet begangene Straftat ist ein Fall vom 10. März 2020 in Halle (Saale). Hier erhielt ein Mitglied der Partei "DIE LINKE" eine E-Mail mit bedrohendem und beleidigendem Inhalt. Der Inhalt lautet: "Hallo (Name des Geschädigten), wie du wahrscheinlich gemerkt hast, ist dies keine "normale" E-Mail die du erhältst. Du lästiger Antifaschist, deine Zeit ist vorbei und dein Ende naht. Da wir wissen wo du gottverdammte Judensau dich aufhältst, kannst du dir sicher sein, dass wir dich schon in der nächsten Zeit aufgreifen, und dir ein Messer in deinen Rücken rammen. Oder wir prügeln dich mit unseren Fäusten zu tode. Deine Leiche, werden wir dann in Halle neben der Synagoge aufhängen, welche Stephan Balliet versucht hat zu bereinigen. Du bist bald schon tot, wir schlitzen dich auf Kumpan! Ein Täter konnte bisher nicht ermittelt werden. Rechtsextremistische Musik Musik ist im täglichen Leben omnipräsent, auch innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums, wobei hier allerdings ihre Rolle als Vermittler rechtsextremistischen Gedankengutes im Fokus steht. Rechtsextremistische Musik fördert die Entwicklung und den Zusammenhalt der gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene und besitzt somit nach wie vor eine herausragende Bedeutung für deren Bestand. Sie fungiert als ein Lockmittel, um Jugendliche oder Heranwachsende an die rechtsextremistische Ideologie heranzuführen und langfristig an die Szene zu binden. Die rechtsextremistische Szene schreckt nicht davor zurück, sich zu diesem Zweck auch aktueller Genres zu bedienen, die ursprünglich nicht im rechtsextremistischen Spektrum zu finden waren, wie beispielsweise Black Metal, Chansons oder Rap. Mit der im Frühjahr 2020 aufkommenden Corona-Pandemie und den damit eingeleiteten Eindämmungsmaßnahmen wurden die rechtsextremistischen Musikveranstaltungen stark eingeschränkt und kamen nahezu vollständig zum Erliegen. 48 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Das Absinken der Veranstaltungszahlen hatte jedoch nur temporären Charakter. Die Szene nutzte die Lockerungen zwischen dem ersten Lockdown (endete am 6. Mai 2020) und dem zweiten Lockdown (begann am 3. Dezember 2020) sofort, um wieder Konzerte und Liederabende durchzuführen. Rechtsextremistische Musikveranstaltungen In Sachsen-Anhalt fanden im Jahr 2020 drei (2019: neun) rechtsextremistische Konzerte statt. Vier weitere Konzerte wurden von der Polizei bereits im Vorfeld verhindert. Von elf Liederabenden (2019: 25) konnte einer im Zusammenwirken zwischen den Ordnungsund Sicherheitsbehörden des Landes Sachsen-Anhalt von der Polizei beendet werden. Wie in den Vorjahren war auch im Berichtsjahr festzustellen, dass die Veranstaltungen größtenteils in Räumlichkeiten stattfanden, die sich in privatem Besitz befinden. Die durchschnittliche Teilnehmerzahl weist keine Änderungen zum Vorjahr auf. Sie lag wie 2019 bei Liederabenden im mittleren zweistelligen Bereich. Bei Konzerten wurden mittlere zweistellige bis niedrige dreistellige Teilnehmerzahlen erreicht. Aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen und der daher - im Vergleich zu den Vorjahren - geringen Anzahl rechtsextremistischer Musikveranstaltungen lassen sich über die Aktivitäten der rechtsextremistischen Bands und Liedermacher keine validen Aussagen treffen. Rechtsextremistische Musikgruppe "Blutstraße"5 Bei der aus dem Raum Schönebeck (Salzlandkreis) stammenden Band "Blutstraße" handelt es sich um eine rechtsextremistische Musikgruppe, die bis 2007 durch mehrere Konzertauftritte zusammen mit anderen rechtsextremistischen Bands in Erscheinung trat. Während dieser Zeit entstand der Tonträger "Sichten 5 - "Blutstraße": Von der SS brutal und erbarmungslos angetrieben, mussten Häftlinge zwischen 1938 und 1939 auf der Strecke einer alten Waldchaussee ein etwa fünf Kilometer langes Verbindungsstück von der Staatsstraße Weimar-Ramsla zum Konzentrationslager ausbauen. Die Häftlinge nannten sie "Blutstraße". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 49 RechtsextRemismus und vernichten".6 Zwischen 2007 und 2016 fielen keine Erkenntnisse zu der Band an. Ab 2017 erfolgten sporadische Auftritte. In diesem Zeitraum wurde auch der nachfolgend näher betrachtete Tonträger "Unterm deutschem Fahnenband" veröffentlicht. Entgegen der sonst vorherrschenden Zurückhaltung innerhalb der rechtsextremistischen Musikszene verherrlicht "Blutstraße" in ihren rechtsextremistisch, fremdenfeindlich und antisemitisch geprägten Texten die NS-Ideologie. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) hat am 25. August 2020 den im Jahr 2019 beim rechtsextremistischen Label "OPOS Records" (Brandenburg) erschienenen Tonträger "Unterm deutschen Fahnenband"7 der Musikgruppe "Blutstraße" indiziert. Das Frontcover der CD zeigt eine bearbeitete Fotografie, die anlässlich einer Flugschau der Luftwaffe zu Ehren des 50. Hitlergeburtstages am 20. April 1939 in Berlin Charlottenburg gefertigt wurde. Es zeigt eine Adlerskulptur vor einem Gebäude, das mit mehreren Fahnen geschmückt ist. Das Hakenkreuz in der Mitte des in den Fängen des Adlers befindlichen Lorbeerkranzes wurde für das Coverbild entfernt. Bei genauerer Betrachtung kann man erkennen, dass die Adlerschwingen gerade noch die Hakenkreuze auf den Fahnen verdecken. Auf der Rückseite des Covers ist eine Straße in der Nähe des Nürnberger Hauptmarktes zu sehen, deren Häuser rechts und 6 - Der Tonträger wurde am 31.10.2008 von der BPjM indiziert und unterliegt den Verbreitungsverboten des SS15 JuSchG. 7 - Der Tonträger wurde am 25.08.2020 von der BPjM indiziert und unterliegt den Verbreitungsverboten des SS15 JuSchG. 50 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus links mit Fahnen für einen Aufmarsch im Rahmen der Reichsparteitage der NSDAP geschmückt sind. Zwar sind auf der Abbildung die Hakenkreuze auf den Fahnen entfernt, aber der Zusammenhang ist problemlos erkennbar. Mit den abgedruckten Bildern in Cover und Booklet wird die NS-Zeit verherrlicht und idealisiert. Eine Großaufnahme des "Ritterkreuzes" ("Eisernes Kreuz mit Eichblatt und gekreuzten Schwertern") und der Jahreszahl 1939 weisen ebenso auf die NS-Zeit hin wie die Bilder vom Marsch der SA durch die Nürnberger Innenstadt bei den Reichsparteitagen der NSDAP. Im Titel "Unser Erbe unsere Verpflichtung" werden NS-Ideologie und Krieg verherrlicht und zum Rassenhass und Antisemitismus angestachelt. Die Textstelle "Nur das Eisen kann uns retten, erlösen kann uns nur das Blut Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 51 RechtsextRemismus von der Knechtschaft schweren Ketten von gierig, listig, feiger Brut" dient dazu, Juden als Feindbild der westlichen Länder darzustellen und dadurch Hass gegen das jüdische Volk zu provozieren. Im Gesamtkontext kann dieser Text nur so gedeutet werden, dass mit "gierig, listig, feiger Brut" die Juden gemeint sind. Dahinter steckt das Klischee vom geldgierigen Juden, der auf listige Art und Weise heimlich die Herrschaft über die westlichen Regierungen übernommen hat und angeblich den Rest der Welt unterjocht. Im Gesamtkontext der CD wird deutlich, dass ein Szenario heraufbeschworen wird, in dem sich die weiße Rasse gegen Eindringlinge verteidigen muss, um für das eigene Überleben zu kämpfen: "We must prevail for our kind's survival" ("Wir müssen uns für das Überleben unserer Art durchsetzen"). Solche Äußerungen sind geeignet, eine feindselige Haltung gegenüber Personen bzw. Bevölkerungsgruppen anderer Nationen hervorzurufen und schaffen damit den Nährboden für Hass, Kampagnen oder sogar Ausschreitungen gegenüber den betroffenen Kreisen. Verbot der rechtsextremistischen Gruppierung "Combat 18 Deutschland" ist bestandkräftig Am 23. Januar 2020 verbot das BMI die Neonaziorganisation "Combat 18 Deutschland" (C18 Deutschland) nach Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit SS 3 des Vereinsgesetzes. Der von dieser Gruppierung verfolgte Zweck lag zum einen im Aufbau einer für die Mitglieder verbindlichen Gemeinschaft, die eine gemeinsame nationalsozialistische, rassistische, fremdenfeindliche und antisemitische Ideologie teilt. Daneben lag der zentrale Fokus der Gruppierung auf der Produktion und Verbreitung von rechtsextremistischen Tonträgern sowie dem Organisieren und dem gemeinsamen Besuch von rechtsextremistischen Musikveranstaltungen. 52 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Die Gruppierung richtete sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung, da sie eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus aufwies. Bereits die Organisationsbezeichnung weist deutlich darauf hin. Aufgrund des verwendeten Begriffs "Combat" (Kampfgruppe) war der Gruppierung grundsätzlich auch eine Gewaltbereitschaft zu unterstellen. Das Verbot von "Combat 18 Deutschland" ist bestandskräftig. Rechtsextremistische Vertriebe Innerhalb der rechtsextremistischen Szene gibt es immer wieder Bestrebungen, über diverse Vertriebsorganisationen einen Geldund Warentransfer zu etablieren. Dabei gibt es unterschiedliche Zielrichtungen und Verkaufsstrategien. In der Öffentlichkeit können Vertriebe mit rechtsextremistischen Hintergründen nur selten klar und offen festgestellt werden. Zumeist handelt es sich um Vertriebe für Bekleidung, die nach außen vor allem auffällige und martialische Modelabel anbieten, die zudem häufig eine enge Bindung an den Kampfsport haben. Hinter den unterschiedlichen Modelabeln stehen mitunter rechtsextremistische Initiatoren oder Eigentümer. "Greifvogel", "White Rex" und "Black Legion" - drei Beispiele für rechtsextremistische Modemarken. Im Berichtsjahr wurde bekannt, dass in Dessau-Roßlau ein Bekleidungsgeschäft mit dem Namen "Streetwear Dealer" eröffnet werden sollte. In dem Geschäft sollten unter anderem Bekleidungsstücke zum Sortiment gehören, die einen Bezug zur rechtsextremistischen Szene aufweisen. Dabei handelte es sich zum Beispiel um die Modemarken "Label 23" und "Pro Violence". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 53 RechtsextRemismus Das Geschäft wurde kurz nach der Eröffnung wieder geschlossen. Neben ortsfesten Vertriebseinrichtungen versuchen Rechtsextremisten im Rahmen von Szeneveranstaltungen mit mobilen Verkaufsständen Waren innerhalb der Szene zu vertreiben, ohne dabei in der Öffentlichkeit aufzutreten. Teilweise erfolgen der Aufbau der Verkaufsstände und ein Verkauf ohne die erforderlichen Gewerbeanmeldungen und -genehmigungen. Neben zahlreichen Bekleidungsgegenständen werden vor allem Devotionalien wie Tassen, Anstecker oder Tonträger angeboten. Deren öffentlicher Verkauf wäre häufig strafbar, da diese Gegenstände teilweise mit verfassungsfeindlichen Symbolen versehen sind oder weil die Tonträger strafbare Textpassagen enthalten. Im Berichtszeitraum wirkten sich die pandemiebedingten Kontaktund Veranstaltungsbeschränkungen beeinträchtigend auf derartige Gewerbebetriebe bzw. Verkaufsaktionen aus. Rechtsextremistische Objekte und Immobilienerwerb von Rechtsextremisten Szeneeigene Immobilien und Objekte bieten Rückzugsmöglichkeiten und dienen als mögliche Veranstaltungsund Schulungsräume. Es ist zu beobachten, dass insbesondere die organisierte rechtsextremistische Szene an Immobilien interessiert ist, die Szeneangehörigen gehören oder bei denen Szeneangehörige über das Zutrittsrecht verfügen. Gerade die Möglichkeit zur Schaffung von Rückzugsräumen erfährt derzeit ein erhöhtes Interesse innerhalb der Szene. So sind einzelne Szeneangehörige bestrebt, Immobilien zu erwerben, um abgrenzbaren Lebensraum für Gleichgesinnte zu schaffen. In diesem Kontext ist zu erkennen, dass gastronomische Einrichtungen, die von Rechtsextremisten betrieben werden, eine immer größere Bedeutung für die rechtsextremistische Szene gewinnen. So können über derartige Einrichtungen nicht nur 54 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Gelder, sondern auch Veranstaltungsräume für die Szene generiert werden. Ein Beispiel für ein solches Objekt in Sachsen-Anhalt ist die in Naumburg ansässige gastronomische Einrichtung "Lokal 18". Der Betreiber gibt für sich und für die Einrichtung an, dass keine politische Aussage hinter der Bezeichnung und dem gastronomischen Konzept stünden. Inzwischen hat sich das "Lokal 18"8 als ein fester Anlaufpunkt für Rechtsextremisten etabliert. Neben der Etablierung solcher Treffpunkte oder Szeneobjekte sind es insbesondere rechtsextremistische Siedlungsbestrebungen, die zunehmend an Relevanz gewinnen. Rechtsextremistische Siedlungsbestrebungen liegen dann vor, wenn Akteure aus dem rechtsextremistischen Spektrum gezielt versuchen, Rückzugsräume zu schaffen, indem geographische Gebiete durch Zuzug oder durch eine ideologisch-kulturelle Prägung vereinnahmt werden. 8 - Die "18" steht dabei für den 1. und den 8. Buchstaben des Alphabets, für AH und somit für Adolf Hitler. Für weitere Erklärungen zu von Rechtsextremisten genutzten Kennzeichen, Codes und Symbolen siehe auch die Broschüre "Kennzeichen des Rechtsextremismus". Sie kann bei der Verfassungsschutzbehörde portofrei bestellt oder auf der Internetseite des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt herunter geladen werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 55 RechtsextRemismus In diesem Zusammenhang sind dem Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt auch sogenannte "völkische Siedlungsbestrebungen"9 bekanntgeworden. Diese sind mitunter von nationalistischen, rassistischen, antisemitischen oder homophoben Ansichten geprägt. Durch Landnahme versuchen sie eine kulturelle Hegemonie zu gewinnen. Diese Akteure versuchen ihre gesellschaftliche Akzeptanz durch die Mitwirkung in regionalen Öko-Projekten zu erhöhen. Es sind immer wieder Bemühungen erkennbar, Immobilien zu erwerben, um dort eine sogenannte naturorientierte und ökologische Lebensweise zu führen. Derzeit werden die von Rechtsextremisten im ländlichen Raum genutzten Objekte in der Hauptsache zu Wohnzwecken oder für Treffen und Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene genutzt. Es ist ein zunehmendes Bestreben innerhalb der rechtsextremistischen Szene erkennbar, Szeneangehörige dazu zu bewegen, sich vornehmlich im ländlichen Raum niederzulassen. Dabei wird vermehrt Bezug genommen auf ein angeblich stetig anwachsendes ethnisch-kulturelles und religiöses Konfliktpotenzial in den dichter besiedelten urbanen Regionen. Diesem soll mit einer Ansiedlung "nationaler Familien und Aktivisten" in Mitteldeutschland10 systematisch begegnet werden. Dabei werden ein niedriger Ausländeranteil, günstiger Wohnraum und eine sehr günstige Arbeitsmarktlage als "gute Standortfaktoren" kommuniziert. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Das Personenpotenzial der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene ist in SachsenAnhalt im Vergleich zum Vorjahr nahezu gleich geblieben. Wenngleich sich die Szene fortwährend verjüngt und damit von ihr auch andere Aktionsfelder 9 - Der Begriff "Völkische Siedlungsbestrebung" ist derzeit nicht hinreichend definiert. 10 - Umfasst neben Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auch die Bundesländer Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. 56 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus bedient werden, stehen unverändert die Themen Zuwanderung, Antisemitismus und die Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen politischen Gegner im Vordergrund. Im Berichtsjahr hemmten die Eindämmungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie die Aktionsorientiertheit der Szene, so dass abzuwarten bleibt, wie sich diese nach der Lockerung der Einschränkungen wieder entwickelt. Dies betrifft insbesondere den Aktionsbereich der rechtsextremistischen Versammlungen und Musikveranstaltungen. Unverändert war auch festzustellen, dass - einhergehend mit der Verjüngung der Szene - die Sozialen Medien und Messengerdienste zur Planung von größeren Veranstaltungen oder Aktionen genutzt werden, teils im Rahmen von nur temporär bestehenden bzw. "projektbezogenen" Messengergruppen. Hinzu kamen im Berichtszeitraum auch virtuelle Aktionen und Veranstaltungen, die aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen ansonsten nicht oder nur mit erheblichen Auflagen und einer behördlichen Kontrolle realweltlich hätten durchgeführt werden können. Auch hier bleibt abzuwarten, ob sich dieses Format durchgesetzt hat und - wenn auch nur in Teilen - nach der Pandemie beibehalten wird. Die Verlagerung von Aktivitäten in den virtuellen Raum erschwert den Sicherheitsbehörden die Bewertung der Mobilisierungsund Gefährdungspotenziale erheblich, vor allem weil sich mutmaßliche Szeneangehörige im Rahmen anonymisierter Posts in den sozialen Netzwerken augenscheinlich sicher fühlen und sich zu teils gewaltbefürwortenden Äußerungen hinreißen lassen. So wird es unverändert auch künftig die Hauptaufgabe der Sicherheitsbehörden sein, frühzeitig tatsächliche Gewaltabsichten und Gewaltankündigungen sowie Radikalisierungstendenzen im virtuellen Raum zu erkennen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 57 RechtsextRemismus "Neue Rechte"1 "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) Sitz bundesweit Verbreitung Gründung Oktober 20122 Struktur Sachsen-Anhalt: Aufbau Kontrakultur Halle - seit 2015 IB Harz - seit 2015 IB Magdeburg - seit 2016 IB Sachsen-Anhalt - seit 2012 beziehungsweise 2014 und 2018 bundesweite Regionalgruppen lokale IBD-Gruppen (Ortsgruppen) identitäre Projekte Verein "Identitäre Bewegung Deutschland e.V." Mitglieder Land: etwa 30 (2019: etwa 50) Anhänger Bund: etwa 575 (2019: etwa 600) VeröffentWeb-Angebote: Homepage lichungen Soziale Netzwerke und Blogs Materialversand "Phalanx" Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele Die IBD geriert sich als Bewegung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welche die eigene Kultur beziehungsweise das 1 - Darunter wird ein informelles Netzwerk von Gruppierungen, Einzelpersonen und Organisationen verstanden, in dem rechtsextremistische bis rechtskonservative Kräfte zusammenwirken, um anhand unterschiedlicher Strategien antiliberale sowie antidemokratische Positionen in Gesellschaft und Politik durchzusetzen. 2 - Am 11. Oktober 2012 wurde die Facebook-Seite "Identitäre Bewegung Deutschland" eingerichtet. 58 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus eigene Volk vor den vermeintlichen Gefahren von Multikulturalismus, Masseneinwanderung und Identitätsbeziehungsweise Werteverlust bewahren will. Sie betrachtet sich eigenen Aussagen zufolge als deutscher Ableger der rechtsextremistischen Bewegung "Generation Identitaire" (GI)3 aus Frankreich. Die IBD ist in der realen und virtuellen Welt gleichermaßen vertreten. Alle virtuellen Möglichkeiten (soziale Netzwerke, Foren, Video-Plattformen) werden genutzt, um über Aktionen der IBD zu informieren und somit auch über deren Ziele. So wird eine große Öffentlichkeit hergestellt, ohne auf eine große Anzahl von Aktivisten angewiesen zu sein. Zuletzt sperrten einige Soziale Medien die Profile der IBD, weshalb diese zunehmend auf andere Plattformen ausweichen muss, die bislang weniger Reichweite generieren. In der "Realwelt" sind die Aktivitäten vielfältig, zum Beispiel Banner-, Stör-, oder Verteilaktionen. Wichtige Orte werden zur Zielscheibe von zeitweiligen Besetzungen. Die Selbstdarstellung der IBD ist popkulturell geprägt, ihre Botschaften sind klar und einfach, ihre Wortwahl ist provokant und pseudo-intellektuell. Ihre Aktivisten geben sich jung und modern, demgemäß ist ihre verfassungsfeindliche Gesinnung nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Die IBD, als eine Vertreterin der "Neuen Rechten", steht für einen modernisierten Rechtsextremismus, der mit einem Themenkomplex aus Anti-Islam, Anti-Asyl und Anti-Establishment versucht, bis weit in breite gesellschaftliche Kreise hinein anschlussfähig zu sein. Begriffe wie Rasse und Volksgemeinschaft werden durch unverfängliche Begriffe wie Ethnie, Identität und Kultur ersetzt. 3 - Wurde am 3. März 2021 per Dekret des französischen Innenministers aufgelöst Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 59 RechtsextRemismus Grund der Beobachtung Ideologisch orientiert sich die "Identitäre Bewegung"4 an den Theorien der "Neuen Rechten" und vertritt programmatisch einen "ethnopluralistischen", antiliberalen und kollektivistischen Ansatz. Beim "Ethnopluralismus" handelt es sich um eine modernisierte Variante völkischer Ideologie. Das Konzept billigt ethnischen Gruppen in räumlicher Trennung vorgeblich ihre Eigenständigkeit zu, zielt aber tatsächlich anhand von Kollektivmerkmalen wie Kultur, Herkunft und Geschichte auf die Betonung ethnisch bzw. rassisch begründeter Gruppenunterschiede ab. Eine Zuwanderung von "Fremden", die nicht Teil dieser "ethnokulturellen Identität" sind, wird grundsätzlich abgelehnt. Die "Identitären" inszenieren sich als die wahren Verteidiger von Vielfalt und Freiheit gegen die angebliche Gleichmacherei vermeintlich linker Ideologen. In ihrer Kritik zeigt sich ein übersteigerter Nationalismus, der das Individuum weitgehend negiert und stattdessen kollektivistisch die Volksgemeinschaft in den Mittelpunkt stellt. Sie propagiert die Auflösung der EU und die Bildung eines Europas der "identitären Nationalstaaten", die selbstbestimmt koexistieren. Hier besteht eine Verbindung zur NPD-Forderung nach einem "Europa der Vaterländer". In der IBD und für die IBD engagieren sich auch Personen, die einen Vorlauf im traditionellen Rechtsextremismus aufweisen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum "Identitäre Bewegung Deutschland" Angehörige der IBD gelangten am 5. Januar 2020 auf das Dach des Gebäudes des WDR in Köln (Nordrhein-Westfalen). Dort enthüllten sie ein Großbanner mit der Aufschrift "WDRliche Medienhetze stoppen! GEZ sabotieren!" und warfen vom Dach eine große Anzahl an Flugblättern, welche Formschreiben zum 4 - Hier ist die IB als europaweites Phänomen gemeint, wie es nicht nur in Deutschland auftritt, sondern beispielsweise auch in Frankreich und Österreich. Im Folgenden wird die Bezeichnung IB immer dann verwendet, wenn z.B. eine Kampagne nicht länderbezogen war, sondern bewegungsbezogen. 60 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Widerruf der Einzugsermächtigung des Rundfunkbeitrags zum Inhalt hatten. Im Verlauf der Aktion skandierten die Aktivisten "Heimat, Freiheit, Tradition - Multikulti Endstation!". Am 11. Januar 2020 fand eine Versammlung unter dem Motto "WDR Protest" in Köln in der Nähe des WDR-Gebäudes statt, an der sich etwa 15 Anhänger der IBD beteiligten. Mehrere Aktivisten trugen im Rahmen der Versammlung Masken in Form von Schweineköpfen und präsentierten dabei Schilder mit der Aufschrift "ICH #UMWELTSAU ZAHLE JÄHRLICH 8 MRD EURO GEZ-GEBÜHR!". Eine gleichgelagerte Aktion fand in Ulm (BadenWürttemberg) vor einem Studiogebäude des Südwestrundfunks statt.5 Mit einer symbolischen, vor allem über soziale Medien verbreiteten, Banneraktion haben Aktivisten der IB aus Deutschland, Österreich und Frankreich Anfang März Präsenz im griechischtürkischen Grenzgebiet gezeigt. Nach eigenen Angaben sei die Gruppe an die griechische Grenze gefahren, "um die Griechen bei der Verteidigung ihrer Grenze zu unterstützen". Veröffentlichte Fotos zeigen Personen mit IBDFahnen, einer österreichischen und griechischen Flagge sowie einem Banner mit der Aufschrift "NO WAY - YOU WILL NOT 5 - Alle Aktionen bezogen sich auf einen WDR-Beitrag, in dem ein Kinderchor ein Lied mit der Textzeile "Meine Oma ist 'ne alte Umweltsau" gesungen hatte. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 61 RechtsextRemismus MAKE EUROPE YOUR HOME". Die Veröffentlichungen wurden mit Hashtags wie #niewieder20156 versehen. An dieser Aktion waren auch zwei Mitglieder der "Identitären Bewegung Sachsen-Anhalt" (IB ST) beteiligt. Aktivisten der IBD ließen am 30. Mai 2020 am DGB-Haus in Stuttgart (Baden-Württemberg) Kunstblut an der Fassade herunterlaufen und hissten ein Banner mit der Aufschrift "DGB HAT MITGESCHOSSEN!". Auf einem Flugblatt, das während der Aktion verteilt wurde, wird kritisiert, dass die im DGB organisierten Gewerkschaften offenbar "keine Kontaktscheu zu linkskriminellen Gruppierungen haben". Die Aussage "DGB hat mitgeschossen" dürfte sich auf das versuchte Tötungsdelikt zum Nachteil eines Betriebsrats der Gewerkschaft "Zentrum Automobile" am 16. Mai 2020 in Stuttgart beziehen. Auch an dieser Banneraktion war die IB ST beteiligt. Auf der Internetseite der IBD wurde ein Artikel mit dem Titel "Niemals auf Knien - eine Kampfansage" veröffentlicht. Darin wird der Black Lives Matter - Bewegung unter anderem "antiweißer Rassismus" vorgeworfen. Weiter heißt es: "Wir als identitäre Jugend entschuldigen uns nicht für unsere Identität, unsere Geschichte und unsere Kultur. Wir zeigen, dass es noch stolze Europäer gibt, die sich nicht dem linken Selbsthass auf die eigene Identität und Herkunft hingeben. (...) Niemals auf Knien - wir entschuldigen uns nicht." Im Rahmen der Kampagne "Niemals auf Knien" erfolgten Banneraktionen beispielweise am 13. Juni 2020 in Görlitz (Sachsen) und in Ulm (Baden-Württemberg). 6 - Name einer Petition der "Die Österreicher". Dies wiederum ist ein Projekt von Martin SELLNER (Leiter der IB Österreich), welches er nicht als Jugendsondern als Sammelbewegung konzipiert hat. 62 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Die IBD stellte am 20. November 2020 die Internetseite https:// schiebt-sie-ab.de vor, auf der in einer sogenannten "GefährderMap" über die islamistische Gefährdung in Deutschland informiert werden soll. Die Internetseite enthält eine als Meldeportal konzipierte interaktive "Gefährderkarte". Mit der Veröffentlichung der "Gefährderkarte" wird "die sofortige Abschiebung aller den Sicherheitsbehörden bekannten islamistischen Gefährder ohne deutsche Staatsbürgerschaft", die Schließung der Grenzen und die "Einrichtung einer transparenten Gefährderdatenbank durch das Bundesinnenministerium" gefordert. Die Onlinekampagne "schiebt-sie-ab.de" wurde zusätzlich mit Plakatierungs - und "Eventaktionen" unterstützt. So führte die IB Niedersachsen am 14. November 2020 in Braunschweig (Niedersachsen) ein Straßentheater mit Strohpuppen und Kunstblut durch, an der auch ein Mitglied der IB ST teilnahm. Des Weiteren wurden vor den Hauptbahnhöfen in Düsseldorf und Bielefeld (beide Nordrhein-Westfalen) große Warnschilder aufgestellt: "Die Bundesregierung warnt vor erhöhter islamistischer Terrorgefahr. Betreten des Hauptbahnhofs auf eigene Gefahr". Aktivitäten in Sachsen-Anhalt Identitäre Bewegung Sachsen-Anhalt7 Eine Aktivität der Ortsgruppen in Sachsen-Anhalt konnte 2020 nicht mehr festgestellt werden. Folglich werden Ereignisse unter dem Oberbegriff "Identitäre Bewegung Sachsen-Anhalt" abgebildet. 7 - ehemals: "Kontrakultur Halle", "Identitäre Bewegung Harz" (IB Harz), "Identitäre Bewegung Magdeburg" (IB MD) Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 63 RechtsextRemismus Sitz der "Kontrakultur Halle" war bis Oktober 2019 ein Objekt in der Adam-Kuckhoff-Straße 168 (AKS16) in Halle (Saale). Die AKS16 war für die "IBD" in Sachsen-Anhalt der zentrale Wohnund Szenetreffort. Mit dem Auszug 2019 und dem Verkauf des Hauses 2020 verlor die IBD ihre "Zentrale" und ist derzeit dezentral aufgestellt. Die Aktivitäten in Sachsen-Anhalt haben deutlich nachgelassen, einhergehend auch mit dem Wegzug von Protagonisten. Am 18. September 2020 fand in Sangerhausen (Landkreis Mansfeld-Südharz) und in Merseburg (Saalekreis), am 12. Oktober 2020 in Naumburg (Landkreis Burgenlandkreis) je eine Veranstaltung im Kontext der "IB Sommertour"9 statt. Wahrnehmbar war jeweils ein Infotisch unter dem Motto: "Unser Büro ist die Straße - Für Heimat, Freiheit und Tradition" mit bis zu vier Teilnehmenden. Die "Sommertour"-Kampagne der IBD kann insgesamt als Versuch gewertet werden, Sichtbarkeit durch konzertierte Aktionen im öffentlichen Raum zu erzeugen. Am 9. Oktober 2020, dem Jahrestag des terroristischen Anschlags vom 9. Oktober 2019, wurde in Halle (Saale) die Beschilderung des CDU-Büros in der Uhlestraße mit Aufklebern der "Identitären Bewegung" beklebt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Trotz stark vermindertem Aktionismus tritt die IBD in Deutschland weiterhin mit einem Selbstverständnis als aktionsorien- 8 - Beiname "Flamberg" 9 - Deutschlandweite Kampagne der IBD; Präsenz in 100 Städten 64 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus tierte außerparlamentarische Jugendorganisation mit elitärem Anspruch auf. Die bisher über Jahre erfolgreiche Strategie10, durch Aktionismus mit zumeist geringem Aufwand eine größtmögliche mediale Resonanz zu erlangen, ist für die IBD in hohem Maße abhängig von virtueller Reichweite. Die zunehmenden Sperrungen von Kanälen und Präsenzen auf den reichweitenstarken Social-Media Plattformen hat daher zu einer deutlichen Einbuße geführt. Auf Grund dessen verringerte sich auch die mediale Resonanz auf IBD-Aktivitäten deutlich. In der Folge wird für die Zukunft nicht jede Aktion oder Kampagne der IBD als der IBD zugehörig erkennbar sein. Wegen einer verminderten Wahrnehmung verliert die IBD potenzielle Unterstützer und Spender. Um dieses auszugleichen, wird die IBD versuchen, ihre bisherige Zielgruppe - die "Neue Rechte" - zu erweitern. Für eine Stabilisierung wird die IBD ein neues Arbeitsund Wohnprojekt anstreben, um der weiteren Rückläufigkeit entgegenzusteuern. 10 - Mit Berichterstattungen über Aktionen suggerierte die IBD einen deutlich höheren Akzeptanzund Verbreitungsgrad ihrer Unterstützer und Mitglieder sowie ihrer Ideologie. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 65 RechtsextRemismus "Verein für Staatspolitik e. V." firmiert unter "Institut für Staatspolitik" (IfS) Sitz Steigra OT Schnellroda Verbreitung (Saalekreis) Gründung 2000 Struktur Einzelpersonen Aufbau Vorstandsmitglieder: Dr. Erik LEHNERT (Brandenburg) Götz KUBITSCHEK (Schnellroda) Mitglieder etwa 10 Anhänger VeröffentHomepage, soziale Netzwerke, Podcasts, lichungen "Sezession Online", Publikation "Sezession" Finanzierung Erlöse aus Veranstaltungen und dem Verkauf von Publikationen, Spenden Kurzportrait / Ziele Das IfS ist eine private, nichtuniversitäre Einrichtung und wurde nach Eigenangabe im Jahr 2000 unter anderem von Götz KUBITSCHEK gegründet. Innerhalb des "neurechten" Netzwerks nimmt das IfS die Rolle eines "geistigen Gravitationszentrums"1 ein. Kernthema des IfS ist die "staatspolitische Ordnung", die es in folgende Arbeitsgebiete unterteilt: "Staat und Gesellschaft", "Politik und Identität", "Zuwanderung und Integration", "Erziehung und Bildung", "Krieg und Krise" sowie "Ökonomie und Ökologie". Diese werden sowohl in Veranstaltungen (Akademien) als auch in Publikationen aufgegriffen.2 1 - Backes, Uwe: Zum Weltbild der Neuen Rechten in Deutschland. In: KonradAdenauer-Stiftung (Hrsg.): Analysen & Argumente Nr. 321. Sankt Augustin 2018. S. 8. 2 - Beispielweise die "Wissenschaftliche Reihe" oder "Staatspolitisches Handbuch" des IfS. 66 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Von den Veröffentlichungen des IfS hebt sich die Zeitschrift "Sezession" ab, die in der "Neuen Rechten" weit bekannt und wirkmächtig ist. Sie erscheint aktuell sechsmal im Jahr. Ihr Autorenstamm reicht von (Pseudo-)Intellektuellen außerhalb bis innerhalb des Rechtsextremismus. Titelblatt der 100. Ausgabe der "Sezession" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 67 RechtsextRemismus Das IfS will zugunsten einer Diskursverschiebung nach "rechts" eine vermeintlich linke Hegemonie in Gesellschaft und Politik aufbrechen. Der "Raum des Sagbaren" soll ausgedehnt werden. Das IfS zielt auf Deutungshoheit im vorpolitischem sowie auf Einfluss im parlamentarischen Raum. Stärker als viele andere rechtsextremistische Gruppierungen setzt das IfS auf die Schrift als Mittel zur Verbreitung der eigenen Ideologie. Grund der Beobachtung Wenn auch in geringerem Ausmaß als bei anderen rechtsextremistischen Bestrebungen charakterisieren das IfS rassistische und biologistische Sichtweisen. Den Wesenskern der Ideologie des IfS stellt der "Ethnopluralismus" dar, der unter anderem fremdenfeindliche, antiegalitäre und den völkischen Kollektivismus betreffende Elemente enthält. In unmittelbarem Zusammenhang mit den "ethnopluralistischen" Ansichten stehen die Ausländerund Islamfeindlichkeit des IfS. Das IfS diskriminiert ausgewählte Personengruppen, wenn es diesen pauschal negative Eigenschaften zuschreibt. Im Zuge dessen werden diesen Menschen die persönliche Identität und Individualität im Sinne des Art. 2 GG sowie die Gleichheitsrechte nach Art. 3 GG abgesprochen. Ebenso liegt damit eine Verstoß gegen das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG vor. Das IfS richtet sich damit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Durch seine Funktion als "think tank" der "Neuen Rechten" unterhält das IfS eine Vielzahl von Kontakten und Beziehungen zu anderen Gruppen und Personen der "Neuen Rechten". Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Das IfS ist primär publizierend tätig. Entsprechend bleibt die Anzahl realweltlicher Aktivitäten, z. B. Treffen, thematische "Akademien", Kampagnen oder Schulungen, überschaubar. 68 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus "Akademien" Vom 10. bis 12. Januar 2020 führte das IfS seine 20. Winter"akademie" in Schnellroda (Saalekreis) durch. Unter dem Thema "Lesen" referierten unter anderem Dr. Erik LEHNERT, Benedikt KAISER (Sachsen) sowie Götz KUBITSCHEK. Die alljährliche Sommer"akademie" führte das IfS vom 18. bis 20. September 2020 unter dem Thema "Staat und Ordnung" mit 90 Teilnehmern in Schnellroda durch. In seinem Artikel "Wachsende Ringe - Tagebuch (5)" äußerte sich KUBITSCHEK zu den diesjährigen Teilnehmern der Sommerakademie: "(...) im Vergleich zu vor fünf oder drei Jahre deutlich andere Teilnehmerschaft. Die Leute sind sehr jung, sind ganz und gar im Digitalen Zeitalter aufgewachsen, (...) haben tatsächlich virtuelle Existenzen, aus denen sie einen nicht geringen Teil ihrer Bedeutung und ihres Selbstwerts ableiten. Dem kann zumindest ich nur zusehen, ohne daß ich noch Zugang fände". [sic!] An den "Akademien" nehmen in der Regel Unterstützer sowie Angehörige der "Neuen Rechten" teil. Sie sind Teilnehmern unter 35 Jahren vorbehalten. Dadurch nimmt das IfS seine Rolle, insbesondere mit Blick auf junge Menschen, als "Schulungszentrum" der "Neuen Rechten" wahr. Am 6. Oktober 2020 fand in Hoppegarten (Brandenburg) eine Veranstaltung des IfS unter dem Titel "125 Jahre Ernst Jünger" statt. Neben den zentralen Initiatoren Götz KUBITSCHEK und Erik LEHNERT wurde die Veranstaltung unter anderem von anderen Akteuren der "Neuen Rechten" unterstützt. Unter den Teilnehmern konnte auch ein ehemaliges Mitglied der "Kontrakultur Halle" (IBD) festgestellt werden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick In einem Online-Artikel3 äußerte sich Götz KUBITSCHEK zu den Folgen der Einstufung des IfS zu einem Beobachtungsobjekt des 3 - "Wachsende Ringe - Tagebuch (5)" in sezession.de Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 69 RechtsextRemismus BfV.4 "Jahrelang haben wir transparent gearbeitet, haben das getan, was man 'Gesicht zeigen' nennt - eine komplett ausgelutschte Sache. Diese Transparenz, die jedermann (auch Haldenwang) zeigte, daß mit uns auf eine anständige Weise zu rechnen sei, hat unsere behördliche Kriminalisierung nicht verhindert. (...) Daher ist nun Schluß mit der Transparenz. Sollen die sich halt Mühe geben." Typisch für rechtsextremistische Gruppierungen, die von Verboten, Löschungen, staatlichen Entscheidungen o. ä. betroffen sind, nimmt auch das IfS eine "Opferrolle" ein. Die hier von Götz KUBITSCHEK suggerierte Transparenz war und ist Illusion. Er legte in der Vergangenheit weder Struktur noch Ideologie des IfS offen, insbesondere zur Zusammenarbeit mit aktionistischen Gruppierungen der "Neuen Rechten". Als gegenwärtiger ideologischer Ideengeber ist das IfS wichtigster Stratege und Schulungsort für die übrigen Organisationen des Netzwerks der "Neuen Rechten". Die "Akademien" werden in der "neurechten" Szene weiterhin einen Kultstatus einnehmen. Inwiefern die dort vermittelten Inhalte das "neue" Publikum als digital sozialisierte Community noch interessieren wird, muss sich erst noch erweisen. 4 - Im Rahmen der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts des Bundes 2019 am 9. Juli 2020 führte BfV-Präsident Haldenwang u. a. aus: "Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat konsequent dafür gesorgt, dass [...] "Institut für Staatspolitik" [...] nunmehr als Verdachtsfälle bearbeitet werden [...]" 70 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Parteiungebundener, vornehmlich neonazistisch geprägter Rechtsextremismus Neonationalsozialisten (Neonazis) Gründung Neonazistische Organisationen etablierten sich insbesondere in den 1970er Jahren und existieren in Sachsen-Anhalt seit der Wiedervereinigung. Struktur Die in festen Strukturen organisierten Neonazis Aufbau agieren aktuell in aktionsorientierten Gruppierungen, deren Bindungskraft nachgelassen hat. Die regional Organisierten sind einfach organisiert, zumeist gut vernetzt und sie agieren konspirativ. Daneben existieren Personenzusammenschlüsse, die nur im virtuellen Raum temporär agieren. Kameradschaftsähnliche Personenzusammenschlüsse finden sich in Magdeburg, in der Altmark, im Burgenlandkreis, im Vorharz, im Raum Wittenberg und DessauRoßlau und in den Landkreisen Mansfeld-Südharz und Börde. Einige der genannten Strukturen verfügen über Kontakte zu Szeneangehörigen in Niedersachsen und Brandenburg. Neonazis stellen den größten Teil des parteiungebundenen Rechtsextremismus. Das Personenpotenzial umfasst dabei sowohl Gruppierungen mit einem subkulturellen Einschlag als auch Gruppierungen, die für ideologische Varianten des Nationalsozialismus und die Übernahme neuer Verhaltensweisen aufgeschlossen sind, sowie Gruppierungen, die den historischen Nationalsozialismus verherrlichen. Oft werden die Zusammenschlüsse vorrangig von einzelnen Akteuren geeint und zur Zusammenarbeit untereinander gesteuert. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 71 RechtsextRemismus Mitglieder Land: 265 (2019: etwa 270) Anhänger Bund: 7.800 (2019: 6.600) VeröffentWeb-Angebote: diverse teils wechselnde Auflichungen tritte in den sozialen Medien (vor allem Facebook, mit verstärkter Nutzung von geschlossenen Gruppenchats) und Internetblogs Publikation: Zeitschrift "N.S. Heute" Finanzierung Zumeist existiert in den Gruppierungen eine so genannte "Kameradschaftskasse". In der Regel zahlen Teilnehmer einen Unkostenbeitrag bei Vortragsveranstaltungen. Es werden mitunter auch Spendengelder gesammelt. Kurzportrait / Ziele Neonazis stellen sich in die ideologische Tradition des historischen Nationalsozialismus. Sie treten bei geschichtsträchtigen Ereignissen, vornehmlich aus der Zeit des Dritten Reiches oder bei der Glorifizierung einzelner Personen aus dieser Zeit, auch öffentlichkeitswirksam in Erscheinung (z. B. "Trauermärsche" zum Gedenken an die Zerstörung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg, Geburtstag von Adolf Hitler, Veranstaltungen zum 1. und 8. Mai, "Gedenken" an die Rathenau-Attentäter Fischer und Kern am 17. Juli, bei "Heß-Gedenkaktionen" und germanischer Brauchtumspflege wie Sonnenwendfeiern). Des Weiteren sind die so genannten wenigen "Zeitzeugenvorträge", die zumeist konspirativ vorbereitet werden, ein wichtiger Bestandteil der Szene. Aufgrund der nur noch wenigen tatsächlichen "Zeitzeugen" stellt eine solche Veranstaltung ein besonderes Erlebnis dar, oft verbunden mit dem Auftritt eines Liedermachers. Damit sollen jüngere und potenzielle Szeneangehörige angesprochen und zur Mitarbeit in der rechtsextremistischen Szene herangeführt werden. 72 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Grund der Beobachtung Neonazistische Gruppierungen zeichnen sich durch eine vor allem von Rassismus und Antisemitismus geprägte Ideologie aus, welche sich am Nationalsozialismus orientiert und somit im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht. Teile der Bevölkerung werden als minderwertig bezeichnet und ihnen werden in der Konsequenz ihre verfassungsrechtlich verbrieften Grundrechte, wie Menschenwürde und Gleichheit vor dem Gesetz, abgesprochen. Die Umdeutung oder Relativierung des Nationalsozialismus, als Revisionismus bezeichnet, gehört zu den zentralen Ideologemen des deutschen Neonazismus. Auf Grund ihrer Vorstellung von einer antipluralistischen Gesellschaft und einem autoritären Staat, in dem politischen Gegnern als Feinden das Existenzrecht abgesprochen wird, ist Neonazis eine grundsätzliche Gewaltorientierung zuzuschreiben. Gewalt gegen "Fremde" und "Feinde" wird auf dieser Basis legitimiert. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Rechtsextremistische Aktivitäten von Sven LIEBICH Im Berichtszeitraum sorgte der Rechtsextremist Sven LIEBICH (Klitschmar, Sachsen) landesund bundesweit für Aufsehen. Sein Drang in die Öffentlichkeit und eine Strategie der Provokation mit allen auch den Rahmen der Meinungsfreiheit überschreitenden Mitteln ist ungebrochen. Er setzt bewusst geschmacklose und provozierende Inhalte ein, welche die öffentliche Diskussion über ihn und seine Ansichten anheizen sollen. Sein inhaltliches Repertoire erweiterte sich mit Themen, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stehen und mittlerweile seinen Aktionismus bestimmen. In diesem Zusammenhang trat LIEBICH mit verschwörungsideologischen Thesen hervor. Er argumentierte, die Regierung nutze die Krise, um einen Überwachungsstaat mit einer neuen Weltordnung zu Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 73 RechtsextRemismus installieren. Er warf den Regierenden vor, die Krise zu nutzen, um Meinungsfreiheit und Demokratie abzuschaffen. Auf von ihm gefertigten Plakaten war die Bezeichnung "COVID 1984" aufgebracht; ein Verweis auf den Roman von George Orwell, der einen dystopischen totalitären Überwachungsstaat beschreibt. LIEBICH bezeichnete die Corona bedingte Situation als "Corona - Diktatur". So existiert auf Aufklebern und T-Shirts, die LIEBICH in seinem Online-Shop "politaufkleber.de" vertreibt, ein stilisiertes Bild des Coro na-Virus, welches das Gesicht von Adolf Hitler trägt. Darunter steht "Mehr Diktatur wagen". Seine Feindbilder hingegen blieben im Berichtsjahr gleich. Politische Gegner, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und auch Pressevertreter waren Ziele seiner Anfeindungen, verbalen und auch körperlichen Angriffen ausgesetzt oder Opfer des Verbreitens von Falschinformationen (Fake-News). Im Verhalten gegenüber Pressevertretern zeigte sich sein latent hohes Aggressionspotenzial. Eine Versammlung am 16. Mai 2020 auf dem Marktplatz von Halle (Saale) verdeutlicht seine Strategie und Taktik. LIEBICH trug ein T-Shirt mit dem Abbild von Anne Frank, und der Aufschrift. "Anne Frank wäre bei uns! Weg mit den Ausgangssperren!". Außerdem trugen zwei Versammlungsteilnehmer T-Shirts mit einem "Judenstern" und der Aufschrift "UNGEIMPFT". Im Laufe seiner Rede nahm er einen örtlichen SPD-Politiker wahr, 74 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus der jüdischen Glaubens ist. Er sprach ihn sofort auf seinen Glauben an. LIEBICH äußerte, nichts gegen Juden zu haben, allerdings gegen "elendige SPD-Läuse". Ein Fernsehteam des ZDF, welches das Versammlungsgeschehen dokumentierte wurde ebenfalls beschimpft. Als ein Reporter unmittelbar nach der Versammlung ein Interview mit LIEBICH führen wollte, wurde er beleidigt und aggressiv von LIEBICHs Anhängern bedrängt, so dass die Polizei eingreifen musste. Ebenso deutlich zeigte sich LIEBICHs Agieren im Rahmen einer Gerichtsverhandlung vor dem Landgericht Berlin am 4. Juni 2020. Anlass waren Produkte, die er über sein Portal "politaufkleber.de" verkauft und die dabei aufgestellte Behauptung, dass eine in Deutschland aktive Stiftung das Internet zensieren würde. Im Vorfeld mobilisierte er auf seinen Online-Kanälen Anhänger, ihn zu unterstützen. Als er am Landgericht mit etwa zehn Begleitern eingetroffen war, war auch das Fernsehteam vor Ort, das am 16. Mai 2020 in Halle (Saale) bedrängt worden war. Sofort filmte LIEBICH die Situation. Seine Begleiter beleidigten das Fernsehteam erneut und es kam zu körperlichen Übergriffen. Während der Verhandlung trug LIEBICH ein schwarz-weiß gestreiftes Hemd, auf dem ein umgekehrtes rotes Dreieck in Brusthöhe angebracht war. Dies sollte die Bekleidung der politischen Gefangenen in Konzentrationslagern nachempfinden. Nach der Verhandlung riefen die Begleiter von LIEBICH im Gerichtsgebäude in Bezug auf das anwesende Fernsehteam: "Lügenpresse - Auf die Fresse!" Im Ergebnis stellte das Gericht fest, dass die in Rede stehende Abbildung auf den Produkten der künstlerischen Freiheit unterliege, LIEBICH jedoch bestimmte Behauptungen nicht mehr aufstellen darf. Das Durchführen von Versammlungen ist für LIEBICH essenziell. Quantitativ sind sie bundesweit betrachtet ohne Vergleich. Neben seinen etablierten "Montagsdemos" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 75 RechtsextRemismus führte er im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zusätzlich eine Vielzahl von Versammlungen größtenteils samstags in Halle (Saale) durch. Ende Mai gerieten Anhänger LIEBICHS im Zusammenhang mit einer Spontanversammlung mit Vertretern der Versammlungsbehörde aneinander. Daraufhin meldete er insgesamt acht Versammlungen unter dem Motto: "Demokratie ist erlernbar" an. Sie sollten der "Erziehung" der Versammlungsbehörde dienen und wurden von ihm als "Demomarathon" bezeichnet. Im Juni meldete er acht weitere außerturnusmäßige Versammlungen an, nachdem die Versammlungsbehörde Auflagen erteilt hatte, mit denen LIEBICH unzufrieden war. Ausgangspunkt war eine Lärmpegelmessung, bei der festgestellt worden war, dass die von ihm genutzte Lautsprecheranlage die genehmigten Werte überschritten hatte. Aufgrund dessen wurden entsprechende Auflagen und Einschränkungen von der Versammlungsbehörde erlassen. Als Reaktion meldete er erneut Versammlungen unter dem Motto: "Demokratie ist erlernbar" und "Demokratie in den Ratshof tragen" an. Außerdem forderte er seine Anhänger auf, den ständig von ihm namentlich genannten Mitarbeiter der Versammlungsbehörde mit Strafanzeigen u. a. wegen Körperverletzung zu überziehen. 76 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Trotz großer Anstrengungen gelang es ihm nicht, breite Schichten der Bevölkerung anzusprechen. Seine Versammlungen und "Auftritte" wurden von einem gleichbleibenden Personenkreis besucht und unterstützt. Es handelte sich um etwa 20 Personen, die seine Aktivitäten auch überörtlich begleiteten. Der Vernetzungswille LIEBICHs, gerade im Zusammenhang mit Versammlungen, setzt sich weiter fort. Im Berichtszeitraum versuchte LIEBICH sowohl inhaltlich als auch organisatorisch an andere Strukturen anzudocken, immer mit dem Ziel seine eigene Reputation zu erhöhen. So schloss er sich lokalen und überregionalen Aktivitäten im Kontext des coronabedingten Protests an. Dabei wurde er auch von Teilen seiner Anhängerschaft begleitet. Am 29. August 2020 fanden in Berlin mehrere Versammlungen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung statt. Eine erhebliche Anzahl von Rechtsextremisten und "Reichsbürgern" trat bei verschiedensten Veranstaltungen auf.1 Sven LIEBICH war als Teilnehmer der Versammlungen zugegen, dokumentierte und kommentierte das Geschehen. Am 7. November 2020 nahm er mit weiteren Personen an einer bundesweit bedeutsamen Versammlung der Querdenker-Szene in Leipzig (Sachsen) teil. Bei einer weiteren Großdemonstration von Corona-Leugnern am 18. November 2020 in Berlin war LIEBICH ebenfalls als Teilnehmer anwesend. Dies gilt ebenso für eine "Querdenker"-Versammlung am 28. November 2020 in Frankfurt (Oder) (Brandenburg), bei der sowohl auf deutscher als auch auf polnischer Seite demonstriert wurde. LIEBICHs Protestverhalten fällt nicht nur quantitativ ins Gewicht, auch expressives Auftreten garantierte ihm ein mediales und politisches Echo. 1 - siehe dazu auch Seite 94 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 77 RechtsextRemismus Am 22. November 2020 begab er sich mit mehreren Anhängern, mit weißen Overalls und Masken bekleidet, auf die Straßen von Halle (Saale) und rief lauthals "Corona Polizei". Dabei wurden auch rote Armbinden mit einem schwarzen Corona-Virus-Symbol in einem weißen Kreis getragen. Es wurden Passanten angebrüllt und zum Tragen von Masken aufgefordert. Als "Höhepunkt" wurde ein "Maskenverweigerer" öffentlich "verhaftet". Dabei handelte es sich allerdings um eine Person aus LIEBICHs Versammlungsumfeld. Ein Video von seiner Aktion veröffentlichte er auf seinen Online-Portalen. Ebenso bezeichnend wie seine Auftritte in der Realwelt sind die digitalen Veröffentlichungen LIEBICHs. Mit dem Verkauf von Produkten über seinen Online-Shop erweitert LIEBICH einerseits seine Reichweite und generiert andererseits mit den Erlösen finan zielle Mittel, die ihm die wirtschaftliche Grundlage für sein realweliches Agieren ermöglichen. Die zum Verkauf stehenden Produkte sind antidemokratisch, Eine antidemokratische Gleichsetzung der Bundesrepublik Deutschrassistisch und antisemitisch land mit dem NS-Regime konnotiert. Weiterhin pflegt LIEBICH eine große Anzahl von social-mediaund Video-Kanälen. LIEBICH wurde am 14. September 2020 vom Amtsgericht Halle (Saale), u. a. wegen Volksverhetzung, zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten, ausgesetzt auf drei Jahre Bewährung und 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit, verurteilt. Vor der Urteilsverkündung führte er mit sieben weiteren Personen eine Versammlung vor dem Amtsgericht unter dem Motto 78 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus "Höchststrafe für Gedankenverbrecher" durch. Gegen das Urteil legten sowohl LIEBICH als auch die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel ein. Neonazistische Aktivitäten im Raum Wittenberg / "Nationales Kollektiv Lutherstadt Wittenberg" Im Raum Wittenberg firmieren Neonazis unter verschiedenen Bezeichnungen wie "Freie Kräfte Gräfenhainichen", Nationaler Aufbruch Wittenberg" oder "Nationale Aktivisten Wittenberg". Im Berichtszeitraum trat ein "Nationales Kollektiv Lutherstadt Wittenberg" in den sozialen Medien in Erscheinung. Die handelnden Personen in den genannten Gruppierungen dürften identisch sein, auch die verwendete Symbolik, ein schwarzweiß-rotes Zahnrad mit schwarzer Fahne, deutet darauf hin. Angehörige der rechtsextremistischen Szene unterhalten enge Beziehungen zu den "Jungen Nationalisten". Ihre Aktivitäten blieben im Wesentlichen auf das Internet beschränkt. Das "Kollektiv" forderte im September 2020 zur Teilnahme an der für den 3. Oktober 2020 in Berlin geplanten Kundgebung des "III. Weg" auf und kündigte an, "mit einigen Nationalisten" selbst daran teilnehmen zu wollen. Die Gruppierung wies zudem auf ein "Offenes Antifaschistisches Treffen" am 9. September 2020 in Einbeck (Niedersachsen) hin und rief dazu auf, den "vom 25. bis 27. September im 'AJZ Chemnitz' geplanten 'antifaschistischen Jugendkongresses' zu sabotieren". Erkenntnisse darüber, dass Angehörige der rechtsextremistischen Szene Wittenberg an den geposteten Veranstaltungen teilgenommen bzw. Störaktionen durchgeführt haben, liegen nicht vor. Rechtsextremisten unterschiedlicher Organisationen und Spektren riefen dazu auf, sich organisationsübergreifend an Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zu beteiligen und auch bei Kundgebungen außerhalb der rechtsextremistischen Szene Präsenz in Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 79 RechtsextRemismus der Öffentlichkeit zu zeigen. So nahmen Angehörige der rechtsextremistischen Szene Wittenberg an den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen am 21. November 2020 in Leipzig (Sachsen) und am 27. November 2020 in Wurzen (Sachsen) teil. Rechtsextremistische Szene im Landkreis Mansfeld-Südharz Rechtsextremisten nutzen seit Jahren das Grundstück von Enrico MARX in Allstedt, OT Sotterhausen, für Musikveranstaltungen, Sonnenwendfeiern, Kameradschaftstreffen, Seminare und Veranstaltungen der "Jungen Nationalisten" (JN). Am 19. September 2020 fand dort der erste "Nationale Handwerkermarkt" statt.2 Die Besucher der Veranstaltung kamen aus mehreren Bundesländern. Die JN berichteten auf ihrer Homepage ausführlich über diese Veranstaltung und gaben an, dass "Aktivisten jeder nationalen Strömung und Partei" vertreten gewesen seien, während Schmied und Imker ihre Arbeit und weiteres Kunsthandwerk präsentiert hätten. Am Abend sei ein Holzstoß entzündet worden und ein Musiker sei aufgetreten. Der "kulturfördernde Markt" sei nicht nur "unterhaltsam und lehrreich, sondern auch außerordentlich nutzbringend" gewesen, da neue Kontakte geknüpft worden seien. Eine Fortsetzung des Handwerkermarktes wurde angekündigt. Diese Veranstaltung wird szeneintern als ein Beleg für integratives Handeln gewertet. Nicht die Ziele einer Partei oder Organisation stünden im Vordergrund, sondern Werte wie gemeinsames Handeln, Zusammenhalt, Gemeinschaftsgefühl. 2 - siehe auch Seite 105 f. 80 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Demonstrationen zu aktuellen Ereignissen Im Berichtsjahr versuchten Rechtsextremisten aus dem Burgenlandkreis sich der gesamtgesellschaftlichen Diskussion zum Thema "Corona-Pandemie" zu stellen, indem sie sich an mehreren versammlungsrechtlichen Aktionen und Protestveranstaltungen des bürgerlichen Spektrums beteiligten. So nahmen insbesondere Mitglieder des NPD-Kreisverbands Burgenlandkreis sowie Szeneangehörige aus Weißenfels, Elsteraue und Zeitz an Kundgebungen / Mahnwachen und "Spaziergängen" gegen Corona unter dem Motto "Alle auf die Straße! Grundrechte schützen" teil. In der Regel beteiligten sich zwischen fünf bis 15 Rechtsextremisten an den jeweiligen versammlungsrechtlichen Aktionen. Aktivitäten zu den Jahrestagen alliierter Luftangriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg Die Zerstörung deutscher Städte von alliierten Streitkräften am Ende des Zweiten Weltkrieges nehmen Rechtsextremisten, auch in Sachsen-Anhalt, seit mehreren Jahren zum Anlass, öffentlichkeitswirksame Aktionen in Form von Demonstrationen oder Mahnwachen durchzuführen. Die jeweiligen Termine sind fester Bestandteil der Planungen von Szeneangehörigen, stellen mittlerweile fest verankerte Treffdaten dar und besitzen eine hohe identitätsstiftende Bedeutung. Im Zuge dieser Veranstaltungen geben die Verantwortlichen die geschichtlichen Ereignisse der damaligen Zeit aus ihrer eigenen, historisch inkorrekten und verzerrenden Sichtweise wieder und ignorieren historisch belegte Tatsachen. In den letzten Jahren sank die Beteiligung an den von Rechtsextremisten organisierten Veranstaltungen zum Gedenken an die Bombardierung Magdeburgs erheblich. Zudem wird dieser Termin nicht mehr als ein bundesweites Ereignis in der rechtsextremistischen Szene wahrgenommen. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2020 unverändert fort. Die Höchstzahl an Teilnehmern wurde im Jahr 2012 mit 1.200 Teilnehmern erreicht. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 81 RechtsextRemismus Anlässlich des 75. Jahrestages der Bombardierung der Stadt Magdeburg im Zweiten Weltkrieg führten Rechtsextremisten am 17. Januar 2020 in Magdeburg eine Veranstaltung unter dem Motto "Trauermarsch 16.000 unvergessen" mit etwa 150 Teilnehmern durch. Gleichzeitig fanden mehrere Protestaktionen des linksextremistischen und bürgerlichen Spektrums gegen den "Trauermarsch" statt. Dabei kam es auf der Aufzugsroute von Versammlungsgegnern zu mehreren Sitzblockaden, die von der Polizei aufgelöst wurden. Im Nachgang zu den Veranstaltungen wurde im Bereich des Bahnhofs in Schönebeck (Elbe) (Salzlandkreis) ein gewaltsames Aufeinandertreffen von etwa 40 rückreisenden Versammlungsteilnehmern des "Trauermarsches" mit Personen der linksextremistischen Szene von der Polizei verhindert. Anlässlich des Jahrestages der Bombardierung der Stadt Dessau organisierten Szeneangehörige am 6. März 2020 in Dessau-Roßlau eine Mahnwache unter dem Motto "Gegen das Vergessen - Zum Gedenken der Opfer von Dessau". Es beteiligten sich 17 Personen. Ein "Trauermarsch" wie in den Vorjahren fand nicht statt. 82 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Sonnenwendfeiern Zur Sommersonnenwende im Juni 2020 konnten Aktivitäten von Szeneangehörigen in Form von Zusammenkünften im südlichen Sachsen-Anhalt festgestellt werden. Derartige Veranstaltungen finden abgeschirmt von der Öffentlichkeit mit wenigen Szeneangehörigen statt. Weiterhin berichteten die JN in einer Interneteinstellung von der Durchführung einer "traditionellen Sommersonnenwendfeier" in Sachsen-Anhalt, ohne eine Ortsangabe zu erwähnen. Aktionsform "Schwarze Kreuze" Zum siebenten Mal haben Rechtsextremisten organisationsübergreifend am 13. Juli 2020 in mehreren Bundesländern einen Aktionstag unter dem Motto "Schwarze Kreuze Deutschland" durchgeführt. Hierbei wurden schwarz bemalte Kreuze an öffentlichen Straßen und Plätzen aufgestellt, die an deutsche Opfer von sogenannter Ausländergewalt erinnern sollten. Für das Jahr 2020 wurde im Vorfeld eine veränderte Strategie für die diesjährige "Aktion Schwarze Kreuze" bekanntgegeben: Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 83 RechtsextRemismus "Da es Antifa, Polizei und Systempresse gut gelänge die Aktion Schwarze Kreuze "für den Bürger unsichtbar zu machen, sollte ohne Aufschrift in diesem Jahr an den Ortseingangsschildern jeweils nur ein einziges Kreuz angebracht werden. Für alle weiteren Kreuze wurde vorgegeben, diese ohne Aufschrift oder Markierung in der Stadt, dem Dorf, auf der Landstraße, oder einfach im umliegenden Landkreis" zu platzieren." In Sachsen-Anhalt sind Aktionen vorrangig im Altmarkkreis Salzwedel mit etwa 20 Feststellungen bekannt geworden. Rechtsextremistische Aktivitäten zum Todestag der RathenauMörder Seit Jahren gedenken Angehörige der rechtsextremistischen Szene am 17. Juli 2020 den Rathenau-Mördern Fischer und Kern. Im Zusammenhang mit dem diesjährigen Gedenktag fand am 18. Juli eine Veranstaltung in der Gaststätte "Burgblick" statt, an der etwa 30 bis 40 Personen teilnahmen. Die Teilnehmer können mehrheitlich der örtlichen rechtsextremistischen Szene im Burgenlandkreis, darunter Mitglieder der NPD-Kreisverbände Burgenlandkreis und Saalekreis, sowie der Partei "III. Weg", zugerechnet werden. Die Teilnehmer legten an der ursprünglichen Grabstelle von Fischer und Kern auf dem Saalecker Friedhof ein Grabgesteck ab. "Heß-Gedenkaktionen" Nach wie vor hat der Todestag des Hitler-Stellvertreters Heß in der rechtsextremistischen Szene des Landes Sachsen-Anhalt einen erhöhten Stellenwert und entfaltet weiterhin eine, wenn auch nachlassende, mobilisierende Wirkung bei entsprechenden Erinnerungsaktivitäten. In diesem Jahr wurden in Sachsen-Anhalt mehrere themenbezogene Aktionen in Stendal festgestellt. Hierzu wurden von Unbekannten an verschiedenen Punkten der Stadt Transparente mit der Aufschrift "Rudolf Heß es war Mord" angebracht. Öffent84 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus lichkeitswirksame demonstrative Veranstaltungen von Szeneangehörigen wurden erneut nicht festgestellt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Wegen der pandemiebedingten Eindämmungsmaßnahmen im öffentlichen und privaten Raum fielen die üblichen szeneinternen und öffentlichen Veranstaltungen aus. Führungspersonen riefen dazu auf, sich in diesen Zeiten besser zu organisieren und spontan zu reagieren. Die zahlreichen regionalen und überregionalen Proteste boten daher auch für Neonazis ein neues Betätigungsfeld. Die mitunter pauschale Kritik an der Regierung und den politischen Entscheidungsträgern bildete die gemeinsame inhaltliche Basis. Durch die Teilnahme konnten sich Neonazis wieder sichtbar machen und durch Parolen und Verteilen von Botschaften eigene Inhalte verbreiten. Szeneangehörige werden sich weiter mit aktuellen politischen Themen befassen, die Agitation gegen die Asylpolitik wird weiter Bestand haben. Nach eigenen Erkenntnissen haben führende Rechtsextremisten festgestellt, dass ohne Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl wenig in der Szene bewirkt werden kann. Daher ist das Festhalten am "Führerprinzip" bedeutend für diesen Phänomenbereich. Führende Nationalisten fordern zu einem "Umdenken" innerhalb der Szene auf. Plakatierungen sowie Aktionen zu historischen Ereignissen gehörten zum Alltag, seien aber für eine Mobilisierung von neuen Kräften ungeeignet, da "staatliche Repressionen" immer zu erwarten seien. Vielmehr brauche die Szene feste, eigene Objekte (Immobilien), um ungestört und vor allem kreative "Projekte", Seminare und Sportveranstaltungen vorzubereiten.3 Hierbei gelte es Möglichkeiten zu schaffen, um öffentliche Gelder abzuschöpfen und für die Szene zu verwenden. 3 - siehe dazu auch Seite 54 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 85 RechtsextRemismus "Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung" e.V. ("Artgemeinschaft") Sitz Berlin Verbreitung Gründung 1951 Struktur Jens BAUER (Elsteraue, Burgenlandkreis) Aufbau fungiert seit Herbst 2015 als Vorsitzender. Mitglieder Land: etwa 30 (2019: etwa 30) Anhänger Bund: 180 (2019: 180) VeröffentWeb-Angebote: www.nordzeit.de lichungen www.asatru.de https://www.facebook.com/ DieArtgemeinschaft Publikationen: "Nordische Zeitung" (NZ; vierteljährlich) eigener Buchdienst mit Büchern und Schriften zu heidnischen Themen und religiösem Brauchtum auf rassistischer Grundlage Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden, Einnahmen aus Buchdienst Kurzportrait / Ziele Die "Artgemeinschaft" ist die derzeit größte deutsche neonazistische Organisation. Sie vertritt völkisch-rassistisches Gedankengut und rekrutiert ihre Mitglieder aus der gesamten neonazistisch geprägten Szene, vor allem aus dem Parteienspektrum und den militanten Kameradschaften. Die "Artgemeinschaft" versteht sich selbst als Glaubensbund, der "die Kultur der nordeuropäischen Menschenart" bewahren, erneuern und weiterentwickeln will. Ihr Regelwerk ist in der Schriftenreihe "Unsere Ordnung" niedergelegt. Über einen eigenen Buchdienst 86 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus werden Publikationen zu heidnischem und religiösem Brauchtum verbreitet. Die Schriftenreihen "Leben im Artglauben" oder "Die Bedeutung der Sippe" werden zum Kauf angeboten, darunter ein Buch von Jens BAUER mit dem Titel "Unsere jüngsten Gefährten" (November 2016). Mit ihren Veranstaltungen bietet die "Artgemeinschaft" Neonazis den nötigen Rahmen, um die Familien und Kinder an die Szene zu binden und rassistische Überzeugungen weiterzugeben. Dabei werden "Ideale" wie die "eigene Art" und "Rasse" propagiert. So nimmt seit Jahren ein fester Personenkreis aus Sachsen-Anhalt an den "Gemeinschaftstagungen" der "Artgemeinschaft" teil, deren organisatorisches Zentrum der Bundesvorsitzende Jens BAUER bildet. Die "Artgemeinschaft" erhebt einen Führungsanspruch im völkisch-rassistisch geprägten Milieu des deutschen Neonazismus und versteht sich als Bindeglied zwischen verschiedenen rechtsextremistischen Strömungen. Grund der Beobachtung Kennzeichnend für die "Artgemeinschaft" ist eine rassistisch geprägte Ideologie. Die Mitglieder leben strikt nach dem "Sittengesetz ihrer Ahnen". Darin heißt es: "Das Sittengesetz in uns gebietet Tapferkeit und Mut in jeder Lage, Kühnheit und Wehrhaftigkeit bis zur Todesverachtung gegen jeden Feind von Familie, Sippe, Land, Volk, germanischer Art und germanischen Glaubens.... Das Sittengesetz in uns gebietet Einsatz für Wahrung, Einigung und Mehrung germanischer Art... Das Sittengesetz in uns gebietet Gefolgschaft dem besseren Führer, mit Recht und Pflicht zu abweichendem Rat, nach bestem Wissen und Gewissen." Die Organisation orientiert sich am Nationalsozialismus und versucht, "völkische Strukturen" aufzubauen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 87 RechtsextRemismus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In der Gemeinde Elsteraue (Burgenlandkreis) wurden im Frühjahr Flyer der "Artgemeinschaft" verteilt, in denen Fragen rund um die Organisation beantwortet werden. Demnach sieht sich die "Artgemeinschaft" als eine "Glaubensgemeinschaft", welche ihre "religiösen Grundvorstellungen im Artbekenntnis" niedergelegt hat. Darin heißt es: "In einer 'multikulturellen Gesellschaft' mit einer Vielzahl von Rassen und Völkern, die die Politiker anstreben, können wir unsere eigene Lebensart und unser genetisches Erbe nur im Rahmen einer eigenen Religionsgemeinschaft bewahren." Des Weiteren wird auf die Sommersonnenwendfeiern, Erntedankfeiern und Gemeinschaftsabende hingewiesen. Der Leser wird aufgefordert, Veranstaltungen der "Artgemeinschaft" zu besuchen, um diese kennenzulernen und auch mitzumachen. Gleichzeitig werden Anschrift und Kontodaten der Organisation für Spenden angegeben. Pandemiebedingt mussten die Gemeinschaftstagungen der Organisation im Frühjahr, Herbst und Winter ausfallen. Lediglich die Gemeinschaftstage im Juni 2020 konnten in Ilfeld (Thüringen) stattfinden. Über den gesamten Veranstaltungszeitraum nahmen bis zu 320 Anhänger und Interessenten teil. Die in diesem Rahmen abgehaltene Sommersonnenwendfeier war wie in den vergangenen Jahren von heidnisch-germanischen Bräuchen geprägt. Aus Sachsen-Anhalt beteiligten sich Personen aus dem Altmarkkreis Salzwedel, dem Burgenlandkreis, den Landkreisen Harz und Mansfeld-Südharz. Im Zusammenhang mit der fortschreitenden Corona-Pandemie wurde im Burgenlandkreis eine Zunahme an versammlungsrechtlichen Aktionen seit dem Herbst festgestellt. Insbesondere 88 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus BAUER nutzte diese Möglichkeit zum öffentlichen Auftreten. Dabei instrumentalisierte er die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie für seine Agitation und versuchte damit, in der Bevölkerung Akzeptanz zu gewinnen. BAUER meldete für den 1. November, 29. November und 13. Dezember 2020 in Zeitz Demonstrationen unter dem Motto "Erkennen-Nachdenken-besonnen Handeln - Wir zeigen Gesicht!" an. Für seine Veranstaltungen firmierte die Initiative "Ganzheitlich Leben und Handeln". Zur Teilnahme wurde über private Chatgruppen mobilisiert. An den Veranstaltungen nahmen etwa 70 (13. Dezember), 90 (29. November) bzw. 100 (1. November) Personen teil, darunter etwa zehn bis 15 Rechtsextremisten und etwa 30 Personen, die sich an der völkischen Lebensweise orientieren. Der Rest der Teilnehmer kam aus dem nicht-extremistischen Bereich. Des Weiteren trat BAUER am 14. Dezember 2020 als Redner bei einer bürgerlichen Kundgebung in Weißenfels auf. Dort betonte er, dass es richtig und positiv sei, auf die Straßen zu gehen, um die Maßnahmen gegen Corona "zu beerdigen". Kennzeichnend für die Veranstaltung war das Mitführen eines Sarges, in dem er dann symbolisch seine Maske, eine Gitarre und eine Flasche alkoholfreien Sekt beerdigte, um den Untergang von Kultur und Kunst sowie Wirtschaft und Gastronomie zu versinnbildlichen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Trotz der pandemiebedingten Einschränkungen gelang es BAUER, die Mitglieder der "Artgemeinschaft" zu binden und für regionale Aktionen zu motivieren. Über die Internetseite der "Artgemeinschaft" stellte BAUER geschichtsträchtige Orte wie zum Beispiel das Ringheiligtum Gosek (Burgenlandkreis) oder das Ringheiligtum Pömmelte (Salzlandkreis) vor und forderte die Mitglieder auf, diese Orte mit ihren Familien oder in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu besichtigen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 89 RechtsextRemismus Des Weiteren versuchte er durch Öffentlichkeitsarbeit, wie das Verteilen von Flyern, die "Artgemeinschaft" als eine naturverbundene Glaubensgemeinschaft darzustellen und damit weitere Familien für die Organisation zu gewinnen. Er forderte, dass die "Artgemeinschaft" regional aktiver werden muss, um als Glaubensgemeinschaft anerkannt zu werden. Die langanhaltenden Beschränkungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie dürften hilfreich für die "Artgemeinschaft" sein, da sich Teilnehmer an den "CoronaDemonstrationen" offen für die Art und Weise der Lebensgestaltung der "Artgemeinschaft" zeigten. 90 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus "Magdeburger gegen die Islamisierung des Abendlandes 2.0" (MAGIDA 2.0) Sitz Landeshauptstadt Magdeburg Verbreitung Gründung Juli/August 2015 Struktur Einzelpersonen Aufbau (ehemals Organisationsteam) Mitglieder etwa 5 (2019: etwa 10) Anhänger Veröffenthttps://www.facebook.com/Magida-20-ohnelichungen Maulkorb-487927824695428/?ref=ts Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele MAGIDA 2.0 entstammt der GIDA-Bewegung.1 Ursprünglich als MAGIDA gegründet und von der PEGIDA,2 offiziell als "Ableger" anerkannt, bildete sich die MAGIDA 2.0 auf Grund innerer Zerwürfnisse heraus und organisierte zwischen Juli/August 2015 und März 2016 die wöchentlich stattfindenden so genannten "Abendspaziergänge". Laut ihrem Positionspapier haben sich in MAGIDA 2.0 "Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen, politischer Parteien, gesellschaftlicher Stellung und Konfessionen zusammen gefunden, um den Missbrauch durch die politische Kaste in Deutschland anzuprangern und für ein identitäres Deutschland und Europa zu wirken". Grund der Beobachtung Die MAGIDA 2.0 unterliegt einer rechtsextremistischen Beeinflussung seitens der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) sowie der Partei "DIE RECHTE" (DR). Die MAGIDA 1 - Bewegung gegen die Islamisierung des Abendlandes 2 - Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 91 RechtsextRemismus 2.0 versucht, nach außen ein unverfängliches Bild des bürgerlichen Protestes zu etablieren. Für die MAGIDA 2.0-Kundgebungen wurden gezielt bekannte Rechtsextremisten als Redner verpflichtet. Als Organisation tritt sie kaum noch in der Öffentlichkeit auf, ihre Mitglieder und Unterstützer haben aber Kontakt zu anderen örtlichen Rechtsextremisten. Im Vordergrund der Rhetorik steht das angebliche Versagen des Staates und seiner Organe, jedoch meist verbunden mit einer "Schuldzuweisung" im Bezug auf Personen mit Migrationshintergrund. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum MAGIDA 2.0 firmierte auch im Berichtsjahr als "Bürgerinitiative Magdeburg". Auf Facebook postete die "Bürgerinitiative Magdeburg" Videos und Fotos, die ein angebliches Ankommen von "illegalen Einwanderern" in Asylunterkünften zeigen. Demnach soll das Land Sachsen-Anhalt die "Corona-Krise" genutzt haben, um "heimlich" neue Asylbewerber nach Sachsen-Anhalt zu bringen. Die Videos bezogen sich auf eine Liegenschaft in der Breitscheidstraße in Magdeburg, in denen ein tatsächlicher Transfer von Bewohnern zu sehen ist, jedoch um aus der Liegenschaft auszuziehen. Diese bewussten Falschmeldungen erfuhren auf Facebook eine rasante Verbreitung. Am 9. Mai 2020 trat ein Vertreter der "Bürgerinitiative Magdeburg" als Redner auf einer Protestveranstaltung gegen die staatlichen pandemiebedingten Beschränkungsmaßnahmen in Erscheinung. Er forderte die Teilnehmer auf, sich von Stammtischen und sozialen Medien zu lösen und wieder aktiv zu werden Bewertung, Tendenzen, Ausblick MAGIDA 2.0 hat ihren Zenit überschritten. Die wenigen Angehörigen werden sich jedoch an Aktivitäten anderer rechtsextremistischer Organisationen beteiligen. Größere Projekte der Gruppierung selbst sind eher unwahrscheinlich. 92 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Verfassungsschutzrelevantes Protestgeschehen mit Bezug zur "Querdenken"-Bewegung in Sachsen-Anhalt Im Zusammenhang mit den staatlichen Eindämmungsmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus fanden im Berichtszeitraum zum Teil auch unangemeldete Versammlungen, Kleinkundgebungen und so genannte Spaziergänge mit bis zu mehreren tausend Teilnehmern statt. Tenor all dieser Veranstaltungen, die von einem sehr heterogenen, in seinem Kern jedoch noch demokratischen Teilnehmerfeld getragen werden, ist die Warnung vor einer dauerhaften Beschränkung von Grundrechten. Mehrere rechtsextremistische Protagonisten und Organisationen riefen dazu auf, sich an den Demonstrationen gegen die Eindämmungsmaßnahmen organisationsübergreifend zu beteiligen und auch bei Kundgebungen außerhalb des rechtsextremistischen Spektrums Präsenz in der Öffentlichkeit zu zeigen. Als Beispiele für die Teilnahme von Rechtsextremisten in Sachsen-Anhalt an derartigen Veranstaltungen können die regelmäßig durchgeführten Zusammenkünfte von Sven LIEBICH im Raum Halle (Saale) genannt werden.1 Weiterhin fand am 1. Mai 2020 in Magdeburg eine Versammlung "Grundrechte und ihre Wertigkeit" auf dem Alten Markt mit rund 150 Teilnehmern statt, darunter etwa 15 Rechtsextremisten. Weitere regelmäßige Versammlungen, an denen sich im Schnitt fünf bis zehn rechtsextremistische Szeneangehörige beteiligten, fanden auch in Wernigerode und Quedlinburg (beides Landkreis Harz) statt. Am 15. August 2020 wurde in Magdeburg eine Kundgebung 1 - siehe Seite 73 ff. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 93 RechtsextRemismus unter dem Motto "Recht auf Leben" mit 260 Teilnehmern durchgeführt. Die versammlungsrechtliche Aktion wurde von der Initiative "Querdenken - 391"2 organisiert. Als Leiter der Veranstaltung trat ein bekannter Rechtsextremist und Liedermacher aus Staßfurt (Salzlandkreis) in Erscheinung. In einem Redebeitrag thematisierte er die aktuellen politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und erklärte u. a. "Wir sind die zweite Welle" und rief zum "Eigenschutz" auf und verglich die derzeitige Lage mit einer "Selbstverteidigungssituation", in der man sich "verteidigen" und "wehren" müsse. Am 29. August fanden in Berlin mehrere Versammlungen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der CoronaPandemie statt. Verantwortlich hierfür war auch die Initiative "Querdenken 711"3. An dieser Demonstration beteiligten sich auch Rechtsextremisten aus Sachsen-Anhalt. Im Zuge der Protestaktionen gelang es insbesondere "Reichsbürgern", sich durch Fahnen und Transparente bei spontanen Aktionen zu inszenieren und sich medienwirksam zu positionieren, wie etwa bei einer Spontandemonstration vor der russischen Botschaft und der kurzzeitigen Besetzung der Aufgangstreppen des Reichstages. Mitunter kam es zu aggressiven und gewalttätigen Störaktionen. Im Zuge der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der andauernden Corona-Pandemie finden seit April 2020 Demonstrationen der eigens in diesem thematischen Zusammenhang gegründeten Initiative "Querdenken 711" statt. 2 - 391 verweist auf die Telefonvorwahl von Magdeburg 3 - 711 verweist auf die Telefonvorwahl von Stuttgart (Baden-Württemberg) 94 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Insgesamt handelt es sich beim Demonstrationsgeschehen rund um die "Querdenken"-Initiativen um eine unübersichtliche, äußerst durchmischte Ansammlung von Personen. Die z. T. größere Teilnehmerzahl kann nicht einheitlich verortet werden. So finden sich unter ihnen Personen mit einer (relativ) sachlichen, ablehnenden Haltung gegenüber den staatlichen Eindämmungsmaßnahmen, aber auch Rechtsextremisten, "Reichsbürger" und "Selbstverwalter", Impfgegner, Mobilfunkgegner sowie weitere Anhänger unterschiedlichster Verschwörungsmythen. Neben bekannten extremistischen Gruppierungen (NPD, DR, "Verfassunggebende Versammlung", etc.) fallen hier auch "QAnon"-Anhänger auf. Die Verschwörungsideologie dahinter war zuvor in Deutschland relativ unbekannt und erfährt nun wachsende mediale Beachtung.4 4 - QAnon ist eine in den USA entstandene Verschwörungstheorie. Demnach soll ein "Deep State" - im Geheimen agierende Eliten aus Staat und Gesellschaft - die Geschicke des Landes bestimmen. U. a. sollen sie in unterirdischen Lagern Kinder foltern, um so "Adrenochrom" - ein lebensverlängerndes Elizier - zu gewinnen. Die Bezeichnung Q steht dabei für einen Eingeweihten, der über die Zugangsermächtigung der "Q Clearance" der US-Regierung verfügen soll und seine "Erkenntnisse" in kryptischen Meldungen im Internet veröffentlicht. Eine Übernahme der QAnon-Verschwörungstheorie in das Vokabular hiesiger Rechtsextremisten war naheliegend, da "QAnon" an altbekannte Verschwörungstheorien anknüpft. Z. B. an die Erzählung von einer "jüdischen Weltverschwörung" oder an die im Mittelalter verbreitete Kindsmordlegende. Diese entstammt dem historischen Antijudaismus, demnach würden Juden für ihre heiligen Rituale (christliches) Blut benötigen und daher Kinder töten. Es war insofern eine klassische Schuldzuweisung für unerklärbares Unglück. Der Weiße Hase im oben abgebildeten Logo steht für die aus dem Kinderbuch "Alice im Wunderland" entnommene Aussage: "Folge dem Kaninchen". Es ist als Aufforderung zu verstehen, mittels "Alternativinformationen" zu einem "wahren Blick auf die Dinge" zu kommen. 95 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Rechtsextremistisches Parteienspektrum "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Landesverband Sachsen-Anhalt Sitz Landesverband: postalisch Berlin Verbreitung Bundesverband: Berlin Gründung Landesverband: 1990 (als Landesverband "Mitteldeutsche Nationaldemokraten") Bundesverband: 1964 Struktur Landesvorsitzender: Henry-Kurt LIPPOLD (GerbAufbau stedt, Mansfeld-Südharz, seit Oktober 2019) Kreisverbände in Sachsen-Anhalt: Altmark, Anhalt-Bitterfeld, Bördekreis, Burgenlandkreis, Halle (Saale), Harz, Jerichower Land, Magdeburg, Mansfeld-Südharz, Saalekreis, Salzland, Wittenberg Unterorganisationen: - "Junge Nationalisten" (JN) - "Ring Nationaler Frauen" (RNF), - "Kommunalpolitische Vereinigung" (KPV) Mitglieder Land: 120 (2019: 150) Anhänger Bund: 3.500 (2019: 3.600) VeröffentWeb-Angebot: lichungen https://www.facebook.com/npd.sachsen.anhalt/ 96 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Publikationen: "Deutsche Stimme"(DS) (Bundesverband, mehrmals jährlich, frei verkäufliches Magazin) Finanzierung Staatliche Parteienfinanzierung, Mitgliedsbeiträge und Spenden Kurzportrait / Ziele Die NPD ist eine rechtsextremistische Partei mit verfassungsfeindlicher Ideologie und Zielsetzung. Ihre Programmatik ist auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet und weist darin Kernelemente eines rechtsextremistischen Weltund Menschenbildes auf. Ihr Bestreben ist es, die Gesellschaft im Sinne ihrer rassistischen, nationalsozialistischen und antisemitischen Vorstellungen zu prägen. Grund der Beobachtung Die NPD vertritt ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild, dessen ideologisches Kernelement die Idee einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft" ist. Davon ausgehend propagiert sie unverhohlen rassistische und fremdenfeindliche Positionen. Die "Vier Säulen-Strategie" der Partei, bestehend aus dem "Kampf um die Köpfe", dem "Kampf um die Straße", dem "Kampf um die Parlamente" und dem "Kampf um den organisierten Willen", verdeutlicht seit Jahren das Ziel der NPD, den demokratischen Verfassungsstaat systematisch und umfassend zu bekämpfen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die NPD musste sich auf Grund der Corona-Pandemie im Verlauf des Jahres 2020 in der Ausübung ihrer üblichen Aktivitäten Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 97 RechtsextRemismus (Demonstrationen, Kundgebungen und Veranstaltungen) beschränken. Ein Großteil der für das erste Halbjahr 2020 geplanten Veranstaltungen wurde abgesagt oder durfte nur unter strengen Auflagen eingeschränkt stattfinden. So verlagerte die Partei ihre Aktivitäten in die sozialen Medien. Die Veröffentlichungen dort befassten sich mit tagespolitischen Themen, dabei im Besonderen mit der Corona-Lage und der "Black Lives Matter" - Bewegung. Im April 2020 gab es in diesem Zusammenhang die "OnlineDemonstration der Protestplattform #SystemExit'".1 1 - Unter dem Hashtag "#SystemExit" sollten persönliche Texte, Bilder oder Videos" hochgeladen und verbreitet werden, mit denen das Scheitern des Systems erklärt werden sollte. 98 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Im zweiten Halbjahr nahmen eigenen Veranstaltungen wie Aktionstage und Kundgebungen wieder zu. Jedoch konnten diese nur unter Corona-Schutzmaßnahmen stattfinden. Zu nennen wären mehrere Veranstaltungen am 1. August 2020 in Berlin gegen die coronabedingten Eindämmungsmaßnahmen, darunter eine Großveranstaltung zum Thema "Das Ende der Pandemie: Tag der Freiheit" mit zirka 20.000 Teilnehmern unter Beteiligung von NPD-Mitgliedern aus Sachsen-Anhalt. Auch an der Großdemonstration am 29. August 2020 in Berlin beteiligten sich einem Bericht des NPD-Kreisverbandes Burgenlandkreis zufolge Mitglieder des Landesverbandes.2 Der NPD-Landesverband Sachsen-Anhalt warb zudem für weitere zentrale Veranstaltungen der "Querdenker"-Bewegung am 18. November in Berlin und am 21. November 2020 in Leipzig (Sachsen). Im Februar 2020 veröffentlichten NPD-Mitglieder eine eigene Publikation names "Stimme Deutschlands" (SD), eine bewusste Anlehnung an das offizielle Parteiorgan DS. In deutlich formulierten Beiträgen äußern die Autoren Kritik an den bisherigen Inhalten der DS und offenbaren sich größtenteils als Gegner der von der Parteiführung geplanten strategischen Neuausrichtung der NPD und einer dabei angedachten Parteiumbenennung. Hans PÜSCHEL (Teuchern, OT Krauschwitz, Burgenlandkreis) kritisiert in einem in Inhalt und Diktion scharfen Beitrag die angebliche Zurückhaltung der DS und der NPD allgemein zu diversen politischen Geschehnissen der Vergangenheit und Gegenwart. "Gegen die tägliche Lügendosis in allen gesellschaftlichen Blähungen muß die tägliche Immunisierung durch laute Wahrheit aus dem nationalen Lager ertönen", so PÜSCHEL. Ihm zufolge müsse die Aufklärung des Volkes das Ziel der NPD sein. So sei schon der "Industriekomplex Auschwitz" nicht in deutscher Hand gewesen, da der (damals) größte Chemiekonzern der Welt, die IG-Farben, im Besitz jüdischer Großbanken in den USA gewesen sei. Somit sei klar "wer dort das Sagen hatte, 2 - siehe auch Seiten 77 und 94 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 99 RechtsextRemismus daher letztlich die Verantwortung trug und wo die Gewinne hinflossen", nämlich zu den Banken in den USA. Hier müsse die NPD ansetzen und als Alleinstellungsmerkmal herausarbeiten, dass sie kein "Stöckchenspringer der Globalisierer" sei. Entwicklung des Landesverbandes Der NPD-Landesverband Sachsen-Anhalt wählte auf einem Landesparteitag am 15. August 2020 in Naumburg OT Saaleck (Burgenlandkreis) die folgende Landesliste für die Landtagswahl am 6. Juni 2021: 1. Steffen THIEL (Zeitz, Burgenlandkreis) 2. Gustav HAENSCHKE (Magdeburg) 3. Henrik GEHRE (Atzendorf, Saalekreis) 4. Thomas LINDEMANN (Lutherstadt Wittenberg, Wittenberg) 5. Jens CZERSKI (Magdeburg) 6. Anne ADLER (Halle-Saale) 7. Gerhard LIPPOLD (Gerbstedt, Landkreis Mansfeld-Südharz) Ein weiterer Tagungspunkt des Parteitages war der Ausschluss von Andreas KARL aus der NPD. KARL hatte im betrunkenen Zustand ein Video zur aktuellen Pandemiesituation gepostet. Im Hintergrund des mittlerweile gelöschten Videos war ein Bild von Adolf Hitler zu sehen. Aktivitäten Die NPD berichtete über ihre Gedenkveranstaltung anlässlich des 149. Jahrestages der Reichsgründung am 18. Januar 2020 in Mansfeld (Mansfeld-Südharz). Die vom Landesverband organisierte Veranstaltung am "Germania Denkmal" in Mansfeld sei von "über 40 Kameraden" aus Sachsen-Anhalt und Thüringen besucht worden. Redner sollen an die Geburt des "modernen deutschen Nationalstaats" durch die "Tatkraft Otto von Bismarcks" erinnert haben. Am 8. Februar 2020 führte der NPD-Landesverband Sachsen-Anhalt eine "NPD-Kommunalschulung" in Halle (Saale) durch. Die 100 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus genannte Veranstaltung, die ein "erstes Treffen" mit kommunalen Vertretern und Interessierten gewesen sei, wurde vom Landesvorsitzenden eröffnet und soll dem Erfahrungsaustausch und dem Zusammenhalt gedient haben. Im Anschluss an die Schulung habe ein Zeitzeugenvortrag mit "dem letzten Pfleger von Rudolf Heß", Abdallah Melaouhi, stattgefunden. Teilnehmer waren einer eigenen Meldung der JN zufolge auch Mitglieder des JN-Landesverbandes. Der NPD-Kreisverband Magdeburg teilte auf Facebook Mitte Mai einen Veranstaltungsaufruf zu so genannten "Bürgerspaziergängen" mit dem Titel "Wernigerode spaziert gemeinsam". Gefordert werden u. a. die "Beendigung der Notstandsgesetze" sowie die "Verhinderung Obrigkeitsstaatlicher Schikanen". [sic!] Die Spaziergänge fänden jeden Montag und Samstag statt und würden am Markt Wernigerode (Landkreis Harz) beginnen. Eine "Bürgerinitiative für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit", hinter der sich der NPD-Landesvorsitzende Henry-Kurt LIPPOLD (Gerbstedt, Landkreis Mansfeld-Südharz) und weitere NPDMitglieder verbergen, führte im Berichtsjahr ab Mai zahlreiche Mahnwachen unter dem Motto "Deutschland gegen den CoronaWahnsinn" im Landkreis Mansfeld-Südharz durch. Die Aktionen fanden kaum Resonanz in der Bevölkerung. Der NPD-Landesverband berichtete am 29. September 2020 über seine Gedenkaktion in Form einer Standkundgebung im "Arsenal Wittenberg" anlässlich des 3. Jahrestages des Todes Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 101 RechtsextRemismus von Markus Hempel in der Lutherstadt Wittenberg. Die NPD bemängelte eine fehlende Aufklärung und die Rechtsprechung in Zusammenhang mit dem tödlichen Ereignis. Die NPD Sachsen-Anhalt informierte auf ihrem Facebook-Account über eine Gedenkaktion im Rahmen des Volkstrauertages am 15. November 2020 im Landkreis Mansfeld-Südharz. Abgebildet sind zahlreiche Personen mit Fahnen und Fackeln an einem Kriegsmahnmal, vermutlich in Gerbstedt. "Junge Nationalisten" (JN) Am 7. März 2020 führte der JN-Bundesverband seinen Bundeskongress mit Vorstandswahl in Riesa (Sachsen) durch. In seinem Amt als Vorsitzender wurde Paul RZEHACZEK (Sachsen) bestätigt. Als sein Stellvertreter steht ihm künftig der Vorsitzende des JN-Landesverbandes Sachsen, Maik MÜLLER, zur Seite. Dem Vorstand gehören nach wie vor Mitglieder aus Sachsen-Anhalt nicht an. Am Beispiel der JN zeigt sich, wie die rechtsextremistische Szene die aktuelle Corona-Pandemie instrumentalisiert und versucht, die angespannte Situation für ihre Zwecke zu nutzen. 102 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus So kündigten die JN auf ihrer Internetseite unter der Überschrift "Corona zeigt, dass Deutschland nicht fähig ist, sich selbst zu versorgen" eine "nächste Solidaritätsaktion" an: "Diesmal geht's für unseren ohnehin schon gebeutelten Bauernstand auf die Felder". Im Artikel wird behauptet, die Landwirtschaft treffe die "Corona-Krise" besonders hart, da diese seit Jahren nur noch ausländische Arbeiter zur Erntehilfe anheuere, welche nun nicht einreisen dürften. Da man als "deutsche Jugend" nicht mitansehen wolle, wie der Bauernstand zugrunde gehe, riefen die JN "alle Mitglieder und jeden Leser" dazu auf, regionale Produkte zu kaufen und sich bei der Erntehilfe zu beteiligen. Die JN-Initiative "Jugend packt an" rief unter der Überschrift: "Macht mit: Mädels, ihr seid gefragt! Mundschutz selber nähen..." zum Herstellen von Mundschutz aus Stoff auf. Grund für die Aktion seien "Engpässe und Lieferschwierigkeiten" von Schutzmasken. Anleitung gebe es im Internet. Die JN werde sich "um eine sinnvolle Vermittlung" der hergestellten Masken kümmern. Im Artikel wird darauf hingewiesen, dass ein selbstgemachter Mundschutz nicht wirksam vor einer Ansteckung schütze. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 103 RechtsextRemismus Mitglieder des sachsen-anhaltischen Landesverbandes nahmen an bundesweiten Aktionen der rechtsextremistischen Szene und an Kundgebungen der NPD teil. So z. B. an dem "Gedenkmarsch" am 15. Juni 2020 und an der Kundgebung der NPD unter dem Motto: "Damals wie heute, Widerstand wagen! Für unsere Grundrechte, Freiheit und Souveränität!" am 17. Juni 2020 in Dresden (Sachsen). Anlass war der 67. Jahrestag des Volksaufstandes in der damaligen DDR. Beispiele der Beteiligung des Landesverbandes an organisationsübergreifenden Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sind die Demonstrationen am 21. November in Leipzig und am 27. November 2020 in Wurzen (beide Sachsen). Ergänzend dazu beteiligten sich Mitglieder der JN Sachsen-Anhalt an Sonnenwendfeiern, internationalen Kulturtagen und einem Gemeinschaftstag. Damit sollen das Gemeinschaftsgefühl der Mitglieder gestärkt und die Attraktivität der JN für neue Mitglieder erhöht werden. Die JN Sachsen-Anhalt hat im Berichtsjahr den Versuch unternommen, sich organisatorisch mit der Gründung des Stützpunktes "Anhaltiner Land" neu aufzustellen. Der Landesverband, wie er auf der Homepage der JN des Bundes dargestellt wird, existiert nicht. Im Wesentlichen rekrutiert sich der Landesverband der JN aus dem Raum Wittenberg. Die JN Sachsen-Anhalt berichtete regelmäßig in Facebook auf dem "Aktionsblog Sachsen-Anhalt" über ihre Aktivitäten: 104 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus - Am 10. Januar 2020 führte der JN-Landesverband eine Informationsveranstaltung für Sympathisanten und Interessenten in Dessau-Roßlau durch. Der Bundesvorsitzende RZEHACZEK eröffnete die Veranstaltung. Den Abschluss bildete der Auftritt des Liedermachers "Eidstreu" (Magdeburg). - Beteiligung an einer Demonstration am 25. Januar 2020 in Dessau-Roßlau unter dem Motto "Versuchter Mord wir fordern Aufklärung". Hintergrund sei der "Überfall linksextremer Schläger auf nationale Aktivisten aus Roßlau" vor einem Jahr. Die JN-Anhänger sollen ein eigenes Banner mit der Aufschrift "Linkem Terror entschlossen entgegentreten - Aktion Widerstand.de - JN" gezeigt haben.3 - "Ein erstes Treffen im Anhaltiner Land" am 14. Februar 2020. Neben "einem kleinen Vortrag" zur Bombardierung Dresdens hätten "organisatorische Planungen auf der Liste gestanden". Die JN kündigte an, ihre Strukturen in den nächsten Monaten weiter auszubauen. - Unter dem Motto "Unterstützt die Corona Proteste" begrüßte der Landesverband die "Kundgebungen, Demonstrationen und Spaziergänge gegen die vom Staat verhängten Einschränkungen". Nach einer Meldung vom 10. Mai 2020 fänden mittlerweile in Magdeburg, Dessau-Roßlau und in Lutherstadt Wittenberg "regelmäßige Veranstaltungen gegen die massiven Einschränkungen" statt. - Am 19. September 2020 fand in Sotterhausen (Landkreis Mansfeld-Südharz) ein sogenannter Heimwerkermarkt der rechtsextremistischen Szene statt. Die JN Sachsen-Anhalt berich- 3 - siehe auch Seite 42 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 105 RechtsextRemismus - teten, dass zum "ersten nationalen Handwerkermarkt" "Aktivisten jeder nationalen Strömung und Partei" vertreten waren. Anliegen sei, "die eigenen Strukturen zu fördern und zu unterstützen!".4 - Verschiedene Aktionen im Rahmen ihres "bundesweiten Aktionstages" am 3. Oktober 2020 unter dem Motto "Vorwärts für ein eigenes Land" sowie "Leisten wir uns den Luxus eine eigene Meinung zu haben" führten die NPD-Jugendverbände Sachsen-Anhalt, Berlin/Brandenburg und Nordsachsen Kundgebungen in Halle (Saale), Dessau-Roßlau und Lutherstadt Wittenberg durch. Die Tour wurde als Erfolg gewertet, da sie ein "deutliches Signal" gewesen sei und man gezeigt habe, "wem die Straße am Tag der deutschen Einheit" gehöre. - Am 24. Oktober 2020 gründete sich der "Stützpunkt Anhaltiner Land". Dieser sei die erste Einrichtung der NPDJugendorganisation in Sachsen-Anhalt. Die Gründung weiterer Stützpunkte wurde angekündigt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Partei gelang es im Jahr 2020 nicht, ihren Negativtrend umzukehren. Auch die nach der Bundestagswahl 2017 im Positions- 4 - siehe auch Seite 80 106 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus papier "Wille Gemeinschaft - Tat" proklamierte strategische Neuausrichtung als Weltanschauungspartei und der verstärkte Fokus der Partei auf den Demonstrationsund Veranstaltungsbereich sowie die aktionistisch und perspektivisch überparteilich angelegte "Schutzzonen"-Kampagne konnten Niedergang und Bedeutungsverlust nicht aufhalten. Die Partei befindet sich ungeachtet des anstehenden Verfahrens zum Ausschluss der NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung und eines möglichen vollständigen Verlustes aller staatlichen Mittel in einer äußerst angespannten finanziellen Situation. In Sachsen-Anhalt hat sich die NPD mittlerweile zu einer Organisation entwickelt, der zunehmend keine politische Bedeutung zuzurechnen ist. Neuen Impulse, die eine Umkehr der Entwicklung bewirkt hätten, konnten nicht gesetzt werden. Die JN in Sachsen-Anhalt, als Bindeglied zwischen Mutterpartei und "Freien Kräften", versuchte sich im Berichtsjahr zu restrukturieren. Der im Internet noch ausgewiesene Landesverband entfaltete keine Aktivitäten. Einzig der JN-Stützpunkt "Anhaltiner Land" trat sichtbar in Erscheinung und versuchte, eine Brücke zu den "Freien Kräften" in der Region zu schlagen. Es ist mit vermehrten Aktionen und -Veranstaltungen der JN zu rechnen, um verstärkt neue Mitglieder zu gewinnen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 107 RechtsextRemismus Partei "DIE RECHTE" (DR) Sitz Landesverband: Halberstadt (Landkreis Harz) Verbreitung Bundesverband: Dortmund (Nordrhein-Westfalen) Gründung Landesverband: 30. November 2014 Bundesverband: 27. Mai 2012 Struktur Landesvorsitzender: Ingo ZIMMERMANN Aufbau (Landeshauptstadt Magdeburg) Bundesvorsitzende (Doppelspitze): Sascha KROLZIG (Nordrhein-Westfalen) Sven SKODA (Nordrhein-Westfalen) Mitglieder Land: etwa 20 (2019: etwa 20) Anhänger Bund: 550 (2019 550) VeröffentWeb-Angebote: https://die-rechte.net lichungen https://twitter.com/DieRechteMDJL Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Kurzportrait / Ziele Die Partei DR wurde mehrheitlich von Mitgliedern der Deutschen Volksunion (DVU), auf Initiative des bis zum 31. Oktober 2017 amtierenden Bundesvorsitzenden Christian WORCH (Mecklenburg-Vorpommern), in Hamburg gegründet. Inzwischen spielen die ehemaligen DVU-Mitglieder keine Rolle mehr. Eine Vormacht aus neonazistischen "Freien Kräften" bestimmt die Tagesordnung und somit auch die Richtung der Partei. Diese Entwicklung begann mit der Gründung des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen am 15. September 2012, dessen Mitglie108 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus der überwiegend den im August 2012 verbotenen neonazistischen Organisationen NWDO1, KS2 Hamm und KS Aachener Land angehörten. Der Landesverband Nordrhein-Westfalen ist nicht nur der mitgliederstärkste Landesverband, sondern besetzt auch überwiegend den 2018 gewählten Bundesvorstand. Ständiges Ziel der Partei ist das Erfüllen der rechtlichen Anforderungen zur Aufrechterhaltung des Parteienstatus. So beteiligte sich die Partei 2020 an der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen. Grund der Beobachtung Teile des Parteiprogramms sind stark nationalistisch geprägt: Zur "Wahrung der Identität" der Deutschen und zum Schutz des "deutschen Staatsvolkes" fordert DR beispielsweise ein "Zurückdrängen der Amerikanisierung" und anderer "übermäßiger fremder Einflüsse", die "Eindämmung ungezügelter Zuwanderung", die "Aufhebung der Duldung von Ausländern" sowie ein "Werbeverbot in ausländischen Sprachen". Das Parteiprogramm weist auch gebietsrevisionistische Züge auf: "Die Abtrennung der deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße als Kriegsfolge widerspricht völkerrechtlichen Grundsätzen. Wir wissen aber auch, dass nicht Gewaltanwendung, sondern nur friedliches Einvernehmen unter den Völkern eine Linderung oder auch Korrektur dieser Lage herbeiführen kann und darf." Ein DR-Aufkleber, der den von der Partei vertretenen Gebietsrevisionismus widerspiegelt. 1 - Nationaler Widerstand Dortmund 2 - Kameradschaft Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 109 RechtsextRemismus Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden relativiert, indem diesen die alliierten Kriegsverbrechen gleichwertig gegenüber gestellt werden; eine besondere Verantwortung Deutschlands wird abgelehnt. Das Eintreten für die Holocaustleugnerin Ursula HAVERBECK-WETZEL (Nordrhein-Westfalen) verdeutlicht dies. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Überregionale Aktivitäten Die Corona-Pandemie beeinflusste auch die Aktivitäten der DR. Slogans wie "Hoch die nationale Solidarität, zeigen wir den Leuten weiterhin, wer in Krisenzeiten zu seinem Volk steht und für dieses bedingungslos eintritt", "Nationale Solidarität statt bunter Willkommenskultur" oder "Einkaufshilfen für ältere Volksgenossen" unterstreichen den gewollten "Kümmererstatus". Der Aufruf "Vergesst in diesen Zeiten die Gefangenen nicht!" bezog sich auf Mitglieder der Partei und die zu dieser Zeit inhaftierten Holocaustleugner wie Ursula HAVERBECK-WETZEL oder Horst MAHLER. Ebenso wurden Versammlungen als Revanche für die pandemiebedingten Untersagungen von Veranstaltungen am 1. Mai 2020 in Hamburg und Braunschweig (Niedersachsen) durchgeführt. So veranstaltete der Landesverband Niedersachsen unter Beteiligung von Sachsen-Anhaltern am 20. Juni 2020 in Braunschweig und Einbeck (Niedersachsen) eine Kundgebung unter dem Motto: "Gegen Seuchendiktatur - Grundgesetz durchsetzen" mit zirka 25 Teilnehmern. Mitglieder der Partei nahmen im Februar an Veranstaltungen zum "Tag der Ehre"3 in Budapest (Ungarn) und an der "Lukov- 3 - Zum "Tag der Ehre" veranstalten ungarische Neonazis seit 1997 jährlich eine Gedenkfeier, um an die Verteidigung Budapests durch deutsche und ungarische Truppen gegen die sowjetische Rote Armee im Zeitraum von Dezember 1944 bis Februar 1945 zu erinnern. 110 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Gedenkveranstaltung"4 in Sofia (Bulgarien) teil. Beide zählen zu den wichtigsten Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene und dienen der internationalen Vernetzung. Die Kampagne "Black Lives Matter" griff DR vor allem in den Sozialen Medien auf. DR äußerte in erster Linie ein Unverständnis über die "eigene Rasse", die sich durch die Sympathiebekundungen selbst "dämonisiert". Wahlen DR hat bei den Kommunalwahlen am 13. September 2020 in Nordrhein-Westfalen nur bescheidene Ergebnisse erzielt. Trotz Wahlabsprachen mit der NPD konnte sie lediglich ein Mandat im Rat der Stadt Dortmund (Nordrhein-Westfalen) verteidigen und jeweils einen Sitz in den Bezirksvertretungen DortmundHuckarde und Dortmund-Eving erlangen. Der derzeit inhaftierte Siegfried BORCHARDT, Kreisvorsitzender von DR in Dortmund, konnte seinen Sitz in der Bezirksvertretung Dortmund-Nord nicht verteidigen. Aktivitäten in Sachsen-Anhalt Der Landesverband DR Sachsen-Anhalt entfaltete 2020 keine Aktivitäten. Er gilt derzeit als inaktiv. Lediglich einige wenige Mitglieder beteiligten sich an Demonstrationen außerhalb Sachsen-Anhalts. Ein DR-Mitglied meldete in Kakerbeck (Altmarkkreis Salzwedel) sieben Veranstaltungen unter dem Motto "Härtere Strafen für Kinderschänder" an. Fünf Veranstaltungen wurden durchgeführt. Die Teilnehmerzahl variierte zwischen 25 und 95 Teilnehmenden. Zwei Veranstaltungen wurden auf Grund abnehmender Teilnehmerzahlen abgesagt. 4 - Gedenkveranstaltung für den General Hristo Lukov. Der Führer der Partei "Bund der Bulgarischen Nationalen Legionen" (SBNL) kollaborierte im zweiten Weltkrieg mit den Nationalsozialisten aus Deutschland. Die SBNL forderte die Deportation bulgarischer Juden. Am 13.02.1943 wurde er von kommunistischen Partisanen in seinem Haus erschossen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 111 RechtsextRemismus Hintergrund für die angeführten Kundgebungen war ein Fall des Kindesmissbrauchs in Kakerbeck. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Bundesweit konnte die Gesamtpartei ihre organisatorische und strukturelle Schwäche nicht überwinden. Ein Erstarken der Aktivitäten konnte lediglich in Niedersachsen festgestellt werden. Hier nahmen auch Sachsen-Anhalter an Veranstaltungen teil. Innerhalb der rechtsextremistischen Szene Sachsen-Anhalts spielt DR keine Rolle. Darüber hinaus erfährt die Partei Konkurrenz im erstarkenden "III. Weg". Die Inaktivität des Landesverbandes Sachsen-Anhalt wird sich fortsetzen. 112 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Partei "Der III. Weg" (III. Weg) Sitz Sachsen-Anhalt: Verbreitung keine Strukturen Bundesverband: Weidenthal (Rheinland-Pfalz) Gründung 28. September 2013 in Heidelberg (Baden-Württemberg) Struktur Bundesvorsitzender: Aufbau Klaus ARMSTROFF (Rheinland-Pfalz) Landesverbände in Bayern und Sachsen Stützpunkte bundesweit Mitglieder Land: etwa 20 (2019: etwa 10) Anhänger Bund: etwa 600 (2019: etwa 580) VeröffentWeb-Angebote: http://www.der-dritte-weg.info lichungen Soziale Netzwerke Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Kurzportrait / Ziele Insbesondere als Reaktion auf einen Streit innerhalb der NPD in Rheinland-Pfalz gründeten vornehmlich ehemalige Mitglieder dieses Landesverbandes III. Weg. Als sich 2014 in Bayern ein Verbot des Neonazi-Netzwerkes "Freies Netz Süd" abzeichnete, trat ein Teil dieser Neonazis in die Partei ein. Sie nutzen somit die Partei (Schutz des Parteienprivilegs) als Auffangstruktur, um staatlichen Exekutivund Verbotsmaßnahmen zu entgehen. Mittlerweile hat sich der "III. Weg" als eigenständige rechtsextremistische Struktur etabliert. Mit den Betätigungsfeldern "Politik", "Kultur" und "Gemeinschaft" versucht die Partei, als Bewegung und nicht nur als Wahlpartei wahrgenommen zu werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 113 RechtsextRemismus Grund der Beobachtung Führungsaktivisten der Partei sind seit Jahren fest im rechtsextremistischen Spektrum verankert. Das Parteiprogramm lehnt sich begrifflich zum Teil an Vertreter des "linken" nationalsozialistischen Parteiflügels der NSDAP an und propagiert ein völkisch-antipluralistisches Menschenund Gesellschaftsbild. Der "III. Weg" agitiert antisemitisch, ausländerfeindlich und revisionistisch. Beispielhaft ist die Kampagne gegen den Fußballclub Türkgücü München mit dem Slogan: "Unser Stadion - unsere Regeln" zu nennen.1 Die neonazistische Ausrichtung der Partei zeigt sich auch in der parteiinternen Seminararbeit, in der Themen wie "Blut und Boden - Reichsbauernführer Richard Walther Darre", "Ian Stuart, RAC und die Rechtsrock-Szene" behandelt werden. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bundespartei / überregionale Aktivitäten Mit "Deutscher Sozialismus jetzt!"2 unterstreicht die Partei ihre andere Menschen ausgrenzende Ideologie. "Ein der natürlichen Ordnung entgegenstehender Internationalismus des <> mitsamt seiner multikulturellen Ideologie jenseits jeder Vernunft ist (...) abzulehnen. Eine größtmögliche Gemeinschaft ist nur im Verbund eines Volkes mit gleichem kulturellen und biologischen Hintergrund sowie gleichen Moralund Wertvorstellungen möglich". Die Partei gliederte sich bisher in die Gebietsverbände Süd, West und Mitte mit etwa 18 bundesweiten Stützpunkten (STP). Diese 1 - siehe auch Seite 40 2 - https://der-dritte-weg.info/2020/11/flugblattverteilung-in-burg-bei-magdeburg 114 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Organisationsstrukturen werden durch die Bildung von Landesverbänden sukzessive abgelöst. Neben dem am 1. Februar 2020 gegründeten "Landesverband Sachsen" wurde am 25. Juli 2020 der "Landesverband Bayern" eingerichtet. Die STP existieren dessen ungeachtet weiter. Im Oktober 2020 stellte Tony GENTSCH (Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen) das "Drei-Säulen-Konzept" der Partei vor. Es umfasst folgende Komponenten, die auf die "politische Arbeit" vor Ort bezogen, das Ziel "Nationale Freiräume schaffen!" ermöglichen sollen: - "Besitz eigener Räumlichkeiten" - "Nutzung moderner Medien und sozialer Netzwerke zur Rekrutierung neuer Mitstreiter" - "Bildung von Arbeitsgemeinschaften und Freizeitangeboten (...) für die Jugend" Der Begriff "Drei-Säulen-Konzept" ist seit vielen Jahren fester Bestandteil des Grundsatzprogramms der Partei, das neben dem "politischen Kampf" auch den "kulturellen Kampf" und den "Kampf um die Gemeinschaft" umfasst. Am 3. Oktober 2020 führte "III. Weg" eine Demonstration mit 320 Teilnehmern in Berlin unter dem Motto "Ein Volk will Zukunft! Heimat bewahren! Überfremdung stoppen! Kapitalismus zerschlagen!" durch. Diese Veranstaltung war als Ersatz für die abgesagte 1.-Mai-Demonstration in Erfurt (Thüringen) gedacht. Unter den Teilnehmenden konnten zehn Personen aus SachsenAnhalt festgestellt werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 115 RechtsextRemismus Auch "III. Weg" beteiligte sich am pandemiebedingten Protestgeschehen in verschiedenen Städten. Die Partei verband ihre Kritik an den staatlichen Eindämmungsmaßnahmen mit ihrer fundamentalen Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Eine Vielzahl von Verteilaktionen bezog sich auf den Slogan: "Das System ist schlimmer als Corona!". Aktivitäten der Partei in Sachsen-Anhalt Die Aktivitäten haben in Sachsen-Anhalt gegenüber den Vorjahren deutlich zugenommen. Der "III. Weg" veranstaltete am 24. Juli 2020 eine Kundgebung in Naumburg (Landkreis Burgenlandkreis) unter dem Motto: "Kriminelle Ausländer raus! - Heimat schützen!". An dieser nahmen etwa 60 Personen teil; neben Mitgliedern des "III. Weges" und der NPD auch regionale Szeneangehörige. In einem Nachbericht schreibt "III. Weg" auf seiner Internetseite von "unkontrollierter Massenmigration", die sich nachhaltig schädlich auf das Gesellschaftsleben auswirke, von "täglichen Sittlichkeitsund Gewaltdelikten von Ausländern an Deutschen" oder von "No-GoAreas" selbst schon in kleineren Städten Mitteldeutschlands. 116 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 RechtsextRemismus Eine Veranstaltung am 16. Juni 2020 in Dessau-Roßlau im Kontext der "Black Lives Matter" - Bewegung kommentierte die Partei als "antirassistisches Schmierentheater". Weitere verifizierte Aktivitäten: - 8. Mai 2020 - Aktionen unter dem Motto: "Tag der Befreiung - "Wir feiern nicht ..." : Verhüllung eines sowjetischen Ehrenmals / Plakatierung in Reinsdorf (Südliches Anhalt, Landkreis Anhalt-Bitterfeld) "Gedenken" an einem Kriegerdenkmal in Gommern (Landkreis Jerichower Land) - 9. Juli 2020 - Klebeaktion auf dem Bahnhof Ilsenburg (Landkreis Harz) - Inhalt der Aufkleber: "Antifa-Banden zerschlagen", "Asylflut stoppen!", "Keine Solidarität mit Israel!" - August 2020 - Beteiligung an "Anti-Kinderschänder-Kundgebungen" der Partei "DIE RECHTE" in Kakerbeck (Landkreis Salzwedel)3 - 14. November 2020 - "Heldengedenken in Mitteldeutschland" (Volkstrauertag) - Ersatzaktionen wegen des abgesagten zentralen "Heldengedenken" in Wunsiedel (Bayern) Aktionen in Sachsen-Anhalt: Möckern (Landkreis Jerichower Land), Dessau-Roßlau, Köthen (Landkreis AnhaltBitterfeld), Magdeburg, Oschersleben (Landkreis Börde), Burgenlandkreis Nach Eigenangaben will "III. Weg" u. a. folgende Aktivitäten in Sachsen-Anhalt vollzogen haben: - Teilnahme an Corona-Protesten in Halle (Saale), DessauRoßlau, Bernburg (Salzlandkreis) - "Burg gegen linke Politik verteidigen! - Nationale Streife in Burg" (Landkreis Jerichower Land) - "Messerstreit in Flüchtlingsunterkunft" - Flugblattverteilung und Bürgerstreife in Halberstadt (Landkreis Harz) 3 - siehe auch Seite 111 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 117 RechtsextRemismus - "Verteilaktion in Burg! - Umweltschutz, Homopropaganda, Asylantenflut" (Landkreis Jerichower Land) - "Asylflut stoppen" - Informationskampagne/Verteilaktion in Halberstadt (Landkreis Harz) - Flugblattverteilung "Das System ist gefährlicher als Corona" in Oschersleben (Landkreis Börde), Halle (Saale), Magdeburg Bewertung, Tendenzen, Ausblick Den selbst auferlegten Strukturwandel setzt die Partei stringent um. In Sachsen-Anhalt konnte eine deutliche Zunahme an Aktivitäten gegenüber den Vorjahren verzeichnet werden. Die Gründung eines Stützpunktes bzw. eines Kreisverbandes in Sachsen-Anhalt ist zu erwarten. Die Partei wird im rechtsextremistischen Parteienspektrum immer sichtbarer und ist gewillt, sowohl organisatorisch als auch inhaltlich deutlicher in Erscheinung zu treten und bietet sich für neonazistisch ausgerichtete Personen als Alternative an. 118 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 ReichsbüRgeRszene REICHSBÜRGERSZENE "Reichsregierungen", "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" Gründung Die seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland agierenden "Reichsregierungen" haben ihren Ursprung in der seit den 1980er Jahren bestehenden "Kommissarischen Reichsregierung" (KRR) um Wolfgang Ebel (+, Berlin). Verbreitung "Reichsregierungen," "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" sind bundesweit aktiv. Schwerpunktregionen in Sachsen-Anhalt sind der Salzlandkreis, der Landkreis Stendal und der Raum Halle (Saale). Struktur Die Reichsbürgerszene ist sehr heterogen. Sie Aufbau zeigt sich zersplittert und vielschichtig. Die Reichsbürgerszene lässt sich in "Reichsregieerungen", "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" unterscheiden. Als "Reichsbürger" bezeichnen sich Einzelpersonen und verschiedene Gruppierungen, die sich als Angehörige eines "Deutschen Reiches" wähnen. Bei den "Selbstverwaltern" handelt es sich um eine heterogene Gruppe von Einzelpersonen, die im Gegensatz zu den "Reichsbürgern" und "Reichsregierungen" nicht vom Weiterbestehen des Deutschen Reiches überzeugt sind, sondern behaupten, sie könnten auf Grund einer Erklärung aus der Bundesrepublik Deutschland ausscheiden oder diese sei gar nicht existent. Entsprechend seien sie nicht mehr ihren Gesetzen unterworfen. Manche "Selbstverwalter" rufen sogar eigene "Staatsgebilde" aus. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 119 ReichsbüRgeRszene Neben den Einzelakteuren existieren eine Vielzahl an Kleinst-und Kleingruppen sowie virtuelle Netzwerke und darüber hinaus auch überregional agierende Personenzusammenschlüsse. Mitglieder Land: etwa 500 (2019: ebenso), davon sind etwa Anhänger 10% (50) der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen Bund: etwa 20.000 (2019: 19.000), davon sind etwa 5% (1.000) der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen VeröffentWeb-Angebote: diverse teils wechselnde Auflichungen tritte in den sozialen Medien (vor allem Facebook) und eigene Internetseiten Kurzportrait / Ziele In der Reichsbürgerszene werden gemeinhin folgende Botschaften vertreten: - Die Bundesrepublik Deutschland ist nach ihrer Auffassung kein echter Staat im völkerrechtlichen Sinn, sondern eine Firma mit staatsähnlichen Strukturen, eine "BRD-GmbH". Es handele sich um ein reines "Verwaltungskonstrukt". - "Reichsbürger" bestreiten die Unabhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland. - Sie behaupten, die Bundesrepublik Deutschland sei juristisch nicht existent, also illegal. - Hingegen bestehe das Deutsche Reich völkerrechtlich fort. Dabei wird oft in den Grenzen von 1937 gedacht. Dieses gedachte Reich sei allerdings immer noch besetzt, wobei der Hinweis auf die Militärpräsenz, etwa der USA, selten fehlt. Daher gebe es auch nur eine kommissarische "Reichsregierung", die legal, aber machtlos sei. 120 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 ReichsbüRgeRszene Dementsprechend versuchen die "Reichsbürger" pseudostaatliche Strukturen aufzubauen, indem sie so genannte kommissarische "Reichsregierungen" und eigene "Verwaltungsstrukturen" schaffen. Der Trend zur Bildung von kommunalen Parallelstrukturen in Form so genannter Landgemeinden ist bundesweit zu beobachten. Um dies zu unterstreichen, werden eigene "Legitimationspapiere", "Ämter" u. ä. ins Leben gerufen. Grund der Beobachtung Die fundamentale Ablehnung des Staates und seiner gesamten Rechtsordnung beinhaltet unter anderem die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Zuweilen werden auch antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet oder sogar der Holocaust geleugnet. Damit ist die Szene als verfassungsfeindlich und extremistisch im Sinne des SS 4 Abs. 1 Nr. 1 VerfSchG-LSA einzustufen. Weiterhin können Bestrebungen von "Reichsregierungen", "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sein, was ebenfalls eine Verfassungsfeindlichkeit im Sinne des SS 4 Abs. 1 Nr. 1 VerfSchG-LSA bedeutet. Soweit diese Bestrebungen im Einzelfall auch mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, richtet sich dies gegen den Gedanken der Völkerverständigung und stellt somit eine Verfassungsfeindlichkeit im Sinne SS 4 Abs. 1 Nr. 5 VerfSchG-LSA dar. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 121 ReichsbüRgeRszene Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Am 19. März 2020 verbot das BMI mit der Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) zum ersten Mal in Deutschland eine Reichsbürgergruppierung. Das Verbot erstreckte sich auch auf die "Osnabrücker Landmark", eine Teilorganisation der GdVuSt. Das Agieren der GdVuSt war von Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus geprägt. Die Gruppierung fiel in der Vergangenheit durch sehr aggressive Schreiben und eine Vielzahl von Straftaten wie versuchte Nötigung, Erpressung und Freiheitsberaubung auf. Auch in Sachsen-Anhalt sind vor dem Verbot entsprechende Schreiben bei verschiedenen Behörden aufgetaucht. Die Corona-Pandemie spielte für "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" eine herausragende Rolle. In der Szene wurden verschiedene, teils widersprüchliche Verschwörungstheorien verbreitet. Mit falschen Darstellungen und unwahren Aussagen wollte man die Stimmungslage in der Bevölkerung für eigene Zwecke missbrauchen. Weiterhin wird immer wieder behauptet, dass vom Corona-Virus keine Gefahr ausgehen würde. Daher müssten staatliche Vorgaben und Gebote nicht beachtet werden, da diese lediglich ein Machtinstrument der Regierung seien. In diesem Kontext werden auch Allianzen geschlossen, wie beispielhaft an der Großdemonstration am 29. August 2020 in Berlin1 zu erkennen war. Dort demonstrierten "Reichsbürger" neben Rechtsextremisten, Esoterikern und bürgerlichen Teilnehmern. 1 - siehe dazu auch Seiten 74 und 94 122 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 ReichsbüRgeRszene Aktive Gruppierungen der Reichsbürgerszene in Sachsen-Anhalt In Sachsen-Anhalt ist die Reichsbürgerszene von einer Vielzahl von Einzelpersonen geprägt. Etwa 30 % der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" sind in Personenzusammenschlüssen wie dem "Königreich Deutschland", "Freistaat Preußen", "Amt für Menschenrecht", "Gemeindeamt Schinne" und in der "Verfassunggebenden Versammlung" organisiert. Diese nehmen nicht nur in Sachsen-Anhalt einen bedeutenden Stellenwert ein, da sie zweckund zielgerichtet agieren. Sie sind im Internet auch mit überregionalen Personenzusammenschlüssen vernetzt. Die Reichsbürgerszene unterliegt Veränderungen und ist anpassungsfähig. "NeuDeutschland / Königreich Deutschland" Im Jahr 2009 gründete der Esoteriker Peter FITZEK (Lutherstadt Wittenberg) den Verein "NeuDeutschland". Er tritt seit 2012 als "König" des "Königreich Deutschland" (KRD) in Erscheinung. Die KRD-Programmatik ist von der Leugnung hoheitlicher Befugnisse und von Rechtsgrundlagen der Bundesrepublik Deutschland geprägt. Die gesellschaftspolitischen Vorstellungen des selbsternannten "Königs", Peter FITZEK, stehen den im Grundgesetz verbrieften Grundprinzipien unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung entgegen. Sein außerhalb der bundesdeutschen Rechtsordnung entstandenes "Staatskonstrukt" versucht er mit mit Leben zu füllen. So schuf er eine "Gesundheitskasse" und eine "Gemeinwohlkasse". Seit 2019 dehnt FITZEK die KRD-Aktivitäten auf weitere Bundesländer aus. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 123 ReichsbüRgeRszene Insgesamt gesehen fallen FITZEK und das KRD mit vielfältigen Maßnahmen zur Rekrutierung neuer Anhänger aus der Mitte der Gesellschaft, einem Expansionsdrang und dem Schmieden neuer Allianzen auf. Zur Verbreitung seiner typischen Anliegen bezog FITZEK verstärkt die digitale Welt in seine Tätigkeiten mit ein. Er errichtete neue Internetpräsenzen, so eine persönliche Webseite, einen YouTube-Kanal und eine persönliche Facebook-Seite. Zur digitalen Offensive gehören Online-Seminare und das regelmäßige Veröffentlichen von Live-Streams. Allerdings wird hier thematisch wenig Neues geboten. Die Inhalte seiner Darstellungen wiederholen sich stets. Das KRD wirbt weiterhin offensiv um Gewerbetreibende. Die vermeintliche Aussicht auf ein "steuerfreies Wirtschaftssystem", "verminderte Sozialabgaben" sowie ein "autarkes und geschlossenes zinsfreies Geldsystem" sollen die zugkräftigsten Argumente darstellen, um einen Übertritt in das KRD herbeizuführen. Das Werben von Anhängern und Investoren erfolgt über "Unternehmerseminare" oder einen "Tag der offenen Tür" . Um entsprechende Geldeinlagen zu generieren, eröffnete FITZEK als Vertreter des KRD am 1. September 2020 in Ulm (Baden-Württemberg) eine Filiale der "Gemeinwohlkasse". Dort hat der "Kunde" die Möglichkeit zu verschiedensten "Investitionen". Am 19. und 20. September 2020 fand auf dem bekannten Gelände in Wittenberg OT Reinsdorf erneut eine "KRD-Messe" statt. Sie wurde im Vorfeld umfangreich beworben. So berichtete der als "Volkslehrer" bekannte Rechtsextremist Nikolai NEHRLING (Berlin) über die geplante Veranstaltung. 124 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 ReichsbüRgeRszene Wie bereits in den Vorjahren nutzte FITZEK den Termin, um Besucher von seinen Ideen zu überzeugen. Er führte Seminare durch und die "Gemeinwohlkasse" sowie der online Verkaufsmarkt KADARI ("Kauf das Richtige") waren mit Ständen präsent. Des Weiteren konnten FITZEKs Bücher erworben werden. Zudem stellten Unternehmer aus dem gesamten Bundesgebiet ihre Firmen vor und es gab Vorträge zu unterschiedlichsten Themen. Diese reichten von alternativen Energien bis ins Esoterische. Die Messe besuchten an den beiden Ausstellungstagen mehrere hundert Personen. Im Nachgang wurde die Veranstaltung auf der KRD-Internetseite umfangreich ausgewertet und es wurden Interviews mit den verschiedenen Ausstellern veröffentlicht. Im Kontext der Corona-Pandemie betonte FITZEK, dass das Corona-Virus für ihn keine Relevanz habe und dass die Eindämmungsmaßnahmen und die entsprechenden Regeln der Bundesrepublik Deutschland im Bereich seines "Staatsgebietes" nicht gelten würden. Nicht zuletzt aus diesem Grund führte er unbeirrt Veranstaltungen in Sachsen-Anhalt und im Bundesgebiet, auch unter Missachtung der Hygieneregeln, durch. Am 16. Mai und 14. Juni 2020 fanden in Saalfeld OT Wöhlsdorf (Thüringen) in einem so genannten "Gemeinwohlrestaurant" Veranstaltungen mit etwa 20 KRD-Anhängern statt. Der Betreiber der Gaststätte ist beim KRD als Gewerbetreibender eingetragen. Er berichtete in mehreren Interviews, dass er daher von deutschen Behörden nicht mehr behelligt werde. So müsse er angeblich weder Steuern zahlen noch die Corona-Eindämmungsmaßnahmen beachten. Offensichtlich sollte mit den Videos Werbung für FITZEKS Ideen gemacht werden, in denen es darum geht, dass man als Bestandteil des KRD unabhängig von deutschen Behörden sei und daher die geltenden gesetzlichen Regeln, auch im Kontext der Corona-Pandemie, nicht beachtet werden müssten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 125 ReichsbüRgeRszene Herausragend in der Betrachtung dieser Treffen war eine Veranstaltung am 15. November 2020, die in der vorgenannten Gaststätte stattfand und welche die Polizei aufgrund von CoronaVerstößen aufgelöst hatte. Es trafen sich namhafte Vertreter der "Querdenken"-Bewegung und deren Anhänger in Thüringen, um sich mit FITZEK auszutauschen. Herauszuheben ist die Anwesenheit des führenden Kopfes der "Querdenken 711"-Gruppierung Michael BALLWEG aus Baden-Württemberg, der stets betonte, nichts mit "Reichsbürgern" zu tun haben zu wollen. FITZEK trat bei der Veranstaltung als einziger Redner auf und warb wie gewohnt für seine Ideen. "Amt für Menschenrecht" Das "Amt für Menschenrecht" agiert bundesweit. Es handelt sich hierbei um eine Gruppierung der zahlreichen "Reichsregierungen". Sie tritt unter wechselnden Bezeichnungen wie "Internationales Zentrum für Menschenrechte", "Internationales Zentrum Menschenrecht", "Gerichtshof der Menschen", "Akademie für Menschenrechte" auf. Führungsperson ist Mustafa Selim SÜRMELI (Stade/Niedersachsen). SÜRMELI ist schuldunfähig und kann strafrechtlich nicht belangt werden. Im Januar 2020 veranstaltete die Gruppierung in einem Gartenlokal in Halle (Saale) ein Seminar zu den Themen "Bewusstsein, Quantenkommunikation bzw. Schulung von Rechtsbeiständen" . Es nahmen Personen aus Sachsen-Anhalt und anderen Bundesländern teil. "Verfassunggebende Versammlung" (VV) Die "Verfassungsgebende Versammlung" wurde laut Eigenangabe im Internet im Oktober 2015 "in den rechtswirksamen Stand" 126 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 ReichsbüRgeRszene versetzt. Sie lehnt die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und das Grundgesetz mit der gesamten Rechtsordnung ab. Sie tritt meist im virtuellen Raum in Erscheinung. Die VV versucht parallelstaatliche Strukturen aufzubauen, die im Ergebnis die Ablösung des existierenden und Schaffung eines neuen Staates nach eigenen Vorgaben zum Ziel haben. In Sachsen-Anhalt werden etwa 20 Personen der VV zugerechnet. "Gemeindeamt Schinne" Das "Gemeindeamt Schinne" gründete sich 2019. Dabei handelt sich um eine selbsternannte Scheinverwaltung, die von einem "Reichsbürger" aus Bismarck OT Schinne (Landkreis Stendal) angeführt wird und sich unabhängig von der Bundesrepublik Deutschland sieht. Die Anhänger berufen sich auf den Staat Preußen und behaupten, die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland seien unwirksam. Ziel ist es, eine Art Parallelverwaltung aufzubauen. Der Protagonist des "Gemeindeamt Schinne" wendet sich als verantwortlicher Vertreter von anderen "Reichsbürgern" an Behörden und gibt "Rechtsauskünfte". Mittlerweile werden eigene Ausweisdokumente und KFZ-Kennzeichen vertrieben. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 127 ReichsbüRgeRszene "Gemeine Petersberg und Niemberg" Im Berichtszeitraum wurden an eine Vielzahl von Verwaltungsinstitutionen im südlichen Sachsen-Anhalt Fantasie-Dokumente versandt, die eine "Gemeine Petersberg" und eine "Gemeine Niemberg" als Teil der "Landschaft Sachsen" in eine "Gebietsverwaltung" erhoben und sich mit einer Art Gründungsurkunde als unabhängiges Hoheitsgebiet darstellten. Weitere Aktivitäten von "Reichsbürgern" Am 3. September 2020 stellte ein Notarzt in einer Wohnung in Wefensleben (Landkreis Börde) den Tod eines einjährigen Jungen fest. Vor Ort konnte lediglich der 37-jährige Kindsvater angetroffen werden. Die 43-jährige Mutter hatte mit drei weiteren Kindern bereits die Wohnung in unbekannte Richtung verlassen. Bei der Obduktion des Kindes wurde festgestellt, dass eine nicht behandelte Mittelohrentzündung eine Sepsis entwickelt hatte, die todesursächlich war. Laut des rechtsmedizinischen Gutachtens wäre ein tödlicher Verlauf bei entsprechender medizinischer Behandlung vermeidbar gewesen. Die Staatsanwaltschaft Magdeburg beantragte Haftbefehle gegen die Kindsmutter und den Kindsvater, der im Vorfeld einschlägig als "Reichsbürger" in Erscheinung getreten war. Vermutlich ist auch das Weltbild der "Selbstverwalter"-Szene, welcher der Kindsvater angehörte, mit ursächlich für das tragische Geschehen. Seit dem 3. Quartal 2020 finden im Bereich der Bundesstraße B81, in der Ortslage Gröningen OT Heynburg (Landkreis Börde) regelmäßig Versammlungen statt, die starke Bezüge zur Reichsbürgerszene aufweisen. Preußische und Kaiserreichsflaggen werden geschwungen und es ist ein Pappschild mit dem Schriftzug: "Für die Zukunft unserer Kinder" aufgestellt. Ebenso wird regelmäßig ein Plakat gezeigt, auf dem: "Macht so weiter und ihr werdet alles verlieren" vermerkt ist. Die so genannten "Mahnwachen" stehen unter dem Motto: "Für Frieden und Freiheit". 128 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 ReichsbüRgeRszene Diese Versammlungen stehen im Kontext zum Protestverhalten an mehreren Bundesstraßen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Hier protestiert ein sehr gemischter Teilnehmerkreis bestehend aus "Reichsbürgern", Rechtsextremisten aber auch Teilnehmern aus dem nicht-extremistischen Bereich mit Fahnen und Transparenten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Bewertungen, Tendenzen, Ausblicke Die systematische Auswertung von Vorkommnissen mit eindeutigem Reichsbürgerbezug verdeutlicht, dass die Szene vielfältige Aktivitäten sowohl in der Realwelt als auch im virtuellen Raum entwickelt. In Sachsen-Anhalt ist die "Vielschreiberei" und die unmittelbare Konfrontation mit Behörden und Ämtern die gängige Strategie, zumeist begangen von Einzelpersonen. Dazu zählt ebenfalls das Versenden von seitenlangen pseudojuristischen Argumentationen, um staatliche Restriktionen zu umgehen. Des Weiteren zeigt sich eine immer weiter zunehmende Vernetzung der Szene. Hierzu bietet das Internet mit seinen SocialMedia-Kanälen und Online-Foren eine bestmögliche Basis. Es ist davon auszugehen, dass die Szene infolge der Corona-Pandemie Zulauf erhält. Dies hat mit verschiedenen Faktoren zu tun. Zum einen treten zunehmende Existenzängste in einzelnen Bevölkerungsteilen auf den Plan, die eine Radikalisierung beschleunigen können. Zum anderen erzeugen verschiedene extremistische Strömungen das Bild, dass der Staat schwächer wird und die Kontrolle verliert. In der Gesamtschau ist daher mit einem Anstieg der Personenzahl zu rechnen, die sich der Reichsbürgerszene zugehörig fühlen oder zumindest deren Argumentationsmuster nutzen, um sich gegen den Staat "zu wehren". Eine entsprechende Tendenz war bereits zum Ende des Berichtszeitraums zu erkennen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 129 ReichsbüRgeRszene Ein sich fortsetzender Schwerpunkt der Betrachtung sind "Reichsbürger", die über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügen und sich waffenaffin zeigen. Daher gehört der Analyse des legalen Waffenbesitzes von "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" weiter größte Aufmerksamkeit. Etwa fünf Prozent des Personenpotenzials in Sachsen-Anhalt ist im Besitz einer waffenrechtlichen Erlaubnis. Die zuständigen Waffenbehörden wurden und werden über vorliegende Erkenntnisse bei Personen, die der Reichsbürgerszene angehören, in Kenntnis gesetzt. 130 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus LINKSEXTREMISMUS Linksextremismus als heterogenes Phänomen stellt ein Sammelbecken für unterschiedliche Strömungen dar, die jeweils gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Bei aller Vielschichtigkeit wissen sich Linksextremisten in der Verabsolutierung der menschlichen Fundamentalgleichheit einig, aus der sie denkbar radikale Konsequenzen ziehen. Das Ziel ist die totale Befreiung des Menschen aus allen gesellschaftlichen, politischen oder sozio-ökonomischen Zwängen und die Errichtung einer herrschaftsbzw. klassenlosen Ordnung. In dem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit haben sich mit der Zeit die unterschiedlichsten Ideologien innerhalb des Linksextremismus ausgebildet. Je nach Ansatz soll das Ziel einer Gesellschaftsformation der Freien und Gleichen im Wege der Diktatur einer zentralistischen (Einheits)Partei, einer dezentralen Selbstorganisation oder mit der Abschaffung jeglicher Staatsund Herrschaftsstruktur erreicht werden. All diese Wege richten sich jedoch gegen die Werte und Verfahrensregeln des demokratischen Verfassungsstaates, dessen Bestand Linksextremisten angreifen und auf revolutionärem Wege überwinden wollen. Ideologie Alle linksextremistischen Strömungen lassen sich auf die ideengeschichtlichen Ideologiefamilien von Kommunismus auf der einen und den Anarchismus auf der anderen Seite zurückführen. Während beide Phänomene in der Vorstellung von einer befreiten Gesellschaft als utopisches Endziel übereinstimmen, unterscheiden sie sich doch in der Vorstellung davon, wie dies zu erreichen sei. So schließen anarchistische Ideologien aus ihrem übersteigerten Gleichheitspostulat auf einen absoluten Freiheitsgedanken im Sinne einer herrschaftslosen Gesellschaft. Damit lehnen sie den Staat, jedwede gesellschaftliche Ordnung und die damit einhergehenden Regeln für das Miteinander ab. Das individuVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 131 Linksextremismus elle Freiheitsrecht rückt in den Mittelpunkt ihrer Ideologie, so dass bereits in dem eigenen Tun und Handeln das revolutionäre Moment vorgelebt werden soll. Das Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit und die grenzenlose Vernunft des Menschen bilden die ideologischen Eckpfeiler und bedingen eine gewisse Skepsis gegenüber politischen Theorien, was sich nicht zuletzt in einer stets wiederkehrenden Anti-Haltung verdeutlicht. "Bekämpfe alle Regierungen Es gibt keine (politische) Autorität, nur dich selbst" Diese Aussage verdeutlicht die anarchistische Weltsicht und die uneingeschränkte Orientierung an den persönlichen Idealen und Vorstellungen. Von dieser Bewertung der individuellen Freiheitsrechte unterscheidet sich der Kommunismus. Im Sinne der umfassenden Ausweitung des Gleichheitspostulats auf eine Vielzahl von gesellschaftlichen Dimensionen wird primär der Kapitalismus bekämpft. Dafür soll das bestehende politische System auf revolutionärem Wege zerschlagen und von einer "Diktatur des Proletariats" abgelöst werden. Eine "proletarische Avantgarde" bringt in einer Übergangsphase des Sozialismus den Staat zum Absterben und ersetzt ihn schließlich mit der Etablierung einer klassenlosen (Welt-)Gesellschaft. Wie das Vorgehen und die dabei zu treffenden Maßnahmen in der Praxis letztlich zu organisieren seien, begründen das ungebrochene Theoriebewusstsein kommunistischer Gruppierungen und der Rückgriff auf ihre geistigen Väter wie Marx, Lenin, Trotzki, Stalin oder Mao. Nicht nur vor diesem Hintergrund stehen Kommunisten und Anarchisten in einem gewissen Spannungsverhältnis, untergräbt die Verabsolutierung kollektiver Gleichheitsrechte in der 132 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus marxistischen Revolution doch systematisch die individuellen Freiheitsrechte. Eine Zusammenarbeit gibt es wiederum dort, wo soziale Problemlagen für die revolutionären Ziele eingespannt und im Sinne einer vorgeschobenen Gesellschaftskritik instrumentalisiert werden können. Personenpotenzial Die linksextremistische Szene bedient sich unterschiedlicher Mittel, um auf die Gesellschaft einzuwirken und diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. So gründen parlamentsund organisationsorientierte Linksextremisten Parteien bzw. Gruppen, mit denen sie einen legalistischen Weg einschlagen, um an Wahlen teilzunehmen bzw. öffentlich für ihre Agenda zu werben. Dagegen versuchen diskursorientierte Linksextremisten die demokratische Gesellschaft auf einer metapolitischen Ebene anzugehen und auf das Moment eines revolutionären Wandels hinzuarbeiten. Von diesen gewaltlosen Strategien unterscheiden sich die aktionsorientierten Gruppierungen. Vor allem die Autonomen wählen das Mittel der Gewalt, um mit Ausschreitungen, Anschlägen oder Überfällen ihre linksextremistischen Ziele zu erreichen. Unabhängig von der jeweiligen Strategie arbeiten alle Linksextremisten auf eine Zielsetzung hin, die über kurz oder lang auf die Abschaffung der demokratischen Rechtsund Gesellschaftsform hinausläuft. Das entsprechende Personenpotenzial in Sachsen-Anhalt ist im Berichtszeitraum weiter gestiegen und stellt sich wie folgt dar: Linksextremisten 2018 2019 2020 Gewaltorientierte Linksextremisten 270 290 300 Nicht gewaltorientierte 260 260 290 Linksextremisten Gesamt: 530 550 590 (Zahlen zum Teil geschätzt und gerundet) Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 133 Linksextremismus Wie schon in den Vorjahren war es vor allem ein Mitgliederzuwachs im gewaltunterstützenden Umfeld der "Roten Hilfe" (RH), der für den Anstieg des Personenpotenzials verantwortlich ist. Dagegen hält der Abwärtstrend nicht nur bei den linksextremistischen Parteien unvermindert an, auch unter den gewaltorientierten Linksextremisten lässt sich eine Verschiebung beobachten. Während klassisch aktionsorientierte Gruppen der autonomen und antiimperialistischen Szene kaum neue Akteure dazugewinnen, sind es vor allem Anarchosyndikalisten,1 die einen Zuwachs ihrer Mitgliederzahl zu verzeichnen hatten. Weiterhin ist von Doppelmitgliedschaften auszugehen, da Angehörige der autonomen Szene oftmals Mitglieder in der RH sind. Nichtsdestoweniger sind über die Hälfte der Linksextremisten im gewaltorientierten Spektrum zu verorten. Sie bilden damit eine der größten Herausforderungen für den demokratischen Verfassungsstaat. Die linksextremistische Szene während der Corona-Pandemie Die Entwicklung des Linksextremismus in Sachsen-Anhalt war vor allem von der Corona-Pandemie geprägt. Dabei zeigte sich die linksextremistische Szene mit Blick auf die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus indifferent. So versuchten große Teile den Gesundheitsschutz zwar als berechtigtes Anliegen herauszustellen, doch wurden die staatlichen Eindämmungsmaßnahmen dennoch als Ausdruck eines autoritären Staates gedeutet. In diesem Spannungsfeld gestaltete es sich für die Linksextremisten schwierig, eine geeignete Strategie im Umgang mit der Pandemie zu finden. 1 - Syndikalisten sind gewerkschaftlich organisierte Anarchisten; siehe dazu auch Seite 151. 134 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Vielmehr reagierte die linksextremistische Szene auf die CoronaProtestbewegung mit den üblichen antifaschistischen Aktionsstrukturen. Begünstigt wurde dies vor allem von der Vermischung eines rechtsextremistischen Protestes2 mit informellen Strukturen und Einzelpersonen aus dem nicht-extremistischen Bereich (insbesondere Impfgegnern, Verschwörungstheoretikern und Leugnern einer tatsächlichen vom Corona-Virus ausgehenden Gefahr). Die linksextremistische Auffassung des Antifaschismus zeichnete jedoch schnell ein Schwarz-Weiß-Bild. Nicht nur Rechtsextremisten, sondern jede Form des Protestes gegen die Eindämmungsmaßnahmen wurde unter das antifaschistische Feindbild gefasst. Exemplarisch für diese Entwicklung steht der Angriff auf ein Cafe in Halle (Saale). In der Nacht auf den 7. November 2020 schmissen Unbekannte die Scheiben ein und riefen in dem auf de.Indymedia.org veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben dazu auf, die "Melange aus Verschwörungstheoretikern, Neonazis, Identitären und Friedensbewegten [...] mit allen Mitteln zu bekämpfen". Damit zeigte sich in der Corona-Pandemie abermals die Grenzenlosigkeit der antifaschistischen Feindbildkonstruktion. Wo unter den Einschränkungsmaßnahmen die direkte Konfrontationsgewalt mit Rechtsextremisten ausblieb, suchten sich Linksextremisten sogleich neue Angriffsziele, um ihrer allgemeinen Gewaltorientierung Geltung zu verschaffen. Die Anlässe hierfür können so willkürlich sein, wie es die Corona-Pandemie und die damit einhergehende Feindbildkonstruktion unter dem Antifaschismus ist. Wenngleich die linksextremistische Szene mit fortdauerndem Pandemieverlauf dazu aufrief, neue Strategien im Umgang mit der Corona-Protestbewegung zu suchen, blieb sie aufgrund ihrer einseitigen Fixierung auf den Antifaschismus doch im standardisierten Aktionsspektrum verhaftet. Dabei ist der ausgreifende Antifaschismus des autonomen Spektrums kein Alleinstellungsmerkmal in der Szene. So waren es vor allem die marxistisch geprägten Gruppen, welche die flächendeckend in Kraft getrete- 2 - siehe dazu Seite 93 ff. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 135 Linksextremismus nen staatlichen Eindämmungsmaßnahmen als Ausdruck eines fortwährenden Klassenkampfes deuteten. In einem Strategiepapier äußerten sich etwa die Antiimperialisten von "Zusammen Kämpfen" (ZK) aus Magdeburg unter der Überschrift "Corona, Kapitalismus, Ausnahmezustand". Diese betrachteten die Auswirkungen der Pandemie vor dem Hintergrund ihres orthodoxmarxistisches Weltbildes: Mit der Corona-Pandemie würde die Krise des Kapitalismus über die Verwerfungen im Gesundheitssektor mittelbar zutage treten und sich vor allem auf die gesellschaftlichen Schichten der "Arbeiterklasse" niederschlagen. Beschleunigt von der Pandemie seien es dementsprechend die Fragen der "eigenen" Klasse, die es seit jeher im Kapitalismus zu beantworten gelte. Vor diesem Hintergrund bemühte sich ein Teil der linksextremistischen Szene in Magdeburg darum, eine Art "Nachbarschaftshilfe" aufzubauen. Ausgehend von dem Szeneobjekt in der Friesenstraße 52 ("F52") organisierten die Linksextremisten Hilfsangebote bei Einkäufen, Arztbesuchen oder der Arbeitsplatzsuche, um die negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie abzufangen. So zeigte sich anhand einer unkritischen Pod136 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus castfolge, die "zwei Studierende des Master-Studiengangs Journalismus" mit Verantwortlichen des "F52" geführt und auf der Internetseite des Campusradios veröffentlicht hatten, dass die "Nachbarschaftshilfe" ein weiterer linksextremistischer Entgrenzungsversuch ist, um die Barriere zwischen Linksextremismus und Zivilgesellschaft zu überwinden. Wenngleich diese Stadtteilarbeit kaum Resonanz in der Bevölkerung entfaltete, wurde sie dennoch als revolutionäres Moment zur Überwindung des Kapitalismus und der Einführung eines Mit Plakaten wie diesem sozialistischen Gesellschaftssyssuggieren Linksextremisten tems propagiert. eine offizielle Zusammenarbeit mit dem Einzelhandel. Insgesamt gesehen war die linksextremistische Szene nicht in der Lage, die Corona-Pandemie in ihrem Sinne zu nutzen. Unter den immer gleichen Parolen und Aktionsschwerpunkten trat "Corona" lediglich als neuer Begründungszusammenhang hervor. In diesem Sinne deutet sich eine weitgehende Verunsicherung in Teilen der linksextremistischen Szene an. Während alte Ideologiefragmente und darauf aufbauende Handlungsmuster nicht länger greifen, erweist sich die Szene als unfähig, auf diese Entwicklung zu reagieren. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 137 Linksextremismus Gewaltorientierte Linksextremisten Sitz Schwerpunktregionen in Magdeburg, Halle Verbreitung (Saale) und Burg (Landkreis Jerichower Land) Bundesweite Verteilung mit lokalen Hochburgen, vorwiegend in Großstädten Gründung Ende der 1970er Jahre als Ausläufer der Studentenbewegung, der Sponti-Szene und der PunkSubkultur; seit Anfang der 1990er Jahre in allen Bundesländern. Struktur Gewaltorientierte Linksextremisten bilden keine Aufbau strukturelle Einheit, sondern sind heterogen aufgestellt. Im überwiegenden Teil prägen Autonome dieses Spektrum des Linksextremismus. Weitere gewaltorientierte Akteure sind Antiimperialisten oder Anarchisten. Ihrem Selbstverständnis entsprechend sind Autonome hierarchiefeindlich und lehnen festgefügte Organisationen bzw. Strukturen ab. Vielmehr steht bei ihnen die bedingungslose Freiheit des Individuums im Mittelpunkt ihres Handelns. Aktionen gehen von anlassbezogenen Kleingruppen aus, die in stetig wechselnder Zusammensetzung und Namensgebung den Organisationsschwerpunkt der Autonomen darstellen. Antiimperialisten bilden weitgehend feste Strukturen aus. Aus einer ideologischen Fixierung folgt eine stärkere Gruppenbindung. Je dogmatischer Antiimperialisten auftreten, desto eher sind sie von den Autonomen zu unterscheiden. Anarchisten lehnen grundsätzlich jegliche Herrschaftsform ab. Feste Strukturen bilden lediglich syndikalistische Anarchisten aus. Sie organisieren sich in Form von Gewerkschaften, vertreten 138 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus dabei jedoch anarchistische Prinzipien. Im Internet bewegen sich gewaltorientierte Linksextremisten durchgehend konspirativ. Sie bedienen sich der Kommunikationsangebote von Linksextremisten für Linksextremisten, insbesondere um Aktionen zu planen, Gewalttaten in Selbstbezichtigungsschreiben zu rechtfertigen oder aber sich als Gruppe öffentlich zu präsentieren, ohne dass Rückschlüsse auf die dahinter stehenden Personen gezogen werden können. Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 300 gewaltorientierte Anhänger Linksextremisten, insbesondere Autonome (2019: 290) Bundesweit: 9.600 gewaltorientierte Linksextremisten, darunter 7.500 Autonome (2019: 9.200 / 7.400) VeröffentWeb-Angebote: lichungen Selbstdarstellungen, Aufrufe zu Demonstrationen oder andere Aktivitäten auf szenebezogenen Blogs und Internetseiten, vor allem "riseup", "noblogs", "blackblogs" oder "systemli"; Selbstbezichtigungsschreiben (SBS) nach Gewalttaten anonym auf "de.indymedia.org"; soziale Netzwerke wie "Twitter" und "Instagram" Publikationen: Szenepublikationen spielen kaum noch eine Rolle. Einzelne Akteure oder Gruppen publizieren gelegentlich in linksextremistischen Zeitungen und Zeitschriften wie "junge Welt" oder "analyse & kritik". Finanzierung Spenden, Solidaritätskonzerte oder -partys für anlassbezogene Aktionen und Kampagnen, insbesondere für "Opfer staatlicher Repressionen", Einnahmen aus dem Barbetrieb in den linksextremistischen Szeneobjekten Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 139 Linksextremismus Portrait / Ziele Aus der Bandbreite kommunistischer und anarchistischer Ideologien und Ideen begründet sich die Heterogenität der linksextremistischen Szene. Diese lässt sich nicht nur nach den zugrunde gelegten Weltbildern und Zielen unterscheiden, sondern vor allem nach der Wahl der Mittel und der damit einhergehenden Strategie. In Sachsen-Anhalt lässt sich die linksextremistische Szene insbesondere in vier Spektren unterscheiden: (Post-)Autonome, Antiimperialisten, Antideutsche und Anarchisten. (Post-)Autonome Autonome bilden den Schwerpunkt im gewaltorienten Linksextremismus. Dies gilt sowohl für das Personenpotenzial als auch für das der Szene innewohnende Gewaltverständnis. Autonome beziehen ihr Selbstverständnis nicht aus einem spezifischen Ideologiekonstrukt. Vielmehr ist die Szene von einer weitreichenden Theoriefeindlichkeit und Anti-Haltung geprägt, die nicht zuletzt auf einem diffusen Verständnis zwischen Anarchismus und Kommunismus aufbaut. Autonome setzen die bedingungslose Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt all ihres Handelns. Im Zuge dieser "Politik der ersten Person" ergreifen sie ein Moment der politischen Selbstermächtigung und bekämpfen alles, was ihrem persönlichen Freiheitsempfinden entgegensteht. Gewalt und Militanz sind dementsprechend nicht nur ein strategisches Mittel, sondern prägendes Element der Szene. Vor diesem Hintergrund lehnen Autonome Hierarchien und jede Form von Herrschaft konsequent ab. Was Autonome verbindet, ist eine Form des subjektiven und emotionalen Empfindens, das sich vor allem über die Affirmation der Gewalt einstellt und sich vor allem auf Demonstrationen zeigt. Hier geht die propagierte Individualität in der militanten Masse des "Schwarzen Blocks" auf. Dieser schafft Anonymität und damit Schutz für den Einzelnen und wird zugleich als identitätsstiftendes Moment wahrgenommen. Eine Demonstration ist für 140 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Autonome daher erst dann ein Erfolg, wenn es zu Ausschreitungen und Angriffen auf Polizei und den politischen Gegner kam. Den scheinbar spontan auftretenden Gewalttaten auf Demonstrationen gehen häufig konkrete Planungen voraus, so dass etwa im Verlauf der Aufmarschstrecke Steindepots angelegt oder Vermummung und Wurfgeschosse mitgeführt werden. Mittlerweile schaffen es die Autonomen jedoch eher selten, dieses kollektive Moment der Militanz auf die Straße zu tragen. Zunehmend erfolgt ein Fokussieren auf klandestine Aktionen. Einzelne Akteure schließen sich zu Kleinstgruppen zusammen. Unter hoher Planungsintensität und konkreter Zielbestimmung begehen sie (Brand-)Anschläge gegen Personen oder symbolträchtige Objekte wie Fahrzeuge, Gebäude, sensible Infrastruktur. Es kommt dabei zu Teils erheblichen Sachschäden und immer häufiger werden schwere und schwerste Verletzungen von Menschen in Kauf genommen. Die offene Gewaltbereitschaft und die fehlende inhaltliche Breite zeugen von einer zunehmenden Selbstbezogenheit der Autonomen. Statt gezielt auf gesellschaftliche Problemlagen einzuwirken, werden diese lediglich als vorgeschobene Rechtfertigung für die eigene Militanz genutzt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 141 Linksextremismus In Reaktion auf die ideologische Bedeutungslosigkeit, die fehlende Einflussnahme sowie Anschlussfähigkeit bildeten sich die Postautonomen heraus. Diese formieren sich vorwiegend in überregionalen Netzwerken, sind marxistisch geprägt und suggerieren nach außen einen ideologischen Minimalkonsens. Ihr Ziel ist revolutionärer Umsturz, um so den "bürgerlichen Staat" und mit ihm den "Kapitalismus" zu überwinden. Mit einer breiten Bündnispolitik bringen sie linksextremistische Akteure unterschiedlicher ideologischer Prägung zusammen. Dazu instrumentalisieren Postautonome auf der einen Seite eine Fülle von gesellschaftlichen Protestbewegungen. Hierüber sichern sie sich Einfluss auf den öffentlichen Diskurs und versuchen diesen im eigenen Sinne zu lenken. Auf der anderen Seite arbeiten sie mit gewaltorientierten Autonomen zusammen. Auch wenn sie sich vordergründig nicht an gewalttätigen Ausschreitungen beteiligen, so sehen sie in der Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. In dieser Stellung nehmen Postautonome eine "Scharnierfunktion" ein. Antiimperialisten und Antideutsche Basierend auf Lenins Schrift "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" gehört der Antiimperialismus seit jeher zum ideologischen Fundament der linksextremistischen Szene. Nach Lenin seien kapitalistische Staaten in ihrem Streben nach Profitmaximierung stets auf der Suche nach neuen Rohstoffen, Absatzmärkten und billigen Arbeitskräften. Notfalls würden sie sich diese gewaltsam aneignen, was unweigerlich zu Kolonialismus und Kriegen führe. Vor diesem Hintergrund vertreten Antiimperialisten ideologisch einen orthodoxen Marxismus-Leninismus, sie orientieren sich mehrheitlich an einem kollektivistischen Ansatz. Für sie steht nicht die Freiheit des Individuums im Mittelpunkt, sondern der "Kampf der Klassen". In ihren festgefahrenen Polarisierungskategorien argumentieren Antiimperialisten daher auf individueller Ebene in einem Dualismus von ausgebeuteten Arbeitern 142 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus und ausbeutenden Kapitalisten. Im weltpolitischen Rahmen treffen sie die Unterscheidung von unterdrückten Völkern und unterdrückenden Staaten, insbesondere in der Phase der Dekolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und der zunehmenden staatlichen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien in Asien und Afrika. Wobei sich die Solidarität oftmals nur auf die Befreiungsbewegungen beschränkte, die ein sozialistisches Regime errichten wollten. Ein Aspekt in dieser Sichtweise, der auch heute noch relevant ist, ist dabei der anitimperialistische Blick auf Israel. Insbesondere seit dem israelischen Erfolg im Sechstagekrieg sehen Antiimperialsten den jüdischen Staat nicht mehr als Heimstatt der im Holocaust Verfolgten. Vielmehr unterstellen sie Israel eine "kolonialistische Ausbeutung" Palästinas und haben daher eine dezidiert antiisraelische Haltung. In diesem oft scharfen Antizionismus unterstützen sie bedinglos die Palästinenser und gleiten dann in einen Antisemitismus ab, wenn Israel und folglich die Juden als homogenes Feindbild angesehen werden. Aufgrund dieser Positionen bildete sich hierzu als Gegenpol Anfang der 1990er Jahre eine antideutsche Strömung. Diese entfaltet bundesweit gesehen zwar kaum noch Außenwirkung, ist in Sachsen-Anhalt jedoch von ungebrochener Aktualität, was sich auch geographisch abbilden lässt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 143 Linksextremismus Antideutsche Unterstützung Israels (Merkava ist eine Serie israelischer Kampfpanzer) Während sich Mitte der 2000er Jahre eine Vielzahl von Gruppen im Spektrum der Autonomen als antideutsch verstanden, ist dies heute eine Zuschreibung von außen. Dergestalt existiert eine eigenständige antideutsche Szene nicht mehr - ihre Ideologiefragmente sind jedoch noch immer in Teilen des Linksextremismus zu finden. Die Wurzeln der Antideutschen liegen dabei in den Protesten gegen die deutsche Wiedervereinigung. Man befürchtete, dass nunmehr ein "Viertes Reich" entstehen würde, das unmittelbar an die nationalsozialistische Vergangenheit anknüpfen könnte. In einer monokausalen Fixierung auf die deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus rückten die Antideutschen nunmehr den Antisemitismus in das ideologische Blickfeld. Dadurch begannen sie sich vom "Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu lösen - zunächst als "Selbstbestimmungsrecht der Deutschen", doch schon bald als ideologisches Fragment des Antiimperialismus. In der Folge zogen die Antideutschen nicht länger die Konfliktlinien des Kalten Krieges, Klassenkampf und Antiimperialismus zur Erklärung der weltpolitischen Ereignisse heran. Vielmehr traten nun der Holocaust und die damit verbundene Staatsgründung Israels in ihr Bewusstsein. Unter dem Einfluss der "Kritischen Theorie" standen die Antideutschen mit den Anschlägen vom 11. September 2001 an der Seite Israels, spätestens mit dem Krieg im Irak 2004 auch an der Seite der USA. Im Bewusstsein einer "Dialektik der Aufklärung" wurden nun die Werte des Westens (Individualität, Freiheit und Gleichheit) gegen die Ideologien der Regression (Nationalsozialismus, Islamismus, marxistisch-leninistischer Antiimperialismus) verteidigt. Dabei begreifen Antideutsche den Antisemitismus nicht ausschließlich als Feindschaft ge144 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus genüber Juden, sondern immer auch als eine materialistische Komponente, die aus dem "kapitalistischen System" entstehe. In diesem Sinne verwerfen sie auch den "Massenansatz" im traditionellen Linksextremismus. Während orthodoxe Marxisten-Leninisten versuchen, die Arbeiterklasse für die revolutionäre Umwälzung zu mobilisieren, sehen die Antideutschen in dem Holocaust einen kollektiven Akt der "deutschen Volksgemeinschaft", zu der eben auch die Klasse der Arbeiter und nicht allein die Kapitalisten gehört hätten. Dementsprechend richtet sich die Strategie der Antideutschen weniger auf die Umsetzung eines revolutionären Umbruchs als vielmehr auf die Verhinderung einer Revolution unter den falschen Vorzeichen. Kritik und Provokation sind dabei die Mittel, welche antideutsch beeinflusste Gruppen in der Auseinandersetzung mit ihren politischen Gegnern - hier vor allem den Antiimperialisten - ins Feld führen. Seither geht es bei diesem innerlinken Konflikt vor allem um die Ausdeutung des Antifaschismus. Zwar bekämpfen beide Seiten die Rechtsextremisten, doch bedingt ein unterschiedlicher Begründungszusammenhang eine verschobene Feindbildkonstruktion. Antiimperialisten argumentieren weitgehend materialistisch, das heißt sie sehen die Wurzeln des Nationalsozialismus (sie sprechen unterschiedslos vom Faschismus) im Kapitalismus, wodurch nicht nur Rechtsextremisten unter das Feindbild im Antifaschismus fallen, sondern auch Polizisten, Kapitalisten oder konservative Kräfte. Die Antideutschen argumentieren dagegen vermehrt auf einer historisch-ideellen Ebene, wodurch sie den Nationalsozialismus als Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 145 Linksextremismus Referenzrahmen heranziehen und auf dieser Grundlage neben Rechtsextremisten auch Islamisten (sie sprechen vom Islamofaschismus) zu ihren Gegnern zählen. Für Sachsen-Anhalt ergibt sich folgende Besonderheit: Mit den Städten Magdeburg, Salzwedel (Altmarkkreis Salzwedel) und Burg (Jerichower Land) herrscht im Landesnorden eine ausgesprochen antiimperialistische Szene vor, während der Landessüden mit Halle (Saale) als Zentrum vor allem antideutsch geprägt ist. Aufgrund dessen ist eine landesweite Zusammenarbeit der linksextremistischen Szene in Sachsen-Anhalt kaum möglich. Beim Zusammentreffen der verfeindeten Lager kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen. Anarchisten Anarchisten berufen sich nicht auf ein starres Ideologiegebäude, kennzeichnend sind eine Vielzahl an Strömungen, die mehr oder weniger stringent nebeneinander existieren. Während alle Anarchisten mit der verabsolutierten Freiheit und Einsichtsfähigkeit des Individuums die prinzipielle Realisierbarkeit einer herrschaftslosen Ordnung begründen, unterscheiden sie sich in Stellung des Individuums, in der Frage der Gewalt und dem Grad der Organisation. Zu unterscheiden ist zwischen individualistischem und einem kollektivistischem Anarchismus sowie zwischen pazifistischem und aufständischem Anarchismus. Dabei konnte einzig der gewerkschaftlich organisierte Anarchismus eine gewisse gesellschaftspolitische Stringenz entwickeln und existiert bis heute als Anarchosyndikalismus. Bei aller Heterogenität werden gewaltorientierte Linksextremisten auf den immer gleichen Aktionsfeldern aktiv. Neben dem Antikapitalismus als "Urthema" beziehen sich linksextremistische Aktionen vor allem auf den Antifaschismus, die Antirepression und den Antirassismus. Während sich auf Aktionsfeldern wie dem Antimilitarismus immer seltener Ansätze für gewaltorientierte Linksextremisten finden lassen, sind andere neu 146 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus hinzugetreten, wie etwa eine linksextremistische Beeinflussung der Protestbewegung zum Klimaschutz. Grund der Beobachtung In einer Verabsolutierung der Werte von Freiheit und Gleichheit richten sich gewaltorientierte Linksextremisten gegen die bestehende demokratische Staatsund Gesellschaftsordnung. Missstände in der Demokratie sollen nicht gelöst, sondern mitsamt ihrer freiheitlichen Verfassungsordnung abgeschafft werden. Unabhängig von den divergierenden Zielen sehen alle Akteuren und Gruppen dieser Szene Gewalt als ein legitimes Mittel an. Diese politisch bestimmten Verhaltensweisen - insbesondere das Ablehnen des staatlichen Gewaltmonopols bei gleichzeitigem Befürworten von Gewalt, um die eigenen politischen Ziele durchzusetzen - sind mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die gewaltorientierte linksextremistische Szene in Sachsen-Anhalt lässt sich sowohl ideologisch als auch strukturell in mehrere Zentren einordnen. Weitgehend feste Strukturen bestehen lediglich in Magdeburg und Burg, im übrigen Land ist der Organisationsgrad eher locker. Im Berichtsjahr waren vor allem folgende Gruppierungen aktiv: "Zusammen kämpfen" (ZK) ZK ist eine antiimperialistische Gruppe aus Magdeburg, die sich seit 2008 als "Teil der weltweit kämpfenden revolutionären Linken" versteht. ZK beteuert, sich nicht an Dogmen zu orientieren. Gleichwohl fußen die ideologischen Grundlagen der Gruppe auf einem orthodoxen Kommunismusverständnis, vor allem im Sinne von Marx und Lenin. Dementsprechend sieht sich ZK als Teil eines Versuchs der "Selbstorganisation unserer Klasse zur Überwindung von Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 147 Linksextremismus Ausbeutung und Unterdrückung weltweit", wie es in der Selbstdarstellung heißt. So gehörte ZK zu einem Netzwerk antiimperialistischer Gruppen, die sich 2010/2011 in Berlin, Stuttgart (Baden-Württemberg) und Magdeburg zusammenfanden. Von dieser Gruppendynamik ist im Jahr 2020 allerdings nicht viel übrig geblieben. ZK agiert lediglich noch im Umfeld der Magdeburger Szeneobjekte "Infoladen" und "F52". Kontakte bestehen zudem zum Netzwerk "Freiheit für alle politischen Gefangenen", zur Kampagne "Nicht auf unserem Rücken" sowie zur antisemitischen Kampagne "Boycott, Divestment and Sanctions" (BDS). Im Internet ist ZK mit einer eigenen Netzseite aktiv sowie indirekt über das "Redmedia Kollektiv" als den multimedialen Arm der linksextremistischen Szene Magdeburgs. "Proletarische Autonomie Magdeburg" (PAM) Die PAM ist seit 2016 als eine Gruppierung von "AnarchistInnen" und "KommunistInnen" aktiv. Wie die PAM selbst betont, soll vor allem das "Bewusstsein der proletarischen Klasse" organisiert werden, um eine "proletarische Autonomie" von Staat, politischen Parteien oder Gewerkschaften zu schaffen. Dafür hat sie sich in erster Linie der Stadtteilarbeit verschrieben und agierte in der Vergangenheit vornehmlich im Umfeld des "Infoladens". Nicht nur vor diesem Hintergrund steht die PAM in einer gewissen Konkurrenz zur vorgenannten Gruppierung ZK, was sich in einer Rivalität der beiden Gruppen und in ihrem Umfeld widerspiegelt. Die PAM ist ebenfalls im Netzwerk "Freiheit für alle politischen Gefangenen" aktiv. Über das "Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg" befindet sich die PAM zudem im Aktionsfeld der Kurdistansolidarität.1 In Anlehnung an die Magdeburger Regionalzeitung veröffentlicht die PAM unregelmäßig die "Magdeburger Volksstimmung". 1 - siehe dazu auch Seite 214 148 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus "Roter Aufbau Burg" (RAB) Beim RAB handelt es sich um eine kommunistische Gruppe aus Burg (Jerichower Land). Bis zum Ende des Jahres 2017 agierte sie noch unter dem Namen "Antifaschistische Aktion Burg" (AAB), war aber bereits zu dieser Zeit marxistischleninistisch geprägt. Nachdem sich die AAB an den Protesten des "Roten Aufbau Hamburg" gegen den G20-Gipfel beteiligt hatte, trat die Gruppierung anschließend unter dem Label des "Roten Aufbau" auf. Zusammen mit den Ablegern in Hamburg und im Rhein-Ruhr-Gebiet hat es sich der RAB zur Aufgabe gemacht, "linke revolutionäre Politik einer breiten Masse zugänglich zu machen". Die Gruppierung agiert aus dem Burger Szeneobjekt "Rotes Zentrum" heraus und ist vor allem in den Aktionsfeldern Antikapitalismus und Antifaschismus aktiv, auch wenn dies aus marxistisch-leninistischer Sicht letztlich deckungsgleich ist. Ein intensiver Austausch findet mit der Schwesterorganisation in Hamburg und der ebenso dogmatisch auftretenden linksextremistischen Szene Magdeburgs statt. "Antifaschistische Aktion Salzwedel" (AAS) Die AAS agiert seit 2009 in der Hansestadt Salzwedel (Altmarkkreis Salzwedel) als ein loser Zusammenschluss von stetig wechselnden Einzelpersonen. In ihrem theorieund hierarchiefeindlichen Auftreten entspricht das AAS dem Selbstverständnis der autonomen Szene. Sich selbst bezeichnen die Protagonisten schlichtweg als "linksradikale Gruppe". Mit dem "Autonomen Zentrum Kim Hubert" verfügt die AAS über ein eigenes Szeneobjekt, das sie als organisatorisches Zentrum für ihre Aktionen nutzt. Hierbei kommt es immer wieder auch zu einer anlassbezogenen Kooperation mit Linksextremisten aus dem Wendland (Niedersachsen). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 149 Linksextremismus "Offenes Antifaplenum" (OAP) Das OAP versteht sich als ein loser Zusammenschluss und Anlaufpunkt für alle "antifaschistisch interessierten Menschen" innerhalb der linksextremistischen Szene von Halle (Saale). Dabei vertritt das OAP einen dezidiert antideutsch beeinflussten Ansatz. So lehnt das Plenum nicht nur den Antiimperialismus und eine damit verbunden verkürzte Kapitalismuskritik ab, vielmehr kritisiert es auch die poststrukturalistischen Einflüsse und die damit einhergehende Identitätspolitik innerhalb der linksextremistischen Szene. Stattdessen solidarisiert sich das OAP mit dem Staat Israel als "Garant jüdischer Selbstbestimmung in einer antisemitischen Welt, als Konsequenz aus den deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus". In ihrer antideutschen Ausrichtung sieht das OAP im Aktionsfeld des Antifaschismus nicht nur den Rechtsextremismus als politischen Gegner, sondern auch den "politischen Islam". Der Treffpunkt des OAP ist das hallesche Szeneobjekt "Reil 78". Um eine "linksradikale Theorie und Praxis in die Öffentlichkeit zu tragen", wie es in ihrem Selbstanspruch heißt, finden gezielte Aktionen im regionalen Umland statt. Darüber hinaus bestehen Kontakte in die linksextremistische Szene von Erfurt (Thüringen) und Leipzig (Sachsen). "Interventionistische Linke" - Ortsgruppe Halle In Halle (Saale) ist ein Ableger des postautonomen Zusammenschlusses "Interventionistische Linke" (IL) aktiv. Im Rahmen ihrer "Scharnierfunktion" kooperiert die IL mit verschiedenen Bündnissen. Sowohl mit Linksextremisten aus dem gewaltorientierten und dem legalistischen Spektrum, als auch mit Gruppierungen aus dem nicht-extremistischen Bereich. Tätigkeitsschwerpunkte sind Antifaschismus und Antikapitalismus, verknüpft 150 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus wird dies mit Aktionen in den Bereichen der Klimaoder Gesundheitspolitik. Nicht immer wird dabei der linksextremistische Gehalt in dieser strategischen Bündnisarbeit offensichtlich. Das primäre Ziel der IL bleibt es jedoch, den "Kapitalismus" im Wege eines "revolutionären Umsturzes" zu überwinden. "Freie Arbeiterinnenund Arbeiter Union" (FAU) Die 1977 gegründete FAU versteht sich als eine Gewerkschaft, die im "weltweiten Kampf der Anarchosyndikalisten" in der "Internationalen ArbeiterInnen Assoziation" eingebunden ist. Ideologisch zielt der Anarchosyndikalismus auf die Abschaffung jeglicher Herrschaft von Menschen über den Menschen. Im Kern dieser anarchistischen Weltanschauung strebt die FAU eine Gesellschaft ohne Herrschaft und Eigentum an. Regierungen, Parlamente oder Gesetze werden dementsprechend als Instrumente zur Unterdrückung der natürlichen Freiheit wahrgenommen. In diesem Anspruch auf Herrschaftslosigkeit sind die Aktivitäten der FAU vor allem gegen den Staat als Herrschaftsinstitution gerichtet. Zur Frage der Gewalt positioniert sich der Anarchosyndikalismus und damit auch die FAU bewusst zweideutig. Häufig wird die FAU als eine Organisation charakterisiert, die sich nach anarchistischen Prinzipien aufgestellt hat, die jedoch nicht von und für Anarchisten organisiert wird. Was zunächst widersprüchlich klingen mag, ist der schmale Grat den die Syndikalisten zwischen einer mittelbaren Gewerkschaftsarbeit einerseits und dem Aufbau revolutionärer Gewerkschaftsund Betriebsgruppen andererseits eingehen. Ziel bleibt das unmittelbare Überwinden des bestehenden Staatssystems. Neben Hilfsangeboten für potenzielle Mitglieder bei Arbeitslosigkeit oder Streiks kooperiert die FAU mit gewaltorientierten Linksextremisten. Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich die FAU mehr als deutlich von den etablierten Gewerkschaften. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 151 Linksextremismus Die FAU ist kein Teil des beschriebenen Konflikts zwischen Antiimperialisten und Antideutschen. Die FAU agiert daher sowohl in Magdeburg, vor allem im Szeneobjekt "F52", als auch in Halle (Saale), vorrangig im Szeneobjekt "VL Ludwigstraße".2 Aktionsschwerpunkte Linksextremisten streben danach, die demokratische Staatsund Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Die Grundlage hierfür ist der Glaube an die prinzipielle Realisierbarkeit einer Gesellschaft der Freien und Gleichen. Der Kapitalismus wird dabei als Ursache für alle Missstände und Verwerfungen herangezogen, die dieser Utopie entgegenstehen. Der Antikapitalismus ist daher primäres Betätigungsfeld, insbesondere für gewaltorientierte Linksextremisten. Da er als Aktionsfeld jedoch schwer zu vermitteln ist, weichen Linksextremisten auf weitere Themengebiete aus. An erster Stelle standen im Berichtsjahr dabei der Antifaschismus und das Themenfeld der Antirepression; aber auch Aspekte wie der Kampf gegen den Klimawandel spielen im gewaltorientierten Linksextremismus hierzulande eine immer größere Rolle. Antikapitalismus Linksextremisten verstehen den Kapitalismus nicht nur als Wirtschaftsordnung, sondern zugleich als eine Herrschaftsform. Dementsprechend wird er sowohl als Auslöser für soziale Missstände als auch für gesellschaftspolitische Verwerfungen herangezogen. Kapitalismus und demokratischer Verfassungsstaat werden dabei gleichgesetzt, so dass im Ergebnis beides zu bekämpfen ist. Neben Großereignissen anlässlich von internationalen Handelskonferenzen oder Tagungen der Staatsund Regierungschefs (z. B. G20-Treffen) ist für Linksextremisten traditionell der 1. Mai der Tag, an dem sie ihre antikapitalistische Agenda auf die Straße tragen. Dabei beteiligen sich vor allem die dogmatischen Teile der linksextremistischen Szene an den Protesten am "Internationalen Kampftag der ArbeiterInnen- 2 - VL steht für "Vereinigte Linke" 152 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus klasse", um anhand aktueller Konfliktlinien sogleich die gesamte demokratische Staatsund Gesellschaftsordnung in Frage zu stellen. Eine solche Konfliktlinie waren dieses Jahr die gesellschaftsund sozialpolitischen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Die linksextremistische Szene in Magdeburg griff die Thematik auf und mobilisierte zu einer Kundgebung unter dem Motto "Grenzenlose Solidarität statt Kapitalismus - Zusammen kämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung". Es beteiligten sich etwa 50 Personen, vor allem Mitglieder von Gruppen wie ZK, dem RAB oder dem "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen". Dabei wurde vor allem "die Verschärfung des kapitalistischen Alltags in Zeiten einer globalen Pandemie" thematisiert. Eine Außenwirkung konnte mit der Kundgebung dennoch nicht erreicht werden. Vielmehr versuchten 30 ehemalige Teilnehmer mit einer unangemeldeten Demonstration, Pyrotechnik und einer Barrikade an Zeiten anzuknüpfen, in denen es am 1. Mai regelmäßig zu linksextremistischen Ausschreitungen kam. Am Ende propagierte die Szene diesen Versuch als einen Akt des Widerstandes "gegen Corona, Krise und Kapitalismus! Für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung!" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 153 Linksextremismus Neben Demonstrationen nutzen Linksextremisten den 1. Mai für unmittelbare Aktionen gegen Repräsentanten des "kapitalistischen Systems". So zerstörten am 30. April 2020 abermals in Magdeburg Unbekannte die Fensterscheiben eines Inkassobüros. In den Räumen sprühten sie den Schriftzug "1. Mai, Inkassoschweine angreifen". In einem SBS wird die Tat wie folgt begründet: "Wir setzen die Aktion in den Kontext der vielfältigen Aktivitäten, die im Vorfeld des Ersten Mai auf der ganzen Welt stattfinden. Wir denken, dass es keiner Worte benötigt, warum wir ein Inkassounternehmen als Ziel gewählt haben. Jeder Mensch, der Briefe von [Name des Unternehmens genannt] bekommt, in dem die Summe mit jedem Brief steigt, fühlt tief in sich eine Beklemmung und Wut auf dieses ungerechte System. [...] In einer Zeit, in der die Ungerechtigkeit und Falschheit des kapitalistischen Systems so offen zutage tritt wie aktuell, ist jeder Angriff bedeutungsvoll." Eine ähnliche Straftat folgte am 1. Mai 2020 in Halle (Saale). Unbekannte beschädigten abermals ein Inkassobüro sowie zwei parkende Autos. In einem auf de.indymedia.org veröffentlichten SBS heißt es, dass die Tat als direkter Ausfluss einer "menschenverachtenden Praxis der sozialen Ungerechtigkeit" im Kapitalismus klassifiziert wird. Die Angriffe auf die Filialen in Magdeburg und Halle (Saale) gehen augenscheinlich auf eine konzertierte Aktion zurück, sind Zielauswahl und Begründungszusammenhang doch ähnlich gelagert. Dies ist insofern bemerkenswert, als eine unmittelbare Kooperation der beiden lokalen linksextremistischen 154 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Szenen aufgrund ideologischer Differenzen nur in besonderen Ausnahmen erfolgt. Dementsprechend unterscheiden sich die inhaltlichen Akzente in den Begründungen für die jeweilige Tat. In Magdeburg wird eine klassenkämpferische Position bezogen, die sich unmittelbar gegen die "Inkassoschweine" richtet. In Halle (Saale) hingegen sprechen die Täter von einem "apersonellen System", dessen "Strukturen" sie "aufbrechen und unterbrechen" wollen. Allerdings konnten die ideologischen Unterschiede am Ende doch nicht so groß sein, wenn in beiden Fällen auf die antikapitalistischen Beweggründe entsprechende Taten folgten. Antifaschismus Der Kampf gegen den "Faschismus" ist das zentrale Betätigungsfeld für Linksextremisten. Dies beruht nicht zuletzt darauf, dass unter der Agenda des "Antifaschismus" ein Minimalkonsens erreicht werden kann, der die ansonsten heterogene Szene einigt. Denn bereits die ideologische Herleitung des Antifaschismus treibt zuweilen einen Keil in die linksextremistische Szene. So sehen dogmatische Linksextremisten die Wurzeln des Faschismus ausschließlich im Kapitalismus angelegt. Ein konsequenter Antifaschismus könne sich dementsprechend nur als konsequenter Antikapitalismus zeigen. Der Kampf gegen den Rechtsextremismus wird so zu einem Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgeweitet, da diese als vermeintlicher Urheber von Faschismus, Rassismus und Nationalismus angesehen wird. Undogmatische und antideutsche Gruppierungen leiten den Antifaschismus dagegen aus einer historisch-ideologischen Schablone ab. Sie setzen die Bundesrepublik Deutschland mit dem "Dritten Reich" gleich. Teile der autonomen Szene sehen daher in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft Anzeichen für eine unmittelbare Kontinuitätslinie zum Nationalsozialismus, dessen Wiederauferstehung sie verhindern wollen. Diese Differenzierung innerhalb des Linksextremismus in Sachsen-Anhalt ließ sich an den verschiedenen Veranstaltungen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 155 Linksextremismus anlässlich des Jahrestages zum Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai beobachten. In Magdeburg etwa nahmen Szeneangehörige an einer Kranzniederlegung auf dem Westfriedhof teil. Neben der FAU waren es vor allem Teilnehmer aus dogmatischen Gruppierungen wie ZK, RH oder der "Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands" (MLPD). Dementsprechend wurden die Redebeiträge dazu genutzt, die kapitalistischen Wurzeln des "Faschismus" herauszustellen: "Entscheiden wir uns für das weitere Fortbestehen des Kapitalismus, vergessen wir all diejenigen Opfer, die mit ihrem Leben für eine bessere Gesellschaft bezahlt haben. Erinnern wir uns an den Schwur von Buchenwald 'Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.' Und das ist nach 75 Jahren kapitalistischer Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg unser erklärtes Ziel." Dagegen beteiligte sich das antideutsch beeinflusste OAP an einer antirassistischen Kundgebung, die unter dem Motto "kein Vergeben, kein Vergessen" in Halle (Saale) abgehalten wurde. Hintergrund war ein von antirassistischen Gruppen ausgerufener "Tag des Zorns", mit dem auf die Lage der Flüchtlinge auf Moria (Griechenland) aufmerksam gemacht werden sollte. Im Vorfeld der Veranstaltung entrollte das OAP die Fahnen der vier alliierten Siegermächte und jene Israels als Staat der Überlebenden des Holocausts. 156 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Daraufhin seien sie von den antirassistischen Demonstrationsteilnehmern aufgefordert worden, die Nationalfahnen wieder einzupacken oder sie gar zu verbrennen. Nach einer kurzen Diskussion entschlossen sich die OAP-Mitglieder die Fahnen einzurollen. Auf ihrer Facebook-Seite heißt es im Nachgang dazu: "Wir sind zunächst irritiert davon, den 'Tag des Zorns' am Tag der Befreiung zu begehen. Für wirklich problematisch befinden wir es jedoch, wenn im Aufruf über Kontinuitäten des NS in Deutschland gesprochen wird, ohne an irgendeiner Stelle auszuführen, was damit gemeint sei. Die industrialisierte Massenvernichtung von Leben ist nämlich bei weitem nicht gleichzusetzen mit den untragbaren Zuständen in deutschen Sammelunterkünften oder dem Elendslager auf Moria." Angesichts dieser nachträglichen Kritik am Aufruf der Kundgebung bleibt unklar, warum das OAP überhaupt teilnahm, wenn die Störung des innerlinken Friedens hier gerade nicht beabsichtigt war. Auf die nachträglich eingeforderte Stellungnahme der Organisatoren wartete das OAP dementsprechend vergeblich. Unabhängig von der ideologischen Herleitung produziert der Antifaschismus ein homogenes Feindbild, das in der Realität zu einer immer weiter ansteigenden Radikalisierung führt. In das Visier der Linksextremisten geraten nicht nur Rechtsextremisten, vielmehr bestimmt die Szene eigenmächtig, wer unter das Verdikt des Faschismus zu fassen ist. Neben "Nazis" sind es Polizisten, Rechtspopulisten, konservative Kräfte oder auch andere Linksextremisten, die von der eigenen Ideologie abweichen und so unter das antifaschistische Feindbild geraten. Dementsprechend muss der linksextremistische Charakter des Antifaschismus deutlich vom Engagement demokratischer Kräfte unterschieden werden. Die antifaschistische Feindbildkonstruktion kennt keinerlei Grenzen und ist von einer gestiegenen Qualität des Gewaltpotenzials gekennzeichnet. So griffen in der Nacht auf den 30. April 2020 Unbekannte das Vereinsgebäude der "Halle-Leobener Burschenschaft Germania" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 157 Linksextremismus mit Pflastersteinen und Buttersäure an. Auf de.indymedia.org bekannte sich die nicht weiter benannte Gruppierung "NoGermania Renovierungsteam" zu der Tat. Man habe die "coronabedingte Stille der Nacht" genutzt, um "dem Burschi-Haus der Identitären mit Steinen und Buttersäure einen Besuch abzustatten". Ziel war nicht nur die Burschenschaft, vielmehr sollte mit der Tat auch eine gewisse "Ohnmacht" durchbrochen werden, welche sich infolge der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf die linksextremistische Szene gelegt hatte. Dementsprechend heißt es: "Wir wollen damit auch zeigen, dass klandestine und militante Aktionen gegen Faschos und andere Schweinereien auch in Corona-Zeiten möglich und notwendig sind." Die Burschenschaft war in der Vergangenheit bereits mehrfach das Ziel linksextremistischer Angriffe gewesen und könnte auch in Zukunft in das unmittelbare Zentrum der "antifaschistischen" Aktionsorientierung gewaltorientierter Linksextremisten rücken. Darauf deutet zumindest eine kurzfristig angemeldete Kundgebung am 26. Mai 2020 in Halle (Saale), mit der Protagonisten der linksextremistische Kampagne "Kick them out" den Auszug der IBD aus dem Haus in der Adam-Kuckhoff-Straße feierte. "Kick them out" ging ursprünglich auf eine Initiative des OAP gegen das Haus der IBD zurück. Im Nachgang rühmte man sich der zahlreichen "militanten Aktionen gegen die 'Identitären' und ihr Haus". Zugleich arbeiteten Linksextremisten unter dem Label dieser Kampagne mit "zivilgesellschaftlichen" Gruppierungen zusammen, um Aufklärung über das "rechte Hausprojekt" zu betreiben. Auch wenn der namensgebende Auftrag nun erfüllt sei, wird "Kick them out" vorerst weiter betrieben, um andere Projekte des politischen Gegners in den Fokus zu nehmen. Genannt wird neben der "Burschenschaft Germania" auch das "Institut für Staatspolitik" (IfS)3 in Schnellroda (Saalekreis). Tatsächlich ist das IfS bereits seit Jahren das Ziel antifaschistischer Aktionen des linksextremistisch beeinflussten "Kollektiv IfS dichtmachen". So auch während der "21. IfS-Sommerakade- 3 - siehe dazu auch Seite 66 ff. 158 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus mie", bei der die Gruppe erstmals an zwei Tagen in Schnellroda (Saalekreis) protestierte. Unter dem Motto "Erst der Leuchtturm, dann das Rittergut" versammelten sich am 18. September 20 Personen und am 19. September 2020 43 Teilnehmer zu einer Kundgebung. Wo jedoch früher das "breite Bündnis" gesucht wurde, waren die Proteste nun offen von der Autonomen-Szene geprägt. Es beteiligten sich etwa die autonome Gruppe der "Antifa Nordthüringen" sowie die Gruppe "Utopie und Praxis" aus Leipzig. In deren Redebeitrag heißt es etwa: "Wir wollen für eine Gesellschaft kämpfen, die nicht nur den Kapitalismus überwindet, sondern auch eine, die den autoritären Charakter endgültig überflüssig macht. [...] Deswegen sagen wir heute wieder, wie auch zur Demo gegen das Flügeltreffen im März: Gegen die völkischen Umtriebe, für die befreite Gesellschaft". Vor diesem Hintergrund separierte sich der demokratische Protest und meldete eine eigenständige Mahnwache an, um damit nicht nur gegen das Neurechte Lager zu protestieren, sondern gleichzeitig den Unmut über die linksextremistische Beeinflussung der Protestbewegung zum Ausdruck zu bringen. Der Antifaschismus erzeugt ein Moment der Selbstermächtigung, auf Grund dessen sich Linksextremisten zu einem präventiven Selbstschutz legitimiert sehen. Dass sie dabei selber in die Offensive gehen und den politischen Gegner angreifen, rechtfertigen Linksextremisten mit der Idee von einer vermeintlichen Rettungshandlung. So veranstaltete die linksextremistische Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 159 Linksextremismus Szene in Magdeburg am 17. Juli 2020 eine Demonstration unter dem Motto "Offensiv gegen den faschistischen Terror". Anlass war das Brandgeschehen in einer Shisha-Bar in der Halberstädter Straße in den frühen Morgenstunden des 13. Juli 2020. Dabei geht die linksextremistische Szene stetig davon aus, dass die deutschen Sicherheitsbehörden mit Rechtsextremisten paktieren bzw. diese schützen würden. Dementsprechend fordert ZK in dem Demonstrationsaufruf: "Den antifaschistischen Selbstschutz Organisieren! Offensiv gegen faschistischen Terror!". Mit dem Gedanken, zukünftige Gewalttaten zu verhindern und potenzielle Opfer zu schützen, sehen sich Linksextremisten in dem Recht, Rechtsextremisten und alle Personen, die unter das Verdikt des Antifaschismus fallen, präventiv anzugreifen. Vor allem während der Corona-Pandemie kam es zu einer Ausweitung dieser antifaschistischen Legitimationsinstanz und der damit einhergehenden Feindbilder. Nachdem etwa die IL-Halle am 7. November 2020 nach Leipzig (Sachsen) reiste, um dort gegen eine Demonstration der "Querdenken"-Bewegung zu protestieren, fand sie sich angesichts der Überzahl an Teilnehmern des gegnerischen Lagers schnell in der Defensive wieder. Umso eindringlicher stellte sie anschließend die Frage der Gewalt: "Linker Selbstschutz, der Demos verteidigen kann und im Zweifel Nazis auch angreifen kann, ist notwendig und legitim". Dabei ist die Konstruktion von Feindbildern unter dem Aktions160 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus schwerpunkt des Antifaschismus so beliebig, dass Gewalttaten generell gerechtfertigt scheinen. Die Entgrenzung antifaschistischer Ideologieversatzstücke zulasten eines antiextremistischen Konsens' in der Gesellschaft tut dabei ihr übriges. Recherchetätigkeiten und "Outings" des politischen Gegners Im Rahmen des Antifaschismus agieren gewaltorientierte Linksextremisten nicht im luftleeren Raum, sondern können auf ein engmaschiges Unterstützernetzwerk zurückgreifen. Dadurch sind die linksextremistischen Angriffe in den letzten Jahren immer gewalttätiger und zugleich persönlicher ausgefallen. Die Opfer werden gezielt aufgesucht, um sie in ihrem persönlichen Umfeld anzugreifen. Voraussetzung hierfür sind vor allem die "antifaschistischen Recherchen". Es handelt sich hierbei um Ausspähaktionen, mit denen insbesondere Adressen, Arbeitgeber und Lebensverhältnisse von vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtsextremisten recherchiert und dann zum Zwecke der Stigmatisierung veröffentlicht werden. Diese "Rechercheteams" agieren vor allem im Internet, nutzen aber auch klassische Beobachtungsmethoden. Das Vorgehen dieser Teams ist in einem Graubereich angesiedelt, denn nicht selten wird der politische Gegner unter dem Deckmantel der "Dokumentation" auf Veranstaltungen ausgespäht. Dabei fotografieren die Rechercheteams sowohl die Teilnehmer als auch deren KfZ-Kennzeichen und veröffentlichen diese anschließend zu "Dokumentationszwecken" auf eigens dafür ins Leben gerufenen Blogs, wie auf dem Portal der linksextremistischen Szene in Halle (Saale) "Antifa-Infoportal - Hosen runter" . Mithilfe der detaillierten Porträtaufnahmen sollen die Teilnehmer identifiziert und anschließend öffentlich "geoutet" werden, sei es via Plakatierung oder via Internet. Weiterhin kann die Recherche dazu dienen, konkrete Angriffe auf einzelne Personen vorzubereiten, wenn z. B. exponierte politische Gegner in ihren Wohnungen oder Ladengeschäften angegriffen werden. "Outings" können jedoch auch Polizisten treffen, insbesondere Zivilfahnder, deren Gesichter so bekannt gemacht werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 161 Linksextremismus Im Berichtsjahr wurde die Recherchearbeit zudem auf viele weitere Bereiche ausgedehnt, die im Fokus linksextremistischer Agitation stehen. Dies kann Bauunternehmen betreffen, die an staatlichen Projekten wie Autobahnbau (Stichwort Antikapitalismus), Bau von Justizvollzugsanstalten (Stichwort Antirepression) oder Flüchtlingseinrichtungen (Stichwort Antirassismus) beteiligt sind. Auch im Bereich der Antigentrifizierung4 sind verstärkt Recherchearbeiten festzustellen. Neben Sachbeschädigungen bei Baufirmen führte dies mitunter schon zu körperlichen Angriffen. So wurde eine Mitarbeiterin eines Leipziger Immobilienunternehmens im November 2019 in ihrer Wohnung aufgesucht und stellvertretend für die "kapitalistische Verdrängungsmaschinerie" ins Gesicht geschlagen. Im Berichtszeitraum führten die Ermittlungen zu diesem Fall zu einer amtsbekannten Magdeburger Linksextremistin. Diese hatte im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit Zugang zum amtlichen Melderegister. Ihr wird zur Last gelegt, dass sie diesen Zugang missbrauchte, sich so die Wohnadresse besagter Mitarbeiterin beschaffte und die Adresse an gewaltorientierte Linksextremisten weitergab.5 Dieser Vorfall steht beispielhaft für die arbeitsteilige Vorgehensweise und Zusammenarbeit zwischen gewaltorientieren und nicht gewaltorientierten Linksextremisten. 4 - Der Begriff "Gentrifizierung" kommt ursprünglich aus der Stadtsoziologie und bezeichnet städtebauliche Aufwertungen und die damit einhergehenden sozialen Umstrukturierungsprozesse, die zu steigenden Mieten und einer Verdrängung der bisherigen Bewohner führen können. Viele Bewohner von Großstädten beschäftigt dieses Thema. Für Linksextremisten geht die Bedeutung der Gentrifizierung jedoch weiter, sie sehen hierin einen existenzbedrohenden Angriff auf ihre Lebensweise. Von daher nehmen sie sich auch dieses Themas an und versuchen, z. B. in Mieterinitiativen eigene Aktionen zu entwickeln. Dies dient der Steigerung der eigenen gesellschaftlichen Akzeptanz, aber auch dem Verfolgen der eigenen extremistischen Ziele, die über die Sozialpolitik deutlich hinausgehen. So sieht ein Strategiepapier der Interventionistischen Linken u. a. vor, dass Enteignungen von nicht selbst genutztem Wohnraum das einzig probate Mittel zur Verhinderung von Mietsteigerungen seien. 5 - siehe dazu auch Seite 176 162 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Antirepression Der Kampf gegen eine vermeintliche Unterdrückung ist eines der entscheidenden Aktionsfelder militanter Linksextremisten und ihres Unterstützerfeldes. Die linksextremistische Szene sieht den Staat als ein "Repressionsinstrument" der Herrschenden und des Kapitals zur Verhinderung eines revolutionären Prozesses. Rechtsstaatliche Maßnahmen, insbesondere der Justiz und Polizei, seien daher eine "Repression" und somit nichts anderes als ein Akt der Herrschaftssicherung. Vor diesem Hintergrund organisiert sich die Szene in regionalen und überregionalen "Solidaritätsnetzwerken". Die wichtigste und größte Organisation ist dabei die "Rote Hilfe" (RH). Im Rahmen der Antirepression werden linksextremistische Straftäter vollumfänglich unterstützt, während entsprechende Gerichtsverfahren als politische Verfahren und inhaftierte Szeneangehörige als "politische Gefangene" deklariert werden. Mit einer traditionellen Gefangenenhilfe, "Knastbesuchen" oder anderweitigen Solidaritätsaktionen soll der Rechtsstaat als ein diktatorisches System diffamiert werden. Zur aktionistischen Untermalung hat die linksextremistische Szene den 18. März als "Tag der politischen Gefangenen" erwählt und richtet alljährlich verschiedene Veranstaltungen zur Solidarisierung mit inhaftierten Linksextremisten aus. So gab Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 163 Linksextremismus es im Berichtszeitraum an der Justizvollzugsanstalt Burg eine Spontankundgebung unter dem Motto: "Corona oder nicht - Wir lassen euch nicht im Stich!". Auf de.indymedia.org hieß es hierzu, dass "migrantische Linke" besonders stark von "Repression" betroffen seien, dass "Dutzende Revolutionäre und Linke mit Wurzeln in der Türkei und Kurdistan mit Hilfe des SS129b StGB weggesperrt" seien. "Mit einer symbolischen Aktion" hätten "solidarische Menschen" gezeigt, dass die Gefangenen auch in der Zeit einer weltweiten Pandemie nicht vergessen seien, man habe "Raketen über die Gefängnismauer geschossen und Parolen gerufen". Eine weitere Aktion in diesem Zusammenhang fand ebenfalls in Burg am 25. Juli 2020 statt. Unter der Thematik "Linke Politik verteidigen" rief der RAB zu einer Demonstration auf, nachdem die Polizei das Szeneobjekt "Rotes Zentrum" am 11. Juli 2020 durchsucht hatte. Die 145 Teilnehmer präsentierten diverse Transparente und Fahnen, unter anderen mit dem Schriftzug "Vereint, bestimmt, Gegenmacht aufbauen". Auf Höhe des Polizeireviers riefen die Aufzugsteilnehmer "Hammer, Sichel & Gewehr, Bullen töten ist nicht schwer". Dergestalt zeigt sich die zynische Doppelmoral der linksextremistischen Szene. Während einerseits das Menschenrecht erkämpft werden soll, wie es in der Internationalen heißt, wird Polizisten das Menschsein in einer verabsolutierten Feindsetzung abgesprochen. Unter der Begründung: "Kriminell ist das System, nicht der Widerstand dagegen", begehen Linksextremisten dementsprechend schwerste Gewalttaten gegen die "Repräsentanten des Staates". Daneben wirken Aktionen im Handlungsfeld der Antirepression immer auch in die Szene hinein und schaffen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, wodurch selbst ideologisch zerstrittene Teile zusammengeführt werden. Dies ließ sich im Zuge der Ermittlungen des LKA Hamburg gegen den "Roten Aufbau Hamburg" (RAH) wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung im Sinne des SS 129 StGB beobachten. Den RAH-Mitgliedern wird 164 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus vorgeworfen, eine Vereinigung gegründet zu haben, die über diverse Strafund Gewalttaten die Umsetzung einer linksextremistischen Zielsetzung verfolgt. Die Maßnahmen gegen den RAH sorgten in der linksextremistischen Szene für ein breites Echo. Vor allem im antiimperialistischen Lager fühlte man sich zu Solidaritätsbekundungen berufen, so dass es neben Stuttgart (Baden-Würtemberg), Berlin, Köln (Nordrhein-Westfalen) und München (Bayern) auch in Magdeburg eine unangemeldete Spontandemonstration gab. Dazu versammelten sich "20 GenossInnen", wie es im entsprechenden Indymedia-Beitrag heißt, um sich "mit den von Repression betroffenen GenossInnen vom Roten Aufbau zu solidarisieren" und zugleich ein Zeichen gegen die "Klassenjustiz" zu setzen. ZK ergänzt auf seiner Internetseite: Es sei "mehr als offensichtlich, dass diese Angriffe offensive Strukturen, im sich verschärfenden Klassenkampf zerschlagen sollen. Ebenfalls sollen sie der Abschreckung dienen, gegen alle Jene die sich gegen Ausbeutung & Unterdrückung organisieren & kämpfen." Eine vermehrte Aktionsbereitschaft im Themenfeld der Antirepression war auch in der linksextremistischen Szene von Halle Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 165 Linksextremismus (Saale) zu verzeichnen. Dies ging vor allem auf die fehlenden Demonstrationsanlässe in Zeiten der Corona-Pandemie zurück. Stattdessen fokussierte sich die Szene auf die alteingesessenen Feindbilder vom "repressiven Staat" und von der Polizei. So auch am 31. Oktober 2020 in Leipzig (Sachsen). An einer Demonstration der autonomen Szene mit dem Motto "Solidarisch gegen ihre Repression" beteiligten sich Linksextremisten aus Halle (Saale). Diese riefen in einem Beitrag auf de.indymedia.org bereits im Vorfeld dazu auf, die Netzwerkstrukturen der Antirepression zu stärken: "Wir dürfen die Betroffenen von staatlicher Willkür nicht alleine lassen, sondern müssen Soli-Strukturen aufbauen! AntiRepression muss wieder grundlegender Teil linker Praxis werden! Wir rufen alle dazu auf, sich in der Roten Hilfe oder in anderen linken Schutzund Solidaritätsstrukturen zu organisieren." An der Demonstration beteiligten sich letztlich 350 Personen, darunter mehrheitlich gewaltorientierte Autonome. Diese hatten entlang der Aufzugsroute bereits Flaschenund Steindepots angelegt. Dementsprechend war der Demonstrationszug von vornherein auf Konfrontation ausgerichtet. Dabei zeigten die Demonstranten Plakate mit Aufschriften wie "Wir scheißen auf den Staat" und "Gegen den staatlich verordneten Extremismus", skandierten "Nazis und Bullen an die Wand!", "Nie wieder Deutschland" und "No Justice no peace fight the police!". Aus dem Demonstrationszug heraus wurden Flaschen und Böller geworfen, Pyrotechnik gezündet und das Gebäude der Polizeidirektion Leipzig mit Farbbeuteln beworfen. Nicht nur anhand dieser Ereignisse ließ sich eine Fokussierung auf das Aktionsfeld der Antirepression ausmachen. So versucht die Szene in Zeiten der Corona-Pandemie Solidaritätsstrukturen nach innen zu stärken, um nach außen umso geschlossener aufzutreten. Allerdings entfaltet die "Antirepressions-Arbeit" kaum eine Außenwirkung, so dass die inhaltliche Themensetzung der linksextremistischen Szene gerade in der Corona-Pandemie nicht zum Tragen kam. 166 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Antirassismus Ideologisch eng mit dem Antifaschismus verknüpft ist das Aktionsfeld des Antirassismus. Nicht zuletzt in Folge der Asylund Zuwanderungsdebatte ist das Themengebiet in den letzten Jahren wieder verstärkt in den Fokus von Linksextremisten gerückt. Zwar wird der vermeintliche Rassismus in der deutschen Gesellschaft in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Kapitalismus gestellt (struktureller Rassismus), doch versuchen Linksextremisten die Problematik weitaus emotionaler aufzuladen, um eine möglichst große Mobilisierungsund Kampagnenfähigkeit zu erwirken. So geht es letztlich darum, den demokratischen Rechtsstaat als eine Form des institutionellen Rassismus zu denunzieren und zu bekämpfen. Im Berichtszeitraum boten vor allem die Proteste der "Black Lives Matter"-Bewegung Handlungsperspektiven für die linksextremistische Szene. Doch während es in anderen Bundesländern zu einer linksextremistischen Beeinflussung der Proteste kam, war dies in Sachsen-Anhalt nicht zu verzeichnen. Linksextremistische Beeinflussung der Klima-Bewegung Im Allgemeinen versuchen Linksextremisten, gesellschaftliche Problemstellungen aufzugreifen, jedoch nicht um diese zu lösen, sondern im Sinne ihrer revolutionären Zielsetzung zu instrumentalisieren. Ein Aktionsschwerpunkt, in dem Linksextremisten vermehrt radikalisierend intervenieren, ist das Engagement in Fragen des Klimaschutzes. Insbesondere postautonome Zusammenschlüsse wie die IL versuchen maßgeblich, die Proteste zu initiieren, zu lenken und ideologisch aufzuladen. So soll die Frage des Klimaschutzes vor allem im Sinne einer antikapitalistischen Agenda betrachtet werden, um sie damit zu einer "systemimmanenten" Krise des Kapitalismus zuzuspitzen. Dementsprechend ist der häufig verwendete Slogan "System Change not Climate Change" bewusst doppeldeutig zu verstehen. Im Sinne der IL geht es dabei weniger um die Bekämpfung des Klimawandels, als vielmehr um einen klassisch-linksextremistischen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 167 Linksextremismus Antikapitalismus und damit auch um eine Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Welche Formen die linksextremistische Beeinflussung der Klimaschutz-Bewegung annehmen kann, zeigte sich am 10. Juli 2020 in Halle (Saale) auf einer Demonstration unter dem Slogan "Klimakrise ist eine soziale Krise". Hinter der antikapitalistischen Grundausrichtung des Aufrufs stand eine erkennbare Beeinflussung seitens der IL-Halle, die sich an der Demonstration beteiligte. Dementsprechend verknüpfte das Klimabündnis die Klimathematik im Aufruf mit typischen linksextremistischen Aktionsfeldern: "Klimagerechtigkeit heißt Antifaschismus, Antirassismus und Antisexismus. Lasst uns gemeinsam für soziale Gerechtigkeit kämpfen, denn die Klimakrise ist ein soziales Problem und muss als solches gelöst werden." Diesen Aufruf ergänzte die IL-Halle mit den Worten: "Deswegen demonstrieren wir morgen mit @fffhalle u @EndeGelaendeHAL gegen d[ie] kapitalistische Tristesse u[nd] für echten #systemchange!" Bewusst spielt die IL dabei mit doppeldeutigen Formulierungen, um der eigenen Vernetzungsstrategie nicht entgegen zu wirken. Doch bereits der Demonstrationsverlauf unterschied sich von den vorangegangenen Klimaprotesten. So wurden verschiedene Transparente präsentiert, die eine linksextremistische Beeinflussung sichtbar machten - etwa die Botschaften: "Kapitalismus überwinden! KLIM Retten!" oder "Von Halle bis nach Rojava Klimaschutz bleibt Antifa". Tatsächlich schien der Aufzug von Autonomen geführt. So sammelte sich an der Spitze eine Gruppe von schwarz vermummten 168 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Personen, die sich bereits optisch von dem üblichen Teilnehmer der Klimaschutz-Bewegung abhoben. Aufgrund dessen war die Beteiligung der IL-Halle der Demonstration sowohl inhaltlich anzumerken, als auch deren Verlauf. Wo die Proteste zuvor allein auf die Klimapolitik abstellten, wurde die Themensetzung nun linksextremistisch beeinflusst. Tatsächlich nimmt seither ein Teil der Klimaschutzbewegung mehr und mehr die Strukturen und Aktionen klassischer Autonomer an. Darauf deutet eine Sachbeschädigung hin, die am 13. Dezember 2020 an einem Gebäude der STRABAG AG in Halle (Saale) verübt wurde und die im Kontext zur Besetzung im "Dannenröder Wald" steht. Unbekannte sprühten u. a. den Schriftzug "DANNI BLEIBT" auf und verbarrikadierten die Eingangstür mit Holzpaletten. In einem entsprechenden auf de.indymedia. org veröffentlichten anonymen SBS mit dem Titel "Strabag verpiss dich! Keine A49!!!" bekunden die Verfasser ihre Solidarität mit den "Aktivist*innen im Dannenröder Wald". Zudem wird die STRABAG AG als ausführender Baukonzern dargestellt, welcher die A49 in Hessen vollenden soll. Das SBS endet mit den Worten "Wir werden den Konzern und der Staatsgewalt auch hier in Halle weiterhin Stress machen! ALERTA". Dementsprechend dient die Beeinflussung der Klimaproteste der Rekrutierung neuer, vor allem junger Mitglieder. Über die Fragen des Klimaschutzes sollen diese an weitere Aktionsfelder des Linksextremismus zunächst herangeführt werden, um sie schrittweise für die Szene zu gewinnen. Politisch motivierte Kriminalität - links - Die Darstellung des gewaltorientierten Linksextremismus findet in den Daten der politisch motivierten Kriminalität (PMK) -linkseine statistische Größe. Mit insgesamt 406 Straftaten blieb die PMK -linksauf einem weitgehend unveränderten Niveau. Dabei ging die Anzahl von Gewaltstraftaten mit 38 Fällen deutlich zurück. Dies dürfte vorrangig auf die staatlichen Maßnahmen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 169 Linksextremismus zur Eindämmung der Corona-Pandemie zurückzuführen sein, da den Linksextremisten nicht zuletzt die Anlässe für militante Aktionen im Verlauf von Demonstrationen oer anderen Veranstaltungen fehlten. Darauf deutet auch der Anstieg von Sachbeschädigungen und Brandstiftungen im Berichtszeitraum hin. Damit kann lediglich von einer temporären Verschiebung der Tatstruktur ausgegangen werden. So bleiben nach wie vor Konfrontationsstraftaten die bestimmende Größe im Bereich der PMK - links-, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen: Am 30. Januar 2020 bewarfen Unbekannte ein Mehrfamilienhaus mit sechs "Farbbomben". Hauseigentümer ist ein MdB der Fraktion der "Alternative für Deutschland" (AfD). Auf der Gebäudefassade wurden zudem in roter Farbe die Parolen "AFDBonzen enteignen!" und die Symbole "Hammer" und "Sichel" hinterlassen. Am 17. Februar 2020 kam es in einer Diskothek in der Lutherstadt Wittenberg zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen einer Personengruppe und einem NPD-Mitglied. Eine Person der Gruppe soll später vor der Diskothek das NPDMitglied angegriffen und dabei gegen den Kopf geschlagen sowie am Boden liegend getreten haben. Dabei sollen die Worte gefallen sein: "Dich Nazischwein bekommen wir auch noch". In der Nacht zum 15. April 2020 besprühten Unbekannte ein Gebäude in der Hansestadt Gardelegen (Altmarkkreis Salzwedel) mit den Schriftzügen "rechte Hetze beginnt hier" und "AfD stoppen". Der AfD-Kreisverband "Altmark West" unterhält sein Parteibüro in dem Gebäude. In einem auf de.indymedia.org veröffentlichten SBS heißt es dazu: "Parteibüro der "AfD Gardelegen" geschlossen und markiert - hoffentlich für immer." 170 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Nachdem öffentlich bekannt geworden war, dass am 20. Juni 2020 ein AfD-Bundeskonvent in einem Hotel in Landsberg (Saalekreis) stattfinden sollte, wurden kurz nach Mitternacht des 18. Juni 2020 die Fensterscheiben des Hotels eingeworfen und dabei versucht, Buttersäure einzubringen. Bei der unmittelbar anschließenden Nahbereichsfahndung stellte die Polizei auf einem nahegelegenen Parkplatz vier Personen fest, die augenscheinlich der linksextremistischen Szene zugeordnet werden konnten. Am 6. Juli 2020 gingen in Magdeburg zwei mit Sturmhauben Maskierte auf einen Mann zu und fragten ihn: "Was ist das für eine Jacke? Das ist unser Viertel". Dabei versperrte ein Maskierter den Weg, der Andere schlug das Opfer mit der Faust in den Rücken. Am 25. Juli 2020 schlugen in Barleben (Landkreis Börde) vier Unbekannte mit Schlagringen auf drei Personen ein und entwendeten dabei die Badehose eines der Opfer. Zuvor waren sowohl Angreifer als auch die Angegriffenen am Adamsee baden. Jacke wie Hose stammten von der Bekleidungsmarke "Thor Steinar". Am 9. September 2020 kam es zu einem Farbanschlag auf die Magdeburger Veranstaltungsstätte "halber85". In einem auf de.indymedia.org veröffentlichten SBS bekennen sich die Verfasser zur Tat und begründen dies damit, dass dort Veranstaltungen u. a. für die "Junge Alternative" (JA) und das "Compact Magazin" stattfanden. Das SBS endet mit den Worten "Faschistische Infrastruktur angreifen und zerschlagen!" In der Silvesternacht wurden im Ordnungsamt in MagdeburgNeustadt sämtliche Fensterscheiben eingeschlagen. Laut Zeugenaussagen waren drei bis vier schwarz gekleidete Personen am Werk. Die Täter hätten gezielt in einem Depot bereitgelegte Pflastersteine und einen Nothammer genutzt. In einem ebenfalls auf de.indymedia.org veröffentlichen SBS heißt es dazu, das Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 171 Linksextremismus Ordnungsamt "profiliere sich immer mehr zu einer Hilfspolizei", da es auch für die Umsetzung der "Coronaregeln zuständig" sei. Man hoffe auf "Nachahmer_innen"; "repressive Zeichen der Macht und des Staates" gebe es genug. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die gewaltorientierte linksextremistische Szene war im Berichtszeitraum vor allem durch die Corona-Pandemie geprägt. Dabei gelang es insbesondere den Autonomen aufgrund des starren Weltbilds des Antifaschismus nicht, die Thematik für sich zu nutzen. Die vielfach beschworene Forderung, neue Strategien angesichts der Pandemie zu entwickeln, konnte nicht umgesetzt werden. Stattdessen wurde die Corona-Pandemie dazu instrumentalisiert, der allgemeinen Gewaltorientierung Ausdruck zu verleihen. Damit befindet sich die autonome Szene in der Sackgasse einer weitgehenden Ritualisierung der immer gleichen Aktionsstrukturen. Dagegen konnten die Postautonomen von der IL-Halle die Strategie der Entgrenzung fortsetzen. Während sie über die Themen "Corona" und Gesundheitspolitik kaum Außenwirkung entfalten konnten, waren es vor allem die Proteste zum Klimaschutz, welche die IL erfolgreich instrumentalisierte. So steht zu befürchten, dass sich Teile der Klimaschutz-Bewegung unter dem Einfluss der IL dem Linksextremismus zuwenden könnten. Auch andere Teile der linksextremistischen Szene entdeckten neue Strategien für sich. So sind es vor allem Antiimperialisten, die nunmehr versuchen, Anlaufstellen zur Beratung und Unterstützung von Hilfsbedürftigen zu etablieren. Diese Nachbarschaftsund Kieztreffpunkte können einerseits zu einer Politisierung und damit einhergehenden Radikalisierung in Teilen der Gesellschaft führen, andererseits jedoch auch zu einem Aufweichen militanter Szenestrukturen. 172 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Insgesamt weist die linksextremistische Szene in SachsenAnhalt ein hohes Aktionsund Gewaltpotenzial auf, das jedoch aufgrund ideologischer Differenzen nicht ausgeschöpft werden kann. Dementsprechend bleibt abzuwarten, ob es angesichts von Wahlen unter dem gemeinsamen Feindbild AfD zu einer Zusammenarbeit der linksextremistischen Szene kommen wird. Vor allem im Aktionsfeld des Antifaschismus wäre ein neuer Minimalkonsens in der Szene begründbar. Auf dieser Grundlage wäre eine Annäherung der verfeindeten Lager möglich, auch wenn Versuche dieser Art in der Vergangenheit bislang scheiterten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 173 Linksextremismus "Rote Hilfe e. V." (RH) Sitz Bundesverband: Göttingen Verbreitung (Niedersachsen) bundesweite Verbreitung Gründung 1975 In Sachsen-Anhalt seit 1996 mit der ersten RH-Ortsgruppe in Halle (Saale) existent. Struktur Bundesweit gibt es 50 Ortsgruppen. Aufbau Die lokalen Gruppen wählen auf Mitgliederversammlungen ihre Abgesandten für die Bundesdelegiertenkonferenz, diese tritt mindestens alle zwei Jahre zusammen. Der Bundesvorstand wird für eine Dauer von zwei Jahren gewählt und organisiert als oberstes Organ der RH deren bundesweite Arbeit. Er tagt mindestens zweimal jährlich, verwaltet die Finanzen des Vereins und gibt dessen Zeitung heraus. In Sachsen-Anhalt existieren Ortsgruppen in Halle (Saale), Magdeburg und Salzwedel. Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 240 (2019: etwa 190) Anhänger Bund: etwa 11.000 (2019: etwa 10.500) VeröffentWeb-Angebot: www.rote-hilfe.de lichungen Publikationen: "Die Rote Hilfe" (quartalsweise) Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Vertrieb von Büchern, Broschüren, Informationsmaterial Kurzportrait / Ziele Die RH ist nach ihrem Selbstverständnis eine "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation" zur Unterstützung von Personen, die nach ihrer Auffassung in der " Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer 174 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus politischen Betätigung verfolgt werden". Dabei vertritt die RH kein eigenständiges weltanschauliches Programm, ist jedoch ein bedeutender Bestandteil der linksextremistischen Szene und wirkt organisationsübergreifend. Die zentrale Haltung der RH besteht in der Überzeugung einem Staat gegenüber zu stehen, der mittels eines umfassenden Repressionsapparates herrscht. Die RH stellt die Sicherheitsund Justizbehörden als Unterdrückungsmittel dar, mit denen der Staat ihm politisch missliebige Personen unterdrückt, kriminalisiert und letztendlich wegsperrt. Dadurch spricht sie der Bundesrepublik Deutschland die Eigenschaft als Rechtsstaat ab und sieht in ihr stattdessen ein Willkürregime. Die RH unterstützt linksextremistische Straftäter auf mehrfache Weise. Mittels Kampagnen sollen die Sicherheitsund Justizbehörden diskreditiert werden. Zudem schult sie Szeneangehörige darin, das Risiko für eine Strafverfolgung nach begangener Tat zu minimieren. Das wichtigste Vorgehen besteht in der politischen, logistischen und finanziellen Unterstützung von Linksextremisten in Ermittlungsund Strafverfahren sowie im Strafvollzug. Erkennt die RH eine Person als "Unterstützungsfall" an, so beteiligt sie sich an Prozessund Anwaltskosten (sowie Strafund Bußgeldern) und vermittelt gegebenenfalls anwaltliche Vertretung. Grund der Beobachtung Die RH ist ein zentraler Bestandteil der linksextremistischen Szene und betätigt sich in deren Kampagnenfeld "Antirepression". Sie ist eine organisationsübergreifende Unterstützerin von Straftätern aus den unterschiedlichen Bereichen des Linksextremismus. Die RH bekämpft die Bundesrepublik Deutschland als einen vermeintlichen Willkürstaat, von dem eine systematische Verfolgung der politischen Opposition ausgehe. In dieser Funktion stabilisiert und motiviert die RH die gewaltorientierte linksextremistische Szene, indem sie das strafrechtliche Abschreckungspotenzial für Linksextremisten verringert. Sie erfüllt damit eine Gewalt unterstützende Funktion. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 175 Linksextremismus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Zum zehnjährigen Bestehen der Ortsgruppe in Salzwedel fand am 7. Februar 2020 im Szeneobjekt "AZ Kim Hubert" eine Veranstaltung unter dem Motto "Was tun wenn's brennt?" statt. Im Sinne der gewaltunterstützenden Funktion der RH sollte mit der Veranstaltung gerade "nicht [...] Angst vor Festnahmen, Strafverfolgung und Polizeigewalt" erzeugt werden. Vielmehr standen Wege im Fokus, um "möglichst unbeschadet aus unangenehmen Situationen dieser Art herauszukommen". Nachdem am 15. Mai 2020 die Polizei sowohl Wohnung als auch Arbeitsstätte einer "langjährigen Antifaschistin" durchsucht hatte, nahm diese Kontakt zur Magdeburger RH-Ortsgruppe auf. Die Frau steht im Verdacht, im Rahmen der antifaschistischen Recherchetätigkeit illegal auf das Melderegister zugegriffen und die erbeuteten Daten in die Szene ausgesteuert zu haben.1 In einer Stellungnahme sichert die RH ihr Hilfe zu, da in dem Verfahren "der unbedingte Verfolgungswille der hiesigen Repressionsbehörden gegen AntifaschistInnen deutlich" werde. In diesem Sinne ruft die RH dazu auf "die Betroffene in ihrem Kampf gegen die Kriminalisierung [zu] unterstützen" und "Linke Politik [zu] verteidigen!". Die RH-Ortsgruppe Salzwedel sammelte Spenden unter dem Motto: "Schulter an Schulter gegen Faschismus - Solidarität mit den von Repression betroffenen Antifaschst*innen in Salzwedel". Die Aktion stand im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren gegen Angehörige der linksextremistischen Szene wegen 1 - siehe dazu auch Seite 162 176 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus des besonders schweren Landfriedensbruchs in der Hansestadt Salzwedel aus dem Jahr 2019. Die RH stellte dies als eine "Auseinandersetzung zwischen Rassisten und Antifaschist*innen" dar und deklarierte das Verfahren als einen "Angriff gegen linke Strukturen und Menschen die gegen Faschismus und Rassismus in die Offensive gehen". Mit dem Aufruf zu Geldspenden, Solidaritätsaktionen und zur "antifaschistischen Selbstverteidigung" zeigt sich erneut die gewaltunterstützende Funktion der RH. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Auch in Zeiten allgemeiner Umbrüche bleibt die RH einer der wichtigsten Stabilitätsfaktoren innerhalb des Linksextremismus. Mit ihrer gut vernetzten Struktur und der finanziellen Unterstützung potenzieller Strafund Gewalttäter trägt sie zu einer spektrenübergeifenden Konsolidierung bei. Der Mitgliederzuwachs um mehr als 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verdeutlicht, dass die RH eine Organisationsorientiertung für die Linksextremisten bietet, die zwar gemeinschaftlich aktiv sein wollen, ohne dabei jedoch in die starren Zwänge einer Partei eingebunden zu sein. Entscheidend für den Erfolg der RH ist vor allem ihre ideologische Flexibilität, so dass ihre Unterstützung jedem potenziellen Gewalttäter gilt, solange dieser nur eine linksextremistische Zielsetzung verfolgt. Sie begründet damit einen ideologischen Minimalkonsens, der die Legitimität des demokratischen Verfassungsstaats systematisch infrage stellt und dabei Gewalt als politisches Mittel befürwortet und aktiv unterstützt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 177 Linksextremismus "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschland" (MLPD) Sitz Bundesverband: Gelsenkirchen Verbreitung (Nordrhein-Westfalen) bundesweite Verbreitung Sachsen-Anhalt: angegliedert im Landesverband Ost Gründung 1982 In Sachsen-Anhalt seit 1992 mit einzelnen Strukturen existent. Struktur Parteivorsitzende: Gabi FECHTNER (NordAufbau rhein-Westfalen) Die Partei ist in mehreren Ebenen organisiert. Betriebsund Wohngebietsgruppen bilden die erste Ebene der Partei. Die zweite Organisationsebene stellen die Ortsgruppen dar. Danach folgt der Kreisverband. Als letzte Ebene folgen die derzeit sieben Landesverbände. Vorsitzender des Landesverbands Ost: Andrew SCHLÜTER (Berlin) Jugendorganisation: REBELL Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 20 (2019: etwa 25) Anhänger Bund: etwa 2.800 (2019: etwa 2.800) VeröffentWeb-Angebote: www.mlpd.de, www.rf-news lichungen Publikationen: "Rote Fahne" (RF) (wöchentlich) "Lernen und Kämpfen" (LuK) (mehrmals jährlich) "Rebell" (zweimonatlich) Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden In wirtschaftlicher Hinsicht stellt die MLPD eine der finanzstärksten linksextremistischen Parteien in Deutschland dar. 178 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Kurzportrait / Ziele Die MLPD ist eine maoistisch-stalinistisch ausgerichtete Partei, die sich an den Lehren von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao orientiert. Ihrem Verständnis nach kann der Kapitalismus nicht reformiert werden, sondern muss revolutionär vom "echten" Sozialismus abgelöst werden. Trotz der Probleme und Niederlagen habe der Sozialismus seine wirtschaftliche, politische und moralische Überlegenheit über den Kapitalismus bewiesen. Über die Mitgliedschaft ihrer Angehörigen in Gewerkschaften versucht die MLPD Einfluss auf die Arbeiter als "Subjekt des Klassenkampfes" zu erlangen. Sie unterstützt die Forderungen der Gewerkschaften bei Streiks, verbindet deren Ziele aber jeweils mit ihrer fundamentalen Kapitalismuskritik und der Forderung nach einer kommunistischen Gesellschaft. Grund der Beobachtung Die MLPD versteht sich als Repräsentantin einer radikal linken und revolutionären Perspektive des "echten" Sozialismus. Ihre verfassungsfeindliche Zielsetzung wird bereits in der Präambel der Parteistatuten deutlich. Grundlegendes Ziel ist "der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals". Dafür strebt die MLPD die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft als Übergang zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft an. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Trotz der Corona-Pandemie versuchte die MLPD in Sachsen-Anhalt, sich an verschiedenen Protestveranstaltungen zu beteiligen. Dabei zeigte sich, dass die Partei aufgrund ihrer autoritären Ideologie regelmäßig in den Konflikt mit anderen Teilen der linksextremistischen Szene - hier vor allem mit antideutsch beeinflussten Autonomen - gerät. Ein Beispiel dafür zeigte sich am 12. Juni, als der MLPD-Jugendverband versuchte, auf einer Demonstration junger Klimaschützer in Halle (Saale) "offen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 179 Linksextremismus Flagge" zu zeigen, mit dem Ergebnis, dass eben diese Flagge von einer "Gruppe Antideutscher" entwendet wurde. Zu einem weiterem Konflikt kam es am 21. Juli 2020 während einer Mahnwache vor dem Landgericht in Magdeburg zum Gedenken an die Opfer des Anschlags von Halle (Saale). Die stalinistisch geprägte Partei präsentierte ein Transparent mit der Aufschrift "Gib Antikommunismus, Faschismus, Rassismus und Antisemitismus keine Chance!". Der Schulterschluss mit den weiteren Teilnehmern vor Ort gelang jedoch nicht. Vielmehr versuchten diese, die MLPD von der Mahnwache auszuschließen. In der Folge kam es zu Rangeleien. Am 3. Oktober 2020 versuchte die MLPD in Magdeburg, mit einer Kundgebung die Bevölkerung vom "Sozialismus als Ausweg aus der Krise des Kapitalismus" zu überzeugen. So sollten mit einer "Open-Air-Diskussion" der, aus Sicht der Partei zu positiv ausfallenden, Berichterstattung über den Verlauf und die Folgen der Deutschen Einheit widersprochen werden. Das revolutionäre Moment in der arbeitenden Bevölkerung konnten die Stalinisten mit zehn Teilnehmern jedoch nicht entfachen. Am 9. Oktober 2020 kam es in Halle (Saale) zu einer weiteren Auseinandersetzung der MLPD mit Autonomen. Auch wenn die MLPD forderte, "eine breite, überparteiliche antifaschistische Einheitsfront aufzubauen", nutzte sie die Anwesenheit einer "jämmerlichen Gruppe von Antideutschen, die sich [...] hinter einer Fahne mit Davidstern unwürdig aufführten", um den eigenen Führungsanspruch zu untermauern und ihrer antizionistischen Grundhaltung Ausdruck zu verleihen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Aufgrund ihrer sektenartigen Züge ist davon auszugehen, dass die MLPD die von ihr seit Jahren vertretene ideologische Linie auch zukünftig beibehalten wird. Obwohl die Partei stetig auf 180 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus der Suche nach neuen und vor allem jungen Mitgliedern ist, gelingt es ihr nicht, ihre weitgehende Isolation zu durchbrechen. Vielmehr werden die Dogmatiker von diversen Veranstaltungen ausgeschlossen oder ins Abseits gedrängt. Eine Außenwirkung können sie lediglich dort entfalten, wo die linksextremistische Szene eine ähnlich orthodoxe Ideologie verfolgt. So sind es insbesondere Magdeburger Linksextremisten, die offen mit der Partei kooperieren. In den übrigen Teilen von Sachsen-Anhalt fristet die Partei jedoch ein beständiges Schattendasein. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 181 Linksextremismus "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Sitz Bundesverband: Essen Verbreitung (Nordrhein-Westfalen) bundesweite Verbreitung Gründung 1968 In Sachsen-Anhalt seit 1997 mit einzelnen Parteigruppen existent. Struktur Sachsen-Anhalt: Vorsitzender des "KoordinieAufbau rungsrates" Matthias KRAMER (Magdeburg) Parteivorsitzender: Patrick KÖBELE (Essen) Die Partei gliedert sich in Grund-, Kreis-, Bezirksund/oder Landesorganisationen sowie eine Bundesorganisation. In Halle (Saale) gibt es eine Ortsgruppe, in Magdeburg sowie in der Region Altmark Einzelmitglieder. Innerhalb der Parteigesamtstruktur ist der Status einer Bezirksbzw. Kreisorganisation nicht erreicht. Daher verfügt die DKP in Sachsen Anhalt lediglich über einen so genannten "Koordinierungsrat". Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 15 (2019: etwa 15) Anhänger Bund: 2.850 (2019: 2.850) VeröffentWeb-Angebote: www.dkp.de, lichungen Publikationen: UZ - "Unsere Zeit" (wöchentlich) "Marxistische Blätter" (alle zwei Monate) Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden 182 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Linksextremismus Kurzportrait / Ziele Die DKP ist eine marxistisch-leninistische Kernorganisation. Die Partei versteht sich als politische Nachfolgerin der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD). Ihr Ziel ist die Errichtung einer sozialistischen / kommunistischen Gesellschaft durch einen revolutionären Bruch mit den kapitalistischen Machtund Eigentumsverhältnissen. Die DKP bekennt sich zur Ideologie von Marx, Engels und Lenin als Richtschnur ihres politischen Handelns. Grund der Beobachtung Die DKP strebt langfristig einen Systemwechsel in Richtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung an. Mittels eines klassenkämpferisch-revolutionären Aktes sollen die kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnisse, der Parlamentarismus und der politisch-gesellschaftliche Pluralismus überwunden werden. Gewaltanwendung wird dabei nicht ausgeschlossen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die kommunistische Ausrichtung der Partei ist gleichsam zementiert. Dafür spricht auch der 23. Parteitag der DKP, der vom 28. Februar bis zum 1. März 2020 in Frankfurt am Main (Hessen) stattfand. Patrick KÖBELE als Vorsitzender sowie Wera RICHTER (Berlin) als stellvertretende Vorsitzende wurden in ihren Funktionen bestätigt. Generelle Debatten gab es vor allem um die Positionierung gegenüber Russland und China sowie um die Frage des "Hauptfeindes". Daneben kritisierten einzelne Mitglieder die fehlende Handlungsorientierung für den Antifaschismus und Umweltschutz. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 183 Linksextremismus In Sachsen-Anhalt wurde das ohnehin niedrige Aktionsniveau der DKP infolge der Corona-Pandemie weiter beschränkt. So konzentrierten sich die Mitglieder auf die weitgehend ritualisierten Gedenkfeierlichkeiten, wie etwa am Jahrestag zum Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai. Dabei versammelten sie sich auf dem Südfriedhof in Halle (Saale), um am Ehrenmal eines Sowjetsoldaten unter der Fahne der Partei Blumen abzulegen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die DKP in Sachsen-Anhalt schafft es kaum noch, Aktivitäten zu entfalten. Die Strukturen der Partei sind nur noch schemenhaft erkennbar, so dass weder die Überalterung ihrer Mitglieder durch einen Parteinachwuchs ausgeglichen werden kann, noch eine ideologische und finanzielle Konsolidierung festzustellen ist. Damit ist die DKP in Sachsen-Anhalt in der Bedeutungslosigkeit angekommen. 184 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 IslamIsmus Islamistische Bestrebungen Der Begriff "Islamismus" bezeichnet eine spezifische Form des politischen Extremismus. Unter Berufung auf die Religion des Islam zielt der Islamismus auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Islamismus ist von der Überzeugung geprägt, dass Religion nicht nur eine persönliche, quasi private Angelegenheit ist, sondern auch das öffentliche gesellschaftliche Leben sowie die politische Ordnung eines Staates bestimmen oder zumindest in Teilen regeln soll. Eine von Gott gewollte und somit "wahre" (und zugleich absolute) Ordnung, rangiere in ihrer Wertigkeit vor allen von Menschen gemachten Ordnungssystemen. Im Islamismus lassen sich verschiedene Strömungen feststellen. Diese unterscheiden sich teilweise hinsichtlich ihrer ideologischen Prämissen, ihrer geographischen Orientierung, ihrer Strategien und der Wahl ihrer Mittel. Sie können sich aber auch überschneiden, zum Beispiel in der Strömung des Jihadsalafismus. Hier werden Ideologieelemente des Salafismus mit dem Jihadismus zu einer gewaltorientierten und kämpferischen Strömung vereint. - Jihadistische Gruppierungen wie zum Beispiel der "Islamische Staat" (IS) und "al-Qaida" zuzurechnende Organisationen sehen in ihrem Kampf für die Errichtung eines "Gottesstaats" mit terroristischer Gewalt ein Mittel gegen "Ungläubige" und aus ihrer Perspektive korrupte islamische Regimes. Ihre terroristische Agenda ist teilweise global und bedroht folglich die gesamte internationale Staatengemeinschaft. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 185 IslamIsmus Der Attentäter des Anschlags in Wien (Österreich) vom 2. November 2020 tötete vier Menschen und verletzte 23 weitere zum Teil schwer. Er sprach den "Treueeid" auf den gegenwärtigen IS-Kalifen und den Slogan: "Der Islamische Staat bleibt bestehen". - Die Anhänger islamistisch-terroristischer Gruppierungen wie der im Gazastreifen aktiven palästinensischen HAMAS oder der libanesischen "Hizb Allah"1, deren Ziel die Vernichtung des jüdischen Staates Israel ist, sind im Wesentlichen auf ihre Herkunftsregionen fokussiert und wenden schwerpunktmäßig dort terroristische Gewalt an. - So genannte legalistische Strömungen versuchen, über politische und gesellschaftliche Einflussnahme eine nach ihrer Interpretation islamkonforme Ordnung durchzusetzen. - Salafisten orientieren sich ausschließlich an einem wortgetreuen Verständnis von Koran und Sunna2 nach ihrer Interpretation sowie am Vorbild der Gefährten Mohammeds, den so genannten rechtschaffenen Altvorderen.3 Sie vertreten dabei einen Exklusivitätsanspruch, beanspruchen die einzig "wahren" Muslime zu sein und lehnen die geschichtliche Entwicklung der Religion des Islam und ihre 1 - Das BMI hat die "Hizb Allah" mit Verfügung vom 26. März mit einem Betätigungsverbot belegt und dabei auch verboten, Kennzeichen der "Hizb Allah" zu verbreiten oder zu verwenden. 2 - Zur Nachahmung empfohlene Handlungsweisen und Aussagen des Propheten Mohammed. 3 - Arabisch: al-Salaf al-Salih. 186 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 IslamIsmus vielschichtige Ausübung und Interpretation seitens der Muslime ab.4 In der gesellschaftlichen Wahrnehmung werden islamistische Bestrebungen vor allem in der Ausprägung des terroristischen Islamismus und Jihadismus gesehen. Entsprechend motivierte Anschläge und Straftaten sowie mit islamistischen Bestrebungen verbundene konkrete Gefahren sind Ereignisse bzw. Phänomene, die sich unschwer als Bedrohungen erkennen lassen. Das Erfordernis eines entschlossenen Einschreitens gegen diese Phänomene ist unstrittig. Verfassungsschutz, Polizei und Justiz arbeiten bei der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung auf diesem Feld mit ihren jeweiligen Aufgaben und Befugnissen eng zusammen. Aktuell sind damit Fragen verbunden, die sich aus der tatsächlichen oder möglichen Rückkehr von Personen ergeben, die sich freiwillig in das Jihadgebiet begeben und dort terroristischen Gruppen angeschlossen hatten. Dies trifft insbesondere auf die Personen zu, die aus ihren (europäischen) Heimatländern in das "Kalifatsgebiet" des IS gereist waren und sich dort dem IS angeschlossen hatten. Nach der weitgehenden militärischen Niederlage der IS-Jihadisten sind viele dieser Personen in Gefangenenlagern vor allem in Nordsyrien festgesetzt worden. Darunter befanden sich zwei aus Sachsen-Anhalt stammende junge Frauen, die 2015 nach Syrien ausgereist waren. Eine dieser Frauen war unmittelbar nach ihrer Ankunft am Flughafen Frankfurt am Main im Dezember 2020 aufgrund eines Haftbefehls des Bundesgerichtshofs festgenommen und zwischenzeitlich inhaftiert worden. Eine zweite Frau aus Sachsen-Anhalt befindet sich weiterhin in einem nordsyrischen Gefangenenlager für sogenannte "Foreign Terrorist Fighters". 4 - Vgl. Kompendium des BfV - Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte, S. 61 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 187 IslamIsmus Angesichts weiterer möglicher Rückkehrer nach Deutschland ist zu klären, ob und inwieweit diese Personen weiterhin einer islamistischen Ideologie anhängen, ob von ihnen eine Gefährdung ausgeht und wie erforderlichenfalls darauf behördlich zu reagieren ist. Ein weiteres Hauptaugenmerk der Sicherheitsbehörden liegt auf dem Bearbeiten von Hinweisen auf (vermeintliche) Jihadisten. In einzelnen Fällen hat dies dazu geführt, dass die Verfassungsschutzbehörde gemäß SS 19 VerfSchG-LSA Informationen an die Strafverfolgungsbehörden übermittelt hat, damit diese entsprechende strafrechtliche Ermittlungen aufnehmen konnten. Wie schon in vorangegangenen Berichtsjahren handelte es sich dabei hauptsächlich um Hinweise auf Personen mit Migrationshintergrund, bei denen eine Betätigung in jihadistischen Gruppen anzunehmen ist, die als Kriegsparteien im syrischen Bürgerkrieg aktiv waren bzw. immer noch sind. Ebenso bedeutsam, aber weniger offensichtlich ist die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die vom sogenannten legalistischen Islamismus ausgeht, der scheinbar im Einklang mit den Prinzipien unseres Rechtsstaates steht. Legalistische Strömungen des Islamismus sind in der Regel weder mit Straftaten noch mit konkreten Gefahren verbunden. Daher stehen sie - zu Unrecht - wesentlich weniger im Fokus der Öffentlichkeit und werden als weitaus geringere Bedrohung empfunden. Dabei wird verkannt, dass Bestrebungen dieser Art zielgerichtet an der Umsetzung ihres ideologischen Weltbilds arbeiten und ständig versuchen, ihren Einfluss auf die Gesellschaft und in der Gesellschaft zu erhöhen. Dies ist ein schleichender Prozess, der für Außenstehende schwer zu fassen ist, da sich die entsprechenden Akteure in der Regel nach außen angepasst verhalten. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie die Errichtung einer vermeintlich von Gott gewollten Ordnung anstreben und dass sie einen Absolutheitsanspruch erheben, 188 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 IslamIsmus wonach diese Ordnung über allen von Menschen gemachten Regeln steht. Eine Vereinbarkeit dieser Doktrin mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist nicht gegeben. In Publikationen wie dieser von Abu Muhammad al-Maqdisi wird die Demokratie als "menschengemachte" Religion dargestellt, in der man "den Menschen" anbetet. Im Islam hingegen werde Gott angebetet; er sei "gottgemacht". Die beiden Bilder auf dem Buchtitel von einem Parlament auf der linken und der Ka'ba in Mekka auf der rechten Seite sollen den Kontrast zwischen "menschenzentriert" und "gottzentriert" versinnbildlichen. Das in den letzten Jahren zu verzeichnende Anwachsen des Bevölkerungsanteils mit muslimischer Religionszugehörigkeit bietet den Anhängern legalistischer Strömungen verstärkt die Gelegenheit, für ihre Überzeugungen zu werben. Der Gefahr, dass ihre Vorstellungen und Ideologien auf breitere Akzeptanz stoßen, ist entgegenzuwirken. Dies gilt umso mehr, als die Bereitschaft Einzelner, sich für einen jihadistischen Weg zu entscheiden zumindest mittelbar über eine Befassung mit legalistischen Ideologieelementen gefördert werden kann. Relevant sind insoweit auch Predigten, die in Sachsen-Anhalt in Moscheen und Gebetsräumen gehalten wurden und werden. In einem kleineren Teil der Predigten konnten Elemente extremistischer Ideologie festgestellt werden. Die so schon im Vorjahr beschriebenen Entwicklungen islamistischer Bestrebungen haben sich fortgesetzt, das entsprechende Personenpotenzial liegt unverändert bei ewa 400 Personen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 189 IslamIsmus Salafistische Bestrebungen Sitz Schwerpunkte in westdeutschen Bundesländern Verbreitung und in Ballungszentren; in Sachsen-Anhalt landesweit, doch ohne gefestigte Strukturen Gründung Ursprünge in Entwicklungen der islamischen Welt besonders im 18. und 19. Jahrhundert Struktur in Sachsen-Anhalt sind einzelne Aktivisten feststellbar Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 90 (2019: etwa 90) Anhänger Bund: etwa 12.150 (2018: etwa 12.150) VeröffentWeb-Angebote: diverse Internetauftritte lichungen soziale Netzwerke Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele Der Verfassungsschutz versteht unter "Salafismus" eine besonders radikale Strömung innerhalb des Islamismus. Salafisten streben nach Wiederherstellung des "authentischen Islam" und nach Umsetzung islamischer Rechtsvorschriften (Scharia), die nach ihrer Auffassung als Gesetz Gottes prinzipiell für die gesamte Menschheit gültig sind. Die Verwirklichung des "authentischen Islam" steht für eine politische Agenda, die in der Errichtung eines islamischen "Gottesstaates" münden soll. Grund der Beobachtung Das verfassungsschutzrelevante salafistische Spektrum wird in die Kategorien "jihadistischer Salafismus" und "politischer Salafismus" unterteilt. Beiden Strömungen gemein sind ideologische Grundlagen und die grundsätzliche Befürwortung von Gewalt, die Übergänge zwischen beiden Richtungen sind fließend. Politische Salafisten vermeiden offene Aufrufe zur Gewalt, sie wollen die Gesellschaft von innen heraus anhand Missionierung 190 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 IslamIsmus islamkonform umgestalten. Jihadistische Salafisten fordern die unmittelbare Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer Ziele. Ihnen ist gemein, dass sie die islamische Religion als politische Ideologie verstehen, die es kompromisslos durchzusetzen gilt. Die von Gott vorgeschriebenen Regeln sollen über allem stehen. Salafistische Ideologie steht damit im grundsätzlichen Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der freien Religionsausübung sowie der allgemeinen Gleichberechtigung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In den Moscheen und Gebetsräumen des Landes traten vereinzelt Prediger auf, die salafistische Ideologie propagierten. Salafistische Erklärungsmuster, wonach der Islam alle Punkte des persönlichen und gesellschaftlichen, namentlich des politischen, Lebens regele, kulminieren dabei in salafistischen Gemeinplätzen wie: - Die Rückständigkeit [der Muslime] liege daran, dass man dem Weg Allahs nicht gefolgt sei, deshalb habe Allah ihre Stärke in Schwäche verwandelt, - Hadithe1 aus der Zeit der "Frommen Altvorderen" illustrierten genau die heutige Lage, - Muslime dürfen sich nicht mit Niederlagen abfinden, der Islam, der aufgerichtet werden müsse, biete die Regelung aller Aspekte des Lebens inklusive der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Fragen, - Allah sei allmächtig, deswegen werde der Sieg kommen. Bis dahin solle man das Rechte tun und den bedrängten Brüdern helfen, auch wenn die Ungläubigen über bessere Waffen verfügten. 1 - Handlungen oder Aussagen die entweder von Mohammed selbst stammen oder welche dieser gebilligt habe. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 191 IslamIsmus Islamistischer Terrorismus und jihadsalafistische Organisationen Das von den deutschen Sicherheitsbehörden identifizierte islamistisch-terroristische Personenpotenzial beläuft sich auf rund 2.040 Personen.2 Im Berichtszeitraum war der IS weiterhin die bekannteste jihadsalafistische Organisation, die in den Vorjahren auch Jugendliche aus Sachsen-Anhalt angezogen hatte. Da Deutschland an Waffenlieferungen und Ausbildungsmaßnahmen für Gegner des IS beteiligt ist, ist eine Gefährdungslage für deutsche Einrichtungen und Interessen entstanden. Der IS ruft explizit zum Kampf unter anderem gegen Deutschland auf. Ausreisen bzw. Ausreiseversuche aus Deutschland seit 20113 Derzeit liegen Erkenntnisse zu mehr als 1.070 deutschen Islamisten bzw. Islamisten aus Deutschland vor, die seit 2011 in Richtung Syrien/Irak gereist sind und sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aktuell dort aufhalten bzw. aufgehalten haben; hiervon sind 25% weiblich. Zu etwa 60% dieser gereisten Personen liegen konkrete Anhaltspunkte vor, dass sie auf Seiten des IS, der al-Qaida oder denen nahestehenden Gruppierungen sowie anderer terroristischer Gruppierungen an Kampf- 2 - Stand 17. Dezember 2020 3 - Stand 30. März 2021 192 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 IslamIsmus handlungen teilnehmen bzw. teilgenommen haben oder diese in sonstiger Weise unterstützen bzw. unterstützt haben. Dies bedeutet, dass zu einem Teil der gereisten Personen bislang keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für die Einleitung von Ermittlungsverfahren durch die zuständigen Strafverfolgungsbehörden vorliegen. Darüber hinaus sind mehr als 160 Personen bekannt, deren geplante bzw. versuchte Ausreise nach Syrien oder in den Irak scheiterte bzw. verhindert werden konnte, z. B. aufgrund von behördlichen Maßnahmen, wie einer behördlichen Ausreiseuntersagung. Mehr als die Hälfte der Personen, die gereist sind oder deren Ausreise verhindert wurde bzw. scheiterte, besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Hierzu zählen auch Personen, die neben der deutschen eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen. Die meisten Ausreisen bzw. Ausreiseversuche waren in den Jahren 2013 bis 2015 zu verzeichnen. In den Folgejahren gingen die Zahlen sukzessive zurück. Seit 2019 werden Ausreisen bzw. Ausreiseversuche nur noch sehr vereinzelt registriert. So wurden im Jahr 2020 insgesamt neun Ausreisen bzw. Ausreiseversuche in Richtung Syrien/Irak registriert. Aktuell halten sich etwa 39 % der etwa 1.070 gereisten Personen im Ausland auf. Von diesen befindet sich etwa ein Drittel im Ausland in Haft bzw. in Gewahrsam (in Syrien, Irak oder Türkei); hiervon sind 56 % weiblich. Die Mehrzahl der in Haft bzw. in Gewahrsam befindlichen Personen beabsichtigt nach Deutschland zurückzukehren. Etwa zwei Drittel dieser Personen befinden sich auf freiem Fuß in Syrien bzw. Irak, hiervon sind 34 % weiblich. Zum Großteil der Personen liegen keine Erkenntnisse zum konkreten Aufenthaltsort vor. Es ist davon auszugehen, dass sich einzelne Personen zwischenzeitlich in anderen Staaten außerhalb von Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 193 IslamIsmus Syrien/Irak aufhalten und ein nicht unerheblicher Anteil der Personen bei Kampfhandlungen verstorben ist. Zu etwa 25 % der etwa 1.070 gereisten Personen liegen Hinweise vor, dass sie in Syrien oder Irak ums Leben gekommen sind. Etwa 36 % der etwa 1070 gereisten Personen kehrten bislang nach Deutschland zurück, hiervon sind etwa 20 % weiblich. Mindestens 20 Personen haben Deutschland nach ihrer Rückkehr aufgrund behördlicher Maßnahmen (z. B. Abschiebung) zwischenzeitlich wieder verlassen, bzw. sind freiwillig in einen Drittstaat ausgereist. Zu über 130 der bislang zurückgekehrten Personen liegen den Sicherheitsbehörden Erkenntnisse vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder Irak beteiligt oder hierfür eine Ausbildung absolviert haben. Gegen 252 der zurückgekehrten Personen wurde ein Ermittlungsverfahren aufgrund von Straftaten, die im Zusammenhang mit deren Ausreise in Richtung Syrien/ Irak stehen, eingeleitet; hiervon sind 56 weiblich. Einzelne Ausreisesachverhalte werden unverändert erst nachträglich bekannt. Neben militärischen Operationen und Attentaten im eigentlichen Operationsgebiet in Syrien und Irak hat der IS auch regelmäßig Anschläge in Europa verübt oder dazu inspiriert. Eine im nordsyrischen Flüchtlinglager Al-Haul interniert gewesene, aus dem Landkreis Mansfeld-Südharz stammende Jugendliche4 ist im Dezember 2020 nach Deutschland zurückgekehrt und wird im Rahmen des behördlichen Rückkehrmanagements betreut. Die strafrechtliche Aufarbeitung des aufgrund ihrer Betätigung in einer terroristischen Vereinigung eingeleiteten Verfahrens ist noch nicht abgeschlossen. 4 - zum Ausreisezeitpunkt 194 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 IslamIsmus Ein als Gefährder eingestufter syrischer Staatsangehöriger aus Muldestausee OT Friedersdorf (Landkreis Anhalt-Bitterfeld), der aufgrund seiner Aktivitäten für den IS teilweise rund um die Uhr personell und technisch überwacht wurde, reiste Anfang November 2020 freiwillig aus Deutschland aus. Beamte der Landespolizei begleiteten ihn bis zum Flughafen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Salafismus übt auf nach Orientierung suchende Menschen, sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund, eine hohe Anziehungskraft aus. Auf längere Sicht wird sich diese Entwicklung auch in Sachsen-Anhalt quantitativ manifestieren. Dieser Einschätzung zugrunde liegt zum einen die Zunahme der Einwohnerzahl mit islamischer Religionszugehörigkeit, von denen ein gewisser Prozentsatz Nähe zum Salafismus aufweist. Zum anderen ist auf die bereits seit Jahren zu beobachtende Anziehungskraft charismatischer salafistischer Prediger zu verweisen, die zur Rekrutierung von salafistischem Nachwuchs beitragen können. Dies betrifft sowohl Jugendliche mit als auch ohne Migrationshintergrund. Es ist damit zu rechnen, dass der IS infolge der Einschränkung seines Aktionsfeldes in Syrien und Irak sich bietende Tatgelegenheiten gegen deutsche Interessen auch im Bundesgebiet nutzen wird. Die geschickte mediale Darstellung der Erfolge des IS und der Anschläge in zum Feind erklärten Ländern wird auch 2021 fortgesetzt und zur Inspirationsquelle von Gruppen oder Einzeltätern werden, die mit herkömmlichen nachrichtendienstlichen Mitteln nur eingeschränkt identifiziert oder beobachtet werden können. Die Verdrängung von IS-Kämpfern aus jener Region kann zur Verlagerung ihrer Aktivitäten nach Europa führen und dadurch direkte Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland haben. Die Ideologie des IS exisitert weiter. Ferner ist zu berückVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 195 IslamIsmus sichtigen, dass die digitale Welt eine nahezu ungehinderte Fortsetzung von propagandistischen Aktivitäten unabhängig von dem Vorhandensein eines territorialen Einflussgebiets ermöglicht. Neben tatsächlich von IS-Strukturen gelenkten Aktivitäten ist vor allem auch zu erwarten, dass Einzelpersonen, welche die Anhängerschaft zum IS für sich reklamieren, aktiv werden. Nach dem territorialen Niedergang des IS drängen andere Organisationen nach. Al-Qaida-nahe Terrororganisationen wie die in Nordwestsyrien aktive "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS) werden 2021 mit dem IS regional fortgesetzt um Vormacht und Einfluss konkurrieren. (Flagge der HTS) 196 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 IslamIsmus "Gemeinschaft der Verkündigung der Mission" (Urdu: "Tablighi Jama'at", TJ) Sitz drei religiöse Zentren in Pakistan, Indien und Verbreitung Bangladesch in Deutschland keine offizielle Niederlassung Gründung 1926 in Indien Struktur Leitung: Führungszirkel (Schura) Aufbau In Deutschland koordinieren zentrale Akteure über informelle Kontakte in einem hierarchisch aufgebauten Netzwerk die Arbeit der TJ. Mitglieder Sachsen-Anhalt: mittlerer zweistelliger Bereich Anhänger (2019: ebenso) Bund: etwa 650 (2019: etwa 650) Veröffent--lichungen Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele Die TJ ist eine transnationale Missionierungsbewegung mit etwa 12 Millionen Anhängern weltweit. Sie orientiert sich eng an dem Islamverständnis der islamischen Frühzeit. Ein wesentlicher Schwerpunkt der Aktivitäten der TJ in Deutschland ist die Gewinnung neuer Anhänger, die Missionierung und ideologische Schulung der Mitglieder. Grund der Beobachtung Die TJ propagiert eine wörtliche Auslegung des Korans und der Sunna, eine rigorose Abgrenzung zu Nichtmuslimen und eine Ausgrenzung von Frauen von der politischen und gesellschaftlichen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 197 IslamIsmus Teilhabe. Die Ablehnung der weltlichen Prinzipien und die Abgrenzung gegenüber Nichtmuslimen begünstigen die Bildung von Parallelgesellschaften und fördern individuelle Radikalisierungsprozesse. Das Erreichen eines auf islamischen Rechtsvorschriften (Scharia) basierenden Lebens ist das erklärte Ziel der TJ. Damit gehen von der TJ Bestrebungen aus, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Interne Konflikte in der Führungsebene der TJ und Kontaktbeschränkungen im Rahmen der Corona-Pandemie hatten auch Auswirkungen auf die Aktivitäten der Bewegung in Deutschland. In Sachsen-Anhalt sind die Missionierungstätigkeiten der TJ-Angehörigen massiv zurückgegangen. Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten sind verschiedene Moscheen im Bundesland. Im Rahmen der Kontaktaufnahme werden Einladungen zu Gebeten, Moscheebesuchen oder anderen Veranstaltungen ausgesprochen. Zielgruppen sind einerseits Muslime mit vermeintlich unzureichender Beachtung der Glaubensriten und anderseits Nichtmuslime. Die Anhänger der TJ aus Sachsen-Anhalt sind an das globale Netzwerk der TJ angeschlossen. Sie beteiligen sich an Missionierungsreisen, bundesweiten und europaweiten Treffen, auf denen u. a. die Missionierungsarbeit abgestimmt und organisatorische Entscheidungen der Bewegung getroffen werden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Sobald ein Abklang der Corona-Pandemie eintritt, wird sich der Rückgang der Missionierungstätigkeiten wieder relativieren, da die TJ bestrebt ist, ihre missionarischen Aktivitäten beständig zu intensivieren. 198 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 IslamIsmus Muslimbruderschaft (MB) / "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) / HAMAS Sitz Hauptsitz der DMG in Köln Verbreitung (Nordrhein-Westfalen) in Sachsen-Anhalt landesweit, Gründung MB: 1928 in Ägypten DMG (IGD): 1958 HAMAS: 1987 Struktur Die am 9. September 2018 in DMG umbenannte IGD gehörte zu den Gründungsmitgliedern der "Föderation islamischer Organisationen in Europa" (FIOE), die als Sammelbecken für Organisationen der MB in Europa gilt. Mitglieder Sachsen-Anhalt: 20 (2019: 20) Anhänger VeröffentWeb-Angebote: diverse Internetauftritte lichungen soziale Netzwerke Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele Die in Ägypten gegründete MB gilt als älteste und einflussreichste organisierte sunnitische islamistische Bewegung. Zahlreiche islamistische Organisationen sind aus der MB hervorgegangen, so auch die DMG und die terroristische palästinensische HAMAS. Programmatischer Kernpunkt der MB ist die Einheit von Religion und Staat. Ihr Ziel ist die schrittweise Durchsetzung islamischer Rechtsvorschriften (Scharia). Gewaltanwendung wird dabei nicht ausgeschlossen, doch nicht vorrangig angestrebt. In mehreren islamischen Ländern ist die MB verboten worden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 199 IslamIsmus Die MB lehnt demokratische Staatssysteme ab, agiert aber pragmatisch. Ihre meist gebildeten und eloquenten Vertreter engagieren sich häufig gesellschaftlich, um Einfluss zu gewinnen. Vertreter der MB stellen nach außen hin demokratische Prinzipien nicht in Frage und erwecken oft den Anschein, eine vergleichsweise "moderate" Islamauslegung zu vertreten Der "Rabia"-Gruß der MB entstand 2013 in Kairo (Ägypten), nachdem das Militär eine Sitzblockade der MB auf dem Rabia-al-Adawiya-Platz gewaltsam aufgelöst hatte. "Rabia" bedeutet im Arabischen u. a. "vierte"; daher das Symbol der hochgehaltenen Hand mit den vier abgespreizten Fingern. Später wurden diese Finger mit den vier Phasen der angestrebten Machtübernahme der MB identifiziert: 1. Missionierung 2. Rekrutierung 3. Konfrontation 4. Machtübernahme Grund der Beobachtung Die von Gott vorgeschriebenen Regeln sollen über allem stehen. Die Ideologie der Muslimbruderschaft steht damit im Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der Religionsausübung sowie der allgemeinen Gleichberechtigung. Die DMG ist die wichtigste und zentrale Organisation von Anhängern der MB in Deutschland. Ihr Ziel ist, sich als anerkannter Ansprechpartner zum Thema Islam zu etablieren. Zu diesem Zweck werden offene Bekenntnisse zur MB möglichst vermieden. 200 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 IslamIsmus Die HAMAS ist für zahlreiche Selbstmordattentate und Raketenangriffe auf israelisches Territorium verantwortlich. Ihre Aktivitäten richten sich somit gegen den Gedanken der Völkerverständigung und sind geeignet, deutsche Interessen im Ausland zu gefährden. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Vereinzelt traten in Moscheen des Landes Prediger auf, die ideologische Standpunkte der Muslimbruderschaft propagierten. So hielt ein Prediger eine Freitagspredigt, in der er den Koran als "die für Muslime verbindliche gesetzgeberische Quelle" bezeichnet und somit die "Gesetze Gottes" über die weltlichen, von Menschen erlassenen Gesetze stellt. Eine weitere Predigt in diesem Kontext wurde nach dem Attentat auf den französischen Lehrer Samuel Paty gehalten, der am 16. Oktober 2020 in einem Pariser Vorort enthauptet worden war. Anlass war das Zeigen der sogenannten "Mohammedkarikaturen" in seinem Unterricht. Im Nachgang dieses Anschlags hatte der französische Präsident Macron die Enthauptung verurteilt und das Zeigen von Mohammedkarikaturen für zulässig erklärt. Die in der Folge in einer Moschee in Sachsen-Anhalt gehaltende Predigt enthielt einen Aufruf zum Boykott französischer Produkte, weil die Beleidigung des Islams nur eine Vorstufe seiner geplanten oder zumindest gebilligten Vernichtung sei. Religiöses spielte in dieser Predigt nur eine Nebenrolle. Der Prediger sagte mit Bezug auf das Zeigen der Prophetenkarikaturen in Frankreich unter anderem: "Wir sehen, dass dort der Prophet beleidigt wird, und wir sind noch immer wütend!" Im Verlauf der Predigt äußerte er weiter unter anderem: "Es ist leeres Gerede, zwischen Islam und politischem Islam unterscheiden zu wollen!" und "Wer französische Waren kauft, betrügt den Propheten!" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 201 IslamIsmus In Bezug auf andere öffentliche Äußerungen relevanter Akteure war weiterhin festzustellen, dass die Erwähnung einschlägiger Aktivitäten im Land in den Verfassungsschutzberichten Sachsen-Anhalt seit 2017 dazu führte, dass diese sich mit entsprechenden weiteren öffentlichen Äußerungen zurückhalten. Der Verein "Islamische Gemeinde Stendal", der sich im Berichtszeitraum in "Muslime in Stendal e. V." umbenannt hat, war unverändert mit der MB verbunden. So hatte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende in der Vergangenheit enge Verbindungen zur IGD sowie zu Organisationen, die mehreren Landesverfassungsschutzbehörden als Vertretung der HAMAS in Deutschland gelten. Bei einer Neuwahl am Ende des Jahres schied diese Person aus dem Vorstand aus. Bewertung, Tendenzen, Ausblick In Sachsen-Anhalt gibt es nach wie vor Personen, die der Ideologie der Muslimbruderschaft folgen. Die in Sachsen-Anhalt aktiven etwa 20 Personen sind größtenteils Persönlichkeiten, die führende Funktionen in ihren jeweiligen Gemeinden innehaben. Ihr Ziel ist letztlich die Abschaffung der Demokratie und die Gründung eines auf religiösen Regeln basierenden Gottesstaats. Sie sind bestrebt, das Gedankengut der Muslimbruderschaft weiter zu verbreiten und bemüht, sich als gemäßigte Muslime darzustellen. Es besteht unverändert die Gefahr, dass die Selbstinszenierung als vertrauenswürdige zivilgesellschaftliche Akteure bei Verantwortungsträgern in Kommunen, Land, Kirchen und Zivilgesellschaft verfängt und zu Fehleinschätzungen führen kann. Mitarbeiter von Behörden, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sind daher gehalten, kritisch darauf zu achten, wem sie eine Plattform als Gesprächspartner bieten. Für Fragen und Beratungen in diesem Zusammenhang steht die Verfassungsschutzbehörde gerne zur Verfügung. 202 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Ausländerextremismus SICHERHEITSGEFÄHRDENDE UND EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN Beim nichtislamistischen Ausländerextremismus handelt es sich um sicherheitsgefährdende Bestrebungen, die mit der Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Dazu zählen ausländerextremistische Organisationen, die mit ihren Aktivitäten Ideologien aus dem Rechtsextremismus, dem Linksextremismus oder auch dem Separatismus1 verfolgen. Zumeist ist es Ziel der Organisationen, die politischen Verhältnisse in ihren jeweiligen Heimatländern, häufig auch unter Anwendung von Gewalt, zu verändern. In Deutschland werden diese Organisationen von den hier lebenden Anhängern mit politischen Aktivitäten, teilweise aber auch mit gewaltsamen Aktionen, unterstützt. Darüber hinaus wird ein großer Teil des Finanzbedarfs dieser Organisationen mittels Spendensammlungen in Deutschland gedeckt. Nach wie vor tritt in Sachsen-Anhalt lediglich die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) mit bedeutenden Strukturen in Erscheinung. Die Aktivitäten ihrer Anhänger beschränken sich in der Hauptsache auf das Requirieren von Spendengeldern sowie das Durchführen anlassbezogener versammlungsrechtlicher, in der Regel friedlicher Aktionen. Ursächlich für diese Aktionen sind zumeist politische oder militärische Ereignisse in den kurdischen Siedlungsgebieten in der Türkei, in Syrien oder Irak. Regelmäßig nehmen PKK-Anhänger aus Sachsen-Anhalt an alljährlichen zentralen Großveranstaltungen wie das zentrale Newrozfest oder das Internationale Kurdistanfestival teil. Diese Ereignisse werden von der PKK zur Propagierung ihrer politischen Forderungen nach Anerkennung der kurdischen Identität und Autonomie sowie zur Aufhebung des PKK-Verbots genutzt. 1 - Separatismus bedeutet, dass ein Teil einer Bevölkerung sich und ihr Heimatgebiet aus ihrem aktuellen Staat herauslösen möchte. Ziel kann die Gründung eines neuen eigenständigen Staates sein oder der Anschluss an einen anderen Staat. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 203 Ausländerextremismus Die Aktivitäten der PKK-Anhänger in Sachsen-Anhalt waren im Jahr 2020 maßgeblich von den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beeinflusst. Ein großer Teil der sonst üblichen und für die PKK bedeutsamen Veranstaltungen konnte nicht durchgeführt werden. Soweit es die Pandemielage zuließ, wurden dezentrale Versammlungen, teils im Rahmen online betriebener Kampagnen, durchgeführt, unter anderem um der Sorge um den Gesundheitszustand Abdullah ÖCALANs und dessen Haftbedingungen Ausdruck zu verleihen. Auch das erneute militärische Vorgehen türkischer Truppen gegen Stützpunkte der PKK führte zu zahlreichen Protestveranstaltungen. Insgesamt zeigten sich sowohl das Veranstaltungsgeschehen als auch die Vereinsaktivitäten sehr zurückhaltend. 204 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Ausländerextremismus "Arbeiterpartei Kurdistans" (kurdisch: Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) Weitere ehemalige und bestehende Bezeichnungen: - "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA GEL) - "Freiheitsund Demokratiekongress" (KADEK) - "Gemeinschaften der Kommunen Kurdistans" (KKK) - "Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" (KCK) Sitz Sitz der Parteiführung in den Kandil-Bergen/ Verbreitung Nord-Irak Verbreitung in "Kurdistan" (Teile der Türkei, Syriens, Iraks und Irans) sowie Europa Gründung 27. November 1978 in der Türkei Struktur Trotz der nach außen als legalistisch Aufbau erscheinenden Strukturen handelt es sich bei der PKK um eine streng hierarchische Kaderorganisation. Das höchste Entscheidungsorgan der PKK ist der KCK mit seinem Präsidenten Abdullah ÖCALAN. Gemeinsame Vorsitzende des KCK sind Cemil BAYIK und Bese HOZAT. In Europa werden die Aktivitäten der PKK maßgeblich vom "Kongress der kurdischen demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa" (kurdisch: Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen Li Ewropa, kurz: KCDK-E), dem politischen Arm der Partei in Europa, bestimmt. Deren Weisungen werden von regelmäßig wechselnden Führungskadern, die ihrerseits vom KCDK-E bestimmt werden, an die Basis weitergegeben. Die Organisationsstruktur der PKK unterteilt das Bundesgebiet in neun Regionen (Eyalet), die wiederum in verschiedene Gebiete (Bölge) untergliedert sind. Sachsen-Anhalt findet sich Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 205 Ausländerextremismus im Bölge Sachsen bzw. in der Eyalet Berlin wieder. Zur Umsetzung ihrer Vorgaben bedient sich die PKK-Führung in Europa und Deutschland der örtlichen kurdischen Kulturvereine. Diese sind zu einem großen Teil in der "Konföderation der Gesellschaften Mezopotamiens in Deutschland" (Konfederasyona Civaken Mezopotamyaye li Elmanyaye, KON-MED) organisiert. Dies ist die Nachfolgeorganisation des "Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland" (Navenda Civaka Demokratik ya Kurden li Almanya, NAV-DEM). Mit Hilfe ihrer fünf Unterorganisationen bzw. Föderationen führt sie die Aufgaben als nun zuständiger Dachverband weiter. PKK-nahe Vereine in Sachsen-Anhalt werden dabei von der "Freie Kurdistan Föderation Ostdeutschland" ("Federasoyna Kurdistaniyen Azad li Rojhilate Almayna", FED-KURD) vertreten. Dazu gehören das "Demokratische Kurdische Gesellschaftszentrum ("Demokratik Kürt Toplum Merkezi", DKTM) Magdeburg" sowie der Verein "Mezopotamien Kulturhaus e.V." in Halle (Saale) (auch DKTM Halle (Saale). Sie dienen den hiesigen PKK-Anhängern als Anlaufstelle. 206 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Ausländerextremismus Überdies versucht die PKK mit Hilfe von Massenorganisationen, in denen sich PKK-Anhänger entsprechend ihrer Berufsund Interessengruppen organisieren, Kurden weiter an die Partei zu binden. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Jugendorganisation "Komalen Ciwan"/"Ciwanen Azad" (Gemeinschaft der Jugendlichen / Freie Jugend), die europäische Jugenddachorganisation "Tevgera Ciwanen Soresger" (Bewegung der revolutionären Jugend, TCS), die "Kurdische Frauenbewegung in Europa" (TJK-E) und die Studentenorganisation "Verband der Studierenden aus Kurdistan" (Yekitiya Xwendekaren Kurdistan, YXK). Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 250 (2019: etwa 250) Anhänger Bund: etwa 14.500 (2019: etwa 14.500) Damit zählt die PKK zu den mitgliederstärksten nichtislamistischen ausländerextremistischen Organisationen. VeröffentPKK-Nachrichtenagentur "Ajansa Nuceyan a Firalichungen te" (ANF), die täglich in diversen Sprachen, darunter Kurdisch, Türkisch und Deutsch, über aktuelle Ereignisse und Vorkommnisse in den kurdischen Siedlungsgebieten berichtet. Publikationen mit unterschiedlichen Erscheinungszyklen: "Serxwebun" (Unabhängigkeit) "Sterka Ciwan" (Stern der Jugend) "Newaya Jin" (Erlebnisse der Frauen) "Yeni Özgür Politika" (Neue freie Politik, YÖP); mehrere Fernsehsender wie z. B. "Sterk TV" Finanzierung Die PKK und ihre Folgeund Nebenorganisationen finanzieren sich zum größten Teil über Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 207 Ausländerextremismus ihre jährlichen "Spendenkampagnen" sowie Einnahmen aus dem Verkauf kurdischer Publikationen und Eintrittskarten für diverse Großveranstaltungen. Auch Mitgliedsbeiträge der PKK nahe stehender kurdischer Vereine kommen der Organisation zugute. Das Geld dient vor allem dem Unterhalt der hiesigen streng hierarchisch und territorial gegliederten Organisationsstrukturen, aber auch der Unterstützung der Guerilla in den Kampfgebieten. Das Einsammeln der Spenden stellt einen Schwerpunkt der Parteiarbeit insbesondere für die Führungskader dar. Die anhaltenden militärischen Konflikte in Nordsyrien, Nord-Irak und in den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei führen zu einem hohen Finanzbedarf der PKK, aber auch zu einer anhaltend hohen Spendenbereitschaft in der kurdischen Gemeinde. In Deutschland wird jährlich ein Spendenergebnis von weit mehr als zehn Millionen Euro erreicht. Kurzportrait / Ziele Abdullah ÖCALAN gründete gemeinsam mit weiteren Protagonisten im Jahr 1978 die marxistisch ausgerichtete PKK, deren ursprüngliches Ziel in der Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates auf den Gebieten Südostanatolien, Nord-Irak sowie in Teilen des westlichen Iran und des nördlichen Syrien bestand. In dem Selbstverständnis, alleiniger Interessenvertreter der kurdischstämmigen Bevölkerung zu sein, rief Öcalan 1984 zur Durchsetzung dieses Ziels zum bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat auf. In der Folge kam es zu zahlreichen terroristischen Anschlägen innerhalb und außerhalb der Türkei, so auch gegen türkische Einrichtungen in Deutschland. Bis heute sind diesen Auseinandersetzungen etwa 45.000 Menschen zum Opfer gefallen. 208 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Ausländerextremismus Aufgrund dessen unterliegen die PKK sowie ihre Nachfolgeorganisationen seit 1993 einem Betätigungsverbot in Deutschland. Seit 2002 listet die Europäische Union die PKK als terroristische Organisation. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus Oktober 2010 handelt es sich bei den Strukturen der PKK nicht um selbständige Teilorganisationen, sondern insgesamt um eine terroristische Vereinigung im Ausland. Mit der Verhaftung ÖCALANs im Jahr 1999 rückte die PKK von ihren separatistischen Zielen ab und verfolgt seitdem das Ziel einer autonomen Selbstverwaltung der Kurden innerhalb der bestehenden Ländergrenzen. Dennoch versucht sie weiterhin ihre Ziele mit Hilfe von schweren Gewalttaten, einschließlich der Tötung von Menschen, zu erreichen. Während die PKK auf dem Gebiet der Türkei terroristische Anschläge durchführt, bemüht sie sich in Europa um ein gewaltfreies Auftreten. Europa und insbesondere Deutschland stellen für die PKK eine unverzichtbare rückwärtige Basis dar, aus der die Organisation einen Großteil ihrer personellen und finanziellen Ressourcen schöpft. Zur Propagierung ihrer Ideologie nutzt die PKK insbesondere jährlich wiederkehrende zentrale Großveranstaltungen, zu denen sich nach wie vor teils tausende Teilnehmer mobilisieren lassen. Das vorhandene Mobilisierungspotenzial geht hierbei deutlich über die Anhängerzahl hinaus. Grund der Beobachtung Trotz ihres Kurswechsels Mitte der neunziger Jahre zu weitgehend friedlichem Verhalten in Deutschland stellt die PKK, insbesondere wegen ihrer fortwährenden Bereitschaft zu gewaltorientierten Aktionen zurückzukehren, nach wie vor eine Bedrohung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Darüber hinaus verfolgt die PKK ihre Ziele besonders in den kurdischen Siedlungsgebieten weiterhin mit Waffengewalt. Mit diesem Verhalten gefährdet sie die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des SS 4 Abs. 1 Nr. 4 VerfSchG-LSA. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 209 Ausländerextremismus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Einfluss der staatlichen Eindämmungsmaßnahmen auf die Aktivitäten Die Aktivitäten der PKK in Deutschland, so auch in Sachsen Anhalt, waren im Jahr 2020 maßgeblich von den Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie beeinflusst. Von den sonst von tausenden Menschen besuchten alljährlichen zentralen Großveranstaltungen konnten lediglich die Großdemonstration in Paris (Frankreich) am 11. Januar 2020 anlässlich des Jahrestages der Ermordung von drei PKK-Aktivistinnen sowie die Großdemonstration in Straßburg (Frankreich) am 15. Februar 2020 anlässlich des Jahrestages der Festnahme Abdullah ÖCALANs (einschließlich vorab durchgeführter Langer Märsche) durchgeführt werden. Unter den Teilnehmern befanden sich auch PKK-Anhänger aus Sachsen-Anhalt. In Deutschland fanden Großveranstaltungen nicht statt. Zu den für die PKK propagandistisch bedeutendsten Veranstaltungen zählen üblicherweise das Zentrale Newrozfest um den 21. März 2020 sowie das "Internationale Kurdistanfestival" im September. Ersatzweise riefen mehrere Organisationen des PKK-Geflechts, so der KCDK-E und die TJK-E, zu "kreativen" Formen des Feierns und Protestierens zum Widerstandsfest (Newroz) auf. So sollte gemeinsam an Fenstern und Balkonen mit Licht, Fahnen, Trillerpfeifen und Liedern gefeiert werden. Auch die regionale Vereinsarbeit der PKK kam während des "Lockdowns" fast gänzlich zum Erliegen, insbesondere da die Vereinsräume und Treffpunkte geschlossen werden mussten. Die Printausgabe der PKK-Tageszeitung YÖP wurde vorübergehend eingestellt und durch eine Online-Ausgabe ersetzt. Zu einem Schwerpunkt der PKK-Arbeit entwickelte sich zu dieser Zeit die Aufklärung der kurdischen Diaspora über gesundheitliche Schutzmaßnahmen. Sowohl der KCDK-E als auch der Frauenverband TJK-E riefen öffentlich zu verantwortungsvollem 210 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Ausländerextremismus Handeln auf, die Gesundheit der Menschen sei wichtiger als alles andere. Es wurden Gesundheitskomitees geschaffen und eigene Corona-Hotlines eingerichtet, über die Humanmediziner in verschiedenen Sprachen für bestehende Fragen erreichbar sein sollten. Mit ihrem fürsorgenden Verhalten zielte die PKKFührung darauf ab, den inneren Zusammenhalt der Kurden und auch die Wahrnehmung der Organisation innerhalb der kurdischen Gemeinschaft zu stärken. Sonstiges Veranstaltungsgeschehen Die anhaltende und immer wieder aufkommende Sorge um den Gesundheitszustand des PKK-Führers Abdullah Öcalan und dessen Haftbedingungen führte trotz pandemischen Einschränkungen wieder zu zahlreichen Protestaktionen. So fanden Ende Februar vereinzelte Kundgebungen statt, nachdem bekannt geworden war, dass auf der Gefängnisinsel Imrali1 ein Waldbrand ausgebrochen war. Unter anderem beteiligte sich der "Mezopotamien Kulturhaus e. V." Halle (Saale) mit einer Eilversammlung an den bundesweiten Protesten. Ebenso wie die Sorge um den PKK-Führer mobilisierten politische bzw. militärische Ereignisse in den kurdischen Siedlungsgebieten die PKK-Anhänger maßgeblich, ihrem Protest mittels Kundgebungen und Demonstrationen Ausdruck zu verleihen. 1 - In dem dort befindlichen Gefängnis ist Abdullah ÖCALAN inhaftiert Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 211 Ausländerextremismus Die entsprechenden Aufrufe erfolgten zumeist über die Europaführung der PKK sowie die Dachverbände in Deutschland. So auch im Juni nach Beginn der türkischen Militäroperationen im Nord-Irak gegen dort befindliche PKK-Stützpunkte. Über mehrere Tage wurden in zahlreichen Städten Protestaktionen durchgeführt, wenn auch aufgrund der Pandemieeinschränkungen zahlenmäßig nicht auf dem ansonsten üblichen Niveau. Auch PKK-Anhänger in Magdeburg beteiligten sich an den Protesten. Vor dem Hintergrund der eingeschränkten Möglichkeiten verlagerten sich weitere Aktivitäten der PKK zu einem großen Teil in das Internet, hin zu bundesund europaweiten Kampagnen. Unter anderem rief die KON-MED für den 10. Oktober 2020 zur Teilnahme an einem "dezentralen Aktionstag" unter dem Motto "#RiseUpAgainstIsolation" auf. Dieser "Aktionstag" war Teil einer Kampagne der KON-MED, mit der sie wiederum an eine Mitte September gestartete weltweite Kampagne der KCK unter dem Motto "Internationale Initiative 'Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan'" anknüpfte. Dem Aufruf folgten PKK-Anhänger in zahlreichen Städten, unter anderem in Magdeburg. Aktionsverhalten der PKK-Jugend Alternativ zum abgesagten "Internationalen Kurdistanfestival" wurden regional wenige kleine Ersatzveranstaltungen durchgeführt. In diesem Zusammenhang erfolgte vom 5. bis 11. September 2020 der alljährliche "Lange Marsch der Jugend" von Hannover (Niedersachsen) nach Hamburg. Das Motto lautete: "Für die Freiheit Öcalans - Zusammen erheben" . Entsprechende Märsche werden üblicherweise im Vorfeld der eigentlichen Hauptveranstaltung durchgeführt. Auf der vorletzten Etappe des Marsches kam es zu verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Teilnehmern und der Polizei. Etwa 90 Teilnehmer waren auf der Zugfahrt von Lüneburg nach Winsen (Luhe) (beides Niedersachsen) ohne gültiges Fahrticket festgestellt worden, 212 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Ausländerextremismus darüber hinaus trug die Mehrzahl nicht den vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutz. Unter den Personen befand sich eine Vielzahl von PKK-Mitgliedern. Der Gruppe wurde daraufhin die Weiterfahrt untersagt, was sowohl gegenüber dem Zugpersonal als auch den später eingesetzten Polizeibeamten in Beleidigungen und Körperverletzungen mündete. Auf der letzten Etappe des Marsches in Hamburg kam es ebenfalls zu anhaltenden Verstößen gegen die Auflagen der Versammlungsbehörde, gegen das Vereinsgesetz sowie gegen Vorgaben der Eindämmungsverordnung. Der Versammlungsleiter beendete die Veranstaltung, nachdem die Polizei zuvor die Auflösung angedroht hatte. In der Folge beurteilten verschiedene PKK-Jugendgruppen in einer gemeinsamen Presseerklärung den Polizeieinsatz als willkürlich, unrechtmäßig und politisch motiviert. Im Zusammenhang mit zwei Demonstrationen am 29. November in Leipzig (Sachsen) unter den Mottos: "Weg mit dem PKK-Verbot" sowie "Freiheit für Öcalan", auch Teil der bereits benannten Kampagne, kam es ebenfalls zu Konflikten. An den Demonstrationen nahmen TCS-Anhänger und deutsche Linksextremisten teil. Aufgrund von Verstößen gegen die Eindämmungsverordnung kam es zu Personenkontrollen und der Aufnahme der entsprechenden Personalien. Dies werteten die Betroffenen, unter ihnen auch Personen aus Sachsen-Anhalt, als politische Repressalie.2 2 - siehe dazu auch Linksextremismus und "Antirepression" auf Seite 163 ff. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 213 Ausländerextremismus "Kurdistansolidarität" Das Themenfeld "Kurdistansolidarität"3 ist innerhalb der deutschen linksextremistischen Szene seit vielen Jahren ein bedeutender Bestandteil der eigenen Aktivitäten. Grundlage dafür sind die ideologischen Schnittmengen in der politischen Ausrichtung. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich insbesondere jugendliche PKK-Anhänger und Linksextremisten zu gemeinsamen Aktivitäten bzw. Bündnissen zusammenfinden. In Sachsen-Anhalt kam es bereits in den vergangenen Jahren zur entsprechenden Zusammenarbeit. In Magdeburg trat das "Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg" (auch Solibündnis Kurdistan-Magdeburg) mit zahlreichen versammlungsrechtlichen Aktionen, aber auch Buchlesungen und Filmvorführungen in Erscheinung. Der überwiegende Teil dieser Aktivitäten befasste sich mit PKK-nahen Thematiken. Häufig fanden Kundgebungen infolge von bundesweiten Aufrufen der PKK-Führung statt. Beispielhaft dafür ist die Ausrichtung eines Grillfestes am 15. August 2020 anlässlich des Jahrestages der Aufnahme des bewaffneten Kampfes der Guerilla-Truppen der PKK im Jahr 1984 unter dem Motto "Piroz Be! 36 Jahre Guerilla-Widerstand". Dieser Tag wird in der PKK-Gemeinde jährlich als "Tag des Widerstands" gefeiert, stellt jedoch eine Verherrlichung der von den Guerilla-Truppen der PKK angewandten Gewalt dar. 3 - siehe auch Seite 148 214 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Ausländerextremismus Aber auch unabhängig von eigens gegründeten Bündnissen ist eine starke Solidarisierung der linksextremistischen Szene mit den Belangen der PKK präsent, so beteiligen sich Linksextremisten regelmäßig an Aktionen zur Abschaffung des PKK-Verbots. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der weitgehende Verzicht auf die traditionellen zentralen Großveranstaltungen stellte für die PKK eine der bedeutendsten Folgen der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie dar. Aufgrund dessen entgingen der Organisation zum einen erhebliche Geldeinnahmen, zum anderen fehlten ihr bedeutende Gelegenheiten, die Gemeinschaft der Kurden unter ihrer Führung zu einen. Es bleibt abzuwarten, ob es der Organisation gelingt, nach dem Ende der Beschränkungen für Großveranstaltungen zu den ehemals hohen Teilnehmerzahlen von bis zu 30.000 Personen zurückzufinden. Bereits vor der Pandemie schien es der PKK-Führung zunehmend schwerer zu fallen, Teilnehmer in der entsprechenden Größenordnung zu mobilisieren. Mit dem Aufruf, sich an die behördlichen Maßnahmen zu halten sowie der Schaffung eigener Hilfsund Aufklärungsmöglichkeiten, versuchte die PKK die Pandemielage dazu zu nutzen, um erneut ihren Alleinvertretungsanspruch für alle Kurden zu stärken. Dieses Verhalten der Organisationsführung ist nicht neu. Es war vor dem Hintergrund der in diesem Jahr fehlenden Massenveranstaltungen, die insbesondere dazu dienen den Zusammenhalt Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 215 Ausländerextremismus der PKK-Aktivisten zu demonstrieren und zu fördern, von besonderer Bedeutung. Nach wie vor ist die Sorge um die Haftsituation und den Gesundheitszustand des inhaftierten PKK-Führers Abdullah ÖCALAN sehr gut geeignet, die PKK-Anhängerschaft zu emotionalisieren und zu mobilisieren. Auch politische und militärische Ereignisse, insbesondere Interventionen gegen kurdische Siedlungsgebiete, werden die hohe Protestbereitschaft unter den in Deutschland lebenden Kurden auf einem hohen Niveau halten. Dabei wird die PKK in Deutschland weiterhin um ein friedliches, gewaltfreies Auftreten ihrer Organisationsmitglieder bestrebt sein; schon um ihre bisherigen Antrengungen im Hinblick auf eine mögliche Aufhebung des Betätigungsverbots nicht zu gefährden. Auch spielt hier der Schutz einer ihrer wichtigsten Rückzugsräume eine bedeutende Rolle. Dennoch wird Gewalt zumindest für Teile der PKK auch weiterhin eine Option zur Durchsetzung ihrer Ziele darstellen. Dies zeigen die wiederholten gewalttätigen Auseinandersetzungen unter Beteiligung von jugendlichen PKK-Anhängern. Bereits in der Vergangenheit kam es wiederholt zu Gewaltexzessen unter Beteiligung von jugendlichen PKK-Anhängern. Trotz Bemühungen der PKK-Führung ein gewaltfreies Auftreten der Organisation in Deutschland zu fördern, gelingt es ihr offenbar nicht in Gänze, auch ihre jugendlichen Anhänger davon zu überzeugen. Die wiederholten Strafund Gewalttaten zeigen die nach wie vor vorhandene Gewaltbereitschaft unter den Anhängern der PKK-Jugendorganisationen. Neben den ideologischen Gemeinsamkeiten vermag vor allem die Gewaltbereitschaft von jugendlichen PKK-Anhängern und Angehörigen der linksextremistischen Szene, gemeinsame Aktivitäten zu befördern. Zukünftig werden bislang erfolgreiche Bündnisse dieser Art weiter an Bedeutung gewinnen. 216 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Ausländerextremismus Die bereits benannten militärischen Interventionen, insbesondere der Türkei, gegen kurdische Siedlungsgebiete werden weiterhin einerseits zu einem hohen Bedarf an jungen Kämpfern führen, andererseits die Bereitschaft jugendlicher PKK-Anhänger, sich dem bewaffneten Kampf der Guerilla-Truppen anzuschließen, fördern. Hier ist das Erkennen entsprechender Rekrutierungsbemühungen schon in den Anfängen wichtig. Die Verfassungsschutzbehörde nimmt diesbezügliche Hinweise gerne entgegen, bietet jederzeit Hilfe an und sichert Vertraulichkeit zu. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 217 Scientology organiSation SCIENTOLOGY ORGANISATION (SO) 1 2 Sitz Los Angeles (USA) Verbreitung "Scientology-Kirche Deutschland" (SKD) München; weitere Niederlassungen in Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Hannover und Stuttgart Gründung 1954 von Lafayette Ronald Hubbard in den USA ; sein Nachfolger ist David MISCAVIGE 1970 erste Niederlassung in Deutschland Struktur Die Scientology Organisation (SO) ist eine Aufbau internationale Organisation mit strikter Hierarchie und totalitärem Anspruch. Deutschland nimmt in Europa eine herausragende Bedeutung ein. Dachverband in Deutschland ist die "Scientology-Kirche Deutschland" (SKD) mit Sitz in München. Sie betreibt mehrere "Kirchen", darunter zwei "Celebrity Centres" für die Gewinnung und Ausbildung von Mitgliedern. Die lokalen Niederlassungen der SO sind nur scheinbar selbständig, sie sind in das weltweite aus den USA gesteuerte System eingebunden. Nebenorganisationen der SO: "Office of Special Affairs"(OSA), "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V." (KVPM), 1 - Das "S" steht für Scientology. Das untere ARCDreieck steht für Affinität, Realität und Kommunikation (Communication), das obere KRC-Dreieck steht für Wissen (knowledge), Verantwortung (responsibility) und Kontrolle (control). 2 - Das Scientology-Kreuz entstand 1954, L. Ron Hubbard fand den grundlegenden Entwurf für das Sonnenkreuz der Scientology in einer alten spanischen Mission in Arizona. 218 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Scientology organiSation "World Institute of Scientology Enterprise"(WISE), "Applied Scholastics" (ApS), "Criminon", "Narconon", "Jugend für Menschenrechte", "The Way to Happiness Foundation" (TWTH-Foundation), "Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben". Mitglieder Sachsen-Anhalt: einstelliger Bereich Anhänger Bund: etwa 3.500 VeröffentWeb-Angebot: lichungen www.scientology.de Internationale Publikationen: Impact, Scientology News, Celebrity, Source, Freewinds, OT-Universe, The Auditor, Advance deutschsprachige Publikation: Freiheit Finanzierung Vertrieb von kostenpflichtigen Kursen und Kursmaterialien, Spenden Kurzportrait / Ziele Die international aktive "Scientology Organisation" (SO) strebt ein totalitäres gesellschaftliches System nach Vorlage der Ideologie ihres Gründers Hubbard an ("Clear-Planet") . Dabei teilt SO die Menschheit ein in "Aberrierte", d. h. Nicht-Scientologen, geistig Gestörte, deren Menschenrechte eingeschränkt werden müssen und in "Nichtaberrierte" (= Scientologen). Grund der Beobachtung Die Lehre der SO stellt eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung dar. Nicht nur Einschränkungen wesentlicher Grundund Menschenrechte - wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung - sind Konsequenzen der Lehre, sondern es Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 219 Scientology organiSation wird auch eine Gesellschaft ohne allgemeine und gleiche Wahlen angestrebt. Auch das Rechtsstaatsprinzip wäre in einer Gesellschaft im Sinne der Vorstellung der SO außer Kraft gesetzt. Zum Erreichen ihrer Ziele versucht die Organisation - zumeist verdeckt -, sowohl Gesellschaft und Wirtschaft als auch Politik zu beeinflussen. Mit der Entscheidung des OVG Münster vom 12. Februar 2008 ist die Rechtmäßigkeit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz bestätigt worden. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Es konnten einzelne Aktionen von Scientology-Mitgliedern aus Sachsen-Anhalt unter der Nebenbzw. Tarnorganisation "Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben" beobachtet werden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick SO unternimmt weiterhin Anstrengungen, um gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen, die Organisation zu vergrößern und die finanziellen Einnahmen zu erhöhen. Hierzu versucht sie insbesondere junge Erwachsene anzusprechen. Ihrem Ziel der Errichtung einer scientologischen Gesellschaft wird SO in Sachsen-Anhalt nicht näher kommen. Ihr gelingt es nach wie vor nicht, Mitglieder zu gewinnen und Strukturen aufzubauen. 220 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Spionageabwehr Spionageabwehr Spionage bezeichnet das verdeckte nachrichtendienstliche Beschaffen und Erlangen nichtöffentlich zugänglicher Informationen oder geschützten Wissens seitens fremder staatlicher Mächte. Das Interesse beinahe aller Regierungen der Staaten dieser Welt ist auf das Gewinnen umfangreicher Informationen aus dem Ausland gerichtet. Der Fokus liegt hierbei insbesondere auf den Themenfeldern Politik, Militär, Forschung und Wirtschaft. Aufgrund ihrer geostrategischen Lage, der bedeutenden Position innerhalb der Europäischen Union (EU) und der NATO sowie als eine der führenden Exportnationen mit Standorten zahlreicher Unternehmen der Spitzentechnologie ist die Bundesrepublik Deutschland ein prioritäres Aufklärungsziel für Nachrichtendienste fremder Staaten. Daher ist es die Aufgabe der Spionageabwehr, sich mit der Aufklärung, der Abwehr und der Prävention von Spionageaktivitäten fremder Nachrichtendienste zu beschäftigen. Die Spionageabwehr sammelt gemäß SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA Informationen über geheimdienstliche Aktivitäten und wertet diese aus. Im Rahmen der sogenannten "360-GradBearbeitung" wird allen tatsächlichen Anhaltspunkten für sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Geltungsbereich des Grundgesetzes nachgegangen. Die Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt arbeitet daher eng mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), den Landesbehörden für Verfassungsschutz (LfV), dem Bundesamt für den militärischen Abschirmdienst (BAMAD) sowie allen anderen Sicherheitsbehörden zusammen. Da die Tätigkeit von Nachrichtendiensten im Zielland von der jeweiligen Spionageabwehr beobachtet wird, werden Nachrichtendienstangehörige unter dem Schutz des Diplomatenstatus oder konsularischem Schutz in den Auslandsvertretungen der fremden Staaten untergebracht. Man spricht von so genannten Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 221 Spionageabwehr Legalresidenturen. Um geheimhaltungsbedürftige Tatsachen zu erlangen setzen fremde Nachrichtendienste nicht nur ihr eigenes Personal ein. Sie versuchen zudem Bürger des Gastlandes für ihre Zwecke zu gewinnen. Diese Vorgehensweise ist als Agentenführung bekannt. Hinzu treten nachrichtendienstlich gesteuerte Aktivitäten im Internet. Dabei werden verschiedenste Kanäle genutzt. Ziel ist das Beeinflussen der politischen Ebenen, um ein Höchstmaß an Durchschlagskraft zu erreichen. Die Handlungsoptionen reichen von den entsprechenden Cyberangriffen bis zur Einflussnahme mittels der sozialen Medien, in denen so genannte "Trollfabriken" Meinungen und Tatsachen gemischt mit "Fake News" posten. In den Kurznachrichtendiensten konnten so genannte "Robots" in erheblichem Umfang tendenziöse Meinungen veröffentlichen. Das "Leaken" von Daten, mithin das illegale Veröffentlichen vertraulicher personenbezogener Daten, soll Opfer bloßstellen, um sie so ihres Einflusses zu berauben oder sie lächerlich zu machen. Weiterhin werden die erbeuteten Dateien mit Malware versehen und danach einer zweiten Nutzung zugeführt. Die Russische Föderation, die Volksrepublik China und die Islamische Republik Iran können als Hauptakteure entsprechender sicherheitserheblicher Aktivitäten gegen Deutschland und das Bundesland Sachsen-Anhalt bezeichnet werden. Allerdings spielen auch weitere Staaten eine Rolle. Im Hinblick auf Auslandreisen, insbesondere in die Russische Föderation und nach China, besteht für deutsche Staatsangehörige die Gefahr, das Interesse dortiger Nachrichtendienste zu wecken. Dies kann insbesondere Firmenvertreter und Angehörige des Öffentlichen Dienstes betreffen. Erfahrungen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass immer wieder Reisende mit vermeintlichen Vorwürfen zu Fehlverhalten oder Strafbarkeiten angesprochen werden und kompromittierende Situationen erschaffen werden. Auf diesen Wegen wird Druck auf sie ausgeübt, um für nachrichtendienstliche Tätigkeiten zu werben bzw. 222 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Spionageabwehr um die Preisgabe von Informationen zu erwirken. Ebenso muss bei solchen Reisen mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass mitgeführte Unterlagen und Technik (Mobiltelefone, Laptops etc.) im Interesse eines Nachrichtendienstes ausspioniert werden. Russische Nachrichtendienste Von Interesse für die russischen Nachrichtendienste sind alle nationalen und internationalen deutschen Politikfelder, die einen Bezug zur Russischen Föderation aufweisen, vor allem Handlungsgebiete der Außen-, Sicherheits-, Bündnisund Wirtschaftspolitik. Spionagemaßnahmen richten sich speziell gegen politische Mandatsträger, Denkfabriken, Nichtregierungsorganisationen und Vereine mit Bezügen zu Russland oder anderen osteuropäischen Staaten. Mit Propaganda und Desinformation, insbesondere über staatlich gelenkte Medien, soziale Netzwerke und über staatliche Institutionen versuchen speziell russische Nachrichtendienste Einfluss auf Willensbildungsprozesse auszuüben und in dieser Folge destabilisierend Misstrauen und negative Stimmung in der Bevölkerung zu schüren. Die drei maßgeblichen Nachrichtendienste sind - der Auslandsnachrichtendienst SWR1, - der Inlandsnachrichtendienst FSB2 und - der militärische Nachrichtendienst GRU.3 Sie haben weitreichende gesetzliche Befugnisse und flankieren die Interessen der Regierung mittels verborgener und offener Maßnahmen. Neben den Ministerien für Verteidigung, Inneres und Justiz sowie weiteren Sicherheitsbehörden gehören sie zum unmittelbaren Einflussbereich des russischen Staatspräsidenten. Angehörige russischer Nachrichtendienste, die in Deutschland 1 - Sluschba Wneschnei Raswedki 2 - Federalnaja Sluschba Besopasnosti 3 - Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 223 Spionageabwehr aus den Botschaften und Konsulaten heraus operieren, missbrauchen ihren diplomatischen Status und das Vertrauen ihrer nicht selten arglosen Kontaktpersonen. Oft kommen sie allein durch geschickte Gesprächsführung an schutzbedürftige Informationen heran. Sofern Kontaktpersonen interessante Informationen liefern können, versuchen diese "Legalresidenturoffiziere" die bislang offenen Kontakte auszubauen und konspirative Elemente in die Verbindung einzuführen. Persönliche Zuwendungen werden intensiviert, offene Telefonate vermieden und konspirative Treffen im Voraus festgelegt. Die Nachrichtendienstmitarbeiter bauen vertrauensvolle und freundschaftliche Verbindungen auf, die dem Abschöpfen von Informationen dienen. Dazu werden Bitten um Zusammenstellung unverfänglicher Informationen geäußert, denen konkrete Beschaffungsaufträge folgen können, die mit Sachoder Geldleistungen honoriert werden. Die Bitte um absolute Verschwiegenheit, die von einem Vertreter einer konsularischen oder diplomatischen Vertretung geäußert wird, kennzeichnet eine konspirative, nachrichtendienstliche Verbindung. Chinesische Nachrichtendienste Der Fokus für die Nachrichtendienste der Volksrepublik China (VRC) liegt primär in der Absicherung des Machterhalts der "Kommunistischen Partei" (KPC). Klar definiertes Ziel der politischen Führung in Peking ist es, strategische Vorteile zu gewinnen, die eigenen wirtschaftlichen Interessen zu fördern und die Position der weltweit führenden Industrienation einzunehmen. Diese Ziele werden mithilfe von Informationsgewinnung in Politik, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft sowie in der Unterstützung des weiteren Ausbaus geostrategischer Ambitionen der Volksrepublik China verfolgt. Die Mitarbeiter der Nachrichtendienste agieren konspirativ und häufig getarnt als Diplomaten, Journalisten oder Studenten. Sie werden dabei an den amtlichen Vertretungen in der Bundesrepublik Deutschland, den sogenannten Legalresidenturen, eingesetzt. 224 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Spionageabwehr Die VRC verfügt über folgende Nachrichtendienste: Der zivile Inund Auslandsnachrichtendienst MSS4 ist selbst Ministerium und zentralistisch organisiert. Er verfügt über Außenstellen in jeder Provinz. Das MPS5 ist unter anderem zuständig für Ausländer und die Kontrolle des chinesischen Internets. Der MID6 ist der militärische Nachrichtendienst. Zudem unterhält die KPC mehrere funktionale Nachrichtendienste:7 - Das "Büro 610"8 dient der weltweiten Überwachung der Meditationsbewegung "Falun Gong". - Das IDCPC9, das Tatsachen und Erkenntnisse über Partnerparteien und Kontrahenten der KPC sammelt und auswertet. - Das UFWD10 bindet Mitglieder und Nicht-Mitglieder der KPC innerhalb der Volksrepublik und weltweit an die Interessen der KPC und sorgt für die Umsetzung der Parteilinie. So versucht die chinesische Regierung gezielt, Einfluss auf politische und wissenschaftliche Akteure anderer Staaten zu nehmen und universell gültige Menschenrechte zu relativieren. Dies geschieht unter anderem über die Konfuzius-Institute (KI), die zwar offiziell den Anschein der Unabhängigkeit zu erwecken versuchen, tatsächlich aber einer direkten politischen Einflussnahme unterliegen. Die Institute sind teilweise den Hochschu- 4 - Ministry of State Security - Ministerium für Staatssicherheit 5 - Minstry of Public Security - Ministerium für Öffentliche Sicherheit 6 - Military Intelligence Directorate - Direktorium für den Militärischen Nachrichtendienst 7 - Ein funktionaler Nachrichtendienst ist eine Organisation, die Spionage betreibt ohne Nachrichtenoder Geheimdienst zu sein. 8 - Der Name "Büro 610" basiert auf dem Gründungsdatum, den 10.06.1999.. 9 - International Liaison Department of The Central Committee of The Communist Party of China = Abteilung für Internationale Verbindungen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas. 10 - United Front Work Department = Zentralabteilung Vereinigte Arbeitsfront des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 225 Spionageabwehr len der Zielländer angegliedert und organisatorisch eng mit ihnen verflochten. Derzeit gibt es 19 chinesische KI in Deutschland. Nach eigener Aussage würden sie die chinesische Sprache und Kultur im Ausland fördern. Die weltweit tätigen Institute waren dem "Hanban", einer nachgeordneten Behörde des chinesischen Erziehungsministeriums, zugeordnet. "Hanban" ist die chinesische Abkürzung für das "Staatliche Führungsgruppenbüro für die internationale Verbreitung der chinesischen Sprache". Im Juni sind die KI von der chinesischen Regierung in die "Beijing Chinese International Education Foundation (CIEF)" überführt worden, um den Anschein der Unabhängigkeit zu erwecken. Gleichzeitig ist das "Center for Language Education and Cooperation (CLEC)" am bisherigen Sitz von Hanban gegründet worden und ersetzt dieses. Inhaltlich und personell zeigt sich bei beiden Institutionen keine nennenswerte Neuausrichtung. Die Nähe der KI zur KPC dürfte daher weiterhin bestehen bleiben. Eine Entideologisierung der KI oder gar deren Abnabelung vom Parteistaat ist folglich nicht zu erwarten. KI gefährden vielmehr auch weiterhin die akademische Freiheit in Forschung und Lehre und werden als wichtige politische Einflussakteure und Instrumente der Machtprojektion der KPC im Ausland aktiv bleiben.11 Mit dem geostrategischen Projekt der chinesischen Staatsführung, die "neue Seidenstraße" oder "Belt and Road Initiative" (BRI), wird das Ziel verfolgt, den Zustrom von Rohstoffen in die VRC zu beflügeln und den eigenen Warenabsatz zu verbessern. Hierbei wird die wirtschaftliche Abhängigkeit der Partnerländer aufgrund der Errichtungsund Ausbaukosten, welche mit chinesischen Kredite vorfinanziert werden, bewusst in Kauf genommen. Die BRI soll den geologistischen Rahmen bilden, um die Strategie "Made in China 2025" umzusetzen. Um die westliche Innovationsdominanz zu übertreffen und bis zum Jahr 2049 die 11 - Vgl. Bundestagsdrucksache 19/29891 226 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Spionageabwehr globale Marktund Technologieführerschaft zu erreichen, beabsichtigt die VRC folgende zehn Schlüsselindustrien auszubauen: 1. neue Informationstechnologien, 2. Robotik und automatisierte Werkzeugmaschinensysteme (Industrie 4.0), 3. Luftund Raumfahrt, 4. Meerestechnik (inklusive Rohstoffund Energiegewinnung sowie Spezialschiffbau), 5. moderne Schienenverkehrstechnik, 6. Elektroanlagenbau, 7. neue Energien und alternative Antriebe, 8. neue Werkstoffe und Materialien, 9. Biopharmazie und Medizintechnik, 10. Landwirtschaft (Digitalisierung von landwirtschaftlichen Maschinen und Prozessen). Zur Aneignung fortgeschrittenen Know-hows strategisch bedeutsamer ausländischer Unternehmen setzt die VRC erhebliche finanzielle Mittel ein. Seit der stufenweise Öffnung des Landes machte sich China in immer stärkerem Maße Auslandskapital in Form von Direktinvestitionen (ADI = ausländische Direktinvestitionen) zunutze. Wurden anfänglich noch Lohnveredelungsund Kompensationsgeschäfte abgeschlossen, dann Joint Ventures, so ist mittlerweile der Erwerb in ausländischem Eigentum stehender Unternehmen üblich. Innerhalb der letzten zehn Jahre haben die Direktinvestitionen (einschließlich Firmenübernahmen) aus China in Deutschland deutlich zugenommen. Zur Vorsorge und zum Schutz kritischer Infrastrukturen sowie der für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bedeutsamen Unternehmen sind gesetzliche Regelungen erlassen worden. Wenn Akteure von außerhalb der EU ein solches Unternehmen erwerben möchten, greift ein staatliches Prüfverfahren. Die außenwirtschaftsrechtliche Investitionsprüfung für ausländische Direktinvestitionen in Deutschland wird im Außenwirtschaftsgesetz (AWG) und in der Außenwirtschaftsverordnung (AWV) Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 227 Spionageabwehr geregelt. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) ist die für die Investitionsprüfung zuständige Behörde. Die Bundesregierung hat im Berichtszeitraum die außenwirtschaftliche Investitionsprüfung zweimal verschärft. Die Übernahme von Unternehmen aus strategisch wichtigen Industriesektoren wird zum Schutz nationaler und europäischer Sicherheitsinteressen damit weiter erschwert. Der Wirtschaftsschutz12 kann im Vorfeld solcher Übernahmeversuche beratend und sensibilisierend tätig werden. Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran Das vorrangige Interesse iranischer Nachrichtendienste gilt der Bekämpfung und Ausspähung von im Inund Ausland lebenden bzw. tätigen oppositionellen Personen und Gruppierungen. Das vorrangige Interesse gilt der Ausspähung von Aktivitäten der iranischen Opposition im Ausland, wie dem "Nationalen Widerstandsrat Iran" (NWRI) und seinem ehemals militärischen Arm, der "Volksmodschahedin Iran-Organisation" (MEK13), iranischmonarchistischen oder iranisch-kurdischen Gruppierungen sowie der Überwachung der nach Deutschland geflohenen Iraner. Als Hauptakteur nachrichtendienstlicher Aktivitäten kann das MOIS14 gelten. Daneben betreiben die Revolutionsgarden15 einen eigenen Nachrichtendienst RGID16 und verfügen mit den Quds Force17 über Spezialkräfte für militärische Kommandoaktionen und Staatsterrorismus. Die Ausspähungsaktivitäten der Quds Force richten sich insbesondere gegen (pro-)jüdische bzw. (pro-)israelische Ziele sowie einzelne exponierte für diese Einrichtungen tätige Personen, die vorbereitend für den Bedarfsfall als potenzielle Anschlagsziele 12 - siehe auch Seite 236 13 - Modschahedin e-Khalq 14 - Ministry of Intelligence of the Islamic Republic of Iran 15 - Iranian Revolutionary Guard Corps (IRGC), persisch: Pasdaran. 16 - Revolutionary Guard Intelligence Directorate 17 - Al-Quds bedeutet "die Heilige", die arabische Bezeichnung für Jerusalem. 228 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Spionageabwehr beobachtet werden. Führende Politiker Irans haben den Staat Israel wiederholt zum Feindstaat erklärt und öffentlich mit Vernichtungsdrohungen belegt. Iranisch unterstützte Terrororganisationen greifen den Staat Israel mit Waffengewalt an. In den letzten Jahren wurden wiederholt geheimdienstliche Ausspähungsaktivitäten und Cyberangriffe iranischer Nachrichtendienste in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt. Auch Institutionen in Sachsen-Anhalt waren betroffen bzw. bedroht. Andere Nachrichtendienste Die Nachrichtendienste Nordafrikas sowie des nahen und mittleren Ostens werden in Deutschland hauptsächlich gegen Oppositionelle ihrer Heimatländer aktiv. Das gilt insbesondere dann, wenn sich diese in Deutschland entsprechend betätigen, an Demonstrationen teilnehmen oder sich in Kampagnen gegen die Regierungen ihrer Herkunftsländer engagieren. Im Zusammenhang mit nachrichtendienstlich relevanten Vorgängen in Deutschland ist insbesondere ein verstärktes Agieren der Nachrichtendienste der Türkei zu vernehmen. Der Inund Auslandsnachrichtendienst Milli Istihbarat Teskilati (MIT) hat in der türkischen Sicherheitsarchitektur eine zentrale und tragende Rolle. Hauptziel ist hierbei die Beobachtung der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) und der sogenannten GülenBewegung. Türkische Stellen werfen dem islamischen Prediger Fethullah Gülen und seinen Anhänger vor, für den gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 verantwortlich gewesen zu sein. Im Fokus türkischer Nachrichtendienste sind weltweit weitere Personen und Organisationen, die aus türkischer Sicht als extremistisch oder terroristisch beurteilt werden. Zu den nachrichtendienstlichen Aktivitäten gegenüber Geflüchteten verweisen wir auf unsere Broschüre: "Aktivitäten extremistischer Akteure im Zusammenhang mit Flüchtlingen" (S. 41ff.). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 229 Spionageabwehr Diese kann unter: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/publikationen/publikationen-tagungsbaende/ heruntergeladen oder bestellt werden. Hybride Bedrohungen Hybride Bedrohungen sind gekennzeichnet von der kombinierten Anwendung konventioneller und nicht-konventioneller Mittel im gesamten Spektrum ziviler bis hin zu (para-)militärischen Maßnahmen. Sie zeichnen sich im Regelfall durch gezielte Verschleierung der eigenen Urheberschaft aus. Hybride Aktivitäten zielen darauf ab, das gesamtgesellschaftliche und politische Gefüge in einem Land zu schwächen oder zu stören und damit eigene Zielsetzungen zu verfolgen. Diese Aktivitäten sind in den letzten Jahren zu einem bedeutsamen Mittel im Kampf um Einfluss und Vorherrschaft im globalen Gefüge geworden. Ein herausragendes Instrument ist der Einsatz sogenannten Desinformationskampagnen. Amerikanische Experten haben Methoden untersucht, wie die Wirkung von Desinformation erfolgreich eingedämmt werden könnte. Dabei haben sie festgestellt, dass Desinformationsgläubige nur selten allein mit faktenbasierten Gegenkommunikationsmaßnahmen umgestimmt werden können.18 Einerseits wird hierfür das amerikanische Mediensystem verantwortlich gemacht. Dabei wird neben der raschen Verbreitung von Desinformation in Sozialen Medien auch das Aufkommen der sogenannten neuen Plattformen der "Alternativen Medien", der politisch eher rechtsstehenden Medienoutlets, benannt. Die "Desinformationskrise" in den Vereinigten Staaten begründe sich zudem in einem ausgehöhlten Medienapparat. So sei in den letzten zwanzig Jahren immer weniger in die öffentlich-rechtlichen Medien investiert worden. Viele Zeitungen seien zudem von parteiischen Online-Portalen ersetzt worden. 18 - Vgl. The Guardian: "Facts won't fix this: experts on how to fight America's disinformation crisis" vom 01.01.2021, in: www.theguardian.com 230 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Spionageabwehr Doch auch die Vermittlungsart der Inhalte habe sich geändert. Während die traditionellen etablierten Medien weiterhin eine top-down Verbreitung verfolgen, sind die rechtsstehenden alternativen Medien und ihre Moderatoren untereinander vernetzt. So würden sie als eine Art Gemeinschaft Inhalte selbst generieren und sich gegenseitig mit ihren Themen bestätigen. Die Reaktion von prominenten Persönlichkeiten, beispielsweise ranghohen Amtsinhaber, erzeugen dann eine weitere Berichterstattung in den Medienoutlets. Eine Professorin der Universität Washington nennt dieses Phänomen "partizipatorische Desinformation". Innerhalb dieser Filterblase würden Narrative verfangen, Mediennutzer ein emotionales Verhältnis zu Informationen entwickeln. Für diese Anhängerschaft werden ganzheitliche Narrative wichtiger als einzelne Fakten - rationale Argumente erzeugten keine Wirkung. Diese Form der Desinformationsverbreitung sei, so die Expertin, effektiver als eine top-down Verbreitung von Propaganda. Zudem würden in diesen Fällen Faktenchecks, das Entlarven von Desinformation als Falschnachrichten oder auch Gegenargumente nicht verfangen. Zunehmend erschwerend sei es, dass sich Desinformation in Gruppen von Verschwörungsgläubigen rasch verbreiten. Fakten würden mit Verschwörungsmythen erklärt und in weiteren Verschwörungserzählungen eingebettet werden. Sich aus diesem Desinformationskreislauf zu lösen, habe besonders hohe Hürden für die Beteiligten. Anhänger der Gruppen müssten sich aus der in sich geschlossenen Blase befreien - das sei jedoch für viele mit Verrat an den dort gewonnen sozialen Kontakten verbunden. Die Experten merken zudem kritisch an, dass Kontakte in der Realwelt - beispielsweise Freunde oder Familienmitglieder der Desinformationskonsumenten - sich von den Betroffenen abgrenzen würden. Ein Diskurs finde nur selten statt, dabei seien es gerade diese sozialen Kontakte, die das emotionale Verhältnis zur Desinformation durchbrechen könnten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 231 Spionageabwehr Die Wissenschaftler stellen resümierend fest, dass die Desinformationsverbreitung, beispielsweise zu Themen rund um das US-Wahlergebnis, die Bekämpfung der Pandemie erschwert habe. Doch auch langfristige Folgen für die US-amerikanische Gesellschaft seien denkbar. So habe das Misstrauen in demokratische Strukturen auch Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diverse Einflussnahme-Bemühungen sind in folgenden Handlungsfeldern zu beobachten: - im Informationsraum und gesellschaftlichen Raum, - im Cyberraum, - im politischen Raum wie auch - im Raum von von Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung. Für viele Staaten ist die im Berichtsjahr begonnene Pandemie ein Aufhänger gewesen, sich global vorteilhaft zu positionieren oder ihre Interessen entsprechend zu vertreten. Dabei wird auch Desinformation betrieben und in bisherige Narrative eingepflegt. Hinzu traten neue Botschaften von hybrid agierenden Staaten, die vermeintlich gutes Krisenmanagement und Hilfsbereitschaft herausstreichen. Die propagandistischen Botschaften zielen sowohl auf andere Staaten beziehungsweise den globalen Informationsraum wie auch auf die jeweils eigene Öffentlichkeit. Im Berichtsjahr suggerierte RT DE19 im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, dass die Bundesregierung deutsche Medien gezielt instrumentalisiert habe, um Angst in der Bevölkerung zu schüren und so die aus Sicht des staatsnahen Senders völlig überzogenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie durchzusetzen. Auch wenn die Frequenz der Berichterstattung im Berichtszeitraum deutlich gesunken ist, setzten russische Akteure wie RT DE 19 - bis 2009 Russia Today - ist Teil des Rossija Segodnja, ein staatliches Medienunternehmen der Russischen Föderation 232 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Spionageabwehr ihre grundsätzliche Berichterstattung gegen die Bundesregierung und die deutschen Medien, die angeblich von der Bundesregierung kontrolliert werden, fort. Im Dezember 2020 wurde ein Cyberangriff20 auf die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) bekannt. Die EMA behandelte seit Oktober das beschleunigte Zulassungsverfahren für die COVID19-Impfstoffe der Firmen Pfizer/BioNTech, Moderna und AstraZeneca. In diesem Zusammenhang veröffentlichte ein russisches Hacking-Forum Ende des gleichen Monats eine Sammlung von Dokumenten. Dabei soll es sich um Screenshots der E-Mail-Kommunikation sowie eine Reihe von Dokumenten und Präsentationen gehandelt haben, die mutmaßlich im Zusammenhang mit der EMA-Impfstoffzulassung von Pfizer/BioNTech standen. Als Bezeichnung trug die Dokumentensammlung den Titel "Evidences of the BIG DATA SCAM of Pfizer's vaccines!"21 sowie den Begleitsatz "Astonishing Fraud! Evil Pfizer! Fake Vaccines!".22 Auch die VRC setzte ihren Propagandaund Desinformationsapparat aggressiv ein, um jeglicher Kritik entgegenzuwirken. So zeichnete sich eine zunehmend offensive PR-Strategie nach dem Bekanntwerden des SARS-CoV2-Virus in Wuhan zu Beginn des Jahres ab. Nach anfänglichem Zögern in der Reaktion auf das Infektionsgeschehen stellte sich China nicht nur als verantwortungsvoll handelnd dar, sondern verbreitete Desinformation über den Ursprung des Virus. Ferner wurde eine vermeintliche Krisenlösungskompetenz von Staat und Partei, die Überlegenheit des eigenen politischen Systems und das Scheitern der westlicher Demokratien bei der Pandemiebekämpfung propagiert. Ebenso wurden die weltweiten Unterstützungsleistungen Chinas an über 120 Staaten hervorgehoben und die Zusammenarbeit mit der WHO als vorbildlich erklärt. Die Lockdowns 20 - siehe auch Seite 234 f. 21 - Übersetzt: "Der Beweis für den Big-Data-Betrug von Pfizer's Impfstoffen!" 22 - Übersetzt: "Erstaunlicher Betrug! Böser bzw. teuflischer Pfizer! Gefälschte Impfstoffe!" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 233 Spionageabwehr in ganz China, die erfolgte Wiedereröffnung der Provinz Hubei wurden als Erfolg dargestellt und man betonte die Notwendigkeit von Wissenschaft und weiterer Forschung in Bezug auf das neuartige Virus. Eine Analyse des "Digital Forensic Research Lab" (DFRLab) des Atlantic Council zusammen mit dem Investigativ-Team der Nachrichtenagentur Associated Press (AP), die im Februar 2021 veröffentlicht wurde, zeichnet den Wettstreit der Desinformationsnarrative über die Ursprünge der Corona-Pandemie in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 nach.23 Sie stellt unter anderem Desinformation und Propaganda Chinas im Informationsraum zu den Ursprüngen des Virus seit Ende Januar/Anfang Februar 2020 dar. Die während des Pandemiegeschehens mit hybriden Bedrohungen und Desinformationskampagnen agierenden fremden Staaten werden ihre die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdenden Einflussnahmeoperationen weiter betreiben. Solange die Pandemie trotz aller Impfbeteiligungen die Gesellschaft weiter bewegt, wird auch der Einsatz von Desinformation - exemplarisch für den Gebrauch manipulativer Methoden im Kampf um die Deutungshoheit in gesellschaftlichen Diskursen - weiter an Bedeutung gewinnen. Cyberabwehr Der Cyberraum bietet fremden Nachrichtendiensten sowie anderen fremden staatlichen oder staatlich unterstützten Akteuren eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Bundesrepublik Deutschland und ihre verbündeten und befreundeten Staaten zu schädigen, Informationen zu stehlen oder unbrauchbar zu machen. Er hat sich diesbezüglich in den letzten Jahren zu 23 - Vgl.: Graham Brookie, Andy Carvin, Zarine Kharazian und lain Robertson (Hrsg.): "Weaponized - How rumors about COVID-19s origins led to a narrative arms race", Washington 2021, in https://www.atlanticcouncil.org/wp-content/ uploads/2021/02/Weaponized-How-rumors-about-COVID-19s-origins-led-toa-narrative-arms-race.pdf 234 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Spionageabwehr einem bedeutendem Aktionsfeld entwickelt, in dem sich zunehmend entsprechende Aktivitäten entfalten. Die fortschreitende Digitalisierung und Vernetzung von Geräten, Arbeitsbereichen sowie Geschäftsund Produktionsprozessen bietet eine wachsende Anzahl von Angriffsvektoren. Im Fokus der Angreifer stehen jegliche Hardund Software, die über das Internet erreichbar sind. Cyberangriffe stellen daher eine ernste Bedrohung für unsere Gesellschaft dar. Die Corona-Pandemie zwang Wirtschaft, Wissenschaft, Schulen und Behörden in einem bisher unbekannten Ausmaß Fernzugriffswerkzeuge einzusetzen, um Homeoffice für viele Beschäftigte zu ermöglichen oder Besprechungen, Tagungen und Konferenzen im Internet durchzuführen. Die Schwächen dieser plötzlich massenhaft eingesetzten Software wurden folglich für Ausspähzwecke oder Cyberangriffe ausgenutzt. Die Anzahl der interessanten und für Angreifer potenziell nutzbarer Angriffsziele stieg enorm an. Auch Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie selbst werden zur Zielscheibe von Cyberangriffen: Die Bewältigung der Pandemie hängt an der Verfügbarkeit von Impfstoff für alle Bürgerinnen und Bürger. Bereits im Sommer konnten - wie befürchtet - unterschiedlich motivierte Cyberangriffe gegen Unternehmen der Arzneimittelforschung festgestellt werden. Diese gipfelten in dem Cyberangriff auf die EMA am 8. Dezember 2020, während in der europäischen Behörde das Zulassungsverfahren für den Impfstoff von BioNTech und Pfizer erfolgte. Den Angreifern gelang es, einzelne Dokumente aus dem Zulassungsverfahren auszuleiten. Sie wurden noch im Dezember im Internet mit dem Ziel veröffentlicht, auf vermeintliche Unzulänglichkeiten im Zulassungsverfahren hinzuweisen, die Glaubwürdigkeit der EMA zu untergraben und den Impfstoff in ein schlechtes Licht zu rücken. Die Lieferketten der Impfstoff produzierenden Unternehmen waren ebenfalls mit Cyberangriffen konfrontiert. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 235 Spionageabwehr Wirtschaftsschutz Der Wirtschaftsschutz informiert über Mittel, Methoden und Absichten fremder Nachrichtendienste, sich illegal Know-how zu verschaffen, und über Extremismus und Terrorismus. Wirtschaft und Wissenschaft sollen darin unterstützt werden, eigenverantwortlich und effektiv Maßnahmen gegen Ausforschung (insbesondere Wirtschaftsspionage), Sabotage und andere schädliche Einwirkungen zu ergreifen. Sachsen-anhaltische Unternehmen sind nach wie vor und mit wachsender Intensität Cyberangriffen und fortbestehenden Gefahren der "klassischen" Ausforschung mittels Wirtschaftsspionage ausgesetzt. Diese ist der gesetzliche Auftrag einiger fremder Nachrichtendienste. Das Firmenpersonal, das im Außendienst beschäftigt ist und insbesondere Auslandsdienstreisen unternehmen muss, unterliegt hierbei der stärksten Gefährdung, von fremden Nachrichtendiensten angesprochen oder verdeckt ausgeforscht zu werden. Unternehmen, die in der VRC wirtschaftlich selbständige Niederlassungen unterhalten, unterliegen seit 2020 einer besonderen Gefahr. Diese Niederlassungen sind dort gesetzlich gezwungen, die Steuersoftware INTELLIGENTTAX, die auch GOLDENTAX genannt wird, in ihrem Unternehmensnetzwerk einzusetzen. Diese lädt die Spionagesoftware "Golden Spy" nach der Installation zusätzlich herunter. Dadurch erhalten staatliche chinesische Stellen Zugriff auf das Unternehmensnetzwerk. Der Wirtschaftsschutz geht auf Unternehmen und Institutionen zu, wenn dies gewünscht ist oder konkrete Gefährdungshinweise vorliegen. Im Rahmen seiner Präventionsarbeit sucht der Wirtschaftsschutz insbesondere zu kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) Kontakt und wirbt dafür, Risiken und Bedrohungen ernst zu nehmen, entsprechend sensibel zu reagieren und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Im Fokus standen 2020 insbesondere Kritische Infrastrukturen und Unternehmen aus der 236 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Spionageabwehr pharmazeutischen Industrie. Der Wirtschaftsschutz rät allen Unternehmen eine Risikoanalyse zu fertigen, die Schutzmaßnahmen daran auszurichten und einen Notfallplan zu entwickeln, der regelmäßig einer Revision unterzogen wird. Die Beschränkungsmaßnahmen auf Grund der Corona-Pandemie verminderten die Kontaktmöglichkeiten des Wirtschaftsschutzes und die persönlichen Begegnungen im Rahmen von Wirtschaftsveranstaltungen. Die Kontaktpflege und der Schutz von denjenigen Unternehmen, die bereits eine Verbindung zum Wirtschaftsschutz unterhielten, traten in den Vordergrund. Der Wirtschaftsschutz ist mit den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder, den Industrieund Handelskammern in Sachsen-Anhalt, mit Wirtschaftsverbänden sowie wissenschaftlichen Lehrund Forschungseinrichtungen vernetzt, um sein Wissen und seine Analysen im Interesse der Sicherheit von Wirtschaft und Forschung zu teilen. Allen sachsen-anhaltischen Unternehmen, Unternehmensverbänden, Forschungsund Wissenschaftseinrichtungen steht der Wirtschaftsschutz mit seinem Informationsangebot in Form von Publikationen, Sensibilisierungen und Vorträgen kostenfrei zur Verfügung. Treten Sie mit uns in Kontakt: Telefon: 0391/567 3900 E-Mail: wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de Darüber hinaus sind aktuelle Informationen zu folgenden Spezialthemen verfügbar: - Besuchermanagement. Umgang mit Besuchern und Fremdpersonal. - Fokus Wissenschaft. Gefahren für Forschung und Lehre. - Elektronische Angriffe. Gefahren für Informationsund Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 237 Spionageabwehr Kommunikationstechnik. - Cloud Computing. Was KMU wissen und beachten sollten. - Geschäftsreisen. Sicherheit bei Auslandsreisen. - Industrie 4.0. Herausforderungen neuer Technologien. - Know-how-Schutz. Identifizieren. Bewerten. Schützen. - Personalauswahl. Loyalität als Sicherheitsgewinn. - Sicherheitslücke Mensch. Gefahr durch Innentäter. Social Media. Risiken durch soziale Netzwerke. Social Engineering. Informationsbeschaffung durch soziale Manipulation. Bei Interesse steht der Wirtschaftsschutz für Information und Beratung vor Ort - auch vertraulich - zur Verfügung. Proliferationsabwehr Mit Proliferation bezeichnet man die Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen, die Weiterverbreitung der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte, die Weiterverbreitung von Trägersystemen (Raketen, Drohnen etc.) und die Weiterverbreitung des dafür erforderlichen Know-hows. Die Finanzierung der Proliferation unterliegt ebenfalls einem strengen Sanktionsregime. Proliferation stellt eine Bedrohung des Friedens dar. Die Nachrichtendienste der Risikostaaten Pakistan, Nordkorea, Syrien und Iran stehen im Verdacht, Proliferation zu betreiben oder logistisch und personell Unterstützung zu leisten. Um illegale Exporte durchzuführen, wird beispielsweise der Endnutzer einer sensiblen Ware verschleiert und eine Beschaffung über Umweglieferländer gewählt, zudem werden Tarnfirmen und Strohmänner genutzt. 238 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Spionageabwehr Weitere Hinweise und Merkmale für Proliferation finden Sie in der Broschüre "Proliferation. Wir haben Verantwortung", die von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder herausgegeben wird. Sie kann im Internet unter: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/publikationen/ publikationen-spionage-und-proliferationsabwehr/ heruntergeladen oder als Druckschrift per E-Mail bei wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de angefordert werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 239 Spionageabwehr Mitarbeit der Bevölkerung Die Verfassungsschutzbehörde hat gemäß SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA den gesetzlichen Auftrag Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen über geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht zu sammeln und auszuwerten. Damit sie ihren Auftrag erfüllen kann, benötigt sie auch und gerade Hinweise auf die Tätigkeit fremder Nachrichtendienste. Alle Bürger, die von derartigen Sachverhalten Kenntnis haben oder von fremden Nachrichtendiensten zur Mitarbeit aufgefordert wurden, werden gebeten, ihr Wissen im Interesse unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung und ihrer eigenen Sicherheit an die Verfassungsschutzbehörde weiterzugeben. Auch demjenigen, der bereits im fremden Interesse nachrichtendienstlich tätig geworden ist, kann geholfen werden, sich aus einer ausweglos erscheinenden Situation zu befreien. Die Verfassungsschutzbehörden unterliegen nicht wie die Strafverfolgungsbehörden dem Legalitätsprinzip und sind daher nicht in jedem Fall verpflichtet, die Strafverfolgungsbehörden über Hinweise auf Spionagedelikte zu informieren. Voraussetzung ist die freiwillige Aufgabe der nachrichtendienstlichen Tätigkeit und eine umfassende Offenbarung. Die Verfassungsschutzbehörde bietet jederzeit ihre Hilfe an und sichert Vertraulichkeit zu. Das Gleiche gilt für die Übermittlung etwaiger Verdachtsmomente sowie von Informationen über mögliche Sicherheitsvorfälle und Cyberangriffe. Die Spionageabwehr des Landes Sachsen-Anhalt ist zu erreichen unter: Telefon: 0391/567 3900 Fax: 0391/567 3999 E-Mail: wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de Sie bietet allen Bürgern, Unternehmen, Interessenverbänden, Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Behörden Sensibilisierungen zu den Themen Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr an. 240 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Geheimschutz Geheimschutz Allgemeines Verschlusssachen (VS) sind Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die - unabhängig von ihrer Darstellungsform - geheim zu halten und entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit mit einem der Geheimhaltungsgrade STRENG GEHEIM, GEHEIM, VS-VERTRAULICH oder VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH zu kennzeichnen sind. Alle Institutionen des Bundes und der Länder müssen sich darauf verlassen können, dass Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder gefährden können, als im staatlichen Interesse geheim zu haltende Informationen (VS) wirkungsvoll geschützt werden. Jeder, dem eine VS anvertraut oder zugänglich gemacht worden ist, trägt die persönliche Verantwortung für ihre sichere Aufbewahrung und vorschriftsmäßige Behandlung sowie für die Geheimhaltung ihres Inhalts gemäß den Bestimmungen der Verschlusssachenanweisung für das Land Sachsen-Anhalt (VSA). Geheimschutz im öffentlichen Bereich Personeller Geheimschutz Mit dem personellen Geheimschutz soll verhindert werden, dass Personen mit Sicherheitsrisiken Zugang zu VS erhalten. Das hierzu genutzte Instrument ist die Sicherheitsüberprüfung von Personen, die mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen. Die Verantwortung für diese Sicherheitsmaßnahmen liegt bei den zuständigen Stellen. Im öffentlichen Bereich des Landes ist die zuständige Stelle in der Regel die Beschäftigungsbehörde. Die zuständige Stelle bestellt zur Erfüllung ihrer Aufgaben einen Geheimschutzbeauftragten und einen Vertreter. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 241 Geheimschutz Das Sicherheitsüberprüfungsverfahren ist im Sicherheitsüberprüfungsund Geheimschutzgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (SÜG-LSA) geregelt. Die Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalts beruht auf SS 4 Abs. 2 Nr. 1 VerfSchG-LSA in Verbindung mit SS 4 Abs. 3 SÜG-LSA. Gründe, die einem Einsatz in einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit entgegenstehen, können sich insbesondere ergeben aus: - Zweifeln an der Zuverlässigkeit (z.B. aufgrund von Straftaten, Drogenoder Alkoholmissbrauch); - Gefährdungen durch Anbahnungsund Werbungsversuche fremder Nachrichtendienste (zum Beispiel im Falle einer Überschuldung, da dies ein Ansatzpunkt sein kann, um den Betroffenen gegen Geldzahlung zu einer Verletzung seiner Pflichten zu veranlassen); - Zweifeln am Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (z.B. wegen extremistischer Betätigung). Die Frage, ob sich aus einem derartigen Umstand tatsächlich ein Sicherheitsrisiko ergibt, ist in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Art der vorgesehenen sicherheitsempfindlichen Tätigkeit zu prüfen. Eine Sicherheitsüberprüfung darf nur mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung des Betroffenen erfolgen. Materieller Geheimschutz Der materielle Geheimschutz befasst sich mit technischen und organisatorischen Sicherheitsvorkehrungen, die verhindern oder zumindest erschweren sollen, dass Unbefugte an geschützte Informationen gelangen. Die Verfassungsschutzbehörde hat hierbei die Aufgabe, öffentliche Stellen und geheimschutzbetreute Unternehmen des Landes zu beraten, wie sie am besten technische Sicherungsmaßnahmen planen und durchführen können. 242 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 StatiStik Extremistisches Personenpotenzial in Sachsen-Anhalt 2018 2019 2020 Rechtsextremisten Weitgehend unstrukturierter, meist subkulturell geprägter Rechtsextre740 740 770 mismus Parteiungebundener Rechtsextre340 360 365 mismus Parteigebundener Rechtsextremis265 180 155 mus (Parteien) Summe: 1.345 1.280 1.290 Gesamt (nach Abzug der Mehrfach1.300 1.230 1.230 mitgliedschaften) Linksextremisten Gewaltorientierte Linksextremisten 270 290 300 Nicht gewaltorientierte 260 260 290 Linksextremisten Gesamt: 530 550 590 Islamisten 300 400 400 Reichsbürgerszene (inkl. Rechtsextremisten innerhalb 500 500 500 dieser Szene) PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) 250 250 250 GESAMTZAHL aller Extremisten in Sachsen-Anhalt (nach Abzug von 2.880 2.930 2.970 Mehrfachmitgliedschaften) Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 243 StatiStik Übersicht über politisch motivierte Straften (Auszug) Politisch motivierte Straftaten nach Phänomenbereich (Stand 31.12.2019) 2018 2019 2020 Politisch motivierte Straftaten insgesamt: -rechts1.321 1.441 1.642 -links280 418 406 ausländische Ideologie 11 10 3 religiöse Ideologie 18 6 4 nicht zuzuordnen 160 287 4 GESAMT: 1.790 2.162 2.059 Davon waren: Extremistische Straftaten: -rechts1.212 1.260 1.543 -links104 132 133 ausländische Ideologie 6 4 2 religiöse Ideologie 11 2 3 nicht zuzuordnen 12 23 18 GESAMT: 1.345 1.421 1.699 Fremdenfeindliche Straftaten 348 335 417 Antisemitische Straftaten 62 70 87 Politisch motivierten Gewalttaten: -rechts92 74 85 -links24 60 38 ausländische Ideologie 3 1 1 religiöse Ideologie 1 0 0 nicht zuzuordnen 13 15 5 GESAMT: 133 150 129 244 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 StatiStik Davon waren: Extremistische Gewalttaten: -rechts85 57 82 -links19 38 30 ausländische Ideologie 3 1 1 religiöse Ideologie 0 0 0 nicht zuzuordnen 2 2 1 GESAMT: 109 98 125 Propagandadelikte -rechts923 1.056 1.105 -links- 5 6 4 übrige PMK 4 4 11 GESAMT: 932 1.066 1.120 Anmerkung: Die Sammlung der Fallzahlen der politisch motivierten Straftaten erfolgt seitens der Polizei und nicht seitens der Verfassungsschutzbehörde. Die Gesamtzahl eines Jahres kann sich im Nachgang noch geringfügig ändern, wenn die Ermittlungen zu einzelnen Taten eine andere Motivlage ergeben haben, als zunächst vermutet wurde. Der hier wiedergegebene Auszug aus der polizeilichen Strafund Gewalttatenstatistik dient dem besseren Verständnis für einzelne Zusammenhänge innerhalb der verschiedenen extremistischen Phänomenbereiche. Die Verfassungsfeindlichkeit einer Gruppierung setzt das Begehen von Strafund Gewalttaten nicht voraus. Es genügt vielmehr, wenn eine Gruppierung ihre verfassungsfeindlichen Ziele ausschließlich mit legalen Mitteln und unter Ausschluss jeglicher Gewaltanwendung verfolgt. Dies bedeutet umgekehrt jedoch auch nicht, dass jede verfassungsfeindliche Gruppierung innerhalb des gesetzlichen Rahmens und somit strafund gewaltfrei handelt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 245 Bildnachweis Seite 3 Laurence Chaperon Seite 36 YouTube (Screenshot) Seite 40 III. Weg Seite 41 Facebook Seite 43 JN Seite 45 Polizei Sachsen-Anhalt Seite 50 Blutstraße / OPOS Seite 51 Blutstraße / OPOS Seite 53 Logos der jeweiligen Bekleidungsmarken Seite 55 Internetseite Lokal18 Seite 58 phalanx-europa.com Seite 61 Twitter Seite 62 Internetseite IBD Seite 63 Telegram (2x) Seite 64 Internetseite der entsprechenden Kampagne Seite 65 Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt (MI LSA) Seite 66 Logo IfS Seite 67 Internetseite Sezession Seite 74 politaufkleber.de (2x) Seite 75 politaufkleber.de Seite 76 DeinTube (Screenshot) Seite 78 politaufkleber.de Seite 80 JN (2x) Seite 82 Facebook Seite 83 Internetseite der entsprechenden Kampagne Seite 86 Logo "Artgemeinschaft" Seite 88 MI LSA Seite 90 Internetseite "Artgemeinschaft" Seite 94 Facebook Seite 95 politaufkleber.de Seite 96 Logo NPD; NPD-Landesverband Sachsen-Anhalt Seite 97 Logo "Deutsche Stimme" Seite 98 Internetseite NPD Seite 101 Facebook Seite 102 Facebook 246 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Bildnachweis Seite 103 JN; Interseite der entsprechenden Kampagne Seite 104 JN Seite 105 JN Seite 106 JN Seite 107 JN Seite 108 Logo DR Seite 109 DR Seite 112 Facebook Seite 113 III. Weg Seite 114 III. Weg Seite 115 III. Weg Seite 116 III. Weg Seite 118 Twitter Seite 121 Internetseite "Freistaat Preußen" Seite 122 YouTube (Screenshot) Seite 123 Internetseite KRD Seite 124 KRDTube (Screenshot) Seite 126 Logo "Internationales Zentrum Menschenrecht" Seite 127 Internetseite VV; Telegram Seite 132 MI LSA; DKP Seite 134 MI LSA Seite 136 MI LSA Seite 137 MI LSA Seite 141 Twitter Seite 143 MI LSA Seite 144 MI LSA Seite 145 MI LSA (2x) Seite 147 Internetseite ZK Seite 148 Internetseite PAM Seite 149 MI LSA; Facebook Seite 150 Twitter Seite 151 MI LSA Seite 153 Internetseite ZK Seite 154 Internetseite ZK Seite 156 Facebook Seite 159 Internetseite Kollektiv "IfS dichtmachen" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 247 Bildnachweis Seite 160 MI LSA Seite 163 Instagram Seite 165 MI LSA Seite 168 Twitter Seite 170 MI LSA Seite 173 MI LSA Seite 174 Logo RH Seite 176 RH Seite 177 MI LSA Seite 178 Logo MLPD Seite 181 MI LSA Seite 182 Logo DKP; Marxistische Blätter (Screenshot) Seite 183 Facebook Seite 186 AMAQ News Agency (Screenshot) Seite 189 Verlag des Buches Seite 192 Logo IS Seite 196 Logo HTS Seite 197 Logo TJ Seite 200 Wikipedia Seite 204 Facebook Seite 205 Logo PKK Seite 206 Logo KON-MED; Logo FED-KURD Seite 211 "Solibündnis Kurdistan-Magdeburg" Seite 213 ANF Seite 214 "Solibündnis Kurdistan-Magdeburg" Seite 215 Indymedia Seite 217 MI LSA Seite 218 Logo und Zeichen SO Seite 220 MI LSA 248 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2020 Verteilerhinweis Dieser Bericht wird vom Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt im Rahmen der gesetzlichen Verpflichtung zur Unterrichtung der Öffentlichkeit herausgegeben. Er darf weder von Parteien noch von deren Kandidaten oder Helfern während des Wahlkampfes zum Zweck der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für alle Wahlen. Missbräuchlich sind insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen und an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist auch die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer Wahl darf die vorliegende Druckschrift nicht so verwendet werden, dass sie als Parteinahme des Herausgebers zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Diese Beschränkungen gelten unabhängig vom Vertriebsweg, also unabhängig davon, auf welchem Wege und in welcher Anzahl diese Informationsschrift dem Empfänger zugegangen ist. Erlaubt ist jedoch den Parteien, die Informationsschrift zur Unterrichtung ihrer Mitglieder zu verwenden.