Verfassungsschutzbericht VORWORT VORWORT Am 11. März 2004 bewahrheitete sich mit den Anschlägen von Madrid, die 191 Todesopfer und mehr als 1.600 Verletzte forderten, auf schreckliche Art und Weise, worauf die Sicherheitsbehörden bereits seit dem 11. September 2001 hingewiesen hatten: In Anbetracht der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus sind auch die europäischen Länder Teil des weltweiten Gefahrenraumes. Eine klare Sprache sprechen in diesem Zusammenhang auch die rechtzeitig aufgedeckten Planungen von Islamisten, ein Attentat auf den irakischen Ministerpräsidenten ALLAWI bei dessen Deutschlandbesuch im Dezember zu verüben. Sie belegen, dass eine Gefährdung für Deutschland - und damit auch für SachsenAnhalt - nicht auszuschließen ist. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus stellte auch 2004 die größte sicherheitspolitische Herausforderung dar. Die Vorfeldaufklärung des Verfassungsschutzes ist eine Antwort darauf. Noch stärker als in der Vergangenheit werden wir aber darauf angewiesen sein, die von den unterschiedlichen Sicherheitsbehörden gewonnenen Informationen im Sinne eines ganzheitlichen Bekämpfungsansatzes zusammenzuführen und in ihrer Gesamtheit zu analysieren. Auch hier gilt der allgemeine Grundsatz, dass die Gesamtschau mehr ist als nur die Summe der Einzelinformationen. I VORWORT Der vorliegende Verfassungsschutzbericht widmet sich ausführlich auch den beobachteten rechtsextremistischen Bestrebungen. Insbesondere nach dem Wahlerfolg der NPD in Sachsen, der auf Absprachen mit der rechtsextremistischen "Deutschen Volksunion" (DVU) zurückzuführen ist, war in Teilen der rechtsextremistischen Szene ein gestiegenes Selbstbewusstsein festzustellen, das unter anderem in provozierender Verwendung rechtsextremistischer Symbolik seinen Ausdruck fand und so zu einem Anstieg der Anzahl rechtsextremistischer Straftaten beitrug. Die leichte Zunahme des rechtsextremistischen Personenpotenzials geht auf Zuwächse im Bereich der rechtsextremistischen Parteien zurück. Die Anzahl gewalttätiger Rechtsextremisten nahm im Berichtszeitraum ab. Gleichwohl gingen von diesem Personenkreis mehr Gewalttaten als im Vorjahr aus. Das rechtsextremistische "Projekt Schulhof", das die kostenlose Verteilung einer Propaganda-CD vor allem an Schüler zum Ziel hatte, ist als gescheitert zu betrachten. Dies ist in erster Linie auf die rasche Einleitung strafprozessualer und jugendschützender Maßnahmen sowie eine umfassende Aufklärungsarbeit vor allem der Verfassungsschutzbehörden zurückzuführen. Nach deutlichen Rückgängen im Vorjahr beobachtete der Verfassungsschutz im Berichtsjahr wieder eine leichte Zunahme des linksextremistischen Personenpotenzials. Die Anzahl Autonomer blieb dabei gleich. Von der linksextremistischen Szene gingen geringfügig mehr Straf-, aber deutlich weniger Gewalttaten aus. Wie in den vergangenen Jahren soll auch der vorliegende Verfassungsschutzbericht 2004 seinen hoffentlich zahlreichen Lesern ermöglichen, sich ein Bild von den aktuellen Entwicklungen in den Bereichen Extremismus, Terrorismus und Spionageabwehr zu machen und sich über die Arbeit des Verfassungsschutzes im Allgemeinen zu informieren. II VORWORT Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verfassungsschutzbehörde haben auch im zurückliegenden Jahr engagiert und professionell gearbeitet und so einen wichtigen Beitrag zur inneren Sicherheit in Sachsen-Anhalt geleistet. Hierfür gilt ihnen mein Dank. Magdeburg, im Mai 2004 Klaus Jeziorsky Minister des Innern III I N H A LT S V E R Z E I C H N I S VORWORT I. ÜBERBLICK 1 II. RECHTSEXTREMISMUS 5 SUBKULTURELL GEPRÄGTE, GEWALTBEREITE RECHTSEXTREMISTEN 5 Allgemeines 5 Strafund Gewalttaten 6 Bundesweit agierende Skinheadgruppierungen 8 Rechtsextremistische Musikveranstaltungen 10 Veröffentlichung strafrechtlich relevanter Tonträger 13 Rechtsextremistische Fanzines 14 Rechtsextremistische Vertriebe 14 RECHTSEXTREMISTISCHE SZENEN IN SACHSENANHALT 17 Rechtsextremistische Szene im Raum Halle-Merseburg 17 Rechtsextremistische Szene im Raum Magdeburg 19 Rechtsextremistische Szene der Region Sangerhausen 22 Rechtsextremistische Szene im Raum DessauWittenberg-Bitterfeld 23 Rechtsextremistische Szene in der Altmark 24 Rechtsextremistische Szene im Harz und im Harzvorland 26 ORGANISATIONSÜBERGREIFENDE AKTIVITÄTEN 26 Demonstrationsgeschehen 26 Aktivitäten zum 20. April (HITLER-Geburtstag) 30 Aktivitäten zum 8. Mai 30 Rudolf-HESS-Gedenkveranstaltungen 31 Aktivitäten zum "Heldengedenktag" (Volkstrauertag) 32 Sonnenwendfeiern 34 IV I N H A LT S V E R Z E I C H N I S "Nationales Zentrum Mitteldeutschland" in Trebnitz (Landkreis Bernburg) 34 DISKURSORIENTIERTER RECHTSEXTREMISMUS ("NEUE RECHTE") 35 "Deutsches Kolleg" (DK) 36 "Nation & Europa" 39 NUTZUNG NEUER MEDIEN DURCH RECHTSEXTREMISTEN 40 RECHTSEXTREMISTISCHE PARTEIEN UND VEREINIGUNGEN 43 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 43 "Deutsche Volksunion" (DVU) 52 "Deutsche Partei - Die Freiheitlichen" (DP) 54 "Die Republikaner" (REP) 55 "Kampfbund Deutscher Sozialisten" (KDS) 57 III. LINKSEXTREMISMUS 58 AUTONOME 58 Entwicklung und gegenwärtige Situation der Autonomenszene 58 Situation der Autonomenszene in Sachsen-Anhalt 60 Aktionsfelder der Autonomenszene in SachsenAnhalt 61 Militanzdebatte innerhalb der linksextremistischen Szene 70 Linksextremistische Einflussnahme auf die AntiAtomkraftbewegung 73 Strafund Gewalttaten 75 LINKSEXTREMISTISCHE PARTEIEN UND VEREINIGUNGEN 75 "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD-Ost) 76 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) 76 V I N H A LT S V E R Z E I C H N I S "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) 77 "Kommunistische Plattform der PDS" (KPF) 78 "Freie Arbeiterinnenund Arbeiter Union - Internationale Arbeiter Assoziation" (FAU-IAA) 78 "RotFuchs-Förderverein e. V." 79 Linksextremistische Einflussnahme auf Demonstrationen gegen die Sozialreformen 80 Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt am 13. Juni 81 Wahlen zum Europaparlament 82 IV. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE UND EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 84 Allgemeines 84 Bedrohung durch den internationalen islamistischen Terrorismus 87 Gefährdungslage in der Bundesrepublik Deutschland 93 Gefährdungslage in Sachsen-Anhalt 94 Islamistische Organisationen in Deutschland 94 Kurdische und türkische linksextremistische Organisationen 98 Strafund Gewalttaten 104 V. SPIONAGEABWEHR 105 Allgemeines 105 Nachrichtendienste der Russischen Föderation 106 Nachrichtendienste aus Staaten des Nahen und Mittleren Ostens 106 Nachrichtendienste der Volksrepubliken China und Nordkorea 107 Proliferation 107 Mitarbeit der Bevölkerung 108 VI I N H A LT S V E R Z E I C H N I S VI. GEHEIMSCHUTZ 110 Allgemeines 110 Geheimschutz im Behördenbereich 110 Geheimschutz in der Wirtschaft 111 VII. VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT 112 Grundlagen und organisatorische Ausgestaltung des Verfassungsschutzes 112 Erreichbarkeit der Verfassungsschutzabteilung 114 Aufgaben des Verfassungsschutzes 114 Keine polizeilichen Befugnisse 115 Methoden und Mittel nachrichtendienstlicher Tätigkeit 115 Datenschutz 116 Auskunftserteilung 117 Kontrolle 117 Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes 118 VIII. ANHANG 119 GESETZ ÜBER DEN VERFASSUNGSSCHUTZ IM LAND SACHSEN-ANHALT (VerfSchG-LSA) 119 STRAFUND GEWALTTATENSTATISTIK 137 VII ÜBERBLICK I. ÜBERBLICK Das rechtsextremistische Personenpotenzial wuchs im Berichtszeitraum in Sachsen-Anhalt wieder leicht an. Diese Entwicklung wird durch die politisch motivierten Straftaten nachvollzogen. Der Anstieg dieser Straftaten im Bereich Rechtsextremismus ist vorrangig auf eine Zunahme der so genannten Propagandadelikte zurückzuführen. Hierzu zählt insbesondere die Verwendung verbotener Symbolik, die Rechtsextremisten zur gezielten Provokation dient. Dieses Phänomen ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund rechtsextremistischer Wahlerfolge zu sehen, die Teilen der Szene offenbar zu einem gestiegenen Selbstbewusstsein verholfen haben. Bei einer Zunahme rechtsextremistischer Gewalttaten ging die Anzahl gewaltbereiter Rechtsextremisten nochmals zurück. Die leichte Zunahme des rechtsextremistischen Personenpotenzials insgesamt ist auf Zuwächse im Bereich der rechtsextremistischen Parteien, insbesondere der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) zurückzuführen. Letztere zog im Berichtsjahr erstmals seit 1968 wieder in ein Landesparlament ein, nachdem sie bei den sächsischen Landtagswahlen am 19. September 9,2 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Der "Deutschen Volksunion" (DVU) gelang am gleichen Tag der Wiedereinzug in den Landtag von Brandenburg. Bereits zuvor, am 13. Juni, hatten die Kandidaten rechtsextremistischer Parteien bei den Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt insgesamt 14 Mandate errungen. Ausschlaggebend für die Erfolge bei den Landtagswahlen dürften insbesondere Wahlabsprachen zwischen den Vorsitzenden von NPD und DVU gewesen sein, sich nicht durch parallele Kandidaturen zu behindern. Beide Parteien haben zudem von Wählerstimmen profitiert, die sie durch die Ausrichtung ihres Wahlkampfes auf den 1 ÜBERBLICK Protest gegen die unter dem Stichwort "Hartz IV" eingeleiteten Sozialreformen erhielten. Die Sozialreformen waren auch Thema einer Anzahl von rechtsextremistischen Demonstrationen. Zudem beteiligten sich Rechtsextremisten unterschiedlicher Couleur an Protesten anderer Gruppen und versuchten dabei, die Veranstaltungen zur Verbreitung rechtsextremistischen Gedankengutes zu nutzen. Als besondere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden erwies sich im Berichtszeitraum ein unter der Bezeichnung "Projekt Schulhof" bekannt gewordenes Propagandavorhaben von Rechtsextremisten. Diese beabsichtigten, eine multimediale CD mit Liedern rechtsextremistischer Musikgruppen sowie Internetund Kontaktadressen rechtsextremistischer Organisationen kostenlos und in hoher Stückzahl im gesamten Bundesgebiet - insbesondere an Schulen - zu verteilen. Die Initiatoren setzten dabei bewusst auf die Wirkung der Musik, um auf subtile Art und Weise Interesse für die rechtsextremistische Szene zu wecken. Nachdem die Generalstaatsanwaltschaft eine Strafbarkeit nach dem Jugendschutzgesetz angenommen hatte, erwirkte die Staatsanwaltschaft Halle - Zentralstelle zur Bekämpfung gewaltdarstellender, pornografischer und sonstiger jugendgefährdender Schriften - Anfang August 2004 einen allgemeinen Beschlagnahmebeschluss hinsichtlich der zur Verteilung vorgesehenen CDs. Allein der guten und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Innenund Justizbehörden ist es zu verdanken, dass die Ziele der Rechtsextremisten vereitelt wurden. Dazu hat die zügige und umfassende Aufklärung der Öffentlichkeit entscheidend beigetragen. Diese wurde bereits im Juni mit einer ersten Pressemitteilung des hiesigen Innenministeriums eingeleitet. Eine Pressemitteilung des Generalstaatsanwaltes machte zudem eindringlich auf die strafrechtliche Relevanz und den jugendgefährdenden Charakter der CD aufmerksam und sprach damit insbesondere Lehrer, Schüler und Erziehungsberechtigte an. 2 ÜBERBLICK Im Berichtsjahr konnte die hiesige Polizei erneut strafrechtlich relevante rechtsextremistische Tonträger, Fahnen und T-Shirts sowie Computer und Geschäftsunterlagen einschlägiger Händler sicherstellen und somit für eine Verunsicherung innerhalb der Szene sorgen. Die Anzahl der Skinheadmusikveranstaltungen stieg in Deutschland trotz umfangreicher Maßnahmen der Sicherheitsbehörden weiter an. In Sachsen-Anhalt stagnierte die Anzahl der Konzerte auf hohem Niveau. Eine Reihe von ihnen wurde konspirativ vorbereitet, als private Feiern angemeldet oder auf Privatgrundstücken durchgeführt. Als Schwerpunkte erwiesen sich dabei Objekte in Sotterhausen (Landkreis Sangerhausen), Angern (Ohrekreis) und Tangerhütte (Landkreis Stendal). An den Planungen zur Schaffung eines Schulungszentrums in der Immobilie "Schloss Trebnitz" (Landkreis Bernburg) wird offenbar nicht weiter festgehalten. Nachdem die anfänglichen baulichen Maßnahmen weitgehend zum Erliegen gekommen sind, bietet der bekannte Neonazi und neue Eigentümer Steffen HUPKA das Objekt zum Kauf an. Abgesehen von der NPD gingen von der rechtsextremistischen Parteienlandschaft nur in geringem Umfang Aktivitäten aus. Ihre Mitgliederzahlen stagnieren auf niedrigem Niveau. Gleichwohl wurde zwischen NPD und DVU vereinbart, dass lediglich letztere zu den sachsen-anhaltischen Landtagswahlen 2006 antritt. Das linksextremistische Personenpotenzial vergrößerte sich nach einer deutlichen Abnahme im Vorjahr wieder leicht. Diese Zunahme ist zur Gänze auf die linksextremistischen Parteien zurückzuführen. Die Anzahl politisch motivierter Straftaten im Bereich Linksextremismus stieg im Berichtsjahr leicht an, während entsprechende Gewalttaten um ein Drittel zurückgingen. 3 ÜBERBLICK Die Anzahl Autonomer blieb gleich. Ihre regionalen Schwerpunkte befinden sich nach wie vor in Magdeburg, Halle und Dessau. Weitere entsprechende Aktivitäten sind vor allem in den Regionen Bitterfeld, Halberstadt, Haldensleben, Merseburg, Quedlinburg, Salzwedel, Stendal und Wernigerode festgestellt worden. Auch die hiesige Autonomenszene ist nach wie vor von konzeptionellen und ideologischen Defiziten geprägt. Dies führte im Berichtsjahr zu einer weiteren Abnahme der Mobilisierungsfähigkeit. Hauptaktionsfeld ist nach wie vor das unter dem Schlagwort "Antifaschismus" betriebene Vorgehen gegen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten. Auch Linksextremisten griffen die Proteste gegen die Sozialreformen auf und versuchten, diese zu instrumentalisieren. Hierzu beteiligten sich Mitglieder linksextremistischer Parteien an den Protesten anderer Gruppen oder führten eigene Veranstaltungen durch. Bei den sachsen-anhaltischen Kommunalwahlen erlangten Kandidaten linksextremistischer Parteien zwei Mandate. Wegen der nach wie vor weltweit hohen Gefährdung der inneren Sicherheit durch den internationalen islamistischen Terrorismus bleibt dessen Beobachtung ein Schwerpunkt der Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde. Im Berichtsjahr haben die Anschläge am 11. März in Madrid auf tragische Weise die Einschätzungen der Sicherheitsbehörden bestätigt, dass auch ein europäisches Land Opfer von Anschlägen islamistischer Fanatiker sein kann. Dass Deutschland dabei keine Ausnahme darstellt, belegt ein geplanter Anschlag auf den irakischen Ministerpräsidenten, der bei dessen Staatsbesuch im Dezember erfolgen sollte, von den Sicherheitsbehörden aber verhindert wurde. Abgesehen von der kurdischen Organisation KONGRA-GEL verfügen ausländerextremistische Gruppierungen nach wie vor über keine festgefügten Strukturen in Sachsen-Anhalt. 4 RECHTSEXTREMISMUS II. RECHTSEXTREMISMUS Im Jahr 2004 konnten die rechtsextremistischen Parteien ihre Mitgliederverluste der letzten Jahre kompensieren und verzeichneten teils sogar Mitgliederzuwächse. Das Potenzial gewaltbereiter Rechtsextremisten verringerte sich erneut. Rechtsextremisten1 2003 2004 Parteien und Vereinigungen 260 370 Neonazis2 250 250 Gewaltbereite Rechtsextremisten 650 600 Sonstige Personenzusammenschlüsse 10 10 Gesamt: 1.170 1.230 SUBKULTURELL GEPRÄGTE, GEWALTBEREITE RECHTSEXTREMISTEN Allgemeines Rechtsextremistische Skinheads stellen seit langem den bei weitem größten Anteil an der bundesweit etwa 10.000 Personen umfassenden Szene gewaltbereiter Rechtsextremisten. Rechtsextremistische Skinheads verfügen über kein geschlossenes politisches Weltbild. Ihre Orientierung ist als gewaltgeprägt, antisemitisch, neonazistisch und insgesamt autoritär zu bezeichnen und lässt sich darüber hinaus als rassistisch, fremdenfeindlich, antidemokratisch, antibürgerlich-proletarisch, antiintellektuell und männerdominiert beschreiben. Bei den rechtsextremistischen Skinheads handelt es sich um keine homogene, geschlossene Szene. Vielmehr existiert eine Bandbreite unterschiedlicher, miteinander kooperierender Gruppierungen. Etwa 85 Prozent der rechtsextre- 1 Zahlen zum Teil geschätzt und gerundet. 2 Nach Abzug der Mehrfachmitgliedschaften. 5 RECHTSEXTREMISMUS mistischen Gewalttäter sind Skinheads. Ein infrastrukturelles Geflecht von Bands, Vertrieben und Szene-Läden sorgt für die Verbreitung rechtsextremistischer Inhalte. Die Skinheadszene dient Neonazis als wichtiges Rekrutierungsreservoir. In den letzten Jahren wahrzunehmende Abgrenzungen zwischen Neonaziund Skinheadszene sind inzwischen vielfach nicht mehr auszumachen. Begünstigt wird dies durch offenere Strukturen der "Freien Nationalisten" (Kameradschaften), die sich unter dem Slogan "Organisierung ohne Organisation" in Kleinstgruppen strukturieren, die lediglich über informelle regionale Koordinationsgremien miteinander verknüpft sind. Strafund Gewalttaten3 Die Anzahl politisch motivierter Straftaten im Bereich Rechtsextremismus stieg im Berichtsjahr nach deutlichen Rückgängen in den beiden Vorjahren erstmals wieder an. Sie erreichte dabei aber nicht das Niveau des Jahres 2001, in dem die jetzige Zählweise politisch motivierter Straftaten bundesweit eingeführt worden war. Stark zugenommen haben insbesondere die so genannten Propagandadelikte. Etliche von ihnen sind auf das provokante Verhalten rechtsextremistischer Szeneangehöriger zurückzuführen, die sich nicht zuletzt durch die Wahlerfolge und das Auftreten der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) beflügelt fühlten. Die Entwicklung der Straftaten wurde im Bereich der Gewaltdelikte nachvollzogen. Letztere machen wie in den beiden Vorjahren rund zehn Prozent am Straftatenaufkommen aus. Folgende Beispiele sind hier exemplarisch zu nennen: - Am 27. Februar überfiel ein 16-jähriger rechtsextremistischer Skinhead in Quedlinburg einen Angehörigen der linksextremistischen Szene, schlug ihm zunächst ins Gesicht und zog danach sein Messer und stach zu. Das Messer prallte an einem 3 Genauere Angaben können der auf Seite 137f dieses Berichtes auszugsweise wiedergegebenen Statistik des Landeskriminalamtes entnommen werden. 6 RECHTSEXTREMISMUS Rippenbogen in Herznähe ab. In der Absicht zu drohen, versuchte der Angreifer nachts mit zwei Gesinnungsgenossen in das Krankenhauszimmer seines Opfers zu gelangen, wurde hiervon aber durch das Klinikpersonal abgehalten. Bereits zwei Tage später, am 29. Februar, schlugen dieselben Personen in Quedlinburg die Haustür eines Jugendlichen der linksgerichteten Szene ein. Bei ihrer anschließenden Verhaftung durch die Polizei leisteten sie Widerstand, riefen "Sieg Heil" und gaben an, weitere Straftaten geplant zu haben, "um Deutschland vor den Zecken zu retten". - Im April verübten Rechtsund Linksextremisten in der Region Halberstadt eine Serie von Übergriffen auf Angehörige der jeweils gegnerischen Szene. Als Reaktion auf einen Überfall von Linksextremisten auf einen Rechtsextremisten und dessen Freundin am 13. April in Wegeleben (Landkreis Halberstadt) drangen rechtsextremistische Jugendliche am 15. April in die Wohnung eines Linksextremisten ein, zerschlugen dabei die Fensterscheiben und versprühten Reizgas. Zwei Tage später griffen Linksextremisten ihrerseits die Wohnung eines Rechtsextremisten an. Als Racheakt steuerten Rechtsextremisten ihren Pkw gezielt in eine Personengruppe aus der linksextremistischen Szene. Mit Eisenstangen bewaffnet stiegen die Angreifer danach aus dem Pkw, schlugen auf einen bereits Verletzten ein und fuhren schließlich davon. Das Opfer wurde mit schwersten Kopfverletzungen in einem Straßengraben zurückgelassen. Zwei weitere Geschädigte, die nur leicht verletzt waren, konnten die Polizei benachrichtigen. - Am 17. März fand im Schönebecker Amtsgericht (AG) die Verhandlung gegen sechs Angehörige der "Kameradschaft Schönebeck" statt. Diese hatten gemeinsam mit weiteren Jugendlichen am 9. Februar 2003 Angehörige der linksextremistischen Szene brutal zusammengeschlagen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Angreifer gezielt Gewalt gegen missliebi- 7 RECHTSEXTREMISMUS ge Personen ausgeübt hatten. Tatmotiv sei eine rechtsextremistische Gesinnung gewesen. Vier Angeklagte wurden zu Haftstrafen zwischen zehn Monaten und einem Jahr verurteilt. In einem Fall wurde eine fünfmonatige Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Der sechste Tatverdächtige muss als mehrfach Vorbestrafter unter Einbeziehung von zwei weiteren Urteilen eine Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verbüßen. Das Amtsgericht (AG) Königs Wusterhausen und das Landgericht (LG) Neuruppin (beide Brandenburg) bewerteten das ursprüngliche Logo des Markenlabels "Thor Steinar" nach SSSS 86, 86a Strafgesetzbuch (StGB) als strafrechtlich relevant, da es an rechtsextremistische Symbolik erinnere und Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zum Verwechseln ähnlich sei. Das Urteil ist rechtskräftig. Das Firmenlogo hatte aus einer Tyrund einer Sig-Rune bestanden. Beide dienten in der NS-Zeit als Symbole von SSUnterorganisationen. Die für das Logo gewählte Kombination der Runen erweckte zudem den Eindruck einer nach SS 86a StGB strafbaren Doppelsigrune, des Zeichens der SS. Bundesweit agierende Skinheadgruppierungen Nachfolgeaktivitäten der verbotenen "Blood & Honour"-Skinheads (B&H) Die am 14. September 2000 verbotene deutsche B&H-Sektion und ihre Jugendorganisation "White Youth" verfügten zuletzt bundesweit über etwa 200 Anhänger, die sich zum Nationalsozialismus bekannten, eine rassistische Politik propagierten und die Überwindung der verfassungsmäßigen Ordnung anstrebten. Ehemalige B&H-Angehörige aus Sachsen-Anhalt unterhalten enge Kontakte zu ehemaligen Organisationsangehörigen in Niedersachsen und nehmen an Konzerten ausländischer B&H-Sektionen teil. Einige von ihnen sind inzwischen in anderen rechtsextremistischen Organisationen aktiv. Auf die weitere Verwendung von B&H-Logos wird in der Bundesrepublik Deutschland wegen der Strafverfolgung 8 RECHTSEXTREMISMUS bewusst verzichtet. Allerdings wurden immer wieder Symbole und Schriftzüge festgestellt, die denen von B&H besonders in der Farbund Schriftgestaltung ähneln, ohne dabei strafrechtlich relevant zu sein. Zurückhaltung wird im Ausland, wo keine Verbote für B&H-Strukturen ausgesprochen wurden, nicht geübt. Den hiesigen Behörden wurden in der Vergangenheit mehrere Fälle bekannt, in denen deutsche Skinheads zu B&H-Konzerten in benachbarte Länder reisten und dort öffentlich B&H-Symbole zur Schau trugen. Anfang 2004 wurde hier die Existenz einer "deutschen Sektion" innerhalb des Internetportals "Blood&Honour/Combat 18 International Forum" bekannt. Diese ist seit Oktober nur noch registrierten Nutzern zugänglich. Die in der "deutschen Sektion" eingestellten Beiträge enthielten Aussagen, die die Tatbestände der Volksverhetzung und des Aufrufs zur Gewalt verwirklichten. Festgestellt wurde auch der Austausch einer Anleitung zum Bombenbau. "Hammerskinheads" (HS) Die international agierende, neonazistisch und rassistisch orientierte "Hammerskin"-Bewegung besteht Eigenangaben zufolge seit 1991 auch in der Bundesrepublik Deutschland. Sie trat hier zunächst unorganisiert in Erscheinung, strukturierte sich aber Mitte der 90er-Jahre in regionale Untergliederungen ("Chapter"). Ihre Führungsaktivisten treffen sich auf nationaler Ebene zu "National Officers Meetings". Internationale Kontakte werden über "European Officers Meetings" oder "World Officers Meetings" gehalten. Im Vordergrund der Aktivitäten der HS-Bewegung steht die Organisierung von Skinheadkonzerten. Propagiertes Ziel der sich als elitäre Strömung innerhalb der Skinheadbewegung begreifenden HS ist die Vereinigung aller rechtsextremistischen Skinheads. In Sachsen-Anhalt wurden bislang lediglich Einzelpersonen bekannt, die anlassbezogene HS-Kontakte unterhielten. 9 RECHTSEXTREMISMUS Rechtsextremistische Musikveranstaltungen Nach wie vor dient Skinhead-Musik in der rechtsextremistischen Szene als Medium zur Agitation und zur Rekrutierung neuer Anhänger. Sie vermittelt die subkulturellen, gewaltverherrlichenden und menschenverachtenden Inhalte und Botschaften der rechtsextremistischen Szene und dient dieser als Identifikationsfaktor. Konzerte einschlägiger Bands aus dem Inund Ausland stellen die eigentlichen Treffpunkte für die ansonsten zersplitterte subkulturelle rechtsextremistische Szene dar, indem sie bei den Besuchern ein Gefühl der Gemeinschaft und Stärke erzeugen. Gerade auf Jugendliche, die der Szene noch nicht fest angehören, sondern sich nur in deren Umfeld bewegen, üben die häufig konspirativ abgehaltenen und damit nicht alltäglichen Veranstaltungen eine starke Anziehungskraft aus. Besonders hohe Popularität genießen dabei einige ausländische rechtsextremistische Skinheadbands. Dies gilt insbesondere für Auftritte britischer und nordamerikanischer Gruppen in Deutschland oder im benachbarten Ausland, zu denen Szeneangehörige regelmäßig in größerer Anzahl anreisen. Trotz der engen Kooperation zwischen den Sicherheitsund Ordnungsbehörden, die eine Vielzahl von Skinheadkonzerten verhindern konnte, stieg die Zahl rechtsextremistischer Musikveranstaltungen in Deutschland weiter an. In Sachsen-Anhalt stagnierte die Anzahl der Konzerte auf hohem Niveau. Eine Reihe dieser Veranstaltungen wurde konspirativ vorbereitet, als private Feiern angemeldet oder auf Privatgrundstücken durchgeführt. 10 RECHTSEXTREMISMUS Gaststätte "Zum Thingplatz" in Sotterhausen (Landkreis Sangerhausen) Die ehemalige Gaststätte "Zum Thingplatz", deren Ausbau von Enrico MARX und seiner Lebensgefährtin Judith ROTHE nicht weiter betrieben wurde, erfreut sich in Szenekreisen wachsender Beliebtheit. Im Berichtszeitraum organisierte MARX im Objekt eine Vielzahl von rechtsextremistischen Musikveranstaltungen mit einschlägigen Bands und Liedermachern, die teilweise gegen den Widerstand der Teilnehmer unter Anwendung von Zwang aufgelöst werden mussten. Szenetreffpunkt in Angern (Ohrekreis) Nachdem durch konsequentes Einschreiten der Polizei die Aktivitäten auf einem Privatgrundstück in Angern im Jahr 2003 weitgehend eingeschränkt werden konnten, mehrten sich im Berichtsjahr Hinweise, denen zufolge das Objekt wieder an Bedeutung innerhalb der rechtsextremistischen Szene gewinnt. Der bekannte Rechtsextremist Andreas NICKEL aus Klötze (Altmarkkreis Salzwedel) führte am 22. Mai in Angern eine Ersatzveranstaltung für ein Konzert durch, das ursprünglich am selben Tag in Hamburg stattfinden sollte, dort aber von der Polizei untersagt worden war. Nachdem NICKEL auch mit dem Ansinnen, das ursprüngliche Konzert über den von ihm bevollmächtigten Hamburger Neonazi Christian WORCH gerichtlich durchsetzen zu lassen, gescheitert war, wurde die Veranstaltung nach Angern verlegt. Bei einer Gefährderansprache durch die Polizei behauptete der Nutzer des dortigen Veranstaltungsgrundstückes, eine private Geburtstagsfeier durchführen zu wollen. Tatsächlich handelte es sich um ein rechtsextremistisches Skinheadkonzert, in dessen Verlauf einschlägige Bands unter anderem aus Großbritannien und Italien vor deutlich über 200 Teilnehmern auftraten. Dabei wurde unter anderem die Melodie des Liedes 11 RECHTSEXTREMISMUS "Hängt dem Adolf Hitler den Nobelpreis um ..." gespielt, zu der die Konzertteilnehmer den Text sangen und "Sieg Heil!" skandierten. Gegen das polizeiliche Einschreiten im Vorfeld einer geplanten anderen Konzertveranstaltung am 17. Juli wurde am Folgetag eine Demonstration unter dem Motto "Gegen polizeiliche Willkür - gleiches Recht für alle" durchgeführt. Privatgrundstück in Tangerhütte (Landkreis Stendal) Seit dem Jahr 2000 fanden auf einem Privatgrundstück in Tangerhütte immer wieder Skinheadkonzerte und andere Treffen der rechtsextremistischen Szene statt. Auch im Berichtsjahr stellten die Sicherheitsbehörden derartige Veranstaltungen fest. Beispielsweise hielten sich am 6. November etwa 120 aus dem Großraum Magdeburg und teilweise aus der weiteren Umgebung angereiste Personen auf dem Grundstück auf. Bei der Gefährderansprache gab der für die Veranstaltung Verantwortliche an, dass eine private Geburtstagsfeier mit Musik von Tonträgern stattfinde. Tatsächlich traten jedoch mehrere Skinheadbands auf, die eigenes Repertoire und Lieder anderer rechtsextremistischer Gruppen vortrugen. Andere Trefforte der rechtsextremistischen Musikszene Neben privaten Grundstücken nutzten Rechtsextremisten im Berichtsjahr auch einige Gaststätten, wie zum Beispiel in Frankleben (Landkreis Merseburg-Querfurt) und Abtsdorf (Landkreis Wittenberg), als Treffpunkt. 12 RECHTSEXTREMISMUS Veröffentlichung strafrechtlich relevanter Tonträger Der Inhalt der CD "Geheime Reichssache" der Musikgruppe "Kommando Freisler" (Hessen), die seit Anfang 2004 in der rechtsextremistischen Szene verbreitet wird, ist volksverhetzend und stark antisemitisch geprägt. Bereits die Aufmachung ist strafrechtlich relevant: Das Booklet zeigt Bilder des Präsidenten des Volksgerichtshofes Roland FREISLER mit zum "Hitlergruß" ausgestrecktem Arm. Zudem sind auf der CD mehrere Hakenkreuzfahnen und ein "Blood & Honour"-Schriftzug mit eingebundenem Hakenkreuz abgebildet. In den Liedtexten, die vielfach zu Melodien bekannter Schlagerund Rocktitel vorgetragen werden, wird der Nationalsozialismus verherrlicht. Im Text des Liedes "Das Giftgas" wird der Holocaust geleugnet, in dem des Liedes "In Belsen" der Völkermord zustimmend geschildert. In mehreren Liedern wird zur Tötung aller Juden aufgerufen. Die CD "Geheime Reichssache" ist ein weiterer Beleg für den in Teilen der rechtsextremistischen Szene existierenden so genannten eliminatorischen Antisemitismus, der über die Judenfeindlichkeit hinaus die Auslöschung der Juden propagiert. Die Liedtexte des seit Mai 2004 verbreiteten Tonträgers "Der ewige Jude" der deutschen Band "Volkszorn" (Baden-Württemberg) weisen volksverhetzende und überwiegend antisemitische Aussagen auf und enthalten Stereotype nationalsozialistischer Ideologie. So werden in dem Lied "Sterben müssen wir alle" verschwörungstheoretische und antisemitische Inhalte miteinander verknüpft. In dem Lied "Der ewige Jude" ruft die Band zur Tötung von Juden auf. Mehrere Texte schüren zudem den Hass gegen Ausländer und befürworten auch deren Tötung. Das Booklet zeigt mehrere antisemitische Karikaturen und zahlreiche Hakenkreuze. Im Innenteil sind Aufnahmen des Konzentrationslagers Auschwitz sowie ein mit Leichen beladener Anhänger abgebildet. Auf der Rückseite wird ein Auszug aus einer Rede HITLERs wiedergegeben, in der dieser die "Vernichtung der jüdischen Rasse" in Europa ankündigt. 13 RECHTSEXTREMISMUS Rechtsextremistische Fanzines Neben dem Internet gehören die so genannten Fanzines nach wie vor zu den wichtigsten Kommunikationsmitteln der rechtsextremistischen Szene. Sie informieren über Szeneveranstaltungen, insbesondere über Skinheadkonzerte. Darüber hinaus nimmt die Werbung für rechtsextremistische Tonträger, skinheadtypische Artikel und andere Fanzines einen immer breiteren Raum ein. Seltener werden dagegen politische Inhalte abgehandelt. Im Berichtszeitraum ist, entgegen dem Trend der Vorjahre, bundesweit erstmals wieder eine Zunahme rechtsextremistischer Fanzines zu verzeichnen. Deren Zahl stieg von rund einem Dutzend im Jahr 2003 auf etwa 20 verschiedene Publikationen in diesem Jahr, darunter auch Neuerscheinungen in Bayern, Niedersachsen, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen. In Sachsen-Anhalt erschienen in unregelmäßigen Abständen rechtsextremistische Fanzines wie zum Beispiel "Meinungsfreiheit" (Klötze, Altmarkkreis Salzwedel), "Streetwar" (Markwerben, Landkreis Weißenfels), "Fahnenträger" (Wolfen, Landkreis Bitterfeld), "Der Vorstoß - Das nationale Heftchen aus der Altmark" (Region Altmark) und "Ostara" (Raum Sangerhausen). Rechtsextremistische Vertriebe In den letzten Jahren hat sich ein eigens auf die rechtsextremistische Szene konzentriertes Vertriebsnetz gebildet, über das neben Tonträgern rechtsextremistischer Musikgruppen auch Textilien und andere Skinheadutensilien angeboten werden. Die Händler werben über entsprechende Szenepublikationen wie Fanzines, im Internet oder mit eigenen Vertriebslisten und Prospekten. Die Szeneartikel werden sowohl über den Versand, als auch in einschlägigen Szeneläden oder am Rande von Skinheadkonzerten und Szenetreffen verkauft. 14 RECHTSEXTREMISMUS In jüngster Zeit hat insbesondere die Bedeutung des Internet in erheblichem Maße zugenommen. In erster Linie nutzen Rechtsextremisten das Internet zur Selbstdarstellung, zum Informationsaustausch und als Agitationsbasis. Ein Hauptgrund für die hohe Attraktivität des Internet als Plattform für rechtsextremistische Propaganda dürfte nicht nur in der technisch unkomplizierten Handhabung und dem niedrigen finanziellen Aufwand zu sehen sein, sondern auch in der Option, durch die weltweite Vernetzung einen praktisch unbegrenzten Interessentenkreis zu erreichen. Gerade auch im Musikbereich umfasst das Internet ein immer breiteres Angebot an rechtsextremistischer Skin-, Rockund BlackMetal-Musik, das vornehmlich durch Kleinhändler eingestellt wird. Durch eine im Vergleich zu früher ansprechendere optische Gestaltung und bessere Programmierung werden die Online-Angebote zunehmend attraktiver. Auf diese Weise werden vor allem Jugendliche als Hauptnutzer des Internet angesprochen, die zudem ein vergleichsweise hohes Interesse an den einfachen, schnellen und aufwandsarmen Bestellmöglichkeiten des Mediums haben. Hinzu kommt, dass Online-Kunden relativ anonym bleiben und sich weitgehend risikolos im Internet bewegen können. In den offenen Angebotslisten der Vertreiber erscheinen nur selten Tonträger mit strafbaren Inhalten. Um das Risiko der Strafverfolgung gering zu halten, lassen die Produzenten einen Großteil der Liedtexte vor der Herstellung und Produktion von Rechtsanwälten auf eine etwaige strafrechtliche Relevanz hin prüfen. Allerdings wird auf die Produktion und den Vertrieb von Tonträgern mit indizierungswürdigen oder strafrechtlich relevanten Inhalten nicht gänzlich verzichtet. Solche Tonträger können von Szeneangehörigen aus dem Ausland oder über Internettauschbörsen bezogen und zudem von zahlreichen Homepages heruntergeladen werden. Im Berichtsjahr konnte die Polizei auch in Sachsen-Anhalt strafrechtlich relevante rechtsextremistische Tonträger, Fahnen und T-Shirts sowie Computer und Geschäftsunterlagen einschlägiger 15 RECHTSEXTREMISMUS Händler sicherstellen und somit für eine Verunsicherung innerhalb der Szene sorgen. Seit Beginn des Jahres beabsichtigten deutsche Rechtsextremisten unter der Bezeichnung "Projekt Schulhof" kostenlos und bundesweit CDs mit Liedern rechtsextremistischer Bands und von Liedermachern an Jugendliche zu verteilen. Die eigens für das "Projekt Schulhof" produzierte CD mit dem Titel "Anpassung ist Feigheit - Lieder aus dem Untergrund" ist multimedial gestaltet: Der Sampler enthält neben einem Vorwort und 19 Liedtiteln verschiedener Stilrichtungen auch Internetund Kontaktadressen rechtsextremistischer Gruppierungen. Die CD ist Ausdruck einer neuen Qualität rechtsextremistischer Propaganda. Neben der Konfrontation mit rechtsextremistischer Musik sollen über das Vorwort ("Intro") auch in sprachlicher Form und in subtiler Art und Weise politische Botschaften an Jugendliche herangetragen werden. Das Projekt wird von rechtsextremistischen Vertrieben aus dem Inund Ausland, rechtsextremistischen Bands, Kameradschaften und Einzelaktivisten unterstützt. Der Tonträger wurde aufgrund seines jugendgefährdenden Inhalts am 4. August mit einem Beschlagnahmebeschluss belegt. Nach Auffassung des AG Halle/Saale vermittelt die CD nach Gesamtinhalt und Erscheinungsbild demokratiefeindliche, rassistische, völkische und nationalsozialistische Ideologien. Darüber hinaus hat die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) die CD im Oktober indiziert. Die enge Zusammenarbeit der zuständigen Stellen, die strafprozessualen und jugendschützenden Maßnahmen und eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit haben dazu geführt, dass die CDs bundesweit bislang nicht verteilt wurden. Dennoch versucht die rechtsextremistische Szene, die Aktivitäten im Rahmen des "Projekts Schulhof" weiter fortzusetzen. So wurden seit Anfang November an mehreren Schulen und Jugendzentren im 16 RECHTSEXTREMISMUS Bundesgebiet Plakate sichergestellt, auf denen für das Projekt geworben wird. Zudem haben sich Anfang September Nachahmer im Ausland gefunden. "Als Ausdruck der zunehmenden internationalen Solidarität und Zusammenarbeit der weißen Nationalisten" und unter Verweis auf das deutsche Vorhaben soll in den USA die Verteilung ähnlicher Tonträger unter dem Namen "Project Schoolyard" erfolgen. RECHTSEXTREMISTISCHE SZENEN IN SACHSEN-ANHALT Rechtsextremistische Szene im Raum Halle-Merseburg Die parteiunabhängige rechtsextremistische Szene im Raum HalleMerseburg firmiert unter der Bezeichnung "Freie Kräfte". Sie verfügt nicht über feste Strukturen und setzt sich aus Neonazis und subkulturell geprägten Rechtsextremisten zusammen. Protagonist der rechtsextremistischen Szene im Raum HalleMerseburg war in den vergangenen Jahren Sven LIEBICH, der seine "politischen" Aktivitäten im Berichtsjahr jedoch immer mehr einschränkte. Dies führte zu einer gewissen Frustration innerhalb der örtlichen Szene von Halle. In der Folge lockerte sich der Zusammenhalt zwischen den einzelnen Gruppierungen im Raum HalleMerseburg. Da sich bislang keine neue "Führungskraft" etablieren konnte, nahmen öffentlichkeitswirksame Aktionen spürbar ab. Intensiviert wurden hingegen die bereits bestehenden Kontakte zur rechtsextremistischen Szene im westlichen Sachsen. In der Öffentlichkeit traten die Szeneangehörigen aus dem Raum HalleMerseburg hauptsächlich bei Demonstrationen der rechtsextremistischen Szene in Erscheinung, unter anderem am 17. Januar in Magdeburg, am 17. April in Marburg und Gladenbach (beide Hessen), am 1. Mai und 3. Oktober in Leipzig (Sachsen). Des Weiteren wurden Plakatierungsaktionen unter anderem zum HESS-Gedenkmarsch in Wunsiedel (Bayern) und zum Volkstrauertag in Halbe (Brandenburg) bekannt. 17 RECHTSEXTREMISMUS Im Mittelpunkt der regelmäßig stattfindenden Treffen stand eher der subkulturelle Lebenswandel als die politische Arbeit. Nur noch gelegentlich wurde zur Teilnahme an politischen Aktivitäten aufgefordert, wurden Propagandamaterialien ausgetauscht oder Schulungen veranstaltet. Im Namen einer "Privatinitiative" hatte der Neonazi Jens SCHOBER (Leipzig) für den 10. September eine Kundgebung in Merseburg unter dem Motto "Gegen Sozialabbau - Wir sind das Volk!" angemeldet. An der Veranstaltung nahmen etwa 70 Personen der rechtsextremistischen Szene aus den Räumen Leipzig und Merseburg-Querfurt teil. "Nationaler Beobachter - Informationsblatt für die Region HalleMerseburg" Seit mehreren Jahren gibt ein so genanntes Redaktionsteam in Halle den "Nationalen Beobachter" (NB) heraus. Im Berichtszeitraum erschienen nur vereinzelt Druckausgaben. Auch die InternetAusgabe wurde nur sporadisch gepflegt. Inhalte des NB waren vor allem Schilderungen örtlicher und überregionaler Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene. Des Weiteren berichtete das Redaktionsteam mit hämischem Unterton über die gewaltsame Entfernung von so genannten "Stolpersteinen" Anfang Mai in Halle. Diese "Stolpersteine" waren durch den Verein "Zeit-Geschichte(n) e. V. Halle/S." zum Andenken an die jüdischen Opfer der NS-Zeit in die Innenstadt verlegt worden. Ausgiebig berichtete der NB über die von WORCH initiierte Demonstration des "Nationalen Widerstandes" am 3. Oktober in Leipzig und veröffentlichte in diesem Zusammenhang auch den Aufruf WORCHs zu einer geplanten Folgeveranstaltung gleichenorts am 1. Mai 2005. 18 RECHTSEXTREMISMUS Des Weiteren gab der NB Verhaltensempfehlungen für die Teilnahme an der zentralen Gedenkfeier zum Volkstrauertag 4 auf dem Soldatenfriedhof in Halbe. Das Redaktionsteam des NB rief außerdem dazu auf, den Appell der "Arbeitsgruppe - Keine Agenda 2010 - innerhalb des NSAM 5" zu unterstützen und vor Dezember 2004 keine Arbeitslosengeld II-Anträge bei den Arbeitsämtern abzugeben, um so "eine legale Form des Widerstandes gegen den brutalsten Raubzug in der Geschichte der BRD" zu ermöglichen. Erneut nutzte das Redaktionsteam damit ein allgemein diskutiertes Thema, um Position gegen den Staat zu beziehen und zielte damit ganz offensichtlich auf öffentliche Zustimmung ab. Rechtsextremistische Szene im Raum Magdeburg Rechtsextremistische Szene in Magdeburg Das rechtsextremistische Potenzial in Magdeburg umfasst etwa 40 Personen. Ein Teil davon ist neonazistisch orientiert. Zu Szeneveranstaltungen, vor allem zu solchen mit überregionalem Charakter, können weitere Sympathisanten aus dem Umfeld der Magdeburger rechtsextremistischen Szene mobilisiert werden. Anders als früher wurde im Berichtsjahr eine verstärkte Zusammenarbeit der sich selbst als "Freie Nationalisten Magdeburg" bezeichnenden Rechtsextremisten mit Angehörigen des NPD-Kreisverbandes Magdeburg beobachtet. Hierbei richtete sich das Hauptaugenmerk auf Protestaktionen gegen die Sozialreformen. Angehörige der "Freien Nationalisten Magdeburg" treffen sich in unregelmäßigen Abständen in Magdeburg-Nord. Bei diesen Zusammenkünften werden Absprachen zu szenetypischen Veranstaltungen wie Demonstrationen, Schulungsabenden oder Gedenkfeiern getroffen. 4 Szeneintern als "Heldengedenktag" bezeichnet. 5 "Nationales und Soziales Aktionsbündnis Mitteldeutschland". 19 RECHTSEXTREMISMUS Am 17. Januar führte eine "Initiative gegen das Vergessen" zum Jahrestag der Zerstörung Magdeburgs eine von zwei bekannten Rechtsextremisten angemeldete Gedenkveranstaltung unter dem Motto "Kein Vergeben - Kein Vergessen den alliierten Luftmördern" auf dem Westfriedhof der Stadt durch. Daran nahmen etwa 200 Personen der rechtsextremistischen Szene aus mehreren Bundesländern teil. Die Veranstaltung verlief ohne Zwischenfälle und wurde nach einer Kranzniederlegung beendet. "Magdeburger Frontzeitung - Informationsblatt für Magdeburg und Umgebung" Bei der "Magdeburger Frontzeitung" handelt es sich um die Nachfolgepublikation des "Nationalen Beobachters" für die Region Magdeburg. Inhalte der Publikation sind Stellungnahmen aus rechtsextremistischer Sicht zu aktuellen Themen wie der EU-Osterweiterung, Erlebnisberichte aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, regionale und überregionale Veranstaltungstermine oder Darstellungen von Aktivitäten der örtlichen Szene wie zum Beispiel der Pflege eines Soldatengrabes. In der im Februar erschienenen Ausgabe der "Magdeburger Frontzeitung" wurde für einen "SMS-Verteiler" für die Region Magdeburg geworben, der der kurzfristigen Mobilisierung dienen soll. In der Juni-Ausgabe wurde versucht, Szeneangehörige für die politische Arbeit zu mobilisieren. In einem Aufruf hieß es: "Beteiligt euch! An der Basisarbeit hier vor Ort in eurer Stadt. Ergreift selbst Initiative und beteiligt euch an politischen Aktionen. Werdet aktiv!". 20 RECHTSEXTREMISMUS Rechtsextremistische Szene Burg Die etwa 15 Personen umfassende rechtsextremistische Szene im Raum Burg trat im zurückliegenden Jahr kaum öffentlich auf. Eine Ausnahme stellte lediglich die Beteiligung am "Heldengedenken" in Halbe dar. Seit Juni betreibt eine Gruppe unter der Bezeichnung "Kameradschaft Paragraph 12" eine Internetpräsenz. Dort hieß es unter anderem: "In unserer Region um Burg bei Magdeburg sieht es zur Zeit ziemlich armselig aus, was die Kameradschaft angeht. So kann es nicht mehr weitergehen und darum haben wir die Kameradschaft Paragraph 12 ins Leben gerufen. Paragraph 12 ist ein Gesetzespunkt aus dem Soldatengesetz 6." Neben Abhandlungen zur Mythologie der Germanen umfasst die Seite auch ein passwortgeschütztes Forum mit der Rubrik "Demos - Konzerte" und einen (unfertigen) Bereich für "Kameraden, die aus der Haft entlassen werden und Unterstützung benötigen". Rechtsextremistische Szene Oschersleben Seit März erscheint die Broschüre "Frontblatt Oschersleben - Informationsblatt für den Raum Bördekreis/Land". Inhalte der teilweise antiamerikanisch und antiisraelisch geprägten Publikation sind sowohl aktuelle Ereignisse als auch Abhandlungen zu Geschehnissen der Zeitgeschichte wie zum Beispiel zu den Luftangriffen auf Oschersleben während des Zweiten Weltkrieges. Darüber hinaus werden germanische Frühlingsbräuche und germanische Mythologie erläutert sowie Darstellungen von Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene verbreitet und deren Termine bekannt gegeben. 6 In SS 12 des Gesetzes über die Rechtsstellung der Soldaten heißt es unter anderem: "Der Zusammenhalt der Bundeswehr beruht wesentlich auf Kameradschaft. Sie verpflichtet alle Soldaten, die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten und ihm in Not und Gefahr beizustehen. 21 RECHTSEXTREMISMUS Rechtsextremistische Szene der Region Sangerhausen "Ostara-Skinheads" (Sangerhausen) Seit mehr als zehn Jahren existiert in der Region Sangerhausen die neonazistische Gruppierung "Ostara-Skinheads", die sich auch "Kameradschaft Ostara" nennt. Dem engeren Kern gehören etwa 20 Skinheads an. Die Anführer der Gruppierung, MARX und dessen Lebensgefährtin ROTHE, wurden im Berichtszeitraum erneut durch verschiedene, auch überregionale Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene bekannt. Zu seinen wöchentlichen Kameradschaftstreffen in seiner Gaststätte "Zum Thingplatz" in Sotterhausen (Landkreis Sangerhausen) mobilisiert MARX in der Regel mehr als 100 Personen. Dabei verkauft er einschlägige CDs, ruft zur Teilnahme an rechtsextremistischen Aktivitäten auf und organisiert Livemusik oder Schulungsveranstaltungen. Einem Internetbeitrag zufolge referierte der NPD-Funktionär Günter DECKERT am 24. Oktober im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung von "Freien Kameradschaften" und NPD-Angehörigen in Sotterhausen zu den Themen "Brauner Schulterschluss ...?" und "Zum Selbstverständnis eines großdeutsch-völkischen und sozialen Selbstverständnisses einer nationalen Partei". Organisatorische Einzelheiten hierzu und zu anderen Veranstaltungen wurden im Vorfeld über die E-Mail-Adresse des MARX verbreitet. Darüber hinaus veröffentlichte die NPD am 15. Dezember auf ihrer Homepage unter der Überschrift "Sturm auf die Arbeitsämter" einen Aufruf der Kameradschaft "Ostara", in dem alle "arbeitssuchenden Kameradinnen/Kameraden" aufgefordert wurden, am 4. Januar 2005 in Sachsen-Anhalt vor den Arbeitsämtern ihrer jeweiligen Städte Posten zu beziehen, um dort rechtsextremistisches Propagandamaterial zu verteilen. Abschließend hieß es, dieser Aufruf sei "auch für andere Gaue unseres besetzten Reiches gedacht". 22 RECHTSEXTREMISMUS Rechtsextremistische Szene im Raum Dessau-WittenbergBitterfeld In der Region Dessau-Bitterfeld wurden vornehmlich auf Einzelpersonen zurückgehende rechtsextremistische Aktivitäten bekannt. Eine homogene Gruppenstruktur ist derzeit nicht zu erkennen. Allerdings betrachtet sich die "Bruderschaft Bitterfeld" als Sammelbecken für Personen des nationalen, rechtsextremistischen Spektrums vom einfach strukturierten, politisch kaum interessierten Skinhead bis hin zum überzeugten Neonazi. Da sich deren Anführer Denis DECKER und weitere Aktivisten der dortigen rechtsextremistischen Szene aufgrund eines gegen sie geführten Ermittlungsverfahrens wegen schweren Landfriedensbruchs zeitweise in Untersuchungshaft befanden, blieben regionale Aktivitäten weitgehend aus. DECKER wurde wegen der genannten Straftat am 11. Juli vom Amtsgericht Dessau zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die Strafe ist für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt worden. Die Mitangeklagten wurden freigesprochen. DECKER und weitere Personen hatten am 1. Februar im Dessauer Bahnhof zielgerichtet mehrere von ihnen der linksextremistischen Szene zugeordnete Jugendliche mit Knüppeln und Reizgas angegriffen und diese zum Teil schwer verletzt. Diese und weitere Auseinandersetzungen im Januar und Februar in Dessau sind im Zusammenhang mehrerer wechselseitig begangener Übergriffe von Rechtsund Linksextremisten auf Jugendliche zu sehen, die der jeweils gegnerischen Szene zugeordnet wurden. Zu den Aktivitäten der Szeneangehörigen der Region zählte die Teilnahme an einem Trauermarsch der "Jungen Landsmannschaft Ostpreußen" (JLO) am 14. Februar in Dresden. Bei der Veranstaltung, an der sich insgesamt 2.500 Rechtsextremisten beteiligten, trugen Angehörige der "Freien Nationalisten Dessau" ein schwarzes Transparent mit dem Aufdruck "Dessau" in Sütterlinschrift. 23 RECHTSEXTREMISMUS Eine Wiederbelebung alter, neonazistisch ausgerichteter Strukturen, die hier bereits seit 1991 als "Kameradschaft Wittenberg" oder "Kameradschaft Elbe-Ost" bekannt sind, ist in der Region Wittenberg-Jessen zu verzeichnen. Abgesehen von bekannten "Altskins", die noch sporadisch an Veranstaltungen teilnehmen, fand jedoch ein Generationswechsel statt. Bei einem am 23. Dezember in Abtsdorf (Landkreis Wittenberg) durchgeführten Skinheadkonzert trug eine Vielzahl der Teilnehmer T-Shirts mit der Aufschrift "Kameradschaft LK Wittenberg". Zudem wurde ein Glaspokal mit zwei gekreuzten Schwertern als Wappen und der Aufschrift "My life for my land, my blood for my home, think about your skin is white7. Kameradschaft LK Wittenberg, 23.12.2004" sichergestellt. Als Organisator trat hier neben neu hinzugekommenen Personen der bekannte Rechtsextremist Lars FUHRMANN aus Wittenberg in Erscheinung. Rechtsextremistische Szene in der Altmark Die rechtsextremistische Szene der Region umfasst rund 60 Personen. Das Rekrutierungspotenzial ist anlassbezogen deutlich größer. Als Zentren der Mischszene, die sich aus Neonazis und rechtsextremistischen Skinheads zusammensetzt und keine festen Strukturen aufweist, sind die Gebiete Gardelegen, Klötze und Salzwedel anzusehen. Weiterhin wurden durch einen bekannten Rechtsextremisten aus der Altmark mehrfach Skinheadkonzerte in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt geplant und auch durchgeführt. Im Zusammenhang mit einer Plakatierungsaktion zum HESSTodestag wurde am 17. August in Altenburg (Thüringen) eine Person der örtlichen rechtsextremistischen Szene verletzt, als sich in einem Handgemenge mit einschreitenden Polizeibeamten ein Schuss aus der Dienstwaffe eines Polizisten löste. Aus diesem Anlass versammelten sich am Abend des gleichen Tages 13 Personen der rechtsextremistischen Szene aus dem Raum Klötze vor dem örtlichen Polizeirevier und führten eine Spontande- 7 "Mein Leben für mein Land, mein Blut für meine Heimat, denk daran, dass deine Haut weiß ist". 24 RECHTSEXTREMISMUS monstration mit HESS-Bezug und "gegen Polizeigewalt" durch. Im Anschluss veranstalteten die Teilnehmer einen Schweigemarsch durch die Klötzer Innenstadt. In einer Verlautbarung kritisierte einer der Demonstranten den genannten Polizeieinsatz in Altenburg scharf. Eine weitere Veranstaltung zu den Vorgängen in Altenburg fand am 18. August vor dem Polizeirevier in Salzwedel statt. Hier versammelten sich etwa 20 Personen der örtlichen rechtsextremistischen Szene zu einer "Mahnwache", in deren Rahmen dieselbe Verlautbarung wie am Vortag in Klötze verlesen wurde. Am 9. Oktober reinigten etwa 25 Angehörige der örtlichen rechtsextremistischen Szene in der Stadt Klötze Straßen und Plätze. Im Vorfeld dazu war im Internet durch ein Projekt "Nationale Sozialisten aktiv im Umweltund Naturschutz" zu einem so genannten "Nationalen Säuberungstag" aufgerufen worden. Im Anschluss daran zogen einige der beteiligten Personen durch ein Neubaugebiet von Klötze, riefen ausländerfeindliche Parolen und zerstörten die Eingangstür eines Hauses, in dem eine Aussiedlerfamilie lebt. "SelbstSchutz Sachsen-Anhalt" Die seit Jahren bekannte Gruppierung "SelbstSchutz SachsenAnhalt" ist unter Führung des Rechtsextremisten Mirko APPELT aus Salzwedel bemüht, Demonstrationen und andere Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene als Ordner zu begleiten. Sie verfügt über regionale Kontakte in die niedersächsischen Nachbarkreise und trat dort anlässlich von Skinheadkonzerten mit "SelbstSchutz"-T-Shirts auf. Unter dem Motto "Arbeit für Millionen statt Profit für Millionäre" fand am 1. Mai in Leipzig eine von Christian WORCH angemeldete Demonstration statt, an der 900 Personen teilnahmen. Unter den Teilnehmern aus Sachsen-Anhalt konnten auch Angehörige des "SelbstSchutz" festgestellt werden. Auch an dem am 13. November 25 RECHTSEXTREMISMUS in Halbe durchgeführten "Heldengedenken" waren Ordner des "SelbstSchutz Sachsen-Anhalt" beteiligt. Rechtsextremistische Szene im Harz und im Harzvorland In den Landkreisen Halberstadt, Quedlinburg und Wernigerode sind im Berichtszeitraum keine festgefügten, neonazistisch geprägten Strukturen erkennbar gewesen. Das rechtsextremistische Potenzial im genannten Bereich umfasst etwa 40 bis 50 Personen. Eine rechtsextremistische Führungsperson, die in der Lage wäre, die in der Region ansässigen Neonazis und rechtsextremistische Skinheads beispielsweise unter dem Dach einer Kameradschaft zusammenzuführen, ist dort derzeit nicht auszumachen. In der Öffentlichkeit wahrnehmbare Aktivitäten sind abgesehen von einem (verhinderten) einschlägigen Konzert im Juli in Schmatzfeld (Landkreis Wernigerode) nicht bekannt geworden. ORGANISATIONSÜBERGREIFENDE AKTIVITÄTEN Demonstrationsgeschehen Demonstrationen gegen die Sozialreformen Seit Mitte der 90er-Jahre rücken NPD und Neonazis die "soziale Frage" zunehmend als Agitationsthema in den Vordergrund und werten diese als "Drehund Angelpunkt". Mit der aktuellen Sozialstaatsdebatte hat sich dieser Trend weiter verstärkt. Mit dem Aufgreifen der "sozialen Frage" sind Rechtsextremisten bestrebt, ein massenwirksames Agitationsthema zu besetzen. Mit ihrer Verbindung von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Sozialdemagogie ernten sie - wie die jüngsten Wahlergebnisse besonders in Ostdeutschland, aber auch in Teilen Westdeutschlands dokumentieren - durchaus Zuspruch. Die Demonstrationen gegen die Hartz IV-Gesetze fassten von Anfang August bis Mitte Oktober viele Bürger Sachsen-Anhalts in ei26 RECHTSEXTREMISMUS ner neuen Bewegung zusammen. Rechtsextremisten versuchten sich die Unzufriedenheit und Unsicherheit der Menschen zu Nutze zu machen und für ihre rechtsextremistischen Ziele zu instrumentalisieren. Seit Anfang August fanden in Magdeburg und anderenorts regelmäßig von Privatpersonen organisierte Protestdemonstrationen statt, die sich gegen die mit dem Schlagwort "Hartz IV" belegten Sozialreformen richteten. Bereits bei der ersten Demonstration am 2. August zeigte sich, dass "Freie Nationalisten" aus Magdeburg und Mitglieder des örtlichen NPD-Kreisverbandes im Vorfeld und bei der Teilnahme an der Veranstaltung eng zusammenarbeiteten. Absprachen konnten auch bei den Folgedemonstrationen festgestellt werden. Bei der Demonstration am 2. August gelang es den etwa 65 teilnehmenden Rechtsextremisten aus der Region Magdeburg, sich medienwirksam an die Spitze des Demonstrationszuges zu setzen. Hierbei wurde ein Transparent mit der Aufschrift "Den Volkszorn auf die Straße tragen - Gegen die Elendsreform Hartz IV" mitgeführt. Zudem wurden Flugblätter mit sozialkritischen Inhalten an Demonstrationsteilnehmer und Passanten verteilt. An der am 9. August in Magdeburg veranstalteten Demonstration nahmen nach Polizeiangaben etwa 60 Rechtsextremisten aus der Region teil, die erneut diesmal allerdings erfolglos versuchten, an die Spitze des Zuges zu gelangen. Die Personen reihten sich daraufhin in den Demonstrationsblock ein und verteilten erneut Flugblätter, verzichteten aber auf politische Parolen. Bei einer Demonstration am 27. September ließen die Veranstalter symbolisch ein grünes Band zwischen die Demonstrationsteilnehmer und die anwesenden Rechtsextremisten spannen, um so gegen die Teilnahme der Szeneangehörigen zu protestieren. Dies nahmen etwa 50 Rechtsextremisten zum Anlass für eine friedlich verlaufene Spontandemonstration unter dem Motto "Gegen Abgrenzung beim Bürgerprotest". 27 RECHTSEXTREMISMUS Ab November beteiligten sich Rechtsextremisten nicht mehr an den Protestveranstaltungen in Magdeburg. In einer im Internet verbreiteten Erklärung hieß es dazu: "Der Nationale Widerstand Magdeburg und Umgebung (freie Nationalisten und NPD) beteiligt sich zukünftig nicht mehr an den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV in Magdeburg. Da der ursprüngliche Charakter der Proteste im Laufe der Zeit verloren ging, das heißt die anfangs bürgerliche Protestbewegung ist zu einer parteienund gewerkschaftsgesteuerten Masse geworden. Unser Ziel war es, mit dem Volk für das Volk zu demonstrieren, gegen den Sozialraubbau der etablierten Parteien! Dieser Sinn ging verloren, somit besteht für uns kein Anlass mehr ... auf die Straße zu gehen. Unser Protest gegen Hartz IV wird dadurch jedoch nicht abklingen, vielmehr werden wir eigene Wege des Widerstandes gehen." Darüber hinaus nahmen lediglich in Schönebeck regelmäßig Rechtsextremisten an den Protesten gegen die Sozialreformen teil. Die zumeist zwischen 20 und 30 Personen traten dabei jedoch nicht als Rechtsextremisten in Erscheinung. Insgesamt betrachtet wird die Problematik von der rechtsextremistischen Szene zwar weiterhin thematisiert, jedoch war die Zahl von Szeneangehörigen, die sich an den bürgerlichen Protestdemonstrationen in Sachsen-Anhalt beteiligten, rückläufig. Demonstrationen des Christian WORCH (Hamburg) mit Beteiligung von Rechtsextremisten aus Sachsen-Anhalt In einem Informationsschreiben des Neonazis Christian WORCH, das Anfang 2004 innerhalb der rechtsextremistischen Szene kursierte, bewertet dieser unter der Überschrift "Rückblick - Ausblick - Das Demonstrationsjahr 2003" die Aktivitäten jenes Jahres und äußerte sich zu seinen Vorstellungen für 2004. 28 RECHTSEXTREMISMUS Zu seinen Erwartungen führte er unter anderem aus, dass die bisherigen Demonstrationen in sehr starkem Maße vergangenheitsbezogen gewesen seien. Das Aufgreifen aktueller, vor allem sozialer Themen, sei dabei vielfach zu kurz gekommen: "Die Zeit ist reif ... für eine gnadenlose Sozialdemagogie! Parallel zum Niedergang der radikalen Linken wird die Nationale Opposition immer häufiger und intensiver öffentlich wirksam. Der notwendige Widerstand heißt Angriff! Heißt: Politischer Angriff in der Öffentlichkeit, auf den Straßen." Am 10. Januar beteiligten sich in Berlin-Lichtenberg rund 500 Rechtsextremisten an einer Solidaritätsdemonstration unter dem Motto "Weg mit dem Landser Urteil - Musik ist nicht kriminell", um gegen die Verurteilung der Mitglieder der rechtsextremistischen Band "Landser" im Dezember 2003 zu protestieren. Die Veranstaltung, an der unter anderem Personen aus Berlin, Brandenburg, Hamburg und Sachsen-Anhalt teilnahmen, war von WORCH angemeldet worden. Etwa 150 Rechtsextremisten beteiligten sich am 3. Oktober in Leipzig an der von WORCH organisierten Demonstration "Weg mit den Mauern in den Köpfen". Gegen den Aufzug protestierten rund 3.000 Personen. Durch Blockaden gewalttätiger linksextremistischer Gegendemonstranten war es den Rechtsextremisten nicht möglich, den Demonstrationszug durch die Stadt anzutreten, so dass WORCH die Veranstaltung nach längerer Wartezeit für beendet erklären musste. Aus Sachsen-Anhalt nahmen etwa 20 Personen der rechtsextremistischen Szene teil. An einer am 30. Oktober in Potsdam unter dem Motto "Gegen Hetze und Terror von Links" wiederum von WORCH durchgeführten Veranstaltung beteiligten sich etwa 350 Rechtsextremisten, darunter auch Teilnehmer aus Sachsen-Anhalt. 29 RECHTSEXTREMISMUS Aktivitäten zum 20. April (HITLER-Geburtstag) Rechtsextremisten entfalteten im Berichtsjahr nur in sehr geringem Umfang Aktivitäten zum "HITLER-Geburtstag". Am Nachmittag des 20. April wurden am Magdeburger Sternsee fünf Personen festgestellt, die eine rote Fahne mit Hakenkreuz, weitere Fahnen, Abbildungen von Personen in Uniformen von Wehrmacht und WaffenSS, ein Bild von Adolf HITLER, vier Schreckschusswaffen und eine Übungspanzerfaust mit sich führten. Die Personen wurden vorläufig festgenommen und die Gegenstände beschlagnahmt. In Stendal wurde am Abend des 20. April auf einem Gartengrundstück rechtsextremistische Musik gespielt und mehrfach "Sieg Heil" gerufen. Polizeibeamte stellten die Personalien der 18 auf dem Grundstück angetroffenen Personen fest und verwiesen diese des Platzes. Bei einer Person wurden 45 CDs mit einschlägiger Musik aufgefunden und sichergestellt. Aktivitäten zum 8. Mai Alljährlich rufen Rechtsextremisten für den 8. Mai zu einem so genannten "Tag der Ehre" auf, an dem durch Kranzniederlegungen oder Pflegearbeiten an Gräbern gefallener deutscher Soldaten beider Weltkriege ausschließlich dieser Toten gedacht werden soll. Im Berichtsjahr beschränkten sich diese Aktivitäten auf das Ablegen eines Kranzes durch etwa 30 Rechtsextremisten an einem Denkmal in Klötze und auf eine Grabpflege, die einer mit "Ehrendienst am 8. Mai in Magdeburg" überschriebenen Internetdarstellung zufolge an einem nicht genannten Ort stattgefunden haben soll . 30 RECHTSEXTREMISMUS Rudolf-HESS-Gedenkveranstaltungen Anders als HITLER, zu dessen Gedenken Rechtsextremisten keine größeren Veranstaltungen mehr durchführen, kann HESS wegen des Zeitpunkts und der bis heute ungeklärten Umstände seines England-Fluges als Opfer angeblicher Willkür der alliierten Siegermächte dargestellt werden. Mit dem Personenkult um HESS ist eine verklausulierte Form des Revisionismus verbunden. Den Alliierten wird unter Verweis auf sein Schicksal die Schuld an der Fortsetzung des Zweiten Weltkrieges zugewiesen, weil das von ihm überbrachte "Friedensangebot" des nationalsozialistischen Deutschen Reiches mit der Gefangennahme des "Friedensbotschafters" beantwortet worden sei. Aus Sicht der Rechtsextremisten hat sich HESS für das deutsche Volk "aufgeopfert". Dabei wird außer Acht gelassen, dass HESS in die Verbrechen des Nationalsozialismus tief verstrickt und niemals auf Distanz zu dem von ihm glühend verehrten HITLER gegangen war. Vor diesem Hintergrund ist die Demonstration zu seinen Ehren als Bekenntnis der daran beteiligten Rechtsextremisten zum historischen Nationalsozialismus zu werten. Rudolf-HESS-Gedenkmarsch in Wunsiedel (Bayern) am 21. August Die von dem Hamburger Rechtsanwalt Jürgen RIEGER für das Berichtsjahr angemeldete "Gedenkveranstaltung" wurde am 30. Juli vom Landratsamt Wunsiedel verboten. Daraufhin legte RIEGER Widerspruch beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein, der die Durchführung der Veranstaltung unter Auflagen genehmigte. Am 21. August beteiligten sich nach Polizeiangaben etwa 3.800 Rechtsextremisten an der Veranstaltung (2003: 2.600 Personen). Ausländische Szeneangehörige waren unter anderem aus Belgien, England, Dänemark, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Russland, Schweden, der Schweiz, der Slowakei und Spanien angereist. Vor Beginn der Veranstaltung traten die rechtsextremistischen Liedermacher Jörg HÄHNEL (Brandenburg) und Michael MÜLLER (Bayern) auf. 31 RECHTSEXTREMISMUS Die Auftaktkundgebung begann mit Redebeiträgen von RIEGER, Thomas WULFF (Hamburg) und vom NPD-Bundesvorsitzenden Udo VOIGT. Zudem hielten mehrere ausländische Rechtsextremisten Begrüßungsansprachen. Der anschließende Schweigemarsch durch die Innenstadt von Wunsiedel wurde durch Trauermusik untermalt. Die Teilnehmer führten dabei Landesfahnen und HESS-Transparente mit sich. Während der Veranstaltung gab es vereinzelt Störversuche durch linksextremistische Personengruppen und bürgerliche Initiativen, die jedoch von Polizeikräften unterbunden wurden. Im Rahmen der gesamten Zusammenkunft nahm die Polizei 79 Rechtsextremisten hauptsächlich wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vorläufig fest. An der Veranstaltung nahmen etwa 150 Szeneangehörige aus Sachsen-Anhalt teil. Aktivitäten mit HESS-Bezug in Sachsen-Anhalt Im Zeitraum vom 26. Juli bis 26. August konnten in Sachsen-Anhalt mehrere einschlägige Propagandaaktionen festgestellt werden. Dies betraf das Anbringen von Transparenten und Aufklebern sowie die Verteilung von Flugblättern vor allem im Raum Halle-Merseburg, in Schönebeck und in der Altmarkregion (vorrangig Gardelegen, Klötze und Salzwedel). Weiterhin wurde Material zu HESS in den Bereichen Bernburg, Burg, Dessau, Haldensleben und Magdeburg verteilt. Insgesamt war in Sachsen-Anhalt im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang solcher Aktivitäten zu verzeichnen. Aktivitäten zum "Heldengedenktag" (Volkstrauertag) Neonazi-Aufmarsch in Halbe (Brandenburg) am 13. November Die nationalsozialistischen Machthaber hatten den Volkstrauertag umgedeutet und aus ihm 1934 einen offiziellen Staatsfeiertag gemacht, an dem der Gefallenen des Ersten Weltkrieges gedacht werden sollte. Deren Sterben wurde im NS-Totenkult als Selbstaufopferung für Volk und Vaterland dargestellt. 32 RECHTSEXTREMISMUS In der heutigen Zeit setzen Rechtsextremisten diese "Tradition" in eigener Regie fort, um der gefallenen deutschen Soldaten und Zivilisten beider Weltkriege zu gedenken. Da sich in Halbe der größte Soldatenfriedhof Deutschlands befindet, hat der Ort in den Augen der rechtsextremistischen Szene eine hohe Symbolkraft. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Frankfurt/Oder hatte die diesjährige Veranstaltung nach vorherigem Verbot durch das Polizeipräsidium Frankfurt/Oder am 12. November unter Auflagen genehmigt. An der von dem Neonazi Lars JACOBS aus Schleswig-Holstein angemeldeten Gedenkveranstaltung in Halbe, die unter dem Motto "Ruhm und Ehre dem deutschen Frontsoldaten" stand, nahmen am 13. November etwa 1.600 Rechtsextremisten (2003 rund 600) unter anderem auch aus Belgien, Dänemark, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz teil. Nachdem WORCH die Veranstaltung eröffnet hatte, marschierten die Teilnehmer zum Friedhofsvorplatz und legten hier Kränze verschiedener rechtsextremistischer Personenzusammenschlüsse nieder. Nach weiteren Redebeiträgen wurde die Zusammenkunft ohne Zwischenfälle und unter Einhaltung der erteilten Auflagen beendet. Eine starke Polizeipräsenz verhinderte Ausschreitungen der etwa 350 Gegendemonstranten. Aus Sachsen-Anhalt reisten rund 150 Szeneangehörige nach Halbe. Aktivitäten in Sachsen-Anhalt An einer offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt Klötze zum Volkstrauertag nahmen am 14. November etwa 50 Personen der rechtsextremistischen Szene aus dem Umfeld des NICKEL teil. Dabei wurden Kränze niedergelegt und Reden zum Thema gehalten. Die Veranstaltung verlief störungsfrei. Eine dazu im Internet verbreitete Darstellung schließt mit den Worten "Ruhm und Ehre dem deutschen Reich!" und ist mit "Freie Kräfte Altmark" unterzeichnet. 33 RECHTSEXTREMISMUS Sonnenwendfeiern Die Wiederbelebung des Sonnenwendfeier-Kultes durch Rechtsextremisten geht auf ariosophische8 und neugermanisch geprägte Ideologien zurück. Im 20. Jahrhundert wurde deren Symbolik von der nationalsozialistischen Führung übernommen. Begriffe aus der nordischen Mythologie fanden Eingang in den nationalsozialistischen Sprachgebrauch. Diese Verbindungslinie macht altgermanisches Brauchtum auch für heutige Rechtsextremisten attraktiv. Bestimmte Glaubenselemente der "Germanenkultur" entfalten so eine identitätsstiftende Wirkung. In Sachsen-Anhalt ging die Anzahl der Sonnenwendfeiern deutlich zurück. Am 26. Juni führten etwa 30 Rechtsextremisten am Kalksteinbruch in Halle eine Sonnenwendfeier durch. Dazu wurde ein Lagerfeuer aufgeschichtet, um das im Halbkreis Runensymbole aufgestellt waren. Durch eintreffende Polizeibeamte wurde ein Abbrennen untersagt. Ebenfalls am 26. Juni fand auf dem Anwesen des Rechtsextremisten ROEDER in Schwarzenborn/Knüll (Hessen) eine Sonnenwendfeier mit etwa 100 Teilnehmern statt, an der sich etwa zehn Personen aus Sachsen-Anhalt beteiligten. "Nationales Zentrum Mitteldeutschland" in Trebnitz (Landkreis Bernburg) Der Würzburger Neonazi Uwe MEENEN hatte die Immobilie "Schloss Trebnitz" im Jahr 2001 vom Landkreis Bernburg erworben. Nach umfangreichen Sanierungsmaßnahmen sollte in Trebnitz das "Nationale Zentrum Mitteldeutschland" entstehen und von Rechtsextremisten als Schulungszentrum und Wohnobjekt genutzt wer- 8 Anhänger der rassistischen Lehre der Ariosophie gehen von der Existenz einer "arischen Urrasse" in Nordeuropa aus. Diese sei unter allen Rassen die am höchsten entwickelte gewesen. Ihre Nachkommen - insbesondere Deutsche - seien deshalb allen anderen Völkern überlegen. 34 RECHTSEXTREMISMUS den. Im Berichtsjahr wurde der bekannte Neonazi Steffen HUPKA Eigentümer des Objektes. Die anfänglichen baulichen Maßnahmen sind seit mehreren Monaten weitgehend zum Erliegen gekommen. Offensichtlich wird an den ursprünglichen Planungen nicht weiter festgehalten. HUPKA bietet das Objekt im Internet zum Kauf an. DISKURSORIENTIERTER RECHTSEXTREMISMUS ("NEUE RECHTE") Die Verfassungsschutzbehörden beobachten unter der Bezeichnung "Diskursorientierter Rechtsextremismus" eine Ideologievariante des Rechtsextremismus, die sich insbesondere an den Ideen der "Konservativen Revolution" zur Zeit der Weimarer Republik orientiert und sich rechtsextremistisch äußert oder rechtsextremistische Ziele verfolgt. Eine Gefahr für den freiheitlichen Rechtsstaat besteht darin, dass diese Rechtsextremisten versuchen, die Abgrenzung zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus allmählich aufzulösen. Der diskursorientierte Rechtsextremismus versucht rechtsextremistische Themen in den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs einzuspeisen. Aktuelle Politik wird aufgegriffen und so umgedeutet, dass rechtsextremistische Theorien scheinbar bestätigt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, werden entsprechende Zirkel oder Diskussionskreise organisiert und Publikationen herausgegeben. Seit Ende der 90er-Jahre wird verstärkt auch das Internet als Kommunikationsmittel genutzt, um sich einem größeren Publikum zu präsentieren. Zahlreiche in das Lager des diskursorientierten Rechtsextremismus einzuordnende Gruppierungen sind bereits mit eigenen Seiten im Internet vertreten. Dem intellektuellen Rechtsextremismus dient das Internet somit als Informationsbasis und zur informationellen Vernetzung. 35 RECHTSEXTREMISMUS "Deutsches Kolleg" (DK) Mit seinem Schulungsprogramm kommt das DK einer allgemein in der rechtsextremistischen Szene vorhandenen Überzeugung entgegen, der zufolge es notwendig sei, die politischen Akteure sorgfältiger zu schulen. Damit wird das DK zu einer Schnittstelle in ideologischer und taktischer Hinsicht differierender Gruppen. Die Agitation des DK ist von einem aggressiven Antisemitismus und Rassismus geprägt. Maßgebliche Ideengeber sind Dr. Reinhold OBERLERCHER (Hamburg) und der ehemalige Linksterrorist und jetzige Rechtsextremist Horst MAHLER (Brandenburg), die sich die Schulung der "nationalen Intelligenz" zum Ziel gesetzt haben. Ihre Thesen werden im gesamten Bundesgebiet über das Internet oder in Form von Flugblättern verbreitet. Seit dem 6. Februar mussten sich MAHLER, OBERLERCHER und MEENEN vor dem LG Berlin wegen des Verdachts der Volksverhetzung verantworten. Das DK veröffentlichte Mitte Oktober 2000 auf der von MAHLER betriebenen Internetseite ein antisemitisches, auch von OBERLERCHER und MEENEN unterzeichnetes Manifest. In diesem wurde unter dem Titel "Die Ausrufung des Aufstandes der Anständigen" gefordert, "jüdische Gemeinden und alle vom jüdischen Volksgeist beeinflussten Einrichtungen und Vereinigungen zu verbieten". In einem Interview mit der Publikation "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ)9 nahm MAHLER zum genannten Verfahren Stellung. Er führte dabei aus, dass sein heutiger Kampf - mit anderen Konturen - der gleiche sei wie vor 30 Jahren und sich auch gegen den gleichen Feind richte. Gewandelt habe sich im Laufe der Zeit aber die Auffassung, wie der Feind richtig zu bekämpfen sei. Die Akte dieses Staates, seiner Behörden und Gerichte seien Ausdruck der Gewalt, der Niederhaltung und Ausbeutung und daher grundsätzlich unbeachtlich. Eine Ausnahme stellten lediglich einzelne notwendige Akte zur Aufrechterhaltung der Ordnung dar. Die Ent- 9 Ausgabe 9/04. 36 RECHTSEXTREMISMUS scheidung, welche staatlichen Regelungen in diesem Zustand der erzwungenen Anarchie unbeachtlich seien und welche nicht, müsse jeder Bürger auf eigenes Risiko für sich treffen. Für ihn sei nicht ein Freispruch das Entscheidende, sondern vielmehr die Möglichkeit, das zu sagen, was gesagt werden müsse. MAHLERs Aussagen in der NZ entsprechen seinen bereits bekannten Theorien, in denen er dem demokratischen Rechtsstaat die Existenzberechtigung abspricht und die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Deutschen Reiches fordert. Die gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren dienen ihm tatsächlich als "Bühne" zur Selbstdarstellung. Das LG Hamburg verurteilte MAHLER am 5. Mai in einem Berufungsprozess wegen Billigung einer Straftat zu einer Geldstrafe von 7.800 EUR. Ein vorausgegangenes Urteil des LG Mainz wegen des gleichen Sachverhaltes wurde in die Verurteilung einbezogen. MAHLER hatte im NDR-Magazin Panorama die Anschläge vom 11. September 2001 als "rechtens" bezeichnet und sie mit den Worten kommentiert: "Es war ein Erschrecken und gleichzeitig auch das Gefühl: Endlich mal, endlich sind sie mal im Herzen getroffen." Das DK nahm in einer im Internet unter der Überschrift "Moralische Verurteilung des 20. Juli" veröffentlichten Erklärung zum Attentat auf HITLER Stellung. In dem von dem führenden DK-Aktivisten MEENEN verantworteten Text heißt es unter anderem: "Die Attentäter hatten keinen alternativen Systementwurf; sie wollten nicht nur das Deutsche Reich (mit Posen, ElsaßLothringen und Südtirol) und die Deutsche Volksgemeinschaft retten, sondern auch den Nationalsozialismus. Dies unterstreicht die Sinnlosigkeit ihres Tuns. Dass es sich bei den Attentätern um Demokraten handelte, ist jedoch frei erfunden." 37 RECHTSEXTREMISMUS Ein erfolgreicher Putsch hätte aber direkt zum Bürgerkrieg geführt: "Alle Erfolge, alle Opfer seit 1933 wären sinnlos geworden. Die Deutschen wären ruhmund ehrlos von der Bühne der Weltgeschichte abgetreten". Die "Wiederauferstehung" von 1933 könne sich jederzeit wiederholen, da der "Mythos Hitler" lebendiger sei denn je. Auch unter der Jugend wachse die Zahl der Bewunderer Adolf HITLERs von Tag zu Tag. Der strategischen Ausrichtung des DK entsprechend erklärt MEENEN abschließend, aus der angeblichen Fortexistenz des Deutschen Reiches und der daraus folgenden "Geschäftsführung ohne Auftrag" ergebe sich für jeden Reichsdeutschen in letzter Konsequenz die Berechtigung "die Feinde des Deutschen Reiches und Verräter des Deutschen Volkes zu töten". Am 7. Dezember veröffentlichte das DK unter der Bezeichnung "Toleranzedikt" auf seiner Internetseite eine antisemitische Hetzschrift. In Deutschland sei die Religionsfreiheit von "raumfremden Mächten" gewaltsam durchgesetzt worden. Der "Judaismus" könne daher "den Glauben an seine mammonistische Welthirtschaft und sein Völkerschächtungsgebot ausleben". Das DK forderte daher in seinem Papier, die allgemeine Religionsfreiheit aufzuheben und den "öffentlichen Kult nichtdeutscher Religionen" zu verbieten. Nur der nichtöffentliche und nichtkollektive Teil von Kulthandlungen der islamischen Religion könne toleriert werden. Juden und jüdische Religion dürften nicht toleriert werden, weder insgesamt noch teilweise. 38 RECHTSEXTREMISMUS "Nation & Europa" Die "Nation Europa-Verlags GmbH" gibt unter anderem die monatlich in einer Auflage von etwa 14.500 Exemplaren erscheinende Publikation "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte" heraus. Diese gilt als bedeutendstes rechtsextremistisches Strategieund Theorieorgan und enthält sowohl Beiträge zum aktuellen Tagesgeschehen als auch Überlegungen zu strategischen und theoretischen Fragen. Die Publikation hat sich in den letzten Jahren von einem Organ des klassischen Rechtsextremismus zu einer Zeitschrift mit Themen des diskursorientierten Rechtsextremismus entwickelt. "Nation & Europa" dient als Forum für unterschiedliche rechtsextremistische Positionen aus dem gesamten nicht-neonazistischen Spektrum und ist innerhalb der rechtsextremistischen Szene weit verbreitet und auch im Internet präsent. In Sachsen-Anhalt wird "Nation & Europa" durch rechtsextremistische Publikationen wie zum Beispiel den "Nationalen Beobachter" empfohlen. In der Januar-Ausgabe von "Nation & Europa" ruft der frühere Bundesvorsitzende der Partei "Die Republikaner" (REP) Franz SCHÖNHUBER die Leser auf, bei den zahlreichen Wahlen im Berichtsjahr für keine der antretenden Parteien zu stimmen. Ausnahme seien Kommunalwahlen, weil dort noch direkter Einfluss auf das Wahlergebnis genommen werden könne. Eine Protestwahl lohne sich nicht, da nur politisch gescheiterte Funktionäre in den Genuss kämen, sich darzustellen und Gelder zu erhalten. Dies führe zu keiner politischen Änderung. Karl RICHTER, Redaktionsmitglied der Publikation, beklagt in der Februar-Ausgabe die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. In seinem Aufsatz "Großkapital gegen Nationalstaaten: Auf dem Höllentrip" stellt er fest, dass "im Verfall begriffene Land" sei "ausgelaugt, desorientiert und verblödet". Mit alltäglichen Schlagworten wie Flexibilisierung, Globalisierung und Privatisierung sei der Siegeszug des internationalen Bankkapitals verbunden. Der 39 RECHTSEXTREMISMUS Kapitalismus mutiere zu einem Krebsgeschwür, an dessen Ende der große Kollaps stehe. Wer sich dieser Entwicklung widersetze, werde - wie das Beispiel Saddam HUSSEINs zeige - "plattgemacht" und "weggebombt". Die Kritik RICHTERs ist durch rechtsextremistische Äußerungen geprägt. Anstelle einer Abschaffung des Kapitalismus im Sinne einer Verstaatlichung der Produktionsmittel plädiert RICHTER eher für eine weitgehend unabhängige Wirtschaftsordnung der einzelnen Nationalstaaten. Unter dem Titel "Die Widerstandslüge" wurde in der "Nation & Europa"-Doppelausgabe Juli/August ein Beitrag über den Gedenktag zum 20. Juli verbreitet, in dem der Autor die "Unwahrhaftigkeit des Widerstandsgedenkens", die "der jeweilige Zeitgeist für opportun hält", beklagt. Anhand kurzer Charakterisierungen einzelner Teilnehmer des Widerstandskreises um Claus Schenk Graf VON STAUFFENBERG versucht der Verfasser zu belegen, dass das Attentat auf HITLER kein Anlass sei, seiner Urheber positiv zu gedenken. Der STAUFFENBERG-Kreis habe statt der parlamentarischen Demokratie vielmehr die Errichtung eines "Ständestaates" geplant und die "Gleichheitslüge" verachtet. Der Autor versucht in seinem Beitrag die Widerstandskämpfer um STAUFFENBERG als gesellschaftliche wie auch militärische Außenseiter der Zeit darzustellen. Er schreibt ihnen Kriegsverbrechen zu, die den eigentlichen Intentionen eines Großteils der Wehrmacht "suspekt" gewesen seien. Über die Kritik an den Trägern des Widerstandes verharmlost der Autor den Nationalsozialismus und die von ihm zu verantwortenden Verbrechen. NUTZUNG NEUER MEDIEN DURCH RECHTSEXTREMISTEN Bundesweite Exekutivmaßnahmen wegen Internet-Missbrauchs Nach umfangreichen Recherchen im Internet wegen Volksverhetzung und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen fanden am 24. März unter der Leitung des Bundes40 RECHTSEXTREMISMUS kriminalamtes (BKA) bundesweit und zeitgleich Durchsuchungen in 333 Objekten statt. 342 Personen (davon elf aus Sachsen-Anhalt) werden beschuldigt, rechtsextremistische Musiktitel mit menschenverachtenden, rassistischen und teilweise neonazistischen Texten in der Internet-Tauschbörse "KaZaA" zum Download angeboten zu haben. Die örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften leiteten gegen die Verdächtigen Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung ein. Bei den festgestellten Personen handelt es sich ersten Einschätzungen zufolge fast durchweg um Jugendliche, die bislang nicht wegen Staatsschutzdelikten in Erscheinung getreten waren. Diese breit angelegte Maßnahme der Strafverfolgungsbehörden verdeutlicht, dass auch das Internet keinen rechtsfreien Raum darstellt. Rechtsextremistische Propaganda erstmals per Computervirus verbreitet Unbekannte hatten in der Nacht zum 10. Juni in einer breit angelegten Aktion mit der automatisierten Verbreitung rechtsextremistischer Propaganda per E-Mail begonnen. Das hierfür verwendete Computervirus greift dabei auf einen seit Ende letzten Jahres im Internet kursierenden so genannten "Wurm" mit dem Namen "Sober.G" zurück und nutzt dessen Verteilfunktion, indem es jeden nicht entsprechend geschützten Rechner zum Versenden der rechtsextremistischen Mails einsetzt. Somit erscheinen als angebliche Absender - neben zahlreichen Privatpersonen - unter anderem auch Medienunternehmen wie "Der Spiegel" und das "Manager Magazin". Die Mails enthalten Formulierungen wie "Ausländergewalt: Herr Rau wo waren Sie?" oder "Was Deutschland braucht sind deutsche Kinder!". Über Links verweisen sie häufig auf bekannte rechtsextremistische Homepages. 41 RECHTSEXTREMISMUS Schon im Januar 2003 hatten Unbekannte in großer Anzahl "SpamMails"10 mit rechtsextremistischen Inhalten verschickt. Unter verschiedenen, gefälschten Absenderkennungen warben die Mails für die Aktivitäten der (inzwischen verbotenen) rechtsextremistischen Wählergemeinschaft "Bündnis Nationaler Sozialisten für Lübeck". In einer ähnlichen E-Mail-Aktion mit ausländerfeindlichen Inhalten im Jahr 2001 waren vor die eigentlichen Absender-Kennungen Namen von bekannten Politikern gesetzt worden. Amerikanischer Internet-Radiosender verbreitet deutsche Skinheadmusik Seit kurzem betreibt der in den USA ansässige rechtsextremistische Musikvertrieb "Panzerfaust Records" das Internetradio "Radio White" mit sechs Live-Kanälen. Als Moderator der Radiosendungen wird ein Mitglied der kalifornischen Skinhead-Band "Youngland" benannt. Ein Kanal mit dem Titel "All German" spielt ausschließlich Musik deutscher rechtsextremistischer Skinhead-Musikgruppen, darunter auch zahlreiche strafbare Titel. Die Einrichtung eines deutschsprachigen Musiksenders belegt erneut die zunehmende Ausrichtung des amerikanischen Musikvertriebes "Panzerfaust Records" auf den deutschen Markt. Das Unternehmen hat in diesem Jahr bereits zwei CDs deutscher Bands mit strafbaren Inhalten produziert und das "Projekt Schulhof" in Deutschland finanziell unterstützt11. 10 Unter "Spam" versteht man unverlangt zugestellte, zumeist kommerzielle E-Mails. Aufgrund der geringen Kosten für den Urheber können diese Mails massenweise und zudem über spezielle "Spam"Software automatisiert verschickt werden. 11 Siehe Seite 13f. 42 RECHTSEXTREMISMUS RECHTSEXTREMISTISCHE PARTEIEN UND VEREINIGUNGEN "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Die seit 1964 bestehende NPD verzeichnete im Berichtszeitraum bundesweit eine moderate Steigerung ihrer Mitgliederzahlen. Die etwa 5.300 Mitglieder sind in 16 Landesverbänden organisiert. Diese wiederum gliedern sich in Kreisverbände als unterste politische Entscheidungsebene der Partei. Mitunter werden zusätzlich Ortsbereichsgruppen geschaffen. Die vom Parteivorsitzenden Udo VOIGT 1997 begründete "DreiSäulen-Strategie" zur Erringung der politischen Macht ("Kampf um die Straße", "Kampf um die Köpfe", "Kampf um die Parlamente") wurde von diesem beim Ende Oktober abgehaltenen Bundesparteitag um eine vierte Säule, den "Kampf um den organisierten Willen" ergänzt. Damit verlieh die NPD ihren Sammlungsund Integrationsbemühungen den Charakter eines strategischen IdeologieElements. Allerdings war die Einbindung parteifremder Rechtsextremisten bereits seit der Übernahme des Parteivorsitzes durch VOIGT im Jahr 1996 gängige Praxis der Parteipolitik gewesen und im Jahr 2001 zudem Gegenstand der Verbotsanträge, da viele Funktionäre auch verbotener neonazistischer Organisationen in der NPD eine neue Heimat gefunden hatten. Diese Bemühungen führten schließlich zu einer Mitgliederzahl von 6.500 Personen im Jahr 2000. Mit dem Verbotsverfahren und seinen Nachwirkungen sank die Mitgliederzahl zwischenzeitlich. Erst nach der Einstellung des Verfahrens durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 18. März 2003 gab sich die NPD wieder aufnahmebereit für alle Arten des Rechtsextremismus und pries sich als "nationales Original". Die NPD hat sich in ihrem 40-jährigen Bestehen stets als Wahlpartei aufgefasst und auf eine Wahlbeteiligung nur verzichtet, wenn ihr die materiellen Mittel oder die personelle Ausstattung fehlten. Folglich lag gerade im Wahljahr 2004 das Hauptaugenmerk der NPD auf dem "Kampf um die Parlamente". 43 RECHTSEXTREMISMUS Der Gewinn an Mandaten bei den Kommunalwahlen in SachsenAnhalt, Rheinland-Pfalz, Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, vor allem aber in Sachsen, wo die NPD landesweit 42 von über 14.000 Mandaten erhielt und einen beachtlichen Medienrummel auslöste, ermöglichte das Abkommen zwischen den Parteivorsitzenden VOIGT und Dr. Gerhard FREY von der Deutsche Volksunion (DVU) vom 23. Juni, in dem sie vereinbarten, dass DVU und NPD sich bei den am 19. September stattfindenden Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen nicht durch gleichzeitige Kandidaturen behindern würden. In der Erklärung "Taten statt Worte" empfahlen beide den nationalen Wählern, in Brandenburg der DVU und in Sachsen der NPD ihre Stimmen zu geben. Wahlergebnisse Die Bundesliste der NPD erhielt in Sachsen-Anhalt bei der Europawahl 13.117 Stimmen. Dies entspricht einem auf das Land bezogenen Stimmenanteil von 1,6 Prozent und damit einer Verdoppelung gegenüber der Europawahl von 1999. Bundesweit erhielt sie 241.743 Stimmen (0,9 Prozent). Damit erwarb die NPD einen Anspruch auf anteilige Wahlkampfkostenerstattung. Die NPD beteiligte sich ebenfalls an den Landtagswahlen im Saarland am 5. September und erhielt dort 4,0 Prozent der Stimmen. Bei den Landtagswahlen in Sachsen am 19. September gelang es der NPD erstmals seit 1968, wieder in ein Landesparlament einzuziehen. Sie erreichte 190.909 Zweitstimmen (9,2 Prozent) und errang zwölf Mandate. Die NPD konnte ihr Ergebnis im Vergleich zur Wahl im Jahr 1999 um 7,8 Prozentpunkte verbessern, die absolute Zahl der Stimmen hatte sich versechsfacht. Die NPD erreichte in 24 der 60 Wahlkreise Sachsens mehr als zehn Prozent der gültigen Stimmen. 44 RECHTSEXTREMISMUS Ideologische Entwicklung Den "Kampf um die Parlamente" flankierte die NPD mit dem "Kampf um die Köpfe". Dieser wurde vorwiegend von der in Riesa (Sachsen) ansässigen Parteizeitung "Deutsche Stimme" (DS) und ihrer Redaktion geführt. Die monatlich erscheinende DS lieferte ihren Abonnenten verfassungsfeindliche Propaganda nationalistischer, rassistischer und antisemitischer Prägung. Sie wird an jedes Parteimitglied versandt, um diesem Argumentationshilfen zum Gebrauch in der Öffentlichkeit zu liefern. Die DS veröffentlichte im März unter dem Titel "Befreiungsnationalismus und Gewaltfrage" einen Aufsatz des "Cheftheoretikers" der NPD Jürgen SCHWAB. SCHWAB riet allen Nationalisten, den Einsatz von Gewalt auf seine Erfolgschancen hin abzuwägen. 14 Kilogramm Sprengstoff, so SCHWAB in Anspielung auf die Waffenfunde bei der "Kameradschaft Süd" (München), brächten in dieser Hinsicht keinen Fortschritt. Stünden einem Nationalrevolutionär mindestens drei Panzerdivisionen zur Verfügung, müsste diese Frage allerdings von einer völlig anderen Ausgangsbasis beantwortet werden. Für eine nationale Partei, die schon aufgrund ihres Parteienstatus zur Legalität verpflichtet sei, würden solche Mittel freilich von vornherein ausscheiden. "Mediale Verblödung" und "Umerziehung" der deutschen Bevölkerung ließen die Gewaltanwendung gegen das System als illegitim erscheinen. Organisierter Nationalismus sollte deshalb gegenwärtig militante Gewalt für sich selbst ausschließen. Ein tatsächlich legitimes staatliches Gewaltmonopol allerdings könne erst das wieder herzustellende, "nationalbefreite" Deutsche Reich beanspruchen. Die DS veranstaltete vom 21. bis 23. Mai in der Nähe von Leipzig (Sachsen) den "2. Freiheitlichen Kongreß", an dem sich etwa 80 Rechtsextremisten beteiligten. Als Redner waren zehn namhafte Rechtsextremisten geladen, unter ihnen ausländische Staatsbürger, sowie ehemalige Soldaten des Zweiten Weltkrieges als Vertreter der so genannten Erlebnisgeneration. Die Veranstaltung stand un45 RECHTSEXTREMISMUS ter dem Motto "Deutschland im Würgegriff seiner Feinde - Perspektiven des Widerstandes". Zwei rechtsextremistische Publizisten, der Holocaust-Leugner Udo WALENDY und ein Vertreter der so genannten "Neuen Rechten" stärkten die rechtsextremistischen Auffassungen ihrer Zuhörer. Dr. Claus NORDBRUCH (Südafrika) sprach zum Thema "Die Bundesrepublik im Jahre 2004 - Bestandsaufnahme einer Narrenrepublik". Die Liedermacher Michael MÜLLER und Jörg HÄHNEL gestalteten das "kulturelle" Rahmenprogramm. Der "Kampf um die Köpfe", den die NPD zu führen bemüht ist, hat nicht nur intelligente Rechtsextremisten als Adressaten. Dies beweist die DS alljährlich mit ihrem so genannten "Pressefest", das im Berichtsjahr am 7. August in Mücka (Sachsen) stattfand. Die Veranstaltung wurde als öffentliche Versammlung unter dem Motto "Damit Sachsen eine Zukunft hat - NPD in den Landtag" angemeldet und war damit gleichzeitig der Auftakt für die letzte Phase im sächsischen NPD-Landtagswahlkampf. Mit einer Mischung aus Volksfest, politischem Aschermittwoch, Verkaufsveranstaltung und Skinheadkonzert versucht die NPD die rechtsextremistische Szene in ihrer gesamten Breite anzusprechen. Die Teilnehmerzahl stieg auf etwa 7.000 Besucher an (2003: 2.500). Zunehmend werden auch ausländische Rechtsextremisten von der Veranstaltung angezogen. Das Musikprogramm wurde unter anderem von deutschen rechtsextremistischen Liedermachern sowie den Skinheadbands "Kraftschlag", "Radikahl" und "Youngland" (USA) bestritten. Nach der Wahl in Sachsen führte die dem Spektrum der "Neuen Rechten" zuzuordnende Wochenzeitung "Junge Freiheit" ein Interview mit VOIGT, in dem Programmatik, Ziele und Absichten der NPD hinterfragt wurden. VOIGT bekannte sich, ein Feind des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates zu sein, wie er in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht ist. Ziel der NPD sei es, "die BRD ebenso abzuwickeln, wie das Volk vor fünfzehn Jahren die DDR abgewickelt hat". Bei HITLER habe es sich um "einen gro46 RECHTSEXTREMISMUS ßen deutschen Staatsmann" gehandelt, dem allerdings "die Verantwortung für die Niederlage Deutschlands" anzulasten sei. Folgerichtig bemühe sich die NPD heute darum, "die nationalsozialistische Strömung zu integrieren". Aktivitäten der Bundespartei Obwohl die Parteiführung im Wahljahr 2004 dem "Kampf um die Straße" weniger Priorität beimaß, setzte die NPD auch auf diesem Sektor medienwirksame Akzente. Sie hatte ihre Verbände dazu verpflichtet, weniger Demonstrationen, dafür aber mit mehr Demonstrationsteilnehmern, durchzuführen. Seit Jahresbeginn unternahm der NPD-Parteivorstand erhebliche propagandistische Anstrengungen, um die geplante Demonstration zum 1. Mai in Berlin zu einem Erfolg werden zu lassen. Er konnte neben den Parteigliederungen auch neonazistische Netzwerke, Kameradschaften, "Aktionsbüros" und sonstige rechtsextremistische Strukturen als Unterstützer gewinnen. Schließlich kamen in Berlin-Lichtenberg etwa 2.300 Rechtsextremisten zusammen. Die Demonstration unter dem Motto "Arbeitsplätze für Deutsche sichern - Sozialabbau bekämpfen! - Nein zur EU-Osterweiterung und zum EU-Beitritt der Türkei!" wurde von der NPD als Erfolg verbucht, zumal sie im Vorjahr von den dezentralen Maikundgebungen abgerückt war und nur 1.300 Anhänger hatte mobilisieren können. Als Redner traten neben VOIGT dessen Stellvertreter Holger APFEL (Sachsen) und der ehemalige Rechtsterrorist Peter NAUMANN (Hessen) auf. Durch aktive Teilnahme bewiesen zudem die "Freien Nationalisten" WULFF und Ralph TEGETHOFF (Nordrhein-Westfalen) ihre ideologische Nähe zur NPD. Diese traten entsprechend kurz vor der Landtagswahl in Sachsen in die Partei ein. APFEL verlas eine Grußbotschaft des inhaftierten Neonazis Friedhelm BUSSE (Bayern). Der NPD-Bundesparteitag am 30. und 31. Oktober in Leinefelde (Thüringen) stand "im Zeichen der Schaffung einer deutschen Volksfront". Der NPD-Parteivorsitzende VOIGT wurde bei der Neu47 RECHTSEXTREMISMUS wahl des 19-köpfigen Parteivorstandes mit 86,8 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. 2002 hatte er lediglich 75 Prozent der Stimmen erhalten. Ebenfalls wiedergewählt wurden die beiden stellvertretenden Parteivorsitzenden APFEL und Ulrich EIGENFELD. Zum dritten Stellvertreter VOIGTs bestimmten die Delegierten den saarländischen NPD-Landesvorsitzenden Peter MARX. Der Neonazi Thorsten HEISE (Thüringen) wurde für seinen Parteieintritt kurz vor der Sachsenwahl mit einem Vorstandsposten belohnt, ebenso der ehemalige stellvertretende REP-Bundesvorsitzende Frank ROHLEDER (Sachsen), der sich im "Nationalen Bündnis Dresden", einem Personenzusammenschluss, der am 13. Juni vier Sitze im Dresdener Stadtrat erlangte, engagiert hatte. HEISE und ROHLEDER können als Aushängeschilder des "Kampfes um den organisierten Willen" angesehen werden. Die NPD erhofft sich hiervon eine anhaltende Anziehungskraft auf die neonazistische wie auf die Parteiszene. In seiner im Internet publizierten Parteitagsrede erläuterte VOIGT die künftige Strategie der NPD. Im Vordergrund seiner Ausführungen stand dabei die Bündnispolitik. VOIGT skizzierte das weitere gemeinsame Vorgehen mit der DVU als eine "absolut gleichberechtigte partnerschaftliche Zusammenarbeit". Beide Parteien blieben weiterhin bestehen und strebten künftig Wahlabsprachen, gemeinsame Listen oder Listenverbindungen an. So werde die NPD im Februar 2005 zu den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein als "einzige nationale Kraft" antreten. Zur Bundestagswahl 2006 werde die NPD Listenführerin sein. FREY und weitere zu benennende Führungskräfte der DVU seien bereit, auf den NPD-Listen zu kandidieren. Im Gegenzug werde die DVU zur Europawahl 2009 Listenführerin mit Kandidaten der NPD auf der DVU-Liste sein. Obwohl sich die DVU in Sachsen-Anhalt mit inkompetenten Abgeordneten, missbräuchlicher Verwendung von Fraktionsgeldern, Vetternwirtschaft und Fraktionsspaltungen einen weithin schlechten 48 RECHTSEXTREMISMUS Ruf erwarb, soll sie hier im Jahr 2006 erneut zur Landtagswahl antreten. Zum Verhältnis der Partei zu den "Freien und dem nationalen Widerstand" stellte VOIGT fest, man plane keine "gegenseitige Übernahme", sondern sehe sich als "Bestandteil des gemeinsamen Widerstandes". Mit den drei im September in die NPD eingetretenen "führenden Vertretern des nationalen Widerstandes", HEISE, TEGETHOFF und WULFF, habe die NPD bereits "eine jahrelange konstruktive Arbeit" verbunden. Mit seinen entsprechenden Vorschlägen für die Wahlen zum Parteivorstand habe er einen weiteren "Meilenstein auf dem Weg zu einer nationalen Volksfront" schaffen wollen. Der "Kampf um den organisierten Willen" erfahre darüber hinaus nachhaltige Unterstützung aus den Reihen der "Deutschen Partei", der "Freien" und ehemaliger Mitglieder der REP. "Junge Nationaldemokraten" (JN) Die JN befanden sich auch 2004 weiterhin im Windschatten der Mutterpartei. Sie verfügen in Sachsen-Anhalt über keinerlei Strukturen. Die JN starteten im Frühjahr ausgehend von ihren Internetseiten eine Propaganda-Kampagne unter dem Motto "Den Nationalismus in die Schulen tragen". Obwohl es tatsächlich nur vor einzelnen niedersächsischen Schulen zur Verteilung einer Art Schülerzeitschrift kam, zogen die JN anlässlich ihres Bundeskongresses am 2. und 3. Oktober eine positive Bilanz. Entwicklung und Aktivitäten des NPD-Landesverbandes SachsenAnhalt Dem NPD-Landesvorstand gelang es, den Landesverband auf niedrigem Niveau zu stabilisieren. Dies ist unter anderem auf die erklärte Absicht zurückzuführen, sich an den Kommunalwahlen zu beteiligen. Schließlich entwickelte die sächsische Landtagswahl auch im Land Sachsen-Anhalt einen bescheidenen Sogeffekt, so 49 RECHTSEXTREMISMUS dass der Landesverband von etwa 150 Mitgliedern zu Jahresbeginn auf rund 200 zum Jahresende anwuchs und damit einen Teil der Verluste ausgleichen konnte, die ihm die Austritte 2002 und 2003 zugefügt hatten. Organisatorisch entwickelte sich die NPD im Land weiter. Durch Spaltung des Kreisverbandes Ostharz existieren nunmehr neun Kreisverbände der NPD in Sachsen-Anhalt. Der Kreisverband Halle schuf zudem eine Ortsbereichsgruppe in Wolfen. Nach Bad Kösen und Zeitz verfügt die sachsen-anhaltische NPD damit über drei Ortsbereichsgruppen. Bei den Aktivitäten des Landesverbandes ist ein Süd-Nord-Gefälle zu verzeichnen. Der weit überwiegende Teil der Parteiarbeit ging von den südlichen Kreisverbänden aus, die auch zu den mitgliederstärksten zählen. Dagegen entfalteten die NPD-Mitglieder in den Landkreisen und Städten nördlich einer Linie Bitterfeld - Sangerhausen kaum Aktivitäten. Auch der Kommunalwahlkampf vollzog sich schwerpunktmäßig in den südlichen Bereichen Sachsen-Anhalts. Zunächst wurden vereinzelt Infostände aufgebaut, um die erforderlichen Unterstützungsunterschriften zu erlangen. Im eigentlichen Wahlkampf verteilten NPD-Mitglieder und -Anhänger rechtsextremistisches Propagandamaterial wie die Parteizeitung "Deutsche Stimme" und Faltblätter der Bundespartei an Passanten. In einigen Orten waren mobile Trupps vor allem in Plattenbausiedlungen unterwegs, um Flugblätter zu streuen. NPD-Funktionäre gehen davon aus, dass in diesen Stadtteilen der Anteil der Unzufriedenen größer ist als in anderen Wohnsiedlungen. Sie wählten für ihre Verteilaktionen mitunter die Nachtstunden, da sie mit körperlichen Angriffen "Linker" rechneten. Die Kommunalwahlen beschieden der NPD einen gewissen Erfolg. Waren 1999 nur zwei Personen für die NPD in kommunale Parlamente eingezogen, erhielt die Partei am 13. Juni sieben Mandate. Zählt man einen NPD-Funktionär des NPD-Kreisverbandes Burgenlandkreis hinzu, der sein Mandat über die Liste eines Sportvereins erhielt, kann die sachsen-anhaltische NPD acht Mandate vor50 RECHTSEXTREMISMUS weisen. Auf die Kandidaten der NPD entfielen landesweit insgesamt 15.225 Stimmen. Die NPD ist nun in den Stadträten von Halle, Halberstadt, Quedlinburg, Sangerhausen und Laucha (Burgenlandkreis) vertreten. Des Weiteren gelang es der NPD, in die Kreistage des Landkreises Aschersleben-Staßfurt mit einem Mandat und des Burgenlandkreises mit zwei Mandaten einzuziehen. In letzterem bildeten der NPDLandesvorsitzende Andreas KARL (Billroda) und der stellvertretende Kreisverbandsvorsitzende Denis GRATZKE (Zeitz) im Frühherbst eine Fraktion mit dem Mandatsträger der "Freien Wählergemeinschaft Burgenlandkreis" Horst SCHUBERT (Stößen). In Merseburg gelang es einem NPD-Funktionär, die Proteste gegen die Sozialreformen für die NPD-Parteipropaganda zu nutzen. Von August bis Ende Dezember meldete er die Protestveranstaltungen an und verschaffte diversen NPD-Funktionären flankiert von normalen Bürgern die Möglichkeit, zeitweise vor Hunderten von parteilich ungebundenen Bürgern zu reden. Insofern dürfte es der NPD gelungen sein, in Merseburg über einen Zeitraum von mehreren Wochen als in der Mitte der sachsen-anhaltischen Gesellschaft angekommen betrachtet zu werden. Auch andernorts versuchten NPD-Funktionäre, sich die Empörung der Bürger über die Sozialreformen für ihre rechtsextremistische Agitation zunutze zu machen. Gerade zu Beginn der Proteste gelang es ihnen, die Unkenntnis der Organisatoren auszunutzen und sich den Zugang zu den Mikrofonen zu verschaffen. So konnten der NPD-Landesvorsitzende KARL in Weißenfels und Naumburg sowie Steffen HARTMANN und Herbert SCHART in Sangerhausen jeweils vor mehreren hundert Bürgern reden. Der Landesverband Sachsen-Anhalt führte am 18. September in Bergisdorf (Burgenlandkreis) seinen zwölften Landesparteitag durch. An der Veranstaltung waren 39 Delegierte, der NPD-Generalsekretär EIGENFELD (Niedersachsen) und das Parteivorstandsmitglied Jürgen SCHÖN (Sachsen) beteiligt. Des Weiteren nahmen erstmals Gäste der "Deutschen Partei" (DP) und der REP 51 RECHTSEXTREMISMUS teil. Zentraler Tagesordnungspunkt war die Wahl eines neuen Landesvorstandes. Erneut wurde KARL zum Landesvorsitzenden gewählt, der dieses Amt nun mit einer Unterbrechung von sechs Monaten seit März 2000 inne hat. Seine bisherigen Stellvertreter HARTMANN (Sangerhausen) und Andreas KITTNER (Magdeburg) wurden in ihren Ämtern bestätigt. Der Wahlerfolg der sächsischen NPD blieb nicht ohne Wirkung auf den sachsen-anhaltischen Landesverband. Allerdings fällt es dessen Mitgliedern und Funktionären offenkundig schwer, mit dem auf dem sächsischen Wahlerfolg aufbauenden, auch Neonazis integrierenden Kurs der NPD-Bundesführung Schritt zu halten. "Deutsche Volksunion" (DVU) Die DVU wird seit 1987 von Dr. Gerhard FREY (Bayern) autoritär und zentralistisch geleitet. Auf dem am 20. März durchgeführten Bundesparteitag in München wurde dieser mit 99 Prozent der abgegebenen Stimmen in seinem Amt als Parteivorsitzender bestätigt. Mit 11.500 Mitgliedern ist die DVU weiterhin personenstärkste Partei im rechtsextremistischen Spektrum. Sie verfügt formell über Organisationsstrukturen in allen Bundesländern. Durch frühzeitige Wahlabsprachen zwischen der DVU und der NPD, sich nicht durch gleichzeitige Kandidaturen zu behindern, gelang es beiden rechtsextremistischen Parteien in bundesdeutsche Landesparlamente einzuziehen. Bei der Landtagswahl in Brandenburg am 19. September erreichte die DVU mit einem Ergebnis von 6,1 Prozent den Wiedereinzug in den Landtag. Sie stellt nunmehr sechs Abgeordnete (bislang fünf). Wie der NPD war es auch der DVU gelungen, die Sorgen der Bevölkerung über die gegenwärtigen Sozialreformen auszunutzen und große Teile des dadurch entstandenen Protestwählerpotenzials für sich zu gewinnen. 52 RECHTSEXTREMISMUS Die "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ), die auflagenstärkste Publikation im Bereich des parteigebundenen Rechtsextremismus in Deutschland, bediente im Berichtszeitraum erneut typische rechtsextremistische Agitationsfelder wie Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Antiamerikanismus. Einen besonderen Schwerpunkt bildete der mögliche EU-Beitritt der Türkei, der durch eine gemeinsame Unterschriftenaktion mit der NPD verhindert werden soll. Zu einem EU-Beitritt der Türkei bemerkte FREY, die Türken seien kein europäisches Volk und hätten in Europa nichts zu suchen. Statt endlich mit einer "normalen Bevölkerungspolitik und Geburtenförderung ein Aussterben unseres Volkes zu verhindern", wollten die Wortführer der Großindustrie und der etablierten Parteien in Deutschland offenkundig ein neues und ganz anderes Volk schaffen. Entwicklung und berichtszeitraumbezogene Aktivitäten des Landesverbandes Sachsen-Anhalt Die DVU hatte es den Parteimitgliedern und -funktionären zu den sachsen-anhaltischen Kommunalwahlen freigestellt, sich auf eigene Kosten zu beteiligen. Die DVU zog in Hettstedt (Landkreis Mansfelder Land) erneut mit einem Mandatsträger in den Stadtrat ein. Dieser hatte 168 Stimmen erhalten. Mit weniger als 50 aktiven Mitgliedern befand sich der DVULandesverband auch weiterhin in einem inaktiven Zustand, dessen Arbeit sich allein auf die Durchführung so genannter politischer Stammtische beschränkte. Dem Landesverband verblieb bedingt durch die zentralistisch-autoritäre Führung kein Raum für eine selbstständige politische Arbeit oder eigene Initiativen. Ausdruck dieser Lethargie war die Tatsache, dass die DVU - abgesehen von den Kandidaten in Hettstedt - keine Kommunalwahlvertreter aufstellen konnte. 53 RECHTSEXTREMISMUS "Deutsche Partei - Die Freiheitlichen" (DP) Die DP veranstaltete am 24. Januar in Fulda (Hessen) einen Sonderparteitag, auf dem sie die Kandidaten für die Bundesliste zur Europawahl bestimmte. Spitzenkandidat wurde der Parteivorsitzende Dr. Heiner KAPPEL (Hessen), den zweiten Listenplatz erhielt die stellvertretende Parteivorsitzende Claudia WIECHMANN (Landkreis Anhalt-Zerbst). Bei den Wahlen zum Europaparlament erlangte die DP 61.954 gültige Stimmen (0,2 Prozent). In Sachsen-Anhalt entfielen 3.846 Stimmen (0,5 Prozent) auf die DP. Für eine sich selbst als rechtskonservativ bis national einschätzende Sammlungspartei muss das Wahlergebnis als deutliche Niederlage gelten. Auch war die DP offenbar lediglich zu einem punktuellen Wahlkampfengagement in der Lage. Widersprüchliche Presseerklärungen der DP sowie der REP über angeblich vereinbarte Kooperationen sorgten für Irritationen in der rechtsextremistischen Parteienlandschaft. Einer Presseerklärung des DP-Parteivorsitzenden unter der Überschrift "Frankfurter Erklärung der Parteivorsitzenden von REP, DP und DSU 12" zufolge hatten KAPPEL, der REP-Bundesvorsitzende Dr. Rolf SCHLIERER (Baden-Württemberg) und der DSU-Vorsitzende Roberto RINK (Sachsen) sich in Frankfurt am Main auf eine engere Zusammenarbeit ihrer Parteien verständigt. Absicht sei es gewesen, zu einer engen Kooperation und zu gemeinsamen Wahlantritten zu kommen, um eine seriöse und demokratische Alternative zu den Bundestagsparteien rechts von der Union zu etablieren. Die Parteivorsitzenden hatten auch vereinbart, die Zustimmung ihrer Parteigremien einzuholen. Der Bundesvorstand der DP lehnte einer Veröffentlichung im Internet zufolge am 21. November mehrheitlich die oben genannte "Frankfurter Erklärung" ab. Zur Begründung hieß es, ein Bündnis zu dieser Zeit führe zu einer weiteren Spaltung des patriotischen Parteiengefüges und verringere damit die Chancen der nationalen 12 Die "Deutsche Soziale Union" (DSU) ist kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörde. 54 RECHTSEXTREMISMUS Parteien, im Jahr 2006 über eine gemeinsame Liste in den Bundestag einzuziehen. Die Mitgliederzahl der DP beläuft sich unverändert auf etwa 500 Personen, davon sind zurzeit etwa 50 Mitglieder im Landesverband Sachsen-Anhalt vertreten. Entwicklung und berichtszeitraumbezogene Aktivitäten des Landesverbandes Sachsen-Anhalt Für ein landesweites Engagement fehlt es dem hiesigen Landesverband der DP offenbar noch an Mitgliedern. So trat die DP lediglich im Landkreis Anhalt-Zerbst zu den Kommunalwahlen an. Bei den dortigen Kreistagswahlen erhielt sie 936 Stimmen (1,2 Prozent). Im Wahlbereich VI - Verwaltungsgemeinschaften Oranienbaum und Wörlitzer Winkel - erhielt die DP 424 gültige Stimmen und errang damit einen Sitz im Kreistag. Die stellvertretende DPBundesvorsitzende Claudia WIECHMANN, die sich ebenfalls zur Wahl stellte, blieb erfolglos. "Die Republikaner" (REP) Die REP-Bundesführung hält trotz wachsender innerparteilicher Kritik unbeirrt an ihrem Abgrenzungskurs gegenüber den aus ihrer Sicht verfassungsfeindlichen Parteien NPD und DVU fest. Die REP veröffentlichten die oben genannte "Frankfurter Erklärung" einen Tag nach dem Ende des NPD-Bundesparteitags und der dort propagierten "Volksfront" zwischen NPD, DVU und Teilen der Neonaziszene. Mit der Verlautbarung über das angebliche Zustandekommen eines "Gegenbündnisses" wollte die REP-Bundesführung offensichtlich einen Erfolg vorweisen, um so der wachsenden innerparteilichen Kritik an ihrem Abgrenzungskurs entgegenzutreten. Am 27./28. November fand in Veitshöchheim bei Würzburg (Bayern) der REP-Bundesparteitag statt. Die Delegierten bestätigten den bisherigen Bundesvorsitzenden Dr. Rolf SCHLIERER in seinem Amt. 55 RECHTSEXTREMISMUS In einer mit großer Mehrheit verabschiedeten Resolution bekannten sich die REP zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und zur parlamentarischen Demokratie. Eine Beteiligung an einer "rechten Volksfront" sei ebenso wie eine Zusammenarbeit mit Parteien, die "unseren Staat oder die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen", kategorisch abgelehnt worden. Ausdrücklich habe man gemeinsame Aktivitäten und Kandidaturen mit der "NPD oder neonationalsozialistischen Organisationen und deren Umfeld" ausgeschlossen. Dagegen sei es Absicht der REP, die Zusammenarbeit mit Parteien, Gruppierungen und Personen zu suchen, "die sich den gleichen Zielen verpflichtet sehen und sich uneingeschränkt zum Grundgesetz bekennen". In zwei Leitanträgen habe man ferner die Ablehnung der multikulturellen Gesellschaft und eines EU-Beitritts der Türkei bekräftigt. Die Partei hat insgesamt 7.500 Mitglieder (2003: 8.000). Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament entfielen auf die REP bundesweit 485.691 Stimmen (1,9 Prozent). Die Partei hat mit diesem Ergebnis Anspruch auf Wahlkampfkostenerstattung. In Sachsen-Anhalt erhielten die REP 13.532 gültige Stimmen (1,6 Prozent), 561 Stimmen mehr als bei den Europawahlen 1999. Entwicklung und berichtszeitraumbezogene Aktivitäten des Landesverbandes Sachsen-Anhalt Der Landesverband verfügt derzeit über knapp 100 Mitglieder, die in fünf Kreisverbänden organisiert sind. Über die bislang existierenden Kreisverbände Köthen, Magdeburg, Wittenberg und Mansfelder Land/Aschersleben hinaus wurde ein Kreisverband Halle gegründet. Bei den Kommunalwahlen errangen Kandidaten der REP zwei Mandate im Köthener Stadtrat. 56 RECHTSEXTREMISMUS "Kampfbund Deutscher Sozialisten" (KDS) Strukturelle Entwicklung Der KDS wurde am 1. Mai 1999 in Krimnitz (Brandenburg) gegründet und verfügt bundesweit über etwa 50 Mitglieder. Der KDS betreibt eine Homepage, mit der Programm und Zielsetzung sowie Beiträge seiner Publikationen "Wetterleuchten" und "Gegenangriff" verbreitet werden. Nach eigenen Angaben bezeichnet sich der Zusammenschluss als "parteiund organisationsunabhängiger" Personenkreis, "auf der Basis des Bekenntnisses zu Volk und Heimat". Der KDS zeichnet sich durch einen streng hierarchischen Aufbau aus. Ausgehend von einer Bundesgeschäftsstelle in Berlin wurde das Bundesgebiet in so genannte "Gaue" eingeteilt. Zudem existieren mehrere "Stützpunkte". Kontakte zum KDS sollen über die jeweiligen Gauoder Stützpunktleiter aufgenommen werden. Die neonazistisch ausgerichtete Vereinigung versucht bereits seit mehreren Jahren, Kontakte zur rechtsextremistischen Szene in Mitteldeutschland aufzubauen. Seit Januar wurden der Publikation "Gegenangriff" zufolge neue KDS-Stützpunkte in Leipzig und München errichtet. Der KDS verfügt über einen Stützpunkt in Halle und seit Anfang des Jahres über einen Stützpunkt "Halle/Oschersleben". Berichtszeitraumbezogene Aktivitäten Im Berichtsjahr erschien erstmals eine hinsichtlich Aufmachung und Inhalt sehr einfach gehaltene Broschüre unter der Bezeichnung "Freiheit - Organ der Bezirksleitung Halle des KDS für Agitation und Volksaufklärung". Als Kontaktanschrift ist ein Postfach in Strausberg (Brandenburg) angegeben. Bei dem "Herausgeber" soll es sich nach Eigenangabe um ein Redaktionsteam handeln. 57 LINKSEXTREMISMUS III. LINKSEXTREMISMUS Im Berichtszeitraum wuchs das linksextremistische Personenpotenzial im Land Sachsen-Anhalt im Vergleich zum Jahr 2003 leicht an. Linksextremisten13 2003 2004 Parteien und sonstige Gruppierungen 240 275 Autonome 260 260 Gesamt: 500 535 Insbesondere die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) sowie die "Freie Arbeiterinnenund Arbeiter Union - Internationale Arbeiter Assoziation" (FAU-IAA) konnten neue Anhänger gewinnen. AUTONOME Entwicklung und gegenwärtige Situation der Autonomenszene Sämtliche autonome Gruppierungen und Einzelpersonen verbindet grundlegend die Vorstellung eines freien, weitestgehend selbstbestimmten Lebens und eine Ablehnungshaltung gegenüber staatlichen und gesellschaftlichen Normen. Wie alle Linksextremisten zielen auch sie im Kern auf die Überwindung des "herrschenden Systems" ab. Die Anwendung von Gewalt zur Umsetzung der eigenen Vorstellungen ist dabei teilweise umstritten, wird aber in weiten Bereichen als legitimes Mittel "autonomer Politik" betrachtet. Nach wie vor ist die Autonomenszene von konzeptionellen und ideologischen Defiziten geprägt. Dies führte im Berichtsjahr zu einer weiteren Abnahme der Mobilisierungsfähigkeit. Hinzu kommt ein 13 Zahlen zum Teil geschätzt und gerundet. 58 LINKSEXTREMISMUS augenscheinlich bestehender Generationskonflikt, der einen fließenden Übergang von bisherigen Zusammenschlüssen in neue Strukturen weitgehend verhindert. Bündnisse von Autonomen, die einen gewissen Organisationsgrad aufwiesen, wie zum Beispiel die "Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation" (AA/BO)14 und das "Bundesweite Antifa-Treffen" (BAT)15 lösten sich nach internen Streitigkeiten schon vor Jahren auf. Das hat zur Folge, dass nur noch in sehr eingeschränktem Umfang über neue Konzepte sowie strategische und taktische Umsetzungen innerhalb der Szene nachgedacht wird. Es existieren derzeit lediglich regionale Zusammenschlüsse, die mehr oder weniger den Charakter von Zweckbündnissen haben, in denen inhaltliche Diskussionen jedoch nicht im bisher bekannten Umfang stattfinden. Wichtiges Aktionsfeld Autonomer ist nach wie vor der "antifaschistische Kampf". Dabei richtet sich der Schwerpunkt der diesbezüglichen Aktivitäten gegen Rechtsextremisten und deren Auftreten in der Öffentlichkeit. Um die eigene Mobilisierungsschwäche zu überwinden, versuchten Angehörige der Autonomenszene insbesondere zum Jahresende, durch spektakuläre und teilweise auch gewalttätige Aktionen im Verlauf von Demonstrationen auf sich aufmerksam zu machen, und hierdurch eine Art "Initialzündung" zu erreichen. So beteiligten sich am 3. Oktober auch etwa 1.000 gewaltbereite Linksextremisten an Protestaktionen gegen einen von dem Hamburger Rechtsextremisten Christian WORCH in Leipzig (Sachsen) veranstalteten Aufzug. Die Demonstranten errichteten Barrikaden aus Müllcontainern, setzten ein Fahrzeug in Brand, zerstörten Schaufenster, benutzten Leuchtgeschosse und warfen mit Pflastersteinen und anderen Gegenständen. Im Internet wurde die Beeinträchtigung des rechtsextremistischen Aufzuges als Erfolg gewertet. Derartige Veranstaltungen von "Rechten" sollen künftig auch in anderen Städten durch gewaltsame Aktionen nachhaltig gestört wer14 Auflösung im Jahr 2001. 15 Auflösung im Jahr 2002. 59 LINKSEXTREMISMUS den. Dabei soll das "Brennen von Barrikaden" eine Art Signalwirkung entfalten. Die Diskussion so genannter antideutscher Positionen nahm in der letzten Zeit einen zentralen Raum bei der thematischen Auseinandersetzung innerhalb der linksextremistischen Szene ein. Aus Sicht der Autonomenbewegung hat sich diese Auseinandersetzung teilweise als motivationsschädigend und dem Gruppenzusammenhalt abträglich erwiesen. Das "antideutsche" Spektrum entstand zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung und wandte sich gegen einen vermeintlich aufgekommenen "nationalistischen Größenwahn". In der Auseinandersetzung mit den "traditionellen", antiimperialistisch ausgerichteten Autonomen wirkt insbesondere der Nahostkonflikt polarisierend. "Antideutsche" beziehen pro-israelische Standpunkte und greifen eine Parteinahme für die palästinensische Seite scharf an. Im Nahostkonflikt gehe es um die Verteidigung einer Heimstätte für die verfolgten Juden vor dem Vernichtungswillen eines immer aggressiver werdenden antisemitischen "Islamfaschismus" im Verbund mit einem antiamerikanischen, deutsch geführten Europa. Diese Kritik an herkömmlicher "antizionistischer" Palästina-Solidaritätsarbeit wird nahezu vom gesamten übrigen linksextremistischen Spektrum abgelehnt. "Traditionelle Linke" führen den Antisemitismus auf das Wesen der Kapitalverhältnisse sowie auf soziale Interessenlagen zurück. Situation der Autonomenszene in Sachsen-Anhalt Schwerpunktregionen der etwa 260 Personen umfassenden Autonomenszene in Sachsen-Anhalt sind Magdeburg, Halle und Dessau. Weitere entsprechende Aktivitäten sind vor allem in den Regionen Bitterfeld, Halberstadt, Haldensleben, Merseburg, Quedlinburg, Salzwedel, Stendal und Wernigerode zu verzeichnen. Gruppierungen auf regionaler Ebene sind die "Antifaschistische Aktion Halle" (AFA Halle), die "AG No tears for krauts" (Halle) sowie die Gruppe "Internationale Solidarität" (Magdeburg), "Konterbande Magdeburg" und "Antifa Dessau". In den anderen Regionen entfal60 LINKSEXTREMISMUS ten Autonome lediglich Einzelaktivitäten und agieren zumeist ohne Namensbezeichnung. Im Zuge des Ermittlungsverfahrens wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung gegen drei Autonome aus Magdeburg löste sich der Magdeburger "Autonome Zusammenschlusz" (AZ) auf. Es entstanden mehrere Kleinstgruppen. Auch in Sachsen-Anhalt ist die Autonomenszene von Mobilisierungsproblemen geprägt. So lassen sich personelle "Neuzugänge" der Autonomenszene häufig nur noch für einen spontanen "Antinazikampf" oder für relativ unpolitische Szenekonzerte gewinnen. Dementsprechend war eine im März von Dessauer Autonomen ins Leben gerufene "Antifa-Offensive 2004", die in der Öffentlichkeit Interesse für die politische Arbeit der Szene wecken und für geeigneten Nachwuchs sorgen sollte, wenig erfolgreich. Die oben erläuterten "antideutschen" Positionen finden auch in autonomen Gruppierungen Sachsen-Anhalts Zuspruch. Insbesondere sind hier die Gruppierungen AFA Halle und "AG No tears for krauts" (Halle) zu nennen. Aktionsfelder der Autonomenszene in Sachsen-Anhalt "Antifaschismus" Der "Antifaschismuskampf" wird von den hiesigen Autonomen nach wie vor als Hauptaktionsfeld betrachtet. Staatliche Maßnahmen und Kampagnen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus werden dagegen abgelehnt und als Instrumentarien des Machterhaltes und -zuwachses diffamiert. Eine tätliche Auseinandersetzung zwischen rechtsextremistischen Jugendlichen und Personen der linksextremistischen Szene vom 1. November wurde unter anderem im Internet thematisiert. Die Veröffentlichung diente dabei vorrangig als Argumentation für die 61 LINKSEXTREMISMUS Notwendigkeit des "antifaschistischen Kampfes" und für eine Mobilisierung der lokalen Autonomenszene: "Von den Medien ist zu erwarten, dass sie wie üblich die Gewalt, die von den Neonazis ausging, herunterspielt, die Tatsachen verdreht oder der Übergriff auf einen Konflikt zweier 'extremer Gruppierungen' heruntergespielt wird. Es ist wohl leider zu erwarten, dass der organisierte rechte Terror mal wieder Tod geschwiegen wird anstatt ihn zu thematisieren und auf breiter Ebene anzugreifen. Nazis abschaffen! Diese Angriffe dürfen nicht länger unbeantwortet bleiben, sondern erfordern konsequente Gegenmaßnahmen. Die Nazistrukturen müssen offen gelegt und zerschlagen werden. Bekannte Nazitreffpunkte wurden viel zu lange in Ruhe gelassen. Lasst uns nicht warten bis wieder Menschen den Nazis zum Opfer fallen. Wenn hier irgendwer Schlussstriche zieht, dann sind wir das!" Bei der Umsetzung ihrer Vorstellungen suchten Autonome zumeist die Konfrontation mit dem politischen Gegner bei dessen Demonstrationen oder in einzelnen Auseinandersetzungen. So führte die rechtsextremistische "Initiative gegen das Vergessen" am 17. Januar in Magdeburg unter Beteiligung von etwa 200 Personen eine Gedenkveranstaltung unter dem Motto "Kein Vergeben - Kein Vergessen den alliierten Luftmördern" durch. Die linksextremistische Szene hatte ihre angemeldete Gegenveranstaltung kurzfristig abgesagt. Dennoch versuchten etwa 60 Linksextremisten aus Magdeburg, Wolmirstedt, Dessau und Haldensleben in kleinen Gruppen zum Westfriedhof zu gelangen, um die Gedenkveranstaltung der rechtsextremistischen Szene massiv zu stören. Dazu wurde verabredet, im gesamten Stadtgebiet systematisch nach "Rechten" zu suchen, um die unmittelbare Konfrontation herbeizuführen. Aufgrund der hohen Polizeipräsenz und der abermals 62 LINKSEXTREMISMUS geringen Beteiligung der linksextremistischen Szene scheiterte allerdings auch dieses Vorhaben. In Dessau fand am 20. April eine Kundgebung der linksextremistischen Szene unter dem Motto "Der Führer ist tot und das ist gut so" statt. An der friedlich verlaufenen Veranstaltung nahmen etwa 100 Personen teil. In einem auch im Internet veröffentlichten Flugblatt hatte die "Antifa Dessau" zu einer "Partykundgebung" aufgerufen: "Wir feiern, über die grenzenlose Blödheit und über die geistige Umnachtung der Neonazis in Dessau und der gesamten Bundesrepublik! Wie realitätsfremd und ohne jegliches Selbstbewusstsein muss man sein, um sich heute noch positiv auf Kriegsverbrecher, Massenmörder und Nazisadisten zu beziehen. Vaterland verraten! Deutschland stoppen! Party ist da, wo keine Heimat ist!" Am Abend des 21. Oktober entzündeten unter lautstarken "Nazis raus"-Rufen etwa 20 unbekannte, schwarz gekleidete und vermummte Personen mehrere Feuer vor einem Ladengeschäft der örtlichen "Black Metal"-Szene in Halle. Dabei wurde eine mit Nitrofarbe gefüllte Flasche durch die Verglasung der Eingangstür geworfen. Vor dem Geschäft hinterließen die Angreifer mehrere Flugblätter, auf denen die "Black Metal"-Szene als nationalsozialistisch eingestuft und die Schließung des "Naziladens" gefordert wurde. Hintergrund dieses Überfalls ist offenbar die Kampagne "Schöner leben ohne Naziläden", bei der es sich nach eigener Darstellung um eine "Initiative sächsischer Antifagruppen" handelt. Im Januar und Februar kam es in Dessau zu einer Serie von wechselseitig begangenen Übergriffen von Linksund Rechtsextremisten auf jeweils der gegnerischen Szene zugerechnete Jugendliche. Die linksextremistische Szene thematisierte die von Rechtsextremisten ausgegangenen Auseinandersetzungen im Internet sowie mit Demonstrationen am 26. Januar und 4. Februar. 63 LINKSEXTREMISMUS Von den in diesem Zusammenhang stehenden Gewalttaten durch Linksextremisten ist insbesondere ein Übergriff in den frühen Morgenstunden des 1. Februar hervorzuheben. Bei diesem lauerten neun Autonome einem Rechtsextremisten vor dessen Wohnhaus auf. Der Rechtsextremist, der zur Tatzeit mit Gesinnungsgenossen eine Party feierte, wurde beim kurzzeitigen Verlassen des Hauses zusammengeschlagen. Er und eine weitere Person wurden zudem mit Reizgas angegriffen. Weiteres Reizgas wurde durch die Fenster in den Partyraum gesprüht. Darüber hinaus ereigneten sich weitere unmittelbare Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der linksund der rechtsextremistischen Szene: - Am 13. April schlugen Angehörige der linksextremistischen Szene in Wegeleben (Landkreis Halberstadt) einen Rechtsextremisten und dessen Freundin mit einem Axtstiel zusammen. Danach hetzten die Täter ihre Hunde auf die bereits am Boden liegenden Opfer. - Am 23. März wurden in einer Magdeburger Buslinie zwei Jugendliche, die der rechtsextremistischen Szene zuzuordnen waren, von etwa fünf Personen des linksextremistischen Spektrums tätlich angegriffen. Einem der Rechtsextremisten wurde mit einem Flaschenhals eine Schnittverletzung zugefügt. - Am 17. April zerstörten in Wegeleben Jugendliche der linksextremistischen Szene mit einer Axt die Fensterscheiben der Wohnung eines Rechtsextremisten. Dabei riefen die Angreifer unter anderem "wenn du nicht verschwindest, machen wir dich fertig". Sechs Tatverdächtige wurden von der Polizei vorläufig festgenommen. - Am 9. Mai kam es in Wernigerode zwischen einer Gruppe von etwa 15 Jugendlichen, die der linksextremistischen Szene zuzuordnen waren, und fünf Rechtsextremisten zu einer tätlichen 64 LINKSEXTREMISMUS Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Linksextremisten mit Baseballschlägern zuschlugen. Die Polizei nahm fünf Tatverdächtige vorläufig fest. - Am 23. November überfielen im Schlosspark in Zerbst Autonome einen Jugendlichen. Zunächst riefen die fünf Täter diesem zu: "Ey, du Scheißnazi, du Faschodrecksau, wir machen dich kalt." Danach gingen sie zielgerichtet auf den Geschädigten zu, stellten sich im Kreis um ihn auf und schubsten ihn von einer Person zur anderen. Dem Opfer wurden dabei Brieftasche, Wohnungsschlüssel und Mobiltelefon entwendet. "Kampf gegen staatliche Repression" Das Themenfeld "Kampf gegen staatliche Repression" hatte in Sachsen-Anhalt nach der Inhaftierung von drei Magdeburger Autonomen wegen des Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung16 an Bedeutung gewonnen. In Szenezeitschriften wird zwar weiter darüber diskutiert, die Resonanz innerhalb der Szene ging im Berichtsjahr aber deutlich zurück. In der Szenepublikation "Angehörigen Info"17 erschien zum 18. März, dem so bezeichneten "Tag der politischen Gefangenen", ein Aufruf unter dem Titel: "Von Stammheim bis Guantanamo! - Krieg dem imperialistischen Krieg und der weltweiten Kriminalisierung!" Darin hieß es: "... Uns geht es bei unseren Aktionen zum 18. März immer auch darum, die anhaltende Repression gegen politischen Widerstand in der BRD anzugreifen. Noch immer sind 4 Gefangene aus der ehemaligen RAF teilweise seit über 16 Strafbar nach SS 129a Strafgesetzbuch (StGB). Im Dezember 2003 verurteilte das Oberlandesgericht Naumburg zwei der Angeklagten wegen Brandstiftung zu Haftstrafen von zwei und zweieinhalb Jahren ohne Bewährung. Der dritte Angeklagte wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung wies das Oberlandesgericht zurück. (Siehe auch Verfassungsschutzbericht 2003). 17 Nr. 281 vom 20. Januar 2004. 65 LINKSEXTREMISMUS 20 Jahren inhaftiert: Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar, Eva Haule und Birgit Hogefeld. Das 129a-Verfahren gegen linke Strukturen in Magdeburg zeigt, dass die Herrschenden nach wie vor solche Bewegungen kriminalisieren und zerschlagen wollen. Dieses Kalkül ist nicht aufgegangen, weil die drei Magdeburger Genossen Carsten, Daniel und Marco trotz längerer Inhaftierung ihre politische Identität verteidigten und die Solidaritätsbewegung sich nicht spalten ließ. Das wird auch weiterhin nötig sein." Der Publikation "Angehörigen Info"18 zufolge hatte am 3. März in Berlin eine Auftaktveranstaltung zum diesjährigen "Tag der politischen Gefangenen" unter Beteiligung von Mitgliedern der "Soligruppe Magdeburg/Quedlinburg" stattgefunden. Dabei sei es um einen "Rückund Ausblick zur Repression gegen Magdeburger Linke" gegangen. In diesem Zusammenhang wurde beklagt, dass das Thema nach einer starken Mobilisierung mit Beendigung des Prozesses Anfang Dezember "aus der linken Öffentlichkeit ziemlich verschwunden" sei. Die Veranstaltung habe verdeutlichen sollen, dass "eine erfolgreiche Repressionsarbeit, wie jede politische Arbeit, Kontinuität braucht." Den "Magdeburger GenossInnen" sei versprochen worden, dass bei einem eventuellen Revisionsverfahren eine noch stärkere Solidaritätsbewegung aufgebaut werden würde. "Antirassismus" Angehörige des autonomen Spektrums engagieren sich seit Jahren gegen vermeintliche rassistische Denkund Verhaltensmuster in Staat und Gesellschaft. Dabei werden insbesondere die deutsche Asylpolitik, die Abschiebepraxis sowie die Unterbringung von Asylbewerbern kritisiert. 18 Nr. 283 vom 16. März 2004. 66 LINKSEXTREMISMUS Bislang veranstaltete die entsprechende Szene im Rahmen der Kampagne "kein mensch ist illegal" so genannte "antirassistische Grenzcamps". Vor dem Hintergrund einer bereits in den vergangenen Jahren festgestellten Zersplitterung der Klientel bildete sich ein neues bundesweites Bündnis. Dieses zeichnete für die diesjährige "Anti-Lager-Tour" verantwortlich, in deren Verlauf vom 20. August bis 5. September eine Abfolge von Zeltcamps in vier bundesdeutschen Städten stattfand. Mit der Tour verfolgten die Veranstalter nach eigenem Bekunden vor allem die Ziele, die Öffentlichkeit auf "Skandal-Lager" im Rahmen der "staatlichen Abschiebepraxis" aufmerksam zu machen und die Bewohner der einzelnen Lager zu ermutigen, "selbstorganisierte Widerstandsstrukturen" aufzubauen. Zudem sollen "provokative Einzelaktionen" politischen Druck erzeugen, um auf diesem Weg eine Verbesserung der Situation der Flüchtlinge zu erreichen. Ein dazu veröffentlichter Aufruf endete mit den Losungen: "Unterstützen wir die Proteste der Flüchtlinge und fordern wir die Schließung aller Lager: Abschiebeknäste, Abschiebelager, Sammellager! Schluss mit Residenzpflicht - Gesetz und Abschiebungen! Jeder Mensch hat das Recht, dort zu leben, wo er will!" Am 26. August wurde in Halberstadt im Rahmen der "Anti-LagerTour" ein "Aktionstag für die Schließung des Abschiebelagers Halberstadt" veranstaltet. An einer nicht genehmigten Kundgebung vor der "Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber" (ZASt) nahmen etwa 130 Personen teil, darunter auch Linksextremisten aus mehreren Regionen Sachsen-Anhalts sowie etwa 40 Bewohner der ZASt. 67 LINKSEXTREMISMUS Proteste gegen "Sozialabbau" Die Reformen im Bereich der Sozialpolitik lösten unterschiedliche Reaktionen aus. Im Zusammenhang mit dem Thema "Sozialabbau" wurden bundesweit zahlreiche Protestaktionen und Demonstrationen durchgeführt. Weiterhin war im Jahr 2004 eine deutliche Steigerung themenbezogener Straftaten im Zusammenhang mit "Hartz IV" festzustellen. Auch Autonome haben sich an den Protesten beteiligt. Dabei vertraten sie die Ansicht, dass das Problem des Sozialabbaus nur mit einer "Umwälzung des gesamten Gesellschaftssystems" zu lösen sei. Für eine öffentlichkeitswirksame Kampagne fehlte der Autonomenszene aber das Potenzial, zumal sich bisher nur Teile von ihr durch das Thema Sozialabbau angesprochen fühlen. Seit Mitte Juli fanden bundesweit so genannte Montagsdemonstrationen gegen die Sozialreform statt, an denen sich auch Linksund Rechtsextremisten aus Sachsen-Anhalt beteiligen. In diesem Zusammenhang beklagten Autonome zum Einen, dass ihre eigenen, weiter reichenden revolutionären Forderungen bei den Protesten nicht wahrgenommen wurden und zum Anderen Rechtsextremisten relativ ungehindert mit ihren Transparenten und Parolen im Demonstrationszug mitmarschieren und sich teilweise sogar an dessen Spitze setzen konnten. In einem Appell der "Autonomen Antifa Magdeburg" vom 24. August hieß es dazu: "Seit nun vier Wochen nehmen zahlreiche Neonazis, insbesondere die Kameradschaft Magdeburg, an den so genannten Montagsdemonstrationen in Magdeburg teil. Bei der letzten Demonstration stellten sich ihnen nun zahlreiche AntifaschistInnen in den Weg und blockierten so teilweise ihre Teilnahme an der Demonstration. Über Flugblätter und ... Megafon wurde auf die Aktion aufmerksam gemacht und zum Teil "solidarisierten" sich demonstrierende BürgerInnen. Doch schließlich versperrten Einsatzkräfte der Polizei den anwesenden Antifas den Weg und schleusten die Neo68 LINKSEXTREMISMUS nazis nach Absprache mit ihnen durch Seitenstrassen dennoch in den vorderen Teil der Demonstration! Die Antifas versuchten daraufhin erneut zu den Neonazis vorzudringen, was jedoch in einem Kessel der Polizei endete ... Nur durch den Polizeieinsatz konnte die Teilnahme der Neonazis an der Demonstration gewährleistet werden, während AntifaschistInnen durch Staatsbüttel blockiert und zeitweise ausgeschlossen wurden. Eben deshalb ist es mehr als notwendig bei der nächsten "Montagsdemo" an unsere Erfolge (Anfangsblockade der Neonazis und Vermittlung dessen an die übrigen DemonstrationsteilnehmerInnen) anzuknüpfen und diese auszuschlieszen." Die Gruppierung "Antifaschistischer Arbeitskreis Halle" (AFA) nahm in einem im Internet veröffentlichten Artikel Stellung zu den "AntiHartz-Protesten und ihren rechten Sympathisanten". Die Autoren kritisierten, dass Arbeit in Deutschland nicht als notwendiges Übel begriffen, sondern als Sinn des Lebens gesehen werde. Die Demonstranten würden schließlich weder das Recht auf Genuss, Müßiggang und Faulheit noch die Wahrung oder Verbesserung ihres Lebensstandards fordern, sondern eben Arbeit. Der Protest der Demonstranten werde damit von einem ähnlichen Motiv getragen wie das Handeln der Hartz-Befürworter: Der Abneigung gegen Untätigsein, "Drückeberger" und "Schmarotzer". Darin würden "Neonazis" ihre eigenen Gedanken wiedererkennen: Die Verherrlichung produktiver Arbeit und den damit verbundenen Hass auf Unproduktivität und Müßiggang als eines der vermeintlich zentralen Ideologiestücke des Nationalsozialismus. Der derzeitige "Arbeitsplatzmangel" werde nicht als Ausdruck der Krise der Gesellschaft erkannt, sondern vor allem auf persönliche Unfähigkeit, Verantwortungslosigkeit oder Bösartigkeit einer bestimmten Menschengruppe zurückgeführt. Höhepunkt der bundesweiten Aktivitäten "gegen Sozialabbau" unter linksextremistischem Einfluss war eine Demonstration am 6. November in Nürnberg (Bayern). Dort zogen Demonstranten unter 69 LINKSEXTREMISMUS dem Motto "Gegen Sozialraub, Agenda 2010 und Hartz IV! Eine andere Welt ist möglich und nötig!" zur Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit. Das "Nürnberger Sozialforum" und die "Organisierte Autonomie Nürnberg" (OA), ein Zusammenschluss verschiedener autonomer Gruppen, hatten bundesweit dazu mobilisiert. Insgesamt beteiligten sich etwa 7.000 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet. Der "antikapitalistische Block", der den Demonstrationszug anführte, umfasste über 1.000 Personen, darunter etwa 400 gewaltbereite Demonstranten. Kurz vor Erreichen der Bundesagentur für Arbeit nahm ein Teil des antikapitalistischen Blocks nach Abdrängen der Polizeikräfte Steine aus dem dort befindlichen Gleisbett auf. Das Werfen der Steine wurde durch massives Einschreiten der Polizeikräfte allerdings verhindert. Militanzdebatte innerhalb der linksextremistischen Szene Die szeneinterne Diskussion um "Militanz und bewaffnete Politik", ist der Einschätzung der Szenezeitschrift "Interim"19 zufolge in eine "neue Runde" gegangen. Den Auftakt bildete eine Ende August offenbar aus dem engsten Umfeld der "militanten gruppe" (mg) veröffentlichte Broschüre "militanzdebatte - dokumentation einer diskussion 2001 - 2004". Diese enthält zum überwiegenden Teil bereits bekannte Beiträge, darüber hinaus aber auch einen neuen, auf Juli 2004 datierten Text der mg. Darin ziehen die Autoren unter dem Titel "der aufbau einer militanten plattform - versuch einer zwischenbilanz" ein verhalten positives Resümee des zurückliegenden Diskussionsund Organisationsprozesses: "Wir sehen es bereits jetzt als Erfolg an, daß sich seit etwa drei Jahren dieser Diskussionsprozeß aufrechterhalten läßt. Es ist vor dem Hintergrund unserer allgemeinpolitischen Bedeutungslosigkeit als revolutionäre Linke und der internen Zerrissenheit in vielen Fragen von antagonistischer Politik nicht selbstverständlich, daß sich in diesem dreijährigen Plattformprozeß beinahe ein Dutzend militanter Zusam19 Nr. 601 vom 16. September 2004. 70 LINKSEXTREMISMUS menhänge inhaltlich und zum Teil praktisch eingebracht haben." Aktuelle Beiträge zur Militanzdebatte Neue Impulse setzten als "Friends of Interim"20 auftretende Autoren. Nüchtern konstatierten sie: "Die Militanzdebatte steckt in einer Sackgasse". Deshalb wolle man, ohne originär eigenständige Positionen zu formulieren, moderierend eingreifen und Lösungswege aufzeigen. Aus Sicht der Autoren krankt die Militanzdebatte vor allem an den Beziehungen zwischen den hieran beteiligten Gruppen. Ursachen seien zum einen verschärfte äußere Rahmenbedingungen für diejenigen, die sich "zur Aktion entschließen", da sie verstärkt im "Visier der Bullen" stünden. Zum anderen machen die Autoren inhaltliche Differenzen im Verständnis von "organisierter Militanz" aus: "Den reformistischen, pragmatischen Gebrauch von Militanz, bei dem es um ein ganz konkretes Anliegen geht ... und bei dem Militanz letztlich nichts anderes als eine spezifische Form des Flugblattverteilens, Blockierens etc. ist. Der revolutionäre Ansatz meint Militanz aber als Angriff auf das große ganze." Die auf "die große revolutionäre Linie" fixierte bisherige Militanzdebatte grenze jedoch viele Akteure aus. Diese würden es bevorzugen, ihre militanten Projekte auf pragmatische Weise "mit kleinen Nadelstichen" anzugehen. Die Autoren plädieren daher dafür, anstelle des "Mythos Guerilla" stärker auf die "sozialen Prozesse im militanten Kontext" einzugehen und die Debatte offen genug zu gestalten, damit möglichst viele Gruppen "mitkommen". Dieser nachdrückliche Hinweis auf das auf längere Sicht dominierende Thema Arbeit/Soziales als Anknüpfungspunkt für militante 20 "Interim", Nr. 600 vom 2. September 2004; Beitrag "Statt eines Vorworts". 71 LINKSEXTREMISMUS Projekte dürfte für die zukünftige Entwicklung der Militanzdebatte von Bedeutung sein. In Anlehnung an den oben genannten Beitrag wurden im Herbst in der "Interim" zahlreiche weitere Artikel veröffentlicht. Nach knapp fünfjähriger Pause erschien Anfang April eine neue Ausgabe (Nr. 157) der konspirativ hergestellten und verbreiteten Untergrundzeitung "radikal"21. Die 60 Seiten starke Ausgabe mit dem Titel "Mundorgel für Militante - Ein Praxisheft mit Tipps und Tricks" beinhaltete zum größten Teil Anleitungen und Hinweise zur Herstellung von Brandsätzen und elektronischen Zeitzündern. In einer fünfseitigen Einleitung stellte sich die Redaktion der Publikation mit dem Namen "radi-crew" vor. Sie versuchte, die lange Veröffentlichungspause zu begründen und die politische Lage innerhalb der linken Szene zu analysieren. Sinn und Zweck der neuen Ausgabe sei der Versuch, "aktuell auf Fragen und Probleme zu reagieren, die sich in letzter Zeit bei militanten Aktionen ergeben haben", man könne aber "keine politische Orientierung anbieten". Militanz, so bekräftigen die Autoren, sei grundsätzlich ein legitimes Mittel der politischen Aktion. Durch eigene militante Praxis entstehe eine subjektive Nähe zu anderen, unbekannten Militanten. Dies müsse zum Ausgangspunkt für politische Verknüpfungen gemacht werden. So habe sich in der über die "Interim" geführten Militanzdebatte eine Diskussion über verallgemeinerbare Probleme militanter Politik entwickelt: 21 Die "radikal" erschien erstmals in Juni 1976 als Berliner Szeneblatt, bis Juni 1980 im 14-täglichen Rhythmus, anschließend nur noch monatlich. Nach strafprozessualen Maßnahmen gegen die Redaktion im Jahr 1984 erschien die Ausgabe Nr. 128 im September 1984 erstmals konspirativ. Seither erfolgten Herstellung und Vertrieb verdeckt. In den Jahren 1993 bis 1996 wurde ein erneutes Ermittlungsverfahren durchgeführt. Nach umfangreichen Exekutivmaßnahmen am 13. Juni 1995 gegen die Hersteller und Verbreiter der Zeitung erschienen noch eine Zusatzausgabe und vier weitere Ausgaben, letztmalig im Juni 1999 die Nr. 156. 72 LINKSEXTREMISMUS "Wir stellen uns mit dieser Ausgabe bewusst in einen solchen Kontext. Auch wenn wir anderen 'nur' technisches Wissen zur Verfügung stellen, erhoffen wir uns dennoch Anregungen in Inhalt und Form und eine weitergehende politische Diskussion." Ein neues Element in der Miltanzdebatte stellt die von der mg eingeforderte dezidierte "Geschichtsaufarbeitung" dar. Das autonome Szeneblatt "Interim"22 veröffentlichte dazu Abschnitte eines von der mg als Serie konzipierten umfangreichen Textes zum Thema "Bewaffneter Kampf - Aufstand - Revolution", mit dem "verschiedene ProtagonistInnen revolutionärer Theorie und Praxis" vorgestellt und deren "Ansätze sowie Konzeptionen von bewaffneter Aufstandspolitik" illustriert werden sollen. Ziel sei es dabei nicht, eine "ausformulierte Programmatik" zu erarbeiten, sondern eine "vorwärtsgerichtete und aktivierende Geschichtsschreibung des facettenreichen revolutionären Kampfes in seinen verschiedenen Epochen" zu betreiben. Das Material solle, so die Vorstellung der mg, der Reorganisierung des militanten und potenziell bewaffneten Widerstandes in Deutschland dienen. Allein angesichts der Fülle des Materials scheint jedoch sehr zweifelhaft, dass sich die Adressaten dieser Ausarbeitung - die gewaltbereite Linke - mehr als nur am Rande auf diese Thematik einlassen werden. Linksextremistische Einflussnahme auf die Anti-Atomkraftbewegung An den Protestaktionen unmittelbar vor und während des CastorTransportes von der Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) in La Hague (Frankreich) in das Zwischenlager in Gorleben (Niedersachsen) vom 6. bis 9. November nahmen bundesweit bis zu 5.000 Personen teil. 22 Ausgaben Nr. 600 vom 2. September 2004, Nr. 601 vom 16. September 2004 und Nr. 603 vom 14. Oktober 2004. 73 LINKSEXTREMISMUS Die Beteiligung von etwa 250 Personen aus linksextremistischen und linksextremistisch beeinflussten Gruppierungen hat - wie erwartet - den Transportverlauf nicht wesentlich beeinträchtigt. Sie beschränkte sich auf die bloße Teilnahme an den Aktionen rund um Gorleben und auf Störversuche entlang der Transportstrecke. Die entstandenen Zeitverzögerungen wurden jedoch weitgehend durch den Widerstand von nichtextremistischen Anti-Atom-Aktivisten verursacht. Die Präsenz Autonomer entsprach mit einer Größenordnung von etwa 100 Personen ungefähr dem Niveau des Vorjahres. Von diesem Personenkreis ausgehende Gewalttaten wurden im Transportzeitraum nicht bekannt. Ihr kaum wahrnehmbares Auftreten stand dabei in deutlicher Diskrepanz zu den insbesondere im nahen Vorfeld veröffentlichten Absichtserklärungen, einschließlich der Aufrufe zu militanten Aktionen. Sämtliche Aktivitäten im Zusammenhang mit dem genannten Castor-Transport waren allerdings überschattet vom Tod eines französischen Atomkraftgegners, der sich am 7. November in Avricourt (Lothringen, Frankreich) an Eisenbahngleise gekettet hatte und tödlich verletzt worden war. Am Abend desselben Tages nahmen bundesweit etwa 1.000 vorwiegend dem linksextremistischen Bereich zuzurechnende Personen in zahlreichen Städten des Bundesgebietes an Mahnwachen und Solidaritätskundgebungen teil. Die Teilnehmer einer Spontandemonstration am 7. November in Magdeburg zeigten ein Transparent mit der Parole "Kapitalismus tötet. Weg mit dem Atomstaat!". In zahlreichen Beiträgen der linken Informationsplattform "indymedia" wurde der Polizei von offensichtlich linksextremistischen Atomkraftgegnern undifferenziert eine Mitverantwortung für den Unglücksfall zugewiesen. Dort verbreitete Parolen lauteten beispielsweise: 74 LINKSEXTREMISMUS "Bullen und Atomlobby angreifen", "Polizei ist schuldig", "Widerstand ist, wenn man dem Gegner (Staat, Bullen, Atomlobby, Wirtschaft) Schaden zufügt" oder "Wut und Trauer zu Widerstand. Nimm den Stein in Deine Hand!" Strafund Gewalttaten23 Die Anzahl politisch motivierter Straftaten im Bereich Linksextremismus stieg im Berichtsjahr leicht an. Entsprechende Gewalttaten nahmen demgegenüber um ein Drittel ab. LINKSEXTREMISTISCHE PARTEIEN UND VEREINIGUNGEN Das Potenzial der linksextremistischen Parteien und Vereinigungen umfasst bundesweit etwa 30.000 Personen. Aus diesem Spektrum sind in Sachsen-Anhalt die "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD-Ost), die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP), die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) und die "Freie Arbeiterinnen und Arbeiter-Union - Internationale Arbeiter Assoziation" (FAU-IAA) von gewisser Bedeutung. Im Berichtszeitraum gelang es insbesondere MLPD und FAU-IAA, Mitgliederzuwächse zu erzielen und durch öffentlichkeitswirksame Aktivitäten auf sich aufmerksam zu machen. Ziel marxistisch-leninistischer Parteien wie DKP, KPD-Ost und MLPD ist der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, die schließlich in eine klassenlose Gesellschaft münden soll. Anarchistische Vereinigungen wie die FAU-IAA propagieren eine "freiheitliche Gesellschaft ohne Herrschaft und Gewalt von Menschen über Menschen". Dabei wird auch der Parlamentarismus strikt abgelehnt. Im Berichtszeitraum standen insbesondere die Beteiligung an Veranstaltungen gegen den Irakkrieg und die Sozialreformen der Bundesregierung sowie die Kommunalund die Europawahlen im Mit23 Genauere Angaben können der auf Seite 137f dieses Berichtes auszugsweise wiedergegebenen Statistik des Landeskriminalamtes entnommen werden. 75 LINKSEXTREMISMUS telpunkt der Aktivitäten dieser Gruppen. "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD-Ost) Die KPD-Ost besteht in Sachsen-Anhalt seit Mai 1994 und wird durch einen Landesverband mit Sitz in Zeitz und drei Regionalorganisationen in Zeitz, Magdeburg und Halle/Bernburg vertreten. In einem Extrablatt der Parteizeitung "Die Rote Fahne" vom 3. Juli legte das Zentralorgan der KPD-Ost den Standpunkt der Partei "Zur Verschlechterung der sozialen Lage und zur verschärften Ausbeutung in Deutschland" dar und setzte sich intensiv mit der für Januar 2005 beschlossenen Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe auseinander. In einer Art Schlussfolgerung hieß es dabei: "Die kapitalistische Wirtschaftsweise erweist sich als rückschrittlich und historisch überlebt. Die modernen Produktivkräfte werden von kapitalistischen Privateigentümern angewendet, denen menschliche Interessen fremd sind ... Die menschliche Arbeitskraft ist bekanntlich unter kapitalistischen Verhältnissen eine Ware wie jede andere auch. Es wird Zeit, dass die Menschen endlich die Produktionsverhältnisse beherrschen, statt von ihnen beherrscht zu werden." "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) In Sachsen-Anhalt verfügt die DKP über keine eigene Bezirksorganisation, sondern lediglich über einen so genannten "Koordinierungsrat". DKP-Gruppen existieren für die Bereiche Magdeburg, Halle-Merseburg und Dessau-Wittenberg. Bundesweit war die Parteiarbeit geprägt von der Debatte um ein neues Parteiprogramm und dessen Umsetzung. 76 LINKSEXTREMISMUS Im November wechselte eine Abgeordnete des Kreistages Wittenberg von der PDS zur DKP. Die örtliche DKP-Gruppe bewertete diesen Schritt als eine Identifizierung der betreffenden Person mit den Idealen des Sozialismus. "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Schwerpunkte der Betätigung der MLPD in Sachsen-Anhalt sind die Städte Magdeburg, Halle, Merseburg, Wolfen und Weißenfels. Der MLPD-Jugendverband "Rebell" und die MLPD-Kinderorganisation "Rotfüchse" sind ebenfalls in Sachsen-Anhalt vertreten. Im März hat in Magdeburg der VII. Parteitag der MLPD stattgefunden. Die eigene finanzielle Situation wurde dabei als zufriedenstellend eingeschätzt. Nach parteiinternen Angaben war bis Anfang November ein Mitgliederwachstum von etwa sieben Prozent zu verzeichnen, wobei sich "dieser Trend derzeit sogar noch beschleunigt" fortsetzen soll. Zu einer Schwerpunktaufgabe wurde die weitere Verbreitung der Lehre des Marxismus-Leninismus und des "echten Sozialismus" erklärt. MLPD-Mitglieder beteiligten sich in verhältnismäßig großer Zahl an den Montagsdemonstrationen zur Arbeitsmarktund Sozialpolitik. Auf der Homepage der "Roten Fahne" wurden im Berichtsjahr Diskussionsforen unter anderem zu dem Thema "Aktiver Widerstand gegen Agenda 2010, Arbeitsplatzvernichtung und Lohnraub" eingerichtet. Einem Beschluss des Zentralkomitees folgend wird sich die MLPD an den Landtagswahlen 2006 in Sachsen-Anhalt beteiligen. Zur Umsetzung dieses Beschlusses bildeten die jeweiligen Ortsgruppen in Magdeburg, Halle, Wolfen, Weißenfels und Dessau eine "Wählerinitiative der MLPD/Offene Liste zur Landtagswahl 2006 in Sachsen-Anhalt". 77 LINKSEXTREMISMUS "Kommunistische Plattform der PDS" (KPF) Die am 30. Dezember 1989 gegründete KPF der PDS ist innerhalb der Partei die Gruppierung, die sich nachhaltig zum Kommunismus bekennt. Sie strebt eine Diktatur des Proletariats an, die sie mit dem Ziel der klassenlosen Gesellschaft auf Grundlage der Lehren des wissenschaftlichen Kommunismus erreichen will. Die KPF Sachsen-Anhalt ist auf Bundesebene im Bundeskoordinierungsund im Sprecherrat der KPF vertreten. "Freie Arbeiterinnenund Arbeiter Union - Internationale Arbeiter Assoziation" (FAU-IAA) Erklärtes Ziel der FAU-IAA ist der Aufbau einer herrschaftslosen, ausbeutungsfreien und auf Selbstverwaltung begründeten Gesellschaft. Zur Durchsetzung ihrer Ziele und Forderungen bedient sie sich unter anderem der Mittel der so genannten "direkten Aktion". Diese schließen Besetzungen, Boykotts und Streiks ein. Die FAUIAA lehnt parlamentarische Tätigkeit in jeglicher Form ab. In einer Extraausgabe ihrer Zeitung "Direkte Aktion" nahm die Organisation Bezug auf die Festlegungen zu "Hartz IV" und die damit verbundene Einführung des Arbeitslosengeldes II. Zu den so genannten Montagsdemonstrationen in den neuen Bundesländern hieß es: "Ebenso wenig, wie man die Montagsdemos als Auftakt für eine emanzipatorische Massenbewegung betrachten kann, sollte man die Proteste als 'völkisch' abtun. Wichtig für uns wird in Zukunft sein, durch die Schaffung von funktionierenden Selbsthilfestrukturen den Menschen, die durch die Proteste nachhaltiger politisiert wurden, Alternativen zu den weitgehend wirkungslosen Demonstrationen zu bieten." Die in Magdeburg und Halle ansässigen Ortsgruppen organisierten verschiedene themenbezogene Vortragsveranstaltungen. Außer78 LINKSEXTREMISMUS dem wurden in der Stadt Magdeburg Plakate angebracht, die sich gegen die Agenda 2010 und den Einsatz von Personal-ServiceAgenturen richten. "RotFuchs-Förderverein e. V." Der "RotFuchs-Förderverein e. V." wurde am 27. Juli 2001 in Berlin gegründet. Seine Tätigkeit zielt darauf ab, auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus Analysen über aktuelle und historische Ereignisse vorzunehmen und zu verbreiten. Gleichzeitig fühlt sich der Verein dem Antifaschismus verpflichtet und bekämpft eigenen Aussagen zufolge rassistische Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. Dem in Regionalgruppen strukturierten Verein sollen etwa 700 Mitglieder angehören. Bereits seit September 2002 existiert eine Regionalgruppe in Halle, die im Berichtszeitraum Diskussionsrunden zu den Themen "Revolutionäres Erbe der DDR" und "Gibt es Sozialismus im Kapitalismus" und eine Bildungsveranstaltung unter dem Motto "Marx statt Hartz!" organisierte. Am 29. Januar führten Mitglieder und Sympathisanten des "RotFuchs-Fördervereins" in Magdeburg ein erstes gemeinsames Treffen durch. Die Teilnehmer kamen aus dem Umkreis von Magdeburg, aus dem Harz und aus Braunschweig (Niedersachsen). Sechs Personen erklärten ihre Bereitschaft zur Aufnahme in den Förderverein. Beim Treffen wurde auch die Gründung der Regionalgruppe Magdeburg vollzogen. 79 LINKSEXTREMISMUS Linksextremistische Einflussnahme auf Demonstrationen gegen die Sozialreformen Der Themenkomplex "Sozialabbau" gehörte zu den wichtigsten Aktionsfeldern der marxistisch-leninistischen Parteien und Organisationen im Land. Die Printmedien von DKP, KPD-Ost, MLPD und KPF stellten die Ablehnung der Sozialund Arbeitsmarktreformen in den Vordergrund ihrer Beiträge. Am 2. und 3. Oktober fanden in Berlin zwei unabhängig voneinander organisierte Demonstrationen gegen die Reformen statt: Am 2. Oktober beteiligten sich rund 45.000 Personen an der Demonstration unter dem Motto "Soziale Gerechtigkeit statt Hartz IV - Wir haben Alternativen!", die von einem "Aktionsbündnis Weg mit Hartz IV"24 organisiert worden war. Am 3. Oktober nahmen etwa 4.000 Personen an dem maßgeblich von der MLPD organisierten "Sternmarsch nach Berlin"25 teil, der unter dem Motto "Weg mit Hartz IV - Das Volk sind WIR!" stand. Die getrennt voneinander organisierten und durchgeführten Demonstrationen unterstreichen die von gegenseitigen Vorwürfen geprägten Spaltungsprozesse innerhalb der "Bewegung der Montagsmarschierer". Ähnliche Tendenzen waren auch in Bezug auf die Montagsdemonstrationen in Sachsen-Anhalt festzustellen. Hier beschloss die MLPD letztlich, eigenständige Veranstaltungen durchzuführen, um sich so von PDS und Gewerkschaften zu distanzieren. Schwerpunkte waren dabei Demonstrationen in Halle, Dessau, Wolfen, Merseburg und Bitterfeld. 24 Dem Aktionsbündnis "Weg mit Hartz IV" gehören unter anderen Vertreter der DKP und verschiedener trotzkistischer Gruppierungen - insbesondere der Gruppe "Linksruck" - an. 25 Im Internet kursieren hingegen Zahlen von bis zu 10.000 Demonstranten. 80 LINKSEXTREMISMUS Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt am 13. Juni KPD Im Burgenlandkreis wurden für den Stadtrat Zeitz sechs und für den Kreistag des Burgenlandkreises drei Bewerber aufgestellt. Die KPD-Regionalorganisation Zeitz erreichte bei der Kommunalwahl 505 Stimmen (1,9 Prozent) und erhielt damit ein Stadtratsmandat. Auf ihren Internetseiten gab die KPD bekannt, dass die Landesorganisation im Rahmen des Wahlkampfes vier Informationsstände organisierte und 86 Wahlplakate klebte. Des Weiteren seien 4.600 Flugblätter verteilt worden, um die KPD und ihre Politik bekannt zu machen. DKP Zur Kommunalwahl trat die Partei mangels eigener Kandidaten nicht an. MLPD Der MLPD-Kreisverband Wolfen26 beteiligte sich unter dem Motto "Für Arbeit und eine Zukunft der Jugend! Neue Politiker braucht das Land! Wählt die Partei des echten Sozialismus - MLPD" mit vier Kandidaten an der Stadtratswahl in Wolfen und mit fünf Kandidaten an der Kreistagswahl in Bitterfeld. In diesem Zusammenhang veranstalteten MLPD, "Rebell" und die "Wählerinitiative Wolfen" am 2. Juni einen Straßenumzug und betrieben einen Aktionsstand. Am 29. Mai und 12. Juni wurde jeweils ein "Sportund Spielfest für Kinder und Jugendliche" durchgeführt. Die MLPD ist mit einem Sitz im Stadtrat von Wolfen vertreten. Sie erreichte 1,77 Prozent der Stimmen. 26 Bericht in der MLPD-Wochenzeitung "Rote Fahne", Nr. 16 vom 15. April 2004. 81 LINKSEXTREMISMUS FAU-IAA Die FAU-IAA-Ortsgruppe Magdeburg lud am Wahltag ab 16 Uhr zur "NichtwählerInnen-Wahlsieg-Party" auf einer Wiese in der Innenstadt mit "Mucke, Essen, Kulturprogramm, Infos, netten Menschen" ein. In einem dazu veröffentlichten Aufruf hieß es dazu: "Wahlen haben die Aufgabe uns vorzugaukeln, wir würden selbst mitentscheiden können. Letztlich dienen sie aber nur dazu, dem herrschenden System die nötige Legitimation zu geben. Deshalb boykottieren wir die Wahlen und machen unsere Stimme ungültig. Dies ist die einzige Möglichkeit damit die Parteien nicht auch noch das Geld für jede Stimme, abgegeben oder nicht, abziehen können." Wahlen zum Europaparlament Auf Beschluss der Bundesmitgliederversammlung vom 10. und 11. Januar in Berlin beteiligte sich die DKP mit einer 34 Personen umfassenden Bundesliste27 erstmalig an den Wahlen zum Europaparlament am 13. Juni. Die Partei hatte ihren Wahlkampf unter das Motto "Ein anderes Europa ist möglich!" gestellt und sich gegen ein "Europa des Sozialabbaus" und gegen die angebliche "Militarisierung" der EU gewandt. Sie erreichte mit 37.231 Stimmen einen Wähleranteil von 0,1 Prozent. Am 21. Mai fand in Halle eine Wahlkampfveranstaltung der DKPGruppe Halle-Merseburg unter dem Motto "Militarisierung und Innere Sicherheit" statt. Nina HAGER, stellvertretende DKP-Parteivorsitzende, legte die Positionen der DKP zur Innen-, Sicherheitsund Militärpolitik dar. Sie kritisierte insbesondere die Bemühungen der Europäischen Staaten zur ständigen Aufrüstung. 27 Mitglieder aus Sachsen-Anhalt waren nicht vertreten. 82 LINKSEXTREMISMUS Die MLPD beteiligte sich nach eigenen Aussagen nicht an den Europawahlen, "weil sie zum einen diesen Wahlen keine so große Bedeutung beimisst. Vor allem aber, um sich darauf zu konzentrieren, die MLPD als revolutionäre Arbeiterpartei zu stärken, die für den Weg zur Arbeiteroffensive, für die internationale Kampfeinheit der Arbeiter und für die gesellschaftliche Alternative des echten Sozialismus steht". Sie rief ihre Wähler auf: "Aktiver Wahlboykott der Europawahlen - Stimmt ungültig! Stärkt die MLPD!" Die KPD rief im Vorfeld der Wahlen ebenfalls dazu auf, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ungültig zu stimmen, da weder SPD, CDU/CSU, FDP und Grüne noch PDS und DKP wählbar seien. 83 AUSLÄNDEREXTREMISMUS IV. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE UND EXTREMISTSCHE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN Allgemeines Zahlreiche Terroranschläge verdeutlichen nach wie vor die hohe Gefährdung der inneren Sicherheit durch den internationalen islamistischen Terrorismus. Dabei waren nicht nur der Irak und andere Regionen des Nahen und Mittleren Osten unmittelbar betroffen, sondern durch die Anschläge am 11. März in Madrid auch Europa. Ein weiteres derart tragisches Ereignis war die Geiselnahme in Beslan (Russische Föderation/Nordossetien), bei der durch Handlungen von Terroristen auch viele Kinder starben. Die Ursachen für die Entwicklung sowie die Motivation der einzelnen Organisationen im Bereich Ausländerextremismus sind vielschichtig. Die größte Gefahr geht hierbei von Angehörigen des weltweit agierenden Netzwerkes der "Arabischen Mujahedin" 28 und von anderen Islamisten aus. Islamismus darf dabei jedoch nicht gleichgesetzt werden mit dem Islam. Im Gegensatz zur Religion des Islam stellt der Islamismus eine politische Ideologie dar, die mit dem Ziel verbunden ist, ein als islamisch deklariertes Herrschaftssystem zu errichten. Islamismus ist somit eine Instrumentalisierung des Islam für politische, aber auch wirtschaftliche Interessen. Als Basis ihrer Ideologie nutzen Islamisten die bei der Mehrheit der gläubigen Muslime vorhandene Auffassung, dass der Islam, also die im Koran offenbarte Heilige Schrift, das Maß ihres gesamten individuellen und gesellschaftlichen Handelns sein muss. Nach Ansicht der Islamisten sei mit der Scharia29 eine alle Lebensbereiche regelnde göttliche Ordnung vorgegeben, die es überall zu verwirklichen gelte. Dies bedeute, dass jegliche Staatsgewalt ausschließlich von Gott und seinem im Koran 28 Mujahedin bedeutet "Glaubenskämpfer". 29 Islamisches Rechtssystem, das auf den im Koran, in der Sunna (Praxis der muslimischen Urgemeinde) und den Hadithen (Taten und Aussprüche des Propheten Mohammed) enthaltenen Bestimmungen beruht. 84 AUSLÄNDEREXTREMISMUS offenbarten Willen abgeleitet werde, jedoch nicht von den Vorstellungen des Volkes. Zur Legitimation ziehen Islamisten entsprechende Koraninterpretationen heran oder auch aus dem Kontext gelöste Teile von Koran und Sunna, die durchweg interpretationsfähig sind, und sichern sich somit "göttliche" Unfehlbarkeit, die keine Kritik und vor allem keine rationale Auseinandersetzung zulässt. Da demokratische Grundprinzipien wie zum Beispiel die Volkssouveränität, das Mehrparteiensystem oder das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition mit diesem Absolutheitsanspruch unvereinbar sind, werden sie von Islamisten abgelehnt. Der Islamismus ist keine einheitliche Ideologie. Innerhalb der islamistischen Bewegungen sind Lehrmeinungen und Methoden breit gefächert, da unterschiedliche Einzelpersonen, Organisationen und Parteien mit ihren differierenden Auffassungen den Islamismus bestimmen. Ebenso beeinflussen divergierende historische und gesellschaftliche Bedingungen der Herkunftsländer die islamistischen Vorstellungen. Der Islamismus wendet sich gegen die kulturelle und wirtschaftliche Dominanz des Westens und gegen die mit dem Westen verbündeten Regime in der islamischen Welt. Die meisten dieser Staaten basieren auf dem Prinzip des Säkularismus, das heißt der Trennung von Religion und Politik. Ziel der Islamisten ist die Beseitigung dieser zumeist autokratischen Herrschaftssysteme und die Errichtung eines islamischen Staates. Nur eine absolute Minderheit der Muslime in Deutschland hat sich in islamistischen Organisationen zusammengeschlossen. Islamisten bilden hier wie in ihren Heimatländern nur einen kleinen, oft jedoch einflussreichen Teil der Muslime. Islamisten sind unterschiedlich organisiert. Die Organisationsformen reichen von politischen Parteien30 und revolutionären Bewegungen mit internationaler Verzweigung31 über Gruppen mit natio30 Zum Beispiel in Marokko. 31 Zum Beispiel die "Muslimbruderschaft". 85 AUSLÄNDEREXTREMISMUS naler terroristischer Ausrichtung32 bis hin zu transnationalen terroristischen Netzwerken wie dem der "Al-Qaida". Die islamistischen Gruppierungen stehen fast immer in Opposition zum jeweiligen politischen System in den Heimatländern. Erhebliche Unterschiede bestehen in der Frage des Einsatzes von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele. Während einige islamistische Gruppierungen jegliche Gewaltanwendung ablehnen, wird diese von anderen bis hin zur Form des Terrorismus akzeptiert. Unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen entsprechend dem gesetzlichen Auftrag ausschließlich politische Organisationen, deren Ideologie und Aktivitäten die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Im besonderen Blickfeld stehen demzufolge nicht die Anhänger des Islam als Gläubige, sondern solche Gruppierungen, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung wenden, zum Beispiel indem sie über religiöse Schriften eine politische Doktrin entwerfen, die sich nicht mit den im Grundgesetz festgelegten Rechten vereinbaren lässt oder nicht mit dem Gedanken der Völkerverständigung in Einklang zu bringen ist. Dementsprechend umfasst das zu beobachtende Spektrum ausländischer extremistischer Organisationen neben islamistischen auch linksextremistische und extrem-nationalistische Ausrichtungen. Den islamistisch ausgerichteten Organisationen gilt dabei aufgrund der von ihnen ausgehenden latenten Gefahr das besondere Augenmerk. Von den über 60 ausländischen Organisationen in der Bundesrepublik verfügt in Sachsen-Anhalt lediglich die kurdische Organisation KONGRA-GEL33 über gefestigte Strukturen. Mehr als die Hälfte der etwa 51.500 in Sachsen-Anhalt lebenden Ausländer stammt aus Staaten des ehemaligen sozialistischen Wirtschaftsgebietes. Aus dem Irak und sonstigen Problemstaaten 32 Zum Beispiel "Islamische Bewaffnete Gruppe" in Algerien. 33 Siehe Seite 98ff. 86 AUSLÄNDEREXTREMISMUS eingereiste Personen befinden sich demgegenüber in der Minderzahl. Insgesamt kann festgestellt werden, dass die überwiegende Mehrheit der ausländischen Bürger im Einklang mit dem Grundgesetz lebt und die Regeln unserer demokratischen Gesellschaft anerkennt. Gleichwohl liegen Hinweise vor, dass extremistische Gruppierungen auch Anhänger und Unterstützer in Sachsen-Anhalt haben. Bedrohung durch internationalen islamistischen Terrorismus Die Bedrohung durch den internationalen islamistischen Terrorismus hält weiter an. Das weltweit agierende Netzwerk arabischer Mujahedin unter der Führung von "Al-Qaida"34 sowie weitere mit diesem in Verbindung stehende islamistische Gruppen sind für zahlreiche Anschläge im Berichtsjahr verantwortlich. Es handelt sich hierbei nicht um eine homogene Organisationsstruktur, sondern um ein loses Netzwerk, mit dem sich viele regionale Zellen verbunden fühlen. Die Vernetzung beruht dabei vor allem auf persönlichen Kontakten so genannter Mujahedin, also von Personen aus den verschiedenen Regionen, die gemeinsam in Ausbildungslagern der "Al-Qaida" in Afghanistan, Pakistan oder dem Sudan militärisch geschult worden sind oder zusammen in Krisengebieten wie Afghanistan, Bosnien oder Tschetschenien gekämpft haben. Daraus ergibt sich eine große Flexibilität der Kleinund Kleinstgruppen. Eingebunden in das "Al-Qaida"-Netzwerk machte die von dem Jordanier Abu Musab AL-ZARKAWI geführte Organisation "Al-Tawhid"35 durch zahlreiche Terrorakte im Irak sowie durch besonders menschenverachtende Brutalität auf sich aufmerksam. Unter anderem ist AL-ZARKAWI für die Enthauptung mehrerer Geiseln vor laufenden Kameras verantwortlich. Entsprechende Aufzeichnungen wurden in den öffentlichen Medien gesendet wie auch in das Internet eingestellt. 34 "Die Basis". 35 "Die Einheit Gottes". 87 AUSLÄNDEREXTREMISMUS Neben den arabischen Mujahedin-Gruppen gewinnen in einigen Regionen vor allem des Irak die kurdischen Kämpfer der "Ansar alIslam"36 an Bedeutung. Ihr Ziel ist die Errichtung eines eigenen Kurdenstaates islamistischer Prägung nach dem Vorbild der Taliban. Sie wenden sich in erster Linie gegen die kurdischen Organisationen "Patriotische Union Kurdistans" (PUK) und "Demokratische Partei Kurdistan/Irak" (DPK/I oder KDP/I), die am Aufbau eines demokratischen Staates Irak beteiligt sind. Die Motivation der Gruppen ist zum Teil sehr unterschiedlich, jedoch dienen in allen Fällen die Notwendigkeit der Errichtung der Weltherrschaft des Islam auf der Grundlage der "Scharia" und der Kampf gegen die "Ungläubigen" als Rechtfertigung. Zur Veranschaulichung werden im Folgenden einige Schwerpunkte der Terroraktivitäten im Jahr 2004 exemplarisch dargestellt. Die Situation im Irak birgt ein großes Konfliktpotenzial, da nach dem Ende des dortigen Krieges und der Zerschlagung der Diktatur von Saddam HUSSEIN neue Machtverhältnisse entstanden sind. Gruppierungen des "Al-Qaida"-Netzwerkes und "Ansar al-Islam"-Anhänger verübten zahlreiche Anschläge auf US-Soldaten, aber auch auf irakische Bürger, die für amerikanische Firmen und Institutionen oder für irakische Einrichtungen arbeiten. Vielfach waren auch gänzlich Unbeteiligte betroffen. Infolge des Tschetschenienkonfliktes wurden mehrere schwere Terroranschläge in der Russischen Föderation verübt. Bei einer Sprengstoffexplosion am 6. Februar in der Moskauer U-Bahn starben 40 Menschen, mehr als 100 Personen wurden verletzt. Eine Serie von schweren Terrorakten wurde mit zwei zeitgleich geführten Anschlägen auf zwei russische Passagierflugzeuge am 24. August eingeleitet, gefolgt von einem Anschlag vor einem U-Bahnhof in Moskau am 31. August. Bei den beiden Flugzeugentführungen kamen mindestens 90 Menschen ums Leben, bei 36 "Gefolgschaft des Islam". 88 AUSLÄNDEREXTREMISMUS dem Sprengstoffanschlag vor dem U-Bahnhof in Moskau wurden zehn Personen getötet und etwa 20 zum Teil schwer verletzt. Der Terror gipfelte in der Geiselnahme von Beslan am 1. September, wobei eine Gruppe tschetschenischer Terroristen eine Schule in Beslan (Nordossetien) überfiel und zahlreiche Schüler, Lehrer und Eltern als Geiseln nahm. Mindestens 340 Geiseln, darunter etwa die Hälfte Kinder, 30 Terroristen sowie Soldaten und Polizisten kamen ums Leben. Am 11. März wurde Westeuropa durch einen Terroranschlag erschüttert. In der spanischen Hauptstadt Madrid explodierten während des Berufsverkehrs in vier Pendlerzügen fast zeitgleich Sprengladungen. Mit mehr als 190 Getöteten und über 1.500 Verletzten war dies der schlimmste Terrorakt in der Geschichte der Europäischen Union. Die Attentäter überwiegend marokkanischer Herkunft verfügen über Beziehungen zum "Al-Qaida"-Netzwerk. Das prowestlich ausgerichtete Königreich Saudi-Arabien wurde ebenfalls mehrfach zum Anschlagsziel islamistischer Terroristen. Bei einem Bombenanschlag gegen das Hauptquartier des saudischen Inlandsnachrichtendienstes in Riad wurden am 21. April vier Personen getötet und 148 verletzt. Am 29. Mai folgte ein Anschlag in der saudi-arabischen Stadt Khobar, bei dem 22 Menschen starben. Das US-Konsulat in Jeddah (Saudi-Arabien) war am 6. Dezember Ziel einer geplanten Geiselnahme. Dabei wurden fünf Angestellte des Konsulates sowie vier der acht Attentäter getötet. Am 29. Dezember erfolgten in Riad fast zeitgleich zwei Terroranschläge gegen Regierungseinrichtungen. Trotz des Eingreifens der Sicherheitskräfte gab es Tote und Verletzte. Bei diesen Anschlägen wird von einem "Al-Qaida"-Hintergrund ausgegangen. Zu drei am 7. Oktober nahezu zeitgleich durchgeführten Bombenanschlägen auf Touristenzentren auf der Sinai-Halbinsel bekannten sich ebenfalls islamistisch-terroristische Organisationen. 89 AUSLÄNDEREXTREMISMUS Mit großem Entsetzen reagierte die europäische Öffentlichkeit auf die Ermordung des niederländischen Filmemachers und Publizisten Theo van GOGH am 2. November in Amsterdam. Der nach einem Schusswechsel festgenommene Täter soll einem islamistischen Netzwerk angehört haben. Die geistigen Urheber der Terroranschläge, allen voran Usama BIN LADEN, sein Stellvertreter Dr. Ayman AL-ZAWAHIRI und der Anführer für "Al-Qaida"-Operationen auf der Arabischen Halbinsel Abu Hajir Abdul Aziz AL-MUQRIN37, wandten sich im Berichtsjahr mehrfach über das Internet sowie die überregionalen arabischen Fernsehsender "Al-Jazeera" (Katar) und "Al-Arabiya" (Dubai) an die Öffentlichkeit. Es gab eine Vielzahl von Verlautbarungen, die immer wieder zum Kampf gegen "Kreuzzügler" aufriefen. In den meisten Fällen wurden Drohungen gegen die USA, Israel, Großbritannien und deren Verbündete ausgesprochen. Weiterhin wurden die Staaten bedroht, die sich im Irak sowie im Rahmen der "internationalen Friedenstruppe" zum Beispiel in Afghanistan engagieren. Zu letzteren zählt auch Deutschland. Im Januar forderte Usama BIN LADEN die Muslime in einer von "AlJazeera" ausgestrahlten Tonbandbotschaft auf, den Jihad gegen die Feinde des Islam weiterzuführen. Friedensbemühungen wie "road-map" oder "Genfer Initiative" wurden mit der Begründung abgelehnt, dass die "Ungläubigen" versuchen würden, die den Muslimen heilige "Al-Aqsa"-Moschee in Jerusalem zu zerstören. Die Besetzung des Irak stelle nur ein "Glied in der zionistisch-kreuzritterlichen Kette des Bösen" dar und sei die Vorstufe für die Verbreitung der Herrschaft und der Hegemonie über die gesamte Welt. In diesem Zusammenhang wurden die Regierungen der arabischen Staaten scharf kritisiert, sie seien unfähig, sich gegen mögliche amerikanische Angriffe und politische Einflussnahme zur Wehr zu setzen. Als Ursache wurde der Mangel an der korrekten Auslegung und Ausübung des Islam angeführt. Daher müsse ein "Rat der wei37 AL-MUQRIN wurde Ende Juni getötet. 90 AUSLÄNDEREXTREMISMUS sen Männer" eingesetzt werden, der die arabische Welt nach dem Sturz dieser Regime anleiten solle. Ein im Dezember 2003 veröffentlichtes "Strategiepapier" "AlQaidas", das unter anderem die Forderung des Abzugs spanischer Truppen aus dem Irak beinhaltete, bekam nach dem Terroranschlag vom 11. März in Madrid besondere Bedeutung. In diesem 47-seitigen Schriftstück richtete sich der Autor an die Mujahedin und befürwortete den Jihad als Pflicht eines jeden Muslim. Der Krieg gegen den Irak werde von allen Ländern des internationalen, westlichen Unglaubens geführt. Anführer seien Amerika und Großbritannien, denen von ihren europäischen "Nachläufern" wie AZNAR und BERLUSCONI, aber auch von Israel und dessen Geheimdiensten geholfen werde. Der Text sei ein Beitrag zu einer praktischen und leicht verständlichen Steuerung der islamischen Kampfaktivitäten im Irak. Die Muslime sollten die Eigenschaften des Feindes und damit dessen verwundbare Punkte genau kennen. Im Folgenden ging der Autor ausführlich auch auf die Partnerstaaten der USA im Irak ein. Demzufolge sei Spanien nach Großbritannien der engste europäische Verbündete. Es gebe einen nahezu totalen Widerspruch zwischen der Meinung der Bevölkerung und der Haltung der Regierung. "Um die spanische Regierung zum Abzug aus dem Irak zu zwingen, muss der Widerstand den spanischen Streitkräften schmerzvolle Schläge versetzen ... Es ist wichtig, vom nahen Termin zu den allgemeinen Wahlen im dritten Monat des nächsten Jahres in Spanien maximal zu profitieren ... Zum Schluss betonen wir, dass der Abzug spanischer und italienischer Streitkräfte einen immensen Druck auf die britische Präsenz im Irak ausüben würde ... Dadurch könnte es zu einem schnellen Dominoeffekt kommen ..." Der Text enthielt viele gut recherchierte Fakten und Hintergrundinformationen und befasste sich auch mit den politischen und wirtschaftlichen Folgen etwaiger Anschläge. Das intellektuelle Niveau 91 AUSLÄNDEREXTREMISMUS dieses Papiers hob sich von den bisher bekannten schriftlichen Ausarbeitungen islamistischer Denkart ab. Ein unmittelbarer Zusammenhang mit den Anschlägen von Madrid bleibt jedoch fraglich. Auf diese ging BIN LADEN auch in seiner Verlautbarung vom 15. April ein, die sich an die europäischen Nationen richtete. Darin wurden die Anschläge in Madrid mit der militärischen Beteiligung Spaniens im Irak gerechtfertigt. In der Videobotschaft unterbreitete BIN LADEN ein "Friedensangebot", in dem er die Einstellung aller terroristischen Aktivitäten ankündigte, wenn innerhalb von drei Monaten alle westlichen Soldaten aus sämtlichen muslimischen Ländern abgezogen würden. Wegen der Stationierung der Truppenkontingente in Afghanistan und der Marinesoldaten in Somalia ist von diesem "Angebot" auch die Bundesrepublik Deutschland betroffen. Die Audiobotschaft ist erstmals auch in deutscher Sprache untertitelt ausgestrahlt worden. Wohlwissend, dass das "Friedensangebot" nicht angenommen werden konnte, diente es BIN LADEN als Rechtfertigung für die Fortführung des Terrors. In einer Verlautbarung vom 6. Mai, die vor allem die Gemeinschaft der Gläubigen im Allgemeinen und die "Brüder im Irak" im Besonderen anspricht, bezeichnete BIN LADEN die "Standhaften" im Irak als Vorbild der Araber und Verteidiger des Islam. Er warnte, Szenarien wie im Irak ließen auch in anderen arabischen Ländern nicht mehr lange auf sich warten. Die Verlautbarung schloss mit dem Aufruf, den US-Zivilverwalter im Irak Paul BREMER, den Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi ANNAN und andere bedeutende Persönlichkeiten zu töten. Wörtlich hieß es unter anderem: "Wir im Netzwerk Al-Qaida verpflichten uns, einen Preis im Wert von 10.000 g Gold jeweils für denjenigen auszusetzen, der den Besatzer Bremer ... tötet." AL-MUQRIN veröffentlichte andere Strategiepapiere über gezieltes Töten sowie über Arten und Durchführung von Entführungen. Seine letzte medienwirksame Aktion war die Entführung und anschließen92 AUSLÄNDEREXTREMISMUS de Ermordung des amerikanischen Ingenieurs Paul JOHNSON. In einer Erklärung dazu hieß es, JOHNSON sei an der Entwicklung elektronischer Systeme für Apache-Kampfhubschrauber beteiligt und gelte als TOP-Spezialist auf diesem Gebiet auf der Arabischen Halbinsel. Dieser "Ungläubige" habe seine gerechte Strafe bekommen. Die Amerikaner und deren Verbündete sollen begreifen, dass das gleiche abschreckende Schicksal auf jeden von ihnen warte, der in das Land der Mujahedin komme. Neben dem Aufbau und der Aufrechterhaltung einer Drohkulisse besteht ein weiterer Aspekt der Verlautbarungen in der Indoktrinierung und der Motivierung der Muslime, sich voll und ganz dem Jihad zu verschreiben, bis hin zur Konsequenz, den Märtyrertod zu sterben. Gefährdungslage in der Bundesrepublik Deutschland Die dargestellte Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, die verübten Terroranschläge und die genaue Analyse der Machtund Kräfteverhältnisse in den Krisenregionen bilden die Grundlage für die Bewertung der Sicherheitslage. Die Bundesrepublik Deutschland muss als Teil eines weltweiten Gefahrenraumes angesehen werden und liegt somit weiterhin im Zielspektrum terroristischer Gruppierungen. Es ist weiter davon auszugehen, dass in Deutschland noch unbekannte islamistische Zellen bestehen können, die in grenzüberschreitende funktionsfähige Strukturen eingebunden sind und weitgehend in eigener Regie Anschlagsplanungen vornehmen. Eine konkrete Prognose ist nicht möglich, jedoch kann angenommen werden, dass eine besondere Gefährdung gerade für US-amerikanische, britische, israelische und jüdische Einrichtungen besteht. Eine nachrangige Gefährdung besteht für andere in Verlautbarungen genannte Staaten und Einrichtungen. Aufgrund des Engagements in Afghanistan können auch deutsche Interessen in gewissem Grad gefährdet sein. 93 AUSLÄNDEREXTREMISMUS Dass Islamisten auch in Deutschland Terroranschläge planen, wurde im Zusammenhang mit Exekutivmaßnahmen der Sicherheitsbehörden bekannt. Als Beispiel sei hier die Festnahme von drei vermutlich der "Ansar al-Islam" angehörenden Irakern genannt, die einen Anschlag auf den irakischen Ministerpräsidenten Dr. ALLAWI während seines Besuches am 2. und 3. Dezember in Berlin geplant hatten. Gefährdungslage in Sachsen-Anhalt Obwohl diese Gefährdungseinschätzung generell auch für Sachsen-Anhalt gilt, kann jedoch aufgrund der hier nicht gefestigten Organisationsstrukturen islamistischer Gruppierungen, der vergleichsweise geringen Ausländerquote sowie der Infrastruktur insgesamt weiterhin von einer abgeschwächten Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus ausgegangen werden. Islamistische Organisationen in Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland sind mehr als 20 unterschiedliche islamistische Organisationen aktiv. Auf die bedeutsamsten und einflussreichsten Gruppierungen soll im Folgenden kurz eingegangen werden. Zu ihnen zählen insbesondere die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG), der "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V., Köln" (ICCB - auch: "Der Kalifatsstaat") sowie "Al-Aqsa e. V." "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG) Eigenen Angaben zufolge ist die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG) die größte islamische Gemeinschaft Europas, die über 200.000 Personen betreut, die Integration der Muslime in die europäischen Gesellschaften befürwortet und Gewalt strikt ablehnt. Die IGMG unterhält über 500 Moscheegemeinden in verschiedenen europäischen Ländern. 94 AUSLÄNDEREXTREMISMUS Nach Einschätzung der Verfassungsschutzbehörden strebt die IGMG zunächst die Abschaffung der laizistischen Staatsordnung der Türkei zugunsten einer islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung mit dem Koran als Grundlage des Staatsaufbaus und als Verhaltenskodex des gesellschaftlichen Zusammenlebens an. Fernziel ist eine weltweite Islamisierung im Sinne eines doktrinären Islamverständnisses. Die IGMG verfolgt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen. Langfristig strebt die IGMG die Einführung eines islamistischen Staatsund Gesellschaftssystems auch in der Bundesrepublik Deutschland unter Missachtung der Grundrechte der Menschenwürde, der Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Religionsfreiheit an, wenn auch nicht zwangsläufig durch den Einsatz von Gewalt. Diese Einschätzungen bestätigte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in einer mündlichen Verhandlung am 11. November. Enttäuscht äußerte sich die Organisation zu den in verschiedenen Bundesländern beschlossenen Gesetzen bezüglich des Kopftuchverbots für Lehrerinnen an deutschen Schulen sowie zum bestehenden Kopftuchverbot an Hochschulen und im öffentlichen Dienst in der Türkei. Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg (Frankreich) am 29. Juni das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten bestätigte38, bewertete die IGMG das genannte Urteil auf ihrer Homepage dahingehend, dass es nicht dem Maßstab der Menschenrechtskonvention gerecht werde. Strukturen oder Aktivitäten mit Bezug zur IGMG sind in SachsenAnhalt bislang nicht bekannt geworden. 38 In der Urteilsbegründung verwies der EGMR auf die in der türkischen Verfassung verankerte Trennung von Staat und Religion und resümierte, dass das Kopftuchverbot in der Türkei weder einen Verstoß gegen Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die Grundrechte der Religionsund Meinungsfreiheit regelt, noch eine Diskriminierung darstelle. 95 AUSLÄNDEREXTREMISMUS "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V., Köln" (ICCB - auch: "Der Kalifatsstaat") Das Bundesministerium des Innern (BMI) verbot am 12. Dezember 2001 die Vereinigung ICCB und mehrere Teilorganisationen, da diese sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung sowie den Gedanken der Volkerverständigung richteten und die innere Sicherheit in Deutschland gefährdeten. Die Organisation lehnte Demokratie und Trennung von Politik und Religion strikt ab und strebte die Erlangung der Weltherrschaft in Form eines Kalifates an. Das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf hatte den Anführer der Organisation - den so genannten Kalifen von Köln - Metin KAPLAN im Jahr 2000 zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt, da KAPLAN öffentlich zur Ermordung eines "organisationsinternen Konkurrenten" aufgerufen hatte. Dieser wurde dann von unbekannten Tätern ermordet. Am 27. Mai 2003 wurde KAPLAN aus der Haft entlassen. Das OVG Münster (Nordrhein-Westfalen) hatte am 26. Mai entschieden, dass keine schwerwiegenden Hindernisse für die Abschiebung KAPLANs in die Türkei vorlägen. Wegen grundsätzlicher Bedeutung ließ das OVG die Revision zum BVerwG zu. Das Verwaltungsgericht (VG) Köln entschied am 27. Mai, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruches gegen die Abschiebeverfügung des Ausländeramtes Köln für die Dauer von zwei Monaten anerkannt werde. Davon unbenommen hatte die Polizei wegen des Verdachts der weiteren Verbreitung von Ideologie und Zielen der verbotenen Organisation bereits am 18. Juni Räumlichkeiten von Anhängern des "Kalifatsstaates" in Wennenden (Baden-Württemberg) durchsucht. Zudem waren am 10. September wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Vereinsverbot Durchsuchungen einer Privatwohnung und eines der Organisation zugerechneten Gebetsraums in Herne (Nordrhein-Westfalen) erfolgt. Noch während dieses laufenden Revisionsverfahrens erging in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren KAPLANs gegen die Stadt Köln am 12. Oktober der Be96 AUSLÄNDEREXTREMISMUS schluss, KAPLAN abzuschieben39. Zur Begründung führte das VG Köln unter anderem aus, dass sich KAPLANs Interesse an einem weiterem Verbleib im Bundesgebiet dem Allgemeininteresse an einer sofortigen Ausreise unterzuordnen habe. Zudem gelte KAPLAN als Identifikationsfigur für den islamischen Extremismus, seine umgehende Entfernung aus dem Bundesgebiet sei zwingend geboten. Aufgrund des vorgenannten Beschlusses wurde er noch am selben Tag von der Polizei festgenommen und abgeschoben. Am 7. Dezember bestätigte das BVerwG letztinstanzlich, dass KAPLAN zu Recht keinen zielstaatsbezogenen Abschiebeschutz erhalten hatte und bekräftigte damit die Rechtmäßigkeit der von den Exekutivbehörden vollzogenen Abschiebung KAPLANs. "Al-Aqsa e. V." "Al-Aqsa e. V." wurde 1991 in Aachen gegründet. Der Verein sammelte bundesweit Spendengelder, vornehmlich in Moscheen und "Islamischen Zentren", aber auch bei Zusammenkünften in nichtreligiösen Einrichtungen sowie bei öffentlichen, zumeist auf den Nahost-Konflikt bezogenen Veranstaltungen. Vereinsziele waren laut Satzung die Hilfeleistung für in Deutschland lebende Palästinenser, die Durchführung von humanitären Projekten für bedürftige Landsleute in der Herkunftsregion sowie die Unterstützung von Bildungsstätten in palästinensischen Gebieten. Spendengelder überwies "Al-Aqsa e. V." allerdings auch an die dortigen Sozialeinrichtungen der terroristischen "Islamischen Widerstandsbewegung" (HAMAS). Deshalb wurde der Verein mit Verfügung des Bundesministeriums des Innern vom 31. Juli 2002 verboten. 39 Das VG Köln hatte am 27. August 2003 der Klage KAPLANs stattgegeben: KAPLAN dürfe nicht in die Türkei abgeschoben werden, da ihm dort ein Strafverfahren drohe, das in schwerwiegender Weise gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen würde. Das OVG Münster hatte am 26. Mai die Berufung der Bundesrepublik Deutschland gegen die Klage KAPLANs wegen Gewährung von Abschiebeschutz abgewiesen. 97 AUSLÄNDEREXTREMISMUS Am 3. Dezember wies das BVerwG die Klage des "Al-Aqsa e. V." gegen diese Verbotsverfügung ab, womit diese Rechtskraft erlangte. Ausschlaggebend für die Entscheidung des Gerichts war, dass in der Unterstützung der HAMAS-Sozialvereine in den Palästinensergebieten ein Verstoß gegen den Gedanken der Völkerverständigung zu sehen sei. Der "Al-Aqsa e. V." leiste mit seinem Verhalten eine bewusste Unterstützung der von HAMAS gegenüber dem israelischen Volk ausgeübten Gewalttaten. Nach Auffassung des Gerichtes sei zwar nicht nachzuweisen, dass die von Seiten des "Al-Aqsa e. V." den einschlägigen Sozialvereinen zugewandten Gelder unmittelbar der Finanzierung militärischer Aktivitäten von HAMAS dienten. Letztere sei aber als einheitliches Gebilde zu betrachten, bei dem die sozialen Aktivitäten nicht von den militärischen zu trennen seien. "Al-Aqsa e. V." identifiziere sich mit den Zielen der HAMAS. Aus diesem Grunde mussten beschlagnahmte finanzielle Mittel des Vereins in Höhe von rund 340.000 Euro nicht zurückgegeben werden. Kurdische und türkische linksextremistische Organisationen "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK)/ "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK)/ "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) Der aus der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) hervorgegangene "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK) hatte sich Ende 2003 in "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) umbenannt. Der Mitbegründer der ehemaligen PKK Abdullah ÖCALAN wurde zum "Führer des kurdischen Volkes" ernannt. Das BMI verfügte mit Schreiben vom 30. Juli dieses Jahres, dass sich das bestehende vereinsrechtliche Betätigungsverbot gegen die PKK auch auf den KONGRA-GEL erstrecke, da (wie schon im Falle des KADEK) Identität mit der PKK bestehe. 98 AUSLÄNDEREXTREMISMUS Auf einer neu gestalteten Homepage veröffentlichte der KONGRAGEL seit Jahresbeginn Äußerungen führender Funktionäre zur weiteren politischen Gestaltung der Organisation. Der KONGRAGEL-Vorsitzende informierte, dass seine Organisation eine demokratische Politik betreibe, die türkische Regierung zum Dialog aufrufen werde und betonte, dass der KONGRA-GEL nicht die Fortsetzung der PKK, sondern eine neue demokratische und zivile Organisation sei. Das außenpolitische Komitee der Organisation kritisierte in einer von der KONGRA-GEL-nahen türkischsprachigen Tageszeitung "Özgür Politika/Freie Politik"40 veröffentlichten Erklärung die Aufnahme der Partei in die US-amerikanische Liste terroristischer Organisationen. Entgegen den vorgenannten veröffentlichten Zielsetzungen bestimmten Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Führung die Entwicklung des KONGRA-GEL. Ein Teil der Organisation befürwortete die Einhaltung der Distanz gegenüber den USA und sprach sich für die Beibehaltung der "Volksverteidigungseinheiten" (HPG) 41 als Drohmittel gegenüber der Türkei aus. Für die Abschaffung der HPG und eine Annäherung des KONGRA-GEL an die USA votierte ein Personenkreis um Osman ÖCALAN42. Nach den Vorstellungen des auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Abdullah ÖCALAN sollten diese internen Spannungen durch eine Neugründung der ehemaligen "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) überwunden werden. Mit diesem Ziel hatte im März ein so genanntes "Komitee für den Wiederaufbau der PKK" die Arbeit aufgenommen. Der Rat der Europäischen Union (EU) hatte bereits am 2. April beschlossen, den KONGRA-GEL wie die Vorgängerorganisation KADEK als Alias-Bezeichnungen in die EU-Liste terroristischer Organisationen aufzunehmen.43 Die KONGRA-GEL-Führung wertete den EU-Beschluss als ungerecht und als Beleidigung des kurdi40 Ausgabe vom 18. Januar 2004. 41 Der KONGRA-GEL unterhält diese Guerillaeinheiten im Nordirak. 42 Der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des KONGRA-GEL Osman ÖCALAN ist der Bruder von Abdullah ÖCALAN. 43 Die PKK ist dort seit dem 2. Mai 2002 gelistet. 99 AUSLÄNDEREXTREMISMUS schen Volkes. Sie warf der türkischen Regierung in der "Özgür Politika" vor, dass sie die Aufnahme der Organisation in die EU-Liste terroristischer Organisationen als Rechtfertigung für eine Verstärkung der militärischen Intervention gegen die kurdische Guerilla verwenden würde. Der Kommandorat der HPG erklärte am 28. Mai den so genannten einseitigen Waffenstillstand gegenüber der Türkei zum 1. Juni für beendet und schloss einen Verteidigungskrieg seinerseits nicht aus, sollten Operationen der türkischen Armee in kurdisch besiedelten Gebieten andauern. In einer am 14. August im Internet veröffentlichten Erklärung, die von Osman ÖCALAN und weiteren Anhängern des KONGRA-GEL unterzeichnet wurde, gab dieser Personenkreis die beabsichtigte Gründung einer neuen Kurdenorganisation mit dem Namen "Patriotisch-Demokratische Partei" (PDP)44 bekannt. Obwohl die Mitglieder des KONGRA-GEL in der Erklärung aufgerufen wurden, sich der PDP anzuschließen, betonte letztere, mit der Parteigründung nicht die Zerstörung des KONGRA-GEL anzustreben. Öffentlich traten der KONGRA-GEL und die ihm zuzurechnenden Organisationen europaweit mit diversen Protestaktionen und der Durchführung gewaltfrei verlaufener Großveranstaltungen in Erscheinung. Im Rahmen der vom KONGRA-GEL vorgegebenen Kampagnen entfalteten Kurdenvereine in Magdeburg und Halle entsprechende Aktivitäten, die fast durchweg bei den zuständigen Behörden versammlungsrechtlich angemeldet wurden und friedlich verliefen. Mit Protestaktionen unter dem Motto "Freiheit für ÖCALAN" wiesen Kurden im Januar auf den Gesundheitszustand Abdullah ÖCALANs hin und forderten eine friedliche und demokratische Lösung der Kurdenfrage. In diesem Zusammenhang organisierte der "KurdischDeutsche Kulturverein Magdeburg e. V." am 24. Januar in Magdeburg einen Aufzug mit Abschlusskundgebung unter dem Motto "Freiheit für Kurdistan - Frieden für die kurdische Bevölkerung" mit etwa 100 Teilnehmern. 44 Türkisch: "Yurtsever Demokratik Parti" (YDP); Kurdisch: "Partiya Welatperez'e Demokratik" (PWD). Die tatsächliche Gründung der PDP/PWD sowie die Erarbeitung von Satzung und Programm erfolgten im Berichtsjahr nicht. 100 AUSLÄNDEREXTREMISMUS Anlässlich des Jahrestages der Festnahme Abdullah ÖCALANs am 15. Februar 1999 in Kenia45 führten Anhänger des KONGRA-GEL am 14. Februar in Straßburg (Frankreich) eine Großdemonstration unter dem Motto "Freedom for ÖCALAN - Peace in Kurdistan" mit etwa 12.000 Personen aus europäischen Ländern durch. Als Reaktion auf Unruhen in den von Kurden bewohnten Gebieten in Syrien, bei denen etwa 15 Personen getötet und etwa 100 verletzt wurden, kam es Mitte März in Europa zu Demonstrationen und Kundgebungen von Kurden.46 In Halle versammelten sich am 13. März etwa 70 Personen zu einer Spontandemonstration unter dem Motto "Blutbad unter syrischen Kurden nach einem Fußballspiel in Syrien". Am 14. März beteiligten sich etwa 100 Personen an einer themengleichen Demonstration in Halle. Vom 25. bis zum 29. März betrieben etwa 20 Kurden auf dem Marktplatz von Halle einen Informationsstand unter dem Motto "Gegen das Blutbad durch syrische Sicherheitskräfte am 12.03.2004". Im Rahmen der als "Mahnwache" bezeichneten Veranstaltung wurden Unterschriften gesammelt und Flugblätter verteilt. Am 22. März fand in Magdeburg ein Aufzug mit Kundgebung unter dem Motto "Massaker in Syrisch-Kurdistan" statt, an dem sich etwa 250 Personen beteiligten. Die Mitglieder und Sympathisanten des KONGRA-GEL führten am 21. März aus Anlass des kurdischen Neujahrsfestes Newroz Kundgebungen und Aufzüge in mehreren europäischen Ländern durch. Den Höhepunkt dieser Feierlichkeiten bildete eine zentrale Demonstration am 20. März in Hannover. Unter den etwa 25.000 Teilnehmern aus Deutschland und den angrenzenden Ländern befanden sich auch Personen aus Sachsen-Anhalt. Den Teilnehmern wurde ein mehrstündiges Programm unter anderem mit Redebeiträgen zur Kurdenfrage dargeboten. 45 Dieser Jahrestag wird alljährlich mit einer europaweiten Großdemonstration begangen, da nach Ansicht der PKK die Festnahme ÖCALANs in Folge eines internationalen Komplotts erfolgte. 46 Auslöser der Unruhen in Syrien, die sich von der im Nordosten Syriens liegenden Provinzhauptstadt Qamishli ausgebreitet hatten, waren Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Arabern anlässlich eines Fußballspieles am 12. März. 101 AUSLÄNDEREXTREMISMUS Der Oberste Gerichtshof der Niederlande hatte am 7. Mai entschieden, dass das führende Mitglied der ehemaligen PKK sowie des KONGRA-GEL Nuriye KESBIR an die Türkei ausgeliefert werden dürfe.47 KESBIR habe ihren Widerspruch gegen eine Auslieferung mit der Sorge begründet, dass sie in türkischem Gewahrsam gefoltert und mit lebenslanger Haft bestraft werden könnte. Um die Auslieferung KESBIRs zu verhindern, initiierten der KONGRA-GEL und die ihm nahe stehenden Organisationen ab Mai eine europaweite Protestkampagne, deren Höhepunkte zentrale Großdemonstrationen in Den Haag (Niederlande) am 22. Mai und am 30. Oktober bildeten. Am 8. November hatte der Oberste Gerichtshof der Niederlande entschieden, dass vorerst keine Auslieferung KESBIRs an die Türkei erfolge. Als Großveranstaltungen des KONGRA-GEL mit Beteiligung von Personen aus Sachsen-Anhalt sind das "1. Internationale ZILANFrauenfestival"48 mit etwa 5.000 Personen am 10. Juli in Dortmund (Nordrhein-Westfalen), das "7. Mazlum DOGAN Jugend-, Kulturund Sportfestival"49 mit etwa 6.000 Teilnehmern am 30./31. Juli in Köln (Nordrhein-Westfalen) und das "12. Internationale Kurdische Kulturfestival" am 25. September mit etwa 40.000 Besuchern in Gelsenkirchen (Nordrhein-Westfalen) zu nennen. Im Rahmen der ab Oktober durchgeführten Kampagne des KONGRA-GEL unter dem Motto "Lasst uns den Widerstand gegen den Verrat ausweiten und uns mit dem Führer APO befreien" 50 organisierte der "Kurdisch-Deutsche Kulturverein Magdeburg e. V." am 9. Oktober in der Stadtmitte von Magdeburg einen Aufzug mit 47 Die Türkei beschuldigt KESBIR, an PKK-Anschlägen zwischen 1993 und 1995 gegen militärische Ziele des Landes beteiligt gewesen zu sein. 48 Namensgeberin für das Festival war Zeynep KINACI alias ZILAN, die von Angehörigen und Sympathisanten des KONGRA-GEL als Märtyrerin verehrt wird. ZILAN hatte sich am 30. Juni 1996 in Tunceli (Türkei) während einer Militärparade unter die türkischen Soldaten gemischt und einen Sprengsatz zur Detonation gebracht. Es gab Tote und Verletzte. 49 Der Name des Festivals soll an den Funktionär der ehemaligen PKK erinnern, der 1982 bei einem Hungerstreik in türkischer Haft gestorben war und seitdem von Angehörigen und Sympathisanten des KONGRA-GEL als Märtyrer verehrt wird. 50 Abdullah ÖCALAN wird mit Spitznamen "APO" (Onkel) genannt. 102 AUSLÄNDEREXTREMISMUS Abschlusskundgebung unter dem Motto "Komplott gegen ÖCALAN". Im Hinblick auf die Entscheidung der EU zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am 17. Dezember initiierte der KONGRA-GEL vom 1. November bis zum 17. Dezember eine europaweite Aktionskampagne. Damit beabsichtigte er, die Vertreter der einzelnen europäischen Regierungen schon vor den offiziellen Verhandlungen insbesondere auf die Kurdenfrage hinzuweisen. Die Führung des KONGRA-GEL begrüßte die Bemühungen der Türkei um Aufnahme in die EU. Im Rahmen der Kampagne wurden in Deutschland durch örtliche KONGRA-GEL-nahe Vereine Demonstrationen, Protestmärsche, Informationsstände und Flugblattverteilungen organisiert. Den Höhepunkt bildete eine von der KON-KURD organisierte Großdemonstration am 11. Dezember in Brüssel unter dem Motto "Die Kurden möchten den Dialog und eine Lösung". Daran beteiligten sich etwa 10.000 Teilnehmer aus mehreren europäischen Staaten. Mit Urteil vom 21. Oktober bestätigte der Bundesgerichtshof (BGH) im Revisionsverfahren eines ehemaligen PKK-Funktionärs den Schuldspruch des OLG Celle vom 20. Oktober 2003. 51 Nach Auffassung des BGH ist eine Einstufung der Führungsebene der PKK als kriminelle Vereinigung im Sinne des SS 129 StGB auch nach dem erklärten Gewaltverzicht aus dem Jahr 2000 gerechtfertigt. Die Organisation greife zwar seit dieser Zeit in Deutschland nicht mehr auf demonstrative Gewaltakte zurück, übe aber nach wie vor Strafgewalt gegenüber Abweichlern aus und begehe insbesondere durch die Schleusung von Kadern mit falschen Papieren Straftaten. 51 Das OLG Celle hatte zwei türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu Freiheitsstrafen verurteilt, da beide regionale Gliederungen der PKK beziehungsweise des KADEK verantwortlich geleitet hatten. 103 AUSLÄNDEREXTREMISMUS Plattform "Resistanbul 2004" Die aus türkischen linksextremistischen Gruppierungen aus Deutschland und dem europäischen Ausland gegründete Plattform "Resistanbul 2004" kritisierte im Internet den für den 28./29. Juni anberaumten NATO-Gipfel in Istanbul (Türkei) und bezeichnete die NATO als eine "aggressive Kriegsorganisation". Der Gipfel diene in erster Linie dazu, eine dauerhafte Präsenz des US-Imperialismus im Irak zu gewährleisten, den als großes Nahostprojekt bezeichneten so genannten Kriegsplan zu genehmigen, die Besetzung weiterer Länder und die so genannte Massakrierung der Völker im Nahen Osten zu rechtfertigen sowie die Türkei in eine Militärbasis für einen blutigen, ungerechten und schmutzigen Krieg umzuwandeln. An friedlich verlaufenen Demonstrationen zur genannten Thematik beteiligten sich am 26. Juni in Berlin etwa 250, in Köln etwa 500 und in Stuttgart etwa 300 Personen. Strafund Gewalttaten52 Die Anzahl der politisch motivierten Strafund Gewalttaten im Bereich des Ausländerextremismus bewegt sich weiterhin auf niedrigem Niveau. 52 Genauere Angaben können der auf Seite 137f dieses Berichtes auszugsweise wiedergegebenen Statistik des Landeskriminalamtes entnommen werden. 104 SPIONAGEABWEHR V. SPIONAGEABWEHR Allgemeines Nach wie vor ist die Bundesrepublik Deutschland Aufklärungsziel für die Nachrichtendienste zahlreicher Staaten. Neben einigen Ländern aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) entfalten entsprechende Spionageaktivitäten insbesondere Staaten aus dem Nahen, Mittleren und Fernen Osten wie zum Beispiel Iran, Syrien, Nordkorea und China. Ziel solcher Bemühungen ist die Informationsbeschaffung aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Militär. Neben diesen klassischen Schwerpunkten der Spionage gewinnt die Industrieund Wirtschaftsspionage zunehmend an Bedeutung. Vorrangiges Ziel hierbei ist es, den technologischen Abstand zu den führenden Industrienationen zu verringern und durch die Spionage Kosten und Zeit für eigene Entwicklungen einzusparen. Insbesondere die Nachrichtendienste des Nahen und Mittleren Ostens betreiben darüber hinaus eine zielgerichtete und intensive Ausspähung von Personen und Organisationen, die in Opposition zu den jeweiligen Regierungen ihrer Heimatländer stehen. Als Folge der weltweiten Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus erfolgt von diesen Ländern ebenfalls eine intensive Informationsgewinnung in Bezug auf internationale terroristische Netzwerke. Auch weiterhin sind einige Staaten, insbesondere Iran, bemüht, in den Besitz von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen sowie der dazu notwendigen Trägersysteme und an das für deren Herstellung erforderliche Know-how zu gelangen. 105 SPIONAGEABWEHR Nachrichtendienste der Russischen Föderation Die Geheimdienste der Russischen Föderation konnten ihre Position in Staat und Gesellschaft weiter festigen und ausbauen. Gegen die Bundesrepublik Deutschland richten sich in erster Linie Aktivitäten des zivilen Auslandsaufklärungsdienstes SWR sowie des militärischen Nachrichtendienstes GRU. Hauptaufgabe des SWR ist die Informationsbeschaffung aus den Bereichen Politik, Wissenschaft und Technik, der GRU ist insbesondere für die Ausforschung der Bundeswehr, des westeuropäischen Verteidigungsbündnisses sowie der NATO zuständig. In diesem Zusammenhang ist der Dienst ebenfalls an Informationen über militärisch nutzbare Forschungsergebnisse und Militärtechnologie sowie an Produktionsinformationen aus der Rüstungstechnologie interessiert. Ihre diesbezüglichen Aktivitäten entwickeln die Mitarbeiter des SWR/GRU in der Hauptsache aus den so genannten Legalresidenturen heraus. Diese sind Bestandteil der diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Russischen Föderation in Deutschland sowie der Niederlassungen der russischen Medienagenturen und Luftfahrtgesellschaften. Zur gängigen Praxis russischer Nachrichtendienste zählt es auch, gezielt Personen unter den deutschstämmigen Spätaussiedlern für eine geheimdienstliche Agententätigkeit zu verpflichten. Nachrichtendienste aus Staaten des Nahen und Mittleren Ostens Die Aktivitäten der Nachrichtendienste aus den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens sind nach wie vor schwerpunktmäßig auf die Aufklärung und Unterwanderung von in Deutschland lebenden Landsleuten ausgerichtet, die sich in Opposition zu den jeweiligen Regimen in ihren Heimatländern befinden. Dabei wird im Zuge der Quellenwerbung in vielfältiger Weise Druck auf die Betroffenen ausgeübt, um diese für eine nachrichtendienstliche Zusammenarbeit zu gewinnen. 106 SPIONAGEABWEHR Darüber hinaus wurde auch von diesen Nachrichtendiensten die Informationsbeschaffung hinsichtlich internationaler Netzwerke islamistischer Terroristen intensiviert. Nachrichtendienste der Volksrepubliken China und Nordkorea Ein Interessenschwerpunkt der Nachrichtendienste beider Staaten gilt ebenfalls der Beobachtung und Unterwanderung von in der Bundesrepublik Deutschland existenten Gruppierungen, die in Opposition zu den jeweils amtierenden Regierungen stehen. Vorrangiges Ziel ist jedoch die Informationsbeschaffung aus den Bereichen Industrie, Wirtschaft und Wissenschaft, um den technologischen Abstand zu den führenden Industrienationen zu verringern und Zeit sowie Entwicklungskosten einzusparen. Um diese Ziele zu erreichen, werden Kontakte zu Einrichtungen und Personen unter anderem aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik aufgenommen. Im Rahmen dieser Kontakte wird versucht, das Wissen der jeweiligen Gesprächspartner unauffällig abzuschöpfen und möglichst ein persönliches Vertrauensverhältnis aufzubauen. Proliferation Der Problematik der Proliferation53 ist nach wie vor eine immense Bedeutung beizumessen. Insbesondere Staaten des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens wie zum Beispiel Iran, Indien, Pakistan und Syrien hegen ein anhaltend starkes Interesse daran, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen. Die derzeit sicherlich größte Bedrohung geht diesbezüglich vom Atomprogramm des Iran aus. Bislang muss generell davon ausgegangen werden, dass der Iran weiterhin alles Notwendige unternehmen wird, um sein Atomprogramm zu realisieren. Demzufolge ist auch weiter von entsprechenden nachrichtendienstlich gesteu53 Unter dem Begriff Proliferation versteht man die Weitergabe von atomaren, biologischen und chemischen Waffen (ABC-Waffen) und deren Trägersystemen sowie von Mitteln und Know-how zu deren Herstellung an Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus diese Waffen in einem bewaffneten Konflikt eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. 107 SPIONAGEABWEHR erten Beschaffungsmaßnahmen für die nötigen Technologien und Materialien auszugehen. Aber auch die anderen an der Proliferation interessierten Staaten werden weiterhin Aktivitäten entwickeln, um an das in den westlichen Industrieländern vorhandene Know-how zu gelangen. In diesem Zusammenhang besitzt die Bundesrepublik Deutschland und somit auch Sachsen-Anhalt mit den hier existierenden Unternehmen und Forschungseinrichtungen einen erheblichen Stellenwert. Aufgabe der Spionageabwehr des Verfassungsschutzes ist es auch, von fremden Geheimdiensten gesteuerte oder durch fremde Staaten mit verdeckten Mitteln und Methoden betriebene Proliferationsvorgänge zu analysieren. Zudem wird durch Informationsweitergabe an die Strafverfolgungsbehörden im Fall erkannter Absichten zu illegalen Beschaffungen zu deren Verhinderung beigetragen. Die von den Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern unter dem Titel "Proliferation - das geht uns an!" erstellte Broschüre kann im Internet unter www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz abgerufen werden. Die Verfassungsschutzbehörde bietet allen in der gewerblichen Wirtschaft und der Wissenschaft Tätigen eine Sicherheitspartnerschaft an, die Informationen, vertrauensvollen Dialog und Sensibilisierung über Fragen der Wirtschaftsspionage und Proliferation beinhaltet. Ziel dieser Partnerschaft ist es, Wirtschaftsspionage sowie Proliferationsabsichten zu erkennen und letztlich zu verhindern. Mitarbeit der Bevölkerung Eine wirkungsvolle Spionageabwehr ist nur mit Hilfe der Bevölkerung möglich. Die Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt geht daher Hinweisen auf Tätigkeiten fremder Nachrichtendienste nach und bittet alle Bürgerinnen und Bürger, die von derartigen Sachverhalten Kenntnis haben oder von fremden Nachrichtendiensten zur Mitarbeit aufgefordert wurden, ihr Wissen im 108 SPIONAGEABWEHR Interesse unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der eigenen Sicherheit zu offenbaren. Dies gilt auch für diejenigen, die bereits im fremden Interesse nachrichtendienstlich tätig geworden sind. Ihnen kann geholfen werden, sich aus einer ausweglos erscheinenden Situation zu befreien. Die Verfassungsschutzbehörden unterliegen nicht wie die Strafverfolgungsbehörden dem Legalitätsprinzip54 und sind daher nicht in jedem Fall verpflichtet, die Strafverfolgungsbehörden über Hinweise auf Spionagedelikte zu informieren. Voraussetzung hierfür ist jedoch die freiwillige Aufgabe der nachrichtendienstlichen Tätigkeit und eine umfassende Offenbarung. Die Verfassungsschutzbehörde bietet hierzu jederzeit ihre Hilfe an und sichert Vertraulichkeit zu. Die Spionageabwehr der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt ist wie folgt zu erreichen: Telefon: 0391/567-3900 Fax: 0391/567-3999 Internet: www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz 54 Legalitätsprinzip: Strafverfolgungsbehörden sind prinzipiell verpflichtet, bei Vorliegen ausreichender tatsächlicher Anhaltspunkte Straftaten zu verfolgen. 109 GEHEIMSCHUTZ VI. GEHEIMSCHUTZ Allgemeines Alle Institutionen des Bundes und der Länder sowie die Bevölkerung selbst müssen sich darauf verlassen können, dass Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder gefährden können, als im staatlichen Interesse geheimzuhaltende Informationen (Verschlusssachen - VS) wirkungsvoll geschützt werden. Besondere vorbeugende Maßnahmen, der so genannte personelle und materielle Geheimschutz, sollen dies gewährleisten. Zudem ist die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied der NATO und anderer überoder zwischenstaatlicher Einrichtungen gehalten, bestimmte Sicherheitsnormen zu erfüllen. Die Verfassungsschutzbehörde wirkt gemäß SS 4 Absatz 2 des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt (VerfSchG-LSA) bei Geheimschutzverfahren im Behördenund Wirtschaftsbereich mit. Geheimschutz im Behördenbereich Personeller Geheimschutz Maßgeblich für den personellen Geheimschutz ist die Sicherheitsüberprüfung. Sie ist notwendige Voraussetzung für die Ermächtigung einer Person zum Zugang zu im staatlichen Interesse geheimzuhaltenden Informationen (Verschlusssachen). Im Rahmen der Sicherheitsüberprüfung ist es Aufgabe der Verfassungsschutzbehörde festzustellen, ob eine Person für eine sicherheitsempfindliche Position geeignet ist. Dabei gilt es, etwaige Sicherheitsrisiken herauszufinden oder auszuschließen. 110 GEHEIMSCHUTZ Ferner berät die Verfassungsschutzbehörde in Fragen des Geheimschutzes die Geheimschutzbeauftragten der Ministerien sowie der oberen und mittleren Landesbehörden. Materieller Geheimschutz Der materielle Geheimschutz befasst sich mit technischen und organisatorischen Sicherheitsvorkehrungen, die verhindern oder zumindest erschweren sollen, dass Unbefugte an geschützte Informationen gelangen. Die Verfassungsschutzbehörde hat hierbei die Aufgabe, öffentliche Stellen des Landes zu beraten, wie sie am besten technische Sicherungsmaßnahmen planen und durchführen können. Geheimschutz in der Wirtschaft Neben den erforderlichen Maßnahmen auf dem Gebiet des Geheimschutzes in Behörden muss der Staat auch sensible Bereiche seiner Wirtschaft schützen, die mit der Ausführung geheimhaltungsbedürftiger öffentlicher Aufträge betraut sind. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass sich die Aktivitäten fremder Nachrichtendienste nicht nur gegen staatliche Institutionen, sondern in starkem Maße auch gegen Wirtschaftsunternehmen richten. Ein wirksames Geheimschutzsystem soll hier gewährleisten, dass die gegen die deutsche Wirtschaft gerichteten Ausspähungsversuche durch gezielte Maßnahmen im vorbeugenden Bereich abgewehrt werden können, um irreparable Schäden zu vermeiden. 111 ALLGEMEINES VII. VERFASSUNGSSCHUTZ IN SACHSEN-ANHALT Grundlagen und organisatorische Ausgestaltung des Verfassungsschutzes Die geschichtlichen Erfahrungen der Weimarer Republik, die sich den Angriffen von rechts und links schutzlos ausgesetzt sah und schließlich vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten kapitulieren musste, veranlassten die Verfasser des Grundgesetzes, die Bundesrepublik Deutschland als streitbare Demokratie zu gestalten. Deshalb enthält das Grundgesetz (GG) Schutzvorkehrungen zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Hierzu gehören: - die Verwirkung bestimmter Grundrechte, wenn diese zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht werden (Art. 18 GG), - das Recht, Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG) und sonstige Vereinigungen (Art. 9 Abs. 2 GG) zu verbieten, wenn diese darauf abzielen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, - die Unabänderlichkeit wesentlicher Grundsätze der Verfassung wie zum Beispiel des Schutzes der Menschenwürde und fundamentaler Verfassungsgrundsätze (Art. 79 Abs. 3 GG). Die Einrichtung von Verfassungsschutzbehörden ist zusätzlicher Ausdruck der Entscheidung des Grundgesetzgebers für eine wehrhafte Demokratie. Er hat dem Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes (Art. 73 Nr. 10b und c GG) zugewiesen und ihn zur Einrichtung von Zentralstellen zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes (Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG) ermächtigt. 112 ALLGEMEINES Das Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz [BVerfSchG]; BGBl. 1990 Teil I, S. 295455) regelt unter anderem den gemeinsamen Aufgabenrahmen der Verfassungsschutzbehörden und ihre Zusammenarbeit. Das BVerfSchG verpflichtet die Länder zudem zur Einrichtung von Landesbehörden für den Verfassungsschutz. Die Länder haben ihre Verfassungsschutzbehörden entweder als Teil des Innenministeriums oder als selbständige Landesbehörde organisiert. Im April 1999 wurde die Aufgabe des Verfassungsschutzes in Sachsen-Anhalt auf das Ministerium des Innern übertragen, das zu diesem Zweck eine Abteilung unterhält. Die Einrichtung, Aufgaben und Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde werden durch das Gesetz über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt (VerfSchG-LSA) geregelt.56 Zudem wurden vom Bund das Gesetz zur Neuregelung von Beschränkungen des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (BGBl. 2001, Teil I, S. 1254ff.) und das Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (Terrorismusbekämpfungsgesetz; BGBl. 2002, Teil I, S. 361) verabschiedet. Beide Gesetze sind auch für die Arbeit der Landesbehörden für Verfassungsschutz relevant. Mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz wurde ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der den Verfassungsschutzbehörden weitere, effiziente Maßnahmen gegen den Terrorismus ermöglicht. 55 Zuletzt geändert durch das Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (Terrorismusbekämpfungsgesetz; BGBl. 2002, Teil I, S. 361). 56 Siehe Seite 119ff. 113 ALLGEMEINES Erreichbarkeit der Verfassungsschutzabteilung Ministerium des Innern Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt des Landes Sachsen-Anhalt Abteilung 5 oder Abteilung 5 Zuckerbusch 15 Postfach 18 49 39114 Magdeburg 39008 Magdeburg Telefon: 0391/567 3900 Telefax: 0391/567 3999. E-Mail: vschutz@mi.lsa-net.de Aufgaben des Verfassungsschutzes Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalts sind die Sammlung und die Auswertung von Informationen über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, 2. fortwirkende Strukturen und Tätigkeiten der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere des Ministeriums für Staatssicherheit oder des Amtes für Nationale Sicherheit, im Sinne der SSSS 94 bis 99, 129, 129a des Strafgesetzbuches, 3. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Geltungsbereich des Grundgesetzes, 114 ALLGEMEINES 4. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Zusätzlich wirkt die Verfassungsschutzbehörde auf Ersuchen der zuständigen öffentlichen Stellen bei Sicherheitsüberprüfungen und technischen Sicherheitsmaßnahmen mit. Keine polizeilichen Befugnisse Die Verfassungsschutzbehörde hat keine polizeilichen Befugnisse. Ihre Mitarbeiter sind also nicht berechtigt, zu verhören, zu verhaften, festzunehmen, anzuhalten, zu beschlagnahmen oder zu durchsuchen. Dies obliegt allein der Polizei. Die Verfassungsschutzbehörde darf auch nicht im Wege der Amtshilfe die Polizei um die Durchführung von Maßnahmen ersuchen, zu denen sie selbst nicht befugt ist. Methoden und Mittel nachrichtendienstlicher Tätigkeit Wo die offene Informationserhebung nicht möglich ist oder keinen Erfolg verspricht, darf die Verfassungsschutzbehörde unter den Voraussetzungen des SS 8 VerfSchG-LSA nachrichtendienstliche Mittel einsetzen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kann dann erforderlich werden, wenn eine Organisation oder Gruppierung sich nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit zusammenfindet oder sich generell konspirativ verhält, um ihre wahren Absichten zu verschleiern. Weil der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel einen Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Privatsphäre und die Freiheitsrechte des Einzelnen darstellt, ist er nur zulässig, wenn die Erforschung des Sachverhaltes auf andere, den Betroffenen weniger beeinträchtigende Weise nicht möglich ist und nicht erkennbar außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts steht. 115 ALLGEMEINES Die nachrichtendienstlichen Mittel sind in SS 7 Abs. 3 VerfSchG-LSA aufgeführt. Ein wichtiges nachrichtendienstliches Mittel ist die Brief-, Postund Telefonkontrolle. Hierdurch wird das Grundrecht nach Artikel 10 GG beschränkt. Die Verfassungsschutzbehörden sind durch Gesetz berechtigt, die Telekommunikation zu überwachen und aufzuzeichnen, sowie die dem Briefoder Postgeheimnis unterliegenden Sendungen zu öffnen und einzusehen. Der Einsatz dieses Mittels darf nur im genau definierten Umfang und nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Darüber hinaus ist die parlamentarische Kontrolle der angeordneten Beschränkungsmaßnahmen gesetzlich vorgeschrieben. Der Einsatz von so genannten Vertrauensleuten ist ein unverzichtbares, nachrichtendienstliches Mittel. Bei Vertrauensleuten (kurz: V-Leuten) handelt es sich um Personen, die gezielt zur verdeckten Beschaffung von Informationen über Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne von SS 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA eingesetzt werden. Der Einsatz von V-Leuten erfolgt nach Maßgabe der Gesetze und Verwaltungsvorschriften. Diese schließen eine Steuerung extremistischer Gruppierungen oder Organisationen durch V-Leute klar aus. Datenschutz Zur Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde erhobene personenbezogene Daten sind gemäß den im Verfassungsschutzgesetz enthaltenen datenschutzrechtlichen Bestimmungen zu behandeln. Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezogene Daten nicht unbefristet oder auf Vorrat speichern. War eine Speicherung in einer Datei unzulässig oder ist die Kenntnis der gespeicherten Daten zur Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich, ist eine Löschung vorzunehmen. In diesem Fall sind zugleich die zur Person geführten Akten zu vernichten. Daten von Minderjährigen unterliegen besonderen Schutzbestimmungen (vergleiche SSSS 10, 21 VerfSchGLSA). Personenbezogene Daten dürfen nur unter engen Voraus116 ALLGEMEINES setzungen an Dritte übermittelt werden. Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt den Strafverfolgungsbehörden personenbezogene Daten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Datenübermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten erforderlich ist. Auskunftserteilung Jedermann kann Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten beantragen. Die Verfassungsschutzbehörde ist nach SS 14 VerfSchG-LSA grundsätzlich verpflichtet, unentgeltlich Auskunft zu erteilen. Die Auskunft hat jedoch zu unterbleiben, wenn bestimmte, im Gesetz geregelte Ausschlussgründe vorliegen. Hierzu zählt beispielsweise der Fall, dass durch die Auskunftserteilung eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde drohen würde. Kontrolle Die Verfassungsschutzbehörde unterliegt der Kontrolle durch das Parlament, den Landesbeauftragten für den Datenschutz, den Landesrechnungshof und die Gerichte. Zusätzlich wird die Landesregierung auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes durch die Parlamentarische Kontrollkommission des Landtages kontrolliert. Die Landesregierung hat diese Kommission umfassend über die allgemeine Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu unterrichten. Die aus Abgeordneten des Landtages bestehende Kontrollkommission tritt mindestens vierteljährlich zusammen. Unter bestimmten Voraussetzungen hat sie das Recht auf Erteilung von Auskünften, Einsicht in Akten und andere Unterlagen, Zugang zu Einrichtungen der Verfassungsschutzbehörde sowie auf Anhörung von Auskunftspersonen. 117 ALLGEMEINES Darüber hinaus unterliegt die Verfassungsschutzbehörde einer faktischen, wenn auch nicht rechtlich institutionalisierten Kontrolle durch die Berichterstattung der Medien und die öffentliche Meinung. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Die Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes leistet in der notwendigen geistig-politischen Auseinandersetzung mit extremistischem und terroristischem Gedankengut einen wichtigen Beitrag, der letztlich dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland dient. Sie gewährleistet, dass Regierung und Parlament, aber auch die Bürger über die Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Organisationen informiert werden. Die Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes informiert auch in Vorträgen über - die Institution des Verfassungsschutzes und - die offen verwertbaren Ergebnisse der nachrichtendienstlichen Facharbeit. Im Berichtsjahr wurden erneut zahlreiche Vorträge und Diskussionsrunden in Bildungseinrichtungen von Referenten der Verfassungsschutzbehörde gestaltet. Der Unterrichtung der Öffentlichkeit dient der jährlich herausgegebene Verfassungsschutzbericht, der auch im Internet unter http://www.mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz als HTML-Version zur Verfügung steht. Zudem können dort die Verfassungsschutzberichte der letzten fünf Jahre heruntergeladen werden. 118 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ GESETZ ÜBER DEN VERFASSUNGSSCHUTZ IM LAND S ACHSEN-ANHALT (VerfSchG-LSA) vom 14. Juli 1992 (GVBl. LSA S. 590) zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung datenschutzrechtlicher Vorschriften vom 21. August 2001 (GVBl. LSA S. 348) Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: INHALTSÜBERSICHT Erster Teil: ORGANISATION UND AUFGABEN SS 1 Zweck des Verfassungsschutzes SS 2 Organisation und Zusammenarbeit SS 3 Bedienstete und Mitarbeiter SS 4 Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde SS 5 Begriffsbestimmungen Zweiter Teil: ERHEBUNG, VERARBEITUNG UND NUTZUNG PERSONENBEZOGENER DATEN SS 6 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit SS 7 Begriffsbestimmungen SS 8 Besondere Formen der Datenerhebung SS 9 Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten SS 10 Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten von Minderjährigen SS 11 Berichtigung, Löschung und Sperrung von personenbezogenen Daten in Dateien SS 12 Berichtigung und Sperrung personenbezogener Daten in Akten SS 13 (aufgehoben) Dritter Teil: AUSKUNFT SS 14 Auskunft an die betroffene Person 119 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Vierter Teil: INFORMATIONSÜBERMITTLUNG SS 15 Unterrichtungspflichten SS 16 Zulässigkeit von Ersuchen der Verfassungsschutzbehörde um Übermittlung personenbezogener Daten SS 17 Übermittlung von Informationen an die Verfassungsschutzbehörde SS 18 Übermittlung personenbezogener Daten durch die Verfassungsschutzbehörde SS 19 Übermittlung von Informationen durch die Verfassungsschutzbehörde an die Strafverfolgungsund Sicherheitsbehörden in Angelegenheiten des Staatsund Verfassungsschutzes SS 20 Übermittlungsverbote SS 21 Minderjährigenschutz SS 22 Pflichten des Dritten, an den übermittelt wird SS 23 Nachberichtspflicht SS 23a Weitergabe personenbezogener Daten Fünfter Teil: PARLAMENTARISCHE KONTROLLE SS 24 Parlamentarische Kontrollkommission SS 25 Zusammensetzung und Wahl SS 26 Verfahrensweise SS 27 Aufgaben und Befugnisse der Parlamentarischen Kontrollkommission SS 28 Beteiligung des Datenschutzbeauftragten SS 29 Datenerhebung bei Mitgliedern des Landtages Sechster Teil: SCHLUSSVORSCHRIFTEN SS 30 Geltung des Gesetzes zum Schutz personenbezogener Daten der Bürger SS 30a Einschränkung von Grundrechten SS 31 Inkrafttreten Erster Teil: ORGANISATION UND AUFGABEN SS1 Zweck des Verfassungsschutzes (1) Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder. 120 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ (2) Er hat die Landesregierung und andere Stellen nach Maßgabe dieses Gesetzes über Gefahren für diese Schutzgüter zu unterrichten. Dadurch sollen diese Stellen rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen ergreifen können. (3) Er hat auch die Öffentlichkeit über seine Aufgabenfelder zu unterrichten. SS2 Organisation und Zusammenarbeit (1) Die Aufgaben des Verfassungsschutzes werden von der Verfassungsschutzbehörde wahrgenommen. Verfassungsschutzbehörde ist das Ministerium des Innern. Es unterhält für diese Aufgabe eine besondere Abteilung. (2) Die für den Verfassungsschutz zuständige Abteilung im Ministerium des Innern nimmt ihre Aufgaben gesondert von der Polizeiorganisation wahr. (3) Sie ist verpflichtet, in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes mit dem Bund und den Ländern zusammenzuarbeiten. (4) Verfassungsschutzbehörden anderer Länder dürfen in Sachsen-Anhalt im Rahmen der Bestimmungen dieses Gesetzes nur im Einvernehmen, das Bundesamt für Verfassungsschutz nur im Benehmen mit der Verfassungsschutzbehörde tätig werden. SS3 Bedienstete und Mitarbeiter (1) Die Mitarbeiter der für den Verfassungsschutz zuständigen Abteilung im Ministerium des Innern haben sich einem Sicherheitsüberprüfungsverfahren zu unterziehen, welches insbesondere auf Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit oder das Amt für Nationale Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik überprüft und in das der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik einbezogen wird. (2) Personen, die dem Repressionsapparat der Deutschen Demokratischen Republik angehörten, insbesondere hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit oder des Amtes für Nationale Sicherheit, Mitarbeiter der Abteilung I der Kriminalpolizei und ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands dürfen nicht mit Aufgaben des Verfassungsschutzes betraut werden; Personen mit Offiziersrang der bewaffneten Organe der Deutschen Demokratischen Republik dürfen Aufgaben des Verfassungsschutzes nur in zu begründenden Ausnahmefällen übertragen werden. SS4 Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde (1) Aufgabe der Verfassungsschutzbehörde ist die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über 121 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, 2. fortwirkende Strukturen und Tätigkeiten der Aufklärungsund Abwehrdienste der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere des Ministeriums für Staatssicherheit oder des Amtes für Nationale Sicherheit, im Sinne der SSSS 94 bis 99, 129, 129a des Strafgesetzbuches, 3. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Geltungsbereich des Grundgesetzes, 4. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. (2) Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Ersuchen der zuständigen öffentlichen Stellen mit 1. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse anvertraut werden, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich verschaffen können, 2. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind oder werden sollen, welche das zuständige Ministerium im Einzelnen bestimmt hat, 3. bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gegen die Kenntnisnahme durch Unbefugte. Für die Mitwirkung des Verfassungsschutzes an der Sicherheitsüberprüfung nach Satz 1 ist die Einwilligung der betroffenen Person erforderlich. Ehegatten, Verlobte oder die Person, die mit der betroffenen Person in Lebensgemeinschaft zusammenlebt, dürfen in die Sicherheitsüberprüfungen ebenfalls nur mit ihrer Einwilligung einbezogen werden. (3) Die Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde gemäß Absatz 2 setzt im Einzelfall voraus, dass die betroffene Person und andere in die Überprüfung einbezogene Personen über Zweck und Verfahren der Überprüfung einschließlich der Verarbeitung der erhobenen Daten durch die beteiligten Dienststellen vorab unterrichtet werden. SS5 Begriffsbestimmungen (1) Es gelten folgende Begriffsbestimmungen: 122 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ a) Bestrebungen gegen den Bestand des Bundes oder eines Landes im Sinne dieses Gesetzes sind solche politisch bestimmten, zielund zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, die Freiheit des Bundes oder eines Landes von fremder Herrschaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes Gebiet abzutrennen. b) Bestrebungen gegen die Sicherheit des Bundes oder eines Landes im Sinne dieses Gesetzes sind solche politisch bestimmten zielund zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, den Bund, Länder oder deren Einrichtungen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen. c) Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes sind solche politisch bestimmten, zielund zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, einen der in Absatz 2 genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Für einen Personenzusammenschluss handelt, wer ihn in seinen Bestrebungen aktiv sowie zielund zweckgerichtet unterstützt. Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln, sind Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, wenn sie auf Anwendung von Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut dieses Gesetzes erheblich zu beschädigen. (2) Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes zählen: a) das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, b) die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, c) das Mehrparteienprinzip sowie das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, d) die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, e) die Unabhängigkeit der Gerichte, f) der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft und g) die im Grundgesetz und in der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt konkretisierten Menschenrechte. 123 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Zweiter Teil: ERHEBUNG, VERARBEITUNG UND NUTZUNG PERSONENBEZOGENER DATEN SS6 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Eine Maßnahme ist unverzüglich zu beenden, wenn ihr Zweck erreicht ist oder sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass er nicht oder nicht auf diese Weise erreicht werden kann. Von mehreren geeigneten Maßnahmen ist diejenige zu wählen, die die betroffene Person voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Eine Maßnahme darf keinen Nachteil herbeiführen, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht. SS7 Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten erheben, verarbeiten und nutzen, soweit nicht die anzuwendenden Bestimmungen des Gesetzes zum Schutz personenbezogener Daten der Bürger vom 12. März 1992 (GVBI. LSA S. 152) oder besondere Regelungen in diesem Gesetz entgegenstehen. (2) Voraussetzung für die Sammlung und Auswertung von Informationen ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des SS 4 Abs. 1. (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf mit nachrichtendienstlichen Mitteln, insbesondere durch Einsatz von Vertrauensleuten und Gewährspersonen, Observation, Bildund Tonaufzeichnungen und die Verwendung von Tarnpapieren und Tarnkennzeichen Informationen verdeckt erheben. Die nachrichtendienstlichen Mittel sind in einer Dienstvorschrift zu benennen, die auch die Zuständigkeit für die Anordnung solcher Informationsbeschaffung regelt. Die Dienstvorschrift ist der Parlamentarischen Kontrollkommission zu übersenden. (4) Die Behörden des Landes sind verpflichtet, den Verfassungsschutzbehörden technische und verwaltungsmäßige Hilfe für Tarnmaßnahmen zu leisten. (5) Polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse stehen der Verfassungsschutzbehörde nicht zu; sie darf die Polizei auch nicht im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen, zu denen sie selbst nicht befugt ist. (6) Werden personenbezogene Daten bei der betroffenen Person mit ihrer Kenntnis erhoben, so ist der Erhebungszweck anzugeben. Die betroffene Person ist auf die Freiwilligkeit ihrer Angaben und bei einer Sicherheitsüberprüfung nach SS 4 Abs. 2 auf eine dienst-, arbeitsrechtliche oder sonstige vertragliche Mitwirkungspflicht hinzuweisen. In der Neufassung vom 18. Februar 2002 (GVBl. LSA S. 54). 124 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ (7) Die Verfassungsschutzbehörde ist an die allgemeinen Rechtsvorschriften gebunden (Artikel 20 des Grundgesetzes). SS8 Besondere Formen der Datenerhebung (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf Informationen einschließlich personenbezogener Daten mit nachrichtendienstlichen Mitteln erheben, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass 1. auf diese Weise Erkenntnisse über Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 4 Abs. 1 oder die zur Erforschung solcher Erkenntnisse erforderlichen Nachrichtenzugänge gewonnen werden können oder 2. dies zum Schutz der Mitarbeiter, Einrichtungen, Gegenstände und Nachrichtenzugänge der Verfassungsschutzbehörde gegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist. Die Erhebung nach Satz 1 ist nur zulässig, wenn die Daten nicht auf andere, die betroffene Person weniger beeinträchtigende Weise erhoben werden können. Die Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel darf nicht erkennbar außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhaltes stehen. (2) Das in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochene Wort darf mit technischen Mitteln nur heimlich mitgehört oder aufgezeichnet werden, wenn es im Einzelfall zur Abwehr einer gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenwärtigen Gefahr für das Leben einzelner Personen unerlässlich ist und geeignete verwaltungsbehördliche oder polizeiliche Hilfe für das bedrohte Rechtsgut nicht rechtzeitig erlangt werden kann. Satz 1 gilt entsprechend für einen verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen in einer Wohnung. Die Anordnung des Einsatzes technischer Mittel nach Satz 1 und 2 trifft der Richter. Bei Gefahr im Verzug kann der Minister des Innern oder der Staatssekretär im Ministerium des Innern einen solchen Einsatz anordnen; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. Die Anordnung ist auf längstens drei Monate zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als weitere drei Monate sind auf Antrag zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vor oder ist der verdeckte Einsatz technischer Mittel zur Informationsgewinnung nicht mehr erforderlich, so ist die Maßnahme unverzüglich zu beenden. Ein Eingriff nach Satz 1 oder 2 ist der betroffenen Person nach seiner Beendigung mitzuteilen, wenn eine Gefährdung des Zweckes des Eingriffes ausgeschlossen werden kann. (3) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutz der bei einem Einsatz in Wohnungen für den Verfassungsschutz tätigen Personen vorgesehen, kann der Minister des Innern oder eine von diesem beauftragte Person deren Einsatz anordnen. Eine anderweitige Verwendung der hierbei erlangten Erkenntnisse zu Zwecken der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung ist nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme richterlich festgestellt ist; bei Gefahr im Verzug ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. 125 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ (4) Zuständiges Gericht für Entscheidungen nach den Absätzen 2 und 3 ist das Amtsgericht am Sitz der Verfassungsschutzbehörde. Für das Verfahren gelten die Vorschriften des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit entsprechend. (5) Das Ministerium des Innern unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission über die nach Absatz 2 und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 3 angeordnete Maßnahmen. (6) Gegen Unbeteiligte dürfen nachrichtendienstliche Mittel nicht gezielt angewendet werden. SS9 Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Erfüllung ihrer Aufgaben personenbezogene Daten in Dateien und Akten speichern, verändern und nutzen, wenn 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 4 Abs. 1 vorliegen, 2. dies für die Erforschung und Bewertung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 4 Abs. 1 erforderlich ist oder 3. die Verfassungsschutzbehörde nach SS 4 Abs. 2 tätig wird. (2) Zur Aufgabenerfüllung nach SS 4 Abs. 2 dürfen in automatisierten Dateien nur personenbezogene Daten über die Personen gespeichert werden, die der Sicherheitsüberprüfung unterliegen oder in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen werden. (3) Die Speicherung von Informationen aus der engeren Persönlichkeitssphäre der betroffenen Personen in Dateien ist unzulässig. (4) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Speicherungsdauer auf das für ihre Aufgabenerfüllung erforderliche Maß zu beschränken. SS 10 Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten von Minderjährigen Daten über das Verhalten einer Person vor Vollendung des 16. Lebensjahres dürfen in Dateien nicht gespeichert werden. Daten über das Verhalten einer Person nach Vollendung des 16. und vor Vollendung des 18. Lebensjahres sind spätestens zwei Jahre nach der Erkenntnis auf die Erforderlichkeit der Speicherung zu überprüfen und spätestens nach fünf Jahren zu löschen, es sei denn, dass nach Eintritt der Volljährigkeit weitere Erkenntnisse nach SS 4 Abs. 1 angefallen sind. Für die Führung von Akten zu Minderjährigen gelten Satz 1 und 2 entsprechend. 126 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ SS 11 Berichtigung, Löschung und Sperrung von personenbezogenen Daten in Dateien (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien gespeicherten personenbezogenen Daten zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind. (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien gespeicherten personenbezogenen Daten zu löschen, wenn ihre Speicherung unzulässig war oder ihre Kenntnis für die Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich ist. In diesem Fall sind auch die zu ihrer Person geführten Akten zu vernichten. Die Löschung unterbleibt, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass durch sie schutzwürdige Interessen der betroffenen Person beeinträchtigt würden. In diesem Falle sind die Daten zu sperren. Sie dürfen nur noch mit Einwilligung der betroffenen Person übermittelt werden. (3) Die Verfassungsschutzbehörde prüft bei der Einzelfallbearbeitung und nach festgesetzten Fristen, spätestens nach fünf Jahren, ob gespeicherte personenbezogene Daten zu berichtigen oder zu löschen sind. Gespeicherte personenbezogene Daten über Bestrebungen nach SS 4 Abs. 1 Nrn. 1, 2 oder 4 sind spätestens zehn Jahre nach dem Zeitpunkt der letzten gespeicherten relevanten Information zu löschen, es sei denn, der Behördenleiter begründet im Einzelfall ausnahmsweise eine andere Entscheidung und legt die Prüffrist erneut fest. (4) Personenbezogene Daten, die ausschließlich zu Zwecken der Datenschutzkontrolle, der Datensicherung oder zur Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Betriebes einer Datenverarbeitungsanlage gespeichert werden, dürfen nur für diese Zwecke verwendet werden. SS 12 Berichtigung und Sperrung personenbezogener Daten in Akten (1) Stellt die Verfassungsschutzbehörde fest, dass in Akten gespeicherte personenbezogene Daten unrichtig sind, oder wird ihre Richtigkeit von der betroffenen Person bestritten, so ist dies in der Akte zu vermerken oder auf sonstige Weise festzuhalten. (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat personenbezogene Daten zu sperren, wenn sie im Einzelfall feststellt, dass ohne die Sperrung schutzwürdige Interessen der betroffenen Person beeinträchtigt würden und die Daten für ihre künftige Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich sind. Gesperrte Daten sind mit einem entsprechenden Vermerk zu versehen; sie dürfen nicht mehr genutzt oder übermittelt werden. Eine Aufhebung der Sperrung ist möglich, wenn ihre Voraussetzungen entfallen. SS 13 Dateianordnungen (aufgehoben) 127 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Dritter Teil: AUSKUNFT SS 14 Auskunft an die betroffene Person (1) Die Verfassungsschutzbehörde erteilt der betroffenen Person über zu ihrer Person gespeicherte Daten auf Antrag unentgeltlich Auskunft. Die von der betroffenen Person nach Satz 1 mitgeteilten Informationen dürfen nur zum Zwecke der Prüfung des Auskunftsbegehrens verwendet werden. (2) Die Auskunftserteilung unterbleibt, soweit 1. eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch die Auskunftserteilung zu besorgen ist, 2. durch die Auskunftserteilung Nachrichtenzugänge gefährdet sein können oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise der Verfassungsschutzbehörde zu befürchten ist, 3. die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder 4. die Daten oder die Tatsache der Speicherung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, insbesondere wegen der überwiegenden berechtigten Interessen eines Dritten geheim gehalten werden müssen. Die Entscheidung trifft der Leiter der für den Verfassungsschutz zuständigen Abteilung im Ministerium des Innern oder ein von ihm besonders beauftragter Mitarbeiter. (3) Die Auskunftserteilung erstreckt sich nicht auf die Herkunft der Daten und die Empfänger von Übermittlungen. (4) Die Ablehnung der Auskunftserteilung bedarf keiner Begründung, soweit dadurch der Zweck der Auskunftsverweigerung gefährdet würde. Die Gründe der Auskunftsverweigerung sind aktenkundig zu machen. Wird die Auskunftserteilung abgelehnt, ist die betroffene Person auf die Rechtsgrundlage für das Fehlen der Begründung und darauf hinzuweisen, dass sie sich an den Landesbeauftragten für den Datenschutz wenden kann. Dem Landesbeauftragten für den Datenschutz ist auf sein Verlangen Auskunft zu erteilen, soweit nicht das Ministerium des Innern im Einzelfall feststellt, dass dadurch die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährdet würde. Mitteilungen des Landesbeauftragten an die betroffene Person dürfen keine Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand der Verfassungsschutzbehörde zulassen, sofern sie nicht einer weitergehenden Auskunft zustimmt. Der Landesbeauftragte kann die Parlamentarische Kontrollkommission unterrichten, wenn sich für ihn im Einzelfall Beanstandungen ergeben, eine Auskunft an die betroffene Person aber aus Geheimhaltungsgründen unterbleiben muss. 128 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Vierter Teil: INFORMATIONSÜBERMITTLUNG SS 15 Unterrichtungspflichten (1) Die Landesregierung unterrichtet den Landtag mindestens einmal jährlich über Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 4 Abs. 1. (2) Das Ministerium des Innern unterrichtet die Öffentlichkeit über Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 4 Abs. 1. (3) Es darf dabei auch personenbezogene Daten bekannt geben, wenn die Bekanntgabe für das Verständnis des Zusammenhanges oder der Darstellung von Organisationen oder unorganisierten Gruppen erforderlich ist und überwiegende schutzwürdige Interessen der betroffenen Person nicht entgegenstehen. SS 16 Zulässigkeit von Ersuchen der Verfassungsschutzbehörde um Übermittlung personenbezogener Daten (1) Werden öffentliche Stellen, die nicht Nachrichtendienste sind, um Übermittlung personenbezogener Daten ersucht, so dürfen nur die Daten übermittelt werden, die bei der ersuchten Behörde bekannt sind oder aus allgemein zugänglichen Quellen entnommen werden können. (2) Absatz 1 gilt nicht für Ersuchen um solche Daten, die bei der Wahrnehmung grenzpolizeilicher Aufgaben bekannt werden. (3) Die Verfassungsschutzbehörde braucht Ersuchen nicht zu begründen, soweit dies dem Schutz der betroffenen Person dient oder eine Begründung den Zweck der Maßnahme gefährden würde. (4) Soweit nach anderen Rechtsvorschriften ein Übermittlungsersuchen durch den Behördenleiter zu stellen ist oder von seiner Ermächtigung abhängt, gilt als Behördenleiter der Leiter der für den Verfassungsschutz zuständigen Abteilung des Ministeriums des Innern. SS 17 Übermittlung von Informationen an die Verfassungsschutzbehörde (1) Öffentliche Stellen des Landes unterrichten von sich aus die Verfassungsschutzbehörde über die ihnen bekannt gewordenen Tatsachen, die sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht oder Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes erkennen lassen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen gegen die in SS 4 Abs. 1 Nrn. 1 und 4 genannten Schutzgüter gerichtet sind. 129 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ (2) Die Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftlichen Sachleitungsbefugnis, die Polizei übermitteln darüber hinaus von sich aus der Verfassungsschutzbehörde auch alle anderen ihnen bekannt gewordenen Informationen einschließlich personenbezogener Daten über Bestrebungen nach SS 4 Abs. 1, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung für die Erfüllung der Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde erforderlich ist. (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Erfüllung ihrer Aufgaben die Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftlichen Sachleitungsbefugnis, die Polizei sowie andere Behörden um Übermittlung der zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten ersuchen, wenn sie nicht aus allgemein zugänglichen Quellen oder nur mit übermäßigem Aufwand oder nur durch eine die betroffene Person stärker belastende Maßnahme erhoben werden können. Die Ersuchen sind aktenkundig zu machen. Unter den gleichen Voraussetzungen darf die Verfassungsschutzbehörde 1. Behörden des Bundes und der bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts, 2. Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftlichen Sachleitungsbefugnis, Polizeien des Bundes und anderer Länder um die Übermittlung solcher Informationen ersuchen. (4) Würde durch die Übermittlung nach Absatz 3 der Zweck der Maßnahme gefährdet oder die betroffene Person unverhältnismäßig beeinträchtigt, darf die Verfassungsschutzbehörde bei der Wahrnehmung der Aufgaben nach SS 4 Abs. 1 Nrn. 2 bis 4 sowie bei der Beobachtung terroristischer Bestrebungen amtliche Register einsehen. (5) Über die Einsichtnahme nach Absatz 4 hat die Verfassungsschutzbehörde einen Nachweis zu führen, aus dem der Zweck und die Veranlassung, die ersuchte Behörde und die Aktenfundstelle hervorgehen; die Nachweise sind gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr ihrer Erstellung folgt, zu vernichten. (6) Die Übermittlung personenbezogener Daten, die aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a der Strafprozessordnung bekannt geworden sind, ist nach den Vorschriften der Absätze 1 bis 3 nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass jemand eine der in SS 2 des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. Auf die der Verfassungsschutzbehörde nach Satz 1 übermittelten Kenntnisse und Unterlagen findet SS 7 Abs. 3 und 4 des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz entsprechende Anwendung. (7) Übermittelte Informationen hat die Verfassungsschutzbehörde eigenständig zu bewerten. Die Fassung berücksichtigt nicht die aufgrund des Artikel 10 Gesetz-G10 vom 26. Juni 2001 erfolgten Änderungen (BGBl. S. 1254). 130 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ SS 18 Übermittlung personenbezogener Daten durch die Verfassungsschutzbehörde (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezogene Daten an öffentliche Stellen übermitteln, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist oder der Empfänger die Daten zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder sonst für Zwecke der öffentlichen Sicherheit benötigt. Der Empfänger darf die übermittelten Daten, soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt wurden. (2) Auf Anfragen der Einstellungsbehörden erteilt der Verfassungsschutz auch Auskünfte zur Überprüfung der Verfassungstreue von Personen, die sich für den öffentlichen Dienst bewerben. Die Auskunft ist beschränkt auf gerichtsverwertbare Tatsachen aus vorhandenen Unterlagen. (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezogene Daten an ausländische Stellen sowie an überund zwischenstaatliche Stellen übermitteln, wenn die Übermittlung zur Erfüllung ihrer Aufgaben oder zur Wahrung erheblicher Sicherheitsinteressen des Empfängers erforderlich ist. Die Übermittlung unterbleibt, wenn auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland oder überwiegende schutzwürdige Interessen der betroffenen Person, insbesondere wegen der Gefahr einer rechtsstaatswidrigen Verfolgung, entgegenstehen. Die Übermittlung ist aktenkundig zu machen. Der Empfänger ist darauf hinzuweisen, dass die übermittelten Daten nur zu dem Zweck verwendet werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt wurden und die Verfassungsschutzbehörde sich vorbehält, über die vorgenommene Verwendung der Daten um Auskunft zu bitten. (4) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Rahmen ihrer Aufgaben nach SS 4 personenbezogene Daten an andere Stellen übermitteln, soweit dies für die Erhebung personenbezogener Daten erforderlich ist. Im Übrigen dürfen personenbezogene Daten an andere Stellen nicht übermittelt werden, es sei denn, dass dies zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder ferner zur Abwehr von sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Tätigkeiten einer fremden Macht erforderlich ist und das Ministerium des Innern seine Zustimmung erteilt hat. Der Empfänger darf die übermittelten Daten nur für den Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt wurden. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, dass die Verfassungsschutzbehörde sich vorbehält, über die vorgenommene Verwendung der Daten um Auskunft zu bitten. SS 19 Übermittlung von Informationen durch die Verfassungsschutzbehörde an Strafverfolgungsund Sicherheitsbehörden in Angelegenheiten des Staatsund Verfassungsschutzes (1) Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt den Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftlichen Sachleitungsbefugnis, der Polizei von sich aus die ihr bekannt gewordenen Informationen einschließlich personenbezogener Daten, wenn tat131 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ sächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten erforderlich ist. (2) Delikte nach Absatz 1 sind 1. die in SSSS 74a und 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes genannten Straftaten, 2. alle Straftaten, bei denen aufgrund ihrer Zielsetzung, des Motivs des Täters oder dessen Verbindung zu einer Organisation tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, a) dass sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten, b) dass es sich um Bestrebungen handelt, die durch Anwendung von Gewalt oder durch darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden (Artikel 73 Nr. 10 Buchst. b und c des Grundgesetzes). (3) Die Polizei darf zur Verhinderung von Staatsschutzdelikten nach Absatz 2 die Verfassungsschutzbehörde um Übermittlung der erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten ersuchen. (4) Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt dem Bundesnachrichtendienst und dem Militärischen Abschirmdienst Informationen einschließlich personenbezogener Daten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben dieser Stellen erforderlich ist (SS 21 Abs. 2 des Bundesverfassungsschutzgesetzes). SS 20 Übermittlungsverbote Die Übermittlung nach den Vorschriften dieses Teils unterbleibt, wenn 1. für die übermittelnde Stelle erkennbar ist, dass unter Berücksichtigung der Art der Informationen, insbesondere bei Daten aus der engeren Persönlichkeitssphäre, und ihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen der betroffenen Person das Allgemeininteresse an der Übermittlung überwiegen, 2. überwiegende Sicherheitsinteressen dies erfordern oder 3. besondere gesetzliche Übermittlungsregelungen entgegenstehen, insbesondere wenn die Informationen zu löschen waren. Die Verpflichtung zur Wahrung gesetzlicher Geheimhaltungspflichten oder von Berufsoder besonderen Amtsgeheimnissen, die nicht auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, bleibt unberührt. 132 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ SS 21 Minderjährigenschutz (1) Informationen einschließlich personenbezogener Daten über das Verhalten Minderjähriger dürfen nach den Vorschriften dieses Gesetzes übermittelt werden, solange die Voraussetzungen der Speicherung nach SS 10 erfüllt sind. Liegen die Voraussetzungen nicht mehr vor, bleibt eine Übermittlung nur zulässig, wenn sie zur Abwehr einer erheblichen Gefahr oder zur Verfolgung einer Straftat von erheblicher Bedeutung erforderlich ist. (2) Informationen einschließlich personenbezogener Daten über Minderjährige vor Vollendung des 16. Lebensjahres aus nicht zur Person geführten Akten dürfen an ausländische, überoder zwischenstaatliche Stellen nicht übermittelt werden. SS 22 Pflichten des Dritten, an den übermittelt wird Der Dritte, an den übermittelt wird, prüft, ob die nach den Vorschriften dieses Gesetzes übermittelten personenbezogenen Daten für die Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich sind. Ergibt die Prüfung, dass sie nicht erforderlich sind, hat er die Unterlagen zu vernichten. Die Vernichtung kann unterbleiben, wenn die Trennung von anderen Informationen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand möglich ist; in diesem Fall sind die Daten zu sperren und in den Akten entsprechend zu kennzeichnen. SS 23 Nachberichtspflicht Erweisen sich personenbezogene Daten nach ihrer Übermittlung als unvollständig oder unrichtig, so sind sie unverzüglich gegenüber dem Dritten, an den die Daten übermittelt wurden, zu berichtigen, es sei denn, dass dies für die Beurteilung eines Sachverhaltes ohne Bedeutung ist. SS 23a Weitergabe personenbezogener Daten Für die Weitergabe personenbezogener Daten zwischen der für den Verfassungsschutz zuständigen Abteilung und den anderen Abteilungen des Ministeriums des Innern gelten die SSSS 16 bis 23 entsprechend. Fünfter Teil: PARLAMENTARISCHE KONTROLLE SS 24 Parlamentarische Kontrollkommission (1) Die Landesregierung unterliegt auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes der Kontrolle durch den Landtag. Diese Aufgabe nimmt die Parlamentarische Kontrollkommission wahr. 133 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ (2) Die Rechte des Landtages und seiner Ausschüsse bleiben unberührt. SS 25 Zusammensetzung und Wahl (1) Die Parlamentarische Kontrollkommission besteht aus drei Abgeordneten des Landtages. Der größten Oppositionsfraktion steht ein Sitz in der Kontrollkommission zu. (2) Der Landtag wählt die Mitglieder der Kommission sowie die gleiche Zahl von Stellvertretern mit der Mehrheit seiner Abgeordneten. (3) Die Parlamentarische Kontrollkommission übt ihre Tätigkeit auch über das Ende der Wahlperiode des Landtages solange aus, bis der nachfolgende Landtag eine neue Parlamentarische Kontrollkommission gewählt hat. (4) Scheidet ein Mitglied oder ein stellvertretendes Mitglied aus dem Landtag aus oder wird es Mitglied der Landesregierung, so verliert es seine Mitgliedschaft in der Kommission; es ist unverzüglich ein neues Mitglied oder ein neues stellvertretendes Mitglied zu wählen. Das Gleiche gilt, wenn ein Mitglied oder ein stellvertretendes Mitglied aus der Kommission ausscheidet. SS 26 Verfahrensweise (1) Die Beratungen der Parlamentarischen Kontrollkommission sind geheim. Die Mitglieder und ihre Stellvertreter sind zur Geheimhaltung der Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen bei ihrer Tätigkeit in der Parlamentarischen Kontrollkommission bekannt geworden sind. Dies gilt auch für die Zeit nach dem Ausscheiden aus der Kommission. Die Pflicht zur Geheimhaltung gilt nicht für die Bewertung aktueller Vorgänge, wenn eine Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission ihre vorherige Zustimmung erteilt. (2) Die Kommission tritt mindestens vierteljährlich, zusätzlich auf Antrag eines Mitgliedes zusammen. (3) Sie wählt einen Vorsitzenden und gibt sich eine Geschäftsordnung. Diese regelt auch, unter welchen Voraussetzungen Sitzungsunterlagen und Protokolle von den Mitgliedern der Kommission und ihren Stellvertretern eingesehen werden können. SS 27 Aufgaben und Befugnisse der Parlamentarischen Kontrollkommission (1) Die Landesregierung unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission umfassend über die allgemeine Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde und über Vorgänge von besonderer Bedeutung. Hierzu gehört auch das Tätigwerden von Verfassungsschutzbehörden anderer Länder und des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt. Sie berichtet auch über den Erlass von Verwaltungsvorschriften. Die Entwürfe der jährlichen 134 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Wirtschaftspläne der Verfassungsschutzbehörde werden der Kommission zur Mitberatung überwiesen. Die Landesregierung unterrichtet die Kommission über den Vollzug der Wirtschaftspläne im Haushaltsjahr. Die Kommission hat das Recht, von sich aus Sachverhalte aufzugreifen. (2) Die Kommission hat auf Antrag mindestens eines ihrer Mitglieder das Recht auf Erteilung von Auskünften, Einsicht in Akten und andere Unterlagen, Zugang zu Einrichtungen der Verfassungsschutzbehörde sowie auf Anhörung von Auskunftspersonen. Der Minister des Innern kann einem bestimmten Kontrollbegehren widersprechen, wenn es im Einzelfall die Erfüllung der Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde erheblich gefährden würde; er hat dies vor dem Ausschuss schlüssig zu begründen. Die besonderen Rechte parlamentarischer Untersuchungsausschüsse bleiben unberührt. (3) Die Kontrolle der Durchführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz bleibt der in SS 3 des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz im Land Sachsen-Anhalt vom 27. April 1993 (GVBl. LSA S. 202), geändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom 30. März 1999 (GVBl. LSA S. 120, S. 122), genannten Kommission nach den dortigen Bestimmungen vorbehalten. (4) Die Parlamentarische Kontrollkommission erstattet dem Landtag in der Mitte und am Ende jeder Wahlperiode einen Bericht über ihre bisherige Kontrolltätigkeit. Dabei sind die Grundsätze des SS 26 Abs. 1 zu beachten. SS 28 Beteiligung des Datenschutzbeauftragten Die Parlamentarische Kontrollkommission hat auf Antrag eines Mitgliedes den Landesbeauftragten für den Datenschutz zu beauftragen, die Rechtmäßigkeit einzelner Maßnahmen, die die Verfassungsschutzbehörde durchgeführt hat, zu überprüfen. Die Befugnisse des Beauftragten richten sich nach den Bestimmungen des Gesetzes zum Schutz personenbezogener Daten der Bürger. SS 29 Datenerhebungen bei Mitgliedern des Landtages (1) Setzt die Verfassungsschutzbehörde nachrichtendienstliche Mittel gegen ein Mitglied des Landtages von Sachsen-Anhalt ein, hat der Minister des Innern die Parlamentarische Kontrollkommission und den Präsidenten des Landtages unverzüglich hiervon zu unterrichten. (2) Im Falle des Absatz 1 sind der betroffenen Person nachrichtendienstliche Maßnahmen nach ihrer Einstellung mitzuteilen, wenn eine Gefährdung des Zwecks der Maßnahme ausgeschlossen werden kann. Lässt sich in diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend beurteilen, ob diese Voraussetzung vorliegt, ist die Mitteilung vorzunehmen, sobald eine Gefährdung des Zwecks der Maßnahme ausgeschlossen werden kann. 135 VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Sechster Teil: SCHLUSSVORSCHRIFTEN SS 30 Geltung des Gesetzes zum Schutz personenbezogener Daten der Bürger Bei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 4 durch die Verfassungsschutzbehörde finden die SSSS 7 und 9 bis 13, 15, 16 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zum Schutz personenbezogener Daten der Bürger keine Anwendung. SS 30a Einschränkung von Grundrechten Aufgrund dieses Gesetzes können die Grundrechte auf 1. Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 des Grundgesetzes und Artikel 17 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt), 2. Schutz personenbezogener Daten (Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt) eingeschränkt werden. SS 31 Inkrafttreten Dieses Gesetz tritt vierzehn Tage nach seiner Verkündung in Kraft. 136 STATISTIK STRAFUND GEWALTTATENSTATISTIK57 Vorbemerkung: Bei den statistischen Angaben zu den Strafund Gewalttaten handelt es sich um Zahlen, die dem Landeskriminalamt im Rahmen des kriminalpolizeilichen Meldedienstes "Politisch motivierte Kriminalität" zu übermitteln sind. Dieser Meldedienst beruht auf einem bundesweit einheitlichen Definitionssystem, das die Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) am 10. Mai 2001 beschlossen und rückwirkend zum 1. Januar 2001 eingeführt hat. Danach werden Straftaten nach einem einheitlichen Kriterienkatalog erfasst und einem Phänomenbereich (im Wesentlichen Politisch motivierte Kriminalität -links-, Politisch motivierte Kriminalität -rechts-, Politisch motivierte Ausländerkriminalität) zugeordnet. Zentrales Erfassungskriterium ist die politisch motivierte Tat. Der extremistischen Kriminalität - als Teilmenge der politisch motivierten Kriminalität - werden Straftaten zugerechnet, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, das heißt darauf, fundamentale Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Kraft zu setzen. In Sachsen-Anhalt wurden im Berichtsjahr in den Phänomenbereichen Politisch motivierte Kriminalität -links-, Politisch motivierte Kriminalität -rechtsund Politisch motivierte Ausländerkriminalität insgesamt 856 (Vorjahr: 648) Straftaten registriert. 58 Diese verteilen sich wie folgt: 57 Alle in dieser Statistik aufgeführten Daten entsprechen dem Stand 31. Januar 2005. 58 45 Delikte konnten bisher keinem Phänomenbereich zugeordnet werden, so dass sie bei der Darstellung der Strafund Gewalttaten unberücksichtigt geblieben sind. 137 STATISTIK Politisch motivierte Straftaten 2003 2004 nach Phänomenbereich -rechts571 758 -links75 86 Ausländerkriminalität 2 12 Davon waren: Extremistische Straftaten 2003 2004 nach Phänomenbereich -rechts559 741 -links50 32 Ausländerkriminalität 1 7 Politisch motivierte Gewalttaten 2003 2004 nach Phänomenbereich -rechts53 73 -links24 16 Ausländerkriminalität 1 2 Von den genannten politisch motivierten Gewalttaten waren: Extremistische Gewalttaten 2003 2004 nach Phänomenbereich -rechts50 71 -links23 13 Ausländerkriminalität 1 0 Fremdenfeindliche und antisemitische 2003 2004 Straftaten im Phänomenbereich -rechts-59 Fremdenfeindliche Straftaten 107 115 Antisemitische Straftaten 25 51 59 Mit Umstellung der statistischen Erfassung zum 1. Januar 2001 kann es zur Doppelerfassung einer Straftat als fremdenfeindliche und als antisemitische Straftat kommen. 138