Verfassungsschutzbericht 2019 Verfassung Terrorismus Information Linksextremismus G Extremismusprävention Ausländerextremismus N U Aufklärung Bewertung SS Islamismus Spionageabwehr FA Demokratie Rechtsextremismus SE Analyse Reichsbürgerszene ES R Sensibilisierung Wirtschaftsschutz P IMPRESSUM Herausgeber: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Halberstädter Straße / "Am Platz des 17. Juni" 39112 Magdeburg Bezugsadresse: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Postfach 18 49 39008 Magdeburg Tel: 0391/567-3900 Druck: ? ? ? Dieser Verfassungsschutzbericht ist auch im Internet abrufbar: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/ verfassungsschutzberichte-zum-downloaden/ Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt für das Jahr 2019 Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Vorwort Sehr geehrte Leserinnen, sehr geehrte Leser, Extremismus ist nach wie vor eine beschämende Realität in Deutschland. Es ist erschreckend, dass 75 Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs und dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland in sozialen Netzwerken, Internetforen, anderen Plattformen und auch in der sogenannten Realwelt nach wie vor die Demokratie verunglimpft, für Ideologien der Ungleichheit geworben und Hass gegen Fremde oder vermeintlich "Andere" geschürt wird. Dieser Hass gedeiht nicht nur in den Köpfen, sondern findet seinen Ausdruck leider auch in Aktionen und Straftaten. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) und die dort zum Jom-Kippur-Fest anwesende jüdische Gemeinde im Oktober 2019 hat uns das in grausamer Weise schmerzlich vor Augen geführt. Dieser brutale Angriff, der zwei Menschenleben forderte, war nicht nur ein Angriff auf die jüdische Gemeinde in Halle (Saale), er war ein Angriff auf alle jüdischen Menschen in Deutschland, auf unsere Gesellschaft insgesamt und ein Angriff auf unsere freiheitliche Demokratie. Im Rahmen der Aufarbeitung dieses Ereignisses werden wir feststellen, was daraus abzuleiten ist und wo insbesondere Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 III Vorwort staatliches Handeln verbessert werden kann sowie Gefahren frühzeitiger erkannt werden sollten. Sich verändernde politische und ökonomische Bedingungen in der Gesellschaft führen offenbar zu neuen extremistischen Argumentationsund Einstellungsmustern. Gleichzeitig versuchen Extremisten mit diffusen Parolen Ängste und Unsicherheiten der Bevölkerung - seien es reale oder vermeintliche - zu instrumentalisieren und sich als Kümmerer und Meinungsgestalter zu engagieren. So streben sie danach, Anschluss an die große nicht-extremistische Mehrheit der Gesellschaft zu finden und dort in subtiler Weise Zuspruch für ihre eigenen ideologischen Positionen zu erlangen. Der Blick auf unsere heutige Kommunikation, insbesondere im Internet, zeigt zudem sehr deutlich, dass die Hemmschwelle für fremdenund demokratiefeindliche sowie antisemitische Agitation sinkt und sich dann auch in der Realwelt manifestiert. Vor diesem Hintergrund liegt eine besondere Herausforderung für den Verfassungsschutz darin, nicht nur "klassische" extremistische Ideologien und Agitationen zu beobachten und darüber zu informieren. Es gilt auch, in den extremistischen Phänomenbereichen neue Argumentationsoder Aktionsmuster, inhaltliche Weiterungen oder neue Radikalisierungsmuster zu erkennen, auszuwerten und zu beschreiben - beispielsweise in Bezug auf rechtsextremistische und -terroristische Einzeltäter wie in Halle (Saale) oder die inhaltliche und organisatorische Unterwanderung legitimer bürgerlicher Anliegen durch Extremisten. So kann der Verfassungsschutz seiner Aufgabe als Frühwarnsystem gerecht werden. Das ist von besonderer Bedeutung und Ausdruck unserer wehrhaften Demokratie, die ihre Bürger schützt. Wir dürfen und wollen nicht nachlassen, über Extremismus in all seinen Formen aufzuklären, Protagonisten und Propagandisten zu benennen und perfide Argumentationsund IV Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Vorwort Agitationsmuster zu entlarven. Dies ist und bleibt eine der wichtigsten Aufgaben des Verfassungsschutzes. Dieser Jahresbericht liefert dazu einen wertvollen Beitrag. Neben dem Erkennen von Extremismus müssen wir aber auch positiv für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung streiten und für die Grundwerte der Verfassung als Fundament unseres Zusammenlebens werben, in der alle Menschen gleiche Würde, gleiche Rechte und den gleichen Wert haben. Ihr Holger Stahlknecht Minister für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 V InhaltsverzeIchnIs VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT 8 GESETZLICHE GRUNDLAGEN UND FUNKTION 8 Schwerpunktaufgaben 10 Arbeitsweise 12 Öffentlichkeitsarbeit 13 Präventionsarbeit 15 Auskunftserteilung 18 Antisemitismus 20 Rechtsextremismus 32 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 37 Partei "DIE RECHTE" (DR) 47 Partei "Der III. Weg" (III. Weg) 51 "Identitäre Bewegung" Deutschland" (IBD) 55 "Magdeburger gegen die Islamisierung des Abendlandes" 2.0 (MAGIDA 2.0) 65 "Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäße Lebensgestaltung" e.V. ("Artgemeinschaft") 68 Nationalsozialisten (Neonazis) 71 Weitgehend unstrukturierte, meist subkulturell geprägte Rechtsextremisten 85 Reichsbürgerszene 106 "Reichsregierungen", "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" 108 LINKSEXTREMISMUS 119 Gewaltbereite Linksextremisten, insbesondere Autonome 125 "Rote Hilfe e.V." (RH) 148 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschland" (MLPD) 154 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) 158 VI Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 InhaltsverzeIchnIs Islamistische Bestrebungen 143 Salafistische Bestrebungen 166 "Gemeinschaft der Verkündigung der Mission" (Urdu: "Tablighi Jama'at", TJ) 173 Muslimbruderschaft (MB) / "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) / HAMAS 175 SICHERHEITSGEFÄHRDENDE UND EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 180 "Arbeiterpartei Kurdistans" (kurdisch: Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) 182 SCIENTOLOGY ORGANISATION (SO) 195 Spionageabwehr 198 Russische Nachrichtendienste 200 Chinesische Nachrichtendienste 201 Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran 204 Andere Nachrichtendienste 205 Cyberangriffe 206 Wirtschaftsschutz 207 Proliferationsabwehr 210 Mitarbeit der Bevölkerung 211 GEHEIMSCHUTZ 213 ANHANG 215 Statistik 215 Bildnachweis 218 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 VII Verfassungsschutz in sachsen-anhalt VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT GESETZLICHE GRUNDLAGEN UND FUNKTION Die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung; sie soll den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder gewährleisten. Die Aufgaben des Verfassungsschutzes in unserem Bundesland nimmt das Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt als Verfassungsschutzbehörde wahr. Der Verfassungsschutz informiert im Rahmen seines gesetzlichen Auftrags die Landesregierung und andere Stellen. Diese sollen dadurch in die Lage versetzt werden, die erforderlichen Maßnahmen ergreifen zu können. Ebenso unterrichtet er die Öffentlichkeit über seine Aufgabenfelder (vgl. SS 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt; nachfolgend VerfSchG-LSA). Sie bestehen in der Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, 2. fortwirkende Strukturen und Tätigkeiten der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere des Ministeriums für Staatssicherheit oder des Amtes für Nationale Sicherheit, im Sinne der SSSS 94 bis 99, 129 und 129a des Strafgesetzbuches (StGB), 8 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt 3. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG), 4. Bestrebungen im Geltungsbereich des GG, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 5. Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG), insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG) gerichtet sind. Unter Bestrebungen im verfassungsschutzrechtlichen Sinn sind politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen in oder für einen Personenzusammenschluss zu verstehen, die sich gegen die oben unter den Nummern 1., 4. und 5. genannten Schutzgüter richten. Ein Personenzusammenschluss besteht aus mehreren, gemeinsam handelnden Personen. Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln, gelten nur dann als Bestrebung und werden vom Verfassungsschutz beobachtet, wenn sie auf die Anwendung von Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut des VerfSchG-LSA erheblich zu beschädigen (vgl. SS 5 Abs. 1 VerfSchGLSA). Voraussetzung für das Sammeln und Auswerten von Informationen ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für vorstehend genannte Bestrebungen oder Tätigkeiten. Für das Handeln der Verfassungsschutzbehörde ist es nicht erforderlich, dass eine konkrete Gefahr besteht oder eine begangene Straftat vorliegt. Der Verfassungsschutz wird bereits im Vorfeld konkreter Gefahren oder Straftaten tätig. Insbesondere darin kommt auch die Frühwarnfunktion des Verfassungsschutzes zum Ausdruck. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 9 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Schwerpunktaufgaben Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Eine Schwerpunktaufgabe des Verfassungsschutzes besteht gemäß SS 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA im Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, mithin dem Schutz der nicht zur Disposition stehenden Elemente des Grundgestzes. In seinem Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 - führt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aus, dass der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 GG jene zentralen Grundprinzipien umfasst, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind. Dies sind: - Prinzip der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), - Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG), - Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 GG). Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit. Ferner ist das Demokratieprinzip konstitutiver Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Unverzichtbar für ein demokratisches System sind die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Für den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind schließlich die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte bestimmend. Zugleich erfordert die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Einzelnen, dass die Anwendung physischer Gewalt den 10 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt gebundenen und gerichtlicher Kontrolle unterliegenden staatlichen Organen vorbehalten ist. Dem entspricht die gesetzliche Aufzählung der Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in SS 5 Abs. 2 VerfSchG-LSA, ergänzt um den Verweis auf die in der Landesverfassung konkretisierten Menschenrechte. Spionageabwehr Die Spionageabwehr ist gemäß SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA Aufgabe der Verfassungsschutzbehörde. Sie beschäftigt sich mit der Aufklärung, Abwehr und Verhinderung von Spionageaktivitäten fremder Nachrichtendienste. Auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und Völkerverständigung Ein anderer Arbeitsschwerpunkt des Verfassungsschutzes ist die Beobachtung von Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Dazu gehören in erster Linie gewaltbereite extremistische Gruppen mit Auslandsbezug, die von unserem Staatsgebiet aus gewaltsame Aktionen planen und vorbereiten, um die politischen Verhältnisse im Ausland, vordringlich in ihrem Herkunftsland, gewaltsam zu verändern und dadurch die staatlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den betroffenen Staaten beeinträchtigen (vgl. SS 4 Abs. 1 Nr. 4 VerfSchG-LSA). Sofern sich Bestrebungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker richten, unterliegen diese ebenfalls der Beobachtung durch den Verfassungsschutz (vgl. SS 4 Abs. 1 Nr. 5 VerfSchG-LSA). Davon erfasst sind Personenzusammenschlüsse, die darauf abzielen, konfessionelle oder ethnische Gruppen im Ausland zu bekämpfen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 11 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Mitwirkung in Angelegenheiten des Geheimschutzes Gemäß SS 4 Abs. 2 VerfSchG-LSA wirkt der Verfassungsschutz im Rahmen des Geheimschutzes und des vorbeugenden personellen Sabotageschutzes bei Sicherheitsüberprüfungen von Personen des öffentlichen und nichtöffentlichen Bereichs mit. Er berät zudem bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von Verschlusssachen. Arbeitsweise Der Verfassungsschutz stützt sich bei der Informationserhebung weitgehend auf offen zugängliches Material wie Zeitungen, wissenschaftliche Veröffentlichungen, Rundfunkberichte, Interviews, Parteiprogramme und offene Internetinhalte. Er darf Informationen auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln, insbesondere durch Einsatz von Vertrauenspersonen und Gewährspersonen, Observation, Bildund Tonaufzeichnungen und die Verwendung von Tarnpapieren und Tarnkennzeichen verdeckt erheben (vgl. SS 7 Abs. 3 Verf-SchG-LSA). Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählt auch die Brief,Postund Telefonkontrolle. Der hiermit verbundene Eingriff in das Grundrecht nach Artikel 10 GG ist nach Maßgabe des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) zulässig. Die Verfassungsschutzbehörde erhebt, verarbeitet und nutzt die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten. Dies geschieht unter Beachtung des Datenschutzgesetzes Sachsen-Anhalt und der besonderen Regelungen des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt. Die Landesregierung unterliegt auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes der Kontrolle des Landtages. Diese Aufgabe nimmt die Parlamentarische Kontrollkommission wahr (vgl. SSSS 24 ff. VerfSchG-LSA). 12 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Für besondere Aufgaben des Verfassungsschutzes waren im Haushaltsplan 2019 im Einzelplan 03 insgesamt 814.400 Euro angesetzt. Der Verfassungsschutzbehörde standen im Berichtsjahr 111 Dienstposten/Arbeitsplätze zur Verfügung. Öffentlichkeitsarbeit Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit unterstützt die Verfassungsschutzbehörde die geistig-politische Auseinandersetzung mit extremistischem und terroristischem Gedankengut und dient damit dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Regierung und Parlament, aber auch Bürgerinnen und Bürger werden so über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Organisationen informiert. Verfassungsschutzbericht Die Verfassungsschutzbehörde erfüllt mit diesem Bericht ihre gesetzlichen Unterrichtungspflichten, die in SS 15 Abs. 1 und 2 VerfSchG-LSA normiert sind. Bitte beachten Sie folgende redaktionelle Hinweise: - Soweit der Verfassungsschutzbericht einzelne Gruppierungen namentlich nennt, handelt es sich - sofern nicht anders erwähnt - um Fälle, bei denen die vorliegenden Erkenntnisse in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele im Sinne des SS 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA verfolgt. Diese Gruppierungen gelten insofern als gesicherte extremistische Bestrebungen die zielund zweckgerichtet gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorgehen. (siehe Registeranhang) - Allerdings erwähnt der Verfassungsschutzbericht nicht alle Gruppierungen, die von der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt beobachtet werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 13 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Insbesondere werden die Gruppierungen nicht erwähnt, bei denen lediglich tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen. Informationen über solche Gruppierungen darf die Verfassungsschutzbehörde gemäß SS 7 Abs. 2 VerfSchG-LSA sammeln und auswerten. Über diese Gruppierungen darf sie jedoch nicht öffentlich berichten, da von der Unterrichtungspflicht des SS 15 Abs. 2 VerfSchG-LSA nur gesicherte extremistische Bestrebungen erfasst sind. - Die Nennung von Gruppierungen, die extremistisch beeinflusst sind, dient dem Verständnis des sachlichen Zusammenhangs. - Der Berichtszeitraum umfasst den Zeitraum 01. Januar bis 31. Dezember 2019. Ereignisse vor oder nach diesem Zeitraum werden nur dargestellt, sofern sie für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs erforderlich sind. - Hinweise auf Geschehnisse außerhalb Sachsen-Anhalts sind in den Bericht aufgenommen, sofern sie für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs erforderlich sind. - Die in Anführungszeichen gefassten Textteile sind, so es sich um Zitate handelt, in der Originalschreibweise wiedergegeben. - Die jeweiligen Mitgliederzahlen der Personenzusammenschlüsse sind zum Teil geschätzt und gerundet. - Personenund Funktionsbezeichnungen in diesem Bericht gelten jeweils in weiblicher und männlicher Form. - Fußnoten sind fortlaufend im jeweiligen Abschnitt ausgewiesen. Die Verfassungsschutzberichte der letzten fünf Jahre können im Internet unter der Adresse: www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz heruntergeladen oder bei der Verfassungsschutzbehörde kostenlos angefordert werden. 14 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Präventionsarbeit Die Extremismusprävention ist seit Jahren ein fester Bestandteil der Arbeit des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt. Die Verfassungsschutzbehörde informiert Landtag, Landesregierung, Gerichte, Staatsanwaltschaften, Kommunen und weitere Behörden, um frühzeitig vor Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu warnen. Der Verfassungsschutz steht somit allen Menschen im Land als Informationsdienstleister zur Verfügung. Dieser Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch mit Behörden sowie sonstigen privaten und zivilen Institutionen über die Aufgabenfelder des Verfassungsschutzes und die damit einhergehende Bereitstellung von Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen ist ein Bestandteil des unmittelbaren Demokratieschutzes. Deshalb ist die Unterrichtung der Öffentlichkeit ein wichtiges Anliegen des Verfassungsschutzes. Dies geschieht mit dem jährlichen Verfassungsschutzbericht, öffentlichen Vorträgen und Fachtagungen sowie über Publikationen, unsere Internetseiten und die Pressearbeit. Themenfelder sind insbesondere die verschiedenen Erscheinungsformen des politischen Extremismus: Rechtsextremismus, Reichsbürgerszene, Linksextremismus, Ausländerextremismus und Islamismus. Im Bereich der Spionageabwehr sowie des Wirtschaftsund Wissenschaftsschutzes bietet die Verfassungsschutzbehörde Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen neben allgemeinen Informationen auch vertrauliche Beratung und Unterstützung zum Schutz vor Spionage an. Im Berichtsjahr wurde die Broschüre "Kennzeichen des Rechtsextremismus" neu aufgelegt, zudem wurde ein Plakat entwickelt, welche die gängigsten Kennzeichen, Symbole und Codes der rechtsextremistischen Szene darstellt. Die Erstauflage des Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 15 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Broschüre in Höhe von 2.000 Exemplaren ist nahezu vergriffen, es wird eine aktualisierte Zweitauflage erscheinen. 16 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt Der Verfassungsschutz hat im Berichtsjahr erneut Vorträge, Informationsveranstaltungen und Schulungen für Angehörige der Polizei, der Justiz und anderer Behörden sowie für Institutionen, Verbände und Unternehmen angeboten. Darüber hinaus nahmen Vertreter des Verfassungsschutzes als Referenten an Veranstaltungen zivilgesellschaftlicher Institutionen teil. Eine intensive Zusammenarbeit besteht auch mit Wirtschaftsverbänden und Unternehmen. Von Bedeutung war hier insbesondere der 3. Wirtschaftsschutztag, der am 6. November stattfand und von 130 Personen besucht wurde.1 Teilnehmer der Vortragsund Informationsveranstaltungen waren neben interessierten Bürgerinnen und Bürgern vor allem Angehörige von Feuerwehr, Justiz, Polizei, Bundeswehr, Verwaltungen und Unternehmen. Diese nutzen die gewonnen Informationen nicht nur unmittelbar selbst, sondern geben sie auch als Multiplikator an ihr Umfeld weiter. Besonders stark nachgefragt waren die Themenfelder Rechtsextremismus, Reichsbürgerszene und Islamismus. Mittlerweile ist ein steigendes Informationsinteresse zum Linksextremismus zu verzeichnen. Die Veranstaltungsformate richten sich sowohl an größere Personenkreise, in denen möglichst viele Adressaten erreicht werden, als auch an kleinere Runden, in denen ein gezielter und gegebenenfalls vertraulicher Austausch von Wissen und Erfahrungen stattfinden kann. Von Veranstaltern und sonstigen Interessierten kann dieses Angebot nachgefragt werden und Referenten des Verfassungsschutzes können zu Veranstaltungen eingeladen werden. Das Vortragsangebot nutzen auch diverse Bildungseinrichtungen. Dem jeweiligen Veranstalter oder dem unterrichtsgestaltenden Lehrer obliegt die Einbindung in das eigene Veranstaltungsoder pädagogische Konzept. Die Vorträge bilden Beiträge zur Infor- 1 - Siehe Seite 209 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 17 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt mation und sind Grundlage für weiterführende Diskussionen. Wünschen Sie weitere Informationen? Dann wenden Sie sich bitte direkt an uns: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt Nachtweide 82 39124 Magdeburg Telefon: +49(0)391/567-3900 E-Mail: verfassungsschutz@mi.sachsen-anhalt.de oder besuchen Sie uns im Internet unter www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz Hier finden Sie weitere Informationen und unsere aktuellen Publikationen, die wir Ihnen auch am Ende dieses Berichts vorstellen. Auskunftserteilung Jeder Bürger kann unentgeltlich Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten beantragen. Die Verfassungsschutzbehörde ist nach SS 14 Abs. 1 VerfSchG-LSA grundsätzlich verpflichtet, Auskunft zu erteilen. Geht ein Ersuchen ein, wird der Ersuchende zunächst gebeten, eine Kopie seines Personalausweises oder eines entsprechenden Personendokuments zur Identitätsfeststellung zu übersenden. Dies soll die angefragte Person davor schützen, dass möglicherweise andere Personen in seinem Namen Auskunft verlangen und Daten möglicherweise an Unberechtigte übermittelt werden. Die Auskunft hat nach SS 14 Abs. 2 VerfSchG-LSA zu unterbleiben, wenn bestimmte, im Gesetz geregelte Ausschlussgründe vorliegen. Dies ist beispielsweise gegeben, wenn durch die Auskunftserteilung eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung der Verfas18 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Verfassungsschutz in sachsen-anhalt sungsschutzbehörde drohen würde. Im Berichtsjahr gab es 149 Auskunftsersuchen: Auskunft über die zur Person gespeicherten Daten 13 Negativauskunft, keine Daten gespeichert 108 Keine Bearbeitung mangels Identifizierung des Er28 suchenden Auskunftsersuchen insgesamt 149 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 19 Antisemitismus Antisemitismus Antisemitismus, also verkürzt gesagt Hass und Feindschaft gegenüber der jüdischen Religion und dem Staat Israel, ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und stellt eine Gefahr für die grundlegenden Werte der Demokratie dar. Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland antisemitische Einstellungen imweitesten Sinn hegt. Einzelne antisemitische Einstellungsfragmente, wie die Vorurteile der "Selbstsucht" und der "Machtgier" oder die gedankenlose Nutzung antisemitischer Beleidigungen ("Du Jude"), sind dabei noch weiter verbreitet. Um den Kampf gegen den Antisemitismus auf eine breite gesellschaftliche Grundlage zu stellen, hat sich die Bundesregierung der offiziellen Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA, Internationale Allianz zum Holocaustgedenken) angeschlossen: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." Antisemitismus ist ein wichtiger Anknüpfungspunkt für Extremisten, um ihre freiheitsund demokratiefeindliche Ideologie möglichst auch in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Der Antisemitismus wird genutzt, um unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene, komplexe Fragen und Zusammenhänge der heutigen globalisierten Welt mit einer einfachen Verschwörungstheorie von einer "allmächtigen jüdischen Macht im Hintergrund" zu erklären. Dies gilt vor allem für Rechtsextremisten. Im Rechtsextremismus ist der Antisemitismus ein wesentliches 20 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Antisemitismus Ideologieund Identifikationsmerkmal und Ausgangspunkt für Hass und Gewalt, wie der antisemitische und rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge von Halle (Saale) gezeigt hat. Rechtsextremisten haben den historischen Antijudaismus, also die Feindschaft gegenüber dem Judentum als Religion, mit einem rassistischen Menschenbild verbunden. Sie sehen Anhänger der jüdischen Religion als eigenständige "Rasse" an, schreiben den Juden dabei unveränderbare negative Eigenschaften zu und ordnen sie in ihr rassistisches Weltbild ein, in dem die "arische Herrenrasse" über anderen "Entarteten" und "Untermenschen" steht. Die "Arier" sind in diesem Konstrukt die Gegner des "Weltjudentums", welches nach der Weltherrschaft strebt und daher die "Arier" und die "weiße Rasse" vernichten möchte. Hierzu hat - gemäß der eigenen Ideologie - das "Weltjudentum" unter anderem Kapitalismus und Kommunismus geschaffen. Dass beide Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung einen Gegensatz darstellen und einander widersprechen ficht die Rechtsextremisten dabei nicht an. Vielmehr wird den "Juden" eine entsprechende Macht zugeschrieben, um eben diese Prozesse in Gang zu setzen. Dieses Erklärmuster von einer "Macht im Hintergrund", die alles steuert und beeinflusst ist ein typisches Element vieler Verschwörungstheorien. Es knüpft insoweit an den historischen Antijudaismus an. Im Mittelalter gab die christliche Gesellschaft den Juden die Schuld an Jesu Tod. Juden wurden von der gesellschaftlichen Teilhabe und dem Miteinander ausgegrenzt, ihnen war zum Beispiel eine Tätigkeit im Handwerk oder in der Landwirtschaft verboten. Als Lebensgrundlage blieb daher oftmals nur Handel oder Bankenwesen, da das christliche Zinsverbot für sie nicht galt. Diese damaligen Beschränkungen und die langsam steigende Bedeutung von Handel und Kreditwirtschaft hatten zur Folge, dass einige Juden zu Wohlstand kamen, was wiederum Neid erzeugte und neue Vorurteile und damit Feindbilder schürte. Beispiele sind mitunter auch heute noch vorkommende Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 21 Antisemitismus Einstellungen, wie die vom "geldgierigen, verschlagenen und ausbeuterischen Juden." Auch für naturwissenschaftliche Phänomene sollten die Juden verantwortlich sein, insbesondere Epidemien und Seuchen wie die Pest. Es entstand die Legende vom "jüdischen Brunnenvergifter", zugleich kam es zu Übergriffen und Massakern in den jüdischen Wohnvierteln Europas. Im Zuge der Aufklärung und des Liberalismus im 18. und 19. Jahrhundert verbesserte sich die Situation der Juden. So kam es 1869 im Norddeutschen Bund zur Gleichstellung aller religiösen Bekenntnisse und zur Aufhebung der daraus hergeleiteten Beschränkungen. Juden standen nun auch öffentliche Ämter oder politische Mandate offen. Dies ging jedoch mit einer "Gegenbewegung" einher, die sich gegen die Gleichstellung wandte. Die Feindschaft gegenüber den Juden war mehr und mehr sozial und nicht mehr religiös geprägt und der Antijudaismus ging über in den Antisemitismus. Diese Bezeichnung sollte dazu dienen, die Juden nicht mehr als religiöse Minderheit zu betrachten, sondern als eigene Rasse und somit als "Artfremde". Sowohl damals wie heute wurde ihnen dann die Schuld an allen Verwerfungen zugeschrieben, die die modernen Zeiten - in dem Fall die Industrialisierung, beginnende Verstädterung und Rückgang der konfessionellen Bindung - mit sich brachte. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einem Aufkommen der völkischen Bewegungen in Deutschland. Für diese stellte der Antisemitismus ein willkommenes Agitationsfeld dar. Die Juden sollten waren wieder die Schuldigen an den aktuellen Verwerfungen sein. So gab es die wahrheitswidrige Behauptung, dass die Juden den Frontdienst verweigert, sich stattdessen in dubiosen Geschäften bereichert und mit ihrem Handeln im Rücken des Heeres die Niederlage zu verantworten hätten (Dolchstoßlegende). 22 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Antisemitismus Mit dem russischen Bolschewismus gab es ein weiteres Feindbild, das als Bedrohung dargestellt und dem Judentum angelastet werden konnte. Nach dem Aufstieg des Nationalsozialismus und der Machtergreifung 1933 begannen die Nationalsozialisten unmittelbar mit dem Verdrängen des jüdischen Lebens in Deutschland. Juden und politische Gegner waren Willkürmaßnahmen und Repressionen ausgesetzt. Entsetzlicher Höhepunkt war der Holocaust und die industrielle Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas in den Konzentrationslagern wie Auschwitz oder Treblinka. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs pflegen Rechtsextremisten weiterhin die antisemitischen Vorurteile, Feindbilder und Verschwörungstheorien, wie die des "Weltjudentums", das nach der Weltherrschaft strebt. So erklären Rechtsextremisten auch heutzutage viele gesellschaftliche Entwicklungen mit einer steuernden jüdischen Macht im Hintergrund. Wahlweise wird dies offen so bezeichnet, häufig aber auch verdeckt und codiert mit Bezeichnungen wie "amerikanische Ostküste" oder "StripVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 23 Antisemitismus penzieher der Finanzwelt". So werden zum Beispiel auch die Migrationsbewegungen mit antisemitischen Verschwörungsmustern erklärt, da das "Weltjudentum" auf diese Weise die "weiße Rasse" schwächen und vernichten will. Hinzu kamen neue Aspekte, die auf dem Holocaust beruhen; der so genannte Antisemitismus nach Auschwitz. Zu nennen ist zunächst die Leugnung des Holocaust, dies ist in Deutschland strafbar. Eine Teilmenge der antisemitisch motivierten Straftaten ist in diesem Bereich zu verorten. Im aktuellen Berichtszeitraum setzt sich die im Jahr 2018 erkennbare ansteigende Tendenz bei den antisemitischen Straftaten fort, den Schwerpunkt bilden Volksverhetzungen gemäß SS 130 StGB. Diese werden häufig im Internet begangen, da die Täter sich hier einen Schutz durch Anonymität versprechen. Ein Beispiel für solch eine Tat ist eine Briefsendung, die am 10. Juni beim Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt einging. Der Brief beinhaltete die Abbildung von Personen in Häftlingskleidung und dazu den Text: "Jüdische Lügen-Propaganda, Die Rheinwiesenlager im Sommer 1945 (Teil 4), Deutsche Leichen als jüdische Leichen für Hitchkocks KZ-Filme: Falsche Leichen aus Rheinwiesenlagern - falsche Lastwagen - falsche Duschen und Krematorien etc." Unterhalb des Bildes befindet sich der Text: "Befreiung von Bergen-Belsen, gut ernährte, jüdische Häftlinge mit deutschen, gestreiften Häftlingsanzügen und Mützen an einem kühlen Tag im nasskalten April 1945, 15. April 1945 (5)" Hinweise zum Absender waren nicht ersichtlich. Ermittlungen der Polizei führten zu verschiedener Internetseiten mit diversen antisemitischen Einträgen, in denen zum Beispiel der Holocaust geleugnet wird. In diesen Beiträgen konnte das hier in Rede stehende Foto festgestellt werden. Die Internetseiten werden von ausländischen Servern aus verbreitet. 24 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Antisemitismus Neben der Holocaustleugnung und dem eng damit verbundenen Geschichtsrevisionismus gab und gibt es im Rechtsextremismus eine Täter-Opfer-Umkehr, die vor allem im Zusammenhang mit der Gründung des Staates Israel steht. So argumentieren Rechtsextremisten, dass die Erinnerung an den Holocaust auf eine Schwächung Deutschlands abziele, zugleich verharmlosen sie aber auch die Verbrechen des NS-Regimes an den Juden und versuchen so, der NS-Ideologie den Schrecken zu nehmen. Die Gründung Israels wiederum ist Basis eines antizionistischen Antisemitismus, der nicht nur im Rechtsextremismus zu finden ist, sondern auch im Linksextremismus und im Islamismus. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 25 Antisemitismus Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, wird als Grundübel und Gefahr für den Frieden dargestellt, dem Staat wird das Existenzrecht abgesprochen. Die Politik Israels wird mit den nationalsozialistischen Verbrechen gleichgesetzt, was einerseits den Staat Israel dämonisieren, andererseits aber auch zur Entlastung der NS-Vernichtungspolitik beitragen soll. Auch wenn der Antisemitismus kein integraler Bestandteil des Linksextremismus ist, lassen sich doch bereits in einigen Werken früher marxistischer Autoren antisemitische Ideologiefragmente finden, die unter Linksextremisten bis heute als antizionistischer Antisemitismus nachwirken. In einer verkürzten Kapitalismuskritik, wie sie vor allem unter marxistisch-leninistischen Bestrebungen zu finden ist, werden als Missstände empfundene Auswirkungen des wirtschaftlichen Systems personalisiert und einer konkreten Gruppe angelastet - vornehmlich "den Kapitalisten". Die dabei bemühte Unterscheidung zwischen Finanzund Realkapital erinnert deshalb nicht zufällig an jene vom "raffenden" und "schaffenden Kapital" im Nationalsozialismus. Hier stand das "schaffende Kapital" für die "ehrliche" Arbeit in Industrie und Handwerk, während das "raffende Kapital" für den Finanzmarkt und die Banken reserviert war und sich vor allem mit dem antisemitischen Stereotyp des "jüdischen Parasiten" versinnbildlichte. Heutzutage ist diese Art der linksextremistischen Kapitalismuskritik vor allem im Zuge globalisierungskritischer Aktivitäten wieder aktuell, findet seine Entsprechung aber seit jeher im Antiimperialismus. In Anlehnung an die Ideologie Lenins, der den "Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" beschrieb, unterstellen Antiimperialisten dem Staat Israel eine "kolonialistische Ausbeutung" Palästinas. Antiimperialistische Linksextremisten haben daher eine dezidiert antiisraelische Haltung und unterstützen einen "Befreiungskampf des palästinensischen Volkes gegen die israelische Unterdrückung". In der Folge kommt es hier zu einer Kritik am Staat Israel, die 26 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Antisemitismus in ihrer Einseitigkeit und Intensität immer häufiger antisemitisch konnotiert ist. Der Antisemitismus verlagert sich dementsprechend vom "Juden" auf den jüdischen Staat Israel, der als Apartheidstaat dargestellt wird und wirtschaftlich, kulturell und politisch isoliert werden soll. Der mittlerweile aufgelöste Ableger des "Jugendwiderstandes", die "Rote Arbeiterjugend Magdeburg" (RAJ), ging in seinen Forderungen weiter und sprach dem Staat Israel das Existenzrecht ab. "Bomben auf Tel Aviv" steht mit Hammer und Sichel als Graffiti an der Wand. Wenngleich sich die Gruppierung später von der Parole distanzierte, lassen sich in dem Rechtfertigungsschreiben antizionistische Gemeinplätze finden, welche die Schwelle zum Antisemitismus überschreiten: "Die Kolonialbevölkerung Israels ist ein Instrument der Vertreibung, Entrechtung und Besatzung durch ihre Herrschenden, ebenso wie damals die Weißen in Südafrika. Es kann niemand etwas dafür in eine Besatzungsmacht und Kolonialbevölkerung hineingeboren zu werden, für seine weitere Haltung zu diesem Unrecht ist aber nur er verantwortlich. Und natürlich ist es in keinster Weise Aufgabe deutscher Revolutionäre dem palästinensischen Widerstand vorzuschreiben, wie sein Widerstand auszusehen hat." Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 27 Antisemitismus Die RAJ rechtfertigt zugleich Anschläge der palästinensischen Terrororganisationen HAMAS oder PFLP.1 Hinter der maoistisch-stalinistischen Ideologie kommt ein Antizionismus zum Vorschein, der zu einem Antisemitismus nach Auschwitz wird. Die antiimperialistischen Gruppierungen sind nicht in der Lage, die Schnittstellen zwischen einer antizionistischen Generalkritik und antisemitischen Diskursmustern aufzudecken und zu reflektieren. Die Fronten sind hier verhärtet, da sich mit den "Antideutschen" eine Gegenbewegung etabliert hat. Diese tragen ihre Kritik am Antizionismus und Antiimperialismus mit überladenen Antisemitismusvorwürfen in die Szene und sorgen damit insbesondere im autonomen Spektrum für massive Verwerfungen. In Sachsen-Anhalt lässt sich diese Spaltung nicht nur ideologisch, sondern auch geografisch einordnen: Während der Norden des Landes rund um Magdeburg mehrheitlich antiimperialistisch eingestellt ist, konnte sich im Landessüden mit Schwerpunkt in Halle (Saale) eine antideutsche Stoßrichtung etablieren. Die beiden Szenen führen seit Jahren ideologische und zum Teil gewalttätige Auseinandersetzungen. Ein Vortrag mit dem Thema "Solidarität mit Israel", den eine antideutsche Gruppen aus Halle (Saale) am 9. April in Magdeburg veranstaltete, musste zum heraufbeschworenen Affront für die örtliche antiimperialistische Szene werden. So beschmierten Angehörige der RAJ mehrere Wände im Stadtgebiet mit der Parole "Zionisten aufs Maul" und gaben so ihren "Hass auf Israel" und deren antideutsche Unterstützer zu verstehen. 1 - Popular Front for the Liberation of Palestine; Volksfront zur Befreiung Palästinas, eine linksgerichtete nicht-religiöse Terrororganisation 28 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Antisemitismus Auch die Gruppierung "Zusammen Kämpfen" versuchte entsprechend zu intervenieren: "Antimuslimischer Rassismus, prozionistische Propaganda, Philosemitismus [...] können keine Grundlage für eine fortschrittliche Linke sein" hieß es in einem Interneteintrag. Antisemitismus im Linksextremismus ist also kein Allgemeingut, doch zeigen gerade orthodoxe Antiimperialisten wie schnell an antisemitische Denkstrukturen angeknüpft werden kann. Eine dahingehend notwendige Selbstkritik unterbleibt aufgrund des ideologischen Tunnelblicks und der Frontstellung zu den Antideutschen allzu häufig. Antisemitische bzw. israelfeindliche Tendenzen werden auch bei der Beobachtung islamistischer Bestrebungen sichtbar. Entsprechendes Gedankengut ist konstitutiver Bestandteil der Ideologie aller islamistischen Organisationen. Das bedeutet, dass sich in sämtlichen islamistischen Ideologien, gleich ob im salafistischen, jihadistischen oder legalistischen Spektrum, die gleichen oder zumindest vergleichbare Ausführungen über Juden finden. Kerngedanke ist dabei durchgängig der Ansatz, dass Juden im Verborgenen nach der Weltherrschaft streben bzw. diese bereits ausüben und somit die Weltpolitik und -wirtschaft kontrollieren und zu ihren Gunsten manipulieren. Religiös aufgebauscht wird dieser ideologische Ansatz noch dadurch, dass man judenfeindliche Textstellen aus der islamischen Frühzeit ohne historische Relativierung in die heutige Zeit überträgt, um so einen ewigen Kampf zwischen Muslimen und Juden oder gar eine endzeitliche Schlacht zwischen beiden Religionen zu propagieren. Der Antisemitismus islamistischer Organisationen ist eng verknüpft mit dem Antizionismus und Antiisraelismus, der in vielen muslimischen Ländern gesellschaftlich weit verbreitet ist und auch von säkularen Kreisen in Staat und Gesellschaft vehement vertreten wird. Während Israel für Säkularisten der Inbegriff westlich-imperialistischer Expansionsund KolonialisierungsbeVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 29 Antisemitismus strebungen ist, wird Israel von Islamisten als eine Invasion islamischen Territoriums betrachtet, das mit Hilfe des bewaffneten Jihads "für die Sache Gottes" gegen die Feinde des Islams befreit werden muss. Die Tatsache, dass viele westliche Staaten, darunter auch Deutschland, trotz gelegentlicher Kritik die Existenz des Staates anerkennen und unterstützen, wird in der islamistischen Propaganda wiederum als Bestätigung für ihr Ideologem des jüdischen "krakenhaften" Einflusses in sämtlichen Sphären westlicher Innenund Außenpolitik gewertet. Islamisten schrecken bei ihrer antisemitischen Propaganda dabei auch nicht davor zurück, Kinder für ihre Zwecke zu missbrauchen und zu instrumentalisieren. So veröffentlichte ein der Muslimbruderschaft nahestehendes Vorstandsmitglied einer islamischen Gemeinde in Sachsen-Anhalt im Jahr 2017 auf Facebook ein Video, in dem eine Kindergruppe ein arabisches Lied singt. In diesem Lied werden Juden verunglimpft und Kinder zum Jihad gegen Israel aufgefordert. Das Video ist mittlerweile nicht mehr abrufbar. Dass antisemitische Sichtweisen auch für weite Kreise der muslimischen Bevölkerung anschlussfähig sind, zeigten die Vorkommnisse in Deutschland, bei denen agierende Einzelpersonen keine nachweisbaren Verbindungen zum organisierten Islamismus hatten. So wurde beispielsweise im April 2016 eine Frau von zwei arabischstämmigen Männern deswegen mit den Worten "Ihr Scheißjuden! Ihr seid der Abschaum der Welt." beschimpft, weil ihr Kettenanhänger die Form der Umrisse des Landes Israel zeigte. Im Dezember 2017 wurde ein jüdischer Abiturient von einem arabischen Mitschüler mit den Worten attackiert: "Ihr seid Kindermörder; Euch sollte man die Köpfe abschneiden!", und im gleichen Monat attackierten zwei Unbekannte eine Synagoge in Nordrhein-Westfalen und beschimpften die dortigen Mitarbeiter mit den Worten: "Al-Quds gehört uns! Verschwindet von hier, ihr Hurensöhne!". 30 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Antisemitismus Solche Ereignisse belegen, dass antisemitische und israelfeindliche Gedanken eine Scharnierfunktion zwischen islamistischen und nicht-islamistischen Muslimen haben können und somit eine erhebliche Herausforderung für das friedliche und tolerante Zusammenleben in Deutschland darstellen. Der aktiven intellektuellen, wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit solchem Gedankengut wird in den nächsten Jahren eine wachsende Bedeutung zukommen. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Bemühungen in Sachsen-Anhalt um eine erfolgreiche Integration muslimischer Immigranten und Geflüchteter. Um dem Antisemitismus entschieden entgegentreten zu können, hat die Landesregierung einen Ansprechpartner für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus ernannt. Dieser ist in der Staatskanzlei angesiedelt. Am 26. Februar vereinbarte er mit der "Recherche-& Informationsstelle Antisemitismus" (RIAS) das Erstellen einer "Problembeschreibung Antisemitismus in Sachsen-Anhalt". Die am 28. April 2020 vorgestellte Studie ist auf der Internetseite des Ansprechpartners für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus abrufbar. https://stk.sachsen-anhalt.de/ staatskanzlei-und-ministeriumfuer-kultur/ansprechpartner-fuerjuedisches-leben-in-sachsenanhalt-und-gegen-antisemitismus/ Für weiterführende Informationen empfehlen wir das Dossier "Antisemitismus" der Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/politik/ extremismus/antisemitismus/ Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 31 RechtsextRemismus Rechtsextremismus Der Mord an den Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke am 2. Juni und der Anschlag von Halle (Saale) am 9. Oktober zeigen, wie entschlossen gewaltbereite Rechtsextremisten in Deutschland sind. Den Taten liegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und eine allgemeine Intoleranz gegenüber andersdenkenden Menschen als Ideologie und Verhaltensweisen zugrunde. Die weiteren im Verfassungsschutzbericht genannten Beispiele unterstreichen die besorgniserregende Entwicklung im Bereich des gewaltbereiten Rechtsextremismus. Sowohl das bekannte Personenpotenzial als auch die vielfältigen Organisationsformen veranlassen die Verfassungsschutzbehörde, der Beobachtung und Aufklärung rechtsextremistischer, insbesondere gewaltbereiter Strukturen weiterhin höchste Aufmerksamkeit zu widmen. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, formulierte die Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder auf ihrer 211. Sitzung vom 4. bis 6. Dezember in Lübeck (Schleswig-Holstein) einen Maßnahmenkatalog für den Verfassungsschutz. Insbesondere wird die Aufklärung der gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene und der rechtsextremistischen Aktivitäten im Internet intensiviert. Hierfür ist - unter Wahrung des Tren-nungsgebots - die Stärkung des Wirkverbundes zwischen Polizei und Verfassungsschutz notwendig. Die Entwicklung des rechtsextremistischen Personenpotenzials in Sachsen-Anhalt stellt sich für das Berichtsjahr im Vergleich zu den Vorjahren wie folgt dar: 32 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Rechtsextremisten 2017 2018 2019 Parteigebundener Rechtsextremis265 265 180 mus (Parteien) Parteiungebundener Rechtsextre350 340 360 mismus Weitgehend unstrukturierter, meist 760 740 740 subkulturell geprägter Rechtsextremismus Summe: 1.375 1.345 1.280 Gesamt (nach Abzug der Mehrfach1.300 1.300 1.230 mitgliedschaften) (Zahlen zum Teil geschätzt und gerundet.) Der gewaltorientierten Szene, die sich zum Großteil aus den Personen des subkulturell geprägter Rechtsextremismus speist, werden etwa 650 Personen zugerechnet. Der traditionelle Rechtsextremismus wird im Wesentlichen von Parteien und neonazistischen Organisationen geprägt, die seit Jahren oder Jahrzehnten existieren. NPD, "Der III. Weg" und die "DIE RECHTE" nehmen nur im geringen Maß am gesellschaftlichen Meinungsund Willensbildungsprozess teil. Ihre Wirkungskraft im und außerhalb des rechtsex-tremistischen Lagers ist begrenzt. Der NPD-Landesverband Sachsen-Anhalt hat mit einem deutlichen Mitgliederschwund zu kämpfen; den anderen Kleinstparteien hierzulande fehlt es an Mitgliedern und Strukturen. Diejenigen, die sich der nationalsozialistischen Ideologie vorbehaltlos zugehörig fühlen, sind weiterhin ein integraler Bestandteil des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland und auch in Sachsen-Anhalt. Protagonisten der Neonaziszene Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 33 RechtsextRemismus führen seit Jahren eine Debatte über Themen, Aktionsformen und Strukturen. Neonazis sind zwar immer wieder bei Demonstrationen oder in den sozialen Medien sichtbar, ihre Botschaften überschreiten aber kaum die Grenzen der eigenen Szene. Realweltliche Kameradschaftsgruppen existieren zwar weiterhin, werden jedoch zunehmend von offenen und geschlossenen Gruppen und Foren in internetbasierten Messenger-Diensten und Sozialen Medien verdrängt. Die Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) stellt einen wichtigen Indikator des gewaltund aktionsorientierten Rechtsextremismus dar. Ihre Bekämpfung ist nach wie vor eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden. Während Gewaltstraftaten in erster Linie in der realen Welt gegen Personen und Sachen verübt werden, kommt es überwiegend über die internetbasierten Kommunikationsmöglichkeiten zur Bildung von Gruppierungen, die Straftatbestände der SSSS 129 und 129a StGB erfüllen. Über deren Zielsetzung herrscht Klarheit, dagegen bleiben Strategie und Taktik oft diffus. Die bereits in früheren Berichten beschriebene Modernisierung des Rechtsextremismus, die sich in einer Individualisierung und Kleinteiligkeit darstellt, bedingt auch eine verstärkte Beobachtung von Einzelpersonen. Neben der sachorientierten Gefährdungseinschätzung gewinnt die persönlichkeitsorientierte Beurteilung von gewaltbereiten Personen eine zunehmende Bedeutung. Der diskursorientierte Rechtsextremismus, der auch als "Neue Rechte" oder szeneintern als "Mosaik-Rechte" bezeichnet wird, hat bundesweit, wie auch in Sachsen-Anhalt an Bedeutung gewonnen. Zu diesem Netzwerk sind eine Vielzahl von Gruppierungen zu zählen, zu denen tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des SS 4 Abs. 1 Nr. 1 VerfSchG-LSA vorliegen. 34 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Die Strategie der "Neuen Rechten" stützt sich - in Adaption von Konzepten, die von politisch links stehenden Denkern entwickelt worden sind, wie zum Beispiel dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1891 - 1937) - im Wesentlichen auf die politische Nachahmung - es sei an die Guerillaaktionen der Identitären Bewegung erinnert, wie das Besetzen des Brandenburger Tors im Jahr 2016 - und der Versuch, eine Metapolitik von rechts zu etablieren. Gewalt scheidet als strategisches Mittel in den allermeisten Fällen aus, indes nicht aus grundsätzlichen Erwägungen heraus. Vielmehr lehnen Vertreter der "Neuen Rechten" Gewalt eher aufgrund der abschreckenden Wirkung für die Gesellschaft ab, welche sie mit ihrem metapolitischen Ansatz erreichen will. Sie zeigen sich daher diskursorientiert und geben sich intellektuell. Einigen Vertretern der "Neuen Rechten" kann eine Art "Scharnierfunktion" zugesprochen werden: Es ist erklärtes Ziel, die eigene Ideologie in möglichst vielen politischen und gesellschaftlichen Spektren zu verbreiten. Dass diese "Neuen Rechten" nicht zu unterschätzen sind zeigt sich schon daran, dass sie in ihren Werken oftmals Anleihen bei konservativen Vordenkern der Weimarer Zeit nehmen, die ihrerseits Wegbereiter des Nationalsozialismus waren. Ihre Ideen wurden vor allem in den 1950er und 1960er Jahren in Frankreich wiederentdeckt, von dortigen rechtsextremistischen Vordenkern weiterentwickelt und gelangten über deren Werke dann in den 1970er Jahren zurück nach Deutschland. Mit der Einwanderungsund Flüchtlingssituation haben die "Neuen Rechten" ein Thema gefunden, das bis in weite Teile der Gesellschaft hinein anschlussfähig ist. Sie greifen bestehende Ängste und Unsicherheiten auf, überhöhen, dramatisieren und verzerren die zum Teil real existierenden Probleme und verknüpfen ihre "Lösungsansätze" mit der eigenen Ideologie. Dabei folgen sie einem im Kern simplen Muster: Das Volk muss eine homogene Gemeinschaft sein, um zu funktioneren, heterogene - also externe - Teile sind fernzuhalten und haben sich ihrerseits zu eigenen homogenen Gebilden zusammenzuschließen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 35 RechtsextRemismus Es handelt sich insofern um ein klares Denken in völkischen Kollektiven, um eine Abgrenzung gegenüber Menschen mit anderer Herkunft und mithin um alte und bekannte rechtsextremistische Ideologie im neuen Gewand. Bei ihrem "Kampf um die Köpfe" nutzen Vertreter der "Neuen Rechten" - in höherem Maße als "traditionelle" Rechtsextremisten - die virtuelle Welt, die in kurzer Zeit einen hohen Verbreitungsgrad ermöglicht. Die interne Kommunikation im Bereich Rechtsextremismus wird mittlerweile fast ausschließlich über das Internet und die dort vertretenen sozialen Netzwerke abgewickelt. Das Internet bietet die Möglichkeit, auch sensible Informationen mit Hilfe von Verschlüsselungen auszutauschen. Weiterhin wird das Internet immer mehr als sehr gut geeignetes Medium genutzt, um Mobilisierungen einer großen Anzahl von Anhängern zu erreichen. Viele Internetnutzer fühlen sich auf Grund der weitgehenden Anonymität geschützt und versuchen sich staatlicher Beobachtung und Verfolgung zu entziehen. Die Kommunikation und Interaktion im Internet kann damit den Boden für mittlerweile erschreckend weit verbreiteten Hass und Hetze bereiten. Damit bilden die Möglichkeiten des Internets Quelle und Motivation für eine weitgehend eigenständig ablaufende Radikalisierung, was am Beispiel des Attentäters von Halle (Saale) deutlich wird. Das Internet wird für vereinzelte Nutzer zum Lebensinhalt und die reale Welt rückt in den Hintergrund. Auf Grund des stetigen und einseitigen Informationsaufkommens in so genannten Filterblasen wird eine Haltung immer mehr verfestigt und führt irgendwann zu einer unverrückbaren Sicht auf die Welt. 36 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Sitz Landesverband: postalisch Berlin Verbreitung Bundesverband: Berlin Gründung Landesverband: 1990 (als Landesverband "Mitteldeutsche Nationaldemokraten") Bundesverband: 1964 Struktur Landesvorsitzender: Henry Kurt Lippold (GerbAufbau stedt, Mansfeld-Südharz, seit Oktober 2019) Bundesvorsitzender: Frank FRANZ (Saarland) Kreisverbände in Sachsen-Anhalt: Altmark, Anhalt-Bitterfeld, Bördekreis, Burgenlandkreis, Halle (Saale), Harz, Jerichower Land, Magdeburg, Mansfeld-Südharz, Saalekreis, Salzland, Wittenberg Unterorganisationen: - "Junge Nationalisten" (JN) - "Ring Nationaler Frauen" (RNF), - "Kommunalpolitische Vereinigung" (KPV) Mitglieder Land: 150 (2018: 220) Anhänger Bund: 3.600 (2018: 4.000) VeröffentWeb-Angebot: Der Landesverband und die Kreislichungen verbände unterhalten jeweils eigene Seiten auf Facebook; der Bundesverband eine eigene Internetseite. Publikationen: "Deutsche Stimme" (Bundesverband, monatlich) Finanzierung Staatliche Parteienfinanzierung, Mitgliedsbeiträge und Spenden Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 37 RechtsextRemismus Kurzportrait / Ziele Die NPD ist eine rechtsextremistische Partei mit verfassungsfeindlicher Ideologie und Zielsetzung. Ihre Programmatik ist auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet und weist darin Kernelemente eines rechtsextremistischen Weltund Menschenbildes auf. Ihr Bestreben ist es, die Gesellschaft im Sinne ihrer rassistischen, nationalsozialistischen und antisemitischen Vorstellungen zu prägen. Grund der Beobachtung Die NPD vertritt ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild, dessen ideologisches Kernelement die Idee einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft" ist. Davon ausgehend propagiert sie unverhohlen rassistische und fremdenfeindliche Positionen. Die "Vier Säulen-Strategie" der Partei, bestehend aus dem "Kampf um die Köpfe", dem "Kampf um die Straße", dem "Kampf um die Parlamente" und dem "Kampf um den organisierten Willen", verdeutlicht seit Jahren das Ziel der NPD, den demokratischen Verfassungsstaat systematisch und umfassend zu bekämpfen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Mit Schriftsatz vom 19. Juli haben die drei antragsberechtigten Verfassungsorgane Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung gemeinsam beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen Antrag auf Ausschluss der NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung gemäß Art. 21 Abs. 3 Grundgesetz eingereicht. Grundlage des Antrags bildet die von den Verfassungsschutzbehörden zusammengetragene Materialsammlung mit über 300 Belegen. Der Antrag zeigt auf, dass die NPD auch nach dem Urteil des BVerfG im vorangegangenen Verbotsverfahren (2 BvB 1/13 vom 17. Januar 2017) eine verfassungsfeindliche Zielrichtung verfolgt und mit der Teilnahme an Wahlen auf allen staatlichen Ebenen und zum Europaparlament sowie mit anderen Aktivitä38 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus ten wie zum Beispiel der "Schutzzonen"Kampagne (einer Art "Bürgerwehr" gegen vermeintliche Migrantengewalt) weiterhin handlungsfähig ist. Teilnahme an Wahlen Die NPD erreichte bei der Europawahl bundesweit 101.323 Stimmen (0,3 Prozent). Im Vergleich zur Europawahl vor fünf Jahren hat sie damit etwa zwei Drittel ihrer Stimmen verloren (2014: 301.139 Stimmen; 1,0 Prozent). Ebenso hat sie die für die Teilhabe an der staatlichen Parteienfinanzierung notwendige Schwelle von 0,5 Prozent deutlich verfehlt. In Sachsen-Anhalt stimmten 6.220 Wähler (0,6 Prozent) für die NPD. Damit hat sie hier ebenfalls etwa zwei Drittel ihrer Stimmen verloren (2014: 16.758 Stimmen; 2,1 Prozent). Der NPD-Bundesvorsitzende Frank FRANZ (Saarland) kommentiert das Ergebnis seiner Partei wie folgt: "Leider liegt das EU-Wahlergebnis, das sich bisher abzeichnet, deutlich hinter den Erwartungen zurück, obwohl wir einen engagierten und auch wahrnehmbaren Wahlkampf geführt haben. Nach jetzigem Stand haben wir das Mandat verloren und die Wahlkampfkostenrückerstattung verfehlt." Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt Insgesamt 40 Personen kandidierten für die NPD (2014: 97), die Partei konnte dabei nicht landesweit Kandidaten aufzustellen. Zur Kreistagswahl kandidierten für die NPD Bewerber in den Landkreisen Anhalt-Bitterfeld, Burgenlandkreis, Saalekreis und Wittenberg. Zu den Stadtratswahlen in den kreisfreien Städten kandidierten NPD-Bewerber lediglich in der Stadt Halle (Saale). Zu den Gemeinderatswahlen gab es Bewerber in den Landkreisen Burgenlandkreis, Mansfeld-Südharz, Saalekreis und Wittenberg. Im Kreisverband Burgenlandkreis kandidierte mit 20 Personen die Hälfte aller NPD-Kandidaten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 39 RechtsextRemismus Insgesamt errang die NPD 14 Kommunalmandate und büßte damit im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2014 19 Mandate ein. Für den Kreistag des Burgenlandkreises erreichte Lutz BATTKE (Laucha an der Unstrut) ein Mandat. BATTKE, ein langjähriger Protagonist im NPD-Kreisverband Burgenlandkreis, hatte bereits mehrere Mandate sowohl im Kreistag als auch im Gemeinderat inne. Für den Kreistag des Landkreises Wittenberg erreichte Veit HOLSCHEIDER (Gräfenhainichen) ein Mandat. Er ist Beisitzer im NPD-Kreisverband Wittenberg und war stellvertretender Landesvorsitzender der Partei "DIE RECHTE". Weitere 12 Mandate konnte die NPD in den Gemeinde-, Stadtund Ortschaftsräten des Landes erringen. Wahlkampfaktivitäten der NPD in Sachsen-Anhalt beschränkten sich vor allem auf wenige Plakatierungen in einzelnen Ortschaften. Auf ihren Internetseiten riefen einige Kreisverbände zur Wahl der NPD auf. Wahlkampfveranstaltungen zentraler Art fanden darüber hinaus nicht statt. Die Ergebnisse der Europaund Kommunalwahlen sind Ausdruck einer zunehmenden Wahlschwäche der NPD und spiegeln den Abwärtstrend der Partei in Sachsen-Anhalt wider. Der Partei gelingt es weder ihre Strukturen, noch ihre Mitgliederzahlen auszubauen. 40 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Lediglich punktuell behaupten sich einzelne Kommunalvertreter mit Sitzen in Gemeindeund Stadträten oder in Kreistagen. Die Strategie, mit Provokationen in Form von aggressiv fremdenfeindlicher oder antisemitischer Wahlwerbung öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, war nur teilweise erfolgreich: Zwar fanden die juristischen Auseinandersetzungen auf Grund einzelner Wahlwerbespots oder Wahlplakate, insbesondere im Zusammenhang mit dem Slogan "Migration tötet!", ein mediales Echo, jedoch gelang es der NPD nicht, dies in eine Zustimmung seitens potenzieller Wähler umzumünzen. NPD-Bundesparteitag Vom 30. November bis 1. Dezember fand unter dem Motto "Wir setzen uns durch - für unsere Heimat" der NPD-Bundesparteitag in Riesa (Sachsen) statt. Frank FRANZ wurde erneut zum Bundesvorsitzenden gewählt, Ronny ZASOWK (Berlin), Thorsten HEISE (Thüringen) und Udo VOIGT (Berlin) zu Stellvertretern. Der "Entschließungsantrag des Parteivorstands zur Zukunft der NPD" wurde "durch fast 2/3 der abgegebenen Delegiertenstimmen" beschlossen. In diesem Konzept soll auch eine Umbenennung der Partei geprüft werden. Strukturelle Entwicklung des Landesverbandes Am 26. Oktober fand in Naumburg OT Bad Kösen (Burgenlandkreis) ein Landesparteitag mit Vorstandswahl statt. Gäste waren unter anderem der Bundesvorsitzende FRANZ und der Generalsekretär der Partei. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 41 RechtsextRemismus Zum neuen Landesvorsitzenden wurde Henry Kurt LIPPOLD (Gerbstedt, Landkreis Mansfeld-Südharz) gewählt. Im Landesvorstand finden sich altbekannte Namen wieder, unter anderem Andreas KARL (Billroda, Burgenlandkreis), Gustav HAENSCHKE (Magdeburg) und Steffen THIEL (Zeitz, Burgenlandkreis). Aktivitäten Der NPD-Landesverband und seine Kreisverbände entfalteten im Berichtsjahr kaum eigene politische Aktivitäten. In ihren Facebook-Seiten werden größtenteils Beiträge der "Deutschen Stimme" geteilt oder kurze Stellungnahmen zu diesen verfasst. (Titelblatt der DS-Ausgabe aus dem April - mit altem Logo) Anlässlich des 148. Jahrestages der Gründung des Deutschen Reichs und der Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 veranstaltete der Kreisverband Mansfeld-Südharz am 19. Januar in Mansfeld (Landkreis Mansfeld-Südharz) eine Kranzniederlegung am Denkmal "Germania". Der Kreisverband Harz informierte am 29. März auf seiner Facebook-Seite über eine neue "Schutzzone", die im Rahmen der 42 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus "Schafft Schutzzonen!"-Kampagne in Wernigerode (Landkreis Harz) entstanden sei. "Erfahrene Kameraden von außerhalb" hätten mit "neuen Mitstreitern aus der Stadt" eine Streife absolviert, um "für etwas mehr Sicherheit auf den Straßen zu sorgen". Die Kampagne verfolge das Ziel, mit dem stetigen Aufbau von "Ortsgruppen" in immer mehr "Bundesländern, Regionen und Städten" "Schutzzonen" zu schaffen. In diesem Zusammenhang veröffentlichte der Landesverband Ende Juli auf seiner Facebook-Seite ein Video, in dem auf eine neue "Schutzzone" hingewiesen wird. Das Video soll örtliche "Kriminalitätsschauplätze" zeigen, die von zwei Personen in Kampagnen-Westen "bestreift" werden. Der Kreisverband Magdeburg veröffentlichte am 21. September auf seinem Facebook-Auftritt unter dem Titel "Möge er nun seinen Frieden finden" ein Gedenken an einen 97-jährig verstorbenen "SS-Unterscharführer" sowie an dessen Einsätze im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 43 RechtsextRemismus Anlässlich des Volkstrauertages am 17. November legten der Landesverband und einige der Kreisverbände als Ausdruck "der nationalen Erinnerungskultur vieler Deutscher" an Denkmälern für gefallene deutsche Soldaten Kränze nieder. "Junge Nationalisten" (JN) Nachdem zuletzt 2015 Aktivitäten der JN in Sachsen-Anhalt bekannt geworden waren, scheint im Berichtsjahr eine Reaktivierung des Landesverbandes zu erfolgen. Einem Internetbeitrag der JN zufolge hatten sich anlässlich des 8. Mai JN-Mitglieder in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt "im Rahmen eines länderübergreifenden Aktionstages gegen den öffentlich verordneten Schuldkult in Deutschland" ausgesprochen. So hätten "JN-Aktivisten in vielen Städten und Gemeinden darauf aufmerksam gemacht, dass für die nationalistische Jugend der 8. Mai keineswegs ein Feiertag der so genannten Befreiung" sei und sich "gegen den Befreiungsmythos" gewandt. Hierzu erklärte der sächsische JN-Landesvorsitzende: "Hintergrund der Aktion ist unsere entschiedene Ablehnung einer bis zur Verleugnung reichenden Verharmlosung und Relativierung der durch die Alliierten und ihre Helfer am deutschen Volk begangenen Verbrechen." Auf der Facebook-Seite "Nationaler Aufbruch Wittenberg" (NA Wittenberg oder NAW) wurde im November bekannt gegeben, dass sich der NAW mit den JN "zusammen getan" habe. Zugleich wird dazu aufgerufen, "der größten nationalen Jugendorganisation in der BRD" beizutreten und die neue Facebook-Seite "Aktionsblog Sachsen Anhalt" beworben. 44 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Die Facebook-Seite des NAW war seit Beginn des Berichtsjahres aktiv, auf ihr wurden regelmäßig rechtsextremistische Beiträge veröffentlicht. Am 8. und 9. November 2019 fand unter dem Motto "Volkserhalt statt Multikulti" in Neuensalz (Sachsen) der 43. JN-Bundeskongress mit etwa 100 Teilnehmern statt. Auf ihrer Internetseite veröffentliche die JN hierzu einen Artikel mit der Überschrift "50 Jahre Widerstand für Deutschland". Auf dem "Aktionsblog-Sachsen-Anhalt" erschien am 10. November ein Bericht über den Kongress. Demnach war der seither politisch inaktive Landesverband Sachsen-Anhalt mit einigen Personen vor Ort und berichtete hier über seinen Strukturausbau und Mitgliederzuwächse. Gemäß einer Meldung unter dem Titel "Junge Nationalisten: bundesweites Gedenken zum Volkstrauertag" auf der JN-Internetseite nahmen JN-Mitglieder am 17. November an einem "Heldengedenken" der NPD und "freier Kräfte" in der Lutherstadt Wittenberg teil. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der NPD gelang im Jahr 2019 keine Umkehr ihres Negativtrends. Seit den schwerwiegenden Verlusten der Landtagsfraktionen in Sachsen (2014) und Mecklenburg-Vorpommern (2016) und einer damit einhergehenden deutlich verringerten politischen und finanziellen Schlagkraft befindet sich die Partei in einer Abwärtsspirale. Bei der Europawahl verlor die NPD nicht nur ihr einziges Mandat, sondern auch rund zwei Drittel ihrer Stimmen und unterschritt dabei die für die staatliche Parteienfinanzierung relevante Schwelle von 0,5 Prozent. Der mit den Wahlniederlagen verstärkte innerparteiliche Unmut über die desolate Lage und die Perspektivlosigkeit der Partei setzte einen Diskussionsprozess in Gang, bei dem Optionen wie Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 45 RechtsextRemismus eine Umbenennung oder Fusion mit anderen Gruppierungen aus dem "nationalen" Lager in Erwägung gezogen werden. Die NPD in Sachsen-Anhalt ist - bis auf wenige Ausnahmen - öffentlich kaum noch präsent. Angesichts des aktuellen Kurses der Parteispitze sind keine Anzeichen ersichtlich, die darauf schließen lassen, dass mit einem neuen Landesvorstand in Sachsen-Anhalt ein Ausbau an Struktur und Mitgliederzahlen gelingen wird. 46 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Partei "DIE RECHTE" (DR) Sitz Landesverband: Halberstadt (Landkreis Harz) Verbreitung Bundesverband: Dortmund (Nordrhein-Westfalen) Gründung Landesverband: 30. November 2014 Bundesverband: 27. Mai 2012 Struktur Landesvorsitzender: Ingo ZIMMERMANN Aufbau (Landeshauptstadt Magdeburg) Bundesvorsitzende (Doppelspitze): Sascha KROLZIG (Nordrhein-Westfalen) Sven SKODA (Nordrhein-Westfalen) Mitglieder Land: etwa 20 (2018: etwa 30) Anhänger Bund: 500 (2018: 600) VeröffentWeb-Angebote: lichungen https://die-rechte.net https://twitter.com/DieRechteMDJL Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Kurzportrait / Ziele Die Partei "DIE RECHTE" wurde mehrheitlich von Mitgliedern der Deutschen Volksunion (DVU), auf Initiative des bis zum 31. Oktober 2017 amtierenden Bundesvorsitzenden Christian WORCH (Mecklenburg-Vorpommern), in Hamburg gegründet. Inzwischen spielen die ehemaligen DVU-Mitglieder keine Rolle mehr. Eine Vormacht aus neonazistischen "Freien Kräften" bestimmt die Tagesordnung und somit auch die Richtung der Partei. Diese Entwicklung begann mit der Gründung des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen am 15. September 2012, dessen MitglieVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 47 RechtsextRemismus der überwiegend den im August 2012 verbotenen neonazistischen Organisationen NWDO1, KS2 Hamm und KS Aachener Land angehörten. Der Landesverband Nordrhein-Westfalen ist nicht nur der mitgliederstärkste Landesverband, sondern besetzt auch überwiegend den 2018 gewählten Bundesvorstand. Ständiges Ziel der Partei ist das Erfüllen der rechtlichen Anforderung zur Aufrechterhaltung des Parteienstatus. So beteiligte sich die Partei mit einer Landesliste an der Bundestagswahl 2017 und an der Europawahl 2019. Grund der Beobachtung Teile des Parteiprogramms sind stark nationalistisch geprägt: Zur "Wahrung der Identität" der Deutschen und zum Schutz des "deutschen Staatsvolkes" fordert DR beispielsweise ein "Zurückdrängen der Amerikanisierung" und anderer "übermäßiger fremder Einflüsse", die "Eindämmung ungezügelter Zuwanderung", die "Aufhebung der Duldung von Ausländern" sowie ein "Werbeverbot in ausländischen Sprachen". Das Parteiprogramm weist auch gebietsrevisionistische Züge auf: "Die Abtrennung der deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße als Kriegsfolge widerspricht völkerrechtlichen Grundsätzen. Wir wissen aber auch, dass nicht Gewaltanwendung, sondern nur friedliches Einvernehmen unter den Völkern eine Linderung oder auch Korrektur dieser Lage herbeiführen kann und darf." Eine weitere fremdenfeindliche Position im Parteiprogramm ist die Forderung, Zahlungen wie Sozialleistungen, Kindergeld oder Müttergehalt nur an Deutsche zu gewähren. Damit wendet sich DR gegen die Kernelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 1 - Nationaler Widerstand Dortmund 2 - Kameradschaft 48 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Mit dem Eintreten für die inhaftierte Holocaustleugnerin Ursula HAVERBECK-WETZEL (Nordrhein-Westfalen) und ihrer Nominierung als Spitzenkandiatin zur Europawahl zeigt die Partei auch, dass sie deren ideologische Positionen teilt und den Straftatbestand der Volksverhetzung als illegitim ansieht. (Ein DR-Aufkleber, der den von der Partei vertretenen Gebietsrevisionismus widerspiegelt.) Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Überregionale Aktivitäten DR erreichte bei der Europawahl bundesweit 24.627 Stimmen (0,1 Prozent), in Sachsen-Anhalt waren es 1.730 Stimmen (0,2 Prozent). Die Nominierung HAVERBECK-WETZELs brachte keinen nennenswerten Erfolg. Zu den Kommunalwahlen im Land trat DR nicht an. Für den 20. Juli hatte der DR-Bundesverband auf seiner InternetVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 49 RechtsextRemismus seite zu einer Demonstration unter dem Motto "Gegen Pressehetze, Verleumdung und Maulkorbphantasien" in Kassel (Hessen) aufgerufen. Der Aufruf nahm inhaltlich Bezug auf den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke. Unter den etwa 120 Teilnehmern befand sich auch ein DR-Mitglied aus Sachsen-Anhalt. Am 9. November veranstaltete DR in Bielefeld (Nordrhein-Westfalen) einen Aufzug unter dem Motto: "Mit 91 Jahren zum Geburtstag im Knast? Freiheit für Ursula Haverbeck! Für echte Meinungsfreiheit!" und forderte die Freilassung von Ursula HAVERBECK-WETZEL. Es nahmen 232 Personen teil. Weitere Aktivitäten der Partei in Sachsen-Anhalt Der Landesverband DR Sachsen-Anhalt entfaltete 2019 keine Aktivitäten. Er gilt derzeit als inaktiv. Lediglich einige wenige Mitglieder beteiligten sich an Demonstrationen außerhalb Sachsen-Anhalts. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die organisatorische und strukturelle Schwäche der Gesamtpartei besteht weiterhin. Haupthandlungsregion bleibt Nordrhein-Westfalen. In Sachsen-Anhalt ist eine Bindung neonazistischer Kräfte an die Partei nicht zu erkennen. DR wird auch weiterhin keine Rolle innerhalb der rechtsextremistischen Szene des Landes spielen. Der DR-Landesverband Sachsen-Anhalt bleibt inaktiv. 50 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Partei "Der III. Weg" (III. Weg) Sitz Sachsen-Anhalt: keine Strukturen Verbreitung Bundesverband: Weidenthal (Rheinland-Pfalz) Gründung 28. September 2013 in Heidelberg (Baden-Württemberg) Struktur Bundesvorsitzender: Klaus ARMSTROFF Aufbau (Rheinland-Pfalz) Gebietsverbände Süd, West und Mitte Stützpunkte bundesweit Mitglieder Land: etwa 10 (2018: etwa 10) Anhänger Bund: etwa 580 (2018: etwa 530) VeröffentWeb-Angebote: http://www.der-dritte-weg.info lichungen Soziale Netzwerke Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Kurzportrait / Ziele Insbesondere als Reaktion auf einen Streit innerhalb der NPD in Rheinland-Pfalz gründeten vornehmlich ehemalige Mitglieder dieses Landesverbandes III. Weg. Als sich 2014 in Bayern ein Verbot des Neonazi-Netzwerkes "Freies Netz Süd" abzeichnete, trat ein Teil dieser Neonazis in die Partei ein. Sie nutzen somit die Partei (Schutz des Parteienprivilegs) als Auffangstruktur, um staatlichen Exekutivund Verbotsmaßnahmen zu entgehen. Mit den Betätigungsfeldern "Politik", "Kultur" und "Gemeinschaft" versucht die Partei als Bewegung und nicht nur als Wahlpartei wahrgenommen zu werden. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 51 RechtsextRemismus Grund der Beobachtung Führungsaktivisten der Partei sind seit Jahren fest im rechtsextremistischen Spektrum verankert. Das Parteiprogramm lehnt sich begrifflich zum Teil an Vertreter des "linken" nationalsozialistischen Parteiflügels der NSDAP an und propagiert ein völkisch-antipluralistisches Menschenund Gesellschaftsbild. III. Weg agitiert antisemitisch, ausländerfeindlich und revisionistisch. Beispielhafte Themen sind: "Volkstod stoppen", "Kampf dem Kapitalismus", "Terrorstaat Israel" oder "Homo-Propaganda stoppen". Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Überregionale Aktivitäten Am 1. Mai organisierte III. Weg in Plauen (Sachsen) unter dem Motto: "Soziale Gerechtigkeit statt kriminelle Ausländer!" eine Demonstration mit anschließendem "Frühlingsfest". Unter den 500 Teilnehmern befanden sich auch Mitglieder der Partei "DIE RECHTE" und "MAGIDA 2.0" aus Sachsen-Anhalt. III. Weg erreichte bei der Europawahl bundesweit 12.822 Stimmen (0,0 Prozent), in Sachsen-Anhalt waren es 692 Stimmen (0,1 Prozent). Der Wahlantritt war eher taktischer Natur und ermöglichte der Partei eine öffentlichkeitswahrnehmbare Selbstdarstellung, bei der sie sich "als Akteur im nationalen Widerstand" präsentierte. Am 28. September veranstaltete die Partei in Kirchheim (Thüringen) einen Bundesparteitag mit Vorstandswahlen. Weiterhin wurde die Satzung geändert, so dass nunmehr die Gründung von Landesverbänden möglich ist. Mit einer zweiten Grundlagenschrift setzte III. Weg seine "Nationalrevolutionäre Schriftenreihe" fort, mit der die Partei über die eigenen Grenzen hinaus ideologiebildend und handlungsanleitend wirken will. Die Broschüre mit dem Titel "Der Nationalre52 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus volutionär - Handbuch für Aktivisten unserer Bewegung" ist auf Grund ihrer Gestaltung und Praxisorientierung geeignet, auch außerhalb des traditionellen neonazistischen Spektrums Leser zu finden. Trotz der Versuche einer formal-äußerlichen Aktualisierung bleiben die Bezüge zum historischen Nationalsozialismus jedoch klar erkennbar. Weitere Aktivitäten der Partei in Sachsen-Anhalt Am 7. September kam es in Halle (Saale) zu einer "Schnipselaktion" gegen den "Christopher Street Day" (CSD). Internetangaben zufolge sollen Mitglieder des III. Weg aus einem Kaufhausfenster heraus Flyer mit der Aufschrift "Deutsche Familien schützen! Homopropaganda verbieten! CSD stoppen!" geworfen haben. Bereits 2018 will die Partei umfangreiche Flugblattverteilungen gegen den halleschen CSD durchgeführt haben. Auf ihrer Internetseite berichtete die Partei über Verteilaktionen in Magdeburg und Umland, in Lutherstadt Eisleben (Landkreis Mansfeld-Südharz), Halle (Saale), Dessau-Roßlau und Querfurt (Landkreis Saalekreis). Die Themen waren "Überfremdung und Begleiterscheinungen" sowie "Umweltschutz ist auch Heimatschutz". Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 53 RechtsextRemismus Im Rahmen der "Rudi Dutschke-Kampagne" konnten im Berichtszeitraum Verteilaktionen in Halle (Saale), Köthen (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) und im Umland festgestellt werden. Der "III. Weg" sieht in einigen Teilen der Texte von Dutschke (1940 - 1979) nationale Bezüge und rief die Kampagne "Rudi Dutschke wäre heute einer von uns" ins Leben. Diese soll provozieren und die Partei in die Schlagzeilen bringen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Partei befindet sich nach wie vor im Aufbau. Aufgrund der Nichtzulassung zu den im Herbst stattgefundenen 7. Sächsischen Landtagswahlen und den erfolgten Satzungsänderungen sind strukturelle Veränderungen in der Partei zu erwarten. Die derzeitigen Gebietsverbände und Stützpunkte werden aller Voraussicht nach in klassische Strukturen wie Landesverband bzw. Kreisverband übergehen. 54 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) Sitz bundesweit Verbreitung Gründung Oktober 20121 Struktur Sachsen-Anhalt: Aufbau Kontrakultur Halle - seit 2015 IB Harz - seit 2015 IB Magdeburg - seit 2016 IB Sachsen-Anhalt - seit 2012 beziehungsweise 2014 und 2018 16 Regionalgruppen bundesweit (Eigenangabe) lokale IBD-Gruppen (Ortsgruppen) identitäre Projekte Verein "Identitäre Bewegung Deutschland e.V." Mitglieder Land: etwa 50 (2018: etwa 60) Anhänger Bund: etwa 600 (2018: etwa 600) VeröffentWeb-Angebote: Homepage lichungen Soziale Netzwerke Blogs Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Kurzportrait / Ziele Die IBD geriert sich als Bewegung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welche die eigene Kultur beziehungsweise das eigene Volk vor den vermeintlichen Gefahren von Multikultura- 1 - Am 11. Oktober 2012 wurde die Facebook-Seite "Identitäre Bewegung Deutschland" eingerichtet. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 55 RechtsextRemismus lismus, Masseneinwanderung und Identitätsbeziehungsweise Werteverlust bewahren will. Sie betrachtet sich eigenen Aussagen zufolge als deutscher Ableger der rechtsextremistischen Bewegung "Generation Identitaire" (GI) aus Frankreich. Die IBD ist in der realen und virtuellen Welt gleichermaßen vertreten. Alle virtuellen Möglichkeiten (soziale Netzwerke, Foren, Video-Plattformen) werden genutzt, um über Aktionen der IBD zu informieren und somit auch über deren Ziele. So wird eine große Öffentlichkeit hergestellt, ohne auf eine große Anzahl von Aktivisten angewiesen zu sein. Zuletzt sperrten einige Soziale Medien die Profile der IBD, weshalb diese zunehmend auf andere Plattformen ausweichen muss, die bislang weniger Reichweite generieren. In der "Realwelt" sind die Aktivitäten vielfältig, zum Beispiel Banner-, Stör-, oder Verteilaktionen. Wichtige Orte werden zur Zielscheibe von zeitweiligen Besetzungen, beispielsweise zuletzt das Gebäude des Westdeutschen Rundfunks (WDR) in Köln (Nordrhein-Westfalen) am 5. Januar 2020. Die Selbstdarstellung der IBD ist popkulturell geprägt, ihre Botschaften sind klar und einfach, ihre Wortwahl ist provokant und pseudo-intellektuell. Ihre Aktivisten geben sich jung und modern, demgemäß ist ihre verfassungsfeindliche Gesinnung nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Die IBD, als ein Vertreter der "Neuen Rechten" steht für einen modernen Rechtsextremismus, der mit einem Themenkomplex aus Anti-Islam, Anti-Asyl und Anti-Establishment versucht, bis weit in breite gesellschaftliche Kreise hinein anschlussfähig zu sein. Begriffe wie Rasse und Volksgemeinschaft werden durch unverfängliche Begriffe wie Ethnie, Identität und Kultur ersetzt. Grund der Beobachtung Ideologisch orientiert sich die "Identitäre Bewegung" (IB)2 an 2 - Hier ist die IB als europaweites Phänomen gemeint, wie es nicht nur in Deutschland auftritt, sondern beispielsweise auch in Frankreich und Österreich. Im Folgenden wird die Bezeichnung IB immer dann verwendet, wenn z.B. eine Kampagne nicht länderbezogen war, sondern bewegungsbezogen. 56 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus den Theorien der "Neuen Rechten" und vertritt programmatisch einen "ethnopluralistischen", antiliberalen und kollektivistischen Ansatz. Beim "Ethnopluralismus" handelt es sich um eine modernisierte Variante völkischer Ideologie. Das Konzept billigt ethnischen Gruppen in räumlicher Trennung vorgeblich ihre Eigenständigkeit zu, zielt aber tatsächlich anhand von Kollektivmerkmalen wie Kultur, Herkunft und Geschichte auf die Betonung ethnisch bzw. rassisch begründeter Gruppenunterschiede ab. Eine Zuwanderung von "Fremden", die nicht Teil dieser "ethnokulturellen Identität" sind, wird grundsätzlich abgelehnt. Die "Identitären" inszenieren sich dabei als die wahren Verteidiger von Vielfalt und Freiheit gegen die angebliche Gleichmacherei vermeintlich linker Ideologen. In ihrer Kritik zeigt sich jedoch ein übersteigerter Nationalismus, der das Individuum weitgehend negiert und stattdessen kollektivistisch die Volksgemeinschaft in den Mittelpunkt stellt. Sie propagiert die Auflösung der EU und die Bildung eines Europas der "identitären Nationalstaaten", die selbstbestimmt koexistieren. Hier besteht eine Verbindung zur NPD-Forderung nach einem "Europa der Vaterländer". In der IBD und für die IBD engagieren sich auch Personen, die einen Vorlauf im traditionellen Rechtsextremismus aufweisen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum "Identitäre Bewegung Deutschland" Im ersten Quartal veranstaltete die IBD einmal monatlich bun-desweite Kampagnen mit den Schwerpunktthemen "Linke Gewalt", "Keine No-Go Areas" und "Remigration". Konkret konnten folgende Aktionen festgestellt werden, wobei sich lediglich die Januar-Kampagne in Sachsen-Anhalt widerspiegelte: Januar Unter dem Motto "Die Schreibtischtäter benennen - Protest gegen Linke Gewalt" wurde am 14. Januar vor dem Eingang zum Objekt des SPD-Landesverbandes Absperrband befestigt, zudem Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 57 RechtsextRemismus wurden Plakatierungen durchgeführt und Handzettel verteilt ("Linke Gewalt - Ignoriert, Geleugnet, Verharmlost"). Februar Die IBD klebte und verteilte Plakate, Flyer, Türanhänger mit den Schriftzügen "Fühlst du dich wirklich sicher?" oder "Wie lange noch?". März Am 9. März erfolgte mit einer Kundgebung vor dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) in Berlin der Auftakt zu einer "Aktionswoche" vom 11. bis 17. März. Hierbei wurden die Schriftzüge: "REMIGRATION; WIR WOLLEN NICHT FREMD IM EIGENEN LAND WERDEN" und "AUSREISEZENTREN SCHAFFEN" verwendet. Am 19. Mai veranstaltete das nichtextremistische Bündnis "Ein Europa für alle - Deine Stimme gegen Nationalismus" in mehreren deutschen Städten Großdemonstrationen unter dem Motto: "Solidarität in Vielfalt - Gerechtes Europa statt rechtes Europa". Anlässlich dessen initiierte die IBD in Berlin eine Interventionsaktion, an der auch "Aktivisten" aus Sachsen-Anhalt teilnahmen. Entlang der Wegstrecke des Aufzuges entrollte die IBD Bannner mit folgenden Aufschriften: "Ihr sprecht von Europa, doch Ihr vergesst seine Völker", "Volkskultur Heimat - Identitäre Bewegung" und "Stoppt den großen Austausch". 58 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Im eigenen Fördermagazin "Das sind Wir" weist die IBD auf eine angebliche Zensur "regierungskritischer Stimmen" hin. Dies nehme die IBD zum Anlass neue Strategien zu entwickeln, etwa mittels Schaffung alternativer Medien.3 Weiterhin soll "Guerilla-Aktivismus" als eine neue Strategie die Aufmerksamkeit der Medien zugunsten der IBD erhöhen. Gemeint sind damit etwa bundesweit koordinierte Aktionen vor gesellschaftsrelevanten Einrichtungen. Im Artikel "Wie weiter" verweist die IBD auf die Notwendigkeit einer stabilen "Infrastruktur", die Verankerung in der Gesellschaft und die Umsetzung wirtschaftlich aussichtsreicher Projekte4. Unter dem Motto: "Europa verteidigen - Es bleibt unsere Heimat" meldete die IBD für den 20. Juli in Halle (Saale) eine Kundgebung sowie andere Veranstaltungen an und setzte damit die jährlich stattfindende "Europagroßaktivität" fort. Während im Jahr 2017 in Berlin noch über 700 sowie in Dresden 2018 etwa 350 Teilnehmer verzeichnet werden konnten, versammelten sich nunmehr lediglich 250 Personen. Zur Vorbereitung organisierte die IBD am 6. Juli in Halle (Saale) zwei Infostände unter dem Motto "Identität und Einwanderung im 21. Jahrhundert - Es bleibt unsere Heimat". Mit 23 bzw. 21 Teilnehmern fiel die Beteiligung überschaubar aus. Seit Ende November sucht die IBD auf dem neueingerichteten Theorieblog 'Originem' "Ursprung, Quelle und Fluss" ihrer "Identität". Sie setzt hier bewusst nicht auf Aktionismus, sondern geht zurück in ihre Anfänge und damit auf die ideologische Basis.5 3 - Beispielsweise: "Okzident Media" mit der App "Okzident News". 4 - Beispiele sind Immobilien wie die "Schanze1" (Ein Projekt für den "wachsenden" Bedarf an "Freiräumen", Informationspunkten und Zentren und Beginn einer "standfesten und nachhaltigen patriotischen Infrastruktur") oder Musikprojekte ("Neuer deutscher Standard"). 5 - Originem - lateinisch für Ursprung, Herkunft Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 59 RechtsextRemismus Der Blog setzt sich unter anderem mit Begriffen wie Volk, ethnokulturelle Identität oder ethnische Homogenität auseinander. Aktivitäten in Sachsen-Anhalt Identitäre Bewegung Sachsen-Anhalt (IB ST) Die IB ST war bislang eher ein Internet-Projekt. Am 1. Februar veröffentlichte die IBD im Rahmen der Medienserie "Ehrensache"6 ein Video, wonach die IB ST nunmehr die identitäre Struktur einer Regionalgruppe Sachsen-Anhalt übernommen hat. Regionalgruppenleiter ist Luca HART (Magdeburg, Ortsgruppenleiter der IB Magdeburg). Es konnten mehrere Verteilaktionen der IB ST festgestellt werden. So wurden Anfang Oktober an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg und im Umfeld des Bahnhofs Magdeburg-Neustadt Flyer zum Thema "Kein Opfer ist vergessen" verteilt. "Kontrakultur Halle" Am 16. März fand im Haus Adam-Kuckhoff-Straße 16 (AKS16) ein "Aktionstag" statt, der unter verschiedenen Bezeichnungen firmierte: Thementag "Europa", Werkstatt "Europa" oder "Verlagstreffen". 6 - Ehrensache wird produziert von Okzident Media. Es portraitiert "politische Aktivisten" der IB 60 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Die IBD stellte ihre außerparlamentarische Europa-Kampagne "Unser Europa ist nicht unsere Union" vor, verbunden mit einem Infotisch. Zeitgleich fand vor dem Haus AKS16 eine Kundgebung zum Thema: "Werkstatt Europa" statt. Im Objekt präsentierten sich verschiedene szeneinterne Verlage. Insgesamt nahmen bis zu 100 Personen an den genannten Veranstaltungen teil. Europa steht aus Sicht der IB für ein "multikulturelles Einheitsgebilde" und bildet somit einen Gegenentwurf zu ihrer eigenen, von völkischen Nationalismus bzw. Ethnopluralismus geprägten Ideologie. Am 29. April fand in Halle-Neustadt eine Kundgebung der IBD unter dem Motto: "Remigration" mit sechs Teilnehmern statt, bei der diverse Infomaterialien und Flyer verteilt wurden. Anlass war eine Gefährliche Körperverletzung vom 23. April zum Nachteil eines 17-jährigen Deutschen in Halle (Saale). In der Ideologie der IB bildet die Schlacht am Wiener Kahlenberg von 1683, die die Belagerung der Stadt durch ein osmanisches Heer beendete, ein zentrales Ereignis. An diese Schlacht erinnerte die IB am 7. September mit einer Gedenkveranstaltung in Wien. Zu den etwa 250 Teilnehmern gehörte auch eine Delegation der "Kontrakultur Halle". Am 29. November kam es zu einer verbalen und körperlichen Auseinandersetzung zwischen Personen einer Geburtstagsfeier und Personen, die sich im Haus AKS16 aufhielten. Dies führte zu einer polizeilichen Hausdurchsuchung im Haus AKS16. Die starke mediale Öffentlichkeit des Vorkommnisses bewog die IBD zu einer Stellungnahme: "Wie Polizei und verschiedene Medien berichten, kam es am gestrigen Abend zu einer Auseinandersetzung vor dem patriotischen Zentrum in der Adam-Kuckhoff-Straße 16 in Halle (Saale). [...] Einzelne Medien berichten, dass es sich hierbei um das Haus der 'Identitären Bewegung' handeln würde. Wir klären hiermit auf, dass die Identitäre Bewegung bereits seit Anfang Oktober 2019 nicht mehr auf diesem Haus vertreten ist Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 61 RechtsextRemismus und keine aktive Rolle in dem Projekt einnimmt. Die vom Polizeieinsatz betroffenen Personen sind keine aktiven Mitglieder oder Aktivisten der Identitären Bewegung!". Auch wenn die Angabe "Oktober" variabel zu sehen sein dürfte, so kann festgehalten werden, dass die Kontrakultur als Organisation nicht mehr im Haus AKS16 vertreten ist. Das Haus alssolches hat jedoch weiter Bestand und ist vom "Auszug" der Kontrakultur nicht betroffen. Weitere Aktivitäten in Kurzfassung: * 17. Januar: Vortrag "Bauernhöfe statt Agrarfabriken, Globalisten vom Acker jagen", "Permakultur und Solidarische Landwirtschaft", * 16. Februar: "Neofolk" (Dichtung und Musik), * 1. März: Faschingsfeier (In der Nacht zum 2. März kam es vor dem Haus AKS16 zu einer gefährlichen Körperverletzung, an der auch Bewohner bzw. Besucher des Hauses beteiligt waren), * 9. März: Thementag "Alternative Medien" * 11. Mai: "Bilderstürmer 2.0 - Kunstausstellung und Familienfest im Flamberg"7, inkl. IBD-Infostand "Kunst muss politisch werden", * 21. Juni: Sommersonnenwendfeier, * 29. Juni: Offene Bar mit Informationen zur anstehenden Demonstration zum 20. Juli inkl. Vortrag von Daniel FIß (Bundesvorstand IBD, Mecklenburg-Vorpommern): "Es bleibt unsere Heimat - Identität als Generationsfrage", September: "Klebeaktion" in Halle (Saale) - Aufschrift "Europa verteidigen, es bleibt unsere Heimat". "IB Harz" Am 19. Juni besuchte die Bundeskanzlerin Goslar (Niedersachsen). Mitglieder der IB Harz führten gemeinsam mit der 7 - Neuauflage der Kunstveranstaltung vom 14. April 2018 - "Bilderstürmer: Kunst wider den Zeitgeist" 62 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus IB Niedersachsen eine Aktion durch und zeigten auf dem Dach eines Kaufhauses ein Banner mit der Aufschrift: "Ihr sprecht von Europa doch vergesst seine Völker". "IB Magdeburg" Mitglieder der IB Magdeburg beteiligten sich an der vorgenannten Auftaktveranstaltung zur IBD-Aktionswoche "Remigration" am 9. März vor dem BMI in Berlin. Im Rahmen der Kampagne "Remigration" forderte die IB Magdeburg die Schaffung von Ausreisezentren nach österreichischem Vorbild und eine staatliche Anreizschaffung zur Rückkehr von Migranten in ihre Heimatländer. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die IBD hat ihren Zenit überschritten, dafür spricht der eingeschränkte Aktivismus, der vor allem in der zweiten Hälfte des Berichtszeitraums zu konstatieren war. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 63 RechtsextRemismus Dennoch wird die IBD weiterhin kleine regionale Ortsgruppen unterhalten oder hervorbringen, aber bundesweit voraussichtlich keine herausgehobene Rolle mehr innerhalb der "Neuen Rechten" einnehmen. Akteure der IBD werden über das Netzwerk der "Neuen Rechten" neue Möglichkeiten finden sich einzubringen. Die Ideologie der IBD wird auf diese Weise weitergetragen. 64 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Magdeburger gegen die Islamisierung des Abendlandes 2.0 (MAGIDA 2.0) Sitz Landeshauptstadt Magdeburg Verbreitung Gründung Juli/August 2015 Struktur Einzelpersonen Aufbau (ehemals Organisationsteam) Mitglieder etwa 10 (2018: etwa 5) Anhänger VeröffentFacebook-Seite lichungen Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele Die "MAGIDA 2.0" entstammt der GIDA-Bewegung1. Ursprünglich als "MAGIDA" gegründet und von der "PEGIDA"2, offiziell als "Ableger" anerkannt, bildete sich die "MAGIDA 2.03" auf Grund innerer Zerwürfnisse heraus und organisierte zwischen Juli/ August 2015 und März 2016 die wöchentlich stattfindenden so genannten "Abendspaziergänge". Laut ihrem Positionspapier haben sich in der "MAGIDA 2.0" "Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen, politischer Parteien, gesellschaftlicher Stellung und Konfessionen zusammen gefunden, um den Missbrauch durch die politische Kaste in Deutschland anzuprangern und für ein identitäres Deutschland und Europa zu wirken". Grund der Beobachtung Die "MAGIDA 2.0" unterliegt einer rechtsextremistischen Beeinflussung seitens der NPD sowie von DR. Die "MAGIDA 2.0" 1 - Bewegung gegen die Islamisierung des Abendlandes 2 - Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes 3 - Kein offizieller Ableger der PEGIDA. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 65 RechtsextRemismus versucht nach außen ein unverfängliches Bild des bürgerlichen Protestes zu etablieren. Für die "MAGIDA 2.0"-Kundgebungen wurden gezielt bekannte Rechtsextremisten als Redner verpflichtet. Als Organisation tritt sie kaum noch in der Öffentlichkeit auf, ihre Mitglieder und Unterstützer haben aber Kontakt zu anderen Rechtsextremisten (u. a. "Freie Kräfte"). Im Vordergrund der Rhetorik steht das angebliche Versagen des Staates und seiner Organe, jedoch meist verbunden mit einer "Schuldzuweisung" in Bezug auf Personen mit Migrationshintergrund. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum "MAGIDA 2.0" trat im Berichtsjahr erneut als "Bürgerinitiative Magdeburg" auf. Diese veranstaltete unter dem Motto: "Gegen die islami.Magdeburgs" am 6. April in Magdeburg einen "2. Fackelmarsch",4 an dem etwa 200 Personen teilnahmen. Ein mitgeführtes Banner mit dem fehlerhaften Schriftzug "Deutsche helfen Deutsche Sachsenanhalt" konterkarierte den Auftritt des Demonstrationszuges. An der am 1. Mai in Plauen (Sachsen) stattgefundenen Demonstration der Partei "Der III. Weg", nahmen auch Mitglieder von "MAGIDA 2.0" teil. 4 - Der "1. Fackelmarsch" fand am 10. November 2018 in Magdeburg statt, das Motto war: "Für die Opfer der Politik und für sichere Städte". 66 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der "2. Fackelmarsch" am 6. April blieb deutlich hinter den Erwartungen der Organisatoren zurück. Die geringe Anzahl der Teilnehmer und das fehlerhafte Plakat sorgten zwischenzeitlich für ein Verharren des bis dahin erfolgten Aktionismus. Dessen ungeachtet verfügen die Mitglieder des Organisationsteams weiterhin über persönliche Kennverhältnisse zu "inhaltlich passenden" Kreisen und deren Personenpotenzial. Als "Magida 2.0" wird es keine Veranstaltungen mehr geben. Es kann davon ausgegangen werden, dass unter anderen Bezeichnungen, wie z.B. "Bürgerinitiative Magdeburg", die Idee der "GIDA-Bewegung" weitergetragen wird. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 67 RechtsextRemismus "Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung" e.V. ("Artgemeinschaft") Sitz Berlin Verbreitung Gründung 1951 Struktur Jens BAUER (Elsteraue, Burgenlandkreis) Aufbau fungiert seit Herbst 2015 als Vorsitzender. Mitglieder Land: etwa 30 (2018: etwa 30) Anhänger Bund: 180 (2018: 150 - 170) VeröffentWeb-Angebote: www.nordzeit.de lichungen www.asatru.de Soziale Medien Publikationen: "Nordische Zeitung" (NZ; vierteljährlich) eigener Buchdienst mit Büchern und Schriften zu heidnischen Themen und religiösem Brauchtum auf rassistischer Grundlage Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden, Einnahmen aus Buchdienst Kurzportrait / Ziele Die "Artgemeinschaft" ist die derzeit größte deutsche neonazistische Organisation. Sie vertritt völkisch-rassistisches Gedankengut und rekrutiert ihre Mitglieder aus der gesamten neonazistisch geprägten Szene, vor allem aus dem Parteienspektrum und den militanten Kameradschaften. Die "Artgemeinschaft" versteht sich selbst als Glaubensbund, der "die Kultur der nordeuropäischen Menschenart" bewahren, erneuern und weiterentwickeln will. Ihr Regelwerk ist in der Schriftenreihe "Unsere Ordnung" niedergelegt. 68 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Grund der Beobachtung Kennzeichnend für die "Artgemeinschaft" ist eine rassistisch geprägte Ideologie. Die Mitglieder leben strikt nach dem "Sittengesetz ihrer Ahnen". Darin heißt es: "Das Sittengesetz in uns gebietet Einsatz für Wahrung, Einigung und Mehrung germanischer Art. Das Sittengesetz in uns gebietet Gefolgschaft dem besseren Führer, mit Recht und Pflicht zu abweichendem Rat, nach bestem Wissen und Gewissen." Sie orientiert sich am Nationalsozialismus und versucht, "völkische Strukturen" aufzubauen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum An den "Gemeinschaftstagungen", die jährlich unter den Bezeichnungen "Frühjahrstagung", "Herbsttagung" und "Sonnenwendfeier" im März, Juni, September und Dezember in Ilfeld (Thüringen) stattfinden, nahmen im Berichtsjahr erneut Personen aus Sachsen-Anhalt teil. Die "Gemeinschaftstagungen" waren wie in den vergangenen Jahren im Wesentlichen von heidnisch-germanischen Ritualen und themenbezogenen Vorträgen geprägt. Auffälig war, dass der Vorstand der "Artgemeinschaft" den Kontakt zu gleichgesinnten, international agierenden Personenzusammenschlüssen aufgenommen hat und versucht, eine kontinuierliche Zusammenarbeit aufzubauen. 1 Erwähnenswert ist eine Reise von Mitgliedern der Organisation nach Schweden im Mai, um an einem Fest der "Asatru Folk Assembly" (AFA) teilzunehmen. 1 - Das Logo der AFA zeigt eine Horn-Triskele, wie sie auf dem Runenstein von Snoldelev (Dänemark) zu finden ist. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 69 RechtsextRemismus Bewertung, Tendenzen, Ausblick Seit Jahren nimmt ein fester Personenkreis aus Sachsen-Anhalt an den "Gemeinschaftstagungen" der "Artgemeinschaft" teil, deren organisatorisches Zentrum der Bundesvorsitzende Jens BAUER bildet. Die "Artgemeinschaft" erhebt einen Führungsanspruch im völkisch-rassistisch geprägten Milieu des deutschen Neonazismus und versteht sich als Bindeglied zwischen verschiedenen rechtsextremistischen Strömungen. Dem entgegen steht jedoch ihr eher abgeschottetes und öffentlichkeitsscheues Verhalten. Dies dürfte den angestrebten Einflussbereich auf die gesamte rechtsextremistische Szene einschränken. Festzuhalten bleibt das Bestreben, die eigene neonazistische Ideologie in einem kulturell-lebensweltlichen Rahmen zu bewahren und - an nachfolgende Generationen - weiterzutragen. Mit ihren Veranstaltungen bietet die "Artgemeinschaft" Neonazis den nötigen Raum, um die Familien und Kinder an die Szene zu binden und rassistische Überzeugungen weiterzugeben. Dabei werden "Ideale" wie die "eigene Art" und "Rasse" propagiert. 70 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Neonationalsozialisten (Neonazis) Gründung Neonazistische Organisationen etablierten sich insbesondere in den 1970er Jahren und existieren in Sachsen-Anhalt seit der Wiedervereinigung. Struktur In den letzten Jahren hat sich die klassische neoAufbau nazistische Szene stark verändert. Feste Strukturen der Szene, wie das homogene "Kameradschaftsmodell", werden nicht mehr bevorzugt. Die Neonaziszene ist geprägt von aktionsorientierten Gruppierungen, die mitunter nicht von Dauer sind. Ergänzt wird die zunehmende Strukturlosigkeit von Netzwerken im virtuellen Raum. Kameradschaftsähnliche Personenzusammenschlüsse finden sich in Magdeburg, in der Altmark, im Vorharz, im Raum Wittenberg und Dessau-Roßlau sowie im südlichen Sachsen-Anhalt. Mit den "Nationalisten Magdeburg" (NSMD) gründete sich eine neue Gruppierung, die dauerhafter agieren könnte. Neonazis bilden den größten Teil des parteiungebundenen Rechtsextremismus. Das Personenpotenzial umfasst dabei sowohl Gruppierungen mit einem subkulturellen Einschlag, als auch Gruppierungen, die für ideologische Varianten des Nationalsozialismus und die Übernahme neuer Verhaltensweisen aufgeschlossen sind sowie Gruppierungen, die den historischen Nationalsozialismus verherrlichen. Mitglieder Land: 270 (2018: etwa 240) Anhänger Bund: 6.600 (2017: 6.600)1 1 - Die Angabe umfasst das gesamte Potenzial parteiunabhängiger bzw. parteiungebundener Strukturen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 71 RechtsextRemismus Veröffentdiverse teils wechselnde Facebook-Auftritte lichungen Zeitschrift "N.S. Heute" Finanzierung Zumeist existiert in den Gruppierungen eine so genannte "Kameradschaftskasse". In der Regel zahlen Teilnehmer einen Unkostenbeitrag bei Vortragsveranstaltungen. Es werden mitunter auch Spendengelder gesammelt. Kurzportrait / Ziele Neonazis stellen sich in die ideologische Tradition des historischen Nationalsozialismus. Sie treten bei geschichtsträchtigen Ereignissen, vornehmlich aus der Zeit des Dritten Reiches, oder bei der Glorifizierung einzelner Personen aus dieser Zeit auch öffentlichkeitswirksam in Erscheinung (z.B. "Trauermärsche" zum Gedenken an die Zerstörung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg, Geburtstag von Adolf Hitler, Veranstaltungen zum 1. und 8. Mai, "Gedenken" an die Rathenau-Attentäter Fischer und Kern am 17. Juli, bei "Heß-Gedenkaktionen" und germanischer Brauchtumspflege wie Sonnenwendfeiern). Grund der Beobachtung Neonazistische Gruppierungen zeichnen sich durch eine vor allem von Rassismus und Antisemitismus geprägte Ideologie aus, die sich am Nationalsozialismus orientiert und somit im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht. Teile der Bevölkerung werden als minderwertig bezeichnet und ihnen werden in der Konsequenz ihre verfassungsrechtlich verbrieften Grundrechte, wie Menschenwürde und Gleichheit vor dem Gesetz, abgesprochen. Auf Grund ihrer Vorstellung von einer antipluralistischen Gesellschaft und einem autoritären Staat, in dem politischen Gegnern als Feinden das Existenzrecht abgesprochen wird, ist Neonazis eine grundsätzliche Gewaltorientierung zuzuschreiben. Gewalt gegen "Fremde" und "Feinde" wird auf dieser Basis legitimiert. 72 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Titelblatt der Szenezeitschrift N.S. Heute. Thema dieser Ausgabe ist unter anderem eine "Geburtstagsdemonstration" zu Gunsten der inhaftierten Holocaustleugnerin HAVERBECK-WETZEL. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 73 RechtsextRemismus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum "National Socialist Knights of the Ku-Klux-Klan" (NSK-KKK) Am 16. Januar durchsuchte die Polizei in insgesamt acht Bundesländern, unter anderem auch in Sachsen-Anhalt, die Wohnungen mehrerer Beschuldigter wegen ihrer Mitgliedschaft in der neonationalsozialistischen Gruppierung NSK-KKK. Ihnen wird vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung im Sinne des SS 129 StGB gebildet zu haben. Gefunden wurden über 100 zum Teil erlaubnispflichtige Waffen, darunter Schreckschussund Luftdruckwaffen mit dazugehöriger Munition, Schwerter, Macheten, Faustund Butterflymesser, Wurfsterne und Teleskopschlagstöcke, nicht jedoch scharfe Schusswaffen. Weiterhin wurden Datenträger, Computer, Mobiltelefone sowie Urkunden, Mitgliederund Beitragslisten, Textilien und Symbole mit Bezug zu den NSK-KKK sichergestellt. Die NSK-KKK sind eine neonazistischen ausgerichtete deutsche "Ku-Klux-Klan"-Gruppierung mit Mitgliedern in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Sie agieren vornehmlich im virtuellen Raum. Die Gruppierung sieht sich in der Tradition des historischen "KuKlux-Klan" (KKK) und seiner Ziele, zu denen unter anderem der Schutz und Erhalt der "weißen Rasse" zählten. Folglich bedienen sich die NSK-KKK der typischen Symbolik und des Sprachgebrauchs ehemaliger und aktueller KKK-Gruppierungen. Auffällig ist die positive Bezugnahme auf das germanische Neuheidentum als religiös-ideologische Grundlage für das propagierte nationalsozialistische Weltbild. Verbindungen zu anderen inund ausländischen KKK-Gruppierungen sind bisher nicht bekannt. "HALLE-LEAKS" Einer der führenden sachsen-anhaltischen Protagonisten im Internet und in den sozialen Medien ist Sven LIEBICH (Klit74 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus schmar, Sachsen), der auf verschiedenen Internetpräsenzen sowie dem Blog "HALLE-LEAKS" vornehmlich als Provokateur und Verschwörungstheoretiker auftritt. Seinen Aktivitäten liegt klar eine rechtsextremistische Konnotation zugrunde. Mit seinen überhöhten Darstellungen polarisiert er stark und versucht, eine große Öffentlichkeit zu erreichen. Er kommentiert Beiträge aus der Tagespresse in einer irrealen, diffusen Art. Um eine große Anhängerschaft und Zuspruch in der Szene zu finden, verdreht er mitunter die Tatsachen so, dass sie ins eigene Weltbild passen. Dies führt zur Verbreitung von Falschbehauptungen. Seine regelmäßigen Videos und Veröffentlichungen sind zudem teilweise strafbewehrt. LIEBICH ist in vielen Sozialen Medien aktiv und betreibt eigene Seiten und Kanäle. So veröffentlichte er auf Telegram unter anderem die Erklärung des Attentäters von Christchurch (Neuseeland), der am 15. März 50 Muslime während eines Freitagsgebets erschoss und weitere 50 verletzte. Wie er in demokratiefeindlicher Weise den öffentlichen Diskurs beeinflusst zeigte sich zum Beispiel auf seiner Facebook-Seite am 26. Mai. In dem veröffentlichen Eintrag bezeichnete er einen Mitarbeiter des Vereins "Miteinander e.V.", der für die Partei "DIE LINKE" für die Wahl zum Stadtrat der Stadt Halle (Saale) kandidierte, unter anderem als "Terror-Kommando, Staats-Antifa, Laus, Koordinator von Antifa-Sturmabteilungen" und "roten Terrorist". Ein weiteres Beispiel für seine volksverhetzende Rhetorik zeigte sich im Messengerdienst Telegram, als er den psychisch kranken Mann, der am 29. Juli im Hauptbahnhof Frankfurt am Main (Hessen) eine Frau und deren Sohn vor einen Zug gestoßen hatte, unter anderem als "Killerneger" titulierte. Wie schwierig der juristische Umgang mit Veröffentlichungen im Internet ist, zeigt folgendes Beispiel: Am 19. September entschied das LG Berlin in einem vielbeachteVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 75 RechtsextRemismus ten Urteil zu Hasspostings, dass exzessive Beleidigungen gegen die Grünen-Politikerin Renate Künast, MdB, von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Hintergrund war ein Facebookbeitrag von Sven LIEBICH, in dem er behauptete, dass Künast Sexualität mit Kindern toleriere. Unter diesem Beitrag veröffentlichten andere Facebooknutzer beleidigende Kommentare. Künast wollte im Gerichtsverfahren erreichen, dass Facebook ihr die personenbezogenen Daten dieser Verfasser herausgibt. (Aufgrund einer sofort eingelegten Beschwerde gegen das erst-instanzliche Urteil entschied das LG Berlin Anfang Januar 2020, dass sechs der insgesammt 22 Kommentare den Straftatbestand der Beleidigung gemäß SS 185 StGB erfüllen.) Im selben Kontext steht ein Urteil des LG Frankfurt am Main, ebenfalls aus Dezember. Es untersagt einem Internetnutzer, den auslösenden Beitrag von Sven LIEBICH weiterzuverbreiten, da es sich bei diesem um eine Falschaussage (Fake News) handelt LIEBICH sieht sich als "Aktivist", der die Menschen "aufwecken" und im Zuge dessen seine politischen Ansichten verbreiten möchte. Seine verfassungsfeindliche Agitation überträgt er dabei auch in die Realwelt, insbesondere in Form seiner wiederkehrenden "Montagsdemos". Diese trugen stets den gleichen Charakter und setzten sich häufig mit seinen politischen Gegnern auseinander, insbesondere im Vorfeld von Wahlen. So erhöhte er seine Aktivitäten vor der Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai deutlich und führte eigene Versammlungen im Zusammenhang mit Wahlkampfveranstaltungen von Parteien des nichtextremistischen Bereichs durch. Am 14. Mai fand eine Wahlkampfveranstaltung der Partei "Die Partei" statt. LIEBICH meldete als Gegenveranstaltung eine Versammlung in unmittelbarer Hörweite unter dem Motto "Es gibt nur eine Kanzlerin - Geil Merkel" an. 76 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus (LIEBICH und seine Anhänger auf dem halleschen Marktplatz am 14. Mai) Am 17. Mai organisierte LIEBICH eine Versammlung in Naumburg (Burgenlandkreis) , direkt neben einer Wahlkampfveranstaltung mit dem Co-Bundesvorsitzenden der Partei "Bündnis 90/Die Grünen". Weitere folgten am 22. und 23. Mai. Am 24. Mai sprach Gregor Gysi, MdB der Fraktion "DIE LINKE" in Halle (Saale). Auch hier organisierte LIEBICH eine entsprechende Gegenversammlung. Im Rahmen der Oberbürgermeisterwahlen in Halle (Saale) war er ebenfalls aktiv. So meldete er für den 11. Oktober eine Versammlung mit dem Motto "Mit Hendrik Lange zurück zum Sozialismus" und für den 24. Oktober mit dem Motto "Für die vollständige Rehabilitation von Stasi-Mitarbeitern" an. In seiner typischen überhöhenden Art warf er dem Oberbürgermeisterkandidaten der Partei "DIE LINKE", "sozialistische Methoden und Politik" vor. Jeweils zehn Personen aus seiner eigenen Anhängerschaft begleiteten beide Versammlungen. Auch außerhalb Sachsen-Anhalts trat LIEBICH bei Versammlungen in Erscheinung. Es ist festzustellen, dass er in der bundesweiten rechtsextremistischen Demonstrationsszene anscheinend weitgehend akzeptiert und als "prominenter" Akteur zu Veranstaltungen eingeladen wird. Dort wiederholt er fast gebetsmühlenartig seine Tiraden gegen die Politik "der AltparteiVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 77 RechtsextRemismus en" und die "Vereinsmafia". Ebenso schürt er permanent Angst und Hass gegen Flüchtlinge und den Islam. So sprach er am 6. Juli auf einer Versammlung in Landau (Rheinland-Pfalz) und am 31. August war er Redner auf einer Versammlung in Görlitz (Sachsen), die unter dem Motto "Holen wir uns unser Land zurück" stand. Anschließend besuchte er die Abschlusskundgebung der AfD im brandenburgischen Landtagswahlkampf. In Berlin trat LIEBICH mehrfach auf. Er war am 3. August und am 7. September Redner auf einer Versammlung der als islamund flüchtlingsfeindlich einzuschätzenden Gruppierung "Patriotic Opposition Europe" am Brandenburger Tor. Am 3. Oktober sprach er auf dem "Tag der Nation" und stachelte in gewohnter Weise mit hetzerischen Redeinhalten an. An der Veranstaltung nahmen bis zu 1.900 Personen teil, die aus der gesamten Bundesrepublik Deutschland angereist waren. Aktivitäten zu den Jahrestagen alliierter Luftangriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg Die Zerstörung deutscher Städte am Ende des Zweiten Weltkrieges nehmen Rechtsextremisten, auch in Sachsen-Anhalt, seit mehreren Jahren zum Anlass, öffentlichkeitswirksame Aktionen in Form von Demonstrationen oder Mahnwachen durchzuführen. Die jeweiligen Termine sind fester Bestandteil der Planungen von Szeneangehörigen, stellen mittlerweile fest verankerte Treffdaten dar und besitzen stark identitätsstiftende Bedeutung. Im Zuge dieser Veranstaltungen stellen die Verantwortlichen die geschichtlichen Ereignisse der damaligen Zeit aus ihrer eigenen, historisch inkorrekten und verzerrenden Sichtweise dar und ignorieren historisch belegte Tatsachen. In Sachsen-Anhalt sind insbesondere die Bombardierungen der Städte Magdeburg am 16. Januar 1945 und Dessau am 7. März 1945 von Bedeutung. Anlässlich des 74. Jahrestages der Bombardierung der Stadt Magdeburg im Zweiten Weltkrieg fand am 19. Januar in Magdeburg ein so genannter "Trauermarsch" statt, an dem sich etwa 78 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus 150 Personen beteiligten, die zum Teil aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren. Während der Demonstration durften Flyer, Parolen und Fahnen nicht gezeigt werden. Lediglich zwei Trommler begleiteten den Aufzug. Nach einem abschließenden Redebeitrag, der die Bombardierung der Stadt durch die Alliierten im Jahr 1945 reflektierte, wurde die Veranstaltung ohne Zwischenfälle beendet. Anlässlich des 74. Jahrestages der Bombardierung der Stadt Dessau im Zweiten Weltkrieg fand am 16. März in Dessau-Roßlau ein "Trauermarsch" mit dem Motto "Gegen das Vergessen - Zum Gedenken der Opfer von Dessau" statt. Insgesamt 95 Personen beteiligten sich an dem Aufzug und den beiden Kundgebungen. Sonnenwendfeiern Zur Sommerund Wintersonnenwende im Juni und Dezember konnten Aktivitäten von Szeneangehörigen in Form von Zusammenkünften vorrangig im südlichen Sachsen-Anhalt festgestellt werden. Derartige Veranstaltungen finden im Verborgenen und mit wenigen Teilnehmern statt. Aktionsform "Schwarze Kreuze" Die Aktionsform "Schwarze Kreuze" ist im Jahr 2014 von dem rechtsextremistischen Rapper/Liedermacher Patrick KILLAT (Berlin) ins Leben gerufen worden. Seitdem veranstalten Rechtsextremisten organisationsübergreifend jeweils am 13. Juli in mehreren Bundesländern einen "Aktionstag" unter dem Motto "Schwarze Kreuze Deutschland". An öffentlichen Straßen und Plätzen werden schwarz bemalte Kreuze aufgestellt, die an deutsche Opfer von so genannter "Ausländergewalt" erinnern sollen. Zum Teil waren die Kreuze mit Inschriften wie "Deutsche Opfer unvergessen", "Überfremdung tötet", "Offene Grenzen töten" oder Vornamen versehen. Wie in den Vorjahren wurde die nunmehr sechste Aktion über eine eigene Facebook-Seite beworben, auf der Bilder von Kreuzen an Ortsschildern eingestellt wurden, um die Reichweite zu Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 79 RechtsextRemismus dokumentieren. Einem Eintrag zufolge lagen den Initiatoren 350 Fotos aus 265 Orten im ganzen Bundesgebiet vor. In Sachsen-Anhalt fanden entsprechende Aktionen vorrangig in der Altmark (Gebiete in und um Gardelegen, Klötze, Salzwedel und Stendal), in Raguhn (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) und Oschersleben (Bode) (Landkreis Börde) statt. Aktivitäten zum Todestag der Rathenau-Mörder Alljährlich gedenken NPD-Anhänger und parteiungebundene Neonazis in Bad Kösen, OT Saaleck der Rathenau-Mörder Hermann Fischer und Erwin Kern. Die Aktion zählt mittlerweile auch in überregionalen rechtsextremistischen Kreisen als "Pflichtveranstaltung". So traten in den vergangenen Jahren neben ortsansässigen Szeneangehörigen insbesondere Personen aus Sachsen und Thüringen in Erscheinung. Am 20. Juli nahmen etwa 30 Personen an einem entsprechenden "Gedenken" teil, darunter Szeneangehörige aus dem Burgenlandkreis, dem Saalekreis sowie aus Sachsen und Thüringen. 80 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus An der ursprünglichen Grabstelle legten sie einen Eichenlaubkranz mit einer schwarz-weiß-roten Schleife ab und stellten drei schwarz-weiß-rote Fähnchen auf. "Heß-Gedenkaktionen" Nach wie vor besitzt der Todestag (17. August 1987) des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß in der rechtsextremistischen Szene des Landes einen erhöhten Stellenwert und entfaltet weiterhin eine mobilisierende Wirkung bei entsprechenden Erinnerungsaktivitäten. Im Berichtsjahr wurden themenbezogene Aktionen in Form von illegalen Plakatierungen, Flyerund Aufkleberaktionen in Coswig (Anhalt), Gräfenhainichen und der Lutherstadt Wittenberg (Landkreis Wittenberg), Oschersleben (Bode) (Landkreis Börde), Schönebeck (Salzlandkreis) und der Hansestadt Stendal (Landkreis Stendal) bekannt. Öffentlichkeitswirksame demonstrative Veranstaltungen von Szeneangehörigen blieben erneut aus. Aktivitäten zum Volkstrauertag Rechtsextremisten begehen den "Heldengedenktag" in Anlehnung an und in ideologischer Bezugnahme auf den von den Nationalsozialisten 1934 umgewidmeten Volkstrauertag. Dabei beschränkt die rechtsextremistische Szene ihr Gedenken auf gefallene deutsche Soldaten der beiden Weltkriege sowie auf deutsche Bombenund Flüchtlingstote. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 81 RechtsextRemismus Aktuell besitzt das "Heldengedenken" keine größere Mobilisierungskraft über Szenespektren hinweg, dient jedoch lokalen rechtsextremistischen Personenzusammenschlüssen als einer der wenigen verbliebenen zeitgeschichtlichen Anlässe für öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. Im Internet wurde über Gedenkaktionen von Szeneangehörigen in Halle (Saale) OT Diemitz, Jessen (Elster) OT Kleindröben und Gohrau (Landkreis Wittenberg), Gerbstädt (Landkreis Mansfeld-Südharz), Laucha (Burgenlandkreis) und Biederitz (Landkreis Jerichower Land) berichtet. Tag der Ehre in Budapest (Ungarn) Seit mehreren Jahren findet am zweiten Februarwochenende in Budapest der so genannte "Tag der Ehre" statt. Bei der maßgeblich von ungarischen Rechtsextremisten organisierten Veranstaltung wird der Angehörigen von Einheiten ungarischer Faschisten sowie der Waffen-SS "gedacht", die bei der Befreiung Budapests durch die Rote Armee 1945 gefallen sind. Insbesondere der positive Bezug auf die Waffen-SS und ihre Glorifizierung spielen bei dem Aufmarsch eine bedeutende Rolle. Der "Tag der Ehre" entwickelte sich in den 2000er Jahren zu einer wichtigen Neonazi-Veranstaltung mit Beteiligten aus verschiedenen europäischen Ländern, auch aus Deutschland. Im Berichtszeitraum konnten vereinzelt Teilnehmer aus Sachsen-Anhalt festgestellt werden Demonstrationen zu aktuellen Ereignissen Tagesaktuelle politische Ereignisse werden auch in der Neonaziszene thematisiert und finden in entsprechenden versammlungsrechtlichen Aktionen einen Widerhall. Von Bedeutung ist hier, neben "klassischen" rechtsextremistischen Themen im Zusammenhang mit Kampagnen zu den Agitationsfeldern "Anti-Asyl" oder "Anti-Flüchtlinge", vor allem die zunehmende Konfrontation mit dem politischen Gegner. 82 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Im Berichtszeitraum waren insbesondere im Raum Dessau-Roßlau entsprechende Demonstrationen zu verzeichnen. Ein Schwerpunkt war dabei der am 19. Januar erfolgte Angriff auf eine Gruppe von Szeneangehörigen, die auf der Rückreise vom vorgenannten "Trauermarsch" in Magdeburg waren. Vor der Bahnhofsunterführung im Ortsteil Roßlau griffen zum Teil vermummte Unbekannte die Gruppe an. Dabei benutzten sie einen Hammer, einen Schlagring und einen Totschläger.2 Als unmittelbare Reaktion der Szene kam es am 20. Januar in Dessau-Roßlau OT Roßlau zu einem Aufzug, für den in den Sozialen Medien geworben worden war. Es nahmen etwa 150 Personen teil, sie führten zwei Transparente mit der Aufschrift "DIE RECHTE GEGEN LINKE HETZE & GEWALT" und "SOLIDARITÄT IST EINE WAFFE - AN JL" mit sich. Neben regionalen Szeneangehörigen kamen Teilnehmer auch aus Celle und Wolfsburg (beide Niedersachsen) und Dresden (Sachsen). Am 26. Januar folgte ein Aufzug mit Kundgebung, an dem 35 Personen teilnahmen. Es wurde ein Plakat mit der Aufschrift "Keine Toleranz für linke Gewalt Wir zeigen Gesicht!" gezeigt. Eine dritte Aktion in diesem Kontext war eine Kundgebung am 19. Februar unter dem Motto "Gedenken für Opfer des Überfalls 2 - siehe Seite 135 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 83 RechtsextRemismus am 19. Januar 2019 am Bahnhof in Roßlau" mit 37 Teilnehmern. Am 19. Juni folgte eine Kundgebung unter dem Motto: "Solidarität mit den Opfern vom Überfall am 19. Januar 2019 in Roßlau". Es nahmen etwa 20 Personen teil. Im Zusammenhang mit den Themen "Anti-Asyl" und "Anti-Flüchtlinge" standen zwei Demonstrationen, die am 9. und 15. Juni in Dessau-Roßlau stattfanden. Anlass war ein mutmaßlicher sexueller Übergriff eines nigrischen Mannes auf ein neunjähriges Mädchen am 9. Juni. Bereits am Tag der Tat initiierten Angehörige der lokalen rechtsextremistischen Szene am frühen Abend eine Spontanversammlung mit etwa 120 Personen, an der sich überwiegend Personen aus dem nichtextremistischen Spektrum beteiligten, aber auch 20 Rechtsextremisten. Versammlungsleiter war Alexander WEINERT, eine Führungsfigur der lokalen neonazistischen Szene. Die zweite Demonstration am 15. Juni fand im Ortsteil Roßlau unter dem Motto: "Schützt unsere Kinder!! Härtere Strafen für kriminelle Ausländer!!" in Form eines Aufzuges statt. Es beteiligten sich bis zu 110 Personen, darunter etwa 50 Rechtsextremisten. Ein Transparent trug die Aufschrift "Härtere Strafen für kriminelle Ausländer". Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die neonazistische Szene erfährt gravierende organisatorische Änderungen. Gegenwärtig gewinnen strukturarme Vernetzungsstrategien sowie ein erhöhtes Maß an Konspiration an Bedeutung. Die internetbasierte Kommunikation ersetzt immer mehr feste Organisationsstrukturen, formale Mitgliedschaften verlieren an Bedeutung. Die virtuellen Vernetzungsmöglichkeiten der Szene ergänzen das Gemeinschaftsgefühl und die Gruppenzugehörigkeit. 84 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Weitgehend unstrukturierte, meist subkulturell geprägte Rechtsextremisten Verbreitung Bundesweit Gründung Diese Szene ging aus der Ende der 1960er Jahre in Großbritannien entstandenen Skinheadszene hervor und breitete sich in den 1970er Jahren auch in Deutschland aus. Struktur Die subkulturell geprägte rechtsextremistische Aufbau Szene ist als heterogen und ohne feste Strukzu beschreiben. Es mangelt ihr grundsätzlich an der Bereitschaft zur Bildung von überregionalen Organisationsformen. Die Protagonisten treten eher in kleinen Cliquen auf, die - außerhalb des virtuellen Raums - vornehmlich in ihren Regionen agieren. Die Ausnahme hiervon bilden lediglich die Hammerskinheads, die nach dem Verbot der neonazistischen Skinhead-Organisation Organisation "Blood & Honour" im Jahre 20001 die einzige verbliebene bundesweite rechtsextremistische Skinheadorganisation mit festem hierarchischen Aufbau ist, jedoch derzeit ohne Chapter in Sachsen-Anhalt. Ein Trend der letzten Jahre besteht zudem darin, dass Gruppierungen, die im Kern der subkulturellen Szene zuzuordnen sind, Strukturelemente der neonazistischen Szene adaptieren. Neben dem Vorhandensein fester innerer Strukturen, autoritärer Führungspersonen oder der Finanzierung über Mitgliedsbeiträge war dies auch daran festzustellen, dass das aktionsorientierte Verüben von Straftaten nicht mehr im Vordergrund steht. 1 - Blood & Honour wurde am 12. September 2000 vom Bundesministerium des Innern verboten. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 85 RechtsextRemismus Zunehmend rückt das Planen und Durchführen versammlungsrechtlicher Aktionen in das Betätigungsfeld der Szene. Eine klar definierte Abgrenzung zum Neonazismus ist damit kaum noch möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass von dieser "Mischszene" auch Strukturen und Erscheinungsformen anderer, nicht extremistischer Subkulturen, wie Rocker oder Hooligans, übernommen und Personen dieser Subkulturen rekrutiert werden. Ebenso erschwert die immer öfter festzustellende Verlagerung von rechtsextremistischen Aktivitäten in den virtuellen Raum den Sicherheitsbehörden die Beschreibung der subkulturellen Szene und vor allem aber die Bewertung möglicher Gefahren. Rechtsextremisten nutzen soziale Netzwerke und Messengerdienste zunehmend nicht nur als Propagandainstrument, sondern finden sich hierüber einfach und vor allem schnell in virtuellen Gruppen zusammen. Gerade im Bereich der gewaltorientierten Szene sind es sodann Themen mit Gewaltbezug gegen Ausländer und politisch Andersdenkende oder gar Anschlagsszenarien, die in Gruppendiskussionen festzustellen sind und die Aufmerksamkeit der Behörden erfordern. Insoweit ist es von Bedeutung, das tatsächliche Übertragen derartiger Strukturen in den realen Raum und dort sich bildende Gruppierungen beziehungsweise deren mögliches Mobilisierungspotenzial frühzeitig zu erkennen. Mitglieder Land: etwa 740 (2018: etwa 740) Anhänger Bund: etwa 13.500 (2018: 13.240) 86 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus VeröffentWeb-Angebote: Bekanntgabe von Veranstallichungen tungen mittels Plakaten und Foren im Internet; Agitationen in sozialen Medien Kurzportrait / Ziele Mit der zunehmenden Politisierung der Skinheadszene seit Mitte der 1990er Jahre und der seit dem zu beobachtenden Verwischung der bis dahin klar abgrenzbaren Erscheinungsformen des Rechtsextremismus in Gestalt von Neonazis, Parteienspektrum und Skinheads bildete sich eine subkulturelle und als vielschichtig zu charakterisierende Szene heraus. Die in der Vergangenheit dominante Skinhead-Subkultur hat in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung verloren, dies macht es kaum noch möglich, von "dem" Skinhead zu sprechen, der mit einheitlichen Dresscodes oder dem seinerzeit typische Erscheinungsbild erkennbar wäre. Vielmehr weisen die Angehörigen der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene seit geraumer Zeit ein sehr heterogenes Erscheinungsbild auf und definieren sich eher über szenetypische Musik und den damit verbundenen Lebensstil. Gerade das Auftreten passt sich dabei aktuellen Trends und auch der Altersstruktur des Personenpotenzials an. Die der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene zuzuordnenden Personen verfügen in aller Regel nicht über ein in sich geschlossenes Weltbild, sondern werden von einzelnen rechtsextremistischen Einstellungen und Argumentationsmustern beeinflusst und geprägt. Als Kernfelder dienen hier vor allem Rassismus und Antisemitismus, untersetzt mit einer Gewaltaffinität, die sich wiederum insbesondere gegen Minderheiten und aus ihrer Sicht Andersdenkende richtet. Gewalt und Gewaltbereitschaft waren schon immer ein wesentliches Kennzeichen dieser Szene. Im Zuge der zu beobachtenden Verjüngung der Szene ist zudem eine Zunahme der aktionsorientierten Motivation zu verzeichnen, da gerade bei jüngeren Szeneangehörigen Aktivitäten mit "Erlebnischarakter" im Vordergrund stehen. Daraus resultieren meist spontan aggressive und gewalttäVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 87 RechtsextRemismus tige Aktionen, mit denen die subkulturelle rechtsextremistische Szene in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Grund der Beobachtung Das Weltbild dieser Szene wird von rassistischen, antisemitischen, fremdenfeindlichen und Gewalt gegen Ausländer befürwortenden Ideologiebestandteilen sowie das demokratische System ablehnenden Haltungen geprägt. Dies wird in Aktionen, Strafund Gewalttaten sowie in zahlreichen Liedern einschlägiger Musikgruppen offen zum Ausdruck gebracht. Gerade die Liedtexte fungieren als wichtiges Medium, um rechtsextremistische und zum Teil gewaltbefürwortende Inhalte zu verbreiten. Gleichzeitig sollen damit bei den Hörern Hemmschwellen in Bezug auf die Ablehnung Anderer und die Anwendung von Gewalt abgebaut werden. All dies steht im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Anschlag auf die jüdische Gemeinde Halle (Saale) Schon seit längerem nehmen die Verfassungsschutzbehördeneinen Zuwachs an Antisemitismus wahr, der sich sodann als Motivation für rechtsextremistische Strafund auch Gewalttaten widerspiegelt. Erschreckender Beleg hierfür ist der Anschlag gegen die Jüdische Gemeinde am 9. Oktober in Halle (Saale). An diesem Tag versuchte der aus dem südlichen Sachsen-Anhalt stammende 27-jährige Stephan B. während der Feierlichkeiten zum Jom Kippur in die Synagoge einzudringen, um in der Folge möglichst viele der sich dort aufhaltenden Menschen zu erschießen. Dazu führte er selbstgebaute Schusswaffen und Sprengkörper mit. Da B. nicht in die Synagoge eindringen konnte, schoss er wahllos auf Passanten vor der Synagoge und auf Personen in einem Dönerimbiss in Halle (Saale), hierbei tötete er zwei Menschen. B. filmte die unmittelbare Tatdurchführung und übertrug dieses Video direkt ins Internet. Die Art und Weise der Tatbegehung zeigt Parallelen zum Anschlag vom März auf zwei 88 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Moscheen im neuseeländischen Christchurch.2 Die Auswertung der vom Täter im Internet veröffentlichten Schriften und des live übertragenen Videos belegen dessen antisemitische und fremdenfeindliche Grundeinstellung, die augenscheinlich im Zusammenhang mit einer frauenfeindlichen Haltung zu dessen Radikalisierung führten. Bei den Sicherheitsbehörden war Stephan B. zuvor nicht in Erscheinung getreten. Im Ergebnis der Erforschung möglicher aktiver Einbindungen von B. in die örtliche rechtsextremistische Szene - sowohl im virtuellen als auch im realen Raum - wurde deutlich, dass sich dieser offenbar in einschlägigen Internetforen radikalisierte, welche ihm eine Anonymität versprachen. Einen Kontakt zu Rechtsextremisten außerhalb dieser virtuellen Welt pflegte Stephan B. insoweit belegbar nicht. Innerhalb der rechtsextremistischen Szene wurde die Tat zum einen unter Rückgriff auf Verschwörungstheorien als "false flag Aktion" bewertet und zum anderen eher kritisch gesehen und verurteilt, wenngleich in einzelnen Fällen die Kritik nur auf das Tatgeschehen an sich zielte, nicht aber auf die hinter der Motivation stehende Thematik des Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit. Als Beispielfall einer Reaktionshandlung mit örtlichem Bezug sind etwa die Stellungnahmen des bekannten Rechtsextremisten Sven LIEBICH auf der Internetplattform "Halle Leaks" noch am 9. und in der Folge am 10. Oktober herauszuheben. In zwei dort veröffentlichten Videos versucht sich LIEBICH an einer "Analyse" der Geschehnisse. Er genießt förmlich seine Popularität in den ihn immer wieder erwähnden Medien. Einerseits wird er dabei in den einschlägigen Szenemedien als "Aktivist" dargestellt, der gegen das "System" ankämpft. Andererseits sucht er aber auch die Nähe insbesondere zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, um diesen anschließend als "Lü- 2 - Am 15. März stürmte ein Rechtsterrorist während des Freitagsgebets in zwei Moscheen, tötete insgesamt 51 Menschen und verletzte weitere 50. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 89 RechtsextRemismus genpresse" zu diffamieren, die seine Sicht der Dinge nur verzerrt und verfälscht wieder geben würde. LIEBICH weist eine - auch geistige - Nähe zum Täter von sich und ergeht sich in Verschwörungstheorien. Er nahm Bezug auf die am 27. Oktober stattgefundene Landtagswahl in Thüringen und prognostizierte Verluste für die AfD und deutete hierbei an, dass die Tat in Halle (Saale) staatlich gesteuert gewesen sei. Am 11. Oktober meldete LIEBICH zudem eine Versammlung unter dem Motto "Gegen politische Instrumentalisierung von Einzelfällen" an. Insgesamt betrachtet belegt der Anschlag auf die jüdische Gemeinde die Herausforderungen für die Sicherheitsbehörden, neue Ansätze für das Gewinnen und Auswerten von Informationen aus dem virtuellen Raum zu etablieren. Mit der Verjüngung der Szene und der zunehmenden Verlagerung von Aktivitäten in den virtuellen Raum wird die Erkennbarkeit der Szeneangehörigen in der Realwelt und die Bewertung eines Gefährdungspotenzials erschwert. Die Täter der Anschläge von Halle (Saale) und der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke am 2. Juni zeigen eine weitere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden auf. Stephan B. wurde bis dato nicht der rechtsextremistischen Szene zugeordnet, der Tatverdächtige im Fall Dr. Lübcke wiederum wurde über Jahre nicht mehr aktiv in der rechtsextremistischen Szene verortet. Bei dem Gewinnen und Auswerten von Informationen, insbesondere zum Erkennen von potenziellen Gewalttätern und Anschlagsszenarien, sind daher neue Ansätze erforderlich. Der Verfassungsschutz wird sich darauf personell und materiell einstellen. Waffenfund in Magdeburg Der - insoweit erster Fall, der unter diesen Prämissen von der Verfassungsschutzbehörde im Nachgang des Anschlags von Halle (Saale) bearbeitet und mit Blick auf mögliche Gefährdungen oder gar Anschlagsszenarien bewertet wurde, war das Auffinden diverser Waffenund Munitionsteile am 12. Novem90 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus ber in einer Wohnung in Magdeburg. Der 33-jährige Täter war der Verfassungsschutzbehörde bis dato ebenso nicht bekannt. Aufgrund seiner einschlägigen Tätowierungen führte die Verfassungsschutzbehörde weitergehende Ermittlungen durch und konnte so zumindest im Rahmen der retrograden Betrachtung eine augenscheinlich rechtsextremistische Einstellung und Gewaltbereitschaft des Täters seit seiner frühen Jugend erkennen. Wenngleich in dem vorliegenden Fall die Sammlung der Waffenund Munitionsteile offenbar keiner weiterführenden und vor allem politisch motivierten Gewalttat dienen sollte, bestätigte sich die Herangehensweise der Verfassungsschutzbehörde beim Erkennen möglicher gewaltbereiter Rechtsextremisten, die einen offenkundigen Bezug zur Szene nicht (mehr) aufweisen und sich gegebenenfalls zurückgezogen weitergehend radikalisierten. Verbindungen zur Fanund Hooliganszene Die Verfassungsschutzbehörde stellt regelmäßig personelle Schnittmengen zwischen rechtsextremistischer Szene und Hooliganszene fest. Die Hooliganszene als solche wird nicht als verfassungsfeindliche und damit extremistische Bestrebung bewertet. Es liegen keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vor, dass von der Hooliganszene Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen (SS 4 Abs. 1 Nr. 1 VerfSchG LSA). Gleichwohl bestehen verfassungsschutzrelevante Schnittmengen und Verbindungen. Bekannte Rechtsextremisten treten erkennbar und aktiv in der Hooliganszene auf. Zudem begehen vereinzelt Mitglieder von Hooliganoder Fangruppierungen auch Straftaten aus dem Bereich der politisch motivierten Kriminalität -rechts-. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei von Hooligans oder Fussballfans begangenen Straftaten in der Regel nicht der politische Aktivismus im Vordergrund steht, sondern der Hang zur Gewalt und Provokation. Hierzu zwei Beispiele: Am 19. Mai kam es in Magdeburg zu einer gewaltsamen AusVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 91 RechtsextRemismus einandersetzung zwischen Anhängern des 1. FC Magdeburg und des 1. FC Köln. Hier trat ein Mann als gewaltbereiter Fussballfan in Erscheinung, welcher der Verfassungsschutzbehörde bereits als Rechtsextremist bekannt war. Am 30. Mai sollen zwölf Personen auf einer Fußgängerbrücke mehrfach lautstark "Heil Hitler" sowie "Deutschland den Deutschen" gerufen und dabei Pyrotechnik abgebrannt haben. Einige Personen sollen dabei Fankleidung des 1. FC Magdeburg getragen haben. Rechtsextremistische Waffenaffinität Nicht nur subkulturell geprägte Rechtsextremisten, sondern Rechtsextremisten generell, weisen häufig eine besondere Affinität zu Waffen und Militaria auf. Diese haben in der Szene aus milieuspezifischen und insbesondere ideologischen Gründen eine große Bedeutung. Die Kombination aus menschenverachtender Weltanschauung, niedriger Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt und ausgeprägter Affinität zu Waffen stellt ein nicht zu vernachlässigendes Bedrohungspotenzial dar. Dies haben insbesondere die rechtsterroristischen Aktivitäten des NSU und zuletzt auch aktuell die Taten von Halle (Saale) und Kassel gezeigt. Bereits in der Vergangenheit war festzustellen, dass sich Rechtsextremisten an Schießtrainings und militärähnlichen Übungen im Inund Ausland beteiligen. Dieses Verhalten folgt dabei der in der Szene propagandistisch geforderten stetigen Wehrhaftigkeit. Auch im Berichtszeitraum haben Rechtsextremisten an Schießübungen im Ausland teilgenommen, davon entfiel auf Sachsen-Anhalt nur eine geringe Anzahl. Soweit der Verfassungsschutzbehörde ausreichend mitteilbare Erkenntnisse zu Rechtsextremisten mit waffenrechtlichen Erlaubnissen vorliegen, die Zweifel an der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit aufkommen lassen, werden die zuständigen 92 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Waffenbehörden gemäß SS 18 Abs. 1 VerfSchG LSA hierüber informiert. Gemäß Urteilen des Verwaltungsgerichtshof Hessen3 und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts4 liegt eine waffenrechtliche Unzuverlässigkeit vor, wenn eine Bestrebung unterstützt wird, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtet. Auf Grund einer "permanenten Angst" vor Übergriffen des vermeintlichen politischen Gegners und um der Wehrhaftigkeit Genüge zu tun, statten Rechtsextremisten sich jedoch nicht nur mit erlaubnispflichtigen Waffen aus, sondern auch mit erlaubnisfreien Waffen und entsprechend einsetzbaren Gerätschaften. (Ein Bekenntnis zur gewaltsamen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner) Verbindungen zur Prepper-Szene Teile der Szene beschäftigt die Vorstellung, dass es in Deutschland vor allem aufgrund der Zuwanderung zu einem politischen Umbruch oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen wird. Darauf will man sich vorbereiten. 3 - Urteil vom 12.10.2017 im Verfahren 4 A 626/17. 4 - Urteil vom 16.03.2018 im Verfahren 3 A 556/17. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 93 RechtsextRemismus Der Begriff Prepper ist aus dem Englischen abgeleitet5 und bezeichnet Personen, die sich mittels individueller Maßnahmen auf jedwede Art von Katastrophe vorbereiten. Die Verfassungsschutzbehörde konnte im Berichtszeitraum durchaus feststellen, dass Rechtsextremisten die Verhaltensweisen der Prepper adaptieren und sich entsprechend im Rahmen von internen Seminaren oder Vortragsveranstaltungen schulen, jedoch eben mit einer anderen Motivationslage. Der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt liegen bislang keine Anhaltspunkte für eine gezielte rechtsextremistische Beeinflussung bzw. Unterwanderung der Prepper-Szene vor. Verbindungen zur Kampfsportszene Eine weitere Schnittmengenbetrachtung der Verfassungsschutzbehörde erfolgt im Bereich der Kampfsportszene. Die Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt stellt bereits seit langer Zeit eine Affinität von Rechtsextremisten für den Kampfsport fest, die sich gerade in der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene mit dem dort vorherrschenden Männlichkeitskult, der durchaus bestehenden Gewaltorientiertheit und dem gesteigerten Hang zu körperlichen Auseinandersetzungen begründen lässt. So lässt sich szeneintern seit etwa fünf Jahren ein erhöhtes Interesse an der Ausübung von Kampfsport bzw. an der Teilnahme an Selbstverteidigungsseminaren feststellen. Die Seminare waren dabei nicht selten vom Glauben an einen "Untergang des Systems" oder an den "Zusammenbruch der staatlichen Ordnung" geprägt. Der Kampfsport dient in diesem Zusammenhang auch der Vorbereitung auf einen direkten Konflikt und zur "Verteidigung des Lebensraumes", der Familie und nicht zuletzt der "weißen Rasse". Ferner dürfte der Kampfsport in einer sich zunehmend verjüngenden und aktionsorientierten rechtsextremistischen Szene als Bindeglied unterschiedlicher Subkulturen und zur Rekrutierung eines bislang nicht erreichbaren Personenpotenzials dienen. 5 - To be prepared = vorbereitet sein. 94 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Gleichwohl sind strukturierte Verbindungen zwischen der rechtsextremistischen Szene und der Kampfsportszene bislang nicht ersichtlich. Rechtsextremisten mit Bezügen zum Kampfsport trainieren in der Regel in kommerziellen Kampfsportschulen, die auch anderen Personen, z.B. mit Migrationshintergrund oder anderer politischer Ausrichtung, offen stehen und von diesen genutzt werden. Vom "normalen" Kampfsporttraining sind große "Kampfsportveranstaltungen" der Szene zu unterscheiden, die oftmals das rechtsextremistische Konzertangebot ergänzen und erweitern. Der Event-Charakter dieser "großen" Veranstaltungen stärkt die Attraktivität und das Rekrutierungspotenzial massiv. Die Veranstaltungen mit steigenden Zuschauerzahlen haben aber nicht nur eine Rekrutierung zum Ziel, sondern fördern auch die Vernetzung und dienen schlicht als Geldquelle. Herausgehobenes Beispiel für eine von Rechtsextremisten in Eigenregie organisierte Großveranstaltung ist der jährliche "Kampf der Nibelungen", der am 12. Oktober in Ostritz (Sachsen) stattfinden sollte. Die Stadt Ostritz untersagte jedoch die Durchführung, hiergegen eingelegte Rechtsmittel lehnten das VG Dresden6 und das sächsische OVG7 ab. Begründet wurde das Verbot unter anderem damit, dass sich Anhaltspunkte dafür verdichten, dass die "Kampfsportveranstaltung durchgeführt werden solle, um die Teilnehmer zunehmend auf den Kampf gegen das System physisch und psychisch vorzubereiten und einzuschwören" und dass "der Kampfsport in letzter Konsequenz auch gegen andere und das politische System insgesamt trainiert werden solle.". Ebenso wurde berücksichtigt, dass "als Zulassungskriterium zur Veranstaltung durchaus die 6 - Beschluss 6 L 788/19 vom 9. Oktober 7 - Beschluss 3 B 274/19 vom 11. Oktober Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 95 RechtsextRemismus Gesinnung wesentlich sein werde und die Teilnehmer in jedem Fall keine Beobachtung durch Öffentlichkeit und Presse wünschten und dies verhindern wollten.".8 Demonstrationsund Protestgeschehen Die von der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene organisierten Aktionen nahmen eine eher unbedeutende Rolle ein, Ausnahmen bildeten die Aktivitäten einiger weniger wiederkehrender Protagonisten. Als ein Beispiel für diese Entwicklung innerhalb dieser Szene kann der Rückgang der versammlungsrechtlichen Aktionen der rechtsextremistischen Szene in Köthen (Anhalt) (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) im Zusammenhang mit dem Tod eines Deutschen im Jahre 2018 angeführt werden. 8 - Siehe Beschluss des OVG Sachsen 3 B 274/19 vom 11. Oktober 96 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Dieser verstarb am 8. September 2018 infolge einer körperlichen Auseinandersetzung mit zwei Afghanen. Der Fall erregte ein hohes mediales bundesweites Interesse. Es kam daraufhin zu mehreren Versammlungen unter der Beteiligung von Rechtsextremisten.9 Das LG Dessau-Roßlau verurteilte am 17. Mai die beiden Afghanen zu Haftstraßen von einem Jahr und acht Monaten, bzw. einem Jahr und fünf Monaten. Die Urteilsverkündung war Anlass für einen maßgeblich von Rechtsextremisten initiierten Aufzug am 19. Mai in Köthen (Anhalt). Es beteiligten sich etwa 300 Personen, darunter auch Personen aus dem nichtextremistischen Bereich. Die Teilnehmerzahl erreichte jedoch nicht mehr die Höhe wie noch 2018. Die erstmalige Jährung des Todestages am 8. September wurde szeneintern zwar noch im Internet thematisiert, öffentlichkeitswirksame Aktionen von Rechtsextremisten waren jedoch nicht mehr zu verzeichnen. Subkulturell geprägte und mithin nicht organisierte Rechtsextremisten schließen sich zudem anderen Versammlungen an, mit deren Themen sie sich identifizieren bzw. die sie sich zu Eigen machen können. Ein Beispiel dafür sind mehrere versammlungsrechtliche Aktionen, die am 24. Februar, 31. März und 4. Mai in Bad Lauchstädt (Landkreis Saalekreis) stattfanden. Anlass waren Verhandlungen vor dem LG Halle über eine Sexualstraftat zum Nachteil von Kindern aus dem Juli 2015. An den Demonstrationen unter dem Motto "Höhere Strafen für Sexualstraftäter" beteiligten sich auch einzelne Personen der regionalen Szene. Rechtsextremistische Musik Der dem subkulturell geprägten Rechtsextremismus zuzurechnende Personenkreis definiert sich hauptsächlich über szenetypische Musik und den damit verbundenen Lebensstil. Rechtsextremistische Musik hat daher eine identitätsstiftende Funktion und dient zudem als Lockmittel, um Jugendliche oder junge Erwachsene an die rechtsextremistische Szene sowie 9 - siehe VSB 2018, Seite 73 ff. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 97 RechtsextRemismus deren Ideologie heranzuführen und zu binden. Von Bedeutung sind dabei die szeneeigenen Musikveranstaltungen wie Konzerte oder so genannte Liederabende. Diese gehören nach wie vor zu den attraktiveren Veranstaltungsarten der Szene und sind wesentlich für die Vernetzung untereinander. Rechtsextremistische Musik besitzt somit nach wie vor eine herausragende Bedeutung für die Bildung und den Bestand der gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene. Dabei unterliegt die Musik ebenfalls einem Wandel. Ähnlich wie Springerstiefel, Bomberjacke und Glatze schon seit Langem aus dem optischen Erscheinungsbild verschwunden sind, sind auch in der Musik kaum noch stakkato-artige Rhythmen zu finden, die für den rechtsextremistischen Skinheadbereich typisch waren. Dem "Mainstream" insoweit folgend hat sich auch die Musik der jüngeren Empfängergruppe angepasst und es kommen Stilrichtungen vor, die vor Jahren noch undenkbar gewesen wären, wie etwa der "Nationale Rap" oder Chansons. Inhaltlich vermitteln die Texte - zumeist unterschwellig - rechtsextremistische Feindbilder und Fragmente einer nationalistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen und antidemokratischen Ideologie. Rechtsextremistische Musikveranstaltungen Musikveranstaltungen werden weiterhin im kleinen Rahmen geplant und finden in nahezu allen Fällen in Räumlichkeiten statt, die sich in privatem Besitz befinden. Hierfür ist vor allem der Verfolgungsdruck der Ordnungsund Sicherheitsbehörden verantwortlich. Mit geeignete Maßnahmen ist es Verfassungsschutz, Polizei und Ordnungsbehörden auch im Berichtsjahr gelungen, mehrere Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene bereits im Vorfeld zu verhindern oder vorzeitig zu beenden. 98 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus So untersagte der Landkreis Mansfeld-Südharz das "White Pride Worldwide"-Konzert, das Enrico MARX (Allstedt OT Sotterhausen, Mansfeld-Südharz) für den 26. April auf seinem Grundstück geplant hatte. Er hatte hierzu publikumswirksame "Szenemusiker" verplichtet, die eine entsprechend hohe Teilnehmerzahl hätten erwarten lassen und bewarb das Konzert in den sozialen Medien. Ein weiteres Beispiel war die für den 4. November in Magdeburg geplante "Abschiedsfeier" mit zwei bekannten Liedermachern der rechtsextremistischen Szene, die anlässlich des bevorstehenden Haftantritts eines Szenemitgliedes stattfinden sollte. Der Betreiber der gemieteten Gaststätte untersagte das Vorhaben, nachdem er auf den Charakter der Veranstaltung hingewiesen worden war. Eine taggleiche Ersatzveranstaltung in Tangerhütte OT Uchtdorf (Landkreis Stendal) beendete die Polizei. Polizeilich beendet wurde ebenfalls ein Liederabend mit zwei Liedermachern in Klötze OT Kunrau (Altmarkkreis Salzwedel), der am 14. Dezember stattfand und bei dem die Teilnehmer lautstark Liedtexte mit rechtsextremistischen Parolen grölten. Es wurden die Identitäten der Teilnehmer festgestellt und Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung sowie Angriff auf Vollstreckungsbeamte eingeleitet. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 99 RechtsextRemismus Im Berichtsjahr wurden neun rechtsextremistische Konzerte festgestellt (2018: acht). Es waren im Schnitt hohe zweistellige bis niedrige dreistelligen Teilnehmerzahlen zu verzeichnen. Dem gegenüber stehen fast doppelt so viele Liederabende (25) als im Vorjahr (13), die durchschnittlich Teilnehmerzahlen im mittleren zweistelligen Bereich aufwiesen. Die hinsichtlich der geografischen Zuordnung getroffene Aussage der letzten Jahre, dass die Mehrzahl der rechtsextremistischen Musikveranstaltungen im südlichen Sachsen-Anhalt stattfand, hat weiterhin Bestand. Ein Schwerpunkt war erneut das Objekt des vorgenannten MARX. Mehrere Musikveranstaltungen waren auch im Saalekreis, Landkreis Anhalt-Bitterfeld sowie in den kreisfreien Städten Dessau-Roßlau, Halle (Saale) und der Landeshauptstadt Magdeburg zu verzeichnen. Musikgruppen und Liedermacher Hinsichtlich der Anzahl rechtsextremistischer Musikgruppen aus Sachsen-Anhalt ist gegenüber dem Vorjahr keine Veränderung feststellbar. Von 13 bekannten rechtsextremistischen Bands waren vier nicht aktiv (2018: sechs inaktive Gruppen). Nachdem im Vorjahr Aktivitäten von Liedermachern aus Sachsen-Anhalt nicht zu verzeichnen waren, traten 2019 sechs Liedermacher in unterschiedlicher Intensität in Erscheinung, ein weiterer war inaktiv. Politisch motivierte Kriminalität - rechts - Die Darstellung der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene mit ihrem rassistischen und fremdenfeindlichen Weltbild, das Gewalt befürwortet und das demokratische System ablehnt, findet in den Daten der politisch motivierten Kriminalität (PMK) - rechts - eine statistische Größe. Diese Daten geben den Sicherheitsbehörden die Möglichkeit, Häufungen oder Tendenzen von rechtsextremistischen Straftaten im Land Sachsen-Anhalt zu erkennen. Die PMK ist ein daher wichtiger 100 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Indikator für die Beurteilung der rechtsextremistischen Gewaltbereitschaft. Bei der Auswertung der Strafund Gewalttaten im Berichtszeitraum hat sich gezeigt, dass entgegen des Trends der Vorjahre nunmehr wieder einen Anstieg der PMK - rechts - zu verzeichnen war. Da das Personenpotenzial der als gewaltorientiert geltenden subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene nahezu gleichgeblieben ist, kann insofern von einem erhöhten Gefährdungspotenzial gesprochen werden. Insgesamt erfasste die Polizei im Berichtsjahr 1.441 Taten der PMK - rechts -. Der rückläufige Trend des letzten Jahres kehrte sich damit um, die Fallzahlen liegen jetzt wieder auf dem Niveau des vorletzten Jahres (2018: 1.321; 2017: 1.461). Von den erfassten Taten wurden 1.260 als extremistisch eingestuft (Vorjahr: 1.212). Bei den Gewalttaten ist ein Rückgang von 92 (2018) auf 74 (2019) feststellbar, gleichwohl zeigt der Anschlag auf die jüdische Gemeinde in Halle (Saale), dass eine Reduzierung des Gefährdungsrisikos hiermit nicht einhergehen muss. Die Zahl der erfassten Propagandastraften ist von 923 (2018) auf 1.056 (2019) deutlich angestiegen, um 133 Taten. Damit macht diese Deliktsgruppe auch weiterhin den mit Abstand größten Teil der PMK - rechts - aus. Vor allem im Intenet liegt häufig eine Vermischung von Propagandadelikten mit dem Phänomen der Hasskriminalität und hier insbesondere in Form von Hasskommentaren (Hasspostings) vor, wobei nicht jeder Hasskommentar ein Propagandadelikt ist. Der Politisch motivierten Hasskriminalität werden Straftaten zugerechnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 101 RechtsextRemismus die Tat begangen wurde aufgrund von Vorurteilen des Täters bezogen auf: * Nationalität, * ethnische Zugehörigkeit, * Hautfarbe, * Religionszugehörigkeit, * sozialen Status, * physische und/oder psychische Behinderung oder Beeinträchtigung, * Geschlecht/sexuelle Identität, * sexuelle Orientierung, * äußeres Erscheinungsbild.10 Bei der Tatmotivation zeigte sich, dass Themen mit Bezug zur Asylpolitik nicht mehr die andauernde Aufmerksamkeit und Bedeutung innehaben wie noch in den Jahren 2014 - 2016, als sie einen zentralen Aspekt in der rechtsextremistischen Propaganda darstellten. Gleichwohl ist die Asylthematik für die rechtsextremistische Szene insgesamt und deren Agitation und Propaganda weiterhin ein relevanter Punkt. So waren öffentlichkeitswirksame (islamistische) Anschläge im Inund Ausland, von Migranten oder Personen mit Migrationshintergrund begangene Straftaten sowie die Berichterstattung zur Seenotrettung im Mittelmeer dazu geeignet, einen situationsbedingten Anstieg bei den Straftaten, vor allem den Propagandadelikten, zu bewirken. Die etablierten und szeneimmanenten Anknüpfungspunkte wie Fremdenfeindlichkeit und der damit eng verbundene Rassismus, gepaart mit einem Bezug zur Flüchtlingspolitik, können situationsbedingt für Agitationszwecke genutzt werden und auf einen immer noch vorhandenen Nährboden fallen. Hierfür bedienen sich die Rechtsextremisten auch weiterhin intensiv der sozialen Medien, was ihnen eine breite Resonanz bis in nahezu alle Bevölkerungsschichten hinein ermöglicht. 10 - vgl.: https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/ PMK/PMKrechts/PMKrechts_node.html 102 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus Dabei können sich mögliche Aktionen sowohl gegen Flüchtlinge bzw. Personen, denen eine Flüchtlingseigenschaft zugeschrieben wird, richten, aber auch gegen Personen, bei denen eine systemische Verantwortung für die Lage vor Ort zugeschrieben wird. Dies können Privatpersonen sein, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, Journalisten oder Politiker, die sich für Migranten einsetzen. Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten ist hierfür trauriger Beleg. Im Nachgang thematisierte die rechtsextremistischen Szene den Mord, wobei die Kommentare sowohl Zustimmung als auch Kritik beinhalteten. Als ein Beispiel können hier die Äußerungen eines in Sachsen-Anhalt wohnenden 70-jährigen Rechtsextremisten angeführt werden, der die Tat nutzte, um weitere Bedrohungsszenarien, insbesondere gegen Journalisten und Politiker, aufzubauen. So schrieb er auf dem russischen Internetportal vk.com, dass der Fall Lübcke "kein Einzelfall bleiben dürfe" und dass man Sorge tragen müsse, dass "die Familie eines jeden Kommunalpolitikers nicht mehr unbeschadet ins eigene Heim" zurückkehren könne und dass "Medienschaffende [...] nirgends mehr unbeschadet laufen dürfen". Schließlich rief er zu der Hinrichtung von "Deutschfeinden" auf. In den Reaktionen auf diesen Beitrag finden sich deutlich zustimmende Antworten. So spricht sich ein Nutzer auf Facebook für die Vorschläge aus und sagt, "man befände sich bereits in der Planungsphase". Ein weiterer Nutzer befürwortet ebenfalls die Ausführungen des 70-jährigen und schlägt ein konspirativ agierendes Unternehmen vor, welches jede Person, die einen "Volksschädling eliminiert", finanziell entlohnt. Die Ablehnung der aktuellen Asylund Migrationspolitik ist eng verbunden mit einer ausgeprägten Islamfeindlichkeit. Dies führt zu verbalen oder körperlichen Angriffen auf Personen, die die Täter als Flüchtling oder Moslem wahrnehmen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 103 RechtsextRemismus Ein Beispiel hierfür sind volksverhetzende Kommentare, die ein 67-jähriger Rechtsextremist und "Reichsbürger" aus dem Landkreis Mansfeld-Südharz am 16. Januar im Internet veröffentlichte. So hieß es: "Das sind die Fachkräfte und das Ungeziefer was vernichtet werden muss damit anständige Menschen in Frieden leben. Können!". In einem weiteren Beitrag verwendete er die Parole "Deutschland Erwache", eine Losung, die die NSDAP und ihr paramilitärischer Kampfverband SA (Sturmabteilung) genutzt hatten und deren heutige Verwendung gemäß SS 86a StGB strafbewehrt ist (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen). Neben einzeln begangenen Delikten in den sozialen Medien verzeichneten die Verfassungsschutzbehörden im Berichtsjahr eine Serie von E-Mails mit fremdenund muslimfeindlichen Inhalten oder mit zum Teil erheblichen Gewaltandrohungen gegenüber Politikern, Flüchtlingseinrichtungen und Institutionen des öffentlichen Lebens. Unterzeichnet waren viele dieser E-Mails mit "Staatsstreichorchester" oder "Blood and Honour (trotz Verbot sind wir nicht tot)". Auf Grund entsprechender Ermittlungen wegen des Verdachts der Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (SS 126 StGB) durchsuchte die Polizei am 9. Oktober mehrere Wohnungen in ganz Deutschland, unter anderem auch die Wohnung einer Person aus dem südlichen Sachsen-Anhalt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Das Personenpotenzial der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene in Sachsen-Anhalt ist im Vergleich zum Vorjahr nahezu gleich geblieben. Bestrebungen zur Schaffung von festen Strukturen sind unverändert nicht zu erkennen. Gleichwohl lässt sich erkennen, dass Soziale Medien und Messengerdienste eine zunehmende Vernetzung von "losen" Gruppierungen im virtuellen Raum begünstigen. Gerade bei der Planung von größeren Veranstaltungen oder Aktionen bilden sich - oftmals 104 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 RechtsextRemismus auch temporär - "projektbezogene" Messengergruppen. Dies gilt insoweit auch für die rechtsextremistische Musikszene. Diese hat die "Trendverschiebungen" innerhalb der Szene unbeschadet überstanden, neue Trends aufgegriffen und wird unverändert eine bedeutende Rolle in der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene einnehmen. Mit der Verjüngung der Szene ist zudem eine zunehmende Verlagerung von Aktivitäten in den virtuellen Raum feststellbar, was die Erkennbarkeit der Szeneangehörigen in der Realwelt und die Bewertung eines Gefährdungspotenzials abermals erschwert. Dies gilt insbesondere für die von außen kaum erkennbare Radikalisierung von Personen im Internet. Die Sicherheitsbehörden stehen vor der schwierigen Aufgabe diejenigen Rechtsextremisten ausfindig zu machen, die zuvor nicht als Rechtsextremisten in Erscheinung getreten sind und in der realen Welt nicht den Anschluss an die örtliche rechtsextremistische Szene suchen. Nicht zuletzt die Ereignisse am 9. Oktober in Halle (Saale) haben dies den Sicherheitsbehörden in tragischer Weise vor Augen geführt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 105 ReichsbüRgeRszene "Reichsbürger und Selbstverwalter" (Reichsbürgerszene) Zu "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" zählen Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnen und deren Rechtssystem ablehnen. Dabei berufen sie sich etwa auf das historische Deutsche Reich, auf verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder auf ein selbst definiertes Naturrecht. Sie bestreiten die Legitimation der demokratisch gewählten Repräsentanten oder definieren sich selbst als außerhalb der Rechtsordnung stehend. Auf Grund dessen kann es zu Vestößen gegen die Rechtsordnung kommen, wenn Angehörige der Reichsbürgerszene die gelten Gesetze missachten, bewusst unterlaufen oder ein vermeintliches "Notwehrrecht" annehmen und im Zuge dessen aktiv gegen den Staat und seine für ihn handelnden Personen vorgehen. Das Personenpotenzial der "Reichsbürger und Selbstverwalter" umfasst bundesweit etwa 19.000 Personen. In Sachsen-Anhalt werden dieser Szene rund 500 Personen zugerechnet. Seit Beginn der Beobachtung und der damit verbundenen systematischen Auswertung von bei Behörden vorliegenden Informationen über das Handeln von Angehörigen der Reichsbürgerszene hat sich das Personenpotenzial stabilisiert. Etwa zehn Prozent der "Reichsbürger und Selbstverwalter" können zugleich dem Rechtsextremismus zugeordnet werden. Die personellen Überschneidungen zwischen der Reichsbürgerszene und dem Phänomenbereich des Rechtsextremismus sind als gering zu bezeichnen. Bei einem Großteil der Akteure der Reichsbürgerszene lassen sich eindeutige rechtsextremistische Anschauungen nur in geringen Maße oder gar nicht ausmachen. In den zum überwiegenden Teil schriftlichen Darlegungen lassen sich aber mitunter thematische Überschneidungen zwischen beiden Phänomenbereichen feststellen. 106 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 ReichsbüRgeRszene Auch in diesem Berichtsjahr entfalteten "Reichsbürger und Selbstverwalter" einen hohen Aktivitätsgrad. Um ihre Ziele zu erreichen, wenden sie unterschiedliche Strategien an, wie z. B. die Ausrufung wie auch immer gearteter eigener Staaten oder Gemeinden, das Verweigern von Steuern und Abgaben oder das Herstellen und Veräußern eigener "Ausweisdokumente". In Sachsen-Anhalt ist das Gros der Szene nicht in größere Gruppierungen eingebunden. Die meisten Aktivitäten gingen von Einzelpersonen aus, die mit "Vielschreiberei" auffielen und die mit einem dreisten Aktionismus versuchen, behördliches Handeln in ihrem Sinne zu beeinflussen und Behördenmitarbeiter einzuschüchtern. Daneben organisieren sich "Reichsbürger und Selbstverwalter" in sowohl lokal als auch bundesweit agierenden Gruppierungen. Mittlerweile konnten bundesweit 25 Gruppierungen festgestellt werden, die bundesoder länderübergreifend Aktivitäten entfalten. Diesen Gruppierungen wird ein Personenpotenzial im niedrigen vierstelligen Bereich zugerechnet. In Sachsen-Anhalt sind in diesem Zusammenhang das "Amt für Menschenrecht", das "Königreich Deutschland" und die "Samtgemeinde Alte Marck" hervorzuheben. Es existieren zudem zahlreiche lokale und regionale Kleinund Kleinstgruppen, die sich teilweise über das Internet oder persönliche Kennverhältnisse vernetzen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 107 ReichsbüRgeRszene "Reichsregierungen", "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" Gründung Die seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland agierenden "Reichsregierungen" haben ihren Ursprung in der seit den 1980er Jahren bestehenden "Kommissarischen Reichsregierung" (KRR) um Wolfgang Ebel (+, Berlin). Verbreitung "Reichsregierungen," "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" gibt es im gesamten Bundesgebiet. Schwerpunktregionen in Sachsen-Anhalt sind der Salzlandkreis, der Landkreis Stendal und der Raum Halle (Saale). Struktur Die Reichsbürgerszene ist sehr heterogen. Sie Aufbau zeigt sich zersplittert und vielschichtig. Die Reichsbürgerszene lässt sich in "Reichsregieerungen", "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" unterscheiden. Als "Reichsbürger" bezeichnen sich Einzelpersonen und verschiedene Gruppierungen, die sich als Angehörige eines "Deutschen Reiches" wähnen. Bei den "Selbstverwaltern" handelt es sich um eine heterogene Gruppe von Einzelpersonen, die im Gegensatz zu den "Reichsbürgern" und "Reichsregierungen" nicht vom Weiterbestehen des Deutschen Reiches überzeugt sind, sondern behaupten, sie könnten auf Grund einer Erklärung aus der Bundesrepublik Deutschland ausscheiden oder diese sei gar nicht existent. Entsprechend seien sie nicht mehr ihren Gesetzen unterworfen. Manche "Selbstverwalter" rufen sogar eigene "Staatsgebilde" aus. 108 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 ReichsbüRgeRszene Neben den Einzelakteuren existieren eine Vielzahl an Kleinst-und Kleingruppen sowie virtuelle Netzwerke und darüber hinaus auch überregional agierende Personenzusammenschlüsse. Mitglieder Land: etwa 500 (2018: ebenso), davon sind etwa Anhänger 10% (50) der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen Bund: etwa 19.000 (2018: ebenso), davon sind etwa 5% (950) der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen VeröffentWeb-Angebote: diverse, teils wechselnde lichungen Facebook-Auftritte und Homepages Kurzportrait / Ziele In der Reichsbürgerszene werden gemeinhin folgende Botschaften vertreten: - Die Bundesrepublik Deutschland ist nach ihrer Auffassung kein echter Staat im völkerrechtlichen Sinn, sondern eine Firma mit staatsähnlichen Strukturen, eine "BRD-GmbH". Es handele sich um ein reines "Verwaltungskonstrukt". - "Reichsbürger" bestreiten die Unabhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland. - Sie behaupten, die Bundesrepublik Deutschland sei juristisch nicht existent, also illegal. - Hingegen bestehe das Deutsche Reich völkerrechtlich fort. Dabei wird oft in den Grenzen von 1937 gedacht. Dieses gedachte Reich sei allerdings immer noch besetzt, wobei der Hinweis auf die Militärpräsenz, etwa der USA, selten fehlt. Daher gebe es auch nur eine kommissarische "Reichsregierung", die legal, aber machtlos sei. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 109 ReichsbüRgeRszene Dementsprechend versuchen die "Reichsbürger" pseudostaatliche Strukturen aufzubauen, indem sie so genannte kommissarische "Reichsregierungen" und eigene "Verwaltungsstrukturen" schaffen. Der Trend zur Bildung von kommunalen Parallelstrukturen in Form so genannter Landgemeinden ist bundesweit zu beobachten. Um dies zu unterstreichen werden eigene "Legitimationspapiere", "Ämter" u.ä. ins Leben gerufen. Grund der Beobachtung Die fundamentale Ablehnung des Staates und seiner gesamten Rechtsordnung beinhaltet unter anderem die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Zuweilen werden auch antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet oder sogar der Holocaust geleugnet. Damit ist die Szene als verfassungsfeindlich und extremistisch im Sinne des SS 4 Abs. 1 Nr. 1 VerfSchG LSA einzustufen. Weiterhin können Bestrebungen von "Reichsregierungen", "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sein, was ebenfalls eine Verfassungsfeindlichkeit im Sinne des SS 4 Abs. 1 Nr. 1 VerfSchG LSA bedeutet. Soweit diese Bestrebungen im Einzelfall auch mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, richtet sich dies gegen den Gedanken der Völkerverständigung und stellt somit eine Verfassungsfeindlichkeit im Sinne SS 4 Abs. 1 Nr. 5 VerfSchG LSA dar. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In Sachsen-Anhalt ist die Reichsbürgerszene von einer Vielzahl von Einzelpersonen geprägt. Etwa 30 Prozent der hiesigen "Reichsbürger und Selbstverwalter" sind in Personenzusammenschlüssen aktiv, vorrangig in den Gruppierungen "Königreich Deutschland", "Freistaat Preußen", "Amt für Menschenrecht", "Samtgemeinde Alte Marck" und "Verfassunggebende Versammlung". Sie sind im Internet auch mit überregionalen Personenzusammenschlüssen vernetzt. Die 110 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 ReichsbüRgeRszene Reichsbürgerszene unterliegt stetigen Veränderungen und ist anpassungsfähig an aktuelle Ereignisse. Gegenüber Einzelpersonen agieren Gruppierungen zielund zweckgerichteter. Daher sieht die Verfassungsschutzbehörde in der Aufhellung solcher Reichsbürgergruppierungen einen Arbeitsschwerpunkt. "NeuDeutschand / Königreich Deutschland" Im Jahr 2009 gründete der Esoteriker Peter FITZEK (Lutherstadt Wittenberg) den Verein "NeuDeutschland". Er tritt seit 2012 als "König" des "Königreich Deutschland" (KRD) in Erscheinung. Gemeinsam mit seinen Anhängern leugnet er die Geltung der hoheitlichen Befugnisse und Rechtsgrundlagen der Bundesrepublik Deutschland auf dem "Hoheitsgebiet" des "Königreich Deutschland". In der Folge geriet FITZEK des öfteren in Konflikt mit dem Staat und wurde mehrfach verurteilt oder gar inhaftiert. Nachdem FITZEK am 31. Oktober 2018 inhaftiert worden war, wurde er am 11. Februar aus der Haft entlassen. Die Haftzeit, die FITZEK aufgrund des Verdachts der Untreue in Tateinheit mit unerlaubten Bankgeschäften in Untersuchungshaft verbracht hatte, wurde auf die Gesamthaftstrafe wegen Fahrens ohne Führerschein in mehreren Fällen sowie nicht genehmigter Krankenversicherungsgeschäfte angerechnet. Unmittelbar danach veröffentlichte die KRD-Homepage am 15. Februar ein Schreiben FITZEKs an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Er fordert die BaFin zum einen auf, die erlassenen Verwaltungsakte aus den Jahren 2013 und 2014 zurückzunehmen und zum anderen Schadensersatz für die aus seiner Sicht rechtswidrig verhängten Zwangsgelder zu leisten. Zur Begründung verwies er darauf, dass der Bundesgerichtshof die Verurteilung aufgrund des Vorwurfs der Untreue Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 111 ReichsbüRgeRszene in Tateinheit mit unerlaubten Bankgeschäften aufgehoben und das Landgericht (LG) Halle das Verfahren anschließend eingestellt hatte. Am 6. März veröffentlichte "Bewusst TV"1 ein Interview mit FITZEK, in dem dieser angab, dass das "System" eine "Art mafiöse Struktur sei" und dass er künftig keine "Strafgerichtsprozesse" mehr "provozieren" werde, da die bankenrechtlichen Fragen für seine Projekte nun geklärt seien. Es wurde deutlich, dass sich FITZEK infolge der Verfahrenseinstellung beim LG Halle bestärkt fühlt, weswegen er seine Aktivitäten wieder intensivieren werde. Dies wurde auch mit der Ankündigung mehrerer Veranstaltungen deutlich, die auf dem Gelände in der Lutherstadt Wittenberg, OT Reinsdorf, stattfinden sollen, wo sich FITZEKs aktuelles Domizil befindet. Insbesondere in der unmittelbaren Folgezeit verstärkte FITZEK seine Aktivitäten. Um neue Anhänger und Investoren zu rekrutieren und seine Ideen zu verbreiten fanden unter anderem folgende Veranstaltungen statt. * April: Zusammenkunft auf dem KRD-Gelände unter dem Motto: "Christusbewußtsein erlangen - Liebe erleben" und "Wir erneuern Deutschland - machen Sie mit!". * Mai: Seminarwochenende unter dem Motto "Freies Unternehmertum im Königreich Deutschland", hier nahmen mindestens 30 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet teil. * Juni: Seminar in Trollenhagen (Mecklenburg-Vorpommern) und Vortragsveranstaltung in Berghülen (Baden-Württemberg). * Juli: Seminare in Hagenhill (Bayern). * September: "KRD-Messe" in Wittenberg. Wie im Vorjahr besuchten mehrere hundert Personen die teilweise esoterisch geprägten Workshops. 1 - "Bewusst TV" wurde 2010 gegründet und ist ein kommerzielles Video-Propagandaprojekt, welches der "Reichsbürgerideologie" sehr nahe steht. Laut Eigenangabe im Internet handelt es sich um einen "Bildungskanal". 112 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 ReichsbüRgeRszene * Oktober: Auftritt auf einer völkisch geprägten Veranstaltung des "Volkslehrers2" in Berlin. Thema war "Deutsche Kultur in Deutschland" und neben FITZEK traten verschiedene Redner der rechtsextremistischen Szene auf. Weiterhin wurden Seminare in der Schweiz auf der KRD-Internetseite beworben. Zudem wird auf der KRD-Internetseite die Neueröffnung der "Königlichen Reichsbank" dargestellt. Es wird eine "steuerfreie und erklärungsfreie Wirtschaftsordnung" versprochen. Weiterhin werden Phantasiewährungen wie "E-Mark" oder "Reichsmark" angeboten, inklusive der Möglichkeit einer Kontoeröffnung in "E-Mark". Hierzu muss allerdings ein Dokument ausgefüllt werden, in dem man sich zur KRD-Verfassung bekennt. Auch nach seiner Haftentlassung ist FITZEK von juristischen Prozessen betroffen. So erhob er - wie bereits im Jahr 2018 angekündigt - auf Grund seiner Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und unerlaubter Versicherungsgeschäfte aus dem Jahr 2017 im Juni Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der EGMR nahm die Klage an, verweigerte aber vorläufige Maßnahmen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland. Am 5. Juli verurteilte ihn das LG Hof (Bayern) wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe 2 - zur Person: siehe Verfassungsschutzbericht 2018 des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat, Seite 61 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 113 ReichsbüRgeRszene von zwei Jahren und acht Monaten. Bei der Strafmaßbemessung wurde eine Verurteilung vom 10. August 2017 vor dem LG Dessau-Roßlau entsprechend einbezogen. Ab dem 4. November fand vor dem LG Dessau-Roßlau das Berufungsverfahren gegen FITZEK wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in 27 Fällen und Beleidigung eines Richter statt. Im Ergebnis wurde FITZEK zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das Urteil ist ebenfalls noch nicht rechtskräftig, da er auch hier unmittelbar nach der Urteilsverkündung Revision einlegte. "Freistaat Preußen" Der "Freistaat Preußen" ist ein Teil der Gruppierung "Staatenbund Deutsches Reich". Weitere Teile sind "Volksstaat Bayern", "Volksstaat Württemberg" und "Republik Baden". Die Gruppierung will "den letzten Zustand des souveränen Rechtsstaates, wie er vor dem Krieg bestand" wiederherstellen, um "den Menschen ihre tatsächliche Staatsangehörigkeit und die damit verbundenen Bodenrechte und Menschenrechte zurückzugeben". Im Berichtszeitraum verschickte der "Freistaat Preußen" monatlich mehrfach "Amtsblätter" und "Proklamationen" an verschiedene Adressen innerhalb der Landesverwaltung Sachsen-Anhalt. Beispielhaft sei auf folgende "Schriften" verwiesen: * "Amtsblatt Nr. 26 vom 05. Januar 2019" - hier wird ausführlich dargestellt, dass alle Beamten und Bediensteten der Verwaltung "aufgrund fehlender Staatshaftung persönlich für ihr Handeln und in unlimitierter Höhe mit ihrem Vermögen bis in die dritte Generation" haften würden. * "Niederschrift und Anordnung Nr. 02062019" mit dem Titel "Anerkennung und Schutz der Staatsangehörigen des Freistaats Preußen als indige, autochthone Minderheit" - hier wird erneut zum Ausdruck gebracht, dass die "Staatsangehörigen des Freistaats Preußen nicht der Herrschaftsgewalt der Bundesrepublik Deutschland" unterlägen. 114 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 ReichsbüRgeRszene * "Amtsblatt Nr. 32 vom 05. Juli 2019" hier wird ausführlich dargestellt, dass das "Deutsche Reich" mit seiner Verfassung von 1871 weiter existiere und immer noch Besatzungsrecht gelte. "Samtgemeinde Alte Marck" Die "Samtgemeinde Alte Marck" ist etwa seit Ende 2015 aktiv und sieht sich als die erste Gebietskörperschaft in "Deutschland als Ganzes", die die Rechtsfähigkeit wiedererlangt habe. Die Bundesrepublik Deutschland deklariert sie als "Scheinstaat". Es handelt sich hierbei um so genannte "Selbstverwalter". Auch im aktuellen Berichtszeitraum gab die "Samtgemeinde" über ihr "Büro" in Arendsee (Altmarkkreis Salzwedel) Bürgertreffen bekannt und bot Hilfe bei Auseinandersetzungen mit Behörden an. Anhänger der "Samtgemeinde" beschäftigten mit ihren reichsbürgertypischen Schreiben die Verwaltungsbehörden des Landes. Im Juni erfolgte bei den Hauptprotagonisten der "Samtgemeinde Alte Marck" die Vollstreckung eines DurchsuchungsbeschlusVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 115 ReichsbüRgeRszene ses des AG Stendal wegen des Verstoßes gegen das Waffengesetz. Im Zuge dessen wurde eine Waffenbesitzkarte und die darauf eingetragene Waffe mit Munition aufgrund eines rechtskräftigen Bescheides des Landkreises Stendal sichergestellt. "Amt für Menschenrecht" (AfM) Die bundesweit agierende Gruppierung "Amt für Menschenrecht" ist eine der zahlreichen "Reichsregierungen". Sie tritt unter wechselnden Bezeichnungen auf, wie zum Beispiel "Internationales Zentrum für Menschenrechte", "Internationales Zentrum Menschenrecht", "Gerichtshof der Menschen" oder "Akademie für Menschenrechte". Führungsperson ist der schuldunfähige Mustafa Selim SÜRMELI (Stade, Niedersachsen), der strafrechtlich nicht belangt werden kann. Vom 8. bis 10. März veranstaltete das AfM in einem Gartenlokal in Halle (Saale) ein "Seminar" zu den Themen "Bewusstsein, Quantenkommunikation bzw. Schulung von Rechtsbeiständen". Die Teilnehmer kamen aus Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. "Verfassunggebende Versammlung" (VV) Die VV wurde laut Eigenangabe im Internet im Oktober 2015 "in den rechtswirksamen Stand" versetzt. Sie lehnt die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und das Grundgesetz mit der gesamten Rechtsordnung ab und möchte statt dessen eine neue Verfassung für Deutschland erarbeiten. 116 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 ReichsbüRgeRszene Mit zahlreichen bundesweiten Postwurfsendungen wird versucht, Bürger zum Mitmachen zu bewegen. Die Gruppierung tritt meist im virtuellen Raum in Erscheinung. Das "Presseorgan" der VV veröffentlichte im August auf seiner Internetpräsenz "ddb-news" "Listen krimineller Politiker". Hierin werden verschiedene vermeintliche Straftaten von Politikern der Parteien CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE und FDP aufgeführt. Die Personen werden namentlich genannt und der angebliche Tathergang geschildert. Kommentiert wird die Liste mit den Worten: "Die Deutschen hätten es verdient, endlich wirkliche Volksvertreter statt Volksverräter und kriminelle Subjekte zu bekommen." Aus Sachsen-Anhalt wurden drei Personen gelistet. Weitere Aktivitäten von "Reichsbürgern" Das LG Halle verurteilte am 17. April den "Gründer" des "Staates Ur", Adrian URSACHE, wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Freiheitsstrafe. URSACHE hatte bei einem Polizeieinsatz am 25. August 2016 mit einem Revolver auf einen SEK-Beamten geschossen, dieser war nur auf Grund seiner Schutzausstattung nicht zu Schaden gekommen. Der Prozess endete damit nach 56 Verhandlungstagen, an denen URSACHE sich unter anderem selbst darstellte, Richter und Staatsanwälte beschimpfte und das Gerichtsverfahren an sich nicht anerkannte. Die jeweiligen Prozesstage verliefen unter hohen Sicherheitsvorkehrungen störungsfrei und wurden von einer gleichbleibenden Zahl von etwa zehn "Reichsbürgern" beobachtet. Wenige Tage nach der Urteilsverkündung legten URSACHEs Anwälte Revision ein. Bewertungen, Tendenzen, Ausblicke Die systematische Auswertung von Vorkommnissen mit eindeutigem Reichsbürgerbezug verdeutlicht, dass die Szene vielfältige Aktivitäten sowohl in der Realwelt als auch im virtuellen Raum entwickelt. Das Personenpotenzial der Szene ist konstant. Etwa 10 Prozent der erfassten "Reichsbürger und Selbstverwalter" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 117 ReichsbüRgeRszene sind auch dem Rechtsextremismus zuzurechnen. Die vorrangig von Einzelpersonen begangene "Vielschreiberei" und die unmittelbare Konfrontation mit Behörden und Ämtern sind die gängige Strategie der Reichsbürgerszene in Sachsen-Anhalt. Neben dem Versenden von seitenlangen pseudojuristischen Argumentationen nimmt auch das Sammeln und Veröffentlichen von Daten über Behörden und deren Mitarbeiter zu. Des Weiteren zeigte sich im Berichtszeitraum, dass die Reichsbürgerszene besser vernetzt ist als bisher angenommen. Es ist zu erwarten, dass sich die vielen im Internet zu findenden "Reichsbürgerphantasien" noch stärker ausbreiten werden. Die Ideologie der "Reichsbürger und Selbstverwalter" ermöglicht es, politikund staatsverdrossene Personen in ein verschwörungstheoretisches Weltbild einzubinden und ihnen so einfache Antworten auf komplexe Zusammenhänge zu geben. Angehörige der Reichsbürgerszene treten mitunter gewalttätig gegenüber Behörden auf. Hier ist besonders eine hohe verbale Aggression in Form von Beleidigungen, Bedrohungen bis hin zur Nötigung kennzeichnend. Hohes Gefährdungspotentizial haben hierbei diejenigen "Reichsbürger", die über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügen und sich waffenaffin zeigen. Bundesweit sind etwa drei Prozent der Szeneangehörigen Inhaber einer waffenrechtlichen Erlaubnis. Der Verfassungsschutz übermittelt deshalb seine Erkenntnisse umgehend an die für den Entzug der waffenrechtlichen Erlaubnisse zuständigen Behörden. Aufgrund des konsequenten staatlichen Verfolgungsdrucks ist davon auszugehen, dass das Personenpotenzial der Reichsbürgerszene zwar hoch bleibt, aber nicht mehr stetig anwachsen wird. 118 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus LINKSEXTREMISMUS Linksextremismus als heterogenes Phänomen stellt ein Sammelbecken für unterschiedliche Strömungen dar, die jeweils gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Bei aller Vielschichtigkeit wissen sich Linksextremisten in der Betonung der menschlichen Fundamentalgleichheit einig, sie ziehen hieraus jedoch denkbar radikale Konsequenzen. Das Ziel ist die totale Befreiung des Menschen aus allen gesellschaftlichen Zwängen und die Errichtung einer herrschaftsbzw. klassenlosen Ordnung. Auf diesem Wege richtet sich ihre Ideologie gegen die Werte und Verfahrensregeln des demokratischen Verfassungsstaates, dessen Bestand sie - teilweise unter Zuhilfenahme von Gewalt - angreifen und damit auf revolutionärem Wege überwinden wollen. In dem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit ordnen sich linksextremistische Ideologien nach den ideengeschichtlichen Grundströmungen des Anarchismus und des Marxismus. Während beide Phänomene in der Vorstellung von einer befreiten Gesellschaft als utopisches Endziel übereinstimmen, unterscheiden sie sich doch in der Wahl der Mittel. So schließen anarchistische Ideologien aus ihrem übersteigerten Gleichheitspostulat auf einen absoluten Freiheitsgedanken im Sinne einer herrschaftslosen Gesellschaft. Damit lehnen sie den Staat, jedwede gesellschaftliche Ordnung und die damit einhergehenden Regeln für das Miteinander ab. Das individuelle Freiheitsrecht rückt in den Mittelpunkt der Ideologie, sodass bereits in dem eigenen Tun und Handeln das revolutionäre Moment vorgelebt werden soll. Das Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit und die grenzenlose Vernunft des Menschen bilden die ideologischen Eckpfeiler und bedingen eine gewisse Skepsis gegenüber politischen Theorien, was sich nicht zuletzt in einer stets wiederkehrenden Anti-Haltung verdeutlicht. Von dieser Bewertung der individuellen Freiheitsrechte unterscheidet sich der Marxismus. Im Sinne einer umfassenden Ausweitung des Gleichheitspostulats auf eine Vielzahl von Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 119 Linksextremismus gesellschaftlichen Dimensionen wird primär der Kapitalismus bekämpft. Im Wege eines revolutionären Umsturzes soll das bestehende politische System zerschlagen und von einer "Diktatur des Proletariats" ersetzt werden. Eine "proletarische Avantgarde" soll den Staat dann nach und nach zum Absterben bringen, so dass die klassenlose Gesellschaft wiederauferstehen kann. Wie das Vorgehen und die zu treffenden Maßnahmen letztlich zu organisieren sind, begründet das ungebrochene Theoriebewusstsein kommunistischer Gruppierungen und der Rückgriff auf ihre geistigen Väter wie Lenin, Trotzki, Stalin oder Mao. Nicht nur vor diesem Hintergrund stehen Kommunisten und Anarchisten in einem gewissen Spannungsverhältnis, untergräbt die Verabsolutierung kollektiver Gleichheitsrechte in der marxistischen Revolution doch systematisch die individuellen Freiheitsrechte. Eine Zusammenarbeit gibt es wiederum dort, wo die gesellschaftliche Kritik für die revolutionären Ziele eingespannt und instrumentalisiert werden kann. Vor diesem Hintergrund lassen sich verschiedene Strategien unterscheiden, mit denen die linksextremistische Agenda umgesetzt werden soll. Während parlamentsund organisationsorientierte Parteien bzw. Gruppen einen legalistischen Weg einschlagen, gehen aktionsorientierte Bestrebungen - überwiegend autonome oder anarchistische Personenzusammenschlüsse - gewaltsam vor. Das entsprechende Personenpotenzial in Sachsen-Anhalt hat sich wie folgt entwickelt: Linksextremisten 2017 2018 2019 Gewaltbereite Linksextremisten 230 270 290 (Autonome, Postautonome, Anarchisten) Parteien und sonstige Gruppierungen, 260 260 260 unter anderem die "Rote Hilfe e.V." (RH) Gesamt: 490 530 550 (Zahlen zum Teil geschätzt und gerundet) 120 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Bei der Angabe des Gesamtpotenzials ist von Doppelmitgliedschaften auszugehen. So sind Autonome häufig auch Mitglieder in der RH, die als feste Organisation der zweiten Kategorie zugeordnet wird und dort über den größten Anteil am Mitgliederpotenzial verfügt. Zu den Postautonomen gehören Mitglieder der "Interventionistischen Linken" (IL). Der Organisationsgrad dieser Gruppierungen ist wesentlich stärker ausgeprägt als bei schwach ausgebildeten Organisationsstrukturen von Autonomen. Die Aktivitäten der Linksextremisten in Sachsen-Anhalt waren im Berichtsjahr erneut von einem erhöhten Aktionsniveau geprägt. Hierbei sind insbesondere die gewaltbereiten Linksex-tremisten zu nennen, die für einen Großteil der verzeichneten Straftaten der politisch motivierten Kriminalität - links - (PMK - links -) verantwortlich waren. Insgesamt stiegen die registrierten Fallzahlen von 280 Taten im Jahr 2018 auf 418 Taten im Jahr 2019. Ein Großteil der Gewaltstraftaten richtete sich gegen Sachen, allerdings waren auch körperliche Angriffe auf Personen mit teils erheblicher Gewalt zu verzeichnen. Neben situativ und teilweise spontan entstandenen Konfrontationen, zum Beispiel im Rahmen von versammlungsrechtlichen Aktionen, wurden gezielt Aktionen gegen missliebige Personen verübt. Die dabei verwirklichten Straftatbestände reichen von Beleidigungen, Sachbeschädigungen und Körperverletzungen bis hin zu körperlichen Attacken, bei denen der Tod des Angegriffenen zumindest billigend in Kauf genommen wird. Hier sei insbesondere auf das versuchte Tötungsdelikt am Bahnhof Dessau-Roßlau hingewiesen. (siehe Seite 135) Dieser Angriff erfolgte nicht spontan aus einer Situation heraus, sondern war offensichtlich geplant. Das Opfer - ein bekannter Rechtsextremist - war allem Anschein nach bewusst ausgewählt worden, die Tatgelegenheiten sowie die Fluchtmöglichkeiten wurden zuvor ausgekundschaftet und der Ablauf des Angriffs in der Gruppe abgestimmt. In Teilen der gewaltbereiten linksextremistischen Szene gibt es offenbar auch hinsichtlich der Gewalt gegen Personen keine Hemmschwelle. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 121 Linksextremismus Der in der Szene vorzufindende Radikalisierungsgrad ist seit Jahren auf einem hohen Niveau. So haben Magdeburger Linksextremisten bereits mehrfach an überregionalen Kampfsportveranstaltungen teilgenommen, zum Beispiel an einer Veranstaltung im Juni im so genannten "sozialen Zentrum 'Rozbrat'" in Poznan (Polen). Der Kampfsport dient dabei eindeutig einer politischen Agenda. So wird in einer Magdeburger Szenezeitschrift kritisiert, dass das Sporttreiben (z.B. Muay Thai) nicht mehr mit einem klaren politischen Ziel und einer Idee von einer alternativen Gemeinschaft verbunden sei. "Macht euch fit mit einem klaren Ziel, sich gegen politische Gegner*innen aufzurüsten.", heißt es am Ende der Kolumne mit dem Titel "Sport als lifestyle". Wesentliche Aktionsfelder im Linksextremismus waren im Berichtsjahr vor allem "Antifaschismus", "Antirassismus", "Antinationalismus", "Antirepression" sowie "Antikapitalismus". Diese Themen sind szeneübergreifend für nahezu alle Linksextremisten von Bedeutung. Des Weiteren spiegelt sich in diesen Feldern oftmals die allgemein in der Gesellschaft vorzufindende Polarisierung wieder. Dabei beteiligten sich Linksextremisten aus Sachsen-Anhalt nicht nur lokal oder regional, sondern auch in bundesweit propagierten linksextremistischen Kampagnen. In den Themenfeldern "Antifaschismus", "Antirassismus" und "Antinationalismus" geht es den Linksextremisten nicht nur um eine demokratische und damit gewaltlose Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Vielmehr wird dies zu einem Kampf gegen den demokratischen Staat und die bürgerliche Gesellschaft ausgedehnt, denen eine Mitschuld am Aufkommen des Faschismus, des Rassismus und des Nationalismus sowie eine Unter122 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus stützung der "Nazis" zugeschrieben wird. Für Linksextremisten steht "Antifaschismus" daher auch für die Forderung nach einer Überwindung der bestehenden Gesellschaftsund Staatsordnung und ist somit auch ein Angriff auf den Staat und nicht lediglich eine Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Im Themenfeld "Antikapitalismus" wird der Kapitalismus nicht als reine Wirtschaftsordnung angesehen, sondern als Grundübel und Auslöser von Kriegen, Rassismus oder ökologischen Katastrophen. Kapitalismus und demokratischer Verfassungsstaat werden dabei gleichgesetzt, so dass im Endeffekt beides zu bekämpfen ist. Im Themenfeld "Antirepression" wird der Staat als ein Erfüllungsgehilfe des Kapitals angesehen, der einen repressiven und willkürlichen Sicherheitsapparat unterhält und linke Politik kriminalsisiert, um so die "ökonomischen Machtverhältnisse" aufrechtzuerhalten. Linksextremisten sind hier insbesondere zweifach aktiv. Einerseits werden rechtsstaatliche Maßnahmen diskreditiert, andererseits werden "Solidaritätskampagnen" für von Strafverfolgung betroffene Szeneangehörige organisiert. Neben diesen "klassischen" Themen traten, den Ereignissen im Berichtsjahr geschuldet, auch neue Aspekte in den Vordergrund. So gab es Versuche einer linksextremistischen Beeinflussung der "Klima-Bewegung", indem die Szene das Thema aufgriff und entsprechend agierte. Linksextremisten möchten so eine Anschlussfähigkeit an Teile des nichtextremistischen Bereichs erlangen, damit dort die Abgrenzung zu Positionen und Verhaltensweisen des Linksextremismus schwindet bzw. diese Positionen und Verhaltensweisen als legitim und nicht mehr extremistisch bzw. verfassungsfeindlich wahrgenommen werden. Ein weiteres relevantes Themenfeld war die "Kurdistan-Solidarität". Die bestehenden Verbindungen zwischen Linksextremisten Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 123 Linksextremismus und Anhängern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK wurden infolge der politischen Situation in Syrien bestärkt. Mit dem Beginn der türkischen Militäroperation in Nordsyrien am 9. Oktober fanden deutschlandweit Protestkundgebungen statt, an denen sich Linksextremisten und Anhänger der PKK-beteiligten. Die deutsche linksextremistische Szene hatte dies im Vorfeld der Militäroperation angekündigt und trat in der Folge oftmals als Organisator dieser Veranstaltungen in Erscheinung. Auch in Sachsen-Anhalt kam es zu entsprechenden Aktionen. Mit ihren "klassischen" und den vorgenannten neuen Themen verstehen es die Linksextremisten, ihre ideologischen Positionen mit nichtextremistischen Themenfeldern zu verknüpfen, die eine Anschlussfähigkeit bis weit in die Gesellschaft hinein besitzen. Wie andere Extremisten so greifen auch Linksextremisten tatsächliche oder auch nur empfundene Missstände auf, dramatisieren sie und präsentieren im Anschluss ihre "einfache" Lösung, die auf der jeweiligen Ideologie basiert. Darüber hinaus verfügen insbesondere Autonome mit ihrem aktionsbezogenen Handeln über ein hohes Maß an Anziehungskraft und Rekrutierungspotenzial gegenüber "erlebnisorientierten" jungen Menschen. Ihr Ziel ist ein Leben frei von Zwängen unter Missachtung von Normen und Autoritäten. Diese Strategie der Entgrenzung stellt eine wesentliche Herausforderung in der Beobachtung und Bewertung des Linksextremismus dar. 124 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Gewaltbereite Linksextremisten, insbesondere Autonome Sitz Schwerpunktregionen in Magdeburg, Halle Verbreitung (Saale) und Burg (Landkreis Jerichower Land) Bundesweite Verteilung mit lokalen Hochburgen, vorwiegend in Großstädten außerhalb von Sachsen-Anhalt Gründung Entstanden Ende der 1970er Jahre aus den Ausläufern der Studentenbewegung der 1968er Jahre, der Sponti-Szene der 1970er-Jahre und der Punk-Subkultur; seit Anfang der 1990er Jahre in allen Bundesländern. Struktur Autonome sind ihrem Selbstverständnis entAufbau sprechend hierarchiefeindlich und lehnen daher festgefügte Organisationen bzw. Strukturen ab. Organisationsformen sind meist in Zusammensetzung und Namensgebung wechselnde Kleingruppen. Das Internet wird als offenes Kontaktmedium genutzt. Daneben gibt es geschlossene konspirative Foren. Überregionale Treffen mit Delegierten sind thematisch gebunden. Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 290 gewaltbereite Anhänger Linksextremisten, insbesondere Autonome (2018: 270) Bundesweit: 9.200 gewaltbereite Linksextremisten, darunter 7.400 Autonome (2018: 7.000 / 6.300) VeröffentWeb-Angebote: szenebezogene Internetportale, lichungen wie z.B. de.indymedia.org oder eigene Blogs bzw. Internetseiten Soziale Netzwerke Publikationen: Szenepublikationen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 125 Linksextremismus Finanzierung Spenden, Solidaritätskonzerte oder -partys für anlassbezogene Aktionen und Kampagnen Kurzportrait / Ziele Den Großteil des gewaltorientierten Personenpotenzials stellen Autonome. Sie agieren in lockeren Kleingruppen. Autonome verweigern sich grundsätzlich gesellschaftlichen und staatlichen Normen und Verpflichtungen sowie einer Teilnahme am kapitalistischen Wirtschaftsleben. Autonome treten für eine herrschaftsfreie Gesellschaft nach einer erfolgten Revolution ein. Linksextremistische Theorien werden abgelehnt. Das politische Handeln ist daher von aktuellen politischen Themenfeldern abhängig und stark anlassund aktionsbezogen. Entsprechende Ansatzpunkte sind Antifaschismus, Antirassismus, Antimilitarismus oder Antigentrifizierung. Grund der Beobachtung Autonome sind insgesamt staatsfeindlich, da der Staat aus ihrer Sicht die maximale Hierarchie mitsamt der größtmöglichen Unterdrückung verkörpert und damit der Selbstverwirklichung jedes Einzelnen im Wege steht. Demzufolge müssen der Staat und das gesellschaftliche System abgeschafft werden. Gewalt wird dabei als legitimes Mittel der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner und der Polizei als Teil des "staatlichen Repressionsapparats" angesehen. Die politisch bestimmten Verhaltensweisen von Autonomen - insbesondere das Ablehnen des staatlichen Gewaltmonopols bei gleichzeitigem Befürworten von Gewalt, um die eigenen politischen Ziele durchzusetzen - sind mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die im Berichtsjahr aktiven Akteure bildeten oftmals lockere Formationen. Zu nennen sind insbesondere folgende Gruppierungen, die bereits in den Vorjahren aktiv waren: 126 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus "Zusammen kämpfen" (ZK) ZK ist im Jahr 2008 aus anderen autonomen Zusammenschlüssen Magdeburgs hervorgegangen, fordert für sich selbst eine "verbindliche teilbereichsübergreifende Organisierung" und nutzt den ebenfalls im Jahr 2008 eröffneten "Infoladen" als Treffpunkt. "Proletarische Autonomie Magdeburg" (PAM) PAM ist eine Gruppierung von "AnarchistInnen" und "KommunistInnen", die es als vordringliche Aufgabe ansieht, ein Klassenbewusstsein zur Organisierung der proletarischen Linken zu entwickeln. Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union (FAU) Die 1977 gegründete FAU versteht sich als eine Gewerkschaft, die im "weltweiten Kampf der Anarchosyndikalisten" in der "Internationalen ArbeiterInnen Assoziation" eingebunden ist. Als Anarchosyndikalisten organisieren sie sich gewerkschaftlich, um langfristig das bestehende Staatssystem revolutionär zu überwinden und durch ein klassenund staatenloses System zu ersetzen. Ihr unmittelbares Ziel ist der Aufbau revolutionärer Gewerkschaften und militanter Betriebsgruppen. In Sachsen-Anhalt ist die FAU mit regionalen Ortsgruppen in Halle (Saale) und Magdeburg aktiv. An potenzielle Mitglieder unterbreiten sie Hilfsangebote, wenn diese von Arbeitslosigkeit oder Streiks betroffen sind. Kurzfristig gesehen verfolgen die Ortsgruppen einen reformistischen Ansatz, um über neu gewonnene Anhänger an Einfluss zu gewinnen und damit die Gesellschaft langfristig nach ihren linksextremistischen Vorstellungen umzubauen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 127 Linksextremismus Interventionistische Linke - Ortsgruppe Halle Die "Interventionistische Linke" (IL) ist ein postautonomer Zusammenschluss und fungiert sowohl als Scharnier zwischen Linksextremisten aus dem gewaltorientierten und dem legalistischen Spektrum als auch zwischen dem linksextremistischen Spektrum und nichtextremistischen Gruppierungen. Ideologischer Schwerpunkt der IL ist der "Antikapitalismus", Ziel ist dabei die Überwindung des Kapitalismus mittels eines "revolutionären Umsturzes". In Sachsen-Anhalt existiert eine Ortsgruppe in Halle (Saale). "Roter Aufbau Burg" (RAB) Beim RAB handelt es sich um die Umbenennung der bekannten Gruppierung "Antifaschistische Aktion Burg" (AAB, Landkreis Jerichower Land). Die Gruppierung sieht sich als "eine kommunistische Gruppe" und möchte "mit Leuten unserer Klasse in Kontakt treten, die genug vom kapitalistischen Ausbeuter-System haben". Gruppierungen mit der Bezeichnung "Roter Aufbau" gibt es bundesweit noch in Hamburg und im Rhein-Ruhr-Gebiet. "Antifaschistische Aktion Salzwedel" (AAS) Bei der AAS aus der Hansestadt Salzwedel (Altmarkkreis Salzwedel) handelt es sich um einen losen Zusammenschluss, in dem seit dem Jahr 2009 ein wechselndes Personenpotenzial agiert. Ihrem autonomen Selbstverständnis entsprechend sind die Protagonisten hierarchiefeindlich und lehnen festgefügte Organisationen und Strukturen ab. Die AAS beschreibt sich als "linksradikale Gruppierung", Treffpunkt ist das "Autonome Zentrum Kim Hubert". 128 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Bemerkenswert ist die Zusammenarbeit mit Linksextremisten aus dem Wendland (Niedersachsen). "Offenes Antifaplenum" (OAP) Das OAP aus Halle (Saale) gehört zum so genannten "antideutschen Spektrum", es versteht sich als "Anlaufpunkt für antifaschistisch interessierte Menschen" - auch ohne Gruppenanbindung." Neben diesen bekannten Gruppierungen traten im Berichtsjahr drei neue in Erscheinung. "die plattform" Am 2. Januar veröffentlichte die dem Anarchismus zuzuordnende Gruppierung "die plattform" ihre Gründungserklärung . Diese Erklärung wurde nochmals in der ersten Ausgabe der eigenen Schriftreihe mit dem Titel "Kollektive Einmischung" verbreitet. In dem Gründungspapier ist eine verfassungsfeindliche Einstellung und Gewaltorientierung zu erkennen. "die plattform" beschreibt sich selbst als erste "anarchakommunistische Organisation" für den deutschsprachigen Raum, die im Gegensatz zu anderen bestehenden anarchistischen Organisationen nicht nur innerhalb der Szene aktiv sein, sondern in die Gesellschaft hineinwirken möchte. Als ihre dringlichste Aufgabe benennt "die plattform", die sich nicht in einer Konkurrenz zu anderen anarchistischen Strömungen sieht, das Verbreiten anarchistischen Gedankenguts innerhalb der lohnabhängigen Gesellschaft. Um den derzeit noch geringen Bekanntheitsgrad zu erhöhen, veranstalteten die Mitglieder der "plattform" im deutschsprachigen Raum mehrere "Aufbauund Vernetzungsreisen" und waren so unter anderem zweimal mit Vorträgen in Magdeburg zu Gast, zuletzt am 29. Mai. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 129 Linksextremismus "Jugend Offensive" (JO) Anlässlich der regelmäßig stattfindenden Demonstrationen der "Fridays for Future"-Bewegung (FFF) veröffentlichte eine neue Magdeburger Gruppierung namens "Jugend Offensive" (JO) mehrere Statements im Internet und nahm auch an den FFF-Demonstrationen teil. Sie wandelte die FFF-Losung ab in "Fridays For Anticapitalist future" und "Klimawandel aufhalten? Kapitalismus abschaffen". In einem veröffentlichten Redebeitrag auf einer FFF-Demon-stration an 12. April in Magdeburg hieß es unter anderem: "Für uns gehen die Forderungen, welche von uns überstellten DelegiertInnen festgelegt wurden, nicht weit genug. So ist von keinem Klimanotstand oder praktischen Finanzierungsmöglichkeiten für die privaten Haushalte die Rede. Anstatt die wahren Verursacher zur Verantwortung zu ziehen, sollen wir alle tief in unsere Tasche greifen... Wir dürfen uns nicht von den etablierten Parteien vereinnahmen lassen ... jede und jeder ist gefragt! Bildet euch, bildet andere, bildet Banden!" In der Folgezeit nahm JO an weiteren Veranstaltungen der linksextremistischen Szene teil und positionierte sich unterstützend zu deren Aktionen. So rief die Gruppierung zu einer Demonstration mit dem Thema "Faschismus tötet hier und heute" auf, die am 28. September in Magdeburg stattfand und an der etwa 150 130 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Personen teilnahmen. Im Aufruf hieß es: "Eine antifaschistische Gesellschaft kann nur eine klassenlose Gesellschaft sein, in der die Menschen die Früchte für ihre Arbeit tragen und sämtlicher Unterdrückung und Ungerechtigkeit gemeinsam entgegentreten." Frauen*vernetzung Magdeburg Im Februar und März unterstützten strömungsübergreifend verschiedene linksextremistische Gruppierungen wie ZK, PAM und FAU die Kampagne "JEDER TAG IST KAMPFTAG! - MAGDEBURG", eine Veranstaltungsreihe der Frauen*vernetzung Magdeburg rund um den 8. März. In der Selbstdarstellung heißt es: "Die Frauen*vernetzung Magdeburg ist ein Zusammenschluss aus Einzelpersonen und einzelnen weiblichen Mitgliedern von verschiedenen politischen Gruppen aus Magdeburg. Wir arbeiten zusammen, um unsere Frauen*kämpfe zu koordinieren und feministische Politik zu machen". Augenscheinlich setzt sich die Frauengruppe aus Mitgliedern der FAU und PAM zusammen und springt auf die gesellschaftliche Ausweitung feministischer Themen auf, um diese für ihre Zwecke einzuspannen. Dabei geht es vor allem darum, neue - in diesem Fall weibliche - Mitglieder für die eigene Agenda zu gewinnen. Dementsprechend verbindet die "Frauen*vernetzung" feministische Themen mit einer allgemeinen antikapitalistischen Rhetorik, erkennt sie in den Frauen doch ein entscheidendes "revolutionäres Potenzial", um "den Kampf gegen dieses System zu intensivieren". In welcher Tradition sich die Gruppe dabei wähnt, zeigt nicht nur ein "Frauen*-Kiezspaziergang" zum 100. Todestag von Rosa Luxemburg, sondern vor allem eine am 11. Oktober in Magdeburg stattgefundene Filmvorführung mit dem Titel "Frauen bildet Banden - eine filmische Spurensuche zur Geschichte der Roten Zora". Die "Rote Zora Deutschland" war eine militante Gruppierung, die in der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren aktiv war und sich u. a. "gegen die alltägliche Gewalt gegen Frauen, gegen Genund Reproduktionstechnologien, Bevölkerungspolitik und internationale Ausbeutungsbedingungen als Ausdruck patriarchaler Herrschaft" gewandt hatte, hieß es zur Einführung Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 131 Linksextremismus des Films. Frauen sollen als aktiver Teil im revolutionären Kampf gegen den demokratischen Verfassungsstaat mobilisiert und vorbereitet werden. Vor diesem Hintergrund fand am 26. Oktober ein "Frauen*-Selbstverteidigungstraining" statt. "Jugendwiderstand" / "Rote Arbeiterjugend Magdeburg" Eine der aktivsten und innerhalb der Szene auch umstrittesten Gruppierungen in den letzten Jahren, der "Jugendwiderstand" (JW) bzw, die "Rote Arbeiterjugend Magdeburg" (RAJ) gab am 9. Juni ihre Auflösung bekannt. Dabei könnte es sich jedoch um ein taktisches Manöver handeln, um sich einerseits aus der szeneinternen Isolation zu befreien und andererseits um einem drohenden Verbot zuvorzukommen. Die nach eigenem Bekenntnis marxistisch-leninistisch-maoistische Gruppierung ist aus dem Umfeld der "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ) hervorgegangen, die zwischen 2009 und 2011 in Berlin diverse (Brand-) Anschläge begangen haben sollen. Zu ihren Vorfeldorganisationen gehörten das "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" (NFG) und die Gruppierung ZK, jeweils mit überregionalen Strukturen. Die anfangs nur in Berlin agierende, ideologisch streng dogma132 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus tisch ausgerichtete und hierarchisch gegliederte Gruppierung weitete ihre Kontakte bundesweit aus, u.a. nach Magdeburg. Bundesweit isolierte sie sich jedoch zusehends auf Grund ihres militärisch anmutenden Habitus, israelfeindlicher Äußerungen und physischer Attacken auf Andersdenkende. So beschrieb der JW in seiner Abschlusserklärung es als Erfolg, dass es heute im ganzen Land "hunderte Jugendliche" gäbe, die mit ihren Ideen und ihrem Auftreten sympathisierten. Andererseits konstatierte die Gruppierung selbstkritisch, das sie sich im Antagonismus zwischen Avantgardeanspruch und Massenorganisation als nicht hinreichend bündnisfähig erwiesen hätte. Szeneobjekte Linksextremisten sind selten in festen Gruppierungen aktiv. Um Anschluss an andere Szeneangehörige zu finden, versammeln sich Linksextremisten oftmals in einschlägigen Szeneobjekten. Szeneobjekte gelten als wichtige Widerstandsstrukturen mit entsprechendem Symbolcharakter. Diese sollen frei von "kapitalistischer Verwertungslogik" sein, vor allem jedoch frei von staatlicher Überwachung und Einflussnahme. In diesen Szeneobjekten versuchen Linksextremisten, das staatliche Gewaltmonopol außer Kraft zu setzen. Mancherorts bilden solche Objekte den Rahmen für eine subkulturelle "Gegenkultur", die auch nicht extremistische Personengruppen anspricht.1 Neben bekannten Objekten wie dem "Infoladen" oder dem LIZ (Libertäres Zentrum) hat sich mit dem "F52" ein drittes Szeneobjekt in Magdeburg etabliert. Im August warb erstmals ein Flyer für ein neu entstandenes "Nachbarschaftscafe" in der Friesenstraße 52, wo ein Raum für "soziale Initiativen und Projekte" entstanden sei. Mittlerweile haben im "F52" bereits Szeneveranstaltungen stattgefunden, das "F52" ist nunmehr auch Kontaktadresse der Magdeburger RH-Ortsgruppe. 1- siehe Verfassungsschutzbericht 2018 des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat, Seite 117 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 133 Linksextremismus Aktionsschwerpunkte (Post)Autonome waren erneut der Taktgeber für linksextremistische Aktivitäten in Sachsen-Anhalt. Ihre Aktionsschwerpunkte waren prägend für die gesamte Szene und deckten dabei sowohl die "klassischen" Themen wie "Antifaschismus", "Antikapitalismus" und "Antirepression" ab, aber auch neue Aspekte wie "Klimawandel" und "Kurdistansolidarität". "Antifaschismus" und Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner Hauptaktionsschwerpunkt der autonomen Szene im Berichtszeitraum war weiterhin der "Antifaschismus". Hier rückte die AfD verstärkt in den Fokus linksextremistischer Agitation. So rief die bundesweite Kampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA) auch in Sachsen-Anhalt zu einem "Antifaschistischen Aktionsmonat Mai" auf, der expansiv genutzt werden sollte, insbesondere für Aktionen gegen die AfD: "Im Kampf gegen den Rechtsruck und die Abschottung der EU-Grenzen, gibt es allerdings noch sehr viel mehr relevante Akteure. Seid kreativ und lasst euch nicht erwischen!". Insbesondere die Aufforderung, sich "nicht erwischen zu lassen" sollte augenscheinlich zu strafrechtlich relevanten Handlungen motivieren. Unter der Überschrift: "Der AfD Sachsen-Anhalt den Wahlkampf versauen!" rief das OAP ebenfalls dazu auf, "die rassistische und nationalistische Hetze der AfD so gut es geht zu verhindern, kritisch zu begleiten und anzugreifen ... Vernetzt euch lokal und regional, probiert euch an unterschiedlichen Aktionsformen und schafft dauerhaft antifaschistische Strukturen!" Am 10. November veröffentlichte "de.indymedia.org" Daten von Wahlkreisbüros sowie Landesbzw. Kreisgeschäftsstellen der AfD aus dem gesamten Bundesgebiet. Aus Sachsen-Anhalt wurden die Anschriften der Landesgeschäftsstelle, von sechs Kreisgeschäftsstellen sowie die ehemalige Anschrift der Kreisgeschäftsstelle des Burgenlandkreises aufgeführt. 134 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Unter dem Titel "Frisch gewählte Blau-braune Schlümpfe zeigen Gesicht" hieß es im zugehörigen Artikel: "Du hast einen miesen Tag? Schlechte Laune? Wurdest gemobbt? Oft hilft bei sowas stumpfe Gewalt! ...Ihr könnt euch bei nachfolgenden Adressen richtig ausleben. Mensch kann Randalieren, Kopulieren und Btm nehmen? Egal. Benehmt euch daneben. Es kostet nix und die Mehrheit hat Spasz. Gerne auch mit Pyro?". Die Veröffentlichung dienstlicher oder privater Adressdaten von Anhängern des gegnerischen politischen Lagers wird in der Regel dazu genutzt, um diesen gegenüber ein Bedrohungsszenario aufzubauen. Die vorliegende Veröffentlichung entspricht einem solchen Szenario, wenngleich konkrete Aufrufe zu Straftaten nicht vorliegen. Anlässlich des 74. Jahrestages der Bombardierung der Stadt Magdeburg im Zweiten Weltkrieg fanden am 19. Januar verschiedene versammlungsrechtliche Aktionen statt. Der "Trauermarsch"2 der rechtsextremistischen Szene wurde von insgesamt 17 Gegenveranstaltungen aus dem linksextremistischen und nichtextremistischen Spektrum begleitet. Blockadeversuche im Vorfeld des rechtsextremistischen Aufzugs mittels in Brand gesetzter Autoreifen konnten Einsatzkräfte der Feuerwehr unterbinden. Während des "Trauermarsches" kam es zu vereinzelten Sitzblockaden von Linksextremisten. Weitergehende Versuche auf die Aufzugsstrecke zu gelangen verhinderte die Polizei mit dem Einsatz von körperlicher Gewalt und Pfefferspray. Im Nachgang ereignete sich in Dessau-Roßlau ein versuchtes Tötungsdelikt, das im Zusammenhang mit dem Demonstrationsgeschehen in Magdeburg stand . Sechs Vermummte griffen vor einer Bahnhofsunterführung im Ortsteil Roßlau eine vierköpfige Gruppe an, die sich auf dem Rückweg vom rechtsextremistischen Aufzug befand. Der offensichtlich geplante Angriff erfolgte unvermittelt und unter Einsatz eines Hammers, eines Schlagrings und eines Totschlägers, so dass die Geschädigten teils erhebliche Verletzungen erlitten. Es kann davon ausgegan- 2 - siehe Seite 78 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 135 Linksextremismus gen werden, dass der Tod der Geschädigten zumindest billigend in Kauf genommen wurde. Aufgrund ihrer Verletzungen mussten zwei Personen stationär aufgenommen werden. Anlässlich des rechtsextremistischen "Fackelmarsches"3 in Magdeburg mobilisierten Linksextremisten für den 5. und 6. April zu Gegenaktivitäten. Unter dem Motto "Staat und Nazis Hand in Hand - organisiert den Widerstand!" gab es am 5. April zunächst eine "Antifaschistische Vorabenddemonstration" mit bis zu 190 Teilnehmern, zu der unter anderem die Gruppierungen ZK, PAM, RAB und die RH-Ortsgruppe Magdeburg aufgerufen hatten. Während des Aufzuges zündeten einige Teilnehmer Pyrotechnik (Bengalos und Feuerwerkskörper) und warfen diese auf die Polizei. Neben Verstößen gegen das Vermummungsverbot gab es Versuche, aus dem Aufzug auszubrechen. An der Aufzugsspitze schlug ein Unbekannter mit einer Transparentfahne in Richtung eines Polizisten. Für den 6. April hieß es im Aufruf: "Alle zusammen gegen den Faschismus!", "Den Fackelmarsch der Faschisten versauen" sowie "Wir rufen auf zu Aktionen zur Störung und Verhinderung dieser widerlichen "Demonstration!". Am Rande dieses Demonstrationsgeschehens organisierten Linksextremisten eine "Outing-Aktion". Man habe "einige Faschisten der 'Bürgerinitiative' an ihren Wohnorten ...mit Farbe und Plakaten aufgesucht. [...] Den Antifaschistischen Selbstschutz organisieren. Faschisten angreifen.", hieß es auf "de.indymedia.org" unter der Überschrift "Kein Rückzugsraum für Faschisten". Magdeburger Szeneangehörige veranstalteten am 18. Juni einen "Kiezspaziergang". Aus der etwa 25-köpfigen Personengruppe heraus wurde ein geparkter PKW beschädigt, man brach den rechten Außenspiegel ab und schmierte auf die Frontscheibe "Fuck Nazis". Infolgedessen sollte die Gruppe polizeilich kontrolliert werden, wobei mehrere Personen unerkannt in verschiedene Richtungen flüchteten. Von insgesamt 18 Personen stellte die 3- siehe Seite 66 136 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Polizei die Personalien fest, es handelte sich um Angehörige der linksextremistischen Szene Magdeburgs. Auf "de.indymedia.org" wurde der Vorgang in linksextremistischer Diktion in einen "Angriff" der Polizei umgedeutet: "In den letzten Monaten gab es einen massiven Anstieg der Bullenpräsenz in Magdeburg im Allgemeinen, wie in Stadtfeld im Besonderen. Betroffen von der verstärkten Belästigung seitens der Staatsgewalt sind vor allem Jugendliche, augenscheinliche Linke und Menschen mit Migrationshintergrund. Uns ist bewusst, dass diese Vorgehensweise der Bullen gängige tägliche Praxis ist. Wir werden uns allerdings davon nicht einschüchtern lassen und werden uns überlegen müssen, wie wir in Zukunft auf diese Schikanen angemessen reagieren." Anlässlich der IBD-Veranstaltung am 20. Juli4 riefen regionale linksextremistische Gruppierungen in der Kampagne "Nice to Beat You" dazu auf, "den 20. Juli zum Desaster für die Identitären und ihren Symphathisant*innen zu machen! Ihren Aktionen gilt es wie immer konsequent und mit allen Mitteln zu begegnen!". Es fand zudem eine starke überregionale Mobilisierung statt. Am 20. Juli stellte die Polizei im Rahmen der Voraufsicht der geplanten IB-Aufzugstrecke mehrere bereitgestellte Steindepots fest und beseitigte diese. Weiterhin unterband die Polizei mehrere Versuche von Linksextremisten, in den Nahbereich der IB-Versammlungen zu gelangen. Es kam jedoch trotzdem zu mehreren Körperverletzungsdelikten gegen Teilnehmer der IB-Kundgebung und zu Sachbeschädigungen mit IB-Themenbezug. Auf der gleichnamigen Kampagnenplattform im Internet wurde der Protestverlauf kommentiert. Dank einer "breiten antifaschistischen Mobilisierung" sei es den "Faschos" nicht gelungen, ihre "ohnehin mickrige Demoroute" zu laufen. Die Demonstrationen und Blockaden seien ein "voller Erfolg" gewesen, was insbesondere an der Organisation im Vorfeld und am Tag gelegen habe. Es wurde betont, dass man trotz des Erfolges nicht stehen blei- 4 - siehe Seite 59 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 137 Linksextremismus ben dürfe. Man wolle die "Neofaschisten in Halle wirksam und nachhaltig in die Schranken weisen". Dies gelinge mithilfe "von militanter Aktion bis Recherche". Angesichts der ergangenen Verlautbarungen und späteren Aktionen der Kampagne "Nice to Beat You" ist davon auszugehen, dass die dem Slogan zu entnehmende verbale Gewalt nicht nur im übertragenen Sinne gemeint war. Für den 28. September hatten die Gruppierungen ZK und JO zu einer Demonstration mit dem Thema "Faschismus tötet hier und heute" aufgerufen. Es nahmen 160 Personen teil, einige davon vermummten sich und legten die Vermummung erst nach mehrfacher Rücksprache mit der Versammlungsleiterin ab. Weiterhin wurde ein pyrotechnischer Gegenstand in Richtung der eingesetzten Polizisten geworfen und mehrere "Bengalos" abgebrannt. Die PAM organisierte am 3. Oktober auf dem Olvenstedter Platz eine Kundgebung unter dem Motto "Mieten runter - Löhne rauf - Wohnungskampf ist Klassenkampf!", es nahmen etwa 50 Personen teil. Die aufgestellten Transparente trugen die Aufschriften: "Kein Tag ohne soziale Freiräume - Mieten runter Löhne rauf!" und "Die Kämpfe der Gefangenen sind Klassenkämpfe - Freiheit für alle politischen und sozialen Gefangenen!". Auf der Internetseite der PAM hieß es hierzu: "Ein weiteres Anliegen war uns, sich mit den Folgen der Einverleibung der DDR in den Staat BRD auseinanderzusetzen und den Nationalfeiertag fernab von Freudentaumel mit unseren Inhalten zu füllen. Die meiste Arbeit ist dabei in die "Magdeburger Volksstimmung", eine neue Zeitung in Magdeburg geflossen. Die Volksstimmung hat die Funktion eines Blattes, mit welchem wir unsere Inhalte nach außen kommunizieren können und welches das Thema Gentrifizierung auf mehreren Seiten umreißt. Die erste Ausgabe hatte eine Auflage von mehreren tausend Stück und wurde hauptsächlich in Stadtfeld verteilt." 138 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus (Ein der PAM zuzuordnender an eine Magdeburger Fassade geschmierter Schriftzug. Einer der Hauptakteure der PAM stammt aus Finsterwalde. Das Kürzel "F13" steht mit der extremistischen Parole nicht im Zusammenhang.) Der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) und die damit verbundene Tötung zweier Menschen am 9. Oktober5 fand auch in der linksextremistischen Szene des Landes seinen Widerhall. So fand in Halle (Saale) am 11. Oktober eine "antifaschistische" Demonstration statt, zu der auch das OAP aufgerufen hatte: "Trauer um und Gedanken an die Betroffenen des Attentats sind wichtig und verdienen ihren Platz. Sie dürfen jedoch nicht zu einer politischen Agenda der Betroffenheit verkommen! Schwer Bewaffnete, die Jagd auf jüdischen Menschen und Migrant*innen machen, lassen sich nicht mit Lichterketten, Schweigeminuten und Mitleidsbekundungen aufhalten. Ihnen gilt das Handwerk zu legen ... Und das auf allen Ebene und mit allen Mitteln! ... Wir wünschen uns Fahnen der Antifaschistischen Aktion, der YPG6 und des Staates Israel in unserem Block." Am 16. November fand in Magdeburg eine Konferenz des brandenburgischen Verlages "COMPACT" mit dem Titel "Gegen den Klimawahn" statt. Die neu gegründete, in ihrer Gesamtheit 5 - siehe Seite 88 6 - Yekineyen Parastina Gel ("Volksverteidigungseinheiten" der militärische Arme der syrischen Schwesterpartei der PKK, siehe Seite ). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 139 Linksextremismus nicht extremistische Kampagne "Keine Bühne für neue Nazis" meldete für den gleichen Tag eine Protestdemonstration an. An dieser beteiligten sich etwa 250 Personen, in der Aufzugsspitze kam es zu Vermummungen. Anschließend veranstaltete die linksextremistische Szene unter dem Motto "Zusammen kämpfen gegen Faschismus und Repression" einen weiteren Aufzug, an dem etwa 90 Personen teilnahmen. Im Aufruf der Gruppierung ZK hieß es: "Nur eine vereint organisiert kämpfende Klasse wird dieses System zu Grabe tragen. Kämpfen wir gemeinsam gegen Repression und für ein Ende des Imperialismus! Solidarität ist eine Waffe!". "Antirepression" Am 18. und 19. Oktober fand im Szeneobjekt "F52" eine Zwei-Tages-Veranstaltung zur "Roten Armee Fraktion" (RAF) statt. Aufgerufen hatten ZK und die RH-Ortsgruppe Magdeburg. Thema am ersten Tag war: "Die Todesnacht von Stammheim als Anlass ...". Der Folgetag stand unter dem Motto: "Das Mai-Papier der RAF als Beispiel für die Verbindung von Theorie und Praxis". Am 8. November fand unter dem Motto "Magdeburg sieht Rot - Gegen Repression" ein "Solidaritätskonzert" statt. Hierzu wurde im Vorfeld umfangreich plakatiert und im Aufruf von ZK hieß es: "Am 8.11. lassen wir es richtig knallen. [...] Das wird keine lame conscious Rap Veranstaltung - hier werden klare Ansagen verteilt und kämpferisch, musikalisch verpackt präsentiert. Seid dabei und gebt euch anständig Klassenkampf & Gesellschaftskritik auf die Ohren." 140 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus "Kurdistansolidarität" Die Solidarität mit den Akteuren der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK ist ein aktueller Vernetzungsund Mobilisierungsschwerpunkt der deutschen linksextremistischen Szene. Dies gilt sowohl für dogmatische als auch für gewaltorientierte Linksextremisten. In Sachsen-Anhalt ist hierbei insbesondere das "Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg" von Bedeutung, ein Zusammenschluss aus Angehörigen der linksextremistischen Szene Magdeburgs und Mitgliedern eines Magdeburger PKK-Vereins. Intensiviert wurde die Zusammenarbeit infolge der Ereignisse in Syrien. Am 9. Oktober begann hier eine türkische Militäroperation, deren Ziel die Errichtung einer "Sicherheitszone" im Norden des Nachbarlandes ist. Dafür rückte das türkische Militär zunächst gegen Stellungen der YPG vor. In der Folge kam es deutschlandweit zu Protestkundgebungen, an denen sich Linksextremisten beteiligten oder die von ihnen initiiert waren. So fand am 10. Oktober auf dem Vorplatz des Magdeburger Hauptbahnhofs eine Protestkundgebung statt, zu der das "Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg" aufgerufen hatte. Die etwa 500 Teilnehmer riefen Parolen wie "Deutsche Panzer raus aus Kurdistan" oder "Hoch die Internationale Solidarität". Am 12. Oktober versammelten sich etwa 600 Personen in Halle (Saale) zu einer Kundgebung unter dem Motto "Rojava verteidigen - dem Krieg kein ruhiges Hinterland lassen". Am Rande kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung. Mitglieder des Jugendverbands "REBELL" der "Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands" (MLPD) hatten Flugblätter "Stoppt den faschistischen Angriffskrieg der türkischen Armee! Hände weg von Rojava" verteilt. Auf der Abschlusskundgebung sollen sie von "Antideutschen" provoziert worden sein, diese hätten versucht, das Plakat "Freiheit für Palästina und Kurdistan" zu beschädigen. Anlässlich des "World Resistance Day" rief die Kampagne "#Riseup4Rojava" für den 2. November zu einer Versammlung in Berlin auf. Im "Angesicht der türkischen Barbarei in Nordsyrien" Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 141 Linksextremismus sei das "Gewissen der Menschheit" gefordert, sich dagegen zu erheben. Der Aufruf forderte dazu auf, sich mit "kreativen und vielfältigen Aktionen des zivilen Ungehorsams, Demonstrationen und vielem mehr" zu beteiligen. Insbesondere die IL verbreitete diesen Aufruf und auch das "Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg" rief zur Fahrt nach Berlin auf. Am 2. November fand dann in Berlin-Mitte ein Aufzug mit dem Thema "Stoppt den Krieg - Solidarität mit Rojava" statt, es nahmen bis zu 3.500 Personen teil. Vereinzelt kam es zum Abbrennen von Pyrotechnik sowie zu Vermummungen. Linksextremisten drückten ihre Solidarität jedoch nicht nur in Kundgebungen aus, bundesweit kam es auch zu militanten Aktionen, vorrangig in Form von Blockaden, Brandstiftungen und Sachbeschädigungen. So beschmierten Unbekannte die Fassade eines Unternehmens in Magdeburg mit entsprechenden Parolen. Auf "de.indymedia.org" heißt es dazu: "Im Zuge des antimilitaristischen Aktionstages gegen den Angriffskrieg der Türkei in Rojava am 15.10. wurde die Produktionsstätte des Unternehmens [...] in Magdeburg markiert. [...] fertigt Stellschrauben, Getriebe, Motoren etc. für den Bau von Panzerfahrzeugen, wie beispielsweise dem Leopard 2 Panzer, für die türkische Armee an, [...]." 142 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Linksextremistische Beeinflussung der "Klima-Bewegung" Im Berichtsjahr erfolgte zumindest der Versuch einer Einflussnahme auf die "Klima-Bewegung", indem die linksextremistische Szene das Thema "Klima", welches aktuell eine Vielzahl von Bürgern bewegt, aufgreift und entsprechend agiert. Ein Beispiel ist die bereits beschriebene Teilnahme der JO an den FFF-Demonstrationen in Magdeburg. Bereits am 1. Februar war ein Vorfall zu verzeichnen, der sich im Rahmen einer FFF-Kundgebung auf dem Magdeburger Domplatz ereignete. Hier erschienen zwei MdL der AfD-Fraktion, um mit den Versammlungsteilnehmern ins Gespräch zu kommen. Davon fühlten sich einige Teilnehmer provoziert, so dass es zunächst zu verbalen Auseinandersetzungen kam. Einzelne Teilnehmer beleidigten die MdL mit den Worten: "Ihr Wichser, ihr Dreckschweine, ihr Faschisten - haut ab". Weiterhin wurden beide eingekreist und mit Hilfe von mitgeführten Fahrrädern körperlich angegriffen. Der Wortführer der Auseinandersetzung gehört der linksextremistischen Szene Magdeburgs an. Im "Infoladen" lagen dazu Flyer mit der Aufforderung zur Beteiligung an den Kundgebungen aus, Motto: "Denkt global Handelt lokal" . Auf "de.indymedia.org" wurde eine "Stellungnahme zu den Vorkommnissen auf der Fridays For Future Demo" veröffentlicht, in der es heißt: "...denn selbst ohne antifaschistisch organisiert zu sein, zeigte die Masse der SchülerInnen klare Kante gegen Rechts. Solidarität muss praktisch werden! Kein Raum der AfD! Jugend in die Offensive!". Neben den FFF-Demonstrationen waren es vor allem die Ereignisse rund um den Hambacher Forst in Nordrhein-Westfalen, die Menschen bewegten und damit ein ideales Agitationsfeld für Linksextremisten boten. Das linksextremistisch beeinflusste Bündnis "Ende Gelände", in dem die IL ein führender Akteur ist, hatte hierzu den Slogan Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 143 Linksextremismus "System Change not Climate Change" ausgerufen. Es ist somit deutlich, dass es hier vorrangig um die Etablierung eines neuen politischen Systems geht und nicht um die Bekämpfung des Klimawandels. Vom 19. bis 24. Juni veranstaltete das Bündnis im Rahmen der gleichnamigen "Ende Gelände" - Kampagne im Rheinischen Braunkohlerevier (Nordrhein-Westfalen) eine "Ende Gelände Massenaktion". Angesichts der Symbolkraft des Hambacher Forstes für den Ausstieg aus dem Kohleabbau, aber auch vor dem Hintergrund des bereits siebenjährigen Protestes gegen die Rodung des Hambacher Forstes sowie des vorläufigen Rodungsstopps im Jahr 2018, erfahren Veranstaltungen im Kontext Hambacher Forst erhebliche Beachtung sowohl im nichtextremistischen und gewaltablehnenden aber auch und gerade in der gewaltorientierten linksextremistischen Szene. In Sachsen-Anhalt veranstalteten die "Ende Gelände" - Ortsgruppen Magdeburg und Halle (Saale) entsprechende Mobilisierungsveranstaltungen. Eine vom Bündnis organisierte Busfahrt zur Protestkundgebung nahm auch in Magdeburg Personen auf. Insgesamt wurden im Rheinischen Braunkohlerevier etwa 6.000 Personen festgestellt, die im Aktionszeitraum für das Bündnis "Ende Gelände" aktiv waren. Die Proteste wiesen einen sehr hohen Organisationsgrad auf, das Agieren erfolgte durchgängig 144 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus in so genannten Fingern. Diese bis zu 2.500 Personen starken Finger können sich sehr schnell in Kleingruppen auflösen oder den Aufzug in die Länge ziehen, um so Polizeiabsperrungen zu durchbrechen bzw. zu umlaufen. Politisch motivierte Kriminalität - links - Die Darstellung der gewaltbereiten linksextremistischen Szene findet in den Daten der politisch motivierten Kriminalität (PMK) - links - eine statistische Größe. Im Berichtsjahr wurden insgesamt 418 Straftaten im Bereich der PMK - links - in Sachsen-Anhalt erfasst. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, wo 280 Taten zu verzeichnen waren, ist somit ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Zugenommen haben insbesondere Sachbeschädigungen aber auch Körperverletzungen, die im Zuge des Zusammentreffens mit dem politischen Gegner verübt wurden (Konfrontationsstraftaten). Herausragend war dabei der bereits genannte Angriff auf eine vierköpfige Personengruppe am 19. Januar in Dessau-Roßlau, OT Roßlau. Anbei einige weitere Beispiele für Konfrontationsstraftaten Am 17. Februar kam es in einer Diskothek in der Lutherstadt Wittenberg zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen einer fünfköpfigen Personengruppe und dem später Geschädigten, ein NPD-Mitglied. In der Folge schlug ein Mann mehrfach gegen den Kopf des Geschädigten, stieß ihn gegen eine Hauswand und trat im Anschluss mehrfach auf den am Boden Liegenden ein. Hierbei fielen die Worte: "Dich Nazischwein bekommen wir auch noch." In den frühen Morgenstunden des 23. Februar griffen etwa 30 Vermummte in Burg (Landkreis Jerichower Land) eine etwa 15-köpfige Personengruppe an, die der rechtsextremistischen Szene zugeordnet werden kann. Die angegriffene Gruppe hatte sich im Bereich eines Garagenkomplexes aufgehalten, als die mit Schlagstöcken bewaffneten Vermummten auf sie zukamen und dabei Parolen wie "Nazis raus", "Nazis aufs Maul hauen" und Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 145 Linksextremismus "Alerta alerta Antifascista" gerufen haben sollen. Anschließend seien aus der größeren Personengruppe Flaschen geworfen worden, so dass die Angegriffenen flüchteten. Dabei sei ein Mann zu Fall gekommen, auf den die Angreifer eingeschlagen bzw. eingetreten hätten. Auf der RAB-Facebook-Seite heißt es dazu: "Einigen Antifaschisten gelang es, bereits am ersten Wochenende einer kleinen Gruppe von Neonazis entgegenzutreten. [...] Darauf ist aufzubauen und einen Antifaschistischen Selbstschutz wieder aufleben zu lassen! ... KEIN FUSSBREIT DEN FASCHISTEN! BURG BLEIBT ROT!". Am 3. April setzten in Magdeburg Unbekannte das Fahrzeug eines Mitgliedes der Jungen Alternative (der zugleich Angehöriger der IBD ist) in Brand. Der Betroffene ist bereits in der Vergangenheit im Rahmen einer "Outingaktion" genannt worden. Am 3. Juli teilten Zeugen der Polizei in Halle (Saale) mit, dass zwei maskierte Personen ein mit einem Wappen versehenes Metalltor von der Giebichensteinbrücke in die Saale geworfen hätten. Es handelte sich um das als gestohlen gemeldete Grundstückstor des Vereinsgeländes der Halle-Leobener Burschenschaft Germania. Am Gebäude der Burschenschaft wurden zudem die Schriftzüge "161"7 und "20.07. Faschos angreifen" festgestellt. In einem Video war diese Aktion Teil des Aufrufes für das bereits beschriebene Demonstrationsgeschehen am 20. Juli. Zwei Unbekannte schlugen in den frühen Morgenstunden des 21. November in Halle (Saale) mit einem Gegenstand auf einen geparkten Pkw ein. Der Eigentümer des Fahrzeugs sprach beide aus seiner Wohnung heraus an, woraufhin diese flüchteten. Der Geschädigte ist ein aktives Mitglied der Kontrakultur Halle8. Am Vortag hatte er ein Video veröffentlicht, in dem er sich politisch kritisch gegenüber der "linken Szene" in Halle (Saale) äußerte. 7 - "161" = Antifaschistische Aktion 8 - siehe Seite 60 146 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Bewertung, Tendenzen, Ausblick Hauptträger des gewaltbereiten Linksextremismus werden in Sachsen-Anhalt auch in den kommenden Jahren Bestrebungen aus dem Spektrum der Autonomen sein. Es ist weiterhin von einer hohen Gewaltorientierung auszugehen und klandestine Aktionen abseits eigentlicher Konfrontationsanlässe werden weiterhin auf der Tagesordnung stehen. Der "Antifaschismus" wird aufgrund der gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit des Themas unverändert Hauptschwerpunkt autonomer Aktionsfelder bleiben. Es ist davon auszugehen, dass auch Anlässe nichtextremistischen Protestes genutzt werden, um aktionistisch eigene Interessen einzubringen. Auffallend war eine vergleichsweise hohe Zahl an Szeneveranstaltungen insbesondere in Magdeburg, die ideologische Grundlagen für eine Radikalisierung der linksextremistischen Szene sein könnten. (Ein Bekenntnis zur gewaltsamen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner) Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 147 Linksextremismus "Rote Hilfe e.V." (RH) Sitz Bundesverband: Göttingen Verbreitung (Niedersachsen) bundesweite Verbreitung Gründung 1975 In Sachsen-Anhalt seit 1996 mit der ersten RH-Ortsgruppe in Halle (Saale) existent. Struktur Bundesweit gibt es 51 Ortsgruppen. Aufbau Die lokalen Gruppen wählen auf Mitgliederversammlungen ihre Abgesandten für die Bundesdelegiertenkonferenz, diese tritt mindestens alle zwei Jahre zusammen. Der Bundesvorstand wird für eine Dauer von zwei Jahren gewählt und organisiert als oberstes Organ der RH deren bundesweite Arbeit. Er tagt mindestens zweimal jährlich, verwaltet die Finanzen des Vereins und gibt dessen Zeitung heraus. In Sachsen-Anhalt existieren Ortsgruppen in Halle (Saale), Magdeburg und Salzwedel. Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 190 (2018: etwa 190) Anhänger Bund: etwa 10.500 (2018: etwa 9.240) VeröffentWeb-Angebot: www.rote-hilfe.de lichungen Publikationen: "Die Rote Hilfe" (quartalsweise) Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Vertrieb von Büchern, Broschüren, Informationsmaterial Kurzportrait / Ziele Die RH ist nach ihrem Selbstverständnis eine "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation" zur Unterstützung von Personen, die nach ihrer Auffassung in der " Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer 148 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus politischen Betätigung verfolgt werden". Dabei vertritt die RH kein eigenständiges weltanschauliches Programm, ist jedoch ein bedeutender Bestandteil der linksextremistischen Szene und wirkt organisationsübergreifend. Die zentrale Haltung der RH besteht in der Überzeugung einem Staat gegenüber zu stehen, der mittels eines umfassenden Repressionsapparates herrscht. Die RH stellt die Sicherheitsund Justizbehörden als Unterdrückungsmittel dar, mit denen der Staat ihm politisch missliebige Personen unterdrückt, kriminalisiert und letztendlich wegsperrt. Dadurch spricht sie der Bundesrepublik Deutschland die Eigenschaft als Rechtsstaat ab und sieht in ihr stattdessen ein Willkürregime. Die RH unterstützt linksextremistische Straftäter auf mehrfache Weise. Mittels Kampagnen sollen die Sicherheitsund Justizbehörden diskreditiert werden. Zudem schult sie zu Straftaten bereite Szeneangehörige darin, das Risiko einer Strafverfolgung zu minimieren. Das wichtigste Vorgehen besteht in der politischen, logistischen und finanziellen Unterstützung von Linksextremisten in Ermittlungsund Strafverfahren sowie im Strafvollzug. Erkennt die RH eine Person als "Unterstützungsfall" an, so beteiligt sie sich an Prozessund Anwaltskosten (sowie Strafund Bußgeldern) und vermittelt gegebenenfalls anwaltliche Unterstützung. Grund der Beobachtung Die RH ist ein zentraler Bestandteil der linksextremistischen Szene und betätigt sich in deren Kampagnenfeld "Antirepression". Sie ist eine organisationsübergreifende Unterstützerin von Straftätern aus den unterschiedlichen Bereichen der linksextremistischen Szene. Die RH bekämpft die Bundesrepublik Deutschland, die sie als einen Willkürstaat darstellt, von dem eine politische Verfolgung ausgehe. Die RH an sich agiert nicht gewalttätig, allerdings stabilisiert und motiviert sie das Spektrum der generell zu Straftaten bereiten Linksextremisten, unter Einschluss möglicher Gewalttäter. Auf Grund der von der RH gewährten Hilfestellung und UnterVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 149 Linksextremismus stützung werden Einstellungen geweckt beziehungsweise bestärkt, die begangenes Unrecht bagatellisieren und staatliches Handeln delegitimieren sowie das Abschreckungspotenzial strafrechtlicher Sanktionen verringern. Straftäter werden so von der Auseinandersetzung mit dem von ihnen verübten Unrecht abgehalten. Die RH erfüllt damit eine Gewalt unterstützende Funktion. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Am 2. Februar fand in der Magdeburg ein "Solikonzert" zur Unterstützung der RH statt, das vom Netzwerk "Szene hilft - United we stand" organisiert wurde. Neben dem Auftritt mehrerer Musikbands gab es einen Infostand der RH. Es wurden diverse Flyer präsentiert, u. a. vom RAB und von der RH. Die Flyer der RH behandelten hauptsächlich ein mögliches Verbotsverfahren. Die Konzerteinnahmen sollen u. a. für die RH-Ortsgruppe Magdeburg bestimmt sein, sowie für einen künftigen Rechtsstreit im Falle eines RH-Verbotsverfahrens. Auf der Facebook-Seite von "Szene hilft" hieß es: "Dank allen Supporter_innen können wir 800 EUR an die ROTE HILFE spenden". Am 10. Februar organisierte die hallesche RH-Ortsgruppe im Szeneobjekts "Reil78" eine Vortragsveranstaltung zur Thematik "Auskunftsersuchen". In einem Aufruf hieß es dazu: "Demo, Sprayen, Auswärtsspiel oder kein Licht am Fahrrad - viele von uns haben schon Situationen erlebt, in denen die Polizei unsere Personalien aufgenommen hat. Einige haben sich nach einem Anruf der Polizei auf dem Handy auch gefragt, vorher die Cops eigentlich die Nummer haben. Auch ... die wiederholten Anquatschversuche in Sachsen-Anhalt sollten vielen noch in schlechter Erinnerung sein. Ein Mittel herauszubekommen, welche Daten Verfassungsschutz oder Polizei über uns gespeichert haben, können Auskunftsersuchen sein. In unserem Vortrag wollen wir über polizeiliche und geheimdienstliche Datensammelei sprechen und das Für und Wider von Auskunftsersuchen diskutieren. ..." 150 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Anlässlich des so genannten "Tag des politischen Gefangenen" lud die RH-Ortsgruppe Salzwedel am 15. März zu einer Filmveranstaltung ein. Thema war: "Hamburger Gitter - Der G20 Gipfel als Schaufenster moderner Polizeiarbeit". Seit 1996 instrumentalisieren Linksextremisten den 18. März als "Aktionstag für die Freiheit politischer Gefangener". Vor dem Hintergrund einer scheinbar willkürlichen "Klassenjustiz" solidarisieren sie sich mit inhaftierten Szeneangehörigen, bzw. mit Inhaftierten, die sich für ihre politischen Handlungsfelder instrumentalisieren lassen. Im Rahmen des "Aktionstags" organisieren sie diverse Unterstützungsaktivitäten wie Demonstrationen vor Justizvollzugsanstalten oder Schreiben von Unterstützerbriefen. Weiterhin nutzen sie den Tag, um ihre Forderung das "Knastsystem" abzuschaffen, zu erneuern. Das gewählte Datum soll an 18. März 1848 erinnern. Im Zuge Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 151 Linksextremismus der "Märzrevolution" 1848 kam es an diesem Tage in Berlin zu Barrikadenkämpfen zwischen dem preußischen Militär und Demonstranten, überwiegend Handwerker, Arbeiter und Studenten. Es starben 270 Demonstranten (Märzgefallene), weitere 1.000 wurden verletzt. Unter den Soldaten gab es etwa 200 Tote und 250 Verletzte. Die RH-Ortsgruppe Magdeburg organisierte am 20. Juni eine Informationsveranstaltung zum Thema: "Paranoia Datenschutz - Auskunftsersuchen", um die "polizeiliche und geheimdienstliche Datenerhebung und -speicherung" vorzustellen, über "Für und Wider von Auskunftsersuchen (zu) diskutieren" und einen Blick auf die "vielfältigen polizeilichen Überwachungsmöglichkeiten" zu werfen". Am 1. Oktober begann die RH-Kampagne "Solidarität verbindet". Ziel ist die Stärkung der RH und das Vergrößern des gesellschaftlichen Rückhalts. Es wurden neue Plakate bzw. Flyer entworfen die innerhalb der RH auch Kritik ernteten. So wurde eine "Anbiederung an das bürgerliche Lager" vorgeworfen. Das Layout der Plakate verzichtet auf Gewaltsymboliken, wie z.B. brennende Autos, wie es sonst auch üblich war. 152 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Einer Nachricht auf der Internetseite der Kampagne zufolge sei diese gut gestartet. So habe ein versandtes Rundschreiben binnen vier Wochen zu 200 Neumitgliedern geführt. Zudem hätten viele Einzelmitglieder Flyer, Plakate und Aufkleber bestellt, um diese in ihrem Umfeld zu verbreiten. Allein die Tatsache, dass sich viele sonst passive Mitglieder aktiv an der Kampagne beteiligen würden, sei ein "Riesenerfolg". Bewertung, Tendenzen, Ausblick Eine Änderung der seit Jahren praktizierten Vorgehensweise ist unwahrscheinlich. Auf Grund der aktuellen rechtsstaatlichen Maßnahmen gegen linksextremistische Straftäter, insbesondere im Nachgang der G20-Krawalle - und der damit einhergehenden Delegitimierung dieser Strafverfolgung und Strafprozesse seitens der Szene wird - die RH ihr personelles und finanzielles Wachstum weiter steigern und auch zukünftig ein wichtiger Stabilitätsfaktor der linksextremistischen Szene sein. Insbesondere für gewaltorientierte Bestrebungen und Einzelpersonen wird die RH ihre unterstützende und bestärkende Arbeit fortsetzen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 153 Linksextremismus "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschland" (MLPD) Sitz Bundesverband: Gelsenkirchen Verbreitung (Nordrhein-Westfalen) bundesweite Verbreitung Sachsen-Anhalt: angegliedert im Landesverband Ost Gründung 1982 In Sachsen-Anhalt seit 1992 mit einzelnen Strukturen existent. Struktur Parteivorsitzende: Gabi FECHTNER (NordAufbau rhein-Westfalen) Die Partei ist in mehreren Ebenen organisiert. Betriebsund Wohngebietsgruppen bilden die erste Ebene der Partei. Die zweite Organisationsebene stellen die Ortsgruppen dar. Danach folgt der Kreisverband. Als letzte Ebene folgen die derzeit sechs Landesverbände. Vorsitzender des Landesverbands Ost: Andrew SCHLÜTER (Berlin) Jugendorganisation: REBELL Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 25 (2018: etwa 25) Anhänger Bund: etwa 2.800 (2018: etwa 2.800) VeröffentWeb-Angebote: www.mlpd.de, www.rf-news lichungen Publikationen: "Rote Fahne" (RF) (wöchentlich) "Lernen und Kämpfen" (LuK) (mehrmals jährlich) "Rebell" (zweimonatlich) Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden In wirtschaftlicher Hinsicht stellt die MLPD eine der finanzstärksten linksextremistischen Parteien in Deutschland dar. 154 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Kurzportrait / Ziele Die MLPD ist eine maoistisch-stalinistisch ausgerichtete Partei, die sich an den Lehren von Marx, Engels, Lenin, Mao Tsetung und Stalin orientiert. Ihrem Verständnis nach kann der Kapitalismus nicht reformiert werden, sondern muss revolutionär durch den "echten" Sozialismus abgelöst werden. Trotz Problemen und Niederlagen habe der Sozialismus seine wirtschaftliche, politische und moralische Überlegenheit über den Kapitalismus bewiesen. Über die Mitgliedschaft ihrer Angehörigen in Gewerkschaften versucht die MLPD Einfluss auf die Arbeiter als "Subjekt des Klassenkampfes" zu erlangen. Sie unterstützt die Forderungen der Gewerkschaften bei Streiks, verbindet deren Ziele aber jeweils mit ihrer fundamentalen Kapitalismuskritik und der Forderung nach einer kommunistischen Gesellschaft. Grund der Beobachtung Die MLPD versteht sich selbst als Repräsentantin einer radikal linken und revolutionären Perspektive des "echten" Sozialismus, dessen Errichtung sie propagiert. Ihre Zielsetzung ist eindeutig verfassungsfeindlich. So bekennt sie sich zum Beispiel in der Präambel ihrer Parteistatuten dazu, dass ihr grundlegendes Ziel "der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals" und die "Errichtung der Diktatur des Proletariats" ist. Die Partei will sich zur Erreichung dieses Ziels "...mutig an die Spitze der Kämpfe der Arbeiterklasse stellen". Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bei der Europawahl 2019 erreichte die MLPD, die als "Internationalistische Liste / MLPD" antrat, bundesweit 18.340 Stimmen (0,0 Prozent), in Sachsen-Anhalt waren es 1.165 Stimmen (0,1 Prozent). Als Trägerorganisationen der "Internationalistischen Liste / MLPD" haben sich derzeit 37 Gruppierungen aus unterschiedlichen politischen Spektren - darunter auch deutsche linksund Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 155 Linksextremismus ausländerextremistische Organisationen - zusammengeschlossen. Ziel sei es, "solidarisch, internationalistisch und kämpferisch für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu streiten". Laut eigener Darstellung gehören zu den Trägerorganisationen beispielsweise "Sympathisanten" der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP), die von der EU sowie den USA als Terrororganisation geführt wird oder die "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V." (ATIF), welche dem "Partizan"-Flügel der linksextremistischen "Türkischen Kommunistischen Partei/Marxisten-Leninisten" angehört. Inhaltlich sprach sich die MLPD ausdrücklich gegen die EU aus und schreibt auf ihrer Internetseite: "Die MLPD sagt klipp und klar: Die EU als imperialistischer Block kann nicht reformiert, sondern muss bekämpft werden!". Die MLPD und ihr Jugendverband REBELL veranstalteten am 22. August in Halle (Saale) eine Diskussionsrunde mit dem Titel: "'Antideutsche' - links blinken, scharf rechts abbiegen ...". In der Einladung hieß es: "Gerade in einer Zeit zunehmender Proteste gegen die Rechtsentwicklung der Regierungen, nehmen offene Angriffe und Verleumdungskampagnen gegen antiimperialistische, konsequent linke Kräfte, zu. Neonazis, Teile der sogenannten 'Antideutschen' und von ihnen beeinflusste Personen, scheinen sich darin einig zu sein, dass die MLPD eines ihrer Hassobjekte ist. So auch in Halle: Ausgrenzungsversuche bei antifaschistischen Demonstrationen, Missachtung des Rechtes, Fahnen tragen zu dürfen, ... 156 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus ...In der an den Einleitungsbeitrag anschließenden Diskussion klären wir Fragen und tauschen Erfahrungen aus. Gegen die Rechtsentwicklung der Regierungen brauchen wir ein breites Bündnis. In diesem Sinne laden wir die interessierte Öffentlichkeit ein!" Bereits im Jahr 2018 hatte die MLPD eine Broschüre mit diesem Titel herausgegeben. In dieser wird behauptet, dass die "Antideutschen" "finanziell, personell, propagandistisch und geheimdienstlich von Monopolparteien und reaktionären Kreisen in Deutschland, Israel und den USA massiv gefördert" würden, insbesondere von den "bürgerlichen Medien". Das diene dem Auftrag der "Antideutschen", "in der Arbeiter-, Volksund Jugendbewegung den Charakter einer liquidatorischen Kampftruppe einzunehmen". Bewertung, Tendenzen, Ausblick Es ist davon auszugehen, dass die MLPD die von ihr seit Jahren vertretene ideologische Linie auch zukünftig beibehalten wird. Bei der MLPD ist die internationalistische Bündnisausrichtung mit dem Gedanken der sozialistischen Weltrevolution besonders offensiv ausgeprägt. Dass die Partei explizit den Kontakt zu verbotenen ausländischen Organisationen wie der PKK sucht, erleichtert ihr das Knüpfen von Verbindungen ins aktionsorientierte linksextremistische Spektrum. Um ihr politisches Verständnis auch diesem Spektrum darlegen zu können, scheint die MLPD die Zusammenarbeit über das Internationalistische Bündnis ausbauen zu wollen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 157 Linksextremismus "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Sitz Bundesverband: Essen Verbreitung (Nordrhein-Westfalen) bundesweite Verbreitung Gründung 1968 In Sachsen-Anhalt seit 1997 mit einzelnen Parteigruppen existent. Struktur Sachsen-Anhalt: Vorsitzender des "KoordinieAufbau rungsrates" Matthias KRAMER (Magdeburg) Parteivorsitzender: Patrick KÖBELE (Essen) Die Partei gliedert sich in Grund-, Kreis-, Bezirksund/oder Landesorganisationen sowie eine Bundesorganisation. In Halle (Saale) gibt es eine Ortsgruppe, in Magdeburg sowie in der Region Altmark Einzelmitglieder. Innerhalb der Parteigesamtstruktur ist der Status einer Bezirksbzw. Kreisorganisation nicht erreicht. Daher verfügt die DKP in Sachsen Anhalt lediglich über einen so genannten "Koordinierungsrat". Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 15 (2018: etwa 15) Anhänger Bund: 2.850 (2018: 2.850) VeröffentWeb-Angebote: www.dkp.de, lichungen www.dkp-online.de www.dkp-halle.de Publikationen: UZ - "Unsere Zeit" (wöchentlich) "Marxistische Blätter" (alle zwei Monate) Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden 158 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus Kurzportrait / Ziele Die DKP ist eine marxistisch-leninistische Kernorganisation. Die Partei versteht sich als politische Nachfolgerin der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD). Ihr Ziel ist die Errichtung einer sozialistischen / kommunistischen Gesellschaft durch einen revolutionären Bruch mit den kapitalistischen Machtund Eigentumsverhältnissen. Die DKP bekennt sich zur Ideologie von Marx, Engels und Lenin als Richtschnur ihres politischen Handelns. Grund der Beobachtung Die DKP strebt langfristig einen Systemwechsel in Richtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung an. Mittels eines klassenkämpferisch-revolutionären Aktes sollen die kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnisse, der Parlamentarismus und der politisch-gesellschaftliche Pluralismus überwunden werden. Gewaltanwendung wird dabei nicht ausgeschlossen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Der DKP-Parteivorsitzende Patrick KÖBELE (Nordrhein-Westfalen) übersandte am 13. März ein Rundschreiben an die DKP-Verantwortlichen der Bezirksund Landesorganisationen sowie einen "offenen Brief" an den Bundesvorstand und das Redaktionskollektiv der RH-Mitgliederzeitschrift. Die Schreiben üben inhaltliche Kritik an der aktuellen Ausgabe der RH-Mitgliederzeitschrift und dem Thema: "Repression gegen linke Oppositionelle in der DDR". Dazu schreibt KÖBELE: "Der Schwerpunkt des Heftes 1/2019 ist für eine sich 'strömungsübergreifend' verstehende linke Organisation ein Skandal. Er wird nicht geringer dadurch, dass dieses Heft wohl eine Art Replik auf das Heft 'Siegerjustiz' darstellen soll. Das damalige Heft mag Mitgliedern der 'Roten Hilfe' Anlass zu inhaltlicher Nichtübereinstimmung gewesen sein, im Unterschied zum jetzigen Heft war es aber kein Angriff auf die Geschichte und Identität eines Teils der eigenen Mitgliedschaft. Das Thema [...] wird Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 159 Linksextremismus so ausgeweitet, dass nebenbei auch noch die Geschichte der KPD und der Kommunistischen Internationale im besten bürgerlichen Jargon entsorgt wird. [...] das Kernthema wird so aufgearbeitet, als könne man an die Geschichte der DDR herangehen, ohne die internationale, die europäische, deutsche oder DDR-interne Klassenkampfsituation zu beachten. [...] Dieses Heft ist ein Angriff auf eine der Strömungen, die die Rote Hilfe tragen, und dieser Angriff wird offensichtlich bewusst geführt. Zu einem Zeitpunkt, an dem angesichts der Gefahr eines Verbots der Roten Hilfe linke Solidarität besonders dringend ist, distanziert Ihr Euch mit diesem Heft von den Fundamenten der Organisation." Bei der Europawahl 2019 erreichte die DKP bundesweit 20.419 Stimmen (0,1 Prozent). In Sachsen-Anhalt waren es 1.264 Stimmen (0,1 Prozent). In Ihrem Wahlaufruf hatte sie sich gegen die EU ausgesprochen: "Die 'Europäische Einigung' war von Beginn an ein zutiefst reaktionäres Projekt als Bollwerk gegen den Sozialismus. Im Gegensatz zu manchen Politikern (...) halten die KommunistInnen die EU nicht für reformierbar. Sie muss überwunden werden. Ein Schritt dahin wäre der Austritt aus der EU." Anlässlich des 70. Jahrestags der Gründung der DDR veröffentlichte die DKP-Sachsen-Anhalt im September die Broschüre "Festschrift DKP Sachsen-Anhalt". Am 9. November fand in Strausberg (Brandenburg) eine "DKP-Festveranstaltung zum 70. Jahrestag der DDR" statt, an der etwa 150 Personen teilnahmen. Der Parteivorsitzende Patrick KÖBELE (NordrheinWestfalen) sprach in seiner Eröffnungsrede über den 70. Jahrestag 160 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Linksextremismus der Gründung der DDR und bezeichnete die DDR in diesem Zusammenhang als die größte Errungenschaft der Arbeiterklasse auf deutschem Boden. In weiteren Reden wurden Ereignisse des Novembers 1989 als eine "Konterrevolution" bezeichnet, die den souveränen Staat DDR dann in den folgenden Monaten liquidiert habe. Diese damaligen Ereignisse würden heute von der "Siegerjustiz" unwahr dargestellt. KÖBELE stellte zum Abschluss fest, dass der Jahrestag würdig begangen wurde, die Veranstaltung gelungen sei und man hieraus neue Kraft für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft schöpfen möge. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die DKP ihre seit Jahren vertretene kommunistische Ideologie auch künftig beibehalten wird. Auf Grund innerparteilicher ideologischer und strategischer Streitfragen und eines fehlenden Mitgliederzuwachses droht ein Verbleiben in der politischen Bedeutungslosigkeit. Der DKP ist es erneut nicht gelungen, erfolgreich öffentlich wirksam zu werden. Tragbare Bündnisse mit bürgerlichen Kräften sind nicht in Sicht. Die Partei ist aufgrund des hohen Durchschnittsalters ihrer Mitglieder nicht in der Lage, aktionsorientiert zu agieren und arbeitet daher meist theoriebezogen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 161 IslamIsmus Islamistische Bestrebungen Der Begriff "Islamismus" bezeichnet eine spezifische Form des politischen Extremismus. Unter Berufung auf die Religion des Islam zielt der Islamismus auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Dem Islamismus ist dabei die Überzeugung inne, dass Religion nicht nur eine persönliche, quasi private Angelegenheit sei, sondern auch das öffentliche gesellschaftliche Leben sowie die politische Ordnung eines Staates bestimme oder zumindest in Teilen regle. Diese von Gott gewollte und somit "wahre" (und zugleich absolute) Ordnung, rangiere in ihrer Wertigkeit vor allen von Menschen gemachten Ordnungssystemen. Der Islamismus lässt sich in verschiedene Strömungen untergliedern, den Jihadismus, den islamistischen Terrorismus, den legalistischen Islamismus und den Salafismus. Diese unterscheiden sich hinsichtlich ihrer ideologischen Prämissen, ihrer geografischen Orientierung und ihrer Strategien (bzw. der Wahl ihrer Mittel), können sich aber auch überschneiden, zum Beispiel im Jihadsalafismus. Hier werden Ideologieelemente des Salafismus mit der kämpferische Ausprägung des Jihadismus vereint. - Jihadistische Gruppierungen wie zum Beispiel der "Islamische Staat" (IS) und "al-Qaida" sehen in ihrem Kampf für einen "Gottesstaat" mit terroristischer Gewalt ein unabdingbares Mittel gegen "Ungläubige" und aus ihrer Perspektive korrupte islamische Regimes. Ihre terroristische Agenda ist global und bedroht folglich die gesamte internationale Staatengemeinschaft. - Die Anhänger islamistisch-terroristischer Gruppierungen wie der im Gazastreifen aktiven palästinensischen HAMAS oder der libanesischen "Hizb Allah",1 deren Ziel die Vernichtung des jüdischen Staates Israel ist, sind im Wesentlichen 1 - Die "Hizb Allah" unterliegt in Deutschland einem Betätigungsverbot. 162 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 IslamIsmus auf ihre Herkunftsregionen fokussiert und wenden schwerpunktmäßig dort terroristische Gewalt an. - So genannte legalistische Strömungen versuchen, über politische und gesellschaftliche Einflussnahme eine nach ihrer Interpretation islamkonforme Ordnung durchzusetzen. - Salafisten orientieren sich ausschließlich an einem wortgetreuen Verständnis von Koran und Sunna2 sowie am Vorbild der Gefährten Mohammeds, den so genannten rechtschaffenen Altvorderen3. Sie vertreten dabei einen Exklusivitätsanspruch, beanspruchen die einzig "wahren" Muslime zu sein und lehnen die geschichtliche Entwicklung der Religion des Islam und ihre vielschichtige Ausübung und Interpretation seitens der Muslime ab.4 In der gesellschaftlichen Wahrnehmung werden islamistische Bestrebungen vor allem in der Ausprägung des militanten und insbesondere terroristischen Islamismus und Jihadismus gesehen. Entsprechend motivierte Anschläge und Straftaten sowie mit islamistischen Bestrebungen verbundene konkrete Gefahren sind Ereignisse, die sich unschwer als Bedrohungen erkennen lassen. Das Erfordernis eines entschlossenen Einschreitens gegen diese Phänomene ist unstrittig. Verfassungsschutz, Polizei und Justiz arbeiten bei der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung auf diesem Feld mit ihren jeweiligen Aufgaben und Befugnissen eng zusammen. Aktuell sind damit Fragen verbunden, die sich aus der tatsächlichen oder möglichen Rückkehr von Personen ergeben, die sich freiwillig in das Jihadgebiet begeben und dort terroristischen 2 - Zur Nachahmung empfohlene Handlungsweisen und Aussagen des Propheten Mohammed. 3 - Arabisch: al-Salaf al-Salih. 4 - Vgl. Kompendium des BfV - Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte, S. 61 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 163 IslamIsmus Gruppen angeschlossen hatten. Dies trifft insbesondere auf die Personen zu, die aus ihren (europäischen) Heimatländern in das "Kalifatsgebiet" der Terrormiliz des IS gereist waren und sich dort dem IS angeschlossen hatten. Nach der weitgehenden militärischen Niederlage der IS-Jihadisten sind viele dieser Personen in Gefangenenlagern vor allem in Nordsyrien festgesetzt worden. Darunter zwei aus Sachsen-Anhalt stammende junge Frauen, die 2015 nach Syrien ausgereist waren. Angesichts möglicher Rückkehrer nach Deutschland ist zu klären, ob und inwieweit diese Personen weiterhin einer islamistischen Ideologie anhängen, ob von ihnen eine Gefährdung ausgeht und wie erforderlichenfalls darauf behördlich regiert werden sollte. Ein weiteres Hauptaugenmerk der Sicherheitsbehörden liegt auf dem Bearbeiten von Hinweisen auf (vermeintliche) Jihadisten. In einzelnen Fällen hat dies dazu geführt, dass die Verfassungsschutzbehörde gemäß SS 19 VerfSchG-LSA Informationen an die Strafverfolgungsbehörden übermittelt hat, damit diese entsprechende strafrechtlichen Ermittlungen aufnehmen konnte. Wie schon den in vorangegangen Berichtsjahren handelte es sich dabei hauptsächlich um Hinweise auf Personen mit Migrationshintergrund, bei denen eine Betätigung in jihadistischen Gruppen anzunehmen ist, die als Kriegsparteien im syrischen Bürgerkrieg aktiv waren. Ebenso bedeutsam, aber weniger offensichtlich ist die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die vom legalistischen Islamismus ausgeht, der scheinbar im Einklang mit den Prinzipien unseres Rechtsstaates steht. Legalistische Strömungen des Islamismus sind in der Regel weder mit Straftaten noch mit konkreten Gefahren verbunden. Daher stehen sie - zu Unrecht - wesentlich weniger im Fokus der Öffentlichkeit und werden als weitaus geringere Bedrohung empfunden. Dabei wird verkannt, dass Bestrebungen dieser Art zielgerichtet 164 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 IslamIsmus an der Umsetzung ihres ideologischen Weltbilds arbeiten und ständig versuchen, ihren Einfluss auf und in der Gesellschaft zu erhöhen. Es ist ein schleichender Prozess, der für Außenstehende schwer zu fassen ist, da sich die entsprechenden Akteure in der Regel nach außen angepasst verhalten. Dies darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass auch sie auf die Errichtung einer vermeintlich von Gott gewollten Ordnung abzielen und dass sie einen Absolutheitsanspruch erheben, wonach diese Ordnung über allen von Menschen gemachten Regeln steht. Angesichts dieser Doktrin ist eine Vereinbarkeit mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht gegeben. Das in den letzten Jahren zu verzeichnende Anwachsen des Bevölkerungsanteils mit muslimischer Religionszugehörigkeit bietet den Anhängern legalistischer Strömungen verstärkt die Gelegenheit, für ihre Überzeugungen zu werben. Der Gefahr, dass ihre Vorstellungen und Ideologien auf breitere Akzeptanz stoßen, ist entgegenzuwirken. Dies gilt umsomehr, da die Bereitschaft Einzelner, sich für einen jihadistischen Weg zu entscheiden, zumindest mittelbar über eine Befassung mit legalistischen Ideologieelementen gefördert werden kann. Relevant sind insoweit auch Predigten, die in Sachsen-Anhalt in Moscheen und Gebetsräumen gehalten wurden und werden. In einem kleineren Teil der Predigten konnten Elemente extremistischer Ideologie festgestellt werden. Die so schon im Vorjahr beschriebenen Entwicklungen islamistischer Bestrebungen haben sich im Berichtsjahr fortgesetzt, das entsprechende Personenpotenzial ist erneut angestiegen. Den verschiedenen islamistischen Bestrebungen hierzulande können etwa 400 Personen zugerechnet werden (2018: 300). Nachfolgend werden die in Sachsen-Anhalt prägenden Strömungen näher beschrieben. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 165 IslamIsmus Salafistische Bestrebungen Sitz Schwerpunkte in Nordrhein-Westfalen und in Verbreitung Ballungszentren; in Sachsen-Anhalt landesweit, jedoch ohne gefestigte Strukturen Gründung Ursprünge in Entwicklungen der islamischen Welt besonders im 18. und 19. Jahrhundert Struktur einzelne Aktivisten in Sachsen-Anhalt Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 90 (2018: etwa 80) Anhänger Bund: etwa 12.150 (2018: etwa 11.200) VeröffentWeb-Angebot: diverse Internetauftritte lichungen soziale Netzwerke Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele Der Verfassungsschutz versteht unter Salafismus eine besonders radikale Strömung innerhalb des Islamismus. Salafisten streben nach Wiederherstellung des "authentischen Islam" und nach Umsetzung islamischer Rechtsvorschriften (Scharia), die nach ihrer Auffassung als Gesetz Gottes prinzipiell für die gesamte Menschheit gültig sind. Die Verwirklichung des "authentischen Islam" steht für eine politische Agenda, die in der Errichtung eines islamischen "Gottesstaates" münden soll. Grund der Beobachtung Das verfassungsschutzrelevante salafistische Spektrum wird in die Kategorien "jihadistischer Salafismus" und "politischer Salafismus" unterteilt. Beiden Strömungen gemein sind ideologische Grundlagen und die grundsätzliche Befürwortung von Gewalt; die Übergänge zwischen beiden Richtungen sind fließend. Politische Salafisten vermeiden offene Aufrufe zur Gewalt, sie wollen die Gesellschaft von innen heraus anhand von Missionierungen islamkonform umgestalten. Jihadistische Salafisten 166 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 IslamIsmus fordern die unmittelbare Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer Ziele. Ihnen ist gemein, dass sie die islamische Religion als Ideologie verstehen, die es kompromisslos umzusetzen gilt. Die von Gott vorgeschriebenen Regeln sollen über allem stehen. Salafistische Ideologie steht damit im grundsätzlichen Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der freien Religionsausübung sowie der allgemeinen Gleichberechtigung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In den Moscheen und Gebetsräumen des Landes traten vereinzelt Prediger auf, die salafistische Ideologie propagierten. So wurde in einer Predigt anhand von Beispielen aus dem Leben des Propheten in Mekka des 7. Jahrhunderts, als dieser dort Anfeindungen und Verfolgung ausgesetzt war, behauptet, dass die Muslime in Deutschland ihren "wahren" Glauben nicht ausleben könnten. Dass sie sich daher abschotten müssten. Damit stehen die Inhalte solcher Predigten einer Integration der zugewanderten Muslime entgegen und können bei Einzelnen zudem Hass und Vorurteile auf "den Westen" und die Demokratie schüren. In einer thematisch ähnlich gelagerten Predigt ging es um die Behauptung, dass die Muslime heute überall der Lüge und des Betrugs bezichtigt würden, so wie es dem Propheten widerfahren war. Auch seien Muslime von Tyrannen umgeben. Gleichzeitig wird das dadurch verursachte Leiden als notwendige Reinigung der muslimischen Gemeinschaft betrachtet und der Gang zur Moschee als eine Art Jihad-Handlung hochstilisiert. Das gemeinsame Leiden sei eine Prüfung, die man als gläubiger Muslim zu bestehen habe, woraufhin man erst die Zuwendung von Allah erhalte. Mit diesen drastischen Tönen versuchte der Prediger einen Keil zwischen Muslime und die nichtmuslimische Bevölkerung in Deutschland zu treiben. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 167 IslamIsmus Hieran anknüpfend ist eine Predigt zu nennen, in der es um eine Auswanderung aus einem vermeintlich gottlosen Land ging. Wobei das Auswandern hier nicht im Sinne einer tatsächlichen Ausreise zu verstehen ist. Vielmehr geht es um den Aufbau einer innerlichen Distanz zur nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft und um ein Ablassen von religiös Verbotenem. Islamistischer Terrorismus und jihadsalafistische Organisationen Das von den deutschen Sicherheitsbehörden identifizierte islamistisch-terroristische Personenpotenzial beläuft sich derzeit auf rund 2.170 Personen.1 Entsprechende Terrorgruppierungen sind unter anderen: * Islamischer Staat (IS), * Jabhat al-Nusra (JaN) und entsprechende Nachfolgeorganisationen, * Al-Shabab, * Ahrar al-Sham, * Taliban, * Liwa Mu'ta. Im Berichtszeitraum war der IS weiterhin die bekannteste jihadsalafistische Organisation, die in den Vorjahren auch Jugendliche aus Sachsen-Anhalt angezogen hatte. Da Deutschland an Waffenlieferungen und Ausbildungsmaßnahmen für Gegner des IS beteiligt ist, ist eine Gefährdungslage für deutsche Einrichtungen und Interessen entstanden. Der IS ruft explizit zum Kampf unter anderem gegen Deutschland auf. Neben militärischen Operationen und Attentaten im eigentlichen Operationsgebiet im Irak und in Syrien hat der IS auch regelmäßig Anschläge in Europa verübt oder hierzu inspiriert. 1 - Stand: 4. September 168 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 IslamIsmus Es liegen derzeit Erkenntnisse zu mehr als 1.050 deutschen Islamisten bzw. Islamisten aus Deutschland vor, die in Richtung Syrien/Irak gereist sind. Zu etwa der Hälfte der gereisten Personen liegen konkrete Anhaltspunkte vor, dass sie auf Seiten des Islamischen Staates und der al-Qaida oder denen nahestehenden Gruppierungen sowie anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilnehmen bzw. teilgenommen haben oder diese in sonstiger Weise unterstützen bzw. unterstützt haben. Dies bedeutet, dass zu einem Teil der ausgereisten Personen bislang keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für die Einleitung von Ermittlungsverfahren durch die zuständigen Justizbehörden vorliegen. Im nordsyrischen Flüchtlinglager Al-Haul befinden sich zwei aus Sachsen-Anhalt stammende junge Frauen. Es ist bekannt, dass dort internierte ehemalige IS-Mitglieder sich nicht von der IS-Ideologie abgewendet haben. Einzelne Ausreisesachverhalte werden unverändert erst nachträglich bekannt. Neue Ausreisen Richtung Syrien/Irak werden aktuell nur noch sehr vereinzelt registriert. Etwa ein Viertel der gereisten Personen ist weiblich. Der überwiegende Teil der insgesamt gereisten Personen war zum Zeitpunkt der Ausreise jünger als 30 Jahre. Etwa ein Drittel dieser gereisten Personen befindet sich momentan wieder in Deutschland. Zu über 110 der bislang zurückgekehrten Personen liegen den Sicherheitsbehörden ErkenntVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 169 IslamIsmus nisse vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligt oder hierfür eine Ausbildung absolviert haben. Diese Personen stehen unverändert im Fokus polizeilicher und justizieller Ermittlungen. Die Zahl bisheriger Verurteilungen aus Syrien/Irak zurückgekehrter Personen bewegt sich im mittleren zweistelligen Bereich. Zu mehr als 230 Personen liegen Hinweise vor, dass diese in Syrien oder im Irak ums Leben gekommen sind.2 Neben Personen, die den Ruf der Jihadisten gefolgt und aus ihren europäischen Heimatländern nach Syrien und in den Irak gereist sind, sind für die Sicherheitsbehörden auch die Personen relevant, die in ihrer Heimat für eine jihadistische Organisation aktiv waren und im Zuge der Migrationsbewegungen der letzten Jahre nach Europa bzw. Deutschland gekommen sind. Ein Beispiel hierfür ist ein Syrer, der 2015 nach Deutschland kam und zunächst in Helfta (Lutherstadt Eisleben, Landkreis Mansfeld Südharz) Zuflucht gefunden hatte. Wahrscheinlich im Jahr 2016 ging er zurück in seine Heimat und schloss sich hier der Miliz "Ahrar ash-Sharqiya" (die Freien des Ostens) an. Diese Miliz war Teil eines Bündnisses, das die türkische Armee unterstützte, als diese am 9. Oktober in Nordsyrien die Militäroperation "Quelle des Friedens" startete. Diese Operation richtete sich nach offiziellen Angaben gegen die PKK, die "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) sowie den IS und sollte die Entstehung eines "Terrorkorridors" verhindern. Bereits zu Beginn dieser Operation kamen Berichte auf, wonach die Angreifer Kriegsverbrechen an kurdischen Kämpfern und Zivilisten begangen hätten. Reporter berichteten in diesem Zusammenhang über die "Ahrar ash-Sharqiya" und den vorgenannten Syrer. In einem Video trug er Kampfmontur und posierte auf einer Landstraße neben gepanzerten Fahrzeugen; seine Miliz hatte hier einen Kontrollposten errichtet. Über das Twitter-Profil der Ahrar ash-Sharqiya wurden am 12. Oktober Fotos und Videos veröffentlicht, in denen zwei Personen 2 - Stand: 10. Dezember 170 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 IslamIsmus zu sehen sind, offenbar in Gefangenschaft der Gruppierung. Beide werden als Mitglieder kurdischer Organisationen dargestellt und im Verlauf des Videos am Straßenrand exekutiert. Der vormals in Helfta aufhältige Syrer filmte die Hinrichtung und begründete sie gegenüber einem europäischen Fernsehsender. Logo der "Ahrar ash-Sharqiya". In Grün der Name der Kampfgruppe. In dem Banner steht das islamische Glaubenbekenntnis, wobei die kaligraphische Gestaltung (schwarz auf weiß) die Nähe zu jihadistischen Organisationen wie al-Qaida oder den Taliban verdeutlicht. Gruppen mit IS-Bezug nutzen bevorzugt weiße Schrift auf schwarzem Grund. Dass der islamistische Terrorismus international vernetzt ist und hierbei auch Personen mit Bezügen nach Sachsen-Anhalt von Bedeutung sein können, zeigt ein Vorfall, der sich am 20. Juni in Bad Dürrenberg (Saalekreis) ereignete. Beamte des Bundeskriminalamtes und der Bundespolizei (GSG 9) nahmen hier einen mit europäischem Haftbefehl gesuchten Bosnier fest. Bei diesem handelt es sich um den vermutlichen Waffenlieferanten im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris (Frankreich). Anhänger des IS verübten an jenem Tag verschiedene Anschläge in Paris, unter anderem auf den Nachtclub "Bataclan"; es starben etwa 130 Personen, über 680 wurden verletzt. Der Bosnier hielt sich zum Zeitpunkt seiner Festname bei einer Bekannten auf und hatte keinen festen Wohnsitz in Sachsen-Anhalt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Salafismus übt auf nach Orientierung suchende Menschen, sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund, eine hohe Anziehungskraft aus. Auf längere Sicht wird sich diese Entwicklung auch in Sachsen-Anhalt quantitativ manifestieren. Dieser Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 171 IslamIsmus Einschätzung zugrunde liegt zum einen die Zunahme der Einwohner mit islamischem Migrationshintergrund, von denen ein kleiner Anteil eine Nähe zum Salafismus aufweist. Zum anderen ist auf die bereits seit Jahren zu beobachtende Anziehungskraft charismatischer salafistischer Prediger zu verweisen, die zur Rekrutierung von salafistischem Nachwuchs beitragen können. Aus der Einschränkung des Aktionsfeldes des IS im Irak und Syrien können sich Schlussfolgerungen ergeben: * Der IS als Organisation verlagert seine Aktivitäten verstärkt auch nach Europa und wird sich bietende Gelegenheiten für Taten gegen deutsche Interessen auch innerhalb des Bundesgebietes nutzen. * Die Verdrängung von IS-Kämpfern aus Syrien und dem Irak wird diese zu terroristischen Aktivitäten in ihren Heimatländern bzw. in Europa veranlassen (Einsame Wölfe). * Die geschickte mediale Darstellung der (vormaligen) Erfolge des IS und der Anschläge in zum Feind erklärten Ländern wird zur Inspirationsquelle von neuen Gruppen oder Einzeltätern. * Nach dem territorialen Niedergang des IS drängen andere Organisationen nach. Al Qaida-nahe Terrororganisationen wie die in Nordwestsyrien aktive "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS, "Organisation zur Befreiung der Levante") werden dort mit dem IS regional um Vormacht und Einfluss konkurrieren. (Flagge der HTS) 172 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 IslamIsmus "Gemeinschaft der Verkündigung der Mission" (Urdu: "Tablighi Jama'at", TJ) Sitz drei religiöse Zentren in Pakistan, Indien und Verbreitung Bangladesch in Deutschland keine offizielle Niederlassung Gründung 1926 in Indien Struktur Leitung: Führungszirkel (Schura) Aufbau In Deutschland koordinieren zentrale Akteure über informelle Kontakte in einem hierarchisch aufgebauten Netzwerk die Arbeit der TJ. Mitglieder Sachsen-Anhalt: mittlerer zweistelliger Bereich Anhänger (2018: ebenso) Bund: etwa 650 (2018: etwa 650) Veröffent--lichungen Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele Die TJ ist eine transnationale Missionierungsbewegung mit etwa 12 Millionen Anhängern weltweit. Sie orientiert sich eng an dem Islamverständnis der islamischen Frühzeit. Ein wesentlicher Schwerpunkt der Aktivitäten der TJ in Deutschland ist die Gewinnung neuer Anhänger, die Missionierung und ideologische Schulung der Mitglieder. Grund der Beobachtung Die TJ propagiert eine wörtliche Auslegung des Korans und der Sunna, eine rigorose Abgrenzung zu Nichtmuslimen und eine Ausgrenzung von Frauen von der politischen und gesellschaftlichen Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 173 IslamIsmus Teilhabe. Die Ablehnung der weltlichen Prinzipien und die Abgrenzung gegenüber Nichtmuslimen begünstigen die Bildung von Parallelgesellschaften und fördern individuelle Radikalisierungsprozesse. Das Erreichen eines auf islamischen Rechtsvorschriften (Scharia) basierenden Lebens ist das erklärte Ziel der TJ. Damit gehen von der TJ Bestrebungen aus, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Interne Konflikte in der Führungsebene der TJ hatten auch Auswirkungen auf die Aktivitäten der Bewegung in Deutschland. So war in Sachsen-Anhalt stellenweise ein Rückgang von Missionierungstätigkeiten der TJ-Angehörigen zu verzeichnen. Zum Ende des Berichtszeitraumes hat sich dies jedoch wieder relativiert. Wie in den Vorjahren reisten die TJ-Anhänger während ihrer Missionierungstätigkeiten in der Regel in Gruppen. Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten waren erneut verschiedene Moscheen, die als Übernachtungsund Veranstaltungsort dienten. Zielgruppen sind Muslime mit vermeintlich unzureichender Beachtung der Glaubensriten aber auch Andersgläubige. Neben Straßenmissionierungen waren Ansprachen von Muslimen in Flüchtlingsunterkünften oder Privatwohnungen zu beobachten. Die Anhänger der TJ aus Sachsen-Anhalt sind an das globale TJ-Netzwerk angeschlossen und beteiligen sich an Missionierungsreisen sowie an bundesund europaweiten Treffen. Auf diesen werden u.a. die Missionierungsarbeit abgestimmt und organisatorische Entscheidungen getroffen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die TJ ist weiterhin bestrebt, ihre missionarischen Aktivitäten auszuweiten und ihre Anhängerzahl zu erhöhen. 174 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 IslamIsmus Muslimbruderschaft (MB) / "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) / HAMAS Sitz Hauptsitz der DMG in Köln Verbreitung (Nordrhein-Westfalen) in Sachsen-Anhalt landesweit, insbesondere im Landesnorden Gründung MB: 1928 in Ägypten DMG (IGD): 1958 HAMAS: 1987 Struktur Als Sammelbecken der MB in Europa gilt die Föderation islamischer Organisationen in Europa (FIOE). Die DMG gehört zu den Gründungsmitgliedern. Die HAMAS ist aus der MB hervorgegangen. Mitglieder Sachsen-Anhalt: 20 (2018: 15) Anhänger VeröffentWeb-Angebot: diverse Internetauftritte lichungen soziale Netzwerke Finanzierung Spenden Kurzportrait / Ziele Die in Ägypten gegründete MB gilt als älteste und einflussreichste organisierte sunnitische islamistische Bewegung. Zahlreiche islamistische Organisationen sind aus der MB hervorgegangen, so auch die DMG1 und die terroristische palästinensische HAMAS. Programmatischer Kernpunkt der MB ist die Einheit von Religion und Staat. Ihr Ziel ist die schrittweise Durchsetzung islamischer 1 - Bis 9. September 2018 trug die DMG den Namen "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD). Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 175 IslamIsmus Rechtsvorschriften (Scharia). Gewaltanwendung wird dabei nicht ausgeschlossen, doch nicht vorrangig angestrebt. In mehreren islamischen Ländern ist die MB verboten worden. 2 Die MB lehnt demokratische Staatssysteme ab, agiert aber pragmatisch. So engagieren sich ihre Vertreter häufig gesellschaftlich, um Einfluss zu gewinnen. Vertreter der MB stellen nach außen hin demokratische Prinzipien nicht in Frage und erwecken häufig den Anschein, eine vergleichsweise "moderate" Islamauslegung zu vertreten. Letzlich unterscheiden sich "Legalisten" nur in ihren Methoden von den Salafisten oder Jihadisten, nicht jedoch in ihren Zielen. Grund der Beobachtung Die von Gott vorgeschriebenen Regeln sollen über allem stehen. Die Ideologie der Muslimbruderschaft steht damit im Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der Religionsausübung sowie der allgemeinen Gleichberechtigung. Die DMG ist die wichtigste und zentrale Organisation von Anhängern der MB in Deutschland. Ihr Ziel ist, sich als anerkannter 2 - Der "Rabia"-Gruß der Muslimbruderschaft entstand 2013 in Kairo (Ägypten). Auf dem Rabia-al-Adawiya-Platz löste das Militär eine Sitzblockade der MB gewaltsam auf. "Rabia" bedeutet im Arabischen u.a. "vierte"; daher das Symbol der hochgehaltenen Hand mit den vier abgespreizten Fingern. Später wurden diese Finger mit den vier Phasen der angestrebten Machtübernahme der MB identifiziert: 1. Missionierung 2. Rekrutierung 3. Konfrontation 4. Machtübernahme 176 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 IslamIsmus Ansprechpartner zum Thema Islam zu etablieren. Zu diesem Zweck werden offene Bekenntnisse zur MB möglichst vermieden. Die HAMAS ist für zahlreiche Selbstmordattentate und Raketenangriffe auf israelisches Territorium verantwortlich. Ihre Aktivitäten richten sich somit gegen den Gedanken der Völkerverständigung und sind geeignet, deutsche Interessen im Ausland zu gefährden. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die in Sachsen-Anhalt aktiven Personen, die der MB-Ideologie folgen, haben größenteils führende Funktionen in ihren jeweiligen Gemeinden inne. Sie sind bestrebt, das Gedankengut der Muslimbruderschaft weiter zu verbreiten. Ihr Ziel ist letztlich die Abschaffung der Demokratie und die Gründung eines auf religiösen Regeln basierenden Gottesstaates. Nach außen sind sie jedoch bemüht, sich als gemäßigte Muslime darzustellen. Vereinzelt traten in Moscheen Prediger auf, die ideologische Standpunkte der MB propagierten. So berief sich ein Prediger explizit auf eine offizielle Fatwa des allgemeinen Komitees muslimischer Gelehrter in Europa und leistete ihr Folge. Mit dem "allgemeinen Komitee muslimischer Gelehrter in Europa" sind die FIOE und seine Unterorganisation ECFR gemeint. Die FIOE ("Federation of Islamic Organisations in Europe") ist das Sammelbecken der MB in Europa. Der ECFR ("European Council for Fatwa and Research", Europäischer Fatwa-Rat) erlässt islamische Rechtsgutachten für die in Europa lebenden Muslime und versucht, sich als maßgebliche religiöse Instanz zu etablieren. Die Verbundenheit der "Islamischen Gemeinde Stendal e.V." (IGS) mit der MB zeigt sich insbesondere in den Personen des Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 177 IslamIsmus Vorstands und in der Zusammensetzung der ihn legitimierenden und wählenden Mitgliederversammlung. So hatte der neu gewählte stellvertretende Vorstandsvorsitzende in der Vergangenheit enge Verbindungen zu Organisationen, die mehreren Landesverfassungsschutzbehörden als Vertretung der HAMAS in Deutschland gelten. Des weiteren hatte er enge Verbindungen zur früheren IGD (jetzt DMG). (Logo der HAMAS - Es zeigt den Felsendom in Jerusalem und oberhalb davon die Umrisse von "Palästina". Die HAMAS versteht hierunter das gesamte Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Jordanfluss, einschließlich des Territoriums des Staates Israel. Dieses Verständnis findet seinen Ausdruck im propagierten Slogan: "From the River to the Sea - Palestine will be free.") Bewertung, Tendenzen, Ausblick Es ist davon auszugehen, dass sich die MB-Anhänger weiterhin darum bemühen, in ihren Gemeinden Deutungshoheit und Gestaltungsmacht zu erlangen oder zu erhalten. Es besteht somit die Gefahr einer entsprechendn ideologischen Beeinflussung der Gläubigen. Gleichzeitig kann die Selbstinszenierung als vertrauenswürdige zivilgesellschaftliche Akteure zu Fehleinschätzungen bei Verantwortungsträgern in Kommunen, Land, Kirchen und Zivilgesellschaft führen. Mitarbeiter von Behörden, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sind daher gehalten, kritisch darauf zu achten, wem sie eine Plattform als Gesprächspartner bieten. Darüber hinaus laufen die in den jeweiligen Gemeinden zusam178 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 IslamIsmus men kommenden Gläubigen Gefahr, unbemerkt und ungewollt von extremistischen Bestrebungen beeinflusst zu werden. Der Verfassungsschutz hält daher auch im Phänomenbereich des Islamismus ein Präventionsangebot vor und bietet entsprechende Sensibilisierungsveranstaltungen an. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 179 Ausländerextremismus SICHERHEITSGEFÄHRDENDE UND EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN Im Bereich des nichtislamistischen Ausländerextremismus beobachtet der Verfassungsschutz vorrangig sicherheitsgefährdende Bestrebungen, die mit der Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Es finden sich dabei Ideologieelemente sowohl aus dem Rechtsund Linksextremismus als auch dem Separatismus.1 Die Aktivitäten ausländerextremistischer Organisationen in Deutschland werden stark von der Situation in den jeweiligen Herkunftsländern bestimmt. Zumeist ist es deren Ziel, die politischen Verhältnisse in ihren Heimatländern, oft auch mit Gewalt, zu verändern. In Sachsen-Anhalt ist die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) die einzige ausländische extremistische Organisation, die über bedeutende Strukturen verfügt. Für die Anhänger der PKK ist Deutschland Rückzugsraum; ihre hiesigen Aktivitäten beschränken sich auf das Requirieren von "Spendengeldern" und propagandistische Aktivitäten wie das Durchführen (regionaler) versammlungsrechtlicher Aktionen und Teilnahme an zentralen Großveranstaltungen wie dem Newroz-Fest oder dem Internationalen Kurdischen Kulturfestival. Diese Veranstaltungen dienen vorrangig der politischen Forderung nach Anerkennung der kurdischen Identität und Autonomie sowie der Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots. Im Berichtsjahr standen vor allem die Sorge um den Gesundheitszustand und die Haftbedingungen des inhaftierten PKK-Führers Abdullah ÖCALAN sowie die Proteste gegen die militärischen Interventionen der türkischen Streitkräfte in den 1 - Seperatimus bedeutet, dass ein Teil einer Bevölkerung sich und ihr Heimatgebiet aus ihrem aktuellen Staat herauslösen möchte. Ziel kann die Gründung eines neuen eigenständigen Staates sein oder der Anschluss an einen anderen Staat. 180 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Ausländerextremismus kurdischen Siedlungsgebieten im Nordirak und in Nordsyrien im Fokus der Aktivitäten. Mit einem über mehrere Monate andauernden Hungerstreik von inhaftierten kurdischen Politikern und zahlreichen im Kontext stehenden Solidaritätsaktionen in Deutschland erreichten die PKK-Anhänger eine, wenn auch möglicherweise nur kurzfristige, Aufhebung des Kontaktverbots für ÖCALAN. Auf die Aktionen des türkischen Militärs in den kurdischen Siedlungsgebieten folgte in Deutschland jeweils ein unmittelbarer starker Anstieg des Demonstrationsaufkommens. Insbesondere zu diesen, meist sehr emotionalen, Protestkundgebungen gelingt es der PKK nach wie vor, tausende Anhänger zu mobilisieren. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 181 Ausländerextremismus "Arbeiterpartei Kurdistans" (kurdisch: Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) Weitere ehemalige und bestehende Bezeichnungen: * "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA GEL) * "Freiheitsund Demokratiekongress" (KADEK) * "Gemeinschaften der Kommunen Kurdistans" (KKK) * "Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" (KCK) Sitz Sitz der Parteiführung in den Kandil-Bergen/ Verbreitung Nord-Irak Verbreitung in "Kurdistan" (Teile der Türkei, Syriens, Iraks und Irans) sowie Europa Gründung 27. November 1978 in der Türkei Struktur Trotz der nach außen als legalistisch Aufbau erscheinenden Strukturen handelt es sich bei der PKK um eine streng hierarchische Kaderorganisation. Das höchste Entscheidungsorgan der PKK ist der KCK mit seinem Präsidenten Abdullah ÖCALAN. Gemeinsame Vorsitzende des KCK sind Cemil BAYIK und Bese HOZAT. In Europa werden die Aktivitäten der PKK maßgeblich vom "Kongress der kurdischen demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa" (kurdisch: Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen Li Ewropa, kurz: KCDK-E), dem politischen Arm der Partei in Europa, bestimmt. Deren Weisungen werden von regelmäßig wechselnden Führungskadern, die ihrerseits vom KCDK-E bestimmt werden, an die Basis weitergegeben. Die Organisationsstruktur der PKK unterteilt das Bundesgebiet in neun Regionen (Eyalet), die wiederum in verschiedene Gebiete (Bölge) untergliedert sind. Sachsen-Anhalt findet sich 182 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Ausländerextremismus im Bölge Sachsen bzw. in der Eyalet Berlin wieder. Zur Umsetzung ihrer Vorgaben bedient sich die PKK-Führung in Europa und Deutschland der örtlichen kurdischen Kulturvereine. Bis Mai 2019 waren diese Vereine zu einem großen Teil in der Dachorganisation "Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland" (Navenda Civaka Demokratik ya Kurden li Almanya, NAV-DEM) organisiert. Im Mai gründete sich die Nachfolgeorganisation namens "Konförderation der Gesellschaften Mezopotamiens in Deutschland" (Konfederasyona Civaken Mezopotamyaye li Elmanyaye, KON-MED), die mit Hilfe ihrer fünf Unterorganisationen bzw. Föderationen die Aufgaben als nun zuständiger Dachverband weiterführt. Die fünf Förderationen sind: FED-MED NRW (Federasyona Civaken Azad yen Mezopotamya li NRW - Föderation der freien Gesellschaft Mesopotamiens in Nordrhein-Westfalen), FCDK-KAWA (Federasyona Civaken Demokratik ya Kurdistaniyen li Saarland u Hessen - Föderation der demokratischen Vereine Kurdistans im Saarland und Hessen), FCK (Federasyona Civaken Kurdistaniyen li BWB u Bayern - Föderation der Gemeinschaften KurVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 183 Ausländerextremismus distans Baden-Württemberg und Bayern), FED-MED (Federasyona Civaken Mezopotamya li Niedersachsen, Hamburg u Bremen - Föderation der Gesellschaft der Kurdistaner in Niedersachsen, Hamburg und Bremen), FCDK (Federasyona Civaken Kurdistaniyen li Berlin u Sachsen - Föderation der demokratischen Vereine Kurdistans in Berlin und Sachsen). Überdies versucht die PKK mit Hilfe von Massenorganisationen, in denen sich PKK-Anhänger entsprechend ihrer Berufsund Interessengruppen organisieren, Kurden weiter an die Partei zu binden. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Jugendorganisation "Komalen Ciwan" (Gemeinschaft der Jugendlichen), die europäische Jugenddachorganisation "Tevgera Ciwanen Soresger" (Bewegung der revolutionären Jugend), die "Kurdische Frauenbewegung in Europa" (TJK-E) und die Studentenorganisation "Verband der Studierenden aus Kurdistan" (Yekitiya Xwendekaren Kurdistan, YXK ). In Sachsen-Anhalt dienen das "Demokratische Kurdische Gesellschaftszentrum (Demokratik Kürt Toplum Merkezi, DKTM) Magdeburg" sowie der "Mezopotamien Kulturhaus e.V." in Halle (Saale) (auch: DKTM Halle) als Anlaufstelle für PKK-Anhänger. Mitglieder Sachsen-Anhalt: etwa 250 (2018: etwa 250) Anhänger Bund: etwa 14.500 (2018: etwa 14.500) Damit zählt die PKK zu den mitgliederstärksten nichtislamistischen ausländerextremistischen Ausländerorganisationen. VeröffentPKK-Nachrichtenagentur "Ajansa Nuceyan a Firalichungen te" (ANF), die täglich in diversen Sprachen, da184 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Ausländerextremismus runter Kurdisch, Türkisch und Deutsch berichtet. Publikationen mit unterschiedlichen Erscheinungszyklen: "Serxwebun" (Unabhängigkeit) "Sterka Ciwan" (Stern der Jugend) "Newaya Jin" (Erlebnisse der Frauen) "Yeni Özgür Politika" (Neue freie Politik, YÖP); Fernsehsender: "Sterk TV" Finanzierung Die PKK und ihre Folgeund Nebenorganisationen finanzieren sich zum größten Teil über ihre jährlichen "Spendenkampagnen" sowie Einnahmen aus dem Verkauf kurdischer Publikationen und Eintrittskarten für diverse Großveranstaltungen. Auch Mitgliedsbeiträge der PKK nahe stehender kurdischer Vereinen kommen der Organisation zugute. Das Einsammeln der "Spenden" stellt einen Schwerpunkt der Parteiarbeit, insbesondere der Führungskader dar. Die anhaltenden Kämpfe in Nordsyrien, im Irak und in den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei führen zu einem hohen Finanzbedarf der PKK, aber auch zu einer weiterhin hohen "Spenden"-bereitschaft in der kurdischen Gemeinde. Auf Grund dessen erbrachten die letzten "Spendenkampagnen" in Deutschland pro Jahr jeweils Einnahmen von zum Teil deutlich mehr als zehn Millionen Euro. Kurzportrait / Ziele Abdullah ÖCALAN gründete gemeinsam mit weiteren Protagonisten im Jahr 1978 die marxistisch ausgerichtete PKK, deren ursprüngliches Ziel in der Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates auf den Gebieten Südostanatolien, Nord-Irak sowie in Teilen des westlichen Iran und des nördlichen Syrien bestand. In dem Selbstverständnis, alleiniger Interessenvertreter der kurdischstämmigen Bevölkerung zu sein, rief Öcalan 1984 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 185 Ausländerextremismus zur Durchsetzung dieses Ziels zum bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat auf. In der Folge kam es zu zahlreichen terroristischen Anschlägen innerhalb und außerhalb der Türkei, so auch gegen türkische Einrichtungen in Deutschland. Auf Grund dessen unterliegen die PKK sowie ihre Nachfolgeorganisationen seit 1993 einem Betätigungsverbot in Deutschland. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die PKK in ihrer Gesamtheit eine terroristische Vereinigung, seit 2002 listet die Europäische Union die PKK als terroristische Organisation. Mit der Verhaftung ÖCALANs im Jahr 1999 rückte die PKK von ihren separatistischen Zielen ab und verfolgt seitdem das Ziel einer autonomen Selbstverwaltung der Kurden innerhalb der bestehenden Ländergrenzen. Dennoch versucht sie weiterhin ihre Ziele mit Hilfe von schweren Gewalttaten, einschließlich der Tötung von Menschen, zu erreichen und führt in der Türkei terroristische Anschläge durch. In Deutschland und Europa bemüht sich die PKK hingegen um ein gewaltfreies Auftreten, nicht zuletzt um für eine Aufhebung des PKK-Verbots zu werben. Europa und insbesondere Deutschland stellen für die PKK eine unverzichtbare rückwärtige Basis dar, aus der die Organisation einen Großteil ihrer personellen und finanziellen Ressourcen schöpft. Zur Propagierung ihrer Ideologie nutzt die PKK insbesondere jährlich wiederkehrende zentrale Großveranstaltungen, zu denen sich nach wie vor teils tausende Teilnehmer mobilisieren lassen. Das vorhandene Mobilisierungspotenzial geht hierbei deutlich über die Anhängerzahl hinaus. Grund der Beobachtung Trotz ihres Kurswechsels Mitte der neunziger Jahre zu weitgehend friedlichem Verhalten in Deutschland stellt die PKK, insbesondere wegen ihrer fortwährenden Bereitschaft zu gewaltorientierten Aktionen zurückzukehren, nach wie vor eine Bedrohung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Darüber hinaus verfolgt die PKK ihre Ziele in der Türkei und aktuell auch in Syrien weiterhin mit Waffengewalt. Hierfür 186 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Ausländerextremismus nutzt die PKK Deutschland als Rückzugsraum und Ressourcenquelle. Mit diesem Verhalten gefährdet sie die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des SS 4 Abs. 1 Nr. 4 VerfSchG LSA. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Hungerstreikaktionen Die Aktivitäten der PKK-Anhänger in Deutschland und auch in Sachsen-Anhalt waren in den ersten Monaten des Jahres vom Hungerstreik der in der Türkei inhaftierten Leyla GÜVEN, Abgeordnete der HDP1 in der Türkei, geprägt. Bereits Anfang November 2018 war sie gemeinsam mit weiteren Inhaftierten in den Hungerstreik getreten, um auf das Besuchsverbot und die Haftsituation des auf der türkischen Insel Imrali inhaftierten PKK-Führers Abdullah ÖCALAN aufmerksam zu machen. PKK-Angehörige in Europa - auch in Deutschland - zeigten sich mit den Hungerstreikenden soldidarisch, zahlreiche Personen traten selbst öffentlichkeitswirksam in den Hungerstreik. Weiterhin fanden entsprechende Solidaritätsaktionen statt. Neben zentralen Veranstaltungen mit mehreren tausend Teilnehmern, wie z. B. am 2. März in Köln (Nordrhein-Westfalen) kam es bundesweit zu zahlreichen kleineren Protestveranstaltungen wie Demonstrationen, Mahnwachen, Menschenketten und Kundgebungen, so auch in Sachsen-Anhalt. Unter dem Motto "Abgeordnete im Hungerstreik" veranstaltete der Verein "Mezopotamien Kulturhaus e.V." Halle (Saale) am 9. März eine Demonstration, an der etwa 110 Personen teilnahmen. Man folgte damit dem Aufruf des KCDK-E, sich an den Solidaritätsaktionen zu beteiligen. Am 19. März erhielten Hungerstreikende in Kassel (Hessen) medienwirksam Besuch von PKK-Anhängern, darunter auch Persoen aus Sachsen-Anhalt. ANF berichtete hierüber im Internet und bebilderte den Artikel mit einem Foto, das die Besucher mit den verbotenen Fahnen der PKK sowie des KCK zeigt. 1 - Halklarin Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker) Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 187 Ausländerextremismus An einer von der KON-MED am 11. Mai in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) organisierten Menschenkette unter dem Motto "7000 Kurd*innen im Hungerstreik" beteiligten sich ebenfalls Personen aus Sachsen-Anhalt. Neben den zumeist friedlich verlaufenden Aktionen kam es auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, wie am 25. Februar in Straßburg (Frankreich) nach der spontanen Besetzung des Sitzes des "Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe" (Committee for the Prevention of Torture, CPT). Bei dem daraus resultierenden Polizeieinsatz kam es zu erheblichen Widerstandshandlungen sowie Steinwürfen gegen die eingesetzten Polizisten. Unter den Beteiligten befand sich auch eine Person aus Sachsen-Anhalt. Nachdem die türkische Regierung am 16. Mai das Kontaktverbot für den inhaftierten PKK-Führer Abdullah ÖCALAN aufgehoben hatte, konnten seine Anwälte ihn besuchen. Nach einem Treffen vom 22. Mai verlasen sie einen Brief ÖCALANs an die Hungerstreikaktivisten, in welchem er diese zur Beendigung des Hungerstreiks aufforderte. Diesem Aufruf folgten die PKK-Anhänger, gleichwohl kündigten sowohl PKK und KCK an, ihren Widerstand fortzusetzen, bis "freie Lebensund Arbeitsbedingungen" für ÖCALAN erreicht seien. Auswirkungen der türkischen Militäroperation in Nordsyrien Ebenso intensiv standen die militärischen Angriffe türkischer Streitkräfte sowohl auf die Rückzugsgebiete der PKK im Kandil-Gebirge als auch auf Nordsyrien im Fokus von Aktivitäten regionaler Organisationsstrukturen. Ungeachtet internationaler Kritik begann die Türkei am 9. Oktober eine Militäroperation im Norden des Nachbarlandes. Die Operation namens "Quelle des Friedens" richtete sich nach offiziellen Angaben gegen die PKK, die "Volksverteidigungseinheiten" (YPG2) sowie den "Islamischen Staat" (IS) und sollte die Entstehung eines "Terrorkorridors" verhindern. 2 - Yekineyen Parastina Gel, der militärische Arm der "Partei der demokratischen Union (Partiya YekA(r)tiya Demokrat, PYD) 188 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Ausländerextremismus Bereits die einige Tage zuvor erfolgte Ankündigung eines eventuellen Einmarsches in die verbliebenen kurdischen Autonomiegebiete Rojavas3, hatte bundesweit diverse versammlungsrechtliche Aktionen zur Folge. Noch am ersten Tag der türkischen Operation riefen KCDK-E, TKJ-E sowie YXK zu sofortigen, europaweiten Straßenprotesten auf. Allein in den ersten zwei Wochen wurden deutschlandweit etwa 600 Versammlungen registriert. Zum Teil nahmen tausende Personen an den Veranstaltungen teil, so zum Beispiel am 12. Oktober in Köln (Nordrhein-Westfalen) etwa 15.000 Personen. Auf Grund der hohen Emotionalisierung waren neben den zumeist friedlich verlaufenden Demonstrationen aber auch gewaltbezogene Straftaten, wie Brandstiftungen und Sachbeschädigungen, gegen türkische und deutsche Einrichtungen zu verzeichnen. Auch in Sachsen-Anhalt wurden im Oktober insgesamt elf Versammlungen mit für hiesige Verhältnisse recht hohen Teilnehmerzahlen verzeichnet. So folgten PKK-Anhänger sowohl in Magdeburg als auch in Halle (Saale) einem Aufruf des KCDK-E, der für den 12. Oktober zu einem "internationalen Aktionstag" aufgerufen hatte. In Magdeburg nahmen an einer Versammlung mit Aufzug unter dem Motto: "Gegen den türkischen Angriff auf Nordsyrien!" bis zu 550 Personen teil. In Halle (Saale) versammelten sich bis zu 600 Personen unter dem Motto: "Rojava verteidigen - dem Krieg kein ruhiges Hinterland lassen". Die linksextremistische Szene begleitete die Proteste im Rahmen ihrer Kampagne "RiseUp4Rojava" bundesweit, in Teilen initiierte sie die Proteste sogar. Linksextremisten drückten ihre Solidarität dabei nicht nur in Kundgebungen aus, bundesweit kam es auch zu militanten Aktionen.4 3 - Im Zuge des syrischen Bürgerkriegs hatten kurdische Truppen in den Kantonen EfrA(r)n, Kobane, Cizire das autonome Gebiet Rojava ausgerufen. Bereits 2018 marschierten türkische Truppen in Afrin ein und besetzten das Gebiet. Dies führte ebenfalls bundesweit zu vielen Demonstrationen. 4 - siehe Seite 141 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 189 Ausländerextremismus In diesem Zusammenhang ist die am 24. Oktober erfolgte Gründung eines "Women Defend Rojava"-Komitees in Magdeburg zu sehen. Rekrutierungsbestreben Auf Grund der zunehmenden türkischen Militäroperationen in den kurdischen Siedlungsgebieten, insbesondere in Folge der Angriffe auf den PKK-Rückzugsraum im Kandil-Gebirge im Nordirak, hat die PKK einen hohen Bedarf an neuen Kämpfern. Die entsprechenden Rekrutierungen in Europa bewegen sich auf einem hohen Niveau, bislang haben sich allein aus Deutschland mehr als 250 Personen in die Kampfgebiete begeben. Zumeist wurden diese von hiesigen PKK-Anhängern rekrutiert, einige reisten auch selbständig aus und wandten sich vor Ort als Freiwillige an die dortigen Strukturen. Alljährliche Großveranstaltungen Neben diesen herausragenden Ereignissen ließen sich PKK-Anhänger aus Sachsen-Anhalt erneut zur Teilnahme an den alljährlichen Großveranstaltungen bewegen. Zu diesen gehörten: * Großdemonstration am 12. Januar in Paris (Frankreich) anlässlich des Jahrestages der Ermordung dreier PKK-Aktivistinnen. 190 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Ausländerextremismus * Großdemonstration am 16. Februar vor dem Sitz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg (Frankreich) anlässlich des Jahrestages der Verhaftung ÖCALANs, der am 15. Februar 1999 in Kenia festgenommen worden war. An der diesjährigen Veranstaltung mit Demonstrationszug und anschließender Großkundgebung nahmen etwa 7.000 Personen teil. Im Vorfeld fanden drei mehrtägige Märsche statt. Diese als "Langer Marsch" bezeichneten, ebenfalls alljährlich stattfindenden, Veranstaltungen sollten sternförmig am 16. Februar in Straßburg zusammenlaufen. Den in Mannheim (Baden-Württemberg) gestarteten Marsch löste die Polizei aufgrund diverser Verstöße der zumeist jugendlichen Teilnehmer gegen das Versammlungsund Vereinsrecht (u.a. Skandieren von verbotenen PKK-Parolen) sowie einer zunehmenden aggressiven Grundstimmung auf. Bei den anschließenden Identitätsfeststellungen kam es zu Widerstandshandlungen und Körperverletzungsdelikten. * Zentrales Newroz-Fest in Frankfurt am Main (Hessen) am 23. März, an dem etwa 25.000 Personen teilnahmen. * 27. Internationales kurdisches Kulturfestival am 21. September. Dieses fand entgegen der üblichen Tradition nicht in Deutschland, sondern in Maastricht (Niederlande) statt. Während der gesamten Veranstaltung zeigten die Teilnehmer PKK-Symbolik und skandierten im Ausland nicht verbotene PKK-Sprüche. Veranstaltungen dieser Art unterliegen in Deutschland strikten Auflagen seitens der Ordnungsbehörden. Auch ist das öffentliche Zeigen von PKK-Symbolen strafbar, was Gründe für die Verlegung des Festivals in die Niederlande gewesen sein dürften. Gründung der "Konföderation der Gesellschaften Mezopotamiens in Deutschland" (KON-MED) Im Mai gründete sich die Nachfolgeorganisation des bisherigen Dachverbandes kurdischer Vereine in Deutschland NAV-DEM unter dem Namen "Konföderation der Gesellschaften Mezopotamiens in Deutschland" (KON-MED). Ihr sind bislang fünf Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 191 Ausländerextremismus Föderationen untergeordnet, die ähnlich der illegalen PKK-Führungsstrukturen für bestimmte Gebiete in Deutschland zuständig sind. Der Bereich Sachsen-Anhalt gehört demnach zur im April gegründeten FCDK. ANF berichtete hierüber in einem Onlineartikel am 29. April. Demnach wurde die Co-Vorsitzende des "Mezopotamien Kulturhaus e.V." Halle (Saale) in den Vorstand dieser Föderation gewählt. Vereinsverbote Mit Datum vom 12. Februar hat das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) die in Neuss (Nordrhein-Westfalen) ansässigen Vereinigungen "Mezopotamien Verlag und Vertrieb GmbH" und "MIR Multimedia GmbH" nach dem Vereinsgesetz als Teilorganisationen der PKK verboten. Demnach nutzte die PKK beide Vereinigungen zum Verkauf und zur Verbreitung von PKK-Propagandamaterial. Hiermit wurde die PKK finanziell unterstützt und in ihrem organisatorischen Zusammenhalt gestärkt. Mit Inkrafttreten des Verbots ist auch das öffentliche Zeigen der Symbole der "Mezopotamien Verlag und Vertrieb GmbH" und der "MIR Multimedia GmbH" untersagt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Erneut unterlagen die Aktivitäten der PKK-Anhänger dem starken Einfluss aktueller politischer Ereignisse und zeigten das erhebliche Mobilisierungspotenzial auf. Neben der Sorge um die Gesundheit des PKK-Führers Abdullah ÖCALAN sind vor allem militärische Operationen in kurdischen Siedlungsgebieten in besonderem Maße geeignet, eine sehr hohe Emotionalisierung hervorzurufen. Es liegt daher eine starke Bereitschaft vor, sich an 192 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Ausländerextremismus Protestaktionen zu beteiligen, so dass es den Organisatoren oft gelingt, für ihre Aktionen auch Teilnehmer weit über die PKK-Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Dies zeigen insbesondere die hohen Teilnehmerzahlen an den Protesten infolge des türkischen Militäreinsatzes. Trotz hoher Emotionalisierung verliefen diese anlassbezogenen Versammlungen größtenteils friedlich. Die in diesem Kontext verübten einzelnen Brandstiftungen und Sachbeschädigungen machen allerdings deutlich, dass für Teile der PKK Gewalt ein legitimes Mittel zur Erreichung der politischen Ziele darstellt. Auch spontane und situativ bedingte gewalttätige Auseinandersetzungen kommen immer wieder vor. Auch zukünftig werden aktuelle Geschehnisse in den kurdischen Siedlungsgebieten geeignet sein, die kurdische Diaspora zu Protestaktionen zu bewegen. Nachdem die Türkei bereits 2018 den syrischen Kanton Afrin besetzt hatte, könnte besonders ein Einmarsch in die zwei verbliebenen Kantone Cizire und Kobane und das damit einhergehende Ende der kurdischen Autonomie in Nordsyrien zu weitreichenden Protestaktionen führen. Dabei wird die PKK in Europa auch weiterhin um ein insgesamt gewaltfreies Auftreten bemüht sein, schon um ihre bewährten Rückzugsräume nicht zu gefährden. Ebenso sind die in den Augen der PKK errungenen Erfolge in Bezug auf eine Aufhebung ihres Betätigungsverbots in Deutschland zu schützen und negative Schlagzeilen sollten möglichst vermieden werden. Die türkischen Militäroperationen sowohl in Nordsyrien, als auch in PKK-Gebieten im Nordirak werden bei den HPG und YPG für einen sehr hohen Bedarf an neuen Kämpfern sorgen. Das wird die Rekrutierungsbestrebungen der PKK auch mittelfristig auf einem hohen Niveau halten. Damit einhergehen werden angestrengte Bemühungen, gerade hier in Deutschland jüngere kurdische Generationen an die Organisation zu binden. Die tatsächliche Einbindung der kurdischen Vereine in MagdeVerfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 193 Ausländerextremismus burg und Halle (Saale) in die hierarchischen Strukturen der PKK wird bei genauerer Betrachtung der Aktivitäten der Anhänger deutlich. Neben den üblichen Teilnahmen an den alljährlichen zentralen Großveranstaltungen lassen sich PKK-Anhänger aus Sachsen-Anhalt auch stets zu kurzfristigen anlassbezogenen Aktionen im gesamten Bundesgebiet mobilisieren, was eine enge Verflechtung zu den überregionalen Organisatoren voraussetzt. Mit der teils unmittelbaren Planung und Durchführung eigener Aktionen infolge zentraler Aufrufe des KCDK-E zeigen sie, dass sie den Anweisungen der PKK-Führung Folge leisten. Auch die Mitarbeit von Mitgliedern der regionalen Vereine im Vorstand der Dachorganisationen zeigt die Verflechtung mit den Organisationsstrukturen der PKK. 194 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Scientology organiSation SCIENTOLOGY ORGANISATION (SO) 1 2 Sitz Los Angeles (USA) Verbreitung "Scientology-Kirche Deutschland" (SKD) München; weitere Niederlassungen in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt (Main), Hamburg, Hannover, und Stuttgart Gründung 1954 von Lafayette Ronald Hubbard in den USA 1970 erste Niederlassung in Deutschland Struktur Die Scientology Organisation (SO) ist eine Aufbau internationale Organisation mit strikter Hierarchie und totalitärem Anspruch. Deutschland nimmt in Europa eine herausragende Bedeutung ein. Dachverband in Deutschland ist die "Scientology-Kirche Deutschland" (SKD) mit Sitz in München. Sie betreibt sieben "Kirchen", darunter zwei "Celebrity Centres" für die Gewinnung und Ausbildung von Mitgliedern. Die lokalen Niederlassungen der SO sind nur scheinbar selbständig, sie sind in das weltweite, aus den USA gesteuerte System eingebunden. Nebenorganisationen der SO: "Office of Special Affairs"(OSA), "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V." (KVPM), 1 - Das "S" steht für Scientology. Das untere ARCDreieck steht für Affinität, Realität und Kommunikation (Communication), das obere KRC-Dreieck steht für Wissen (knowledge), Verantwortung (responsibility) und Kontrolle (control). 2 - Das Scientology-Kreuz entstand 1954, L. Ron Hubbard fand den grundlegenden Entwurf für das Sonnenkreuz der Scientology in einer alten spanischen Mission in Arizona. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 195 Scientology organiSation "World Institute of Scientology Enterprise"(WISE), "Applied Scholastics" (ApS), Criminon, Narconon, "Jugend für Menschenrechte", "The Way to Happiness Foundation" (TWTH-Foundation), "Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben". Mitglieder Sachsen-Anhalt: Anhänger unterer einstelliger Bereich Bund: etwa 3.500 VeröffentWeb-Angebot: lichungen www.scientology.de Internationale Publikationen: Impact, Scientology News, Celebrity, Source, Freewinds, OT-Universe, The Auditor, Advance deutschsprachige Publikation: Freiheit Finanzierung Vertrieb von kostenpflichtigen Kursen und Kursmaterialien, Spenden Kurzportrait / Ziele Nach der unabänderlichen und bindenden Ideologie von Hubbard wird der "Clear-Planet" angestrebt: Alle Menschen gehören der scientologischen Gesellschaft an. SO strebt die Weltherrschaft an. Die Einteilung der Menschen erfolgt in "Aberrierte", d.h. Nicht-Scientologen, geistig Gestörte, deren Menschenrechte eingeschränkt werden müssen und "Nichtaberrierte" (= Scientologen). SO will Einfluss auf die Gesellschaft, Wirtschaft und Politik ausüben, um die scientologische "Ethik" durchzusetzen, insbe196 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Scientology organiSation sondere sollen Positionen, die sich gegen SO richten, beseitigt werden. Grund der Beobachtung Die Lehre der SO stellt eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung dar. Nicht nur Einschränkungen wesentlicher Grundund Menschenrechte - wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung - sind Konsequenzen der Lehre, sondern es wird auch eine Gesellschaft ohne allgemeine und gleiche Wahlen angestrebt. Zum Erreichen der Ziele verfolgt die Organisation zumeist verdeckt die Beeinflussung sowohl der Gesellschaft und Wirtschaft als auch der Politik. Mit der Entscheidung des OVG Münster vom 12. Februar 2008 ist die Rechtmäßigkeit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz bestätigt worden. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In Sachsen-Anhalt hat die SO zunehmend Probleme bei der Mitgliederwerbung, selbst einstige Interessenten haben sich wieder abgekehrt. Die Expansionsbestrebungen in Deutschland bestehen jedoch fort. Dabei dienen insbesondere die TWTH-Foundation aber auch andere Nebenorganisationen als "Transmissionsriemen" der SO-Aktivitäten. Bewertung, Tendenzen, Ausblick SO unternimmt weiterhin Anstrengungen, um gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen, die Organisation zu vergrößern und die finanziellen Einnahmen zu erhöhen. Hierzu versucht sie insbesondere junge Erwachsene anzusprechen. Ihrem Ziel der Errichtung einer scientologischen Gesellschaft wird SO in Sachsen-Anhalt nicht näher kommen. Ihr gelingt es nach wie vor nicht, Mitglieder zu gewinnen und Strukturen aufzubauen. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 197 Spionageabwehr Spionageabwehr Spionage ist das Erkunden politischer Faktoren sowie der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und militärischen Potenziale eines anderen Staates mit verdeckten Mitteln. Spionage verfolgt das Ziel, auf illegale Weise schützenswerte, geheimhaltungsbedürftige und geheim gehaltene Informationen aus bzw. über andere Staaten zu gewinnen oder Einfluss auf die Tätigkeit staatlicher Behörden auf allen Ebenen zu nehmen. Die auf Politik, Wissenschaft und die Wirtschaft ausgerichteten Aktivitäten sollen dem spionierenden Staat einen Informationsvorsprung verschaffen. Ziel dabei ist, das Handeln des Ziellandes genauer einschätzen zu können, um dessen Absichten im eigenen Interesse unterlaufen zu können. Es geht hierbei vor allem um * die jeweiligen Positionen bei bioder multilateralen Verhandlungen, * verteidigungspolitische Aktivitäten, insbesondere militärische Rüstungen, Planungen und Auslandseinsätze, * Sanktionspolitik, * Energieund Wirtschaftspolitik sowie * die Stabilität der kritischen Infrastrukturen. Derartige Aktivitäten fremder Nachrichtenund Geheimdienste stellen eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutschland dar. Sie sind strafbar und untergraben die Souveränität der Bundesrepublik. Die Spionageabwehr hat die Aufgabe, solche Tätigkeiten aufzudecken und zu unterbinden und in Zusammenarbeit mit anderen Behörden abzuwehren. Angesiedelt ist sie bei den Verfassungsschutzbehörden. Das strafrechtliche Verfolgen von Spionagestraftaten obliegt dem Generalbundesanwalt und den ermittelnden Staatsschutzdezernaten der Kriminalpolizei. 198 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Spionageabwehr Innerhalb der Verfassungsschutzabteilung beschäftigt sich die Spionageabwehr mit der Aufklärung, Abwehr und Prävention von Spionageaktivitäten fremder Nachrichtendienste gemäß SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA. Gemäß diesem gesetzlichen Auftrag geht die Spionageabwehr jedem Anfangsverdacht von Spionage, mithin Aktivitäten fremder Nachrichtendienste in Sachsen-Anhalt, nach (360-Grad-Blick) und arbeitet hierbei eng mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz, den Landesbehörden für Verfassungsschutz, dem Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) sowie allen anderen Sicherheitsbehörden zusammen. Da die Tätigkeit von Nachrichtendiensten im Zielland von der jeweiligen Spionageabwehr beobachtet wird, werden Nachrichtendienstangehörige unter dem Schutz des Diplomatenstatus oder konsularischem Schutz in den Auslandsvertretungen der fremden Staaten untergebracht. Man spricht von so genannten Legalresidenturen. Zur Erlangung geheimhaltungsbedürftiger Tatsachen wird der fremde Nachrichtendienst nicht nur sein eigenes Personal einsetzen, er wird auch versuchen, Bürgerinnen und Bürger des Gastlandes für seine Zwecke zu gewinnen. Diese Vorgehensweise ist als Agentenführung bekannt. Hinzu treten nachrichtendienstlich gesteuerte Aktivitäten im Internet. Dabei werden verschiedenste Kanäle genutzt. Ziel ist das Beeinflussen der politischen Ebenen, um ein Höchstmaß an Durchschlagskraft zu erreichen. Die Handlungsoptionen reichen von den entsprechenden Cyberangriffen bis zur Einflussnahme mittels der sozialen Medien, in denen genannte "Trollfabriken" Meinungen und Tatsachen gemischt mit "Fake News" posten. In den Kurznachrichtendiensten konnten so genannte "Robots" in erheblichem Umfang tendenziöse Meinungen veröffentlichen. Das "Leaken" von Daten, also das illegale Veröffentlichen vertraulicher personenbezogener Daten, soll dabei das Opfer bloßstellen, um ihm so seines Einflusses zu berauben oder lächerlich zu machen. Weiterhin werden die erbeuteten Dateien mit Malware versehen und somit einer zweiten Nutzung zugeführt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 199 Spionageabwehr Die Russische Föderation, die Volksrepublik China und die Islamische Republik Iran sind die Hauptakteure der gegen Deutschland und das Bundesland Sachsen-Anhalt gerichteten Spionageaktivitäten. Darüber hinaus spielen weitere Staaten eine Rolle. Russische Nachrichtendienste Ausspähungsinteressen russischer Nachrichtendienste richten sich insbesondere auf alle Politikfelder, die in Bezug zur Russischen Föderation stehen oder sich auf diese auswirken können sowie auf die Bündnispolitik innerhalb der NATO und die deutsche Außenpolitik. Die drei maßgeblichen Nachrichtendienste sind - der Auslandsnachrichtendienst SWR1 - der Inlandsnachrichtendienst FSB2 und - der militärische Nachrichtendienst GRU.3 Sie haben weitreichende gesetzliche Befugnisse und flankieren die Interessen der Regierung mittels verborgener und offener Maßnahmen. Neben den Ministerien für Verteidigung, Inneres und Justiz sowie weiteren Sicherheitsbehörden gehören sie zum unmittelbaren Einflussbereich des russischen Staatspräsidenten. Insbesondere Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes sind bei Reisen in die Russische Föderation der Gefahr ausgesetzt, für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit angesprochen zu werden, insbesondere wenn sie sich nicht korrekt verhalten oder gar strafbar gemacht haben. Angehörige russischer Nachrichtendienste, die in Deuschland aus den Botschaften und Konsulaten heraus operieren, missbrauchen ihren diplomatischen Status und das Vertrauen ihrer nicht selten arglosen Kontaktpersonen. Oft kommen sie allein durch geschickte Gesprächsführung an schutzbedürftige Informationen heran. Sofern Kontaktpersonen interessante Informationen liefern können, versuchen diese "Legalresident- 1 - Sluschba Wneschnei Raswedki 2 - Federalnaja Sluschba Besopasnosti 3 - Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije 200 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Spionageabwehr ur-offiziere" die bislang offenen Kontakte auszubauen und konspirative Elemente in die Verbindung einzuführen. Persönliche Zuwendungen werden intensiviert, offene Telefonate vermieden und konspirative Treffen im Voraus festgelegt. Die Nachrichtendienstmitarbeier bauen vertrauensvolle und freundschaftliche Verbindung auf, die dem Abschöpfen von Informationen dienen. Dazu werden Bitten um Zusammenstellung unverfänglicher Informationen geäußert, denen konkrete Beschaffungsaufträge folgen können, die mit Sachoder Geldleistungen honoriert werden. Die Bitte um absolute Verschwiegenheit, die von einem Vertreter einer konsularischen oder diplomatischen Vertretung geäußert wird, kennzeichnet eine konspirative, nachrichtendienstliche Verbindung. Chinesische Nachrichtendienste Die Volksrepublik China (VRC) verfolgt mit großer Beharrlichkeit und unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel ihre regionalund geostrategischen Interessen. Dazu zählt die allmähliche Ausdehnung ihrer unmittelbaren und mittelbaren Einflusssphäre. Der Einsatz der Nachrichtendienste und nachrichtendienstähnlicher Organisationen flankiert ihre Maßnahmen und Aktivitäten. Die VRC verfügt über folgende Nachrichtendienste: Der zivile Inund Auslandsnachrichtendienst MSS4 ist selbst Ministerium und zentralistisch organisiert. Er verfügt über Außenstellen in jeder Provinz. Das MPS5 ist unter anderem zuständig für Ausländer und die Kontrolle des chinesischen Internets. Der militärische Nachrichtendienst MID6 untersteht gleichrangig neben der "Volksbefreiungsarmee" (VBA) dem Joint Staff Department Intelligence Bureau (JSD-IB) der Zentralen Militärkommission der Kommunistischen Partei Chinas (KPC). 4 - Ministry of State Security - Ministerium für Staatssicherheit 5 - Minstry of Public Security - Ministerium für Öffentliche Sicherheit 6 - Military Intelligence Directorate - Direktorium für den Militärischen Nachrichtendienst Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 201 Spionageabwehr Die Cyberwar-Spezialisten gehören zum Network Systems Department (NSD) der Strategic Support Force (SSF), einer Teilstreitkraft der VBA neben Heer, Marine, Luftwaffe und Raketentruppen. Zudem unterhält die KPC mehrere funktionale Nachrichtendienste:7 * Das "Büro 610"8 dient der weltweiten Überwachung der Meditationsbewegung "Falun Gong". * Das IDCPC9, das Tatsachen und Erkenntnisse über Partnerparteien und Kontrahenten der KPC sammelt und auswertet. * Das UFWD10 bindet Mitglieder und Nicht-Mitglieder der KPC innerhalb der Volksrepublik und weltweit an die Interessen der KPC und sorgt für die Umsetzung der Parteilinie. Damit verfügt die KPC neben den staatlichen Nachrichtendiensten über weitere Instrumente zur Durchsetzung ihrer Interessen im Ausland, u.a. mittels Mobilisierung der Auslandschinesen und zur Einflussnahme in den jeweiligen Gastländern. In gleicher Weise können die Konfuzius-Institute dienen. Die VRC begann 2004 mit der Gründung eigener Kulturinstitute, den Konfuzius-Instituten (Kl). In der Bundesrepublik Deutschland gibt es derzeit 19 dieser Einrichtungen, die immer im Umfeld einer Universität oder Fachhochschule angesiedelt sind und von diesen materiell unterstützt werden müssen. Dies unterscheidet sie von vergleichbaren Kultureinrichtungen anderer Staaten, zum Beispiel dem deutschen Goetheoder dem spanischen Cervantes-Institut. Das Lehrpersonal wird von der chinesischen 7 - Ein funktionaler Nachrichtendienst ist eine Organisation, die Spionage betreibt ohne Nachrichtenoder Geheimdienst zu sein. 8 - Der Name "Büro 610" geht auf das Gründungsdatum den 10.06.1999, zurück. 9 - International Liaison Department of The Central Committee of The Communist Party of China = Abteilung für Internationale Verbindungen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas. 10 - United Front Work Department = Zentralabteilung Vereinigte Arbeitsfront des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas 202 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Spionageabwehr Seite ausgebildet und ausgewählt. Die Kl werden seit Jahren verdächtigt, Werkzeuge chinesischer Einflussnahme auf staatliche Interessen in der Bundesrepublik Deutschland zu sein. Im Ausland wurden in Einzelfällen Unregelmäßigkeiten beim Personal beobachtet. So wurde der Leiter des Kl Antwerpen im Berichtszeitraum wegen des Vorwurfs der Spionagetätigkeit aus Belgien ausgewiesen. Mit der Verkündung der chinesischen "Neuen Ära" im Jahr 2017 nach dem Willen des Staatsund Parteichefs Xi Jinping werden sich die Kl neu ausrichten und ihren Fokus dem "Aufbau der sozialistischen Kultur" und der Unterstützung einer "Diplomatie chinesischer Prägung" zuwenden.11 Das geostrategische Projekt der chinesischen Staatsführung, die "neue Seidenstraße" oder "Belt and Road Initiative" (BRI), verfolgt das Ziel, den Zustrom von Rohstoffen in die Volksrepublik China zu beflügeln und den eigenen Warenabsatz zu verbessern. Gleichzeitig geraten die Partnerländer des Projekts in wirtschaftliche Abhängigkeit, da sie die Errichtungsund Ausbaukosten tragen müssen, die von der chinesischen Seite über Kredite vorfinanziert werden. Die BRI soll den geologistischen Rahmen bilden, um die Strategie "Made in China 2025" umzusetzen. Mit dieser Strategie beabsichtigt die chinesische Staatsführung zehn Schlüsselindustrien auszubauen, um letztlich die westliche Innovationsdominanz abzuschütteln und bis zum Jahr 2049 die globale Marktund Technologieführerschaft zu erreichen: 1. neue Informationstechnologien, 2. Robotik und automatisierte Werkzeugmaschinensysteme (Industrie 4.0), 3. Luftund Raumfahrt, 4. Meerestechnik (inklusive Rohstoffund Energiegewinnung sowie Spezialschiffbau), 5. moderne Schienenverkehrstechnik, 6. Elektroanlagenbau, 11 - Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Frage 6 in der Bundestagsdrucksache 19/15560 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 203 Spionageabwehr 7. neue Energien und alternative Antriebe, neue Werkstoffe und Materialien, 8. Biopharmazie und Medizintechnik, 9. Landwirtschaft (Digitalisierung von landwirtschaftlichen Maschinen und Prozessen). Die VRC setzt weiterhin erhebliche finanzielle Mittel gezielt dazu ein, sich ausländische strategisch bedeutsame Unternehmen mit ihrem fortgeschrittenen Know-how anzueignen. Es mehren sich Hinweise, wonach die Nähe zu kritischen Infrastrukturen (KRITIS) einen erwerbsrelevanten Faktor darstellt. Zur Vorsorge und zum Schutz dieser Infrastrukturen sowie der für die Sicherheit der Bundesrepublik bedeutsamen Unternehmen sind gesetzliche Regelungen erlassen worden. Wenn Akteure von außerhalb der Europäischen Union ein solches Unternehmen erwerben möchten, greift seit 2017 ein staatliches Prüfverfahren. Entweder wird gemäß SS 55 Außenwirtschaftsverordnung (AWV) in einem sektorenübergreifenden Verfahren geprüft, ob die öffentliche Ordnung und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland auf Grund der geplanten ausländischen Direktinvestition (ADI) gefährdet ist oder es wird gemäß SS 60 AWV in einem sektorspezifischen Verfahren geprüft, ob wesentliche Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet sind. Der Wirtschaftsschutz12 kann im Vorfeld solcher Übernahmeversuche beratend und sensibilisierend tätig werden. Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran Iranische Nachrichtendienste sind ein zentrales Instrument der politischen Führung zur Durchsetzung des Herrschaftsanspruches im Inund Ausland. Das vorrangige Interesse gilt der Ausspähung von Aktivitäten der iranischen Opposition im Ausland, wie dem "Nationalen Widerstandsrat Iran" (NWRI) und seinem ehemals militärischen Arm, der "Volksmodschahedin Iran-Orga12 - siehe Seite 207 204 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Spionageabwehr nisation" (MEK13), iranisch-monarchistischen Gruppierungen und iranisch-kurdischen Gruppierungen sowie der Überwachung der nach Deutschland geflohenen Iraner. Als Hauptakteur nachrichtendienstlicher Aktivitäten gegen die Bundesrepublik Deutschland kann das MOIS14 gelten. Daneben betreiben die Revolutionsgarden15 den eigenen Nachrichtendienst RGID16 und verfügen mit den Quds Force17 über Spezialkräfte für militärische Kommandoaktionen und Staatsterrorismus. Die Ausspähungsaktivitäten der Quds Force richten sich insbesondere gegen (pro-)jüdische bzw. (pro-)israelische Ziele sowie einzelne exponierte für diese Einrichtungen tätige Personen, die vorbereitend für den Bedarfsfall als potenzielle Anschlagsziele aufgeklärt werden. Führende Politiker Irans haben den Staat Israel wiederholt zum Feindstaat erklärt und öffentlich mit Vernichtungsdrohungen belegt. Iranisch unterstützte Terrororganisationen greifen den Staat Israel mit Waffengewalt an. In den letzten Jahren wurden wiederholt geheimdienstliche Ausspähungsaktivitäten und Cyberangriffe iranischer Nachrichtendienste in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt. Auch Institutionen in Sachsen-Anhalt waren betroffen bzw. bedroht. Andere Nachrichtendienste Die Nachrichtendienste Nordafrikas sowie des nahen und mittleren Ostens werden in Deutschland hauptsächlich gegen Oppositionelle ihrer Heimatländer aktiv. Das gilt insbesondere dann, wenn sich diese in Deutschland entsprechend betätigen, an Demonstrationen teilnehmen oder sich in Kampagnen gegen die Regierungen ihrer Herkunftsländer engagieren. Zu den nach13 - Modschahedin e-Khalq 14 - Ministry of Intelligence of the Islamic Republic of Iran 15 - Iranian Revolutionary Guard Corps (IRGC), persisch: Pasdaran. 16 - Revolutionary Guard Intelligence Directorate 17 - Al-Quds bedeutet "die Heilige", die arabische Bezeichnung für Jerusalem. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 205 Spionageabwehr richtendienstlichen Aktivitäten im Zuge der Flüchtlingsbewegung verweisen wir auf unsere Broschüre: "Aktivitäten extremistischer Akteure im Zusammenhang mit Flüchtlingen" (S. 41ff.), die unter: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/ publikationen/publikationen-tagungsbaende/ heruntergeladen oder bestellt werden kann. Cyberangriffe Eines von vielen Mitteln, das ausländische Nachrichtendienste gegen die Bundesrepublik Deutschland und Sachsen-Anhalt einsetzen, sind Cyberangriffe. Ihr Einsatz bedeutet keineswegs, dass man auf die anderen nachrichtendienstlichen Mittel verzichtet. Das Gegenteil ist der Fall. Soweit es für zweckmäßig erachtet wird, setzen der oder die Angreifer zumeist mehrere sorgfältig ausgewählte Mittel parallel ein. Im Fokus der Angreifer stehen hierbei Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sicherheitsoder Verwaltungsbehörden. Besondere Gefährdungen ergeben sich für Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU). Sie verfügen über ganz unterschiedliche finanzielle, technische und personelle Ressourcen zur Herstellung der Unternehmenssicherheit. Oft sind gewählte Standards noch sehr niedrig und das Sicherheitsbewusstsein zum Teil sehr gering. Wirtschaftsspionage oder auch Konkurrenzausspähung erfolgen auf vielerlei Wegen. Insbesondere frei im Internet verfügbare Cyberangriffsprogramme sind hierbei eine Herausforderung für potenzielle Angriffsziele. Unternehmen sind daher auf allen Hierarchieebenen und in allen Tätigkeitsbereichen gefordert. Der Wirtschaftsschutz bietet hier mit seinen Beratungsangeboten Unterstützung an, um das Sicherheitsbewusstsein zu stärken. Beispielhaft für das anhaltende Gefährdungspotenzial sei auf die iranische Kampagne gegen Universitäten und Hochschulen 206 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Spionageabwehr weltweit verwiesen, die die Cyberangriffskräfte der iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) 2016 begonnen hatten. Diese Kampagne wurde im Berichtsjahr fortgesetzt. Der Verfassungsschutz warnte die am meisten gefährdeten Einrichtungen in Sachsen-Anhalt und übersandte diesen die IoC,18 damit diese entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen konnten. Im Dezember 2019 wandten sich die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder mit einem erneuten Cyberbrief an die Wirtschaftsunternehmen und warnten vor einem Angriff der Gruppe "WinNTI". Diese greift seit 2016 weltweit Industrieunternehmen an und richtet entsprechende Schäden an. Der Cyberbrief und die Briefe der Vorjahre können auf der Seite des BfV heruntergeladen werden: www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/ publikationen/pb-cyberabwehr/ Wirtschaftsschutz Obwohl die Gefahr, von fremden Nachrichtendiensten mittels Cyberattacken angegriffen zu werden, zugenommen hat, die Gefahren der klassischen Wirtschaftsspionage bestehen fort. Dies ist ungebrochen der gesetzliche Auftrag einiger fremder Nachrichtendienste. Um dem entgegen treten zu können, möchte der Wirtschaftsschutz über Mittel, Methoden und Absichten fremder Nachrichtendienste, aber auch von Extremisten und Terroristen informieren. Wirtschaft und Wissenschaft können sich so eigenverantwortlich und effektiv gegen jede Art der Ausforschung (insbesondere Wirtschaftsspionage), Sabotage und Bedrohungen schützen. 18 - Indicators of Compromise. Dies sind technische Internetdaten, die im Zusammenhang mit Schadsoftware stehen und in eine Firewall oder ein Intrusion Etection System eigepflegt werden können, dazu gehören z. B. E-Mail-Adressen, IP-Adressen, URLs. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 207 Spionageabwehr In diesem Zusammenhang ist auf zwei Studien hinzuweisen , an denen die Verfassungsschutzbehörden unmittelbar beteiligt waren. * Das von der Wirtschaft getragene Sicherheitsforum Baden-Württemberg, in dem sich auch der dortige Wirtschaftsschutz im Landesamt für Verfassungsschutz engagiert, veröffentlichte eine Studie zur Gefährdung von Unternehmen. Ziel der Studie war eine Fallund Schadensanalyse auf empirischer Basis und eine Erhebung der ergriffenen Präventionsund Sicherheitsmaßnahmen im Bereich der IT-Sicherheit. Sie zeigt, dass Cyberangriffe den häufigsten Gefährdungsfaktor für ungewollte Informationsabflüsse darstellen. Als Ergebnis entstand ein IT-Schutzkonzept für KMU. Die Studie und das Schutzkonzept können von der Homepage des Sicherheitsforums Baden-Württemberg herunter geladen werden: www.sicherheitsforum-bw.de * Eine weitere Studie entstand im Auftrag der nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbehörde. Sie verfolgte das Ziel, den Stand von Sicherheitsmaßnahmen in KMU zu erheben. Dabei zeigte sich, dass sich die KMU weitgehend sicherer einstuften als sie es tatsächlich waren. Insbesondere mangelte es an organisatorischen und personenbezogenen Schutzmaßnahmen. Das "Lagebild Wirtschaftsschutz 2019 kompakt" kann herunter geladen werden: www.im.nrw/lagebild-wirtschaftsschutz-nrw-2019-1 Der Wirtschaftsschutz geht auf gefährdete Unternehmen und Institutionen zu, wenn konkrete Gefährdungshinweise vorliegen. Im Rahmen seiner Präventionsarbeit sucht der Wirtschaftsschutz insbesondere zu KMU Kontakt und wirbt dafür, Risiken und Bedrohungen ernst zu nehmen, entsprechend sensibel zu reagieren und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Der Wirtschaftsschutz ist mit den Sicherheitsbehörden des 208 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Spionageabwehr Bundes und der Länder, den Industrieund Handelskammern in Sachsen-Anhalt, mit Wirtschaftsverbänden sowie wissenschaftlichen Lehrund Forschungseinrichtungen vernetzt. Gemeinsam mit der Industrieund Handelskammer Magdeburg veranstaltete der Wirtschaftsschutz am 6. November in den Räumen der Kammer den 3. Wirtschaftsschutztag. Nach Grußworten des Kammerpräsidenten Klaus Olbricht und der Staatssekretärin des Ministeriums für Inneres und Sport wurden Fachvorträge des BfV, des Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), eines Magdeburger Softwarelabors, des Verbandes der sachsen-anhaltischen ITund Multimediaindustrie e.V. sowie der Initiative IT-Security der Hochschule Harz, der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg präsentiert. Ergänzend konnten die etwa 130 Besucherinnen und Besucher aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung im Rahmen einer Kommunkationsbörse mit Infoständen, wo sie mit den Referenten ins individuelle Gespräch kommen, Kontakte knüpfen und Informationen vertiefen konnten. Ergänzend hält die Verfassungsschutzbehörde ein Publikationsangebot vor, das auf Wunsch versendet wird. Dieses umfasst insbesondere Informationen zum Wirtschaftsschutz in Sachsen-Anhalt, ein Lagebild und das Darstellen spezifischer Risiken für Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Darüber hinaus sind aktuelle Informationen zu folgenden Spezialthemen verfügbar: * Besuchermanagement. Umgang mit Besuchern und Fremdpersonal. * Cloud Computing. Was KMU wissen und beachten sollten. * Elektronische Angriffe. Gefahren für Informationsund Kommunikationstechnik. * Fokus Wissenschaft. Gefahren für Forschung und Lehre. * Geschäftsreisen. Sicherheit bei Auslandsreisen. * Industrie 4.0. Herausforderungen neuer Technologien. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 209 Spionageabwehr * Know-how-Schutz. Identifizieren. Bewerten. Schützen. * Personalauswahl. Loyalität als Sicherheitsgewinn. * Sicherheitslücke Mensch. Gefahr durch Innentäter. Social Media. Risiken durch soziale Netzwerke. Social Engineering. Informationsbeschaffung durch soziale Manipulation. Der Wirtschaftsschutz ist offen für Fragen oder Informationsbedarf. Dazu können Sie mit uns in Kontakt treten: Telefon: 0391/567 3900 E-Mail: wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de Proliferationsabwehr Mit Proliferation bezeichnet man die Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen (sog. ABC-Waffen) sowie ihrer potenziellen Trägersysteme (ballistische Raketen, Marschflugkörper, Drohnen etc.). Des Weiteren fällt unter diesen Begriff auch die Weiterverbreitung der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows. Die Finanzierung der Proliferation, ihrer Güter und ihres Know-hows unterliegt ebenfalls einem strengen Sanktionsregime. Die Nachrichtendienste der Risikostaaten Pakistan, Nordkorea, Syrien und Iran stehen im Verdacht, Proliferation zu betreiben und zu fördern, indem sie diese Aktivitäten logistisch und personell unterstützen. Um illegale Exporte durchzuführen, wird beispielsweise der Endnutzer einer sensiblen Ware verschleiert und eine Beschaffung über Umweglieferländer gewählt, zudem werden Tarnfirmen und Strohmänner genutzt. Proliferation stellt eine Bedrohung des Friedens dar. Weitere Hinweise und Merkmale für Proliferation finden Sie in der Broschüre "Proliferation. Wir haben Verantwortung", die von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder herausgegeben wird. 210 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Spionageabwehr Sie kann im Internet unter: https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/publikationen/ publikationen-spionage-und-proliferationsabwehr/ heruntergeladen oder als Druckschrift per E-Mail bei wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de angefordert werden. Mitarbeit der Bevölkerung Die Verfassungsschutzbehörde hat gemäß SS 4 Abs. 1 Nr. 3 VerfSchG-LSA den gesetzlichen Auftrag Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen über geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht zu sammeln und auszuwerten. Damit sie ihren Auftrag erfüllen kann, benötigt sie auch und gerade Hinweise auf die Tätigkeit fremder Nachrichtendienste. Alle Bürgerinnen und Bürger, die von derartigen Sachverhalten Kenntnis haben oder von fremden Nachrichtendiensten zur Mitarbeit aufgefordert wurden, werden gebeten, ihr Wissen im Interesse unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung und ihrer eigenen Sicherheit an die Verfassungsschutzbehörde weiterzugeben. Auch demjenigen, der bereits im fremden Interesse nachrichtendienstlich tätig geworden ist, kann geholfen werden, sich aus einer ausweglos erscheinenden Situation zu befreien. Die Verfassungsschutzbehörden unterliegen nicht wie die Strafverfolgungsbehörden dem Legalitätsprinzip und sind daher nicht in jedem Fall verpflichtet, die Strafverfolgungsbehörden über Hinweise auf Spionagedelikte zu informieren. Voraussetzung ist die freiwillige Aufgabe der nachrichtendienstlichen Tätigkeit und eine umfassende Offenbarung. Die Verfassungsschutzbehörde bietet jederzeit ihre Hilfe an und sichert Vertraulichkeit zu. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 211 Spionageabwehr Das Gleiche gilt für die Übermittlung etwaiger Verdachtsmomente sowie von Informationen über mögliche Sicherheitsvorfälle und Cyberangriffe. Die Spionageabwehr des Landes Sachsen-Anhalt ist zu erreichen unter: Telefon: 0391/567 3900 Fax: 0391/567 3999 E-Mail: wirtschaftsschutz@mi.sachsen-anhalt.de Sie bietet allen Bürgern, Unternehmen, Interessenverbänden, Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Behörden Sensibilisierungen zu den Themen Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz und Cyberabwehr an. 212 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Geheimschutz Geheimschutz Allgemeines Verschlusssachen (VS) sind Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die - unabhängig von ihrer Darstellungsform - geheim zu halten und entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit mit einem der Geheimhaltungsgrade STRENG GEHEIM, GEHEIM, VS-VERTRAULICH oder VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH zu kennzeichnen sind. Alle Institutionen des Bundes und der Länder müssen sich darauf verlassen können, dass Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder gefährden können, als im staatlichen Interesse geheim zu haltende Informationen (VS) wirkungsvoll geschützt werden. Jeder, dem eine VS anvertraut oder zugänglich gemacht worden ist, trägt die persönliche Verantwortung für ihre sichere Aufbewahrung und vorschriftsmäßige Behandlung sowie für die Geheimhaltung ihres Inhalts gemäß den Bestimmungen der Verschlusssachenanweisung für das Land Sachsen-Anhalt (VSA). Geheimschutz im öffentlichen Bereich Personeller Geheimschutz Mit dem personellen Geheimschutz soll verhindert werden, dass Personen mit Sicherheitsrisiken Zugang zu VS erhalten. Das hierzu genutzte Instrument ist die Sicherheitsüberprüfung von Personen, die mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen. Die Verantwortung für diese Sicherheitsmaßnahmen liegt bei den zuständigen Stellen. Im öffentlichen Bereich des Landes ist die zuständige Stelle in der Regel die Beschäftigungsbehörde. Die zuständige Stelle bestellt zur Erfüllung ihrer Aufgaben einen Geheimschutzbeauftragten und einen Vertreter. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 213 Geheimschutz Das Sicherheitsüberprüfungsverfahren ist im Sicherheitsüberprüfungsund Geheimschutzgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (SÜG-LSA) geregelt. Die Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalts beruht auf SS 4 Abs. 2 Nr. 1 VerfSchG-LSA in Verbindung mit SS 4 Abs. 3 SÜG-LSA. Gründe, die einem Einsatz in einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit entgegenstehen, können sich insbesondere ergeben aus: - Zweifeln an der Zuverlässigkeit (z.B. aufgrund von Straftaten, Drogenoder Alkoholmissbrauch); - Gefährdungen durch Anbahnungsund Werbungsversuche fremder Nachrichtendienste (zum Beispiel im Falle einer Überschuldung, da dies ein Ansatzpunkt sein kann, um den Betroffenen gegen Geldzahlung zu einer Verletzung seiner Pflichten zu veranlassen); - Zweifeln am Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (z.B. wegen extremistischer Betätigung). Die Frage, ob sich aus einem derartigen Umstand tatsächlich ein Sicherheitsrisiko ergibt, ist in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Art der vorgesehenen sicherheitsempfindlichen Tätigkeit zu prüfen. Eine Sicherheitsüberprüfung darf nur mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung des Betroffenen erfolgen. Materieller Geheimschutz Der materielle Geheimschutz befasst sich mit technischen und organisatorischen Sicherheitsvorkehrungen, die verhindern oder zumindest erschweren sollen, dass Unbefugte an geschützte Informationen gelangen. Die Verfassungsschutzbehörde hat hierbei die Aufgabe, öffentliche Stellen und geheimschutzbetreute Unternehmen des Landes zu beraten, wie sie am besten technische Sicherungsmaßnahmen planen und durchführen können. 214 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 StatiStik 2017 2018 2019 Rechtsextremisten Parteigebundener Rechtsextremis265 265 180 mus (Parteien) Parteiungebundener Rechtsextre350 340 360 mismus Weitgehend unstrukturierter, meist subkulturell geprägter Rechtsextre760 740 740 mismus Summe: 1.375 1.345 1.280 Gesamt (nach Abzug der Mehrfach1.300 1.300 1.230 mitgliedschaften) Linksextremisten Gewaltbereite Linksextremisten, 230 270 290 insbesondere Autonome Parteien und sonstige Gruppierun260 260 260 gen, u.a. die "Rote Hilfe" Gesamt: 490 530 550 Islamisten 200 300 400 Reichsbürgerszene (inkl. Rechtsextremisten innerhalb 450 500 500 dieser Szene) PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) 250 250 250 GESAMTZAHL aller Extremisten in Sachsen-Anhalt (nach Abzug von 2.655 2.880 2.930 Mehrfachmitgliedschaften) Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 215 StatiStik Politisch motivierte Straftaten nach 2017 2018 2019 Phänomenbereich (Stand 31.12.2019) Politisch motivierte Straftaten insgesamt: -rechts1.461 1.321 1.441 -links398 280 418 ausländische Ideologie 14 11 10 religiöse Ideologie 30 18 6 nicht zuzuordnen 382 160 287 Davon waren: Extremistische Straftaten: -rechts1.398 1.270 1.384 -links164 109 173 ausländische Ideologie 10 6 7 religiöse Ideologie 21 11 5 nicht zuzuordnen 6 12 23 Fremdenfeindliche Straftaten 328 348 335 Antisemitische Straftaten 54 62 70 Politisch motivierten Gewalttaten: -rechts105 92 74 -links41 24 60 ausländische Ideologie 3 3 1 religiöse Ideologie 3 1 0 nicht zuzuordnen 6 13 15 216 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 StatiStik Davon waren: Extremistische Gewalttaten: -rechts101 91 71 -links29 21 47 ausländische Ideologie 1 3 1 religiöse Ideologie 1 0 0 nicht zuzuordnen 1 2 2 Propagandadelikte -rechts1.020 923 1.056 -links- 2 5 6 ausländische Ideologie 2 0 0 religiöse Ideologie 1 0 0 nicht zuzuordnen 1 3 2 Anmerkung: Die Sammlung der Fallzahlen der Politisch motivierten Straftaten erfolgt seitens der Polizei und nicht seitens der Verfassungsschutzbehörde. Die Gesamtzahl eines Jahres kann sich im Nachgang noch geringfügig ändern, wenn die Ermittlungen zu einzelnen Taten eine andere Motivlage ergeben haben, als zunächst vermutet wurde. Der hier wiedergegebene Auszug aus der polizeilichen Strafund Gewalttatenstatistik dient dem besseren Verständnis für einzelne Zusammenhänge innerhalb der verschiedenen extremistischen Phänomenbereiche. Die Verfassungsfeindlichkeit einer Gruppierung setzt das Begehen von Strafund Gewalttaten nicht voraus. Es genügt vielmehr, wenn eine Gruppierung ihre verfassungsfeindlichen Ziele ausschließlich mit legalen Mitteln und unter Ausschluss jeglicher Gewaltanwendung verfolgt. Dies bedeutet umgekehrt jedoch auch nicht, dass jede verfassungsfeindliche Gruppierung innerhalb des gesetzlichen Rahmens und somit strafund gewaltfrei handelt. Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 217 Bildnachweis Seite III Jens Schlüter Seite 23 Willy Knabe Seite 25 Polizei Sachsen-Anhalt Seite 27 Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt (MI LSA) Seite 28 MI LSA Seite 31 RIAS Seite 37 Logo NPD; Deutsche Stimme Seite 39 Schutzzonenkampagne der NPD Seite 40 NPD Seite 41 NPD Landesverband Sachsen-Anhalt Seite 42 Deutsche Stimme (Screenshot) Seite 43 Schutzzonenkampagne der NPD Seite 44 Facebook Seite 47 Logo DR Seite 49 DR Seite 51 Logo III. Weg Seite 53 III. Weg Seite 55 Twitter Seite 58 YouTube Seite 59 Blog "Originem" Seite 60 MI LSA Seite 63 MI LSA Seite 66 Facebook Seite 68 Logo "Artgemeinschaft" Seite 69 Myspace Seite 73 N.S. Heute Seite 80 Internetseite der Kampagne "Schwarze Kreuze" Seite 81 Facebook Seite 83 DR Seite 93 MI LSA Seite 95 "Kampf der Nibelungen" Seite 96 Telegram Seite 99 "Rebel Records" (Brandenburg) Seite 111 KRD Seite 113 KRD 218 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Bildnachweis Seite 115 Internetseiten der jeweiligen "Reichsbürger"Gruppierungen Seite 116 Fantasieausweis der "Reichsbürger"-Gruppierung Internetseite der "Reichsbürger"-Gruppierung Seite 122 Internetseite der Gruppierung ZK Seite 124 DKP Seite 127 Internetseiten der Gruppierungen ZK und PAM; MI LSA Seite 128 Internetseiten der IL und des RAB; Facebook Seite 129 Internetseite der Gruppierung "die plattform" Seite 130 Internetseite der Gruppierung JO Seite 132 Internetseite der Kampagne "jedertagistkampftag" Seite 133 Internetseite der Gruppierung ZK Seite 139 MI LSA Seite 140 Internetseite der Gruppierung ZK Seite 142 de.indymedia.org Seite 144 Twitter Seite 147 MI LSA Seite 148 Logo RH Seite 151 RH Seite 152 RH Seite 154 Logo MLPD Seite 156 MLPD Seite 158 Logo DKP; Marxistische Blätter (Screenshot) Seite 160 DKP Seite 169 IS Seite 171 Twitter Seite 172 Wikipedia Seite 173 Logo TJ Seite 176 Wikipedia Seite 178 Wikipedia Seite 181 MI LSA Seite 182 Logo PKK Seite 183 Logo KON-MED Seite 190 Solibündnis Kurdistan-Magdeburg Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 219 Bildnachweis Seite 192 Logos der beiden verbotenen Vereinigungen Seite 194 Internetseite KCDK-E Seite 195 Logo und Zeichen SO 220 Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt 2019 Verteilerhinweis Dieser Bericht wird vom Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt im Rahmen der gesetzlichen Verpflichtung zur Unterrichtung der Öffentlichkeit herausgegeben. Er darf weder von Parteien noch von deren Kandidaten oder Helfern während des Wahlkampfes zum Zweck der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für alle Wahlen. Missbräuchlich sind insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen und an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist auch die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer Wahl darf die vorliegende Druckschrift nicht so verwendet werden, dass sie als Parteinahme des Herausgebers zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Diese Beschränkungen gelten unabhängig vom Vertriebsweg, also unabhängig davon, auf welchem Wege und in welcher Anzahl diese Informationsschrift dem Empfänger zugegangen ist. Erlaubt ist jedoch den Parteien, die Informationsschrift zur Unterrichtung ihrer Mitglieder zu verwenden. = m SACHSEN-ANHALT Ministerium für Inneres und Sport