VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2023 1 Verfassungsschutzbericht 2023 4 VERFASSUNGSSCHUTZ BERICHT 2023 ISSN 0948-8723 5 VORWORT Liebe Leserinnen und Leser, unsere Demokratie und die Sicherheit unseres Landes sehen sich Bedrohungen durch Extremisten sowie autoritären und diktatorischen Regimen gegenüber, wie es sie in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und von Rheinland-Pfalz lange nicht gegeben hat. Rechtsextremisten treffen sich im Geheimen, um zu erörtern, wie sich möglichst viele Menschen in ihre Herkunftsländer zurückführen lassen, die nicht ihrem völkisch-rassistischen Weltbild entsprechen. In Rheinland-Pfalz haben die "AlternaMichael Ebling Minister des Innern und für Sport tive für Deutschland" (AfD), ihre Jugendorganisation "Junge Alternative für Deutschland" (JA) und extremistische Akteure der "Neuen Rechten" versucht, in Mainz einen Ort der bundesweiten Vernetzung zu schaffen. Im sogenannten "Zentrum Rheinhessen" kamen Gruppierungen und Personen zusammen, die aus ihrer Weltanschauung keinen Hehl machten. Die Stadt Mainz untersagte die Nutzung aus baurechtlichen Gründen, das Mietverhältnis wurde beendet. Die öffentlich kommunizierten Bestrebungen, eine neue Lokalität zu etablieren, hat der Verfassungsschutz genau im Blick. 6 Vorwort Die beiden Beispiele zeigen: Die Szene übt den Schulterschluss. Sie tut dies in einer Zeit der Krisen und Verunsicherung, in der laut der Mitte-Studie 2022/2023 rund acht Prozent der Bevölkerung ein rechtsextremistisches Weltbild teilen. Mich besorgt, dass auch immer mehr junge Menschen rechtsextreme Einstellungen aufweisen. Viele Rechtsextremisten sehen ihre Gelegenheit gekommen, um Menschen für ihre Verschwörungserzählungen wie die vom imaginären "Großen Austausch" der "weißen" Bevölkerung gegen Einwanderinnen und Einwanderer, zu gewinnen. Mehr denn je benötigen wir deshalb einen effizient und effektiv arbeitenden Verfassungsschutz, der die Feinde unserer pluralistischen Demokratie genau im Blick behält und vor ihren Machenschaften warnt. Doch die Sicherheitsbehörden allein können das Problem nicht lösen. Sie sind auf eine aktive Zivilgesellschaft und engagierte Bürgerinnen und Bürger angewiesen, die sich klar gegen rechtsextreme Bedrohungsallianzen stellen und zeigen, dass die große Mehrheit Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus ablehnt. Die Demonstrationen seit Jahresbeginn 2024 machen Mut. Die gegen unsere Demokratie gerichteten Allianzen reichen indes über das rechtsextremistische Spektrum hinaus. In geschlossenen Chatgruppen vernetzen sich Rechtsextremisten mit "Reichsbürgern" und "Delegitimierern", die ein krudes Verschwörungsdenken, bisweilen mit einer antisemitischen Prägung, und eine tief sitzende Demokratiefeindlichkeit zusammenführen. Unsere Sicherheitsbehörden sind solchen Personenzusammenschlüssen nicht zuletzt im Internet auf der Spur. Über die maßgeblich durch den rheinland-pfälzischen Verfassungsschutz aufgedeckte Gruppierung "Vereinte Patrioten" wird seit Mai 2023 vor dem Oberlandesgericht Koblenz verhandelt. 7 Neben Rechtsextremisten und ihren Allianzen mit "Reichsbürgern" und "Delegitimierern" stellen Islamisten die größte Herausforderung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung dar. Die HAMAS hat uns dies mit ihrem Terrorangriff gegen Jüdinnen und Juden in Israel am 7. Oktober auf erschreckende Weise vor Augen geführt. Auch die abstoßenden, vielfach zutiefst antisemitisch geprägten Sympathiebekundungen und die Zustimmung, die diese Handlungen auf den Straßen und in den sozialen Medien gefunden haben, erschrecken. Nichts rechtfertigt den Tod unschuldiger Menschen. Wer solche Handlungen gutheißt oder gar glorifiziert, der macht nicht von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch, sondern sich selbst vielmehr gemein mit den Tätern und ihren Gräueltaten. Das im November 2023 ausgesprochene Betätigungsverbot für die HAMAS und das internationale Netzwerk "Samidoun - Palestinian Solidarity Network" in Deutschland ist deshalb nur folgerichtig. Die Verbote ändern nichts daran, dass wir wachsam bleiben müssen. Die Terrorgefahr 2023 in Deutschland hat sich im Vergleich zum Jahr davor erhöht. Antisemitismus ist ein wesentlicher Teil der islamistischen und rechtsextremistischen Weltanschauung. Er muss weiter bekämpft werden, egal ob er rechtsextremistisch, religiös oder, wenngleich deutlich seltener, linksextremistisch motiviert ist. Allerdings ist die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal von bestimmten Extremisten. Antisemitische Einstellungen, Stereotype und Verschwörungserzählungen, wie zum Beispiel, "die Juden" zögen im Geheimen die Fäden und Politikerinnen und Politiker seien nur ihre Marionetten, kommen in beträchtlichem Ausmaß auch in der Mitte der Gesellschaft vor. Wir haben angesichts des Holocausts eine besondere, historisch gewachsene Verantwortung, dem Antisemitismus, wo immer er sich Bahn bricht, zu begegnen und ihn einzudämmen. Der Verfassungsschutz wird daher bei der Beobachtung extremistischer Bestrebungen weiterhin ein besonderes Augenmerk auf Antisemitismus legen. Gleiches gilt für unsere Polizei. 8 Vorwort Außer Extremisten agieren fremde staatliche Akteure und Nachrichtendienste gegen die Demokratie und die Innere Sicherheit Deutschlands. Vor allem Russland versucht nach wie vor durch Cyberangriffe, Desinformation und Spionageaktivitäten das politische System unseres Landes zu destabilisieren und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in selbiges zu erschüttern. Russland ist auf diesem Feld aber längst nicht die einzige Bedrohung. Auch China, Iran und ihre Nachrichtendienste sind auf vielfältige Weise in Deutschland aktiv, um ihre Interessen durchzusetzen. Gerade China entfaltet breit gefächerte Ausspähund Einflussaktivitäten. Und diese dürften in den kommenden Jahren noch zunehmen. Dies umfasst auch ein gesteigertes Interesse an der Ausspähung der deutschen Politik. Der Verfassungsschutzbericht 2023 informiert Sie, liebe Leserinnen und Leser, über diese und viele andere Entwicklungen sowie verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen. Gerade in dieser Zeit zunehmender Bedrohungen ist es wichtig, wachsam zu bleiben und dem Extremismus gemeinsam und entschlossen entgegenzutreten. Der Verfassungsschutz RheinlandPfalz möchte dazu mit seinem Bericht einen Beitrag leisten. Ich hoffe, dass er auf Ihr Interesse stößt und Ihnen eine umfassende Informationsquelle bietet. Michael Ebling Minister des Innern und für Sport 9 INHALTSVERZEICHNIS A. Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz S. 15 1. Grundlagen und Aufgaben S. 16 1.1 Auftrag, Aufgaben und Methoden S. 16 1.2 Kontrolle des Verfassungsschutzes S. 19 2. Strukturdaten S. 20 3. Verfassungsschutzbericht S. 21 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention S. 23 1. Leitmotiv "Prävention durch Information" S. 24 2. Extremismus-Prävention in Rheinland-Pfalz S. 25 2.1 Präventionsagentur gegen Extremismus S. 26 2.2 Kommunale Kriminalprävention S. 28 2.3 Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz S. 29 2.4 Beauftragte für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen in Rheinland-Pfalz S. 32 2.5 Meldeund Dokumentationsstelle für menschenfeindliche Vorfälle in Rheinland-Pfalz S. 33 2.6 Bündnis "Demokratie gewinnt!" - Demokratie-Tag Rheinland-Pfalz S. 34 2.7 Landesaktionsplan gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit S. 35 3. Wirtschaftsschutz und Sicherheitspartnerschaft S. 37 4. Cyberschutz S. 39 10 Inhaltsverzeichnis C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen S. 41 Brennpunktthemen S. 43 1. "Operation al-Aqsa-Flut" - der Gazakrieg und die Resonanz in Deutschland S. 44 2. Vom Igel zum Kalifat: Wie islamistische Influencer ihre Botschaften verbreiten S. 58 3. Wie Rechtsextremisten Jugendliche ködern: die Partei "Der III. Weg" S. 70 4. Desinformation und Verschwörungstheorien - Gefahren für die Demokratie S. 78 5. Gewaltorientierter Linksextremismus in Deutschland - Entwicklung und Perspektive S. 84 Rechtsextremismus S. 89 1. Personenpotenzial S. 90 2. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 91 3. Gruppierungen und Strukturen S. 96 3.1 Rechtsextremistische Parteien und parteiabhängige Gruppierungen S. 96 3.1.1 "Die Heimat" (vormals NPD) S. 96 3.1.2 Partei "Der III. Weg" S. 99 3.1.3 Partei "DIE RECHTE" S. 104 3.1.4 Extremistische Strukturen in der Partei "Alternative für Deutschland" S. 105 3.1.5 "Junge Alternative" (JA) S. 108 4. Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen S. 115 4.1 "Neue Rechte" S. 115 4.2 Neonationalsozialismus S. 121 5. Weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial S. 125 5.1 "Hammerskins" S. 125 5.2 Rechtsextremistische Musik S. 127 6. Internetauswertung Rechtsextremismus S. 134 7. Kurzbeschreibungen S. 137 11 Reichsbürger und Selbstverwalter S. 145 1. Personenpotenzial S. 146 2. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 147 3. Gruppierungen und Strukturen S. 151 3.1 "Bismarcks Erben"/"Vaterländischer Hilfsdienst" (VHD) S. 152 3.2 "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force - S.H.A.E.F." S. 153 3.3 Übriges organisationsgebundenes Personenpotenzial S. 154 3.4 Aktivitäten S. 154 4. Ausblick S. 155 5. Kurzbeschreibungen S. 156 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates S. 159 1. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 160 2. Gruppierungen und Strukturen in Rheinland-Pfalz S. 161 3. Ausblick S. 163 Linksextremismus S. 165 1. Personenpotenzial S. 166 2. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 167 3. Gruppierungen, Strukturen und Aktionsfelder S. 173 3.1 Autonomen-Szene S. 173 3.2 "Postautonome" - "Interventionistische Linke" (IL) S. 175 3.3 Anarchisten - "die plattform" S. 175 3.4 Dogmatische Linksextremisten: "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) und "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) S. 176 3.5 Linksextremistische Aktionsfelder S. 178 4. Ausblick S. 181 5. Kurzbeschreibungen S. 182 Islamismus S. 189 1. Personenpotenzial S. 190 2. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 191 3. Gruppierungen und Strukturen S. 195 12 Inhaltsverzeichnis 3.1 Terrorismus und Jihadismus S. 195 3.2 Salafistische Bestrebungen S. 200 3.3 Organisationsgebundener Islamismus S. 209 4. Kurzbeschreibungen S. 213 Extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug (ohne Islamismus) S. 227 1. Personenpotenzial S. 228 2. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 229 3. Gruppierungen und Strukturen S. 231 3.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) S. 231 3.2 "Graue Wölfe" ("Ülkücü"-Bewegung) S. 237 3.3 Linksextremistische palästinensische Organisationen S. 239 4. Ausblick S. 240 5. Kurzbeschreibungen S. 241 Spionageabwehr und Cybersicherheit S. 247 1. Allgemeine Lage S. 248 2. Aufgaben der Spionageabwehr S. 249 2.1 Spionageabwehr S. 249 2.2 Proliferation S. 260 2.3 Wirtschaftsspionage und -sabotage S. 261 2.4 Angebote der Spionageprävention S. 263 2.5 Cyberangriffe, Datenspionage und -sabotage S. 264 2.6 Hybride Bedrohungen und Desinformation S. 267 Geheimund Sabotageschutz, Mitwirkungsaufgaben S. 271 1. Geheimund Sabotageschutz S. 272 2. Mitwirkungsaufgaben S. 274 D. Anhang S. 279 1. Politisch motivierte Kriminalität (PMK) S. 280 2. Register S. 284 13 A. VERFASSUNG SCHUTZ RHEINLAND 14 PFALZ Verfassungsschutzbericht 2023 UNGS A. VERFASSUNGS SCHUTZ RHEINLAND PFALZ ND 15 1. GRUNDLAGEN UND AUFGABEN Der Verfassungsschutz ist ein Element der wehrhaften Demokratie. Er hat den gesetzlichen Auftrag, die freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) sowie den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu schützen. Diesen Auftrag erfüllen - dem föderalen Staatsaufbau Deutschlands entsprechend - das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit Hauptsitz in Köln und 16 Landesbehörden für Verfassungsschutz. In einigen Bundesländern, zum Beispiel in Baden-Württemberg, Bayern und in Hessen, übernehmen eigenständige Landesämter die Aufgabe. In den meisten Ländern ist der Verfassungsschutz aber als Abteilung im jeweiligen Innenministerium eingerichtet, wie seit 1951 auch in Rheinland-Pfalz. Verfassungsschutzbehörde in Rheinland-Pfalz ist die Abteilung 6 im Ministerium des Innern und für Sport. 1.1 Auftrag, Aufgaben und Methoden Als "Frühwarnsystem" beobachtet die Verfassungsschutzbehörde RheinlandPfalz gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag vor allem politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen, die auf eine Beeinträchtigung oder gar Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zielen. Das heißt, der Verfassungsschutz sammelt Informationen über extremistische beziehungsweise verfassungsfeindliche Bestrebungen und wertet sie aus. Dies ist in den SSSS 4 und 5 des Landesverfassungsschutzgesetzes (LVerfSchG) geregelt. 16 A. Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz Die Analysen, Lagebilder und Operativmaßnahmen des Verfassungsschutzes tragen zur Verteidigung der Demokratie und des Rechtsstaates gegen Extremisten bei. Immer wieder dienen sie als Grundlage für exekutive Maßnahmen wie Vereinigungsverbote oder für Strafverfahren. INFORMATION Was ist Extremismus? Der für den Verfassungsschutz relevante Extremismusbegriff leitet sich aus der Gesetzeslage ab. Als extremistisch werden demnach Bestrebungen, das heißt Verhaltensweisen bezeichnet, die politisch bestimmt sind und mit denen das Ziel verfolgt wird, die freiheitliche demokratische Grundordnung in Gänze oder in Teilen zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Der Begriff beschreibt lediglich eine politisch intendierte Vorgehensweise, unabhängig von ihrer jeweiligen weltanschaulichen Prägung. Damit der Verfassungsschutz eine Organisation oder Gruppierung beobachten darf, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein. Für die Beobachtung einer Einzelperson sind die Hürden noch höher. Denn durch die Beobachtung kann der Verfassungsschutz in die Grundrechte der Betroffenen eingreifen. Dementsprechend muss ihr regelmäßig eine sehr sorgfältige Prüfung vorausgehen. 17 Vom gesetzlichen Beobachtungsauftrag nicht umfasst sind radikale1 Bestrebungen und Verlautbarungen sowie bloße Meinungsbekundungen und politische Einstellungen. Solche Äußerungen mögen populistisch, provokativ und polemisch sein, sie sind aber von der Meinungsfreiheit gedeckt. Extremistische Einstellungen alleine reichen also nicht aus, um ein Fall für den Verfassungsschutz zu werden. Ein entsprechendes Verhalten, welches sich gegen die Grundpfeiler des demokratischen Verfassungsstaates richtet, muss hinzukommen. Die Beobachtung extremistischer Bestrebungen ist nicht die einzige Aufgabe des Verfassungsschutzes. Er ist auch für die Abwehr von Spionage und von Cyberangriffen zuständig, wenn sie staatlich gelenkt sind. Darüber hinaus obliegt ihm die Mitwirkung bei einer Reihe von gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen, wie beispielsweise Sicherheitsund Einbürgerungsüberprüfungen oder Überprüfungen nach dem Luftsicherheitsgesetz. Seine Erkenntnisse gewinnt der Verfassungsschutz in erheblichem Maße aus öffentlich zugänglichen Quellen. Außerdem ist er befugt, unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und auf Basis der einschlägigen Gesetze nachrichtendienstliche Mittel einzusetzen, um verdeckt Informationen zu beschaffen. Dazu zählen zum Beispiel der Einsatz von Vertrauenspersonen oder Observationsmaßnahmen. Polizeiliche oder strafprozessuale Zwangsmittel sind ihm hingegen untersagt. Der Verfassungsschutz selbst darf weder Personen kontrollieren und festnehmen noch Wohnungen durchsuchen. 1 Während Extremisten das herrschende politische System überwinden und ein gänzlich neues an dessen Stelle setzen wollen, zielt Radikalismus auf eine Systemveränderung innerhalb des herrschenden Systems. Radikale politische Akteure erkennen die FDGO grundsätzlich an, wollen gesellschaftliche Probleme und Konflikte aber an der "Wurzel" (lateinisch "radix") anpacken. Gewalt als politisches Mittel lehnen sie ab. 18 A. Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz 1.2 Kontrolle des Verfassungsschutzes Der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz unterliegt einer intensiven Kontrolle, die vor allem durch die Parlamentarische Kontrollkommission des Landtags wahrgenommen wird. Diese wird regelmäßig und umfassend über die Arbeit des Verfassungsschutzes unterrichtet und kann jederzeit Einsicht in seine Akten und Dateien verlangen. Zudem verfügt der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit über entsprechende Kontrollrechte. Wenn der Brief-, Postund Fernmeldeverkehr überwacht werden soll, um an Erkenntnisse zu gelangen, muss der Verfassungsschutz vorher die Genehmigung der vom Landtag eingesetzten unabhängigen G10-Kommission einholen. Die G10-Kommission wird vom Landtag für die Dauer einer Wahlperiode bestellt und besteht aus drei Mitgliedern. Hinzu kommt eine informelle Kontrolle des Verfassungsschutzes durch die Medien, also die Presse, das Fernsehen, den Hörfunk und journalistische Internet-Portale, die im Rahmen eigener Recherchen Anfragen zu bestimmten Sachverhalten stellen können. 19 2. STRUKTURDATEN Der vom Landtag Rheinland-Pfalz beschlossene Haushaltsplan des Verfassungsschutzes Rheinland-Pfalz weist für 2023 insgesamt 207 Stellen aus. Für 2024 sind im Etat ebenfalls 207 Stellen eingeplant. In den zurückliegenden Jahren ist die Stellenzahl kontinuierlich gewachsen. Dies spiegelt die zunehmenden und immer komplexeren extremistischen und sicherheitsgefährdenden Bedrohungen wider, mit denen Verfassungsschutz, Politik und Gesellschaft konfrontiert sind. Das Budget für Sachausgaben (ohne Personalkosten) betrug im Haushaltsjahr 2023 rund 2,15 Millionen Euro und etwa 1,89 Millionen Euro für Investitionen. 2024 sind Sachausgaben in Höhe von rund 2,16 Millionen Euro vorgesehen und Investitionen von 1,53 Millionen Euro. 20 A. Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz 3. VERFASSUNGS SCHUTZBERICHT Der Verfassungsschutzbericht ist seit mehr als 40 Jahren ein wesentliches Format der Öffentlichkeitsarbeit der Verfassungsschutzbehörde Rheinland-Pfalz. Er erscheint jährlich und dient der umfassenden Unterrichtung und Aufklärung der Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen, von denen Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen. Der Verfassungsschutzbericht enthält keine abschließende Aufzählung, Darstellung und Bewertung verfassungsfeindlicher Personenzusammenschlüsse. Berichtet wird hingegen nur zu Gruppierungen und Organisationen, die nachweislich verfas"Das fachlich zuständige sungsfeindliche Bestrebungen verfolgen. Ministerium informiert die Die im Verfassungsschutzbericht vorgeÖffentlichkeit über grundnommene Bewertung als extremistisch bedeutet allerdings nicht in jedem Fall, legende Angelegenheiten des dass alle Mitglieder einer entsprechenden Verfassungsschutzes sowie über Gruppierung oder Organisation extrepräventiven Wirtschaftsschutz, mistische Bestrebungen entwickeln. Die soweit GeheimhaltungserforZahlenangaben zu den entsprechenden dernisse nicht entgegenstehen." Personenpotenzialen basieren in Teilen auf Schätzungen und geben den Stand SS 7 Abs. 2 LVerfSchG am 31. Dezember 2023 wieder. 21 B. ÖFFENTLICH KEITSARBEIT UND PRÄVENTION 22 Verfassungsschutzbericht 2023 ICH B. ÖFFENTLICH BEIT KEITSARBEIT UND PRÄVENTION TION 23 1. LEITMOTIV "PRÄVENTION DURCH INFORMATION" "Prävention durch Information" ist das Leitmotiv, dem sich der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz verpflichtet sieht. Er betreibt eine offensive und auf Transparenz angelegte Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit, die über den jährlichen Verfassungsschutzbericht hinausgeht. Damit soll ein Beitrag zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Extremismus und zur Aufklärung über unterschiedliche extremistische Phänomene geleistet werden. Dieser Selbstverpflichtung, die auf einem gesetzlichen Auftrag fußt (vgl. SS 7 Abs. 2 LVerfSchG), kommt der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz in vielfältiger Form nach. Ein Schwerpunkt der Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit ist die Vortragstätigkeit. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter halten Vorträge und Workshops über die Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes, Extremismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen und über Cybersicherheit. Von diesem Angebot haben bereits viele interessierte Bürgerinnen und Bürger sowie Einrichtungen im Land, vor allem Schulen, Gebrauch gemacht. Im Jahr 2023 fanden 52 Vortragsveranstaltungen mit mehr als 2.200 Teilnehmenden statt. Außer den Vortragsveranstaltungen veröffentlicht der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz Publikationen über Themen aus seinem Aufgabenspektrum, die man auch auf seinen Internetseiten unter www.verfassungsschutz.rlp.de herunterladen kann. Anfragen für Vortragsveranstaltungen und Informationsmaterial Ministerium des Innern und für Sport | Abteilung Verfassungsschutz Schillerplatz 3-5 | 55116 Mainz Telefon: 0 6131 16-3773 | E-Mail: info.verfassungsschutz@mdi.rlp.de 24 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 2. EXTREMISMUSPRÄVENTION IN RHEINLANDPFALZ Extremismus-Prävention hat in Rheinland-Pfalz einen hohen Stellenwert. Sie wird ganzheitlich betrieben, ist auf Dauer angelegt, vielfältig und geht weit über die bloße Information über extremistische Erscheinungsformen hinaus. Die Stärkung von Demokratie und Demokratiebewusstsein spielt eine ebenso zentrale Rolle wie auch die Förderung von Integration und Partizipation sowie des bürgerschaftlichen Engagements. Demokratie lebt von der Mitwirkung möglichst vieler Menschen, die sich für deren Erhalt und ihre Mitmenschen einsetzen. Wie wichtig dies ist, zeigt sich insbesondere in Krisenzeiten, in denen "Wir brauchen die Demokratie - Hass und Hetze gegen Andersdenkende aber ich glaube: Derzeit braucht und Minderheiten, Verschwörungsdendie Demokratie vor allem uns!" ken und Antisemitismus verstärkt zu Tage treten. Dies sind Angriffe auf die Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident Demokratie und die offene Gesellschaft. Die Ausrichtung der Extremismus-Prävention orientiert sich an den aktuellen Gefährdungsund Gefahrenlagen. Ein besonderes Augenmerk gilt angesichts der Ereignisse und Entwicklungen in den zurückliegenden Jahren der Prävention gegen Rechtsextremismus. 25 Im Laufe der Zeit sind die Präventionsstrukturen in Rheinland-Pfalz stetig gewachsen. Landesweit leisten heute viele staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure einen Beitrag gegen Extremismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Der Austausch und die Vernetzung der Akteure untereinander bewegen sich auf einem hohen Niveau. Folgende Beispiele sind nur ein Ausschnitt aus einem breiten Spektrum. 2.1 Präventionsagentur gegen Extremismus Die beim rheinland-pfälzischen Verfassungsschutz durch Ministerratsbeschluss eingerichtete Präventionsagentur gegen Extremismus existiert seit Mitte 2008 - bis Mitte 2017 unter der Bezeichnung Präventionsagentur gegen Rechtsextremismus. Sie informiert die Öffentlichkeit auf der Grundlage der Erkenntnisse des rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzes über extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen im Land und organisiert maßgeblich die Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit. Die Präventionsagentur steht auch der Landesund Kommunalverwaltung als Ansprechpartner beratend zur Verfügung. Sie hilft bei der Koordination von Aktivitäten und dokumentiert diese, kooperiert mit anderen Akteuren, die in der Extremismus-Prävention aktiv sind, und informiert über aktuelle extremistische Herausforderungen. Zudem fördert sie Projekte und Maßnahmen gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit finanziell, zum Beispiel das Ende 2017 gegründete Bündnis "Demokratie gewinnt!". 26 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Im Juni 2021 wurde bei der Präventionsagentur gegen Extremismus die Dokumentationsund Koordinierungsstelle Antisemitismus eingerichtet. Sie soll die Bearbeitung von verfassungsschutzrelevanten Formen des Antisemitismus intensivieren. Antisemitische Bestrebungen von Extremisten werden dort zusammengeführt und dokumentiert. Außerdem erstellt die Dokumentationsund Koordinierungsstelle anlassbezogen Analysen und Lagebilder, die unter anderem in die Präventionsarbeit einfließen. Seit Januar 2024 bietet die Präventionsagentur ein Vortragsformat zum Thema Antisemitismus an, das sich insbesondere an Schulen richtet. Präventionsagentur gegen Extremismus Ministerium des Innern und für Sport Schillerplatz 3-5 | 55116 Mainz Telefon: 0 6131 16-3773 | E-Mail: praeventionsagentur@mdi.rlp.de www.gegen-extremismus.rlp.de 27 2.2 Kommunale Kriminalprävention Die Leitstelle Kriminalprävention im Ministerium des Innern und für Sport wurde 1997 auf Beschluss des Ministerrats eingerichtet. Sie vernetzt und unterstützt die gewaltund kriminalpräventive Arbeit der rheinland-pfälzischen Kommunen. Zudem fungiert sie als Geschäftsstelle des Landespräventionsrates Rheinland-Pfalz. Zu den Aufgaben der Leitstelle Kriminalprävention gehören unter anderem die Betreuung und Beratung der kriminalpräventiven Gremien in den Kommunen, die Durchführung von Veranstaltungen wie dem Landespräventionstag, Fachtagungen, Informationsveranstaltungen sowie landesweite Präventionskampagnen und -projekte. Außerdem fördert die Leitstelle kriminalpräventive Projekte, wie zum Beispiel Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Leitstelle Kriminalprävention Ministerium des Innern und für Sport Schillerplatz 3-5 | 55116 Mainz Telefon: 0 6131 16-3712 | E-Mail: kriminalpraevention@mdi.polizei.rlp.de www.kriminalpraevention.rlp.de 28 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 2.3 Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz Das Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz vernetzt im Auftrag des Förderprogramms "Demokratie leben!" des Bundesministeriums für Familie und des Landes Rheinland-Pfalz Engagierte und Aktive, die sich gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und für eine demokratische Gesellschaft einsetzen. Ihnen bietet das Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz, das im Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung angesiedelt ist, den Raum für Interaktion und Austausch über Demokratieförderung sowie Expertise in der Extremismus-Prävention und -Intervention. Um die Ziele "Demokratie fördern", "Vielfalt gestalten" und "Extremismus vorbeugen" zu erreichen, setzt das Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz auf seine gesellschaftlich breit aufgestellten Netzwerke: # Im Kompetenznetzwerk "Demokratie leben!" Rheinland-Pfalz sind viele Initiativen, Vereine und Institutionen gebündelt, die sich gegen jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und für Demokratie einsetzen. # Das Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus in Rheinland-Pfalz ist ein Zusammenschluss von Vertreterinnen und Vertretern staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen, die ihre Expertise zum Thema Rechtsextremismus einbringen. # Das Präventionsnetzwerk für diversitätsorientiertes Arbeiten in RheinlandPfalz - DivAN fördert den Austausch möglichst vieler staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure, die das langfristige Ziel haben, der Radikalisierung junger Menschen vorzubeugen. Auf seinen Treffen berät das Netzwerk, welche Faktoren eine positive Jugendentwicklung beeinflussen und wie die Jugend gestärkt werden kann. 29 Seit 2001 bietet das Aussteigerprogramm "(R)AUSwege" Beratung und Unterstützung für Menschen, die sich aus der extrem rechten Szene lösen wollen. Für die erste, wenn gewünscht, anonyme Kontaktaufnahme mit den sozialpädagogischen Helferinnen und Helfern von (R)AUSwege gibt es eine kostenfreie Telefon-Hotline unter der Nummer 0800 45 46 000. Über dieselbe Hotline kann man auch Kontakt zu "Rückwege", der Beratung für jungen Menschen auf der Schwelle zum Rechtsextremismus, aufnehmen. Das Projekt setzt bei jungen Menschen an, die kurz vor dem Einstieg in ein rechtsextremes Milieu stehen. Ihnen sollen Alternativen aufgezeigt werden, bevor sich menschenfeindliche Einstellungen verfestigen. "Rückwege" ist auch zu erreichen per E-Mail an: rueckwege@lsjv.rlp.de. Die Elterninitiative gegen Rechts beziehungsweise Angehörigenberatung bei demokratiefeindlichen Einstellungen unterstützt Menschen, die in familiären Beziehungen zu rechtsextremistischen, demokratiefeindlichen oder verschwörungsgläubigen Personen stehen und Beratung zur Linderung ihres Leidensdrucks suchen (Telefon: 06131 967-373, E-Mail: angehoerigenberatung@lsjv.rlp.de). Ebenfalls vom Demokratiezentrum koordiniert wird die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Rheinland-Pfalz. Sie unterstützt alle, die mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus konfrontiert sind und sich dagegen wenden möchten. Gemeinsam werden fallspezifisch individuelle Handlungsoptionen unter Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten, Möglichkeiten und persönlicher Wünsche entwickelt. Darum kümmern sich vier Regionalstellen, hinter denen zivilgesellschaftliche Träger stehen und die jeweils für mehrere Landkreise und Städte zuständig sind. Detailliertere Informationen gibt es auf den entsprechenden Internetseiten des Demokratiezentrums Rheinland-Pfalz. 30 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Die Beratungsstelle Salam gegen islamistische Radikalisierung bietet eine qualifiziert-professionelle und systemisch ausgerichtete Beratung im Zusammenhang mit vermeintlich oder tatsächlich islamistisch radikalisierten (jungen) Menschen an. Das Angebot richtet sich als Distanzierungsberatung an radikalisierte Personen, aber auch an Menschen aus deren privatem Umfeld (Eltern, Angehörige oder Freunde) und aus dem institutionellen Umfeld (zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer, Fachkräfte der Jugendarbeit), um Distanzierungsprozesse zu initiieren oder zu unterstützen. Erreichbar ist die Beratungsstelle Salam über die Telefon-Hotline 0800 7252610 oder per E-Mail: salam@lsjv.rlp.de. Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung | Abteilung Landesjugendamt Rheinallee 97-101 | 55118 Mainz E-Mail: demokratiezentrum@lsjv.rlp.de www.demokratiezentrum.de 31 2.4 Beauftragte für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen in Rheinland-Pfalz Seit Mai 2018 gibt es das Amt des/der Beauftragten der Ministerpräsidentin für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen in Rheinland-Pfalz. Damit wurde ein Bindeglied zwischen der Landesregierung und den jüdischen Gemeinden im Land und eine Koordination aller Bemühungen zur Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus geschaffen. Die Sicherung und die Förderung des jüdischen Lebens in Rheinland-Pfalz gehören hierbei ebenso zu den Aufgaben wie die Unterstützung des interreligiösen Dialogs. Dies umfasst vielfältige Gesprächs-, Besuchs-, Tagungs-, Fortbildungsund Vortragstermine. Darüber hinaus geht der Beauftragte/die Beauftragte antisemitischen Vorfällen nach und steht im ständigen Austausch mit den jüdischen Gemeinden und den Sicherheitsbehörden. Seit 2022 sind die Aufgaben und Befugnisse der Beauftragten in einem eigenen Gesetz geregelt. Beauftragte für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen Staatskanzlei Rheinland-Pfalz Peter-Altmeier-Allee 1 | 55116 Mainz Telefon: 0 6131 16-4064 | E-Mail: antisemitismusbeauftragte@stk.rlp.de 32 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 2.5 Meldeund Dokumentationsstelle für menschenfeindliche Vorfälle in Rheinland-Pfalz Die Meldestelle dokumentiert menschenfeindliche Übergriffe und Vorfälle in Rheinland-Pfalz. Der Begriff "menschenfeindlich" bezieht sich in der Arbeit der Meldestelle auf den Ansatz der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Diese kann sich unter anderem in Form von Beleidigungen, körperlichen Angriffen, gezielten Sachbeschädigungen, Bedrohungen, psychischer Gewalt und Mobbing zeigen. Hierunter sind auch Übergriffe im Internet zu verstehen. Monitoring bedeutet diese Vorfälle zu dokumentieren, zu zählen und bei Einverständnis der Betroffenen diese auch zu veröffentlichen. Die Meldestelle will ein Lagebild für menschenfeindliche Gewalt in Rheinland-Pfalz erstellen und den Betroffenen schnell und unkompliziert Beratung und Unterstützung vermitteln. Meldestelle für menschenfeindliche Vorfälle in Rheinland-Pfalz Meldestelle m*power Bahnhofplatz 7A | 56068 Koblenz Telefon: 0 261 55001140 | E-Mail: kontakt@mpower-rlp.de www.meldestelle-rlp.de 33 2.6 Bündnis "Demokratie gewinnt!" - Demokratie-Tag Rheinland-Pfalz Mehr als 90 zivilgesellschaftliche und staatliche Organisationen sowie Unternehmen aus Rheinland-Pfalz engagieren sich im Bündnis "Demokratie gewinnt!" dafür, junge Menschen frühzeitig an Demokratie, Beteiligung und freiwilliges Engagement heranzuführen. Das Bündnis will dazu beitragen, die Lernund Lebensorte von Kindern und Jugendlichen demokratisch und partizipativ zu gestalten, damit sie von klein auf demokratische Haltungen und Kompetenzen erwerben können. Der Demokratie-Tag Rheinland-Pfalz findet seit Veranstaltung: in Präsenz / Livestream & TVÜbertragung durch die Offenen Kanäle Rheinland-Pfalz 2006 jedes Jahr mit mehr als 1.000 TeilnehmenDemokratie-Tag Rheinland-Pfalz den zu verschiedenen Themenschwerpunkten Unsere Zukunft begi nnt heute! statt. Er ist im Land das zentrale Forum zum AusIngelheim am Rhein im Weiterbildungszentrum (WBZ), kING & weitere Satelliten-Veranstaltungsorte Lange Volksh Nacht in Rheinland-Pfalz tausch und zur Weiterentwicklung von Strategien ochsch der Dem ulen in okr Rheinla atie in nd-Pfa (c) illusionix - shutterstock.com lz und Methoden der Engagementund Demokrawww.demokratietag-rlp.de Veranstalter des 18. Demokratie-Tags Rheinland-Pfalz MINISTERIUM FÜR BILDUNG Satellitenpartner tieförderung in und außerhalb von Schulen. VerPÄDAGOGISCHES LANDESINSTITUT Partner und Unterstützer Medienpartner Mit freundlicher Unterstützung von NEBUCAST Live.Production.Solutions MINISTERIUM DES INNERN UND FÜR SPORT anstalter ist das Bündnis "Demokratie gewinnt!". Landesverband Rheinland-Pfalz Bündnis "Demokratie gewinnt!" Staatskanzlei Rheinland-Pfalz | Leitstelle Ehrenamt und Bürgerbeteiligung Telefon: 06131 16-4083 | E-Mail: leitstelle@stk.rlp.de www.demokratie-gewinnt.rlp.de 34 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 2.7 Landesaktionsplan gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Rheinland-Pfalz ist ein weltoffenes und vielfältiges Land. Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt finden hier ihre Heimat. Diese Vielfalt von Lebensformen und Ausdrucksmöglichkeiten gibt Menschen Raum für die Entfaltung ihrer Persönlichkeiten und ist ein schützenswerter Grundpfeiler einer offenen, freien und solidarischen Gesellschaft. Vielen Menschen wird aber die Teilhabe an unserer Gesellschaft erschwert, weil sie bestimmten Gruppen zugerechnet werden. Um dem effektiv entgegenzutreten, hat die rheinland-pfälzische Landesregierung gemeinsam mit vielen Gruppen aus der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Kommunen einen Landesaktionsplan gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit entwickelt und im November 2020 veröffentlicht. Die in dem Plan enthaltenen Projekte und Maßnahmen wirken demokratiefeindlichen Ideologien, Einstellungen und Handlungen sowie ihrer Verbreitung entgegen und sie unterstützen und stärken Opfer. Eine der Maßnahmen des Landesaktionsplans gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die bereits realisiert sind, ist der Beratungskompass Rheinland-Pfalz. Auf der Internetseite www.beratungskompass-rlp.de finden Betroffene, Angehörige sowie Zeuginnen und Zeugen von menschenfeindlichen Vorfällen seit 2021 verschiedene Anlaufstellen, die Beratung und Hilfe anbieten, Ansprechpartnerinnen und -partner vermitteln sowie Informationen bereitstellen. In Selbsthilfeorganisationen können Betroffene mit Menschen sprechen, die ähnliche Erfahrungen machen oder gemacht haben wie sie. Darüber hinaus werden zur 35 tieferen Auseinandersetzung Fortund Weiterbildungsangebote rund um den Themenkomplex Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aufgeführt. Auf einer integrierten Rheinland-Pfalz-Karte lassen sich Anlaufstellen in der Nähe schnell finden. Als jüngste Maßnahme des Landesaktionsplanes startete im März 2023 die Kampagne #ScrollNichtWeg des rheinland-pfälzischen Familienministeriums. Das Ziel der Kampagne ist es, Betroffene von digitaler Gewalt zu unterstützen, digitale Zivilcourage zu stärken und Wissen zum Thema digitale Gewalt zu vermitteln. Auf einer eigenen Website sowie in Social Media wird niedrigschwellig und unterhaltsam informiert, ermutigt und gestärkt. Weitere Informationen gibt es auf www.scrollnichtweg.de. Betroffene von Hatespeech und anderen Formen digitaler Gewalt können sich an die Beratungsstelle gegen Hass und Gewalt im Netz - SoliNet richten, die ebenfalls im Zuge des Landesaktionsplans eingerichtet wurde. Bei SoliNet erhalten Betroffene psychosoziale Beratung, beratende Unterstützung bei Beweissicherung oder strafrechtlicher Verfolgung von Hass im Netz sowie Tipps zur digitalen Sicherheit und Kommunikationsstrategien gegen Hass im Netz. Eine enge Zusammenarbeit mit einer Anwaltskanzlei bietet fundierte juristische Einschätzungen auch in schwierigen Fällen. Weitere Informationen findet man auf www.solinet-rlp.de. Landesaktionsplan gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration Kaiser-Friedrich-Straße 5a | 55116 Mainz Telefon: 0 6131 16-5642 oder 16-5689 E-Mail: LAP-GMF-Rassismus@mffki.rlp.de www.mffki.rlp.de 36 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 3. WIRTSCHAFTSSCHUTZ UND SICHERHEITSPARTNERSCHAFT Im Rahmen des Wirtschaftsschutzes berät und sensibilisiert der rheinlandpfälzische Verfassungsschutz kleine und mittlere Unternehmen, "Global Player" und Forschungsinstitutionen. Sie sind attraktive Ziele für fremde Staaten und deren Nachrichtendienste, um das Know-how für die eigene Wirtschaftskraft zu nutzen oder für militärische Entwicklungen einzusetzen. Neben realweltlichen Ausspähmethoden hat Spionage im Cyberraum massiv an Bedeutung gewonnen. In Folge der voranschreitenden Digitalisierung und der neuen Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz bieten sich für Angreifer nicht nur zahlreiche neue Ziele, Cyberattacken können auch ohne große Vorkenntnisse vorbereitet und durchgeführt werden. Besonders aktiv sind Russland, China und der Iran, aber auch Pakistan und Nordkorea. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist die Bedrohung durch Cybersabotage deutlich gestiegen. Insbesondere Unternehmen der kritischen Infrastruktur (KRITIS) stehen im Fokus russischer staatlicher oder staatlich gesteuerter Hackergruppierungen. Wiederholt erfolgten Überlastungsangriffe auf die Internetseiten deutscher Behörden und Unternehmen in zeitlichem Zusammenhang zu pro-ukrainischen Politikentscheidungen. Der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz hat seine Präventionsarbeit auf KRITIS-Einrichtungen und Kommunen ausgeweitet und insgesamt deutlich intensiviert. 37 In einer Sicherheitspartnerschaft zum Schutz rheinland-pfälzischer Unternehmen arbeiten Landesregierung, Kammern und Unternehmensverbände sowie die Vereinigung für Sicherheit in der Wirtschaft seit 2005 zusammen. In der Gemeinsamen Erklärung zur Bildung der Sicherheitspartnerschaft haben sich die Unterzeichnenden darauf verständigt, insbesondere mittelständische und exportorientierte Betriebe in Handel, Handwerk und Gewerbe hinsichtlich der Gefährdungen durch Wirtschaftsspionage, Proliferation, Sabotage, Extremismus und Terrorismus zu sensibilisieren und durch vielfältige Informationsangebote für die erforderliche betriebliche Eigenvorsorge zu sensibilisieren. Über die Sicherheitspartnerschaft erreicht der Verfassungsschutz mit seinen Warnhinweisen und Präventionsangeboten Multiplikatoren in der Wirtschaft, bei den Kommunen und im Wissenschaftsbereich. Im Rahmen von reaktiven Maßnahmen werden betroffene Unternehmen und Institutionen bei der Aufarbeitung von IT-Sicherheitsvorfällen unterstützt und unter Wahrung der Vertraulichkeit beraten. Darüber hinaus schafft der Verfassungsschutz mit regelmäßigen Informationsveranstaltungen und Fachvorträgen die Voraussetzungen, damit sich Unternehmen und Kommunen in Rheinland-Pfalz resilienter gegen Cyberangriffe aufstellen. 38 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 4. CYBERSCHUTZ Auch im zweiten Jahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die Sicherheitslage in Europa und Deutschland angespannt. Russland setzt seine Cybersabotageangriffe gegen Ziele in der Ukraine unvermindert fort. Die Gefahr von Cyberangriffen auf kritische Infrastrukturen besteht nach wie vor und die bereits 2022 registrierten Aufklärungsaktivitäten durch fremde Nachrichtendienste halten unvermindert an. Ende 2023 konnte ein weltweites Netzwerk aus kompromittierten Routern von internationalen Sicherheitsbehörden lokalisiert werden, das auch Objekte in Rheinland-Pfalz nutzte. Im Januar und Februar 2024 konnte dieses Botnetz in einer konzertierten Aktion verschiedener Nationen und Behörden, darunter auch Verfassungsschutz und Landeskriminalamt RheinlandPfalz, größtenteils abgeschaltet werden. Entsprechend relevant ist die Präventionsarbeit des rheinland-pfälzischen Cyberschutzes über mögliche Angriffsszenarien und Schutzmaßnahmen. Auf der Website www.cyberschutz.rlp.de informiert der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz ausführlich über die Gefahren von Cybersabotage und -spionage sowie über Reaktionsmöglichkeiten und bietet auf einer zugangsgeschützten Cloud Informationen über den Schutz vor solchen Angriffen an. In Informationsveranstaltungen und Webseminaren werden Unternehmen, Kommunen und KRITISBetreiber zu diesen Gefahren sensibilisiert und zu geeigneten Schutzmöglichkeiten beraten. Polizei und Verfassungsschutz haben deshalb im April 2023 eine Fachtagung über Cyberbedrohungen und den Cyberschutz für Kommunen veranstaltet. Das Ziel der Veranstaltung war die Sensibilisierung und Motivation der mehr als 200 anwesenden Verantwortlichen, ihre Anstrengungen zum Schutz der IT-Infrastruktur aufrechtzuerhalten und zu intensivieren. Neben den Unterstützungsangeboten von Polizei und Verfassungsschutz wurden auf der Tagung auch die Folgen des Cyberangriffs auf den Rhein-Pfalz-Kreis im Oktober 2022 thematisiert. 39 C. VERFASSUNG FEINDLICHE U SICHERHEITS GEFÄHRDEND 40 UNGS C. VERFASSUNGS HE UND FEINDLICHE UND SICHERHEITS EITS GEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN DENDE 41 BRENN PUNKT 42 THEMEN N BRENNPUNKTTHEMEN 1. "Operation al-Aqsa-Flut" - der Gazakrieg und die Resonanz in Deutschland S. 44 2. Vom Igel zum Kalifat: Wie islamistische Influencer ihre KT Botschaften verbreiten S. 58 3. Wie Rechtsextremisten Jugendliche ködern: die Partei "Der III. Weg" S. 70 4. Desinformation und Verschwörungstheorien - Gefahren für die Demokratie S. 78 5. Gewaltorientierter Linksextremismus in Deutschland - Entwicklung und Perspektive S. 84 MEN 43 1. "OPERATION ALAQSA FLUT" - DER GAZAKRIEG UND DIE RESONANZ IN DEUTSCHLAND Der 7. Oktober 2023 ist in der Geschichte des Staates Israels ein einschneidendes Datum. In den Morgenstunden dieses Tages startete die palästinensische Terrororganisation HAMAS unter der Bezeichnung "Operation al-Aqsa-Flut" einen intensiven Beschuss auf das israelische Staatsgebiet. Hierbei wurden mehrere Tausend Raketen aus dem Gazastreifen auf verschiedene israelische Ziele abgeschossen, die bis nach Tel Aviv reichten. Parallel hierzu drangen HAMAS-Terroristen auf israelisches Staatsgebiet vor. Bei diesen Angriffen wurden israelischen Angaben zufolge mehr als 1.200 Zivilisten und Sicherheitskräfte ermordet oder im Kampf getötet. Darüber hinaus wurden etwa 240 Israelis und andere Staatsbürger nach Gaza verschleppt, von denen Ende 2023 noch immer ungefähr 100 Personen als Geiseln gehalten wurden. Es handelte sich um den größten Massenmord an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust. Als Reaktion auf die Angriffe begann das israelische Militär noch am selben Tag eine militärische Gegenoffensive gegen die HAMAS im Gazastreifen. Am 8. Oktober erklärte das israelische Sicherheitskabinett den Kriegszustand. Nach anfänglichen und noch immer andauernden Luftangriffen setzte Ende Oktober eine Bodenoffensive ein, die mittlerweile nahezu den gesamten Gazastreifen umfasst. Bis Jahresende 2023 kamen nach palästinensischen Angaben mehr 44 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen als 22.000 Menschen ums Leben, mehrheitlich Zivilisten. Nach israelischen Angaben wurden etwa 7.000 Terroristen getötet. Die ohnehin schon prekäre humanitäre Lage im Gazastreifen hat sich für die dortige Bevölkerung nach dem 7. Oktober gravierend verschlechtert. Wenngleich der Gazastreifen der Brennpunkt der kriegerischen Auseinandersetzungen ist, haben gewaltsame Spannungen auch im Westjordanland und an der israelischen Nordgrenze zum Libanon und zu Syrien zugenommen. Der Generalsekretär der im Libanon operierenden "Hizb Allah", Hassan Nasrallah, lobte den Angriff der HAMAS zwar als "weise und mutig", doch sah die "Hizb Allah" bisher von einem Großangriff auf Israel ab. Lokale "Wir werden die Attacke vom 7. Oktober Gefechte und Infiltrierungsimmer wieder wiederholen, bis Israel versuche sowie der Beschuss vernichtet ist. Wir sind Opfer - alles, israelischer Städte und israelische Militäroperatiowas wir machen, ist gerechtfertigt." nen kosteten jedoch auch in HAMAS-Funktionär Ghazi Hamad am 24. Oktober 2023 Nordisrael und im Südlibanon in einem Interview des Senders LBC TV (Libanon) Menschenleben. Reaktionen in Deutschland Nach der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg stellen die kriegerischen Auseinandersetzungen in Nahost das dritte Ereignis innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums dar, das international starke Reaktionen auslöste und polarisierend wirkt. Die Bundesrepublik Deutschland ist hiervon nicht ausgenommen. Dies ist primär im Versammlungsund Demonstrationsgeschehen sichtbar, aber auch in sozialen Medien. Vor allem Islamisten und säkulare palästinensische 45 Extremisten nutzen die Lage in Nahost als Anknüpfungspunkt zur Propagierung ihrer eigenen Ziele. Allerdings instrumentalisieren auch Rechtsund Linksextremisten die Ereignisse zur Bestätigung und Verbreitung ihres eigenen Weltbildes. Eine Folgeerscheinung der Ereignisse in Nahost ist ein deutlicher Anstieg antisemitischer Vorfälle in Deutschland. Sie reichen von Drohungen und Schmähungen in Wort und Schrift bis hin zu Sachbeschädigungen und körperlichen Angriffen. Darüber hinaus wurden vermehrt Hinweise auf Anschlagsplanungen bekannt, wenngleich ein direkter Zusammenhang mit der Lage in Nahost bisher nicht in jedem einzelnen Fall bestätigt werden kann. Behördlicherseits wurden Verbote der islamistisch-terroristischen HAMAS und des Solidaritätsnetzwerks für palästinensische Gefangene "Samidoun" umgesetzt. Im Nachgang zu den Verboten kam es zu polizeilichen Durchsuchungsmaßnahmen in mehreren Bundesländern. Öffentliches Protestgeschehen Im Zeitraum vom 7. Oktober bis 29. Dezember 2023 gab es im Bundesgebiet 907 propalästinensische und 831 proisraelische Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen. 105 Veranstaltungen wurden verboten. In Rheinland-Pfalz wurden im selben Zeitraum 56 proisraelische und 23 propalästinensische Veranstaltungen registriert, schwerpunktmäßig in Mainz und Koblenz. Für den Verfassungsschutz sind solche Veranstaltungen nicht per se relevant, sondern lediglich, wenn es sich bei Veranstaltern und Teilnehmern um hier bekannte Extremisten handelt oder extremistische, volksverhetzende und gewaltverherrlichende Inhalte verbreitet werden. Auf propalästinensischen Versammlungen in Rheinland-Pfalz waren in Einzelfällen Plakate mit dem Schriftzug "From the river 46 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen to the sea" ("Vom Fluss bis zum Meer") zu sehen. Diese Parole bringt einen palästinensischen Anspruch auf das Gesamtgebiet zwischen Jordan und Mittelmeer zum Ausdruck und stellt gleichzeitig das Existenzrecht des Staates Israel in Abrede. Im Zusammenhang mit den Versammlungen in Rheinland-Pfalz wurden einzelne Fälle von Volksverhetzung gemeldet. Im Ganzen herrschte zwar oftmals eine emotionale Grundstimmung, aber in der Regel verliefen sie friedlich und ohne gravierende Zwischenfälle. Einen anderen Verlauf nahm insbesondere eine Mahnwache am 15. Oktober in Berlin, wo es nicht nur zu Ausrufen wie "Intifada [Aufstand] bis zum Sieg" kam, sondern auch zu gewaltsamen Ausschreitungen. In Bezug auf Organisation, Mobilisierung und Teilnahme sind bei propalästinensischen Versammlungen wiederholt Anhänger extremistischer Organisationen des nationalistisch-säkularen Spektrums in Erscheinung getreten. Dies trifft für Rheinland-Pfalz ebenfalls zu, wenngleich nicht im selben Maße wie in einigen anderen Bundesländern. Islamistische Akteure hielten sich als Organisatoren und Veranstalter oftmals zurück, mischten sich aber zuweilen unter die Teilnehmer. Reaktionen in sozialen Medien Die Ereignisse in Nahost lösten in sozialen Medien unmittelbar eine Flut von Stellungnahmen, Kommentaren und grafischen Darstellungen aus. Mehr als im realweltlich-öffentlichen Raum positionierten sich dort in hohem Maße Mitglieder, Anhänger und Sympathisanten islamistischer Gruppierungen wie der HAMAS, "Hizb Allah", "Hizb ut-Tahrir", "Muslimbruderschaft" und Personen aus dem salafistischen Spektrum. Das für den Islamismus charakteristische dualistische Weltbild findet hierbei seinen Widerhall in einer klar propalästinensischen und antiisraelischen Stimmung mit Überschneidungen zum Antisemitismus. 47 Am 7. Oktober und den Folgetagen konnten bei mehreren Personen in Rheinland-Pfalz Einträge festgestellt werden, welche die HAMAS und deren Angriff auf Israel verherrlichten. Die Thematik des HAMAS-Überfalls auf Israel trat jedoch mit Beginn der Gegenoffensive in den Hintergrund - und mit ihr die Frage, wer die kriegerischen Auseinandersetzungen ausgelöst hatte. Es folgte rasch eine Fokussierung auf das Narrativ der palästinensischen Opferrolle, eines unberechtigten und unverhältnismäßigen Angriffs Israels sowie eines Genozids an den Arabischer Schriftzug mit der Bedeutung "Gaza" und zugleich "Stärke/Macht/ Palästinensern. Eine Vielzahl von Fotos getöteter Ehre" mit abgefeuertem Wurfgeschoss in und verwundeter Kinder und anderer Zivilisten der oberen rechten Ecke. Dazugehöriger Kommentar: "Hurra, Tor!" unterstrich diese Ausführungen. In der Darstellung des Geschehens kam es auch zur Verbreitung von HAMAS-Propaganda, DesinformaQuelle: Eintrag auf privatem Facebook-Profil tionen und Verschwörungstheorien. Beispielsweise wurde Israel bezichtigt, Drahtzieher der Massaker vom 7. Oktober gewesen zu sein und zugleich die Verantwortung der HAMAS hierfür in Abrede gestellt. Ferner wurde wiederholt behauptet, dass sich propalästinensische Stimmen in Deutschland kein Gehör verschaffen dürften. Tatsächlich spricht allein die Vielzahl stattgefundener propalästinensischer Kundgebungen eine andere Sprache. Einen breiten Raum nahm in diesem Zusammenhang der Vorwurf einer antipalästinensischen Hetze und eines antimuslimischen Rassismus in deutschen Medien, in Politik und Polizei ein. Weitere Motive waren die Propagierung des "palästinensischen Widerstandes" und der Aufruf zum Boykott israelischer Produkte. 48 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Die Verurteilung Israels und westlicher Staaten als dessen Unterstützer ist keineswegs auf das islamistische Personenspektrum begrenzt. Die Kommentare von Personen, die linksextremistischen palästinensischen Organisationen angehören oder mit diesen sympathisieren, weisen in der Regel denselben Anklagecharakter gegenüber Israel auf. Bemerkenswerterweise bedienen sich beide Strömungen ungeachtet anderweitiger ideologischer Unterschiede derselben antiimperialistischen Argumentationsmuster, indem sie die Palästinenser als Opfer imperialistischer Politik von zionistischen und westlichen Akteuren darstellen. Bei Islamisten erklärt sich die Solidarität mit den mehrheitlich muslimischen Palästinensern zusätzlich durch die gemeinsame Zugehörigkeit zur "islamischen Gemeinschaft" (umma) und den Anspruch auf Gesamt-Palästina als Bestandteil des "Gebiets des Islams" (dar al-Islam). Die Örtlichkeit der al-Aqsa-Moschee als heilige Stätte des Islams in Jerusalem und die Forderung nach ihrer "Befreiung aus der zionistischen Besatzung" ist in islamistischen Diskursen ein regelmäßig wiederkehrendes Motiv. Es dient als Rechtfertigung für den auch gewaltsamen Widerstand gegen Israel, in ihren Stellungnahmen oftmals "Die Kinder, die Steine werfen, sind erwachsen geworden." Quelle: Eintrag auf privatem als Jihad deklariert. Facebook-Profil Reaktionen, die sich explizit gegen in Deutschland lebende Juden richten, wurden nur in Ausnahmefällen festgestellt. Zahlreiche Einträge enthalten jedoch unter Zugrundelegung des sogenannten 3-D-Tests für Antisemitismus, der 2004 vom israelischen Politiker und Wissenschaftler Nathan Sharansky entwickelt wurde, die charakteristischen Komponenten des israelbezogenen Antisemitismus: 49 die Dämonisierung Israels, die Delegitimierung Israels und die Verwendung von Doppelstandards. So wird Gewaltanwendung des israelischen Militärs harsch verurteilt, die Gewalt der HAMAS jedoch verschwiegen, gerechtfertigt oder gelegentlich sogar glorifiziert. Ein gängiges Motiv sind Vergleiche zwischen dem Vorgehen Israels und den Verbrechen der Nationalsozialisten. Hierbei verschwimmen die Grenzen zwischen Kritik an Israel und negativer Stereotypisierung von Juden. Gerade in der islamistischen Propaganda schwingt in der Kritik an Israel Antisemitismus mit. Die Darstellungen begünstigen im Ergebnis judenfeindliche Einstellungen und sind damit gegen die Menschenwürde "Die Ironie, zu dem zu werden, was du gemäß Art. 1 GG sowie den Gedanken der Völkereinst gehasst hast." Quelle: Eintrag auf privatem Facebook-Profil verständigung gerichtet. Stellungnahmen islamistischer Organisationen Um rechtliche Konsequenzen zu umgehen, kommunizieren HAMAS-Aktivisten hierzulande ihre Verbindungen zur Mutterorganisation nicht nach außen. Zumeist sind sie in Umfeldoder Vorfeldorganisationen aktiv, deren Verbindungen zur HAMAS nicht offenkundig sind. Offizielle Organisationsstrukturen der HAMAS haben auch vor dem Betätigungsverbot in Deutschland nicht bestanden. Aufgrund dessen liegen keine ihr eindeutig zuzurechnenden Stellungnahmen vor. 50 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Eine organisatorische und ideologische Nähe und Verbundenheit zur HAMAS weist traditionell die "Muslimbruderschaft" auf, aus der die HAMAS im Jahr 1987 hervorgegangen ist. In entsprechender Weise veröffentlichten Kanäle der internationalen "Muslimbruderschaft" Solidaritätsbekundungen gegenüber der HAMAS. Die deutschen Vertreter der "Muslimbruderschaft" äußerten sich öffentlich zumeist verhalten. Ein Kommentar der "Deutschen Muslimischen Gemeinschaft e.V." (DMG) gibt indessen am 29. Oktober in einer Instagram-Story einen Einblick, wie diese wichtigste Organisation von Anhängern der "Muslimbruderschaft" in Deutschland die Geschehnisse in Nahost einordnet und wie sich die hiesigen Muslime verhalten sollten. Darin heißt es, dass die israelische Kriegsmaschinerie Gaza ununterbrochen bombardiere und das Leben von 2,2 Millionen Menschen ausgelöscht werden solle. Dies sei ein Genozid. Die Muslime in Deutschland seien dazu aufgerufen, ihre Stimme gegen das Unrecht zu erheben, den Stopp der kriegerischen Handlungen sowie sofortige humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung zu fordern. Während der Appell moderat ausfällt, wird Israel ein Genozid unterstellt - und gleichzeitig der HAMAS-Terror verschwiegen. Die Gruppierungen, die der verbotenen "Hizb ut-Tahrir" (HuT) nahestehen, nutzten die sozialen Medien beinahe täglich für ihre massive antiisraelische und darüberhinausgehend antiwestliche Agitation. Sie beschränkten sich nicht auf eine Verurteilung israelischen Handelns, sondern beschworen mitunter den Untergang Israels und der "barbarischen Kolonialisten des Westens", so die Gruppierung "Generation Islam" am 9. Oktober 2023 auf X, ehemals Twitter. In einem Instagram-Eintrag der Gruppierung vom 27. Oktober wurde der Weg zur Befreiung "vom Joch der Unterdrückung" aufgezeigt. Demnach sollen die Muslime 51 "'Israel' ist wahrscheinlich das im Hinblick auf Palästina unter einem Kalifat geeint agieren, auch militärisch. einzige Land der Welt, das keine "Generation Islam" übernimmt hiermit Geschichte hat. Alles, was es die Zentralbotschaft und Forderung der hat, ist ein Vorstrafenregister." HuT nach einem Kalifat, also einer panislamischen Herrschaftsinstitution. Eine HuT-nahe Gruppierung "Muslim Interaktiv" von "Generation Islam" organisierte am 5. November 2023 auf X, ehemals Twitter Großkundgebung im nordrhein-westfälischen Essen am 3. November hatte die gleiche Botschaft. "Al-Qaida" und der sogenannte "Islamische Staat" (IS) reagierten unterschiedlich auf die "Operation al-Aqsa-Flut" und den weiteren Verlauf des Konflikts. In offiziellen Erklärungen lobten "al-Qaida" und einige ihrer regionalen Ableger die Operation der HAMAS als Erfolg und Gelegenheit für den globalen Jihad und riefen ihre Anhänger zur Unterstützung auf. Der IS hingegen vermied in seinen offiziellen Verlautbarungen eine namentliche Erwähnung der HAMAS und erinnerte stattdessen in allgemeinen Ausführungen an das islamistische Feindbild Israel. Gefährdungssachverhalte Am 14. Dezember 2023 gab es polizeiliche Exekutivmaßnahmen gegen vier Personen, gegen die die Generalbundesanwaltschaft Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland (HAMAS) eingeleitet hatte. Die Beschuldigten sollen auf der Suche nach (mindestens) einem Waffendepot gewesen sein, um die Waffen für Anschläge gegen jüdische Einrichtungen zu nutzen. 52 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Nachdem die HAMAS ihre terroristischen Aktivitäten bisher ausschließlich auf Israel und die palästinensischen Gebiete konzentrierte, gibt es - wie die Festnahmen zeigen - Anzeichen dafür, dass sie eine Ausweitung ihres operativen Vorgehens und ihrer Strategie anstreben könnte. Dadurch könnte Europa nunmehr auch zum terroristischen Aktionsraum der Organisation werden. Reaktionen im deutschen und türkischen Linksextremismus Die deutsche linksextremistische Szene zeigte sich bisher gespalten. Dort wurden und werden sowohl proisraelische als auch propalästinensische Positionen vertreten. Beide Seiten mobilisierten für die Teilnahme an Protesten und Demonstrationen, wobei die Anzahl rein linksextremistischer Veranstaltungen bundesweit bisher gering blieb. Stattdessen beteiligten sich Linksextremisten an "Wir als die 'Anti-ImperialistischeVeranstaltungen, die von verschieFront' grüßen den heldenhaften denen anderen Akteuren organisiert wurden. Widerstand der palästinensischen Organisationen und des Volkes und Die türkisch-linksextremistische rufen den 7. Oktober 2023 zum "Revolutionäre Volksbefreiungshistorischen Tag für das palästinenpartei-Front" (DHKP-C) ordnete sische Volk und alle unterdrückten das Vorgehen der HAMAS am 7. Oktober in den Kontext eines Völker der Welt aus." aus ihrer Sicht legitimen antizionistischen und antiimperialistiQuelle: Website der "Halkin Sesi TV" vom 9. Oktober 2023 schen Kampfes ein. 53 Reaktionen im deutschen und türkischen Rechtsextremismus Ebenso wie die deutsche linksextremistische Szene bewerteten auch Rechtsextremisten die Angriffe der HAMAS auf Israel uneinheitlich. So hat sich beispielsweise der Bundesverband der Partei "Die Heimat" (vormals NPD) bisher mit Positionierungen weitgehend zurück"Keine Solidarität mit Israel und gehalten. Demgegenüber vertritt die keinen Quadratmeter unseres Jugendorganisation der Partei, die Heimatbodens für mohamme"Jungen Nationalisten" (JN), eine klar propalästinensische Position. Die sich danische Landnehmer!" selbst als "antiimperialistisch" betrachtende neonazistisch geprägte Partei Quelle: der-dritte-weg.info "Der III. Weg" nimmt zwar eine klar antiisraelische, aber keine propalästinensische Haltung ein. In den Reaktionen auf die Situation in Nahost finden sich zudem in Teilen antisemitische Narrative und verschwörungstheoretische Äußerungen. Besonders ausgeprägt sind solche Positionen im Spektrum der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" sowie im Bereich der Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates. Innerhalb der "Neuen Rechte" wird die Verschwörungserzählung verbreitet, dass Israel den Überfall der HAMAS inszeniert habe, um von innenpolitischen Themen abzulenken. Darüber hinaus wird der Konflikt als Gelegenheit genutzt, die üblichen migrationsfeindlichen Thesen zu äußern. 54 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Im türkischen Rechtsextremismus herrscht - basierend auf einem ideologisch begründeten Antisemitismus - eine Parteinahme für die palästinensische Seite und gegen Israel vor, teils verbunden mit Boykott-Aufrufen gegenüber Firmen, denen man eine Nähe zu Israel nachsagt. Der Vorsitzende der "Föderation der Weltordnung in Europa" (ANF) postete bereits am Tag des HAMAS-Angriffs, dass Gott den palästinensischen Brüdern, die eine Operation gegen Israel gestartet hätten, den Sieg geben möge. Anstieg antisemitischer Straftaten Seit dem 7. Oktober hat das Bundeskriminalamt einen deutlichen Anstieg antisemitischer Delikte registriert. Allein im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza wurden zwischen dem 7. Oktober und 21. Dezember 2023 mehr als 1.100 Delikte im kriminalpolizeilichen Meldedienst für Fälle politische motivierte Kriminalität verzeichnet. Bei den Straftaten handelte es sich vor allem um Sachbeschädigungen und Fälle von Volksverhetzung. Vereinsverbote und Durchsuchungsmaßnahmen Die Ereignisse in Nahost zogen auch staatliche Konsequenzen nach sich. Am 2. November verbot die Bundesinnenministerin die Betätigung der HAMAS und des internationalen Netzwerks "Samidoun" ("Palästinensisches Solidaritätsnetzwerk"). Darüber hinaus wurde die Teilorganisation "Samidoun Deutschland" verboten. 55 In der Verbotsverfügung wurde ausgeführt, dass die Tätigkeit der HAMAS Strafgesetzen zuwiderlaufe und sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richte. Zudem gefährde sie erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Verbot sind sämtliche Aktivitäten und Unterstützungshandlungen für die HAMAS in Deutschland verboten, Symbol der HAMAS-zugehörigen "Izz-al-Din-alQassam-Brigaden" wozu auch das öffentliche Verwenden von Kennzeichen der Organisation gehört. Das Verbot von "Samidoun" wurde unter anderem damit begründet, dass die Gruppierung das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern und von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet sowie die öffentliche Ordnung beeinträchtige und gefährde. Die Vereinigung befürworte Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Belange und unterstütze Vereinigungen wie die Terrororganisation "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP). Auf die Verbote folgten am 23. November in fünf Bundesländern polizeiliche Durchsuchungsmaßnahmen gegen Einrichtungen und Wohnobjekte beider Gruppierungen, schwerpunktmäßig in Berlin. In Rheinland-Pfalz fanden keine Razzien statt. Die Maßnahmen dienten der Aufklärung von Aktivitäten, Strukturen und Vernetzungen der Vereinigungen. 56 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Fazit Die Auseinandersetzungen zwischen HAMAS und Israel werden über ihre Resonanz in Politik, Medien und Öffentlichkeit hinaus in mehreren extremistischen Phänomenbereichen aufgegriffen. Dies gilt im besonderen Maße für den Islamismus und für Teile des auslandsbezogenen Extremismus, hier vor allem für palästinensische und propalästinensische Gruppierungen. Der Krieg in Nahost besitzt erkennbar das Potenzial, dem Islamismus in Europa und mithin Deutschland neue Schubkraft zu verleihen. Islamisten betrachten Israel über all ihre sonstigen Differenzen hinweg als Feind der Muslime. Sie beziehen westliche Staaten aufgrund ihrer Unterstützung Israels und weiterer Faktoren in ihr Feindbild ein. Dies könnte zu einer zumindest kurzfristigen Zunahme individueller Radikalisierungsverläufe führen. Den Sicherheitsbehörden sind seit der Lageverschärfung in Nahost tatsächlich bereits vermehrt Einzelhinweise dieser Art bekannt geworden. 57 2. VOM IGEL ZUM KALIFAT: WIE ISLAMISTISCHE INFLUENCER IHRE BOT SCHAFTEN VERBREITEN Islamistische Influencer ködern in sozialen Medien gezielt Jugendliche und junge Erwachsene. Gerne greifen sie dazu Fragen aus dem Alltag junger Menschen auf. Indem sie ihren Followern dann detailliert vorgeben, wie diese zu denken und zu leben haben, wollen Islamisten sie für extremistische Vorstellungen von Alltag, Staat und Religion gewinnen. Salafistische Influencer sprechen dabei selten offen über politische Themen. Gruppierungen wie "Generation Islam" (GI), die der verbotenen islamistischen Partei "Hizb ut-Tahrir" (HuT) ideologisch nahestehen, versuchen hingegen gezielt, politische Themen und gesellschaftliche Probleme für sich zu nutzen. Sowohl Salafisten als auch HuT-nahe Akteure wollen eine Parallelgesellschaft herbeiführen, in der die freiheitliche demokratische Grundordnung unterlaufen wird. 58 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Darf ich Igel essen? Wahrscheinlich keine Frage, die vielen bisher durch den Kopf gegangen ist. Und doch sitzt da in einem YouTube-Video ein junger Mann, der mit einem betont ernsten Gesicht versucht, eine Antwort auf diese Frage zu formulieren. Und zwar eine islamrechtliche. Das tut er nach eigenen Angaben, um Menschen den Weg zum Islam zu zeigen. Im Internet Der salafistische Influencer "Sheikh Ibrahim" beantwortet nennt er sich "Sheikh Ibrahim" und eine Nutzerfrage. Quelle: YouTube das, wofür er tatsächlich wirbt, ist Salafismus. Eine besonders rigide auftretende Spielart des Islamismus. Influencer statt Propagandist Mehr und mehr Islamisten wie "Sheikh Ibrahim" machen sich in sozialen Netzwerken auf die Suche nach einem jungen Publikum, das sie unauffällig und schrittweise für ihre Vorstellungen von Alltag, Staat und Religion gewinnen wollen. Dabei gehen sie nicht wie Jihadisten vor, die brutale Gewaltvideos teilen. Auch nicht wie "klassische" Propagandisten, die langatmige politische Reden posten oder ihre Ideologie mit der rhetorischen Brechstange unter die Leute bringen wollen. Die gibt es zwar weiterhin. Sie haben aber innerhalb der islamistischen Szene Konkurrenz bekommen. 59 INFORMATION Was ist ein Influencer? Der Begriff bezeichnet eine Person, die in sozialen Netzwerken besonders bekannt oder einflussreich ist und mit ihrem Einfluss bestimmte Auffassungen, Positionen, Dienstleistungen oder Produkte bewirbt. Im deutschsprachigen Islamismus hat seit einiger Zeit die Stunde der Influencer geschlagen. Sie verbreiten vor allem auf TikTok, Telegram, YouTube und Instagram islamistische Inhalte als "snackable content" - Propaganda leicht verdaulich. Kurze und ansprechend produzierte Videos sollen Jugendliche dort abholen, wo sie sind. Dabei zeigen sich die Influencer oft nahbar und greifen Alltagsthemen auf. Manchmal reden sie über scheinbar Belangloses wie das Lieblingsspiel oder den Lieblingsfußballverein. Oft geht es auch um bloße Selbstdarstellung. Dann wiederum werden handfeste Probleme wie Erfahrungen von Alltagsrassismus angesprochen. So oft wie möglich aber versuchen die Influencer, eine ideologische Ebene einzuziehen und das jeweilige Thema in ihrem Sinne zu nutzen. Das Ziel ist es, ihrem Publikum tröpfchenweise extremistische Positionen von individueller Lebensführung, Gesellschaft und Staat zu vermitteln. Letztlich propagieren sie, dass es nur eine Wahrheit gäbe, die sich klar aus den Quellen der islamischen 60 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Zu den Jugendlichen als "Vorbild" sprechen. Salafisten in sozialen Medien. Quelle: TikTok Rechtsprechung ergeben würde und die deshalb unbedingt zu befolgen sei. Für beinahe jeden Aspekt des Lebens konstruieren die Influencer so eine angeblich verbindliche Handlungsanweisung. Betrachtet man die Videos der Islamisten in der Gesamtschau, greifen die Vorstellungen, die die Influencer präsentieren, letztlich in individuelle Grundrechte von zumindest muslimischen Bürgerinnen und Bürgern ein. Vor allem die allgemeine Handlungsfreiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Glaubensund Gewissensfreiheit sowie die Meinungsfreiheit sind davon betroffen. 61 Drohen für die Erlösung - Salafistische Influencer Islamisten decken mit ihren Beiträgen viele Themenfelder ab. Beispielsweise legen salafistische Influencer Wert darauf, religiöse Alltagspraxis gemäß ihrer Vorstellungen zu deuten. Sie fragen danach, wie Glaube im täglichen Leben gegen "Unglaube" bestehen kann. Sie wollen ihren Followern angeblich den einen wahren Weg zeigen, um sie vor Tausenden von Irrwegen zu bewahren. Dahinter steht immer die Drohkulisse göttlicher Strafe für alle, die sich vom "wahren" Glauben entfernen. Und so geben sie dann Tipps zur Koranauslegung oder zum richtigen Beten. Der salafistische Prediger "Abul Baraa" droht mit Höllenstrafen. Quelle: YouTube Politik im engeren Sinne sprechen die Influencer selten an. Sie gefallen sich viel mehr in der Rolle der nahbaren, aber unverbindlichen Onlineprediger und -missionare. Und sie vermitteln ein Lebensgefühl und einen salafistischen Lifestyle. Unpolitisch sind sie trotzdem nicht. Salafisten geben ihren Followern 62 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen problematische Anweisungen dazu, wie das soziale und gesellschaftliche Miteinander ihrer Meinung nach gestaltet werden sollte. Gerne verweisen sie dazu auf das Verhalten bekannter Persönlichkeiten aus der frühen islamischen Geschichte. Ihre Taten sollen heute noch als Orientierungspunkt dienen. Die Influencer geben aus islamistischer Perspektive Antworten auf Alltagsfragen wie: Darf man mit Christen befreundet sein? Haben Frauen dieselben Rechte wie Männer? Ist es erlaubt, für den "ungläubigen" Staat zu arbeiten? Und ihre Antwort ist stets "Nein". Die ihrer Meinung nach richtige Religionszugehörigkeit und Frömmigkeitspraxis eines Menschen sind für "Als Polizist arbeiten ist nicht erlaubt - Islamisten die Kriterien, nach mindestens nicht erlaubt. Viele sagen denen ein Mensch wesentlich auch, es ist Kufr (auf Deutsch: "Unbeurteilt wird. Damit leisten sie bewusst einer Diskriminierung glaube") so eine Sache, weil man einund Ausgrenzung im Alltag fach die Interessen des unislamischen Vorschub. Staates verteidigt (...)." Die Onlineprediger zielen auf Zitat aus einem Video von "Sheikh Ibrahim", Menschen ab, die Orientierung Quelle: YouTube suchen. Sie bieten ihnen Antworten, die verlockend klingen, weil sie simple Lösungen propagieren. Einfach sind sie aber nur deshalb, weil sie Widersprüche und Unsicherheiten ausblenden, Allwissenheit behaupten und die Welt in ein Freund-Feind-Schema pressen, das keine Abweichung duldet. Oft nutzen sie dazu "Storytelling" - griffige Geschichten, in die sie ihre Inhalte verpacken, um sie nachvollziehbarer, emotionaler und glaubhafter zu gestalten. 63 Abschottung erwünscht So fördern die Influencer Stück für Stück ein Abgrenzungsund Gruppendenken, dass das Zusammenleben in einer pluralen, offenen Gesellschaft gezielt unmöglich machen will. Alles, was ihnen nicht passt, wird als "unislamisch" etikettiert und für verboten oder verabscheuungswürdig erklärt. Wer sich ihnen entgegenstellt, wird als Islamfeind diffamiert. Weitere Betätigungsfelder für deutschsprachige Salafisten im Netz sind etwa Onlinesprachschulen, Religionskurse, Spendenkampagnen, "Life Coaching", Vermögensberatung oder Onlineshops, bei denen gezielt Produkte von Salafisten für Salafisten angeboten werden. Es finden sich auch "islamkonforme" Ehevermittlungen in sozialen Netzwerken. All das und noch viel mehr dient wesentlich zwei Zwecken: Die Szene abzuschotten und neue Mitglieder zu gewinnen. Kontakt nach außen suchen Salafisten nach Möglichkeit nur, wenn sie sogenannte Onlineoder Street-Dawa-Aktionen starten, um neue Anhänger zu rekrutieren. Dabei werden Missionskampagnen durchgeführt, für die häufig parallel in sozialen Netzwerken geworben wird. Offen politisch müssen die Organisatoren dafür nicht werden. INFORMATION Was bedeutet Dawa? Das arabische Wort da'wa (auf Deutsch: "Ruf" oder "Einladung" [zum Islam]) bezeichnet im Islam allgemein Missionsaktivitäten. Im politischen Salafismus wird die eigene Ideologie primär durch Propagandaaktivitäten verbreitet, die irreführend als "Dawa" bezeichnet werden. Letztlich geht es um politische Indoktrination. 64 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Wenn Identität zum Kampfbegriff wird - "Hizb utTahrir"-nahe Gruppierungen Regelmäßig politisch wird es hingegen auf den Kanälen der Gruppierungen, die ideologisch der verbotenen islamistischen "Hizb ut-Tahrir" (auf Deutsch: "Befreiungspartei", HuT) nahestehen (siehe Kurzbeschreibung "Hizb ut-Tahrir", Seite 220 f.). Dort wird eine Identitätspolitik betrieben, deren extremistische Qualität erst auf den zweiten Blick erkennbar wird. Videos von GI zum vermeintlichen "Kampf der Ideen" zwischen "dem" Islam und "dem" Westen, Quelle: YouTube Die bekanntesten Akteure auf diesem "Es ist die Intention (des Spielfeld sind "Generation Islam" (GI), deutschen Staates), dass die "Realität Islam" (RI) und "Muslim Interaktiv" (MI). Sie drohen Muslimen hier lebenden Muslime gefügig in ihren Videos etwa damit, dass in gemacht werden, dass sie hier Deutschland eine "Assimilationsagenda" homogenisiert werden mit der verfolgt werde. Das Ziel sei es, Muslimen deutschen Gesellschaft (...)." ihren Glauben zu nehmen. Zitat aus einem Video von GI, Quelle: YouTube 65 Das immer gleiche Drehbuch Oft folgen ihre Videos und Aktionen dem gleichen Drehbuch: Problem, Interpretation, Lösung. Zuerst sprechen die Macher ein aktuelles Ereignis oder größeres Gesellschaftsproblem an, das viele Muslime berührt, und laden es emotional auf. Beispielsweise wird über Islamfeindlichkeit, Koranschändungen oder den Nahostkonflikt berichtet. Dabei verkürzen oder verzerren sie den Sachverhalt oft. Danach deuten die Sprecher das Ereignis mit ernster Miene aus ihrer islamistischen Weltsicht heraus. Das geschieht in einer streitlustigen Sprache, die im direkten Vergleich zu den salafistischen Influencern weniger religiöses Vokabular nutzt. Gruppierungen wie GI verwenden dafür aber provokante Schlagworte wie "Wertediktatur" oder "Assimilationsterror". Sie schaffen sich eine eigene Sprache, um Spannungen und Misstrauen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen zu schüren, ohne dabei offen extremistische Aussagen zu tätigen. Jedes Ereignis, über das berichtet wird, wird von ihnen zu einem Teil eines größeren Konflikts stilisiert, bei dem Muslimen die Opferrolle zukommt. Es geht darum, dass sich "alle" - zum Beispiel Deutschland, Israel, Europa, die USA oder "der Westen" - verschworen hätten, um Muslime systematisch zu diskriminieren und den Islam zu bekämpfen. Die Identität des Islam und der muslimischen Gemeinschaft werde bedroht und dürfe nicht aufgegeben werden. Man dürfe sich dem Druck der "Mehrheitsgesellschaft" nicht beugen, auch wenn man dafür einen hohen Preis zahle. 66 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Opfernarrativ und Verschwörungsdenken Dieses Opfernarrativ bestimmt regel"Diese Idee, dass der Mensch mäßig die Beiträge der HuT-nahen sein eigener Herr ist und das Gruppierungen. Es lebt von Feindbildern, Antisemitismus und VerVolk sich keiner höheren schwörungsdenken. Das Selbstbild von Macht unterordnet, steht unMuslimen gewinnt hier vor allem durch vereinbar im Widerspruch mit die Abgrenzung von vermeintlichen dem Islam. Das erkennt jedes Feinden an Kontur. Alles "Unislamische" Kind. (...) [Gott hat den Menhat in dieser Weltsicht keinen Platz. Es wird zum Problem, da es angeblich die schen bereits Gesetze offeneigene Identität bedroht. bart.] Und eben jene Gesetze stehen für uns Muslime im Und was soll die Lösung sein? Die angeZentrum. Auch in der Konstimessene Reaktion bestehe für Muslime zuerst darin, sich abzuschotten und sich tuierung unseres politischen nicht "assimilieren" zu lassen. Nur so Daseins als eine Gemeinschaft könne die eigene Identität bewahrt werin Form eines Kalifats. Und das den. Muslime müssten dem Islam - so ist die islamische Lösung." wie die Islamisten ihn verstehen - treu bleiben. Der Wert des Einzelnen besteht Zitat aus einem Video von GI, allein in seiner Zugehörigkeit zum Islam. Quelle: YouTube 67 Langfristig würden die Sorgen der Muslime erst verschwinden, wenn es wieder ein Kalifat gäbe - gemeint ist damit ein islamischer Staat, an dessen Spitze ein Kalif steht, der die religiöse und politische Führung in einer Person verkörpert. Dieses Staatsmodell Kalifat befürwortet GI - ohne allerdings offen und eindeutig für dessen Einführung in DeutschGI propagiert die religiöse Gleichwertigkeit und Unabänderlichkeit von Gebet und Staatswesen im land zu werben. Solche "Lösungsansätze" sind Islam. Quelle: YouTube in letzter Konsequenz eine Absage an die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die Gefahr hinter dem scheinbar Belanglosen Sowohl Salafisten als auch die HuT-nahen Akteure wollen auf lange Sicht eine Parallelgesellschaft herbeireden, in der ihre vermeintlich ewig gültigen religiösen Gesetze angewendet werden. Sie arbeiten auf eine Abschottung und Abgrenzung ihrer Zielgruppe hin. Sie schüren Vorurteile und Misstrauen. Das passiert in einem Graubereich, bei dem regelmäßig kein offener Extremismus nachgewiesen werden kann. So erwecken die Influencer den Eindruck, dass sie nur harmlose Inhalte einstellen würden. Sie wollen anschlussfähig sein und sprechen alltägliche Probleme und Themen an. Beiläufig wird ihr Publikum an die Islamisten und deren Ideologie gewöhnt. Die Onlineakteure wollen sich vor allem als offenes Ohr und Sprachrohr für muslimische Jugendliche etablieren, um sie für ihre Sache zu gewinnen. 68 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Auch eine völlig unerwartete Frage wie "Ist Igel essen erlaubt?" erfüllt diesen Zweck - laut "Sheikh Ibrahim" ist es übrigens erlaubt. Diese und Hunderte ähnIslamisten versehen ihre Beiträge mit harmlosen Hashtags, lich gelagerte Fragen zu tatsächlich oder um hohe Klickzahlen zu erreichen und religiöse Themen zu auf den ersten Blick belanglosen Themen besetzen. Quelle: Instagram etablieren die Islamisten in den sozialen Medien jeden Tag mehr als vermeintlich verlässliche Informationsquellen. Sie wollen jede digitale Nische zum Islam besetzen und dominieren. Widerspruch wird nicht geduldet. Kritische Muslime und Nichtmuslime werden beleidigt und aus dem Diskurs gedrängt. Ihre Videos sollen die Islamisten kompetent und wichtig erscheinen lassen. Die Inhalte werden durch geschickte Platzierungen und passende Hashtags in die Timelines der Zuschauer gespült. Und so werden Nutzer langsam an die Influencer gewöhnt, um erst später mit islamistischen Inhalten in Kontakt zu geraten, in denen Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat abgelehnt werden. Fazit Die langfristigen Ziele der Influencer decken sich mit denen der Islamisten jenseits der sozialen Medien: Eine "islamische Gesellschaft" und ein "islamischer Staat" nach ihren Vorstellungen, die mit Menschenwürde, Demokratieund Rechtsstaatsprinzip nicht mehr viel zu tun haben. Deshalb ist es wichtig, die Ziele und Methoden der islamistischen Influencer offenzulegen und sie zu entzaubern. Ansonsten werden sie weiter versuchen, in den sozialen Medien die Deutungshoheit über religiöse Themen zu erlangen, um diese ideologisch zu überformen und so ihre extremistischen Botschaften unter die Menschen zu bringen. 69 3. WIE RECHTSEXTREMISTEN JUGENDLICHE KÖDERN: DIE PARTEI "DER III. WEG" Jugendliche und junge Erwachsene stehen im Fokus rechtsextremistischer Rekrutierungsbemühungen. Sie sind die wichtigste Zielgruppe. Am Beispiel der neonazistisch geprägten Kleinstpartei "Der III. Weg" (siehe Seite 99 ff.) soll veranschaulicht werden, wie Rechtsextremisten an den Alltag von Jugendlichen andocken, jugendkulturelle Phänomene aufgreifen und versuchen, eine "Erlebniswelt"1 anzubieten. Ihr Ziel ist es, eine verfassungsfeindliche Weltanschauung zu verbreiten und neue Anhänger zu gewinnen. Worum es der Partei genau geht, wird in einem Beitrag auf ihrer Webseite allzu deutlich: "Unlängst wurden seitens unseres Vorstandes die Weichen für unser Vorhaben gestellt [...] siegreich aus dem Kampf um die deutsche Jugend hervorzugehen. [...] Es liegt also an uns selbst, einen Menschenschlag zu schmieden, welcher in der Lage sein kann, unseren begonnenen Kampf mit uns gemeinsam zu vollenden." Partei "Der III. Weg": "Jugend ans Werk! - Eine Momentaufnahme als Wegweiser", veröffentlicht am 18. August 2023 auf https://der-dritte-weg.info, abgerufen am 23. August 2023. Dieser Kampf sei auch ein "biologisches Ringen um den Erhalt unserer Erbsubstanz", denn es stehe nicht zu Gunsten "der weißen Völker". Dass es der Partei ernst damit ist, neue junge Mitglieder zu gewinnen, zeigt sich nicht zuletzt am Aufbau einer eigenen Parteijugend. 1 Glaser, Stefan/Pfeiffer, Thomas (Hg.): "Erlebniswelt Rechtsextremismus", 5. Auflage, 2017. 70 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen "Nationalrevolutionäre Jugend" (NRJ) Hervorgegangen aus der "Arbeitsgemeinschaft Jugend" sollen Jugendliche über die "Nationalrevolutionäre Jugend" (NRJ) an die Partei gebunden und indoktriniert werden. Die NRJ ist Ausdruck einer professionalisierten Jugendarbeit und richtet sich an die Altersgruppe zwölf bis 25 Jahre. Die Jugendlichen werden so frühzeitig an die Parteiarbeit herangeführt und zu ideologisch gefestigten Mitgliedern geformt. Mehr als 3.600-mal angesehen: Rekrutierung via Messenger, Quelle: Telegram Aktuell besitzt die NRJ noch keine flächendeckenden, gefestigten Strukturen in den meisten Bundesländern. Gleichwohl sind die für Rheinland-Pfalz relevanten Stützpunkte realweltlich und im virtuellen Raum äußerst aktiv, um Jugendliche zu ködern. Ihr Angebot ist erlebnisorientiert, bietet Gemeinschaft, Bestätigung innerhalb der Gruppe, Raum für Kreativität und "rebellischen" Aktivismus im Sinne einer "Gegenkultur". Somit wird zuvorderst die emotionale Ebene bedient, wenngleich die Partei insbesondere auf die ideologische Schulung ihrer Logo der NRJ als virtueller Werbe-Flyer, Mitglieder großen Wert legt. Quelle: Telegram 71 Rechtsextreme Erlebniswelt: Wandern, Kämpfen, Reisen Eingebettet in einen ideologischen Kontext - "Leibesübungen sind Dienst am Vaterland" - bieten die Stützpunkte der Partei unter anderem Wanderungen und Kampfsporttraining an, sportliche Aktivitäten, die bei Jugendlichen Interesse wecken, wobei vom Kampfsport eine weitaus größere Anziehungskraft ausgeht. Bei Wanderungen, die durchaus körperlich anspruchsvoll sind und sich über mehrere Tage hinziehen können, steht das gemeinschaftliche Naturerlebnis im Zentrum. Eine gewisse Abenteuerlust der Zielgruppe kann so ebenfalls bedient werden. Nicht selten werden bei den Wanderungen historische Stätten angelaufen, um die deutsche Geschichte im Sinne der Rechtsextremisten zu verklären und ein nationalistisch-völkisches Weltbild zu vermitteln. Beispielsweise wanderte der Stützpunkt Westerwald/Taunus im Rahmen seiner Jugendarbeit zum Niederwalddenkmal in Rüdesheim am Rhein. Das Bauwerk soll an die Einigung des Deutschen Reichs von 1871 erinnern und wurde in dieser Zeit erbaut. Die Rechtsextremisten stellen sich vor Ort geschichtsklitternd in die vermeintliche Tradition "vom Kampf für Volk und Vaterland". Auf Jugendliche kann die Anknüpfung an historische Ereignisse dahingehend attraktiv sein, da man das eigene Handeln gegen "das System" in den Kontext eines imaginierten epischen Kampfes zwischen "Gut und "Böse" stellt. Selbsterhöhung und Rechtfertigung sind somit Ziele dieser Aktivitäten. Kampfsport nimmt in der Partei inzwischen einen zentralen Stellenwert ein. Anschaulich wurde das beim Bundesparteitag am 9. September 2023 in Hilchenbach (Nordrhein-Westfalen), als es dort auf einem öffentlichen Platz zu einer Kampfsportvorführung von Aktivisten kam. 72 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Sowohl durch die NRJ als auch einzelner Stützpunkte werden sogenannte "Selbstverteidigungstrainings" angeboten. Dies wirkt überwiegend auf männliche Jugendliche und junge Erwachsene anziehend. Fitness und Sport, aber auch "Mixed Martial Arts" (hier werden unterschiedliche Kampfsport-Stile vereint) stoßen bei der Zielgruppe nicht erst Szene aus einem Videozusammenschnitt des seit diesem Jahr auf großes Interesse. Neben "Winterbiwak" vom Stützpunkt Westerwald/ der ideologischen Komponente - gesunder, Taunus im Taunus, Quelle: Instagram wehrhafter Volkskörper - können sich die Jugendlichen körperlich messen und beweisen. Sie erhalten Zuspruch und Bestätigung der Gruppe, was zu einem höheren Selbstwertgefühl beziehungsweise Selbstbewusstsein führen kann. Der Effekt ist eine stärkere emotionale Bindung an die Partei. Der Stützpunkt Westerwald/Taunus bietet insbesondere in der "Fassfabrik" in Hachenburg "Selbstverteidigungstrainings" an. Im Berichtsjahr kam es zu einem "Jugendaustausch" in Madrid. Mehrere Mitglieder der NRJ sollen dort Kontakte zu spanischen "nationalen und nationalrevolutionären Jugendgruppen" geknüpft haben. Die Möglichkeit einer Reise ins Ausland - wie in dem hier genannten Beispiel nach Spanien Box-Event der "Nationalrevolutionären Jugend", - zur Vernetzung mit anderen Rechtsextreveröffentlicht im Juli 2023 im Telegram-Kanal misten ist für Jugendliche in der Szene eher der NRJ. ungewöhnlich. "Der III. Weg" hat hiermit ein weiteres attraktives Angebot im Portfolio, um junge Menschen für eine verfassungsfeindliche Bestrebung zu gewinnen. 73 Andocken an jugendkulturelle Phänomene: Umweltschutz, Graffiti und rechtsextremistischer Rap Um Jugendliche niedrigschwellig anzusprechen, greift "Der III. Weg" Themen und Inhalte auf, die sie aus ihrer Alltagswelt kennen. "Umweltschutz" ist eines davon, wie nicht nur durch eine Bewegung wie "Fridays for Future" deutlich wird. In antikapitalistischer Weise stilisiert sich die Partei zum eigentlichen "Retter der Natur". In ihr können sich Jugendliche aktiv für dieses Anliegen einbringen. Dass auch dieses Thema in der rechtsextremistischen Ideologie eingebettet ist, zeigt sich im Partei-Programm: "Ohne eine umweltfreundliche Politik ist jedes Volk in seiner Substanz gefährdet. [...] Hemmungsloses Wirtschaftswachstum, radikale Landschaftsveränderungen, gigantische Industrieprojekte, [...] werden durch die volksfeindlichen Parteien, Verbände und Interessengruppen vorangetrieben. Die einseitige Ausrichtung an materiellen Werten führt zwangsläufig zur Vernichtung aller traditionellen Bindungen und Kulturen. Der Mensch wird von seiner Umwelt entfremdet und entwurzelt und verliert folglich seine Identität." Partei "Der III. Weg": "Umweltschutz ist Heimatschutz" aus dem "10-Punkte-Programm" der Partei, https://der-dritte-weg.info, abgerufen am 07.12.2023. Im Vordergrund steht also das völkisch-nationalistische Weltbild der Partei. Inzwischen dockt "Der III. Weg" sogar an die afro-amerikanisch geprägte HipHop-Kultur an, um rechtsextreme Botschaften jugendkulturell zu verbreiten. Der bei Jugendlichen sehr beliebte Deutsch-Rap wird bereits seit mehreren 74 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Jahren erfolgreich (relativ hohe Zugriffsund Downloadzahlen auf YouTube und anderen Plattformen) von Rechtsextremisten für ihre Propaganda genutzt. Im November gab der rechtsextremistische Rapper "Proto" aus Sachsen Aktivisten der Partei in ihrem Podcast "Revolution auf Sendung" ein Interview. Darin schildert er den Stellenwert, den Rap-Musik inzwischen für die Szene hat: "Mittlerweile hört so ziemlich jeder Jugendliche [...] Rap. Das ist das Genre aller Jugendlichen [...] und dementsprechend hat das auch riesen Potenzial Gehör zu finden und riesen Potenzial Jugendliche anzusprechen." [sic!] Partei "Der III. Weg": "Revolution auf Sendung", Folge 56, erschienen am 12.11.2023. "Proto" veröffentlichte ungefähr im gleichen Zeitraum ein Musik-Album, das er gemeinsam mit einem anderen rechtsextremistischen Rapper, "Makss Damage" aus Thüringen, aufgenommen hatte. "Makss Damage" hat insbesondere zum "III. Weg" enge Verbindungen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Partei besagtes Musik-Album auf ihren Online-Präsenzen umfangreich bewarb. Zudem traten die beiden Rapper gemeinsam beim sogenannten "Nationalrevolutionären Weihnachtsmarkt" Live-Auftritt rechtsextremistischer Rapper auf auf, der vom "III. Weg" in Hilchenbach auseiner Veranstaltung der Partei, Quelle: Telegram gerichtet wurde. Rechtsoffene Jugendliche, die sich das Konzert ansehen wollen, können dann vor Ort für die Partei rekrutiert werden. 75 Ein weiteres jugendbeziehungsweise subkulturelles Phänomen aus dem Hip-Hop ist das Sprayen von Graffiti. Die NRJ nutzt dieses Mittel für eine zielgruppenorientierte Ansprache insbesondere in der OnlinePropaganda. Man will sich jugendlich geben und vermitteln, dass man in der Partei seine Kreativität ausleben kann. Auch die mit einem Graffiti der Partei einhergehende öffentliche "Provokation" kann auf manche Graffiti propagiert den "III. Weg". Quelle: Telegram Jugendliche attraktiv wirken. Zielgruppenorientierte Ansprache auf Social Media: Telegram, Instagram und TikTok Zentrales Mittel zur Ansprache der Zielgruppe sind für die Rechtsextremisten der Partei "Der III. Weg" inzwischen die bei Jugendlichen beliebten Plattformen des Social Web. Auf dem Messengerdienst Telegram betreibt die NRJ einen Kanal, in dem man unter den eingestellten Beiträgen auch kommentieren kann. Hierdurch wird eine direkte Kontaktaufnahme ermöglicht. Im Dezember hatte der Kanal über 2.400 Abonnenten und somit eine relativ hohe Reichweite. Interessant an dem Kanal, der früher das Label "AG Jugend" trug, ist, dass seit dessen Erstellung im Jahr 2019 eine stetige Professionalisierung festzustellen ist. Die Inhalte, die 2023 dort veröffentlicht wurden, stehen bei der Aufmachung und Bildgestaltung in deutlichem Kontrast zu denen aus den vorangegangenen Jahren. Zudem haben sich die Propagandaaktivitäten der Partei auf den äußerst jugendaffinen Plattformen Instagram und TikTok im Vergleich zu den Vorjahren deutlich intensiviert. Dort veröffentlichen die Rechtsextremisten auf die Sehund 76 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Nutzungsgewohnheiten jugendlicher Nutzer zugeschnittene Videound Bildinhalte. Es sind oft kurze mit Musik unterlegte Videos, in denen beispielsweise Outdoor-Aktivitäten oder Fitnessübungen gezeigt werden. Teilweise werden von Drohnen gefilmte Sequenzen eingebaut. Die Reichweite solcher Videos soll über eine unverfängliche Verschlagwortung mittels Hashtags erhöht werden und von der Zielgruppe leicht gefunden werden, auch wenn diese gar nicht nach solchen Inhalten sucht. Auf einem TikTok-Account, der zum Stützpunkt Pfalz gehört, werden beispielsweise die veröffentlichten Videos mit #fashion, #familie oder #fyp versehen. Suchen Jugendliche auf der Plattform also nach dem Begriff "Fashion", kann ihnen durch die Verschlagwortung und den Algorithmus ein Video vom "III. Weg" angezeigt werden. Auch "fyp", das für "For Your Page" (dt.: "Für Deine Seite") steht, wird auf TikTok genutzt, damit der Algorithmus Inhalte auf die personalisierten User-Seiten einspielt. Das Video mit der höchsten Reichweite des besagten Accounts des Stützpunkt Pfalz hatte 22.000 Aufrufe. Rekrutierung via TikTok, Quelle: TikTok Es konnte auch beobachtet werden, wie User, die Inhalte der Rechtsextremisten kommentieren, von den Account-Betreibern dort angeschrieben werden. So knüpfen sie einen ersten Kontakt, laden dazu ein "in die Bewegung zu kommen", und verweisen auf eine Eins-zu-Eins-Kommunikation mit Hilfe von Privatnachrichten. Jugendlichen, die vom "III. Weg" rekrutiert wurden, bietet sich auf diese Weise auch in der virtuellen Welt ein Aktionsraum. Viele von ihnen sind "Digital Natives", also mit Social Media und Smartphones aufgewachsen. Sie können sich mit ihren Fähigkeiten in diesem Gebiet für die Partei einbringen und beispielsweise Social-Media-Content zielgruppenorientiert aufbereiten. Darüber hinaus wissen sie eher als alteingesessene Parteikader, welche Themen bei Jugendlichen relevant sind. "Der III. Weg" erlangt so das Knowhow, um die Social-Media-Propaganda weiter auszubauen. Den jungen Aktivisten gibt es Bestätigung und das Gefühl gebraucht zu werden. 77 4. DESINFORMATION UND VERSCHWÖRUNGS THEORIEN - GEFAHREN FÜR DIE DEMOKRATIE Das Bekenntnis zur Demokratie gehört zum Wertefundament des Grundgesetzes. Es ist unverrückbar. Die Demokratie als Herrschaftsform, die auf Teilhabe des Volkes an der politischen Willensbildung beruht, ist aber nicht selbstverständlich. Wir wissen aus der Geschichte, wie zerbrechlich die Demokratie sein kann, wenn ihren erklärten Feinden nicht entschieden entgegengetreten wird und man sich nicht dauerhaft für ihren Erhalt einsetzt. Kräfte gegen die Demokratie Rechtsextremisten, "Reichsbürger" und sogenannte Delegitimierer machen heute einen erheblichen Teil dieses demokratiefeindlichen Potenzials aus. Sie alle verfolgen eine antidemokratische Agenda. Ungeachtet von weltanschaulich-ideologischen Unterschieden eint sie das Ziel, die demokratische Ordnung soweit zu unterminieren und zu destabilisieren, bis sie letztlich zu Fall gebracht wird. Um dieses Ziel zu erreichen versuchen diese Kreise nicht nur Einfluss auf die politische Meinungsund Willensbildung zu nehmen. Sie wollen vor allem das Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität und Funktionsfähigkeit der staatlichen Ordnung und der politischen Strukturen erschüttern. Dies dient dem Zweck, die Demokratie zu delegitimieren. Solche Bestrebungen haben in jüngerer Zeit deutlich zugenommen. Es ist umso wichtiger, die Extremisten und ihre Methoden zu entlarven. Zu den wichtigsten Waffen in ihrem Arsenal zählen die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Desinformation. 78 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Verschwörungstheorien als Mittel zum Zweck Verschwörungstheorien und Verschwörungsdenken sind Konstanten im gesamten extremistischen Spektrum. Aus Sicht der Extremisten sind sie willkommene Werkzeuge, um ihre Vorstellungen und Überzeugungen zu legitimieren, zu verdichten und zu kommunizieren. Demokratiefeindliches und antipluralistisches Denken soll auf diese Weise in einem langen Prozess - einem "schleichenden Gift" gleich - in die Gesellschaft einsickern und sich dort dauerhaft etablieren, so das Kalkül der Extremisten. Die hieraus resultierenden potenziellen Gefahren für die Innere Sicherheit, den gesellschaftlichen Frieden und die Demokratie liegen auf der Hand. Verschwörungstheorien vereinen Feindbildfixierung und SchwarzWeiß-Denken mit Kerninhalten extremistischer Ideologien sowie einem hohen Maß an Menschenund Demokratieverachtung. Auf diese Weise tragen sie zur Emotionalisierung, Polarisierung und Radikalisierung von Extremisten bei. Deutlich wird dieses Gefahrenpotenzial vor allem in Krisenzeiten. Extremisten haben ein grundlegendes Interesse daran, die in Teilen der Bevölkerung aufkommenden Ängste und eine sich dynamisch entwickelnde Verunsicherung in der Gesellschaft zu instrumentalisieren und zu forcieren. Während der Corona-Krise wurde dies durch die verstärkt verbreiteten Verschwörungsnarrative und Verschwörungstheorien besonders augenfällig. Sie sollten auf eine Delegitimierung staatlicher Autoritäten und Institutionen sowie demokratischer Entscheidungsprozesse hinwirken. Beispielhaft für eine explizit auch gegen die demokratische Ordnung gerichtete Verschwörungstheorie ist das Konstrukt vom "Tiefen Staat", das in Kreisen der "Neuen Rechten" und der "Delegitimierer"-Szene verbreitet wird. Quelle: Telegram 79 Demnach existiere innerhalb der etablierten staatlichen Strukturen eine Art politische Parallelwelt mit im Verborgenen wirkenden Akteuren. Demokratisch legitimierte Politikerinnen und Politiker seien fremdgesteuert. Die Demokratie, so das Fazit, bestehe nur noch zum Schein. Eine ebenso gängige Verschwörungstheorie in den genannten Spektren ist das Narrativ "Großer Austausch". Dieses völkisch-rassistische Konstrukt dient der Inszenierung einer Bedrohung durch Fremde, die angeblich nach und nach in Deutschland einsickern, um die angestammte weiße Bevölkerung auf lange Sicht zu verdrängen und zu ersetzen. Maßgeblich verantwortlich hierfür soll die etablierte Politik sein, so die rechtsextremistische Lesart. "Remigration" im großen Stil wird von den Extremisten als Lösung des "Problems" propagiert. Verschwörungstheorien und Desinformation - "Geschwister im Geiste" Verschwörungstheorien und Desinformation sind "Geschwister im Geiste". Sie dienen demselben Zweck. Verschwörungstheorien muten oftmals bizarr an, wie das Beispiel der von der QAnon-Anhängerschaft vertretenen Vorstellungen von einem durch globale Eliten gedeckten Ring satanischer Kinderschänder zeigt. Damit sind sie vergleichsweise leicht zu entlarven. Desinformation ist hingegen schwerer zu durchschauen und verbreitet sich oft ohne großes Aufsehen. Bei Desinformation handelt es sich nicht um aus Versehen verbreitete Falschnachrichten ("Zeitungsenten") oder satirische Darstellungen. Desinformation dient dem Ziel, Menschen vorsätzlich zu täuschen, das heißt in die Irre zu führen und/oder sie zu beeinflussen. Menschen sollen manipuliert werden. Dies kann auf unterschiedliche Art und Weise geschehen wie durch gefälschte Fotos und Websites, verkürzte Zitate, fehlerhafte Statistiken, Lügen oder Gerüchte. 80 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Leicht zu verbreiten, schwer zu erkennen Bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien und Desinformation spielen das Internet und soziale Netzwerke zentrale Rollen. Extremisten verstehen, wie heute Aufmerksamkeit generiert wird und nutzen mühelos die gesamte Klaviatur der sozialen Medien, um ihre Inhalte zu verbreiten. Ein besonderes Gefahrenpotenzial ergibt sich dabei aus der Konzentration von Verschwörungsnarrativen, Desinformation und "alternative Fakten" in sogenannten Filterblasen, die den Zugang zur Realität verzerren. Hinzu kommen ein großer Verbreitungsgrad der Informationen, die rasante Verbreitungsgeschwindigkeit quasi in Echtzeit sowie deren dauerhafte Konservierung im Netz, sofern sie nicht von aufmerksamen Betreibern gelöscht werden. Mit Blick auf die weitere Entwicklung wird von erheblichem Interesse sein, welche Rolle Künstliche Intelligenz (KI) bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien, Desinformation und Fake News bereits spielt und spielen wird. Die manipulativen Möglichkeiten der KI machen nachdenklich. Wie kann für Nutzerinnen und Nutzer erkennbar bleiben, was Fakt oder fake ist? Gerade sogenannte Deep-Fakes, also realistisch anmutende Medieninhalte, werden es in Zukunft immer schwerer machen, diese Grenze zu ziehen, selbst für Fachleute. Die Verbreitung glaubwürdiger Desinformationskampagnen zur Destabilisierung der Demokratie hat längst begonnen. Quelle: Pixabay 81 Wie wirkmächtig sind Verschwörungstheorien und Desinformation? Die Frage könnte auch lauten: Verfangen diese Mittel in der Mitte der Gesellschaft? Sie ist nicht leicht und auch nicht abschließend zu beantworten. Im Verlauf des Corona-Protestgeschehen konnte eine schrittweise Entgrenzung zwischen Teilen des bürgerlichen Protest-Spektrums und extremistischen Kreisen festgestellt werden. Rechtsextremisten, "Delegitimierer" und Aktivisten aus der sogenannten Reichsbürger-Szene gingen Seite an Seite mit Nichtextremisten und konnten weitestgehend unwidersprochen agitieren - Verschwörungstheorien und antisemitische Narrative eingeschlossen. Nach der aktuellen "Mitte-Studie 2022/23" der Universität Leipzig glauben 32 Prozent der Befragten, dass "Politiker und andere Führungspersönlichkeiten nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte sind", während die Vorgängerstudie für 2020/21 noch von rund 20 Prozent ausging. Insgesamt, so die aktuelle Erhebung, neigen 38 Prozent der Befragten zum Verschwörungsglauben - die Verfasserinnen und Verfasser der Studie sprechen wörtlich von einer "erheblichen Zunahme". Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang eine Korrelation von Verschwörungsglauben, Populismus und auch Demokratiemissachtung, auf die in der Studie ausführlich eingegangen wird. 82 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen Mit diesen Ergebnissen und Schlussfolgerungen sind die Autorinnen und Autoren der "Mitte-Studie" nicht allein. Einer 2023 veröffentlichten Studie der Universität Hohenheim zufolge ist rund jeder vierte Deutsche davon überzeugt, dass die Politik von "geheimen Mächten" gesteuert werde - gewissermaßen ein "Klassiker" unter den Verschwörungsmythen. Festgestellt wurde zudem, dass sich bei rund einem Drittel der Bundesbürger ein "im erweiterten Sinn rechtspopulistisches Weltbild" verfestigt habe. Eine wachsende Gefahr Das Gefahrenpotenzial darf nicht unterschätzt werden: Wenn auf die Aushöhlung der Demokratie abzielende Verschwörungstheorien, Desinformation und Fake News auf fruchtbaren Boden fallen, sich zunehmend verbreiten und sich im Bewusstsein der Menschen verankern, besteht die Gefahr, dass sich eine faktenfreie parallele Wahrnehmungssphäre entwickelt. Teilweise ist das bereits geschehen. Extremisten und Demagogen sind sich dessen bewusst. Sie setzen diese Mittel daher intensiv ein, um zu verunsichern, aufzuwiegeln, zu destabilisieren und die Demokratie zu gefährden. 83 5. GEWALTORIENTIERTER LINKSEXTREMISMUS IN DEUTSCHLAND - ENTWICK LUNG UND PERSPEKTIVE Spätestens mit den gewalttätigen Ausschreitungen anlässlich der Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt im Jahr 2015 und nicht zuletzt rund um den G20-Gipfel in Hamburg im Jahr 2017 hat die Bedrohung durch den gewaltorientierten Linksextremismus in Teilen des Bundesgebietes wieder zugenommen. Der Verfassungsschutz beobachtet eine kontinuierlich wachsende Gewaltbereitschaft und Radikalisierung der Szene. Die Aktionsformen verändern sich weg von der Massenmilitanz hin zu klandestinen Kleingruppenaktionen. Schwere Körperverletzungen der Opfer werden billigend in Kauf genommen. Dies gilt insbesondere im Kampf gegen erkannte oder vermeintliche Rechtsextremisten. Ein Präzedenzfall aus jüngster Zeit für das militante Vorgehen gegen Rechtsextremisten war am 11. Februar 2023 ein Angriff mutmaßlicher Linksextremisten auf Teilnehmer der neonazistischen Veranstaltung "Tag der Ehre" in der ungarischen Hauptstadt Budapest. Dort treffen sich jährlich Rechtsextremisten aus Ungarn und ganz Europa, um das "Gedenken" an "Wehrmacht" und "Waffen-SS" hochzuhalten. Nach Angaben der ungarischen Ermittlungsbehörden soll eine Gruppe aus acht bis zehn Personen, die überwiegend aus Deutschland stammen, mehrere mutmaßliche Rechtsextremisten - unter anderem mit Schlagstöcken und Hämmern 84 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen - zum Teil schwer verletzt haben. Im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft Dresden wurden nach ersten Ermittlungen im März mehrere Wohnungen der Beschuldigten in Ostdeutschland durchsucht. Seit dem Angriff fahnden zudem die ungarischen Strafverfolgungsbehörden nach den Tatverdächtigen. Zwei von ihnen konnten noch vor Ort festgenommen werden. Im Dezember 2023 wurde ein weiterer in Berlin festgenommen, ihm droht die Auslieferung nach Ungarn. Im Januar 2024 hat das Verfahren gegen mutmaßliche Linksextremisten in Budapest - zwei Deutsche und eine Italienerin - begonnen. Die übrigen Tatverdächtigen sind untergetaucht und werden mit internationalen Haftbefehlen gesucht. "Wieder mal zeigt sich: getroffen hat es einzelne, gemeint sind wir alle. Die Härte des Urteils soll ein Exempel statuieren, um uns Abzuschrecken. Mit diesem eindeutig politisch motivierten Urteil kriminalisiert der Staat alle Antifaschist*innen. Aber wir sagen deutlich, Antifaschismus ist kein Verbrechen! Wir stehen geschlossen hinter Lina! Freiheit für alle politischen Gefangenen! Freiheit für Lina! Wir werden weiterkämpfen und lassen uns nicht von der Staatsmacht einschüchtern! Alle auf die Straße am Tag X. 03.06. !!" [sic] Quelle: Instagram, Antifa Trier Das Geschehen in Ungarn reiht sich in eine Entwicklung ein. Am 31. Mai 2023 verkündete der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden das Urteil gegen Lina E. und drei Mitangeklagte. Lina E. wurde wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, mehrfacher gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung, Urkundenfälschung, Diebstahl und Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Ihre 85 Mitangeklagten erhielten Freiheitsstrafen von zwei Jahren und fünf Monaten bis drei Jahren und zwei Monaten. Als Mitglieder einer gewaltbereiten linksextremistischen Gruppe hatten sie zwischen August 2018 und Sommer 2020 mehrere Überfälle auf tatsächliche oder als solche ausgemachte Rechtsextremisten begangen. "Geeint durch linksextremistische Überzeugungen und einen militanten Antifaschismus", wie es in dem Urteil heißt, schreckte die Gruppe nicht davor zurück, bei den Geschädigten schwerste Verletzungen in Kauf zu nehmen, wenn nicht bewusst einzukalkulieren. Szenesolidarität mit den Gewalttätern Bezeichnend für die Entwicklung in der Gewaltfrage sind Solidaritätsund Sympathiebekundungen aus der Szene mit Gewalttäter(innen) wie Lina E., die schwindende Skrupel erkennen lassen. Es sind offenkundig nicht nur einzelne, die sich entsprechend solidarisieren und positionieren. Bereits mehrere Monate vor der Urteilsverkündung gegen die Gruppe um Lina E. hatte die linksextremistische Szene bundesweit zur Teilnahme am zentralen Demonstrationsgeschehen "Tag X" in Leipzig aufgerufen. Als "Tag X" war der erste Samstag nach der Urteilsverkündigung bezeichnet worden. Trotz eines Verbots fanden am 3. Juni 2023 in Leipzig Kundgebungen statt. Einige der Demonstrierenden bewarfen die Sicherheitskräfte mit Flaschen und Steinen. Zudem wurde ein Brandsatz auf Polizisten geworfen. Bereits am Vorabend des "Tag X" kam es zu Quelle: Instagram, Antifa Leipzig Ausschreitungen mit Angriffen auf Polizeikräfte. Es wur86 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Brennpunktthemen den Barrikaden errichtet, die im späteren Verlauf entzündet wurden. Um diesen "Tag X" herum gab es auch dezentrale Veranstaltungen in weiteren bundesdeutschen Städten, so auch am 31. Mai 2023 in Mainz. Weitere Eskalationsstufe erreicht? Der Verfassungsschutz bewertet die aktuellen Entwicklungen in der gewaltorientierten linksextremistischen Szene als besorgniserregend. Vor dem Hintergrund der qualitativen Veränderungen der Taten in einigen Bundesländern sowie der Radikalisierung einzelner Gruppen und Einzelpersonen besteht die abstrakte Gefahr der Herausbildung eines neuen Linksterrorismus in Deutschland. "Die Schwelle zum Terrorismus sehen wir aktuell noch nicht überschritten, aber wenn sich die Radikalisierungsspirale weiterdreht und die Taten immer brutaler und hemmungsloser werden, dann rückt der Moment näher, in dem man auch von Linksterrorismus sprechen muss", äußerte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz nach dem Urteil gegen Lina E. Ende Mai 2023. Die gewaltorientierte linksextremistische (Autonomen)-Szene hat sich in Rheinland-Pfalz bislang zwar nicht wie in urbanen Zentren (Berlin, Hamburg oder Leipzig) radikalisiert oder vergrößert. Dennoch bleibt auch hier Aufmerksamkeit geboten. Die aktuellen Entwicklungen im Bundesgebiet verdeutlichen, dass Gewalt gegen Menschen, nicht zuletzt gegen "Rechte", in weiten Teilen des Spektrums kein Tabu ist. Hinzu kommt, dass für linksextremistische Gruppierungen die AfD in den vergangenen Jahren zum "Feindbild" schlechthin geworden ist. Insbesondere im Hinblick auf Wahlen ist daher nicht auszuschließen, dass auch in Rheinland-Pfalz zumindest vermehrt mobilisiert werden könnte. Der Verfassungsschutz wird die weitere Entwicklung genau verfolgen. 87 RECHTS EXTRE 88 MISMUS TS RECHTSEXTREMISMUS 1. Personenpotenzial S. 90 2. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 91 3. Gruppierungen und Strukturen S. 96 E 3.1 Rechtsextremistische Parteien und parteiabhängige Gruppierungen S. 96 3.1.1 "Die Heimat" (vormals NPD) S. 96 3.1.2 Partei "Der III. Weg" S. 99 3.1.3 Partei "DIE RECHTE" S. 104 3.1.4 Extremistische Strukturen in der Partei "Alternative für Deutschland" S. 105 3.1.5 "Junge Alternative" (JA) S. 108 4. Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen S. 115 US 4.1 "Neue Rechte" S. 115 4.2 Neonationalsozialismus S. 121 5. Weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial S. 125 5.1 "Hammerskins" S. 125 5.2 Rechtsextremistische Musik S. 127 6. Internetauswertung Rechtsextremismus S. 134 7. Kurzbeschreibungen S. 137 89 1. PERSONENPOTENZIAL 2023 2022 Gewaltorientierte* 150 150 Parteien und parteiabhängige Strukturen 255 295 # "Die Heimat" (früher: NPD) 100 150 # "Der III. Weg" 60 50 # "DIE RECHTE" 15 15 # "Junge Alternative" 40 40 # "Neue Stärke Partei" 10 10 # Sonstige 30 30 Parteiunabhängige Strukturen 260 220 Unstrukturiertes Personenpotenzial** 255 235 Gesamt 770 750 Die Zahlenangaben sind geschätzt und gerundet. Die Gesamtzahlen beinhalten keine Mehrfachmitgliedschaften. * Die Zahl der Gewaltorientierten ist eine Schnittmenge und beinhaltet vor allem Teile des unstrukturierten Personenpotenzials sowie Neonazis. ** Einschließlich ca. 30 Personen aus dem "Reichsbürger"-Spektrum 90 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus 2. ÜBERBLICK UND ENTWICKLUNGEN 2023 Rechtsextremistischen Gruppierungen und Einzelpersonen stellen eine unverändert hohe Gefahr für die Demokratie und die Gesellschaft dar. Ein erhebliches Aufklärungsinteresse der rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzbehörde liegt dabei vor allem beim gewaltorientierten Rechtsextremismus. Die Zahl der politisch motivierten Straftaten -rechtsbelief sich 2023 in Rheinland-Pfalz auf 1.245 (2022: 740, siehe Seite 281). Vereinsverbote Im Jahr 2023 gelang den Sicherheitsbehörden ein weiterer wichtiger Schlag gegen den Rechtsextremismus. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) hat auf der Grundlage des Vereinsgesetzes im September 2023 zwei rechtsextremistische Gruppierungen verboten. Zum einen wurden die "Hammerskins Deutschland" einschließlich ihrer regionalen "Chapter" und der Teilorganisation "Crew 38" verboten. Die Verbotsverfügung wurde am 19. September 2023 vollzogen und in zehn Bundesländern Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt. Von dem Verbot betroffen waren unter anderem die Chapter "Rheinland" und "Westwall", welche Bezüge nach Rheinland-Pfalz aufwiesen. Die Exekutivmaßnahmen richteten sich auch gegen einen in Rheinland-Pfalz wohnenden führenden Kopf der "Hammerskins", bei dem es sich um den "European Secretary" handelte. 91 Darüber hinaus wurden Ende September 2023 die rechtsextremistische Vereinigung "Die Artgemeinschaft-Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." (AG-GGG) und ihre Teilorganisationen verboten. Von dem Vollzug der Verbotsverfügung waren auch Personen aus RheinlandPfalz betroffen. Die AG-GGG verbreitete unter dem Deckmantel eines pseudoreligiösen, germanischen Götterglaubens ein rassistisches Weltbild. Ihr zentrales Ziel war die Erhaltung und Förderung der eigenen "Art", welche mit dem nationalsozialistischen Rassebegriff gleichzusetzen ist. Neben der Ideologie der Rassenlehre weisen Symbolik, Narrative und Aktivitäten des Vereins weitere Parallelen zum Nationalsozialismus auf. Rechtsextremistische Parteien und Strukturen Trotz Mitgliederschwund ist die einstige "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) weiterhin die zahlenmäßig stärkste rechtsextremistische Partei in Rheinland-Pfalz. Die Partei hat sich im Berichtsjahr in die "Die Heimat" umbenannt. Die wenigen Aktivitäten der Partei in Rheinland-Pfalz, wie Demonstrationen, gehen von einem kleinen Kreis alteingesessener Mitglieder aus. Die Jugendorganisation "Junge Nationalisten" (JN) verfolgt - angelehnt an die "Neue Rechte" - mittlerweile die Strategie, dass Regionalgruppen ortsbezogene und vor allem unverfänglich klingende Namen erhalten; ein Beispiel ist die Gruppe "Mosel.Inferno". 92 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Die Partei "Der III. Weg" entfaltete mit ihren beiden Stützpunkten Westerwald/Taunus und Pfalz hingegen umfangreiche Aktivitäten im Bundesland. Eine besondere Dynamik haben die Rekrutierungsbemühungen insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das Personenpotenzial ist somit leicht gewachsen und hat sich verjüngt. Auch 2023 hat sich wieder gezeigt, dass die Partei zu rechtsextremistischen Akteuren und Gruppierungen im Ausland gute Kontakte pflegt. Unverändert mit etwa 15 Personen ist die Mitgliederzahl der Partei "DIE RECHTE". Die Partei weist Überschneidungen zur rheinland-pfälzischen "Kameradschaftsszene" auf, insbesondere zur "Kameradschaft Rheinhessen", sodass überwiegend im rheinhessischen Raum öffentliche Aktivitäten registriert wurden. Die "Kameradschaft Rheinhessen" verkündete aber im Oktober 2023 ihre Auflösung. Die "Neue Rechte" Drehund Angelpunkt der Akteure der "Neuen Rechte" ist die Migrationspolitik, der "Kampf" gegen den sogenannten Bevölkerungsaustausch und die Forderung nach "Remigration". Angehörige der "Neuen Rechten" aus Rheinland-Pfalz nahmen an einer Demonstration für "Remigration" Ende Juli 2023 in Wien teil. Im nördlichen Rheinland-Pfalz hat sich die Gruppierung "Revolte Rheinland" als Nachfolgeorganisation der "Identitären Bewegung Rheinland-Pfalz" etabliert. Die "Revolte Rheinland" tritt insbesondere mit Plakataktionen und Flugblattverteilungen in Erscheinung. Im September 2023 beteiligte sich die "Revolte Rheinland" unter falschem Namen an einer Müll-Sammelaktion an der Mosel in Trier und gab sich erst nach der Aktion zu erkennen. 93 Die Neonazi-Szene in Rheinland-Pfalz Den weitaus größten Teil des gewaltorientierten Personenpotenzials innerhalb der rechtsextremistischen Szene machen Neonazis aus. Mit etwa 190 Personen stellt die Neonazi-Szene seit mehreren Jahren den größten Anteil bei den parteiunabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen in Rheinland-Pfalz. Die Szene setzt sich überwiegend aus lockeren, informellen Zusammenschlüssen mit niedrigem Organisationsgehalt zusammen. Die straff organisierte "klassische" Kameradschaftsszene hat zuletzt an Bedeutung verloren. Zu den neonazistischen "Kameradschaften" gehörten im Berichtsjahr die "Kameradschaft Rheinhessen" und der "Nationale Widerstand Zweibrücken". Die "Kameradschaft Rheinhessen" verkündete im Oktober 2023 jedoch ihre Auflösung. Es bleibt abzuwarten, ob es sich dabei nicht um eine Scheinauflösung handelt. Digitaler Rechtsextremismus Die Nutzung des Internets und verschiedener sozialer Netzwerke sowie Messengerdienste durch Rechtsextremisten blieb auch 2023 ungebrochen hoch. Die Möglichkeiten, die das Internet bietet, nutzen Szeneangehörige zur Rekrutierung vor allem junger Menschen. Darüber hinaus führt die virtuelle Vernetzung und (verdeckte) Kommunikation zu einer Vermischung von Akteuren ganz unterschiedlicher Phänomenbereiche. Die Internetauswertung in den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" sowie "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" hat sich zu einem festen und unverzichtbaren Bestandteil der nachrichtendienstlichen Aufgabenwahrnehmung entwickelt. 94 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Rechtsextremistische Konzerte und Liederabende In Rheinland-Pfalz fanden im Jahr 2023 elf Musikveranstaltungen mit insgesamt rund 300 Teilnehmenden statt. Sowohl die Anzahl der Veranstaltungen als auch die durchschnittlichen Besucherzahlen bewegen sich damit auf dem Niveau vor der Corona-Pandemie. Den rheinland-pfälzischen Sicherheitsbehörden ist es Anfang Juni 2023 gelungen, ein konspirativ organisiertes rechtsextremistisches Konzert in Daaden im Landkreis Altenkirchen aufzulösen und erfolgreich zu unterbinden. 95 3. GRUPPIERUNGEN UND STRUKTUREN 3.1 Rechtsextremistische Parteien und parteiabhängige Gruppierungen 3.1.1 "Die Heimat" (vormals "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" - NPD) Im Juni 2023 gelang der "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) nach zähen internen Kämpfen im zweiten Anlauf die Umbenennung in "Die Heimat" (siehe Verfassungsschutzbericht 2022, S. 72 f.). Die 1964 gegründete NPD ist die älteste rechtsextremistische Partei in Deutschland. Hinter der neuen Fassade samt Logo finden sich jedoch das gleiche Konzept und die gleichen führenden Köpfe wieder. Inhaltlich ist "Die Heimat" weiterhin bestrebt, einen ethnisch homogenen, autoritären Nationalstaat zu errichten und die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Das Bundesverfassungsgericht hat der NPD bereits im Jahr 2017 eine Wesensverwandtschaft zum Nationalsozialismus attestiert, die weiterhin besteht. Die Namensänderung führte zu erheblichen internen Konflikten. Angeführt vom ehemaligen Hamburger Landesvorsitzenden bildete sich nach der Umbenennung eine kleine "Dissidentengruppe", die politisch weiterhin unter dem 96 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Namen NPD agieren will. Deren erster Bundesparteitag, auf dem ein Neustart der Partei unter altem Namen proklamiert wurde, fand Ende November 2023 in Niedersachsen statt. Zuletzt war die Partei damit beschäftigt, die nötigen Unterstützungsunterschriften für ihre Teilnahme an der Europawahl 2024 zu sammeln. Ausschluss von der staatlichen Parteienfinanzierung Bereits im Jahr 2019 haben Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung ein Verfahren zum Ausschluss der NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung beim Bundesverfassungsgericht beantragt. Zur Hauptverhandlung am 4. und 5. Juli 2023 in Karlsruhe erschienen die Vertreter der Partei nicht. Mit Urteil vom 23. Januar 2024 (Az.: 2 BvB / 19) gab das Bundesverfassungsgericht dem Antrag statt und schloss die Partei "Die Heimat" (vormals NPD) für sechs Jahre von der staatlichen Parteienfinanzierung aus. Nach Überzeugung des Gerichts missachtet die Partei die freiheitliche demokratische Grundordnung und ist nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Mitglieder und Anhänger auf deren Beseitigung ausgerichtet. Sie zielt auf eine Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen an der ethnischen "Volksgemeinschaft" ausgerichteten autoritären Staat. Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde aller, die der ethnischen "Volksgemeinschaft" nicht angehören, und ist zudem mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Dass die Partei "Die Heimat" auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgerichtet ist, wird insbesondere durch ihre Organisationsstruktur, ihre regelmäßige Teilnahme an Wahlen und sonstigen Aktivitäten sowie durch ihre Vernetzung mit nationalen und internationalen Akteuren des Rechtsradikalismus belegt. Die Vertreter der Partei "Die Heimat" blieben der Urteilsverkündung fern. 97 Personenpotenzial Der Mitgliederschwund bleibt von den Veränderungsbestrebungen unberührt und setzte sich auch 2023 fort. Im Vergleich zu den rund 3.200 Mitgliedern im Jahr 2022, zählte die Partei 2023 bundesweit noch ca. 2.700 Mitglieder. In Rheinland-Pfalz hat sich die Mitgliederzahl von 150 auf weniger als 100 Personen verringert. Gruppierungen und Struktur Der rheinland-pfälzische Landesverband der Partei gliedert sich weiterhin in drei Kreisverbände (Mittelrhein, Trier und Westpfalz), die alle die Namensänderung in "Die Heimat" mittragen. Der Kreisverband Westpfalz änderte seinen Namen darüber hinaus in "Kreisverband Rheinhessen-Pfalz". Die wenigen Aktivitäten der Partei in Rheinland-Pfalz gehen von einem kleinen Kreis alteingesessener Mitglieder aus. Sie beschränken sich auf bekannte, wiederkehrende Aktionsformen wie Demonstrationen. Dabei werden vor allem das Thema "Überfremdung" und Gedenkveranstaltungen für deutsche Kriegsopfer in den Fokus gerückt. Die Partei kann jedoch meistens nur eine Personenzahl im unteren zweistelligen Bereich mobilisieren. Jugendorganisation Im Jahr 2023 waren auch Veränderungen in der Jugendorganisation der NPD, den "Jungen Nationalisten" (JN), zu beobachten. Angelehnt an die Strategie der "Neuen Rechten" geben sich die Regionalgruppen der JN ortsbezogene Namen. Dadurch soll die Verbindung zur bisherigen JN beziehungsweise zur Mutterpartei verschleiert werden. Die JN versucht demzufolge nach dem JN-Regionalgruppe "Mosel. Inferno", Quelle: Instagram 98 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Vorbild der Mutterpartei unter neuer, zunächst nicht zu verortender Bezeichnung ihre bisherigen extremistischen Inhalte zu transportieren. In Rheinland-Pfalz wurde eine dieser Gruppen mit dem Namen "Mosel.Inferno" bekannt. Ausblick Abgesehen von der Umbenennung lassen sich aktuell keine inhaltlichen Veränderungen in der Partei "Die Heimat" bezüglich Programm, Personenaufkommen oder Strategie erkennen. Von einer Kehrtwende des andauernden Niedergangs ist damit vorerst nicht auszugehen. Ob die Strategie der Namensänderung in der Mutterpartei sowie der JN langfristig erfolgversprechend sein wird, bleibt abzuwarten, erscheint aber wenig wahrscheinlich. 3.1.2 Partei "Der III. Weg" Die Kleinstpartei "Der III. Weg" weist eine ideologische Nähe zum Nationalsozialismus auf. So ist die Partei bestrebt, einen "Nationalen Sozialismus" zu errichten. Ein ausgeprägter Antisemitismus (siehe auch Brennpunktthema Nahost, Seite 54) und Rassismus sind weitere bestimmende weltanschauliche Wesensmerkmale der Partei. Die neonazistische Partei wurde 2013 gegründet und hat ihren Sitz im rheinland-pfälzischen Weidenthal, dem Wohnort des stellvertretenden Parteivorsitzenden. Sie verfügt zwar bundesweit über keine flächendeckende Struktur, ist aber bestrebt, ihre Strukturen auszubauen. 2023 wurde beispielsweise der "Stützpunkt Kurhessen" gegründet. 99 "Der III. Weg" verbreitet zum Tag der Deutschen Einheit geschichtsrevisionistische Propaganda. Quelle: Telegram Personenpotenzial Die Partei "Der III. Weg" zählt in Rheinland-Pfalz etwas über 60 Vollund Fördermitglieder, bundesweit sind ihr etwa 700 Personen zuzurechnen. Entwicklung Eine, wenn nicht die zentrale Entwicklung der Partei war im Jahr 2023 der Ausbau der Parteijugendorganisation "Nationalrevolutionäre Jugend" und die nochmals intensivere Nutzung von Social Media zur Verbreitung von Propaganda und zur Rekrutierung (siehe Brennpunktthema Seite 70 ff.). Abgesehen vom Bundesparteitag am 2. September in Hilchenbach (NordrheinWestfalen) gab es im Jahr 2023 keine großen zentralen Parteiveranstaltungen. Der Grund dürfte eine anhaltende Mobilisierungsschwäche beispielsweise für Demonstrationen sein. 100 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Fortwährendes Propaganda-Thema war auch 2023 "Asyl und Migration". Die in diesem Zusammenhang verbreiteten existenziellen Bedrohungsszenarien sollen in der Bevölkerung Angst und Hass schüren. Durch die emotionale Wirkung der Thematik sollen die verfassungsfeindlichen Botschaften der Partei verfangen und Ressentiments gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund vertieft werden. Immer wieder werden zu diesem Zweck auch internationale Konflikte propagandistisch aufgegriffen. Der Krieg in der Ukraine hat insofern weiterhin einen hohen Stellenwert innerhalb der Partei. Denn diese positioniert sich, anders als viele andere rechtsextremistische Akteure, fest an der Seite der Ukrainer. Thematisch trat der Nahostkonflikt seit dem Angriff der Terrororganisation HAMAS auf Israel im Oktober 2023 mehr und mehr in den Fokus. Auf der parteieigenen Webseite wurde Israel als "Terrorstaat" diffamiert und antisemitische Hetze betrieben: Quelle: X, ehemals Twitter "Die Herrschenden des BRD-Systems haben sich nicht dem Wohle des deutschen Volkes verschworen, sondern ausschließlich ihrer ["]auserwählten["] jahwistischen Herren." Partei "Der III. Weg": "Zions willfährige Knechte: BRD-Regierung solidarisiert sich bedingungslos mit Israel", veröffentlicht am 16.10.2023 auf der-dritte-weg.info, abgerufen am 17.10.2023. 101 Nicht zuletzt sind homosexuelle und queere Menschen ein weiteres Feindbild der Partei, die sich deshalb auch der viralen rechtsextremistischen Kampagne "Stolzmonat" anschloss. Dies geschah während des sogenannten Pride Month im Juni 2023 und sollte Ablehnung bis Hass gegenüber der queeren Community verbreiten. Die Partei "Der III. Weg" macht aus ihrer Verachtung für die freiheitliche demokratische Grundordnung keinen Hehl. Sie fordert deren Abschaffung, die Einführung des von ihr propaQuelle: X, ehemals Twitter gierten "Deutschen Sozialismus" und agitiert in aggressiv-kämpferischer Weise gegen den Staat und dessen Institutionen. Aktivitäten und Strukturen in Rheinland-Pfalz Die Partei "Der III. Weg" gliedert sich in Rheinland-Pfalz in den Stützpunkt Pfalz und den Stützpunkt Westerwald/Taunus, die beide dem Landesverband West angehören. Stützpunkt Pfalz Im Berichtsjahr betrieb der Stützpunkt Pfalz mehrere Infostände beispielsweise in Kaiserslautern und Haßloch, um in direkten Kontakt mit der Bevölkerung zu treten. Die Partei ist um ein seriöses Auftreten bemüht und präsentiert sich gerne als "Kümmerer vor Ort". Zudem veranstaltete sie Stützpunktabende und Wanderungen. Außerdem organisierten die Mitglieder den 3. Parteitag des Landesverbandes West, der im südlichen Rheinland-Pfalz stattfand. 102 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Stützpunkt Westerwald/Taunus Der Stützpunkt Westerwald/Taunus hingegen lud in regelmäßigen Abständen zu Stützpunktabenden und sogenannten "Selbstverteidigungstrainings" im Westerwald ein. Ein größerer Raum in der "Fassfabrik" in Hachenburg wurde zur Professionalisierung des Trainings mit Matten ausgelegt und mit einem Boxring ausgestattet. Der Stützpunkt bietet damit nicht zuletzt kampfsportaffinen, rechtsorientierten Jugendlichen ein attraktives (Erlebnis-)Angebot (siehe Brennpunktthema, Seite 70 ff.). INFORMATION Die "Fassfabrik" in Hachenburg - Rechter Knotenpunkt im Westerwald "Der III. Weg" hat sich inzwischen in der "Fassfabrik" in Hachenburg festgesetzt (siehe Verfassungsschutzbericht 2022, Seite 77). Die Partei führt dort in regelmäßigen Abständen die zuvor genannten "Selbstverteidigungstrainings" durch. Außerdem dienen dort "Kneipenabende" in Verbindung mit Kampsport-Events der Vernetzung mit anderen rechtsextremistischen Akteuren. Im nördlichen Rheinland-Pfalz ist damit ein Knotenpunkt des Rechtsextremismus entstanden. Ausblick Die Partei "Der III. Weg" scheint insgesamt und auch in Rheinland-Pfalz Zulauf zu bekommen. Damit wäre der Trend des Niedergangs vorerst gebrochen. Ob diese Entwicklung nachhaltig ist, bleibt jedoch abzuwarten. 103 3.1.3 Partei "DIE RECHTE" Das Weltbild der im Jahr 2012 gegründeten Partei "DIE RECHTE" fußt auf Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus und Rassismus. In ihrer über 10-jährigen Geschichte kam sie nie über den Status einer Kleinstpartei hinaus und befindet sich aktuell auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit. Nach eigenen Angaben gliedert sich die Partei zwar immer noch in neun Landesverbände. Diese entfalten aber kaum relevante Aktivitäten. Mit der Auflösung des Landesverbands Nordrhein-Westfalen Anfang 2023 verlor "DIE RECHTE" zudem ihren aktivsten Verband. Die Aktivitäten der Partei bestehen zwischenzeitlich hauptsächlich aus bedeutungslosen Mahnwachen, Demonstrationen und der sogenannten Kameradschaftspflege. Der Landesverband Südwest umfasst die Länder Rheinland-Pfalz und das Saarland. Hier existieren noch Reststrukturen, die sich seit Jahren unverändert aus den gleichen Personen zusammensetzen. Ihre Aktivitäten beschränken sich organisatorisch wie thematisch auf Demonstrationen und Aktionen gegen Zuwanderung und eine vermeintliche Islamisierung Deutschlands, wobei sich öffentlich regelmäßig ein Personenaufkommen im niedrigen zweistelligen Bereich verzeichnen lässt. Bis zur Auflösung der "Kameradschaft Rheinhessen" (siehe Seite 124) fanden die Aktionen meist gemeinsam mit dieser statt. Bei dem Personenpotenzial der aktiven Mitglieder der Partei "DIE RECHTE" und den ehemaligen Mitgliedern der "Kameradschaft Rheinhessen" gab es große Überschneidungen. Deshalb ist davon auszugehen, die Partei unbeeinflusst von der - vermeintlichen - Auflösung der "Kameradschaft Rheinhessen" in bekannter Weise und mit unverändertem Personenkreis weiterhin aktiv sein wird. 104 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus 3.1.4 Extremistische Strukturen in der Partei "Alternative für Deutschland" Die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) wurde im Februar 2021 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft. Dagegen klagte die AfD vor dem Verwaltungsgericht (VG) Köln. Mit Urteil vom 8. März 2022 bestätigte das VG Köln die durch das BfV vorgenommene Einstufung aufgrund des Vorliegens ausreichender tatsächlicher Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen. Gegen dieses Urteil wiederum legte die AfD Berufung beim Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen ein. Eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts wird im Frühjahr 2024 erwartet (zu den Hintergründen des Klageverfahrens siehe Verfassungsschutzbericht 2022, S. 81f.). INFORMATION Was bedeuten Prüffall, Verdachtsfall, gesichert extremistische Bestrebung? Der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz kennt die Unterteilung in Prüffall, Verdachtsfall und gesicherte extremistische Bestrebung nicht. Vielmehr ist er gemäß SS 5 LVerfSchG bereits beim Vorliegen von tatsächlichen Anhaltspunkten für den Verdacht von Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zur Beobachtung befugt und kann entlang seiner gesetzlichen Bestimmungen die erforderlichen Maßnahmen ergreifen. 105 Die AfD wurde im Jahr 2013 gegründet. Sie gliedert sich in einen Bundesverband und 16 Landesverbände sowie eine Vielzahl von Bezirks-, Kreisund Stadtverbänden. Programmatisch stellt sich die Partei durchaus flexibel auf. Ihr Vorgehen besteht darin, schnell auf neue Verhältnisse zu reagieren und somit neue Gruppen von Mitgliedern und Wählern zu erschließen. Zu Zeiten der Euro-Krise, ihrer Gründungszeit, vertrat die AfD die Positionen der Euro-Skeptiker. Während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 positionierte sie sich inhaltlich gegen Asylbewerber und Asylbewerberinnen. In der Folgezeit verließen viele bürgerlich-konservative Kräfte die Partei und es kam zu einer Radikalisierung. Während der Corona-Krise schlug sich die AfD auf die Seite der Impfskeptiker. Im aktuellen Welt-Geschehen sieht sich die Partei als Kämpferin für Frieden und lehnt sowohl Waffenlieferungen an die Ukraine als auch westliche Sanktionen gegen Russland ab. AfD vertritt islamund muslimfeindliche Positionen In ihren Verlautbarungen verleiht die AfD fortwährend einem ethnisch-kulturell geprägten Volksverständnis Ausdruck. Darüber hinaus finden sich fremdenfeindliche Positionen, die in ihrer Gesamtschau eine kontinuierliche pauschale Diffamierung und Verächtlichmachung von Zugewanderten belegen. Auch explizit islamund muslimfeindliche Positionen werden in zahlreichen Verlautbarungen der AfD und ihrer Repräsentanten vertreten. Zudem gibt es Anhaltspunkte für antisemitische Positionen. Festzustellen sind zudem gezielte Diffamierungen und Verunglimpfungen politischer Gegner sowie des Staates nebst seinen Repräsentantinnen und Repräsentanten. Hierbei geht es der AfD insbesondere um die Herabwürdigung und Verächtlichmachung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 106 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Seit einigen Monaten zeigt sich, wie offen in Kreisen der AfD und ihrer Jugendorganisation "Junge Alternative für Deutschland" (JA) der Kontakt mit rechtsextremistischen Akteuren, insbesondere der so genannten Neuen Rechten, gesucht und gefunden wird. Dies geschieht gleichermaßen in der analogen wie in der digitalen Welt. So zeigen beispielsweise die Verbindungen des Vereins "Zentrum Rheinhessen" keinerlei Trennlinie zwischen der AfD und Personen sowie Organisationen, die als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft sind. In den Räumlichkeiten des "Zentrum Rheinhessen" im Gewerbegebiet MainzHechtsheim befanden sich die Landesgeschäftsstelle der AfD Rheinland-Pfalz, die Büros der AfD-Kreisverbände Mainz und Mainz-Bingen sowie die Wahlkreisbüros des Landtagsabgeordneten Damian Lohr und des Bundestagsabgeordneten Sebastian Münzenmaier. Bei Veranstaltungen der AfD im "Zentrum Rheinhessen" traten rechtsextremistische Personen unverhohlen als Rednerinnen und Redner auf. Solche Formate wurden vorab offen in rechtsextremistischen Portalen beworben. Kaum noch Abgrenzung zum offenen Rechtsextremismus Eine Abgrenzung zum offenen Rechtsextremismus spielt innerhalb der Partei mittlerweile kaum noch eine Rolle. So stehen die Veranstaltungen im "Zentrum Rheinhessen" (siehe auch das Kapitel über die "Junge Alternative") sinnbildlich für diese neue Entwicklung. Eine Distanzierung, auch seitens der Funktionsträger der AfD Rheinland-Pfalz, hat es nicht gegeben. Am 3. Januar 2024 wurde bekannt, dass die Stadt Mainz gegenüber dem "Zentrum Rheinhessen" eine Nutzungsuntersagung erlassen hat. Grund hierfür ist, dass der Stadt Mainz lediglich eine Baugenehmigung für ein Autohaus mit einer Ausstellungshalle, einer Aufbereitungshalle und für Büroräume vorliegt. Eine anderweitige Nutzung bedarf einer entsprechenden Genehmigung, die nicht vorliegt. Die AfD kündigte an, dass man rechtliche Schritte prüfen wolle. 107 Inzwischen sind das "Zentrum Rheinhessen" sowie die Büros der rheinland-pfälzischen AfD-Landesgeschäftsstelle, der AfD-Kreisverbände Mainz und MainzBingen sowie die Wahlkreisbüros der Abgeordneten Sebastian Münzenmaier (MdB) und Damian Lohr (MdL) in neue Räumlichkeiten, die sich im Gewerbegebiet des Ingelheimer Stadtteils Heidesheim befinden, umgezogen. Darüber hinaus betreibt die AfD Rheinland-Pfalz weitere Örtlichkeiten im Land als Schulungszentren, darunter den Sitz des AfD-Kreisverbandes Südliche Weinstraße-Landau in Offenbach an der Queich. Ebenso finden entsprechende Veranstaltungen im Abgeordnetenbüro des Landtagsabgeordneten Joachim Paul in Koblenz statt, so geschehen im Juli 2023 mit dem Rechtsextremisten Martin Sellner ("Identitäre Bewegung Österreich"), der dort einen Vortrag zum Thema "Remigration" hielt. Einen weiteren Anlaufpunkt stellt die "Fassfabrik" in Hachenburg (Westerwald) dar (siehe auch Seite 103, Kapitel "Der III. Weg"). 3.1.5 "Junge Alternative" (JA) Die 2013 gegründete, in 16 Landesverbänden organisierte "Junge Alternative für Deutschland" (JA) ist die offizielle Jugendorganisation der AfD. Sie sieht sich als "Innovationsmotor" der Partei. Der Landesverband der JA Rheinland-Pfalz, dem etwa 40 Personen zugerechnet werden, untergliedert sich in vier Regionalverbände (Mittelrhein-Westerwald, Pfalz, Rheinhessen-Nahe und Trier). Diese vertreten die Interessen vor Ort, entfalteten aber zuletzt nur wenige Aktivitäten. So organisierte die JA Rheinland-Pfalz beispielsweise gemeinsame Wanderungen oder andere Freizeitaktivitäten wie Bowlingabende. 108 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Die Ideologie der JA ist geprägt durch einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff, der im Widerspruch zum republikanisch-liberalen Volksverständnis und damit zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht (Verstöße gegen die Menschenwürdegarantie, das Demokratieund Rechtsstaatsprinzip). Daneben finden sich vor allem islamund muslimfeindliche Positionen. Im April 2023 stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz die JA als gesichert rechtsextremistisch ein, nachdem sich die Hinweise auf verfassungsfeindliche Bestrebungen verdichtet hatten. Mit Beschluss vom 5. Februar 2024 hat das VG Köln den hiergegen gerichteten Eilantrag der AfD und ihrer Jugendorganisation abgelehnt. Zur Begründung wies das Gericht darauf hin, dass die Beobachtung durch den Verfassungsschutz keine Maßnahme darstelle, "die gegen den Bestand der AfD gerichtet ist", sondern vielmehr der Aufklärung diene, "ob eine Partei - beziehungsweise im vorliegenden Fall deren Jugendorganisation - verfassungsfeindliche Ziele verfolgt". Eine solche Aufklärung werde in der Verfassung als zulässig vorausgesetzt. Neben ihren immer offener zutage tretenden Verbindungen zu anderen rechtsextremistischen Organisationen, insbesondere aus dem Spektrum der "Neuen Rechten", vertrete die JA weiterhin einen völkisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff. Der Ausschluss "ethnisch Fremder" sei eine ihrer zentralen Vorstellungen, die einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellen. Dem Grundgesetz ist ein ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierter Volksbegriff fremd. "Hinzu kommt bei der JA eine fortgeführte massive ausländerund insbesondere islamund muslimfeindliche Agitation. So werden Asylbewerber sowie Migranten pauschal verdächtigt und herabgewürdigt. Einwanderer werden allgemein als Schmarotzer und kriminell bezeichnet oder in anderer Weise verächtlich gemacht und dadurch in ihrer Menschenwürde missachtet", so das Gericht in seiner Begründung. 109 Die JA handele auf allen politischen Ebenen gegen die Prinzipien der Demokratie. Die Bundesrepublik Deutschland werde mit diktatorischen Regimen, "insbesondere dem NS-Regime und der DDR", gleichgesetzt. Entwicklung 2023 Ein thematischer Schwerpunkt der JA lag im Jahr 2023 bereits auf der Europawahl 2024. Die JA Rheinland-Pfalz veranstaltete im März 2023 einen digitalen Stammtisch zum Thema "Europa und Finanzen". Die Jugendorganisation war bestrebt, für ihre Mitglieder möglichst aussichtsreiche Listenplätze zu erlangen, was ihr im Ergebnis auch gelungen ist. Der frühere Landesvorsitzende der JA und stellvertretende Kreisvorsitzende der AfD Mainz-Bingen, Alexander Jungbluth, wurde auf der Versammlung für die Europawahl 2024 auf den aussichtsreichen Listenplatz 5 für die anstehende Europawahl gewählt. Im Juni 2023 positionierte sich die JA wie andere rechtsextremistische Akteure auch klar gegen den "Pride Month". Die rechtsextremistische Agitation proklamierte stattdessen einen "Stolzmonat". Dabei handelt es sich um eine "patriotische" Gegenbewegung verschiedener Akteure zum weltoffenen "Pride Month". Sowohl im realweltlichen als auch digitalen Raum gab es Aktionen gegen die LGBTQ-Community, an denen sich auch die JA Rheinland-Pfalz beteiligte. 110 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus INFORMATION Was bedeutet "Pride Month"? Weltweit feiern Menschen der LGBTQ-Community während des "Pride Month" einen Monat lang den offenen Umgang mit ihrer sexuellen Identität. Sie machen mit Demonstrationen und Protesten aber auch auf Ungerechtigkeiten, Stigmatisierungen und Ausgrenzungen aufmerksam, die queere Menschen noch immer erfahren. Am 17. Juni 2023 veranstaltete die JA Deutschland eine "20er Jahre Party" anlässlich ihres 10-jährigen Bestehen in den Räumlichkeiten des "Zentrum Rheinhessen" in Mainz. An der Feier nahmen etwa 100 Personen aus ganz Deutschland teil, darunter die führenden Köpfe der JA. Nach der Veranstaltung wurde bekannt, dass in deren Verlauf Mitglieder der JA den Nationalsozialismus verherrlicht haben sollen. Insbesondere seien die nationalsozialistischen KonzentrationsQuelle: Instagram ja_deutschland und Vernichtungslager befürwortet worden. Außerdem soll rechtsextremistische Musik abgespielt worden sein. Die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz nahm Ermittlungen auf, da in mindestens einem Fall der Hitlergruß gezeigt worden sei. Auf dem Landeskongress der JA Rheinland-Pfalz in Speyer im Juli 2023 wurde Arnold Fiz zum neuen stellvertretenden Landesvorsitzenden gewählt. 111 Das "Zentrum Rheinhessen" als Vernetzungsörtlichkeit der "Neuen Rechten" in der Landeshauptstadt Das "Zentrum Rheinhessen" galt bis zur Nutzungsuntersagung durch die Stadt Mainz Anfang 2024 als Trefförtlichkeit der "Alternative für Deutschland" (AfD), der "Jungen Alternative" (JA) Rheinland-Pfalz sowie von Gruppierungen, die der "Neuen Rechte" zugeordnet werden. In den Räumlichkeiten des "Zentrum Rheinhessen" im Gewerbegebiet MainzHechtsheim befanden sich die Büros der AfD Kreisverbände Mainz und MainzBingen sowie die Wahlkreisbüros des Landtagsabgeordneten Damian Lohr und des Bundestagsabgeordneten Sebastian Münzenmaier. Darüber hinaus hatten die Landesgeschäftsstelle der AfD Rheinland-Pfalz sowie die Vereine "Zentrum Rheinhessen - Deutsches Kulturerbe in Rheinhessen e.V." und "Box-Club Rheinhessen" dort ihren Sitz. "Mehr denn je stehe ich zur Am 21. Oktober 2023 fand im "Zentrum Rheinhessen" zeitgleich zur Frankfurter @JA_Deutschland, zum Buchmesse eine "Alternative Buchmesse" Institut für Staatspolitik statt. An der vom Veranstalter als "Gegenund zu @ein_prozent." kulturmesse" bezeichneten Veranstaltung nahmen verschiedene Akteure der "Neuen Alexander Jungbluth auf X (ehemals Rechte" teil. Unter anderem war ein langTwitter) zur Einstufung des "Instituts für jähriger Mitarbeiter des rechtsextremistiStaatspolitik" und des Vereins "EinProzent e.V." als gesichert rechtsextremistischen "Institut für Staatspolitik e.V." (IfS) in sche Bestrebung Sachsen-Anhalt und intellektueller Stichwortgeber der "Neuen Rechte" zu Gast. Das Institut wurde vom Bundesamt für Verfassungsschutz im April 2023 als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft. Die Verantwortlichen des "Institut für Staatspolitik" vertreten ein ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis und streben ein ethnokulturell möglichst homogenes Staats112 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus volk an. Hierbei benutzen sie Begriffe wie "Bevölkerungsaustausch", "Großer Austausch", "Umvolkung" oder "Ersetzungsmigration", allesamt eindeutig "neurechte" Begriffe und Narrative. Auf der "Buchmesse" wurden auch Materialien des Vereins "Ein Prozent" ausgelegt und verteilt. Der Verein verortet sich im sogenannten Widerstandsmilieu der "Neuen Rechten". Er vertritt ebenfalls einen ethnisch-abstammungsmäßig definierten Volksbegriff, weist eine migrantenund muslimfeindliche ideologische Ausrichtung auf und propagiert das verschwörungstheoretische Konzept des "Großen Austauschs", wonach das deutsche Volk durch Migrantinnen und Migranten "ersetzt" werden soll. Auch er wird seit März 2023 als gesichert rechtsextremistische Bestrebung vom Bundesamt für Verfassungsschutz bearbeitet. Ebenso gab es weitere überregionale Aussteller, Redner und Teilnehmer, die teilweise der rechtsextremistischen Szene zugerechnet werden konnten. Das "Zentrum Rheinhessen" entwickelte sich in kurzer Zeit zu einer bedeutenden Veranstaltungsörtlichkeit der "Jungen Alternative" und Akteuren der "Neuen Rechte". Die Örtlichkeit gewann innerhalb der Szene bundesweit an Bekanntheit und Bedeutung. Höhepunkte stellten die Feier zum zehnjährigen Bestehen der "Jungen Alternative Deutschland" mit über 100 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet sowie die "Alternative Buchmesse" im Oktober 2023 dar. Damit kam dem "Zentrum Rheinhessen" eine nicht unerhebliche "Vernetzungsfunktion" zu. Am 3. Januar 2024 wurde bekannt, dass die Stadt Mainz gegenüber dem "Zentrum Rheinhessen" eine Nutzungsuntersagung erlassen hat. (Nähere Informationen siehe Seite 107). 113 Ausblick Die JA hat sich personell wie organisatorisch weiter mit namhaften Gruppierungen der extremistischen "Neuen Rechten" vernetzt. Diese strategische Zusammenarbeit wird sie auch künftig ausbauen, vertiefen und weiter verfestigen. Etwaige Berührungsängste hinsichtlich anderer rechtsextremistischer Gruppierungen haben deutlich abgenommen oder sind gänzlich verschwunden. Dabei ist beachtlich, dass das national-konservative bis völkische Burschenschaftsmilieu innerhalb der JA an Einfluss gewinnt. Die verstärkte Kontaktsuche vonseiten dieses Milieus dürfte auch taktisch motiviert sein, da mit weiteren Mandaten der Mutterpartei AfD auch weitere lukrative Mitarbeiterposten zu vergeben sind. Der programmatische Kurs der JA hat sich im Berichtsjahr nicht geändert. Dem "solidarisch-patriotischen" Lager innerhalb der JA ist es vielmehr gelungen, seine Macht zu festigen und auszubauen. Deshalb überrascht es nicht, dass der intellektuelle Stichwortgeber des sogenannten "Solidarischen Patriotismus", dessen gleichnamiges Buch zu einer Art "Pflichtlektüre" der Szene geworden ist, zu Gast auf der "Alternativen Buchmesse" in Mainz im Herbst war. Der JA ist es in der Vergangenheit mehrfach gelungen, aktuelle Themen aufzugreifen und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Hierauf wird auch in Zukunft der Schwerpunkt liegen. Das Ziel der JA wird es weiterhin sein, neue Mitglieder und Unterstützer zu generieren. Zudem wird sie versuchen, verstärkt Einfluss auf die Mutterpartei zu nehmen, um somit unter anderem ihre Wahrnehmung in der breiten Öffentlichkeit zu festigen. 114 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus 4. PARTEIUNABHÄNGIGE BEZIEHUNGSWEISE PARTEI UNGEBUNDENE STRUKTUREN 4.1 "Neue Rechte" Die sogenannte Neue Rechte gibt sich jung, dynamisch und intellektuell. Im Gegensatz zur "Alten Rechte" sieht sie ihr weltanschauliches Fundament zwar nicht im Nationalsozialismus, lehnt aber gleichwohl grundlegende Prinzipien des liberalen Verfassungsstaates ab. Ideologischer Kern ist hierbei vor allem ein ethnisches Volksverständnis, wonach nur solche Personen deutsche Staatsangehörige sein können, die deutscher Abstammung sind (Abstammungsprinzip). Damit stellt sich die "Neue Rechte" gegen das grundgesetzlich verbriefte Staatsangehörigkeitsverständnis. Vorrangiges Ziel der "Neuen Rechte" ist die Verschiebung des öffentlichen Diskurses nach rechts. "Neurechte" Stichwortgeber versuchen, durch Besetzung des vorpolitischen Raums metapolitische Macht zu gewinnen und den gesellschaftlichen Diskurs im eigenen Sinne zu verschieben. Thematischer Drehund Angelpunkt der Akteure der "Neuen Rechte" ist die Migrationspolitik und der "Kampf" gegen den sogenannten Bevölkerungsaustausch. 115 INFORMATION Was bedeutet "Bevölkerungsaustausch"/"Der Große Austausch"? Das Narrativ des "Bevölkerungsaustausch" bezeichnet in der rechtsextremistischen Gedankenwelt einen schrittweisen Prozess, durch den die heimisch angestammte Bevölkerung durch außereuropäische Einwanderer verdrängt und ausgetauscht werden soll. Dieses Narrativ ist dann antisemitisch aufgeladen, wenn behauptet wird, dass der "Austausch" durch eine - zumeist jüdische - Elite verursacht werde. "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) Innerhalb der "Neuen Rechte" ist in den vergangenen Jahren vor allem die "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) durch öffentlichkeitswirksame Aktionen in Erscheinung getreten. Wesentliches Element der "identitären" Ideologie ist der "Ethnopluralismus". Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass das Staatsvolk in einem völkisch-abstammungsmäßigen Sinne zu definieren ist und demnach Menschen, die nicht den eigenen ethnischen Voraussetzungen entsprechen, niemals Teil einer gemeinsamen Kultur sein können. Diese "identitäre" Identität orientiert sich an rassistisch-biologistischen Kriterien. Ethnisch Fremden spricht die IBD sowohl die Fähigkeit als auch die Bereitschaft ab, sich an der Gemeinschaft gleichberechtigt zu beteiligen. Vor allem Personen muslimischen Glaubens werden dabei pauschal ausgegrenzt und verächtlich gemacht. 116 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Überblick und Entwicklung Die IBD setzt weiterhin auf medienund öffentlichkeitswirksame Aktionsformen sowie ein modernes Auftreten im Internet. In den zurückliegenden Jahren wurde die IBD aufgrund ihrer rechtsextremistischen Ideologie allerdings von größeren Internetplattformen entfernt beziehungsweise gesperrt (sogenanntes Deplatforming). Dadurch gelangen ihr nur noch vereinzelt öffentlichkeitswirksame Aktionen. Aufgrund dieses voranschreitenden Bedeutungsverlustes ließ die IBD zuletzt Bemühungen erkennen, sich taktisch, personell sowie thematisch neu aufzustellen. So verwendete sie bei Aktionsformen Symbole und Farbenkombinationen, die auf den ersten Blick keinen Rückschluss auf die Bewegung zulassen. Während sich die IBD noch zu Beginn des Jahres 2022 um die Erschließung von Themenfeldern auch abseits der Migrationsthematik bemühte, wie das Protestgeschehen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der CoronaPandemie, so orientierten sich ihre Aktionsformen 2023 wieder hauptsächlich an altbewährten Kernthemen wie dem "Kampf gegen den Bevölkerungsaustausch" und die Forderung nach "Remigration". 117 INFORMATION Was bedeutet "Remigration"? Mit dem vermeintlich unverfänglichen Begriff "Remigration" fordern Rechtsextremisten die erzwungene Rückführung von Migrantinnen und Migranten in die jeweiligen Herkunftsländer. Dabei werden die Staatsbürgerschaft, der aktuelle aufenthaltsrechtliche Status sowie grundlegende rechtsstaatliche Verfahren außer Acht gelassen. Dies stellt einen Verstoß gegen die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie das grundgesetzlich verankerte Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG dar. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, demonstrierten Ende Juli 2023 unter anderem Angehörige der "Identitären Bewegung Österreich" (IBÖ), der IBD und verschiedener IB-Regionalgruppen, wie beispielsweise der "Revolte Rheinland" aus Rheinland-Pfalz, in Wien. Identitäre demonstrieren im Juli 2023 in der österreichischen Hauptstadt. Quelle: Telegram 118 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Gruppierungen und Strukturen in Rheinland-Pfalz Seit Ende 2021 tritt die Gruppierung "Revolte Rheinland" als Nachfolgeorganisation der IB Rheinland-Pfalz in Erscheinung. Die "Revolte Rheinland" bekennt sich - wie die IBD - zu einem "identitären Weltbild". Im Jahr 2023 ist sie überwiegend im nördlichen und westlichen Rheinland-Pfalz sowie im südlichen Nordrhein-Westfalen in Erscheinung getreten. Insgesamt werden der Gruppierung derzeit Mitglieder im niedrigen zweistelligen Bereich zugerechnet. Diese stammen hauptsächlich aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Gleich zu Beginn des Jahres 2023 reagierte die "Revolte Rheinland" auf die Ereignisse der Silvesternacht in Berlin-Neukölln und dem in diesem Zusammenhang diskutierten Verbot von privaten Feuerwerkskörpern. Sie präsentierte in Koblenz ein Transparent mit der Aufschrift "Remigration statt Feuerwerksverbot": Im Juni 2023 beteiligte sich die Gruppierung durch verschiedene Aktionen am Vertreter der "Revolte Rheinland" in Koblenz, Quelle: sogenannten Stolzmonat. So überklebTelegram ten Mitglieder der Gruppierung einen Zebrastreifen in Bonn, der in Regenbogenfarben gestaltet war. Anschließend posierten sie mit der szenetypischen "White Power"-Geste für ein Foto. 119 INFORMATION Was bedeutet die "White-Power"-Geste? Das "White-Power"-Handzeichen besteht aus den drei gespreizten Fingern (kleiner Finger, Ringfinger und Mittelfinger) sowie der mit dem Zeigefinger zu einem Kreis geformte Daumen. Die drei gespreizten Finger symbolisieren dabei das "W" und der Kreis mit Handinnenseite das "P" von "White Power". Das Handzeichen ist dem bekannten und gebräuchlichen "Okay"Handzeichen ähnlich. Im rechtsextremistischen Sinn wird das Symbol und der Slogan hingegen für die vermeintliche Überlegenheit der "weißen Rasse" gebraucht. Im September 2023 beteiligte sich die "Revolte Rheinland", als "Freundesgruppe" getarnt, an einer Müll-Sammelaktion an der Mosel in Trier und missbrauchte diese für ihre Propaganda. Hierzu veröffentlichte die Gruppe im Anschluss Bilder auf ihrem Telegram-Kanal und kommentierte: "(...) Die illegale Entsorgung von Schrott und Müll scheint für Menschen ohne jeden Bezug zur Heimat gelebte Normalität geworden zu sein." Zudem hängte die "Revolte Rheinland" im Berichtsjahr Plakate auf und verteilte Flugblätter im Raum Koblenz sowie in Neuwied und Trier. 120 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Ausblick Im Jahr 2023 haben sich die IBD und ihre Nachfolgeorganisationen wie die "Revolte Rheinland" wieder ihrem "Markenkern" zugewandt. Der Fokus lag auf migrationsfeindlicher Agitation und der Forderung nach "Remigration". Es ist davon auszugehen, dass die der "Neuen Rechte" zuzurechnenden Gruppierungen aufgrund der anstehenden Europawahl ihren Aktionsschwerpunkt weiterhin auf das Thema "Migration" setzen werden. Darüber hinaus hat die "Neue Rechte" in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, dass sie gewillt und in der Lage ist, aktuelle Themen für die eigenen extremistischen Zwecke zu instrumentalisieren. Die "Revolte Rheinland" dürfte versuchen, durch öffentlichkeitswirksame Aktionen ihre Anhängerschaft und ihren Aktionsradius zu erhöhen. 4.2 Neonationalsozialismus Für die Neonaziszene ist der historische Nationalsozialismus ideologischer Bezugspunkt. Dies zeigt sich in vielfältiger Weise, so in der Verherrlichung führender Personen des NS-Staates und in der Verwendung einschlägiger Begriffe oder Narrative. Neonazis streben einen autoritären, antidemokratischen "Führerstaat" vergleichbar dem NS-Regime an. Dessen antipluralistische Gesellschaftsordnung soll auf einer rassistisch definierten Volksgemeinschaft beruhen, die Menschen anderer Herkunft, Religion oder Kultur konsequent ausgrenzt und abwertet. In Rheinland-Pfalz gehören der Neonaziszene rund 190 Personen an, womit das Land im Bundesvergleich keinen Brennpunkt darstellt. Eine ihrer Organisationsformen ist die Kameradschaft. Kennzeichnend für diese sind ein meist rudimentärer Organisationsgrad und die Ausrichtung auf eine Führungsperson. Diese "traditionellen" Strukturen verloren in den vergangenen Jahren indes zunehmend an Bedeutung und wichen eher informellen, losen Zusammenschlüssen. 121 Seit nunmehr 20 Jahren existiert die regionale Kameradschaft "Nationaler Widerstand Zweibrücken". Unterstützt wird sie von der 2018 gegründeten "Kameradschaft Rheinhessen". Beiden Gruppierungen gehören jeweils bis zu zehn Personen an, die immer wieder öffentlichkeitswirksame, räumlich hingegen stark begrenzte Quelle: X, ehemals Twitter Aktionen wie Mahnwachen oder Demonstrationen durchführen. Im Jahr 2023 war dies vornehmlich der Fall in Rheinhessen (Alzey, Ingelheim, Wöllstein, Wörrstadt, Worms) sowie in Kaiserslautern, Kirchheimbolanden, Ludwigshafen und Zweibrücken. Unterstützt wird die Szene dabei regelmäßig vom "Landesverband Südwest" der Partei "DIE RECHTE", der in großen Teilen aus denselben Personen besteht wie die "Kameradschaft Rheinhessen". Darüber hinaus gibt es mit dem Landesverband der Partei "Die Heimat" (ehemals NPD) gemeinsame Aktionen. Quelle: X, ehemals Twitter 122 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Versammlungen und Aufmärsche der Kameradschaftsszene in Rheinland-Pfalz im Jahr 2023 Datum VeranstaltungsOrganisation Ort Teilart nehmer 21. Januar Versammlung "Kameradschaft Alzey ca. 10 Rheinhessen" 4. Februar Versammlung "Kameradschaft Ludwigshafen ca. 10 Rheinhessen" am Rhein 25. Februar "Gedenk"Kameradschaft Worms ca. 5 veranstaltung" Rheinhessen" und "DIE RECHTE" 14. März "Trauermarsch" "Nationaler WiderZweibrücken ca. 15 stand Zweibrücken" 22. April "Gedenk"Kameradschaft Kirchheimca. 15 veranstaltung" Rheinhessen" und bolanden "DIE RECHTE" 1. Mai Demonstration "Kameradschaft Ingelheim am ca. 25 Rheinhessen" und Rhein "DIE RECHTE" 17. Juni Versammlung "Kameradschaft Wöllstein ca. 15 Rheinhessen" und "DIE RECHTE" 19. August Versammlung "Kameradschaft Kaiserslautern ca. 30 Rheinhessen" 7. Oktober Versammlung "Kameradschaft Wörrstadt, ca. 10 Rheinhessen" und Alzey "DIE RECHTE" 123 Ausblick Am 8. Oktober 2023 verkündete die "Kameradschaft Rheinhessen" im Internet ihre Auflösung. Dieser Schritt dürfte als Reaktion auf die vorangegangenen Verbote der rechtsextremistischen Gruppierung "Hammerskins" und der rechtsextremistischen Gruppe "Die Artgemeinschaft - Germanische GlaubensGemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." im September 2023 zu sehen sein. Es bleibt abzuwarten, ob die vormaligen Angehörigen der "Kameradschaft Rheinhessen" nun zu einer anderen Gruppierung überwechseln oder ob es gegebenenfalls zu einer Neugründung kommen wird. Nicht auszuschließen ist zudem, dass es sich lediglich um eine Scheinauflösung gehandelt hat, um sich etwaiger staatlicher Exekutivmaßnahmen zu entziehen. Gleichwohl wird es wohl auch weiterhin Demonstrationen und Mahnwachen geben. Insbesondere jährliche szenetypische "Gedenktage" könnten hierfür als Anlass genutzt werden 124 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus 5. WEITGEHEND UNSTRUKTU RIERTES PERSONENPOTENZIAL 5.1 "Hammerskins" Im September 2023 gelang den "Mit diesem Verbot beenden wir das Sicherheitsbehörden ein weiterer menschenverachtende Treiben einer wichtiger Schlag bei der Bekämpfung des Rechtsextremisinternational agierenden Neonazimus. Das Bundesministerium Vereinigung. Damit setzen wir ein des Innern und für Heimat hat klares Signal gegen Rassismus und auf der Grundlage des SS 3 VerAntisemitismus." einsgesetzes die Gruppierung "Hammerskins Deutschland" Bundesinnenministerin Nancy Faeser am einschließlich ihrer regionalen 19. September 2023 Chapter und der Teilorganisation "Crew 38" verboten, da sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung sowie gegen den Gedanken der Völkerverständigung wendet und ihr Zweck und ihre Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen. Mit dem Vereinsverbot sind künftig die Symbole und Zeichen der "Hammerskins Deutschland" rechtswidrig. 125 Die "Hammerskins Deutschland" waren Teil der weltweit agierenden "Hammerskin Nation". Die "Hammerskins" sehen sich als elitäre Bruderschaft innerhalb der rechtsextremistischen Szene. Begriffe wie "Ehre", "Stolz" und "Respekt" hatten für die "Hammerskins" einen hohen Stellenwert. Vorrangiges Ziel der "Hammerskins" war der Schutz der "weißen arischen Rasse", die sie durch "Umvolkung" und unLogo der "Hammerskin Nation" kontrollierte Einwanderung bedroht sahen. Ein Aktionsschwerpunkt der "Hammerskins" war die Organisation rechtsextremistischer Konzerte, bei denen es immer wieder zu politisch motivierten Straftaten der Konzertbesucher kam. Rechtsextremistische Konzerte fördern die Ideologisierung und Radikalisierung der rechtsextremistischen Szene und dienen der Rekrutierung neuer Szeneangehöriger. Die "Hammerskins" verbreiteten einschlägiges rechtsextremistisches Gedankengut zudem durch die Veröffentlichung und den Vertrieb von Tonträgern mit rassistischen und antisemitischen Inhalten sowie durch rechtsextremistische Merchandise-Artikel. Darüber hinaus nahmen einzelne Angehörige der Gruppierung an rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltungen teil. Die Verbotsverfügung wurde am 19. September 2023 vollzogen und in zehn Bundesländern wurden Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt. Dabei wurden neben Bargeld erhebliche Mengen an rechtsextremistischen Devotionalien beschlagnahmt, insbesondere Waffen, Tonträger und Fahnen, unter anderem mit Hakenkreuzen versehen. Von dem Verbot betroffen waren unter anderem die Chapter "Rheinland" und "Westwall", welche Bezüge nach Rheinland-Pfalz aufwiesen. Die Exekutivmaßnahmen richteten sich auch gegen einen in Rheinland-Pfalz wohnhaften führenden Kopf der "Hammerskins", der als "European Secretary" fungierte. 126 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Das Verbot der "Hammerskins" hatte zur Folge, dass einige rechtsextremistische Gruppierungen aus Befürchtung, selbst von Verbotsüberlegungen betroffen zu sein, von sich aus ihre Auflösung bekannt gaben. Dabei handelte sich in erster Linie um Gruppierungen aus der Neonaziund "Kameradschaftsszene". Teilweise kündigten sie an, die Aktivitäten in anderen Zusammenschlüssen beziehungsweise in rechtsextremistischen Parteien fortzuführen. 5.2 Rechtsextremistische Musik Musik ist für die rechtsextremistische Szene das zentrale Propagandamedium. Sie dient der Rekrutierung, Etablierung, Stabilisierung und Finanzierung der Szene. Mithilfe von Musik gelingt es, die rechtsextremistische Weltanschauung niederschwellig und alltagstauglich der jeweiligen Zielgruppe zu vermitteln. Das Angebot an Stilrichtungen reicht von "klassischem" Rechtsrock über "National Socialist Black Metal" bis zu "rechtem" Hip-Hop. Mittels rechtsextremistischer Musik wird zumeist eine totalitäre Gesellschaftsordnung propagiert, die das vermeintliche Recht des Stärkeren, das Überleben der weißen Rasse oder wahlweise deutschen Nation an die erste Stelle setzt und damit die fundamentalen Menschenrechte negiert. Aufgrund ihrer Bedeutung für den Rechtsextremismus ist die Bekämpfung dieser verfassungsfeindlichen Musikszene für die Sicherheitsbehörden in Rheinland-Pfalz sowie bundesweit von großer Relevanz. Rechtsextremistische Musikveranstaltungen stehen im besonderen Fokus der Behörden. 127 "Musik ist eine Waffe. Sie weckt und bündelt Gefühle, die jeder in sich trägt. Liebe und Hass sind oft nur ein paar Noten voneinander getrennt. Jeder von uns kennt es. All die Ideale, die mit jeder Zeile beschworen werden, werden so auch in dieser traurigen Epoche damit wieder greifbar. Jede Zeile, die zusammen gesungen wird, entfaltet mehr Macht als jedes Flugblatt es je könnte. Deswegen ist die Zensur der Herrschenden der ständige Begleiter unserer Bewegung. Sie fürchten sich vor Menschen, die Gemeinschaft schaffen und ihrer Minuswelt den Spiegel vorhalten. Vor Menschen, die den Glauben nicht verlieren. Die auch in den schwersten Stunden, im dunkelsten Kerker und im Angesicht der größten Übermacht nicht aufgeben. Für diese Menschen wurden diese Lieder geschrieben." Intro aus dem Album "Der Maßstab" (2015) der Band "FLAK". Allgemeine Entwicklung Das Veranstaltungsgeschehen hat sich nach der Corona-Pandemie wieder stabilisiert und an das Niveau der Zeit vor der Pandemie angepasst. Die Szene bevorzugt nach wie vor eher kleinere Veranstaltungen und Liederabende. Aufgrund des erheblichen Drucks durch eine Vielzahl von Exekutivmaßnahmen der deutschen Sicherheitsbehörden ist die Szene bestrebt, größere Musikveranstaltungen im Ausland durchzuführen. Hier wurden zuletzt verstärkt von staatlicher Seite Maßnahmen ergriffen, um durch Ausreisuntersagungen die Teilnahme rechtsextremistischer deutscher Musiker und Bands an Konzerten im Ausland zu verhindern. 128 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Entwicklung in Rheinland-Pfalz In Rheinland-Pfalz fanden im Jahr 2023 elf Musikveranstaltungen mit insgesamt rund 300 Teilnehmenden statt. Sowohl die Anzahl der Veranstaltungen als auch die durchschnittlichen Besucherzahlen bewegen sich damit auf dem Niveau der Zeit vor der Corona-Pandemie. Lediglich im Jahr 2021 gab es eine kurzzeitige Steigerung des Veranstaltungsgeschehens. Diese war insbesondere darauf zurückzuführen, dass der rechtsextremistischen Szene eine Örtlichkeit in Weitersburg im Landkreis Mayen-Koblenz zur Verfügung stand, deren Etablierung durch das Eingreifen der rheinland-pfälzischen Sicherheitsbehörden im Februar 2022 unterbunden werden konnte (siehe Verfassungsschutzbericht 2022, Seite 93 ff.). Die rechtsextremistische Musikszene zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass einzelne Musiker in mehreren Bands beziehungsweise Projekten aktiv sind und oftmals zusätzlich noch als Solomusiker auftreten. Dieser Trend gilt auch für rechtsextremistische Musiker aus Rheinland-Pfalz. Aktuell sind in Rheinland-Pfalz die rechtsextremistischen Bands "FLAK", "Mjöllnir", "N'Socialist Soundsystem" (in 2023 keine Aktivitäten), "The Hoizers" (in 2023 keine Aktivitäten) und "Regiment 25" bekannt. Darüber hinaus hat der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz die Liedermacher "Heureka", "Renitenz", "Phil von FLAK" beziehungsweise "FLAK Solo", "Johnny Zahngold" beziehungsweise "Henry", "Henry 8, "Henrik Achtermann", "Völkisch by nature" sowie "Julia Juls" als rechtsextremistisch eingestuft. Im Jahr 2023 war insbesondere der Liedermacher "Heureka", auch bekannt als "Wiesel", bundesweit aktiv. Er trat unter anderem in rechtsextremistischen Szenelokalitäten wie dem "Flieder Volkshaus" in Eisenach (Thüringen) oder dem Gasthaus "Zum Goldenen Löwen" in Kloster Veßra (Thüringen) auf. 129 Neben seinen Auftritten als Solokünstler ist "Heureka" Teil des rechtsextremistischen Musikduos "Regiment 25", welches ebenfalls aus Rheinland-Pfalz stammt. Ferner unterstützt er regelmäßig die rechtsextremistische Band "Kategorie C" aus Niedersachsen als Gitarrist. "Heureka" veröffentlichte im Berichtszeitraum unter anderem die CDs "Spartas Gesetz" und "Heilige Macht", sowie eine CD mit dem rheinland-pfälzischen Rechtsextremisten "Henry von Häretiker" (Titel: "Geist des Abendlandes - Vom Mythos Quelle: Telegram zum Logos"). Die musikalischen Veröffentlichungen thematisieren und heroisieren die Armee des antiken Spartas. Deren bedingungsloser Freiheitskampf wird auf die heutige Zeit und den aus Sicht der Rechtsextremisten existierenden Überlebenskampf des deutschen Volkes und der "weißen Rasse" übertragen. Neben Auftritten von "Heureka", der an etlichen weiteren CD-Produktionen innerhalb der rechtsextremistischen Szene beteiligt war, fanden 2023 auch Auftritte des rheinland-pfälzischen Liedermachers "Renitenz" statt, der ebenfalls seit gut zwei Jahrzehnten in der rechtsextremistischen Musikszene verhaftet ist. "Renitenz" ist - wie "Heureka" - in verschiedenen Musikprojekten aktiv und veröffentlichte zuletzt CDs, darunter "Niemals Gutmensch". 130 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Ein weiterer bundesweit bekannter rechtsextremistischer Liedermacher aus Rheinland-Pfalz ist "Phil von FLAK", der auch als "FLAK solo" auftritt. "Phil von FLAK" trat in der Vergangenheit bereits mit den rechtsextremistischen Bands "Stahlgewitter" (Niedersachsen) und "Division Germania" (Nordrhein-Westfalen) auf. Darüber hinaus spielte er beim "Tag der Heimattreue" der Partei "Der III. Weg" am 2. September 2023 in Hilchenbach/Nordrhein-Westfalen. Sein Aktionsradius und verfassungsfeindliches Wirken beschränkte sich hingegen nicht nur auf die rechtsextremistische Musik. Er war vielmehr auch langjähriges Mitglied Quelle: Telegram der verbotenen Vereinigung "Hammerskins Deutschland". Im Dezember 2023 ist der Liedermacher nach Sachsen-Anhalt gezogen. Das rechtsextremistische Duo "Regiment 25" brachte im Oktober 2023 die CD "Gieriger Takt" heraus. Neben "Heureka" wird das Duo durch den Sänger "Maik", einen weiteren langjährigen Angehörigen der rechtsextremistischen Szene aus Rheinland-Pfalz, komplettiert. Das CD-Cover ist voll von antisemitischen und verschwörungsideologischen Elementen. Der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz hat die CD daher der Bundeszentrale für Kinderund Jugendmedienschutz sowie einem bekannten Streamingdienst zur Prüfung gemeldet. 131 Die rheinland-pfälzischen Sicherheitsbehörden konnten der rechtsextremistischen Musikszene auch im Jahr 2023 wirksam entgegentreten. So konnte am 3. Juni 2023 ein konspirativ organisiertes rechtsextremistisches Konzert in Daaden im Landkreis Altenkirchen durch die Polizei aufgelöst und unterbunden werden, während die rechtsextremistische Band "Odessa" aus Sachsen spielte. Es wurden Platzverweise ausgesprochen und die rund 80 Teilnehmenden einer Identitätsfeststellung unterzogen. An dem Einsatz waren 190 Einsatzkräfte beteiligt. Zu einem weiteren Polizeieinsatz kam es wenige Tage später am 17. Juni 2023 in Ludwigshafen am Rhein. Dort fand eine rechtsextremistische Musikveranstaltung statt, die durch das - mittlerweile verbotene - "Hammerskin Chapter Westwall" organisiert worden war. Ein weiterer Schlag gegen die rechtsextremistische Musikszene erfolgte am 26. Oktober 2023. Bundesweit fanden Durchsuchungsmaßnahmen gegen zwölf Beschuldigte statt, so auch in Rheinland-Pfalz. Die Generalstaatsanwaltschaft Celle (Niedersachsen) führte ein Ermittlungsverfahren wegen der Bildung, Mitgliedschaft sowie Unterstützung einer kriminellen Vereinigung im Zusammenhang mit der Produktion und dem Vertrieb strafrechtlich relevanter rechtsextremistischer Tonträger. Es wurden umfangreiche Beweismittel sichergestellt. 132 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Versandhandel Eine weitere wichtige Geldquelle der rechtsextremistischen Szene stellt der Versandhandel dar. Im Angebot befinden sich CDs, Plakate, Aufkleber, szenetypische Devotionalien und eine Vielzahl von Merchandise-Artikeln. Der Vertreib erfolgt in erster Linie über szenetypische Online-Shops, die für jedermann zugänglich sind. Artikel, die strafrechtliche relevanten Inhalte enthalten, werden jedoch im Verborgenen vertrieben, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen. Die erzielten Einnahmen des Versandhandels dienen vor allem dem Lebensunterhalt der rechtsextremistischen Händler. Sie werden aber auch in die Finanzierung von Szeneaktivitäten reinvestiert. In einer kleinen Gemeinde in der Eifel hat der rechtsextremistische "One Eight Versand" seinen Geschäftssitz. Von dort werden neben CDs unter anderem Szeneartikel wie T-Shirts verkauft. Der Name sowie die im Logo enthalten Ziffern 1 und 8, die für den ersten und achten Buchstaben im Alphabet stehen (AH = Adolf Hitler), bringen unmissverständlich die dahinterstehende menschenverachtende rechtsextremistische Weltanschauung zum Ausdruck. Der Inhaber ist ein bekannter Rechtsextremist, der erst seit wenigen Jahren wieder in Rheinland-Pfalz wohnt. Abgesehen von diesem Versandhandel konnten die rheinland-pfälzischen Sicherheitsbehörden in der Eifel keine Stärkung der regionalen rechtsextremistischen Szene sowie verstärkte Aktivitäten feststellen. 133 6. INTERNETAUSWERTUNG RECHTSEXTREMISMUS Die Internetauswertung in den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" sowie "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" hat sich zu einem festen und unverzichtbaren Bestandteil nachrichtendienstlicher Aufgabenwahrnehmung entwickelt. Gleichzeitig stellen stetige Veränderungen der digitalen Welt sowie die weiteren technischen Entwicklungen die Verfassungsschutzbehörden vor neue Herausforderungen. Entwicklung und Trend Wie bereits in den vergangenen Jahren wird das Internet weiterhin nicht nur als Mittel zur verdeckten Kommunikation und Vernetzung, sondern insbesondere auch zu Propagandazwecken und hierdurch unter anderem als Instrument zur Rekrutierung und Radikalisierung vor allem junger Menschen genutzt. Gerade mit Blick auf junge Zielgruppen eignen sich Bilder in besonderem Maße zur Ausübung ideologischer Einflussnahme und Meinungsbildung. Aber auch für Zwecke wie beispielsweise der Umsetzung von Desinformationskampagnen spielen Bilder eine tragende Rolle. Anders als Texte sind Bilder schnell zu erfassen, meist leicht verständlich und emotionalisierend. Bilder werden von Extremisten vor allem genutzt, um niedrigschwellig Aufmerksamkeit zu gewinnen und unterschwellig eigene politische Botschaften zu vermitteln und Propaganda zu betreiben. Im Verfassungsschutzbericht Rheinland134 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Pfalz für das Jahr 2021 wurde in diesem Kontext bereits das Meme als Beispiel moderner Mediennutzung durch Extremisten genannt. Entlang der stetig fortschreitenden technischen Entwicklung, vor allem im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) und des maschinellen Lernens, ergeben sich inzwischen neue Möglichkeiten virtueller Mediennutzung. So ist das Thema Künstliche Intelligenz flächendeckend spätestens seit der Veröffentlichung des ersten, auf künstlicher Intelligenz basierenden Chatbots "ChatGPT" des US-Amerikanischen Unternehmens OpenAI Ende November 2022 in aller Munde. Mittlerweile existieren zahlreiche Anbieter, die zum Teil kostenlos die Erstellung von KI-generiertem Bildmaterial auf Basis kurzer Texteingaben zur Verfügung stellen. Der eigenen Kreativität sind hierbei kaum Grenzen gesetzt. Auch Extremisten haben dies erkannt und nutzen entsprechende Anbieter zur Erstellung zielgruppenorientierten und propagandistischen Bildmaterials. Waren hierfür vormals gute bis sehr gute Bildbearbeitungskenntnisse und entsprechende digitale Werkzeuge wie beispielsweise kostspielige Bildbearbeitungsprogramme nötig, kann nun jeder kostenfrei entsprechendes Material erstellen. Die nachfolgenden Darstellungen KI-generierter Bilder Adolf Hitlers veranschaulichen die Möglichkeiten der KI-basierten Bilderstellung nur ansatzweise: 135 Diese seit dem Jahr 2023 existierende neue Methode zur Ausübung ideologischer Propaganda, meinungsbildender Beeinflussung und Desinformation birgt eine hohe Gefahr, da sie Extremisten eine ressourcenschonende und potenziell wirkmächtige Erstellung und Nutzung digitaler, visueller Medien ermöglicht. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass KI-generierte Bilder mitunter auch Schwächen aufweisen. So finden sich häufig Bildanomalien, die es ermöglichen, KI-generierte Bilder als solche zu entlarven. Dies ist insbesondere im Bereich der Aufdeckung KI-generierten Bildmaterials zu Desinformationszwecken hilfreich und wichtig. Dennoch müssen Anomalien in KI-generierten Bildern nicht zwangsläufig deren Wert als Propagandamittel schmälern, da es hier nicht unbedingt auf eine akkurate und fehlerfreie Darstellung des Inhaltes ankommt, um die eigene Botschaft optisch eindrucksvoll und wirksam zu verbreiten. Die seit 2023 flächendeckend und ressourcenschonend zur Verfügung stehende Möglichkeit der Erstellung und Nutzung KI-generierter Bilder belegt einmal mehr, wie schnell sich das Internet, seine Nutzungsmöglichkeiten, seine Wirkweisen und dadurch nicht zuletzt auch das Nutzungsverhalten von Extremisten konstant und rapide weiterentwickeln. Dies stellt die Sicherheitsbehörden und insbesondere den Verfassungsschutz vor immer neue Herausforderungen. 136 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus 7. KURZBESCHREIBUNGEN "Die Heimat" (vormals "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" - NPD) Gründungsjahr Bund: 1964 Rheinland-Pfalz: 1964 Sitz Bund: Berlin Rheinland-Pfalz: Pirmasens Vorsitzende(r) Bund: Frank Franz Rheinland-Pfalz: Markus Walter Mitgliederzahl in ca. 100 (2022: ca. 150) Rheinland-Pfalz Publikationen und "Deutsche Stimme" (DS, Zeitschrift, Bund), "Stimme DeutschMedien lands" (Zeitschrift, Bund), "Deutsche Nachrichten" (DN, Zeitschrift, Bund), "Die Heimat" (Youtube-Kanal) Teilund Neben"Junge Nationalisten" (JN); "Ring Nationaler Frauen" (RNF); organisationen "Deutsche Stimme Verlagsgesellschaft mbH" (DS Verlag) Ideologie, Die Partei "Die Heimat" ist die Partei "NPD" unter neuem Programm, Namen. Außer dem Namen gab es in der Partei keine VeränStrategie derungen. Ihre Ideologie begründet sich nach wie vor auf dem Konstrukt einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft" und ist von einer starken Angst vor allem "Fremden" geprägt. Sie zeichnet sich durch eine Wesensverwandtschaft zum Nationalsozialismus aus, ist fremdenfeindlich, antisemitisch und geschichtsrevisionistisch. In ihrer Weltanschauung werden auch Lebensweisen, die mit dem klassisch-dualistischen Geschlechterverständnis brechen, als Bedrohung wahrgenommen. 137 "Der III. Weg" Gründungsjahr Bund: 2013 Rheinland-Pfalz: 2013 Sitz Bund: Weidenthal (Rheinland-Pfalz) Rheinland-Pfalz: Landesverbände ("Stützpunkte") Vorsitzende(r) Bund: Matthias Fischer, Klaus Armstroff (Stellvertreter) Rheinland-Pfalz: Julian Bender (Vorsitzender LV West) Mitgliederzahl in 60 Vollund Fördermitglieder (2022: 50) Rheinland-Pfalz Publikationen Auf der parteieigenen Homepage und auf verschiedenen Teleund Medien gram-Kanälen werden tagesaktuell Berichte eingestellt. Auftritte in sozialen Medien werden regelmäßig von den Betreibern gelöscht. Intern publiziert die Partei in der "national-revolutionären Schriftenreihe" einzelne Bücher. Teilund NebenLandesverband Bayern, Landesverband Brandenburg, organisationen Landesverband Sachsen, Landesverband West (Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland), 24 Regionalverbände ("Stützpunkte") Ideologie, Die Partei "Der III. Weg" sieht sich innerhalb der rechtsextremistiProgramm, schen Szene als "elitäre Speerspitze". Sie lehnt die demokratischen Strategie Strukturen der Bundesrepublik Deutschland ab und fordert einen "Deutschen Sozialismus". Ihre Ideologie lehnt sich an das Gedankengut des historischen Nationalsozialismus an und ist auch in ihren Handlungen und Veröffentlichungen geprägt von der Ablehnung aller Menschen, die ihrer Vorstellung eines deutschen Volkes widersprechen. Dabei zeigen sich unverhohlen Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Fremdensowie Demokratiefeindlichkeit. 138 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus "DIE RECHTE" Gründungsjahr Bund: 2012 Rheinland-Pfalz: 2013 Sitz Bund: Dortmund (Nordrhein-Westfalen) Rheinland-Pfalz: k. A. Vorsitzende(r) Bund: Christian Worch Rheinland-Pfalz: k. A. Mitgliederzahl in ca. 15 (2022: ca. 15) Rheinland-Pfalz Publikationen Website, soziale Medien wie Telegram und Medien Teilund NebenLandesverbände, Kreisverbände und "Stützpunkte" organisationen Ideologie, "DIE RECHTE" vertritt ein rechtsextremistisches Weltbild, Programm, positioniert sich rassistisch, antisemitisch und homophob. Mit Strategie einem angestrebten "Systemwechsel" sollen Parlamentarismus und Demokratie in Deutschland abgeschafft werden. Durch ihren Parteienstatus vor sicherheitsbehördlichen und vereinsrechtlichen Maßnahmen geschützt, fungiert sie als Auffangbecken für Neonazis verbotener rechtsextremistischer Gruppierungen. 139 "Neue Stärke Partei" (NSP) Gründungsjahr Bund: 2021 Rheinland-Pfalz: 2021 Sitz Bund: Thüringen Rheinland-Pfalz: Rheinhessen Vorsitzende(r) Bund: Christoph Tews Rheinland-Pfalz: k. A. Mitgliederzahl in 10 Rheinland-Pfalz Publikationen Website, soziale Medien und Medien Ideologie, Die Weltanschauung der "Neue Stärke Partei" basiert auf Programm, einem biologisch geprägten Menschenbild. In dieser Logik ist Strategie die Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Nation biologisch festgelegt und ausschlaggebend für den "Wert" eines Menschen. 140 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Junge Alternative Gründungsjahr Bund: 2013 Rheinland-Pfalz: 2014 Sitz Bund: Berlin Rheinland-Pfalz: k. A. Vorsitzende(r) Bund: Hannes Gnauck (MdB) Rheinland-Pfalz: Marcel Philipps Mitgliederzahl in 40 (2022: 40) Rheinland-Pfalz Publikationen Soziale Medien, Website, Online-Shop und Medien Teilund NebenGrundsätzlich vier rheinland-pfälzische Regionalverbände organisationen (Mittelrhein-Westerwald, Pfalz, Rheinhessen-Nahe und Trier), wobei nur teilweise Aktivitäten entfaltet werden. Ideologie, Mitglieder der JA vertreten einen ethnischen Volksbegriff, der Programm, mit der Ausgrenzung sowie Verächtlichmachung von MigrantinStrategie nen und Migranten einhergeht. Dies verstößt gegen das Prinzip der im Grundgesetz verankerten Menschenwürde. Sonstiges Am 17. Juni 2023 feierte die JA Deutschland ihr 10-jähriges Bestehen in den Räumlichkeiten des "Zentrums Rheinhessen" in Mainz. 141 "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) Gründungsjahr Bund: 2012 Rheinland-Pfalz: 2015 Sitz Bund: Paderborn (Nordrhein-Westfalen) Rheinland-Pfalz: k.A. Vorsitzende(r) Bund: Philip Thaler (Sachsen-Anhalt) Rheinland-Pfalz: k.A. Mitgliederzahl in konstant im niedrigen zweistelligen Bereich Rheinland-Pfalz Publikationen Die Aktivitäten werden insbesondere über den Kommunikationsund Medien anbieter "Telegram" dargestellt. Darüber hinaus werden gelegentlich Flyer verteilt oder Plakate und Aufkleber platziert. Ideologie, Ideologisch sieht sich die "Identitäre Bewegung" als "SchutzProgramm, wall des Volkes", welches durch Masseneinwanderung kulturStrategie fremder Einwanderer bedroht sei. Sie bezieht sich hierbei auf den Erhalt der "ethnokulturellen Identität" und den sog. "Ethnopluralismus". Ziel ist es hierbei, das eigene Volk samt seiner Kultur zu erhalten und sich somit dem sogenannten "Großen Austausch" entgegenzustellen. 142 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Rechtsextremismus Neonationalsozialistische Gruppierungen (Neonazis) Mitgliederzahl in ca. 190 (2022: ca. 200) überwiegend in: Rheinland-Pfalz # informellen Zusammenschlüssen und virtuellen Netzwerken, # "Kameradschaften", # rechtsextremistischen Parteien (insbesondere der "III. Weg" und "DIE RECHTE") Strukturen aktive "Kameradschaften": # "Nationaler Widerstand Zweibrücken", # "Kameradschaft Rheinhessen" (bis Oktober 2023) Ideologie, Das heterogene Neonazispektrum orientiert sich ideologisch Programm, am historischen Nationalsozialismus. Richtungsweisende IdeoStrategie logieelemente sind der Antisemitismus, der Rassismus oder auch der Antipluralismus. Das politische Denken dieser Personengruppe ist dabei von einem auffälligen Feindbildmuster geprägt. Charakteristisch ist dabei die Aufwertung der eigenen deutschen "Rasse" unter gleichzeitiger Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit anderer Herkunft oder Kultur. Neonazis streben nach einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft die, in Anlehnung an das "Dritte Reich" in einem diktatorisch geführten Staat gelebt werden soll. Ihre politischen Ziele propagieren sie oftmals bei öffentlichen Kundgebungen oder Demonstrationen. Sie greifen hier meist auf "klassische", neonazistische Themen wie die Migrationspolitik oder "Überfremdung" zurück. Sonstiges Von festen Strukturen und starren Organisationsformen rückte die Neonaziszene in den letzten Jahren vermehrt ab. Es etablierten sich vielmehr lockere informelle Gruppen und virtuelle Netzwerke. 143 REICHS BÜRGER 144 UND SEL HS REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER 1. Personenpotenzial S. 146 2. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 147 GER 3. Gruppierungen und Strukturen S. 151 3.1 "Bismarcks Erben"/"Vaterländischer Hilfsdienst" S. 152 3.2 "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force - S.H.A.E.F." S. 153 3.3 Übriges organisationsungebundenes Personenpotenzial S. 154 3.4 Aktivitäten S. 154 4. Ausblick S. 155 5. Kurzbeschreibungen S. 156 SELBST 145 1. PERSONENPOTENZIAL 2023 2022 Gewaltorientierte 160 140 Organisationsgebundene Personen* 210 280 Organisationsungebundene Personen 840 670 Gesamt 1.050 950 Angaben gerundet, Gesamtzahl ohne Mehrfachmitgliedschaften. * In Gruppierungen, die 2023 Aktivitäten entwickelten. 146 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Reichsbürger und Selbstverwalter 2. ÜBERBLICK UND ENTWICKLUNGEN 2023 Sogenannte Reichsbürger und Selbstverwalter erkennen die Bundesrepublik Deutschland als Staat nicht an, negieren ihre Verfassungsund Rechtsordnung und sprechen den demokratisch gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten des Staates sowie den staatlich Bediensteten die Legitimation ab. Unter Bezugnahme auf verschiedene Verschwörungsnarrative, Rückgriff auf historische Rechtsquellen oder schlicht ein selbst definiertes "Naturrecht" behaupten Angehörige des "Reichsbürger"-Spektrums, dass das Deutsche Reich als Völkerrechtssubjekt fortbestehe. Unterschiedliche Auffassungen gibt es über die Grenzziehung anhand historischer Vorbilder (1871, 1914, 1937 und andere). INFORMATION Was ist ein Völkerrechtssubjekt? Bei einem Völkerrechtssubjekt handelt es sich um einen Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten, dessen Verhalten unmittelbar durch das Völkerrecht geregelt wird. Völkerrechtssubjekte sind in der Regel souveräne Staaten, es kann sich aber auch um internationale Organisationen handeln (zum Beispiel die Vereinten Nationen). 147 "Selbstverwalter" demgegenüber erfinden eigene Phantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium. Sie sind der Ansicht, dass die geltende Rechtsordnung für sie keine Gültigkeit besäße. Szeneangehörige fordern Behörden und Gerichte zudem auf, geltendes Recht nicht anzuwenden und treten mitunter auch aggressiv gegenüber staatlichen Institutionen auf. Das Spektrum der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" weist ein hohes Maß an weltanschaulicher und struktureller Heterogenität auf und setzt sich vorwiegend aus Einzelpersonen ohne Organisationsbezug, Kleinstund Kleingruppierungen sowie eher losen Personenzusammenschlüssen zusammen, die nicht öffentlichkeitswirksam in Erscheinung treten. Das Internet und insbesondere die sozialen Netzwerke dienen Einzelpersonen und Organisationen aus dem "Reichsbürger"-Spektrum zugleich als Agitationsplattform und Echokammer für Verschwörungsnarrative sowie für verfassungsfeindliche Agitation und Propaganda. Mit Schwerpunkt agieren "Reichsbürger" weiterhin gegen Behörden und deren Bedienstete, insbesondere um für sie nachteilige Entscheidungen wie beispielsweise Bußgelder oder Steuerzahlungen abzuwehren. Mit oft umfangreichen und wirren Schriftsätzen versuchen sie, Behörden und andere staatliche Institutionen an ihrem rechtmäßigen Handeln zu hindern. Dabei bedienen sie sich unterschiedlicher Strategien, um ihre Ziele zu erreichen. Neben der bewussten Provokation stellt die "Vielschreiberei" die am häufigsten verbreitete Strategie dar. Sie reicht von sehr umfangreichen Schriftstücken, die nur schwer nachvollziehbare Behauptungen und abwegige Rechtsauffassungen beinhalten, bis hin zu Erpressungen, Beleidigungen oder teilweise Androhung von physischer Gewalt zum Nachteil der Behördenmitarbeitenden. 148 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Reichsbürger und Selbstverwalter Der Zulauf im "Reichsbürger"-Spektrum hat sich 2023 weiter fortgesetzt. Ähnlich wie in anderen Phänomenbereichen ist auch die Szene der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" einem stetigen Wandel unterworfen. Lässt sich der Anstieg des Personenpotenzials im Jahr 2022 noch als Reaktion auf die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie deuten, so dürften für 2023 insbesondere der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit einhergehenden Herausforderungen im Energieund Wirtschaftssektor mit ursächlich gewesen sein. Die hieraus resultierende allgemeine, teilweise übersteigerte Unzufriedenheit mit dem Staat und seinen Repräsentantinnen und Repräsentanten dürfte zur Motivlage beigetragen haben. Entgrenzung zwischen extremistischen Szenen Von der Szene der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" geht weiterhin eine nicht zu unterschätzende Gefahr aus. So mussten auch im Jahr 2023 Rechtsansprüche gegenüber Szeneangehörigen nicht selten mittels Zwangsvollstreckung und unter Einsatz polizeilicher Spezialeinheiten durchgesetzt werden. Dass sich das Gewaltpotenzial der Reichsbürgerbewegung nicht mehr nur gegen Behörden und deren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, sondern gegen den Staat als solchen richtet, verdeutlichen die Ereignisse um die Gruppierung um Heinrich XIII. Prinz R., deren erklärtes Ziel die Beseitigung der staatlichen Ordnung und die Etablierung eines wie auch immer gearteten "eigenen" Systems war. 149 Den Angehörigen der Gruppierung war dabei stets bewusst, dass ein solches Vorhaben nur durch die Anwendung massiver Gewalt und unter Inkaufnahme von Menschenleben zu verwirklichen wäre. Die Gruppierung steht zudem beispielhaft für ein relativ neues Phänomen, das insbesondere seit dem Aufkommen des Protestgeschehens im Zuge der Corona-Pandemie zu beobachten ist: Wenngleich ein überwiegender Teil der Gruppierung um Heinrich XIII. Prinz R. dem "Reichsbürger"-Spektrum zugerechnet werden kann, so konnten sowohl ideologische als auch personelle Bezüge zum Rechtsextremismus sowie zum Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" festgestellt werden. Insofern konkretisiert sich hier ein Entgrenzungsprozess zwischen verschiedenen Szenen und Milieus, wobei gemeinsam geteilte Verschwörungsfantasien einen Ankerpunkt bilden und damit die phänomenübergreifende Kooperation begünstigen. Krisenhafte Situationen wie der Krieg gegen die Ukraine, die Energiekrise oder der Krieg in Nahost und die hieraus resultierenden gesellschaftlichen Herausforderungen dürften als Katalysator wirken und diesen Trend noch verstärken (vgl. auch Verfassungsschutzbericht 2022, Seite 54 f.). Die Affinität zu Waffen innerhalb der Szene der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" ist unverändert hoch. Im Berichtsjahr konnten durch die Waffenbehörden zahlreichen "Reichsbürgern" die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und/oder Waffenverbote ausgesprochen werden. 150 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Reichsbürger und Selbstverwalter 3. GRUPPIERUNGEN UND STRUKTUREN Der überwiegende Teil der organisationsgebundenen Personen der "Reichsbürger"Szene verteilt sich auf kleinere Gruppierungen, die nicht öffentlichkeitswirksam in Erscheinung treten. Die ideologische Zersplitterung innerhalb der "Reichsbürger"-Szene erschwert beziehungsweise verhindert die Bildung einheitlicher Strukturen oder Organisationen größerer Bedeutung. Nicht selten stehen sich einzelne Gruppierungen gar konträr gegenüber. Bei einzelnen Personen sowie Gruppierungen sind Elemente rechtsextremistischer Ideologie sowie auch antisemitische Ansichten deutlich erkennbar. Mit einem Anteil von etwa 2,8 Prozent (knapp 30 Personen) ist die Schnittmenge der Personen aus dem Phänomenbereich der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter", die Bezüge zum Rechtsextremismus aufweisen, in Rheinland-Pfalz äußerst gering und im Vergleich zu den Vorjahren auf einem gleichbleibenden Niveau geblieben. Die Szene der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" ist vor allem männlich und von Einzelakteuren geprägt. Zuletzt konnte allerdings festgestellt werden, dass Frauen mit einem Anteil von 40 Prozent am Gesamtpersonenpotenzial zunehmend an Bedeutung gewinnen. Bundesweit existieren einige "Reichsbürger"-Gruppierungen mit unterschiedlicher Größe und unterschiedlichem Aktionsradius. In Rheinland-Pfalz gingen im Berichtszeitraum insbesondere von zwei Gruppierungen Aktivitäten aus. 151 3.1 "Bismarcks Erben"/ "Vaterländischer Hilfsdienst" (VHD) Die Gruppierung "Bismarcks Erben" und der dazugehörige "Vaterländische Hilfsdienst" traten in Rheinland-Pfalz im Jahr 2023 erneut durch Flugblattverteilungen sowie realweltliche Treffen in Erscheinung. Der "Vaterländische Hilfsdienst" existiert deutschlandweit und ist in 24 sogenannten "Armeekorpsbezirken" (AKB) organisiert. Gemäß eigenen Veröffentlichungen sollen durch die jeweiliDer VHD wirbt um Unterstützer. gen "Armeekorpsbezirke" regelmäßige ZusammenQuelle: VHD-Homepage künfte organisiert und durchgeführt werden. Die Gruppierung weist insbesondere deutliche gebietsund geschichtsrevisionistische Bezüge auf und tritt teilweise unter dem Namen "Ewiger Bund" auf (vgl. Verfassungsschutzbericht 2022, Seite 111 f.). Der VHD ist der Annahme, dass das Deutsche Reich in seinen Grenzen von 1914 fortbestehe und weiterhin handlungsfähig sei. Die allein gültige Verfassung stellt demzufolge die Verfassung des Kaiserreichs von 1871 dar. In der Vorstellungswelt der Gruppierung dauert der im Juli 1914 erklärte Kriegszustand noch an, folgerichtig sei in Deutschland eine Militärverwaltung zuständig. Vorrangiges Ziel sei es, den angeblichen Kriegsund Belagerungszustand zu beenden und das Kaiserreich zu reorganisieren. Hierzu dient der "Vaterländische Hilfsdienst" als Vorfeldorganisation, welche sich als legitime Ordnungsmacht in Deutschland sieht. Sie gliedert sich in die bereits genannten "Armeekorpsbezirke", deren Grenzen jenen des historischen Vorbilds entsprechen. Für RheinlandPfalz ist insbesondere der AKB VIII. von Bedeutung. 152 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Reichsbürger und Selbstverwalter Der VHD weist einen stark ausgeprägten Gebietsrevisionismus auf. Insbesondere die Grenzen der 24 "Armeekorpsbezirke" machen deutlich, dass ein Anspruch auf die ehemals zu Deutschland gehörenden Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße, sowie das ehemalige "Reichsland Elsass-Lothringen" erhoben wird. Im Jahr 2023 sollen nach Angaben des VHD mehrere Treffen/Veranstaltungen in den Regionen Kaiserslautern, Neuwied, Eifel und Andernach stattgefunden haben. Daneben konnten im Berichtsjahr vereinzelt Flugblattverteilungen der Gruppierung in Rheinland-Pfalz festgestellt werden. Das rheinland-pfälzische Personenpotenzial ist im unteren zweistelligen Bereich zu verorten. 3.2 "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force - S.H.A.E.F." Das "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force" war das Oberkommando der alliierten Streitkräfte in Nordwestund Mitteleuropa während des 2. Weltkrieges und wurde Mitte 1945 aufgelöst. Anhänger dieser Bewegung behaupten, dass die damaligen "S.H.A.E.F."-Gesetze dennoch weiterhin Gültigkeit hätten, folglich seien Zuwiderhandlungen gegen die "S.H.A.E.F."-Gesetze von der Militärgerichtsbarkeit abzuurteilen. Vereinzelt wurden sogar Todesurteile ausgesprochen. Im Berichtsjahr 2023 konnten zwar keine realweltlichen Aktivitäten festgestellt werden. Dies dürfte vor allem mit der Verhaftung eines selbsternannten "Major" aus Niedersachsen im Jahr 2021 sowie mit dessen Tod im Jahr 2023 zusammenhängen, der sich als Kopf der Gruppierung ansah. Gleichwohl nutzen "Reichsbürger" im Behördenverkehr weiterhin die einschlägige "S.H.A.E.F."-Argumentation. 153 3.3 Übriges organisationsgebundenes Personenpotenzial Die übrigen organisationsgebundenen Personen verteilen sich auf kleinere Gruppierungen, die nicht öffentlichkeitswirksam in Erscheinung treten. Mit einem Anteil von etwa 2,8 Prozent (knapp 30 Personen) ist die Schnittmenge der Personen aus dem Phänomenbereich der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter", die Bezüge zum Rechtsextremismus aufweisen äußerst gering und im Vergleich zu den Vorjahren auf einem gleichbleibenden Niveau. 3.4 Aktivitäten Im Jahr 2023 konnten in der Region Andernach sowie in der Grenzregion zu Luxemburg szenetypische Veranstaltungen festgestellt werden. Diese wurden zuvor im Internet sowie in den sozialen Netzwerken beworben und durch eine im mittleren zweistelligen Bereich liegende Anzahl von Personen besucht. Insbesondere die auf dem Marienstädter Hof in Andernach durchgeführte Veranstaltung, bei der auch ein szenebekannter Vortragsredner auftrat, wurde durch polizeiliche Maßnahmen begleitet und war Gegenstand einer breiten medialen Berichterstattung. Insgesamt wurde 2023 zwar eine Vielzahl szenetypischer Veranstaltungen in Rheinland-Pfalz bekannt. Allerdings wiesen diese zumeist keinen Organisationsbezug auf und entfalteten in aller Regel keine öffentliche Wirkung. 154 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Reichsbürger und Selbstverwalter 4. AUSBLICK Vor dem Hintergrund der weiteren weltpolitischen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf Deutschland und Rheinland-Pfalz ist auch zukünftig mit einer weiteren Zunahme des "Reichsbürger"-Spektrums zu rechnen. Einzelpersonen aber auch Organisationen aus der "Reichsbürger"-Szene dürften weiterhin bestrebt sein, bestehende und zukünftige Krisensituationen für die eigene Agitation und Propaganda zu nutzen. Wie bereits im Rahmen der Corona-Pandemie beobachtet werden konnte, erweist sich hier die ideologische Heterogenität als vermeintliche Stärke, die es der Szene erlaubt, schnell auf aktuelle Ereignisse zu reagieren und sich sowohl agitatorisch als auch propagandistisch entsprechend anzupassen. Ein besonderes Gefährdungspotenzial erwächst hierbei aus der Anschlussfähigkeit des "Reichsbürger"-Spektrums gegenüber anderen Phänomenbereichen. Hervorzuheben sind hier insbesondere der Rechtsextremismus sowie die "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates". Die Gruppierung um Heinrich XIII. Prinz R. steht hierbei exemplarisch für die Bildung einer neuen gewaltorientierten Mischszene. Dass der angestrebte "Umsturz" auch unter Anwendung massiver Gewalt herbeigeführt werden sollte, zeigt das weiterhin hohe Gewaltpotenzial innerhalb der Szene. Verstärkt wird dieses Gefährdungspotenzial durch die innerhalb der "Reichsbürger"-Bewegung ungebrochen hohe Affinität zu Schusswaffen. Die konsequente Entwaffnung von Szeneangehörigen ist und bleibt daher ein vordringliches Ziel der Sicherheitsbehörden in Rheinland-Pfalz. 155 5. KURZBESCHREIBUNGEN Gruppierung "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force - S.H.A.E.F." Gründungsjahr k. A. Sitz k. A. Verantwortlich Thorsten Gerhard Jansen ("Major", "Commander"), zwischenzeitlich verstorben. Mitgliederzahl in Rheinland-Pfalz Einzelne (2021: Einzelne) (Mitgliederzahl im Vorjahr) Publikationen und Nutzung von Internetkanälen und sozialen Medien unter anMedien derem zur Verbreitung von "Bekanntmachungen" (Schmähschriften) und Verschwörungsnarrativen. Teilorganisationen Überregionale Anhängerschaft. Ideologie, Die Anhänger der Gruppierung behaupten, dass die vom seiProgramm, nerzeitigen alliierten Hautquartier S.H.A.E.F. im NachkriegsStrategie deutschland erlassenen Gesetze weiterhin Gültigkeit haben und die Regierung von diesem ausgeübt werde. Deutschland gelte daher nicht als souveräner Staat ("BRD GmbH"), sondern als besetztes Gebiet; die deutsche Rechtsordnung sei unwirksam, die Rechtsprechung wird nicht anerkannt. Sonstiges Der selbsternannte "Major" Jansen wurde im November 2021 festgenommen und verstarb im Jahr 2023. 156 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Reichsbürger und Selbstverwalter "Bismarcks Erben"/"Vaterländischer Hilfsdienst" (VHD) Gründungsjahr 2018 Sitz k. A. Verantwortlich k. A. Mitgliederzahl in Rheinland-Pfalz Einzelne (2021: Einzelne) (Mitgliederzahl im Vorjahr) Publikationen und Präsenzen im Internet und den sozialen Medien. Flugblätter Medien und Propagandaartikel. Teilorganisationen Gliederung in "Armeekorpsbezirke" entsprechend historischer Grenzen. Ideologie, Die Gruppierung "Bismarcks Erben" orientiert sich am Programm, "Ewigen Bund", einem Zusammenschluss deutscher GliedStrategie staaten zu Zeiten des Deutschen Kaiserreichs. Ihre Anhänger erachten die Reichsverfassung von 1871 als "das höchste Gesetz der Deutschen" und bedienen sich üblicher Argumente aus dem "Reichsbürger"-Milieu. So behaupten sie, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht souverän sei, und erkennen den Zwei-plus-vier-Vertrag nicht als Friedensvertrag an. Den von der Gruppierung nach historischem Vorbild gegründete "Vaterländische Hilfsdienst" beschreibt diese als "zivile Ergänzung zur Wehrpflicht". Dieser diene zum Aufbau von "Verwaltungsstrukturen", auf die dann der "Kaiser" nach seiner Rückkehr an die Macht zurückgreifen könne. 157 VERFAS SUNGS 158 SCHUTZ AS VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 1. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 160 2. Gruppierungen und Strukturen in Rheinland-Pfalz S. 161 GS 3. Ausblick S. 163 UTZ 159 1. ÜBERBLICK UND ENTWICKLUNGEN 2023 Krisen, Kriege und Katastrophen sind der Nährboden für Extremisten, die dem Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" zugerechnet werden. Dabei wirkt jede Krise wie ein Brandbeschleuniger. Im Zuge der zur Corona-Pandemiebekämpfung erlassenen staatlichen Beschränkungsmaßnahmen entwickelte sich ein heterogenes Protestgeschehen. Dabei nutzten einzelne Akteure die Proteste, um wesentliche Verfassungsgrundsätze zu bekämpfen oder die Funktionsfähigkeit des Staates sowie seiner Einrichtungen erheblich zu beeinträchtigen. Hierbei bedienten sich die sogenannten "Delegitimierer" vor allem der Verbreitung von Verschwörungsnarrativen, einem kategorischen Freund-Feind-Denken und/oder der offenen Ablehnung getroffener demokratischer Entscheidungen als Mittel zur Umsetzung ihrer Ziele (vgl. Verfassungsschutzbericht 2022, Seite 122ff.). Im Gegensatz zu klassisch rechtsextremistischen Gruppierungen verfolgt die sehr heterogene Gruppe der "Delegitimierer" jedoch keine konkrete Ideologie. Allenfalls lassen sich Schnittmengen wie beispielsweise zum Antisemitismus oder dem Geschichtsrevisionismus finden. Der Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" befindet sich im stetigen Wandel. Der zu Beginn der Entwicklung des neuen Phänomenbereichs stehende "Kampf" gegen die staatlichen Beschränkungsmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie spielt mittlerweile kaum noch eine Rolle. Die dort gemachten Erfahrungen sind jedoch identitätsstiftend für dieses Phänomen. Aktuell bewegt die Szene thematisch die Infla160 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung tion, gestiegene Energiepreise sowie der Russland-Ukraine-Krieg. Aufgrund der aktuellen weltpolitischen Lage sehen sich viele Menschen mit neuen Herausforderungen konfrontiert, wobei der Nahostkonflikt derzeit in der Szene nur von untergeordneter Bedeutung ist. 2. GRUPPIERUNGEN UND STRUKTUREN IN RHEINLANDPFALZ Die Verfassungsschutzbehörde rechnet dem Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" in Rheinland-Pfalz etwa 50 Personen zu, die sich in einer zutiefst demokratiefeindlichen Art und Weise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung stellen. Sie selbst sehen sich dagegen als die wirklichen Demokraten und wähnen sich in der Tradition des Hambacher Festes. So war es am 28. Mai 2022 erstmalig zu einer unangemeldeten Demonstration am Hambacher Schloss in Neustadt an der Weinstraße gekommen. Der Anmelder stellte die Versammlung in die Tradition jenes Festes, das sich am 28. Mai 2022 zum 190. Mal jährte. Hieran wollte die Szene der "Delegitimierer" auch im Jahr 2023 anknüpfen und meldete für den 28. Mai erneut eine Versammlung am Hambacher Schloss an. Im Verlauf der Demonstration fanden sich rund 2.800 Personen am Fuße des Schlosses ein. Die Szene verklärte das Ereignis zum "2. Hambacher Fest". 161 Vereinzelt nahmen auch Rechtsextremisten sowie Angehörige der "Reichsbürger"-Bewegung an ihm teil. Außerdem wurde ein mit 10.000 Euro dotierter "Demokratiepreis" an den Gründer von "Querdenken711" überreicht. Anders als noch im Jahr zuvor befasste sich die Versammlung vor allem mit dem RusslandUkraine-Krieg, den gestiegenen Energiekosten sowie den wirtschaftlichen Herausforderungen, mit denen sich aktuell vor allem kleinere bis mittlere Unternehmen konfrontiert sehen. Dabei griffen szenebekannte Redner vor allem das politische System und dessen Repräsentanten an. Im Jahr 2023 kam es vereinzelt zu Demonstrationen vor der Ramstein Air Base, an denen Personen des Phänomenbereiches "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" sowie aus der "Reichsbürger"-Szene teilnahmen. Die Demonstrierenden forderten einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine sowie die Schließung der Air Base. Generell wird ein Teil des Demonstrationsgeschehens im Bereich der "Delegitimierer" sowohl in Rheinland-Pfalz als auch bundesweit von einer Mischszene bestimmt, die sich größtenteils in Abhängigkeit von aktuellen Themen formiert. 162 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung 3. AUSBLICK Durch die starke Heterogenität dieser Mischszene ist auch die künftige Mobilisierung letztlich von aktuellen (welt-)politischen Themen sowie prägnanten Ereignisse abhängig. Es besteht daher stets die latente Gefahr, dass sich kleinere Gruppen oder Einzelpersonen (weiter) radikalisieren und auch vor Straftaten nicht zurückschrecken, wie die Gruppierung der "Vereinten Patrioten" zeigt, deren Mitglieder sich aktuell vor dem Oberlandesgericht Koblenz verantworten müssen. 163 LINKS EXTRE 164 MISMUS LINKSEXTREMISMUS 1. Personenpotenzial S. 166 2. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 167 E 3. Gruppierungen, Strukturen und Aktionsfelder S. 173 3.1 Autonomen-Szene S. 173 3.2 "Postautonome" - "Interventionistische Linke" (IL) S. 175 3.3 Anarchisten - "die plattform" S. 175 3.4 Dogmatische Linksextremisten: "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) und "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) S. 176 3.5 Linksextremistische Aktionsfelder S. 178 4. Ausblick S. 181 US 5. Kurzbeschreibungen S. 182 165 1. PERSONENPOTENZIAL 2023 2022 Gewaltorientierte Linksextremisten 120 120 Nicht gewaltorientierte dogmatische Linksextremisten 370 380 und sonstige Linksextremisten Gesamt 490 500 Die Gesamtzahlen verstehen sich ohne Mehrfachmitgliedschaften. Die Zahlenangaben sind geschätzt und gerundet. 166 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus 2. ÜBERBLICK UND ENTWICKLUNGEN 2023 Linksextremisten verfolgen das Ziel, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu überwinden und durch ein autoritär-sozialistisches, kommunistisches oder anarchistisches Gesellschaftsmodell zu ersetzen. Ihre Aktionsformen reichen von offener Agitation und Propaganda bis hin zu massiver Gewaltanwendung. Sie beteiligen sich an breiten, von zivilgesellschaftlichen Gruppen getragenen Protestbündnissen, zum Beispiel im Kontext von Klimaoder Gewerkschaftsprotesten, und versuchen, diese entsprechend ihrer verfassungsfeindlichen Ziele zu beeinflussen und zu instrumentalisieren. Nach wie vor gibt es im eher ländlich geprägten Rheinland-Pfalz weniger linksextremistische Aktivitäten als in Ländern mit Ballungszentren oder in den Stadtstaaten. Auch die Gesamtzahl der Linksextremisten ist hier vergleichsweise gering. Wichtigstes Aktionsfeld in Rheinland-Pfalz bleibt der "Antifaschismus". Er richtet sich nicht nur gegen tatsächliche und vermeintliche Rechtsextremisten, sondern gegen die staatliche Ordnung insgesamt. Für die meisten Linksextremisten hat der Faschismus seine Wurzeln im Kapitalismus. Nach deren Logik bedeutet "Antifaschismus" Kampf gegen das "kapitalistische System" und die gesellschaftlichen Kräfte, die es tragen. Linksextremisten richten sich gegen das politische System der Bundesrepublik Deutschland, das heißt gegen den demokratischen Rechtsstaat und seine Repräsentantinnen und Repräsentanten. Die allgemeine Entwicklung gibt seit Jahren Anlass zur Sorge, da von gewaltorientierten Linksextremisten in einigen Teilen des Bundesgebiets 167 erhebliche Gefahren für die innere Sicherheit ausgehen. Ausgeprägte gewaltaffine Szenen - sogenannte "Autonome" - gibt es insbesondere in Berlin, Bremen, Hamburg und Leipzig. Die Anwendung von Gewalt - auch gegen Personen - ist für Autonome in bestimmten Hotspots ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele. Gewalt gegen Menschen ist in Teilen dieses urbanen Spektrums kein Tabu. Dies zeigte sich exemplarisch im Prozess gegen die Antifa-Ost. "Wer den Faschismus bekämpfen In Rheinland-Pfalz besteht das will muss auch den kapitalistischen (gewaltorientierte) linksextreStaat bekämpfen, aus dessen mistische Spektrum weit überwiegend aus Angehörigen der Schoß er immer wieder erwächst. autonomen Antifa-Szene sowie Antifaschismus in die Offensive weiteren lokalen Antifa-Grupheißt den Menschenfeinden entpen. Radikalisierungstendenzen gegen treten, auf allen Ebenen, mit und Gewaltaffinitäten sind hierzulande derzeit nicht erkennbar. allen Mitteln!" [sic] Quelle: Instagram, Antifa Koblenz Gewalt gegen Sachen als Mittel im "Kampf gegen das System" Gewalt gegen Sachen ist aus Sicht gewaltorientierter Linksextremisten ein legitimes wie gängiges Mittel im "Kampf gegen das System". Brandstiftungen und mitunter massive Sachbeschädigungen verursachen hohe Schadenssummen und sorgten in einigen Bundesländern - insbesondere im Zusammenhang mit der Urteilsverkündung im "Antifa-Ost-Prozess" und rund um den "Tag X" in Leipzig - für Schlagzeilen. Der "Tag X" fand am 3. Juni 2023 als Reaktion auf 168 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus die Urteilsverkündung im "Antifa-Ost-Prozess" statt. Am "Tag X" kam es im Rahmen von Ausschreitungen zu Sachbeschädigungen, insbesondere an Polizeiautos sowie geparkten Autos von Privatpersonen. Im Stadtteil Leipzig-Connewitz wurden Barrikaden entzündet. Für die Szene haben solche Taten nicht zuletzt angesichts der medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit, die mit ihnen einhergeht, eine hohe Symbolkraft. In Rheinland-Pfalz sind solche Ausmaße bislang nicht feststellbar. INFORMATION Was bedeutet "Antifa-Ost-Verfahren"? Das "Antifa-Ost-Verfahren" lief vom 08. September 2021 bis zur Urteilsverkündung am 31. Mai 2023 am Oberlandesgericht (OLG Dresden) gegen vier Angeklagte, darunter Lina E., wegen des Verdachts der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung nach SS 129 StGB. Als mutmaßliche Mitglieder einer gewaltbereiten linksextremistischen Gruppierung sollen sie zwischen August 2018 und Sommer 2020 mindestens sechs Überfälle auf tatsächliche oder als solche ausgemachte Rechtsextremisten verübt und weitere Straftaten begangen haben. Bei den Überfällen wurden den Opfern durch Tritte und Schläge - unter anderem mit Hämmern - schwere, teilweise lebensbedrohliche Verletzungen zugefügt. Am 31. Mai 2023 verurteilte das OLG Dresden Lina E. und die drei Mitangeklagten zu mehrjährigen Freiheitsstrafen. Das Gericht sah die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung bzw. der Unterstützung als erwiesen an, ebenso die gewaltsamen Angriffe auf politische Gegner. Quelle: Bundesministerium des Innern und für Heimat (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2022, erschienen 2023. 169 Linksextremisten und Krisen - Einflussnahme auf politische Themen Durch ihr Engagement für die "Arbeiterklasse" und ihre Beteiligung an bürgerlichen Bündnissen versuchen Gruppierungen des dogmatischen Linksextremismus Einfluss auf den politischen Diskurs und die Gewerkschaftsarbeit zu nehmen. Dafür nehmen Angehörige dieser Gruppen an Gewerkschaftsdemonstrationen teil und betreiben am Rande dieser Kundgebungen Teilnahme am Streiktag von ver.di und Infotische, um ihre eigene Propaganda zu verbreiten. EVG, Quelle: Instagram, SOL Zudem verteilen sie organisationseigene Publikationen. Vernetzungen innerhalb der linksextremistischen Szene Im Jahr 2023 konnte festgestellt werden, dass rheinland-pfälzische Linksextremisten - zumindest punktuell - auch überregional vernetzt sind. Unter dem Motto "Getroffen hat es Einzelne: Gemeint sind wir alle!" fanden zum Beispiel am 9. März in Koblenz und am 11. März in Mainz zwei Informationsveranstaltungen der linksextremistischen Gruppe "Roter Aufbau Hamburg" zu Ermittlungsverfahren nach SS 129 beziehungsweise SS 129a StGB (Bildung einer kriminellen beziehungsweise terroristischen Vereinigung) statt. Die Veranstaltungen waren Teil einer bundesweiten Informationsund Vernetzungskampagne der Hamburger Gruppe. Quelle: Instagram, Rotes Mainz 170 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus Ein weiteres Beispiel ist der Zusammenschluss der Gruppen "Rotes Mainz", "Aurora Räteaufbau Frankfurt" und "Revolutionäre Einheit Darmstadt" unter der Bezeichnung "Revolutionärer Aufbau Rhein-Main". Das Ziel der Organisation besteht darin, revolutionäre Strukturen im Rhein-Main-Gebiet aufzubauen. Die Gruppe versteht sich selbst als Teil der "wirklichen Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt". Ziel ist die Verwirklichung eines Kommunismus nach den Grundsätzen von Karl Marx. "Antifaschistische Aktion Süd" Im Februar 2022 gaben acht regionale linksextremistische Gruppierungen aus Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz ihre Gründung zu einem neuen Zusammenschluss unter dem Namen "Antifaschistische Aktion Süd" bekannt. Der Zusammenschluss setzt sich aus sechs Gruppierungen aus Baden-Württemberg sowie jeweils einer Gruppierung aus Bayern und Rheinland-Pfalz zusammen. Bei der rheinland-pfälzischen Gruppierung handelt es sich um die "Antifaschistische Aktion Südliche Weinstraße", die eigenen Angaben zufolge "Teil des OAT Landau" (Offenes Antifaschistisches Treffen Landau) ist. Erklärtes Ziel der "Antifaschistischen Aktion Süd" ist es, antifaschistische Kräfte stärker zu bündeln, um den politischen Gegner - vor allem Rechte und Faschisten - durch direkte Konfrontation handlungsunfähig zu machen. Langfristiges Ziel des gewaltorientierten Zusammenschlusses ist die Ausweitung auf eine bundesweite "Antifaschistische Aktion". 171 Im Juni 2022 schuf die "Antifaschistische Aktion Süd" neben der eigenen Website antifa-suew.org mit antifa-info.net eine weitere öffentliche Plattform mit dem Ziel eines überregionalen Austauschs und einer überregionalen Vernetzung. Auch im Jahr 2023 blieb die "Antifaschistische Aktion Süd" aktiv. Zumindest für Süddeutschland scheint es ihr bisher gelungen, linksextremistische gewaltorientierte Strukturen zu etablieren. Inwieweit es langfristig gelingt, die überregionale Vernetzung auszubauen und zu verfestigen, bleibt abzuwarten. Aufgrund der in der eigenen Gründungserklärung getroffenen Aussagen können gewalttätige Übergriffe gegen (vermeintlich) Rechte auch in Zukunft nicht ausgeschlossen werden. Sommercamps Im Berichtszeitraum fanden mehrere Vernetzungstreffen statt. In Essen (NW) wurde Ende Mai ein "Sozialistisches Jugend-Camp" durchgeführt, an dem auch Personen aus Rheinland-Pfalz teilgenommen haben. In Rheinland-Pfalz selbst fand in den Sommermonaten das "Alabandecamp" statt. Die Organisatoren warben auf ihrer InstagramSeite mit "Bildet Banden!" dafür, sich aktiv für eine weitere Vernetzung verschiedener Teilnehmer Quelle: Instagram, Alabandecamp einzusetzen. Ausweislich des veröffentlichten Programms wurden neben allgemeinen "antifaschistischen Themenfeldern" auch Workshops zu Kampfsport, Selbstverteidigung und "Polizeikontakttraining" angeboten. 172 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus 3. GRUPPIERUNGEN, STRUKTUREN UND AKTIONS FELDER Das linksextremistische Personenpotenzial in Rheinland-Pfalz umfasst seit mehreren Jahren konstant rund 500 Personen. Davon gelten nach wie vor etwa 120 als gewaltorientiert; circa 370 gehören zum Spektrum der nicht gewaltorientierten dogmatischen Linksextremisten und sonstigen Linksextremisten oder folgen einer anarchistischen Weltanschauung. 3.1 Autonomen-Szene Im linksextremistischen Spektrum stellen Autonome bundesweit den größten Teil des gewaltorientierten Personenpotenzials. In Rheinland-Pfalz ist die autonome Szene nahezu deckungsgleich mit dem Lager der gewaltorientierten Linksextremisten. Autonome bedienen sich einer Reihe von weltanschaulichen Versatzstücken des AnarchisTeilnahme an einer Demonstration, Quelle: Instagram, Antifa Koblenz mus und des Kommunismus, ohne dass sich daraus eine eigene, in sich geschlossene Ideologie erkennen lässt. 173 INFORMATION Was bedeutet Anarchismus? Der Anarchismus hat als politische Ideenlehre, die ihren Ursprung im 19. Jahrhundert hat, unterschiedliche Strömungen hervorgebracht. Sie eint die radikale Absage an den Staat, die Bürokratie und alle Regierungsformen, auch die Demokratie. Der Alternativentwurf im anarchistischen Denken ist eine utopische Idealgesellschaft, in deren Mittelpunkt das Individuum steht, das losgelöst von allen staatlichen und gesellschaftlichen Zwängen lebt. Dies bedeutet die Abkehr von allen etablierten Institutionen wie Parlamenten, Parteien, Kirchen und Vereinen. Nach weitgehend einheitlicher anarchistischer Vorstellung soll sich die Gesellschaft vielmehr auf der Basis völliger Freiwilligkeit selbst organisieren, also freiwillige Assoziationen bilden wie Kollektive oder Genossenschaften - Anarchismus bedeutet nicht per se Organisationslosigkeit. Quelle: Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Linksextremismus. Ideologien, Akteure, Aktionsfelder, 2021. Kernziel der Autonomen ist die Überwindung des "herrschenden Systems". Der Idealzustand aus ihrer Sicht ist die Fiktion eines Lebens "frei von Zwängen", Normen und Autoritäten. Gewalt im politischen Kampf rechtfertigen Autonome als legitimes Mittel gegen die "strukturelle Gewalt des kapitalistischen Staates" und dessen "System von Zwang, Ausbeutung und Unterdrückung". Autonome sind im hohen Maße organisationsund hierarchiefeindlich. Sie streben mehrheitlich informelle Formen der Zusammenarbeit untereinander an. 174 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus 3.2 "Postautonome" - "Interventionistische Linke" (IL) Sogenannte Postautonome stellen Prinzipien der "klassischen" autonomen Szene in Frage, ohne aber mit deren gewaltorientiertem Politikansatz zu brechen. Ziel der den "Postautonomen" zuzurechnenden IL ist die Überwindung des Kapitalismus durch einen revolutionären Umsturz. Als bundesweites Netzwerk mit mehr als 30 Ortsgruppen fungiert sie als Bindeglied zwischen militanten Strukturen der autonomen Szene und nicht gewaltorientierten Linksextremisten sowie nichtextremistischen Gruppen und (Protest-)Initiativen. In Rheinland-Pfalz hat die IL keine eigene Ortsgruppe. 3.3 Anarchisten - "die plattform" Der "klassische" Anarchismus ist eine politische Ideenlehre mit verschiedenen Strömungen, deren Anhängerschaft die radikale Absage an den Staat und alle Regierungsformen, einschließlich der Demokratie, eint. Die Zahl derer, die solchen Strömungen zugerechnet werden können, ist im Vergleich zum "Antifa-Spektrum" bundeswie landesweit gering. In Rheinland-Pfalz sind kleinere Zusammenschlüsse des "klassisch" orientierten anarchistischen Spektrums bekannt. Hierzu zählt die 2019 gegründete Organisation "die plattform". Sie sieht sich als "eine anarchakommunistische Organisation für den deutschsprachigen Raum", deren Ziel "die Überwindung aller Formen der Unterdrückung und Herrschaft und der Aufbau einer herrschaftslosen Gesellschaft auf Grundlage des anarchistischen Kommunismus" ist. Die unter der Bezeichnung "die plattform" firmierenden Gruppen streben entgegen dem im Anarchismus überwiegend niedrigen Organisationsgrad eine striktere Organisierung nach den Prinzipien von "ideologischer und taktischer Einheit, Disziplin und Kollektivtätigkeit der 175 Mitglieder" an. Außer der sogenannten Überregionalen Gruppe1 bestehen Lokalstrukturen in Berlin, Hamburg, Köln, Leipzig, im Ruhrgebiet und in Trier. "die plattform Trier" befasst sich aus "anarchakommunistischer" Sicht mit sozialpolitischen Themen wie den Arbeitsbedingungen in der Pflege, Anti-Diskriminierung und der Situation der Kurden. Die Gruppierung beteiligte sich in Trier unter Quelle: Instagram "die plattform_" anderem an verschiedenen bürgerlichen Demonstrationen wie beispielsweise der 1. Mai-Demonstration, um ihre Standpunkte nach außen zu tragen. 3.4 Dogmatische Linksextremisten: "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) und "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) Die orthodox-kommunistische DKP hat in Rheinland-Pfalz einen Bezirksverband, dessen Mitgliederzahl sich konstant im mittleren zweistelligen Bereich bewegt. Sie gründet ihre Weltanschauung, ihre Politik und ihr Organisationsverständnis auf den sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus von Marx, Engels und Lenin. Laut ihrer Internetseite existieren derzeit Ortsgruppen in Bad Kreuz- 1 Die "Überregionale Gruppe" ist die organisatorische Basis für Mitglieder der "plattform", die noch keine lokale Vereinigung bilden können (vgl. www.dieplattform.org/sind-ueberall), zuletzt abgerufen am 02.02.2024. 176 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus nach, Idar-Oberstein, Kaiserslautern, Koblenz, Landau, Mainz, Trier und Worms. Öffentliche Aktivitäten entwickelt die DKP regelmäßig in den Themenfeldern "Antimilitarismus" und "Soziales". Die DKP-nahe Jugendorganisation SDAJ verfügt in Rheinland-Pfalz über einen Landesverband, der nach eigenen Angaben zurzeit drei Ortsgruppen in Landau, in Mainz und in Trier umfasst. Die SDAJ will "einen Bruch mit dem derzeit herrschenden System, dem Kapitalismus" erreichen und letztendlich eine sozialistische Gesellschaft etablieren. Sie bezeichnet sich deshalb als eine antikapitalistische und revolutionäre Organisation. Die Jugendorganisation versucht insbesonKleinzeitung "Klasse.Macht.Schule.", dere über soziale Medien junge Menschen Quelle: Instagram, SDAJ Trier für ihre Arbeit zu gewinnen. So fand am 23. August 2023 in Trier eine "Grundlagenschule" zu Marxismus, Sozialismus, Kommunismus statt. Die Begrifflichkeit "Schule" verdeutlicht dabei, wie die SDAJ die Notwendigkeit einer "sozialistischen Bildung" für junge Leute suggeriert. Ein weiteres Beispiel ist die Zeitung "Klasse. Macht. Schule.", die von der SDAJ Trier an Schüler und Auszubildende verteilt wird. 177 3.5 Linksextremistische Aktionsfelder Antifaschismus Für Linksextremisten bedeutet "Antifaschismus" weit mehr als das Engagement gegen Rechtspopulismus und -extremismus. Sie vereinnahmen den "Antifaschismus" und interpretieren ihn nach eigenem Verständnis. Linksextremistischer "Antifaschismus" bedeutet eine grundsätzliche Ablehnung von ParlamentarisQuelle: Instagram, Antifa Trier mus und demokratischem Verfassungsstaat. Das politische Ziel linksextremistischer Akteure ist daher die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Daneben nutzen gewaltorientierte Autonome den "antifaschistischen Kampf" zur Mobilisierung ihrer Anhänger und zur Rechtfertigung von Straftaten. Er richtet sich nicht nur gegen vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten, sondern gegen Personen oder Institutionen, die der eigenen ideologischen Weltsicht nach als "faschistisch" gelten. Die Mobilisierungsfähigkeit der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in Rheinland-Pfalz bewegt sich dabei im Vergleich zu anderen Ländern auf einem eher niedrigen Niveau und erfolgt hauptsächlich anlassbezogen und reaktiv. Je nach Anlass kann es aber durchaus zu einem höheren Mobilisierungsgrad kommen. Hierzu trägt auch die Unterstützung durch Szeneangehörige aus anderen Bundesländern und vereinzelt aus dem benachbarten Ausland bei. Quelle: Instagram, Antifa Mainz 178 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus Für linksextremistische Gruppierungen ist die AfD in den vergangenen Jahren zum "Feindbild" schlechthin geworden. Insbesondere öffentliche Veranstaltungen der AfD waren 2023 erneut das Ziel von Protestaktionen in RheinlandPfalz. Antirepression Linksextremisten diffamieren den demokratischen Rechtsstaat, seine Repräsentanten und Institutionen als "Unrechtsund Unterdrückungssystem". Sie unterstellen, dass missliebige politische Meinungen und Überzeugungen von Staats wegen durchweg unterdrückt würden und eine Zensur herrsche. Meinungsfreiheit bestünde nur auf dem Papier. Insbesondere Autonome propagieren, dass sie "permanenten staatlichen Repressionen" ausgesetzt seien und dass es diese und damit letztlich den Staat als solchen mit allen Mittel zu bekämpfen gelte. Im Fokus der Agitation steht vor allem die Polizei, die als Quelle: Instagram, Antifa Mainz Teil des staatlichen "Repressionsapparats" wahrgenommen wird. So nahm die Antifa Mainz das Datum "13.12." zum Anlass, einen Beitrag mit dem Titel "Advent Advent ein Streifenwagen brennt" zu veröffentlichen. Die Ziffern 1312 stehen jeweils für einen Buchstaben im Alphabet und sind ein Code für "All cops are bastards". 179 Antimilitarismus Antimilitarismus ist ein klassisches linksextremistisches Aktionsfeld, dessen Wurzeln bis zu den Anfängen der kommunistischen Bewegung zurückreichen. Insbesondere die DKP und ihre Jugendorganisation SDAJ nimmt sich dieses Aktionsfeldes in den sozialen Netzwerken und auf ihren Internetseiten an. Vereinzelt thematisiert die linksextremistische Szene in RheinlandPfalz auch den russischen Angriffskrieg gegen die Quelle: Instagram, DKP Trier Ukraine und den Nahostkonflikt. So organisierte beispielsweise die SDAJ Rheinland-Pfalz einen "Aktionstag gegen nukleare Teilhabe" am 16. September 2023 in Kaiserslautern. Trotz der grundsätzlich pro-russischen Einstellung dogmatischer Linksextremisten solidarisiert sich die Szene aber mit der Bevölkerung der Ukraine. Gleichzeitig übt sie nach wie vor heftige Kritik an der NATO, den USA und der EU sowie an den angekündigten Milliardeninvestitionen für die Bundeswehr. Diese verfolgten selbst expansive Ziele und wollten Profit aus dem Krieg ziehen. In Rheinland-Pfalz werden der US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein und der Fliegerhorst der Bundeswehr in Büchel als Ausdruck des "NATO-Imperialismus" gebrandmarkt. 180 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus 4. AUSBLICK Die weitere Entwicklung des Linksextremismus hängt davon ab, wie sich der Rechtspopulismus und -extremismus in Rheinland-Pfalz und bundesweit entwickeln werden. Dabei werden sich die gewaltorientierten Linksextremisten weiterhin auf Aktionen und Kampagnen gegen tatsächliche und vermeintliche Rechtsextremisten konzentrieren. Schließlich werden Linksextremisten auch in Zukunft Anschluss an Bündnisse gegen Rechtsextremismus aus dem "bürgerlichen" Spektrum suchen. Die linksextremistische Szene wird dabei darauf bedacht sein, sich als die "einzig wahren Antifaschisten" zu stilisieren und zu profilieren. Ein typisches linksextremes Narrativ ist hierbei, die Ursachen für Rechtspopulismus und -extremismus in der Politik der Mäßigung und des Kompromisses der Parteien der bürgerlichen Mitte zu sehen. Das Aktionsfeld "Antimilitarismus" wird vor dem Hintergrund der aktuellen Kriege weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Linksextremisten erheben den Vorwurf, dass westliche Industriestaaten ausschließlich aus kapitalistisch-wirtschaftlichen Interessen militärische Unterstützung an Kriegsparteien wie zum Beispiel die Ukraine leisten. Die konkrete Verteidigungssituation wird dabei ausgeblendet oder relativiert. Teilweise wird auch in Form von Verschwörungstheorien zumindest angedeutet, der "Westen" habe die Konflikte bewusst geschürt, um davon zu profitieren. 181 5. KURZBESCHREIBUNGEN "Interventionistische Linke" (IL) Gründungsjahr 2005 Struktur Bundesweites Netzwerk von Ortsgruppen. In Rheinland-Pfalz gibt es keine Ortsgruppe. Mitgliederzahl in Hierzu liegen keine Erkenntnisse vor. Rheinland-Pfalz Publikationen und Zeitschrift "Arranca!" Medien Ideologie, Die IL wurde als bundesweites Netzwerk mit dem Ziel einer Programm, verbindlichen "Organisierung" autonomer Gruppierungen und Strategie Aktivisten gegründet. In Bündnissen und Initiativen bemüht sich die IL um eine aktionsorientierte Zusammenführung linksextremistischer Akteure unterschiedlicher ideologischer Prägung, um die Handlungsfähigkeit in Deutschland wie auch in internationalen Kampagnen und Netzwerken zu erhöhen. Sie übernimmt somit die Funktion als Bindeglied zwischen Autonomen, dogmatischen und sonstigen Linksextremisten. Zugleich fungiert sie als Scharnier zwischen militanten Strukturen und nicht gewaltorientierten Linksextremisten sowie nicht extremistischen Gruppen und Initiativen (zum Beispiel im Zusammenhang mit Protesten gegen den Braunkohleabbau in Nordrhein-Westfalen). Ziel der IL ist die Überwindung des "Kapitalismus" mittels eines revolutionären Umsturzes. Der "Antikapitalismus" bildet dementsprechend den ideologischen Schwerpunkt der IL. Die Einstellung der IL zur Gewalt ist taktisch bestimmt. 182 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründungsjahr 1982 Sitz Gelsenkirchen (Nordrhein-Westfalen) Vorsitzende(r) Gabi Fechtner Struktur Sieben Landesverbände (Stand: Ende 2023), die jeweils mehrere Bundesländer umfassen (Rheinland-Pfalz, Hessen und das Saarland bilden den Landesverband Rhein-Hessen/Saar.) Mitgliederzahl in Einzelne Mitglieder in Ludwigshafen am Rhein Rheinland-Pfalz Publikationen und Zeitung "Rote Fahne" Medien Jugendverband "REBELL" Ideologie, Die MLPD ist streng maoistisch-stalinistisch ausgerichtet. Sie Programm, beruft sich auf die Lehren von Marx, Engels und Lenin und - anStrategie ders als nahezu alle anderen kommunistischen Gruppierungen in Deutschland - auch auf die von Stalin und Mao Tsetung. Als Ziel strebt sie die Errichtung einer Gesellschaft des "echten Sozialismus" als Vorstufe einer "klassenlosen", kommunistischen Gesellschaft an. Dafür sei "die Vergesellschaftung aller wesentlichen Produktionsmittel, ihre Überführung in Gemeineigentum und ihre Unterstellung unter die Verwaltung durch die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen" nötig. Die Partei engagiert sich unter anderem in der Klimaprotestbewegung und beteiligt sich an entsprechenden Demonstrationen. Die Jugendarbeit nimmt in der MLPD großen Raum ein. Ihr 1992 gegründeter Jugendverband "REBELL", der die politischen Ziele der Mutterpartei teilt, wirbt sehr aktiv um neue Mitglieder, unterstützt die Partei bei Wahlkämpfen und beteiligt sich rege im Rahmen der Klimaproteste. 183 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründungsjahr 1968 Sitz Essen (Nordrhein-Westfalen) Vorsitzende(r) Patrik Köbele Struktur Bezirksverbände und Ortsgruppen, so auch in Landau, Trier, Mainz und Kaiserslautern Mitgliederzahl in 90 Rheinland-Pfalz Publikationen und Zeitung "unsere zeit" (wöchentlich), Theoriemagazin "MarxistiMedien sche Blätter" (zweimonatlich) Jugendverband "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) Ideologie, Die marxistisch-leninistische DKP versteht sich als NachfolgeProgramm, rin der 1956 durch das Bundesverfassungsgericht verbotenen Strategie "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD). Zugleich betont sie, dass sie stets mit der vormaligen "Sozialistischen Einheitspartei" (SED) der DDR eng verbunden war. Die DKP hält unverändert an ihrem Ziel der Errichtung einer sozialistischen/ kommunistischen Gesellschaft fest und strebt auf diesem Weg einen "grundlegenden Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnissen" an. Hauptsächliche Aktionsfelder der DKP sind der "Antifaschismus", der "Antikapitalismus" und der "Antimilitarismus". Der Jugendverband SDAJ ist zwar formal unabhängig; er betrachtet sich aber als Nachwuchsorganisation der DKP. 184 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus "Rote Hilfe e.V." (RH) Gründungsjahr 1975 Sitz Göttingen (Niedersachsen) Vorsitzende(r) Bundesvorstand Struktur Ortsund Regionalgruppen, davon je eine in Mainz und Trier Mitgliederzahl in 100 Rheinland-Pfalz Publikationen und Zeitschrift "DIE ROTE HILFE" (vierteljährlich und als OnlineMedien Magazin) Ideologie, Die RH, eine der bundesweit größten linksextremistischen Programm, Gruppierungen, definiert sich laut Satzung als eine "parteiunStrategie abhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation". In diesem Sinne leistet sie Strafund Gewalttätern aus dem linksextremistischen Spektrum politische und finanzielle Unterstützung, so bei anfallenden Anwaltsund Prozesskosten. Durch meinungsbildende Öffentlichkeitsarbeit versucht die RH, die Sicherheitsund Justizbehörden sowie die rechtsstaatliche Demokratie zu diskreditieren (Aktionsfeld "Antirepression"). Zudem betreut die RH rechtskräftig verurteilte Straftäter während ihrer Haftzeit. Ziel ist es, diese weiter beziehungsweise noch stärker an die Szene zu binden und zum "Weiterkämpfen" zu motivieren. Mit ihrem Tun trägt die RH zur bundesweiten Vernetzung und zum Zusammenhalt unterschiedlicher linksextremistischer Strömungen bei. Darüber hinaus legitimiert sie Strafund Gewalttaten. 185 "die plattform" Gründungsjahr 2019 Struktur Föderation, bestehend aus der Überregionalen Gruppe und bundesweiten Lokalstrukturen; in Rheinland-Pfalz gibt es eine Lokalgruppe in Trier. Mitgliederzahl in Hierzu liegen keine Erkenntnisse vor. Rheinland-Pfalz Publikationen und Schriftenreihe "Kollektive Einmischung", soziale Medien und Medien eigener Youtube-Kanal. Ideologie, Der Anarchismus hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert und Programm, brachte unterschiedliche Strömungen hervor. Sie alle eint die Strategie radikale Absage an den Staat, die Bürokratie und alle Regierungsformen, auch die Demokratie. Die anarchakommunistische Föderation "die plattform" steht für die Überwindung aller Formen der Unterdrückung und Herrschaft und der Aufbau einer herrschafts-, klassenund staatenlosen Gesellschaft auf Grundlage des anarchistischen Kommunismus. Sie ist davon überzeugt, dass der Schlüssel für langfristige gesellschaftliche Veränderungen in Richtung ihrer Vision einer befreiten Gesellschaft, in den sozialen Bewegungen der lohnabhängigen Klasse liegt. In diesen Bewegungen sollen sich Menschen für die angestrebte "soziale Revolution" zusammenfinden, die im Hier und Jetzt für konkrete Verbesserungen ihrer Lebensumstände kämpfen, die sich dem aus deren Sicht alltäglichen staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus entschlossen entgegenstellen. 186 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Linksextremismus 187 ISLA MISMUS 188 ISLAMISMUS 1. Personenpotenzial S. 190 2. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 191 US 3. Gruppierungen und Strukturen S. 195 3.1 Terrorismus und Jihadismus S. 195 3.2 Salafistische Bestrebungen S. 200 3.3 Organisationsgebundener Islamismus S. 209 4. Kurzbeschreibungen S. 213 189 1. PERSONENPOTENZIAL 2023 2022 Organisationsgebundene Islamisten: 460 420 # HAMAS 45 40 # "Hizb Allah" 95 80 # "Kalifatsstaat" 110 90 # "Muslimbruderschaft" 50 50 # Sonstige 160 160 Salafisten 240 240 Gewaltorientierte* (Schnittmenge) 65 65 Gesamt 700 660 Die Zahlenangaben sind geschätzt und gerundet. * Der Begriff "gewaltorientiert" bezeichnet nicht ausschließlich Personen, die selbst Gewalt anwenden, sondern auch solche, die Gewalt legitimieren, befürworten oder unterstützen. 190 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus 2. ÜBERBLICK UND ENTWICKLUNGEN 2023 "Die wahren Gelehrten sind Der Begriff "Islamismus" fasst extremistische Strömungen innerhalb des Islam entweder im Gefängnis oder zusammen. Islamisten wollen eine religiös an der Front[.]" verstandene Gesellschafts-, Rechtsund Staatsordnung errichten, die mit der freiAuszug aus einem jihadistischen Beitrag, Quelle: Telegram heitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar ist. Sie verfolgen dazu unterschiedliche Strategien. Einerseits gibt es gewaltfreie Bestrebungen, die durch einen allmählichen Wandel eine neue politische Ordnung herbeiführen möchten. Anderseits reicht das Spektrum bis hin zu Jihadisten, die ihre Ziele mit Gewalt durchsetzen wollen. Trotz aller Unterschiede weisen Islamisten inhaltliche Gemeinsamkeiten auf. Der Koran und Überlieferungen über den Religionsstifter Muhammad werden absolut gesetzt und wortwörtlich verstanden. Islamisten lesen aus ihnen verbindliche Vorgaben heraus. Religiösen Normen kommt ihrer Meinung nach eine umfassende persönliche, soziale und politische Geltung zu. Weitere Gemeinsamkeiten sind etwa die strikte, oft aggressiv vorgetragene Unterscheidung von "Gläubigen" und "Ungläubigen" (kuffar), die Reklamation "Generation Islam" propagiert die religiöse Gleichwertigkeit und Unabänderlichkeit von einer muslimischen Opferrolle, ein religiös verbrämGebet und Staatswesen im Islam, Quelle: ter Antisemitismus und "der Westen" als Feindbild. YouTube 191 Entwicklungen der Szene Im Jahr 2023 rückte der Islamismus wieder stärker in das öffentliche Bewusstsein. Der Nahostkonflikt entbrannte durch den Terroranschlag der islamistischen HAMAS auf Israel und die militärische Antwort darauf neu. Daneben haben Koranschändungen (vor allem in Schweden) zu gesteigerten Aktivitäten der islamistischen Szene geführt. Beide Ereignisse berühren zentrale Punkte islamistischer Identität und entfalten ein hohes Mobilisierungsund Radikalisierungspotenzial, indem sie das Narrativ vom Kampf "des Westens" gegen "den Islam" scheinbar untermauern. Jihadistische Terrororganisationen nutzten sowohl die Koranverbrennungen als auch den Krieg in Palästina, um zu Anschlägen in Europa aufzurufen. Gewalteskalation in Israel und Gaza Der massive Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober und der unmittelbar darauffolgende Militäreinsatz Israels im Gazastreifen lösten unter Islamisten eine sofortige und zumeist vorbehaltlose Solidarisierung mit der palästinensischen Seite und mitunter konkret mit der HAMAS aus. Dies ging mit einer vehementen Verurteilung Israels einher, dessen militärisches Vorgehen im Gazastreifen regelmäßig als Genozid, gelegentlich auch Holocaust an den Palästinensern bezeichnet wurde. Die Haltung der Bundesrepublik Deutschland und deutscher Medien wurde mit dem Vorwurf der proisraelischen Einseitigkeit konfrontiert und trug erkennbar zu einer gesteigerten Entfremdung und Antipathie islamistischer Kreise gegenüber Deutschland bei. Als Stimmungsbarometer dienten im besonderen Maße die Reaktionen von Islamisten in sozialen Netzwerken. Islamisten beteiligten sich auch am Kundgebungsund Versammlungsgeschehen, übernahmen aber zumindest in Rheinland-Pfalz keine beherrschende Rolle. Legalistische Organisationen äußerten 192 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus sich öffentlich zurückhaltend. Intern jedoch bekundeten sie nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes Sympathien für die palästinensische Seite, teils auch direkt für die HAMAS. Gleichzeitig kritisierten sie Israel massiv für die militärische Reaktion auf den Terroranschlag. Am 2. November erließ das Bundesministerium des Innern und für Heimat ein Betätigungsverbot gegen die islamistische Terrororganisation HAMAS in Deutschland. Zeitgleich wurden auch die Betätigung der Vereinigung "Samidoun - Palestinian Solidarity Network" sowie die Teilorganisation "Samidoun Deutschland" verboten. Diese sind allerdings nicht dem islamistischen Spektrum zuzurechnen, sondern dem Extremismus säkularer Palästinenser (siehe Kapitel "Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug", Seite 239 f.). Ausführlichere Informationen sind im Brennpunktthema "'Operation al-AqsaFlut' - der Gazakrieg und die Resonanz in Deutschland" (Seite 44 ff.) enthalten. Koranschändung Im Jahr 2023 verbrannten islamkritische Aktivisten in der Öffentlichkeit mehrfach Ausgaben des Koran. Insbesondere die Koranverbrennungen in Schweden im Januar und im Juni führten in zahlreichen Ländern zu heftigen Gegenprotesten, Boykottaufrufen und diplomatischen Verwerfungen mit Schweden. Medienstellen, die dem "Islamischen Staat" (IS) nahestehen, starteten unter dem Motto "Religionskrieg und kein Handeln Einzelner" eine Medienkampagne, die den Eindruck erzeugen sollte, dass eine breite Öffentlichkeit in Europa die Koranschändungen als ein Instrument zum Kampf gegen den Islam betrachte und unterstütze. 193 Laut schwedischer Behörden nutzten auch russische Akteure die öffentliche Empörung in der islamischen Welt für eine Desinformationskampagne gegen den schwedischen Staat, um dadurch dessen Beitritt zur NATO zu erschweren. Islamistische Influencer Islamisten erreichten über die sozialen Medien weiterhin eine hohe Anzahl von Ausschnitt eines Aufrufs zu Anschlägen gegen Ziele in westlichen Ländern im Onlinemagazin "VOICE OF Menschen mit ihrer oftmals extremistiKHURASAN" 2023, Ausgabe 22 schen Botschaft (siehe Brennpunktthema zu islamistischen Influencern). Diese zielt auf die Konstruktion einer islamistischen Identität ab, die teilweise im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht. Salafistische Medienformate liefern autoritäre Vorgaben zur Führung einer streng religiösen Lebensweise. Auch hier verstecken sich zwischen vielen harmlos und unpolitisch anmutenden Beiträgen einige, die zur Übernahme eines extremistischen Weltbildes beitragen können, indem sie vermeintlich religiöse Autorität über die rechtliche Selbstbestimmung des Menschen erheben. 194 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus 3. GRUPPIERUNGEN UND STRUKTUREN 3.1 Terrorismus und Jihadismus Der Jihadismus ist eine Variante des Islamismus, die den bewaffneten Kampf zur Durchsetzung ihrer Ziele propagiert. Das schließt auch den Kampf gegen andere Muslime mit ein, wenn diese den Zielen der Jihadisten im Wege stehen oder ihrer Lehre nicht folgen. Jihadistische Gruppen wenden in der Regel auch terroristische Strategien an, das heißt, sie verüben gezielt Anschläge gegen unbeteiligte Zivilisten, um ihre Interessen durchzusetzen. Nach dem Ende der sowjetischen Besatzung Afghanistans im Jahr 1989 breitete sich der sunnitische Jihadismus in weiteren Teilen der Welt aus und wurde im zunehmenden Maße auch für westliche Staaten ein Sicherheitsproblem. Insbesondere in sogenannten schwachen und gescheiterten Staaten wie zum Beispiel Somalia entwickelten sich regionale Ableger von "al-Qaida" (AQ) und ab dem Jahr 2014 auch des "Islamischen Staates" (IS). Die "Taleban" hingegen vertreten nicht die salafistisch-jihadistische Lehre von "al-Qaida" und dem IS und verfolgen außerdem eine auf Afghanistan beschränkte Agenda. Für Deutschland stellen die "Taleban" derzeit keine direkte Bedrohung dar. Zusammen mit einigen afrikanischen Ländern ist Afghanistan aber eine für den transnationalen Jihadismus bedeutsame Konfliktregion. 195 Regionale terroristische Gruppen wie die "Izz-al-Din-al-Qassam-Brigaden" der HAMAS nennen ihren bewaffneten Kampf ebenfalls Jihad. Im Gegensatz zum salafistischen Jihadismus streben sie nach politischer Macht innerhalb nationaler Staatsgrenzen. Sie bestreiten zwar das Existenzrecht Israels, lehnen aber das Prinzip der Nationalstaatlichkeit nicht ab. Wichtige Ereignisse 2023 verlor der IS abermals seinen selbsternannten "Kalifen". Der türkische Präsident Erdogan verkündete Ende April, dass der IS-Anführer Abu al-Husain al-Husaini al-Qurashi während Gefechten mit türkischen Kräften in der nordsyrischen Region Afrin ums Leben gekommen sei. Eine Medienstelle des IS bestätigte den Tod des "Kalifen" Anfang August und gab bekannt, dass Abu Hafs al-Hashimi al-Qurashi sein Nachfolger sei, woraufhin die sogenannten Provinzen des IS ihre Treuebekundung erneuerten. Am 16. Oktober ereignete sich in Brüssel der erste vom IS offiziell reklamierte Anschlag in einem europäischen Land seit drei Jahren. Ein Einzeltäter tötete mit einer Schusswaffe gezielt zwei schwedische Fußballfans und wurde am nächsten Morgen nach einem Schusswechsel mit der Polizei selbst getötet. Im Oktober und im Dezember erstachen einzeln agierende islamistisch motivierte Angreifer in der französischen Stadt Arras und in Paris zwei MenAusschnitt einer Propagandadarstellung, die schen und verletzten weitere. Eines der TerroropJihadisten glorifiziert, Quelle: Telegram fer in Paris war ein deutscher Staatsangehöriger. 196 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus Mitglieder der IS-Provinz Irak posieren für den Treueeid auf den neuen "Kalifen". Veröffentlicht am 5. August 2023, Quelle: Telegram Situation in Deutschland Auch in Deutschland erhöhte sich 2023 die Terrorgefahr im Vergleich zum Vorjahr. Im Juli wurden in Deutschland und in den Niederlanden neun Personen festgenommen, die öffentlichkeitswirksame Anschläge geplant haben sollen. Die Gruppe stand im Kontakt mit dem afghanisch-pakistanischen IS-Ableger "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK). An Weihnachten und Silvester wurden ebenfalls mutmaßliche ISPK-Mitglieder in Gewahrsam genommen, die einen Anschlag auf den Kölner Dom geplant haben sollen. Dies sind zwei der wenigen Beispiele der vergangenen Jahre, bei denen in Deutschland eine organisierte jihadistische Terrorzelle Anschlagspläne verfolgt hat. 197 INFORMATION Der "Islamische Staat - Provinz Khorasan" (ISPK) Der ISPK ist ein regionaler Ableger des "Islamischen Staates" (IS), der in Afghanistan und Pakistan aktiv ist. Er formierte sich etwa im Jahr 2014 aus Mitgliedern anderer Milizen und terroristischer Gruppierungen und trat im Januar 2015 offiziell dem IS bei. Der ISPK ist für mehr als 1.000 Anschläge verantwortlich. Gleichzeitig bleibt nach wie vor die Gefahr von Anschlägen durch radikalisierte Einzeltäter ohne direkte Organisationsanbindung hoch. Im April erstach ein jihadistisch radikalisierter Mann in Duisburg (Nordrhein-Westfalen) sein Opfer auf offener Straße. Einige Tage später stach er in der Umkleidekabine eines Fitnessstudios wahllos auf weitere Personen ein und verletzte sie schwer. Nach eigenem Bekunden war er dem Aufruf des IS gefolgt, Ungläubige in Europa zu töten. Obwohl der IS den Anschlag nicht für sich reklamierte, zeigt der Vorfall das Mobilisierungspotenzial seiner Propaganda, dass sich auch einzeln agierende Personen dazu bewegen lassen, brutale Hassverbrechen zu begehen. Bis Ende September 2023 leitete der Generalbundesanwalt 356 Ermittlungsverfahren mit Bezug zum islamistischen Terrorismus ein, davon fünf mit dem Tatvorwurf "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat" (SS 89a Strafgesetzbuch). Die überwiegende Mehrheit der Tatvorwürfe betrifft die Bildung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Darunter fallen zum Beispiel die Prozesse gegen die sogenannten Rückkehrerinnen oder Ermittlungsverfahren gegen Personen aus Spendennetzwerken zur finanziellen Unterstützung des IS. 198 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus Gegen die Mitglieder eines solchen Spendennetzwerks vollstreckte die Polizei Ende Mai 2023 in zwölf Bundesländern, unter anderem in Rheinland-Pfalz, insgesamt mehr als 100 Durchsuchungsbeschlüsse und sieben Haftbefehle. Darstellung aus der 29. Ausgabe des Onlinemagazins "VOICE OF KHURASAN". Eine Reihe von Schafen symbolisiert die Warteschlange bei demokratischen Volksentscheiden. Eine Gruppe im Kreis sitzender Kinder in Tarnanzügen beim Koranstudium mit Kriegswaffen auf dem Schoß symbolisiere hingegen "echte Freiheit". Rheinland-Pfalz In Rheinland-Pfalz galten wie schon im Jahr davor 65 Personen als Anhänger des jihadistischen beziehungsweise gewaltorientierten Salafismus. Der Begriff "gewaltorientiert" bezeichnet hierbei nicht ausschließlich Personen, die selbst Gewalt anwenden, sondern auch solche, die religiös motivierte Gewalt legitimieren, befürworten oder unterstützen. Die jihadistische Szene in RheinlandPfalz weist insgesamt einen geringen Organisationsgrad auf und brachte im vergangenen Jahr keine einflussreichen Meinungsführer hervor. Das Oberlandesgericht (OLG) Celle (Niedersachsen) verkündete im August 2023 eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren unter anderem wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und Propagandatätigkeit für den IS gegen ein in Römerberg (Rheinland-Pfalz) verhaftetes IS-Mitglied. 199 Bereits in den Jahren 2008 bis 2015 verbüßte der Mann eine Freiheitsstrafe wegen Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung "al-Qaida". Er schloss sich danach dem IS an. Im Juni erhielt eine deutsche Konvertitin aus Idar-Oberstein vor dem OLG Koblenz eine Freiheitsstrafe von neun Jahren und drei Monaten unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Mitglied der Terrororganisation IS. Die Frau war im Jahr 2014 in das Herrschaftsgebiet des IS ausgereist und hielt zusammen mit ihrem Ehemann in ihrem Haus in Mosul eine Jesidin als Sklavin gefangen. Während des Niedergangs des IS-"Kalifats" geriet die nun Verurteilte im Jahr 2019 in kurdische Gefangenschaft und kehrte dann 2022 zusammen mit ihren zwei Töchtern aufgrund eines Rückführprogramms der Bundesregierung nach Deutschland zurück. Hier sollen Deradikalisierungsprogramme den Rückkehrerinnen helfen, eine möglichst vollständige Abkehr von der jihadistischen Ideologie zu erreichen. Ebenfalls wegen Verstößen gegen das Völkerstrafrecht wurde im März 2023 ein Mann aus Mainz verhaftet. Er soll 2015 in Syrien an Hinrichtungen von Gefangenen des IS mitgewirkt haben. 3.2 Salafistische Bestrebungen Der Begriff "Salafismus" bezeichnet Strömungen des sunnitischen Islam, die ihre ideengeschichtlichen Wurzeln vor allem in der saudi-arabischen Wahhabiyya haben. Salafisten orientieren sich kompromisslos an einem idealisierten Vorbild der namensgebenden "frommen Altvorderen" (as-salaf as-salih). Sie wollen der LeDas Glaubensprinzip "Loyalität und Lossagung" (al-wala wa-l-bara) ist ein bensweise, den Glaubensund den Gesellschaftsvorzentrales Ideologem des Salafismus, stellungen der ersten drei Generationen der Muslime Quelle: Facebook 200 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus so genau und umfassend wie möglich folgen. Auch jede Gesellschaftsform und Staatsordnung soll ihrer Meinung nach an dieser Epoche der islamischen Geschichte gemessen werden. INFORMATION Was bedeutet "Wahhabiyya"? Der Begriff "Wahhabiyya" ist eine Fremdbezeichnung für eine Denkschule im sunnitischen Islam, die auf der Arabischen Halbinsel entstanden ist. Sie geht zurück auf den namensgebenden Theologen Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (gestorben 1792). Die Strömung fordert die strikte Reinigung des Islam von religiösen "Neuerungen" in Glaubenslehre und Glaubenspraxis. Salafisten wollen zu einem ihrer Meinung nach unverfälschten und wahren Glauben zurückkehren. Dazu gehört ein wortwörtliches Verständnis des Koran sowie der Überlieferungen der Taten und Aussprüche Muhammads. Im Zentrum ihres Denkens steht ein rigide praktizierter Monotheismus (tauhid) - das Bekennen zu einem einzigen Gott in Wort und Tat. Salafistischer Auffassung zufolge gehört zu einem aufrichtig praktizierten Glauben an Gott die konsequente Ablehnung und verbale oder tätliche Bekämpfung aller (potenziellen) "Götzen" (tawaghit). 201 Auch weltliche Staatsformen werden oft als "Götzen" beziehungsweise "falsche Götter" gedeutet. Ferner lehnen Salafisten andere Religionen, andere Strömungen innerhalb des Islam und religiöse Neuerungen (bid'a) ab. Rechtsordnungen, die ihnen zufolge "unislamische" Gesetze anwenden, sind für Salafisten illegitim und werden teils offen bekämpft. "Wenn Allah was sagt und der Gesandte (Muhammad) sagt was und die ganze Welt sagt was Anderes: Was hat die Welt dann? Pech gehabt haben die. (...) Es interessiert uns nicht, was die wollen (...). Uns interessiert nur: Was sagt Allah und was sagt der Gesandte?" Auszug aus einem salafistischen Video, Quelle: Instagram INFORMATION Was bedeutet "Loyalität und Lossagung"? Das salafistische Glaubensprinzip von Loyalität und Lossagung (al-wala wa-l-bara) besagt, dass gläubige Muslime unbedingt loyal gegenüber anderen Muslimen sein sollen und sich von "Ungläubigen" abwenden müssen (außer zu Missionszwecken), da diese minderwertig seien. Salafisten grenzen sich mit diesem Prinzip nicht nur von Andersund Nichtgläubigen ab, sondern auch von Muslimen, die dem Idealbild der Salafisten nicht entsprechen. 202 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus Die salafistische Weltsicht ist von einem Schwarz-Weiß-Denken geprägt, das alle erdenklichen Aspekte des Lebens in Gegensatzpaare wie "Glaube/Unglaube" oder "Paradies/Hölle" unterteilt. Daraus ergibt sich eine für alle Varianten des Salafismus charakteristische Kultur der Abwertung und Abgrenzung von allem, was als "Unglaube" (kufr), "Sünde" oder "Polytheismus" beziehungsweise "Beigesellung" (shirk) gilt. Muslime sollen sich von allem lossagen, was "unislamisch" sei und gleichzeitig unbedingte Loyalität gegenüber allem zeigen, was "islamisch" sei. Trotz vieler Gemeinsamkeiten unter"Ein Muslim kann nicht in seischeiden sich Salafisten unter andenem Herzen loyal sein zu einem rem in der Wahl ihrer Strategien, mit denen sie ihre Vorstellungen einer Gesetz welchem das Volk die islamischen Lebensführung und GeAutorität gibt Gesetze zu schafsellschaftsordnung umsetzen wollen. fen. (...) Ein Muslim kann nicht loyal zu einer Gesetzgebung Die Verfassungsschutzbehörden beobsein, die besagt, dass Mann und achten den politischen und den jihadistischen Salafismus als extremistische Frau gleiche Rechte habe" Bestrebungen. Politische Salafisten setzen in Deutschland vor allem auf Auszug aus einem salafistischen Beitrag, Quelle: Telegram, Rechtschreibung unverändert politisierte Missionsarbeit (dawa, auf Deutsch "Einladung [zum Islam]") und Bildungsangebote. Dabei wird die eigene Ideologie durch Propagandaaktivitäten verbreitet, die irreführend als "Dawa" bezeichnet werden. Letztlich geht es aber um politische Indoktrination. 203 Jihadistische Salafisten stellen hingegen die Pflicht zum bewaffneten Kampf in den Mittelpunkt ihrer Ideologie. Sie wollen ihre politischen Ziele nicht durch Indoktrinationsbemühungen, sondern mit Gewalt erreichen. Rheinland-Pfalz Bild aus einem salafistischen Telegram-Kanal mit In Rheinland-Pfalz gelten im Berichtsjahr einer Gruppe von Frauen in schwarzen Gewändern (Jilbab) in einer stilisierten Landschaft. 240 Personen als Anhänger salafistischer Bestrebungen. Davon rechnet der Verfassungsschutz etwa 175 Salafisten dem politischen und 65 dem jihadistischen beziehungsweise gewaltorientierten Salafismus zu (siehe 2.1 Terrorismus und Jihadismus). Damit bleibt das Personenpotenzial im Vergleich zu den Jahren 2021 und 2022 unverändert. Wie in anderen Bundesländern auch ist die salafistische Szene im Land fragmentiert und setzt sich aus informellen Gruppen, Netzwerken, unabhängigen Initiativen und Vereinen zusammen. Zentrale Führungspersönlichkeiten oder -organisationen sind in Rheinland-Pfalz nicht auszumachen. Teilweise bestehen zwischen einzelnen Akteuren Kontakte, die zur losen Vernetzung und Zusammenarbeit innerhalb der regionalen und bundesweiten Szene beitragen. Seit dem Jahr 2022 werden Salafisten in anderen Bundesländern wieder verstärkt in der Öffentlichkeit aktiv und versuchen, online wie realweltlich neue Anhänger zu gewinnen. Diese Entwicklung setzte sich im Berichtsjahr fort. So wurde etwa eine deutschlandweit ausgerichtete "Dawa"-Kampagne gestartet, die Missionsbemühungen in sozialen Netzwerken mit Flyer-Verteilaktionen verknüpfte. Die angestrebte öffentliche Aufmerksamkeit für die Kampagne blieb bislang jedoch aus. Auch in Rheinland-Pfalz erklärten sich vereinzelt 204 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus Personen bereit, die "Dawa"-Aktion zu unterstützen. Insgesamt betrachtet zeigte die Szene im Land aber nur ein geringes Interesse an Missionsaktivitäten und blieb nach außen weitgehend inaktiv. Der bundesweit bekannte salafistische Prediger Pierre Vogel trat im Berichtsjahr in einem Gebetsraum in Landau auf. Dort warb er unter anderem für die oben erwähnte Flyer-Verteilaktion. Pierre Vogel in Landau, Quelle: Instagram Reaktionen auf Koranschändungen Im Berichtsjahr kam es in Europa, insbesondere in Schweden und Dänemark, mehrfach zu Koranverbrennungen oder entsprechenden Ankündigungen und anderen Koranschändungen. Diese wurden öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt und riefen internationale Reaktionen hervor (siehe 2. Überblick und Entwicklungen 2023). Die salafistische Szene in Rheinland-Pfalz reagierte auf die öffentlichen Koranschändungen mit Wut und dem Vorwurf einer westlichen Doppelmoral, wenn es um den Schutz religiöser Symbole gehe. Vor allem im Internet ließen sich zahlreiche Stimmen finden, die die Taten verurteilten und zeitgleich zum Anlass nahmen, "den Westen" und seine vermeintlich islamfeindliche Agenda zu kritisieren. Eine Mobilisierung der Szene, die zu öffentlichen Protesten geführt hätte, trat jedoch nicht ein. Vereinzelt wurde geäußert, dass der offene Islamhass, der bei Koranverbrennungen zutage trete, für die Gemeinschaft der Muslime weniger schlimm sei, als der angebliche Versuch gemäßigter Muslime, sich von der Botschaft des 205 Koran zu entfernen. Damit würden die Werte des Islam korrumpiert. So nutzen Salafisten die Koranschändungen als eine Gelegenheit, Muslime zu diskreditieren, die sich kritisch gegenüber islamistischen Einstellungen zeigen. "Seien wir ehrlich, wer ist gefährlicher für die Ummah (auf Deutsch: "Gemeinschaft" [der Muslime]): ein offener nichtmuslimischer Feind, der Respektlosigkeit gegenüber dem Qur'an zeigt und ihn öffentlich verbrennt, oder jemand ,von innen' dessen Überzeugungen von Nichtmuslimen korrumpiert wurden und der in den Köpfen seiner Zuhörer Zweifel an der Bewahrung des Qur'ans sät? Ich wage zu behaupten, dass letzteres weitaus gefährlicher ist." Beitrag eines Salafisten, Quelle: Telegram, Rechtschreibung unverändert Terroristischer Angriff der HAMAS und israelische Militäraktionen Das Thema, das die salafistische Szene im Land im Berichtsjahr am stärksten bewegte, war der terroristische Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober und die danach folgenden Militäraktionen im Gazastreifen, mit denen Israel auf die Anschläge reagierte (siehe Brennpunktthema). In den Tagen nach dem Terrorangriff waren wenige Reaktionen der Szene zu beobachten. Die HAMAS wurde durch die Salafisten nicht verurteilt. Vereinzelt meldeten sich hingegen Akteure in sozialen Medien und Messengerdiensten zu Wort, die sich offen über den Anschlag freuten. Sie glorifizierten die Taten der Terrororganisation und ergingen sich in antisemitischen Rachefantasien gegen Israel. 206 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus Mit Beginn der israelischen Militäraktionen nahmen die Reaktionen der salafistischen Szene dann deutlich zu - insbesondere in sozialen Netzwerken. Die meisten Äußerungen forderten Solidarität mit der Bevölkerung Gazas ein. Während die Terrororganisation HAMAS für ihren Anschlag nicht kritisiert, sondern vielmehr noch bejubelt worden war, wurde Israel für sein militärisches Vorgehen heftig kritisiert. Oft wurde zum Boykott von Unternehmen aufgerufen, die Israel unterstützen sollen. Viele salafistische Kommentare enthielten eine Schuldumkehr. Israel wurde als tyrannischer Besatzer und Aggressor dargestellt, der selbst Schuld Israelfeindliches Posting auf einem an den Attacken der HAMAS habe und nun auch salafistischen Kanal, Quelle: Telegram noch gezielt Rache an der palästinensischen Zivilbevölkerung nehme. Salafisten bedienten schwerpunktmäßig das antisemitische Bild des Kindermörders, um Israels Vorgehen zu dämonisieren. Zu diesem Zweck setzten Teile der Szene Israel auch mit dem Dritten Reich gleich. "Denkt immer daran, dass In anderen Reaktionen wurde der Konflikt in einen größeren Rahmen eingebettet dies ein Religionskrieg ist!!! und als Teil eines religiösen Kampfes Es ist ein Krieg gegen den zwischen "dem Islam" und "den UngläuIslam, bevor es ein Krieg bigen" interpretiert. Bisweilen wurden gegen Palästina ist." auch die Verschwörungstheorie geäußert, der zufolge Israel und dessen Verbündete Beitrag eines Salafisten, Quelle: Telegram den Angriff der HAMAS bewusst hätten geschehen lassen, um nun gegen die Palästinenser vorgehen zu können. 207 Rückblick und Ausblick Die Ereignisse des Jahres 2023 haben erneut gezeigt, dass internationale Ereignisse wie die Terrorattacke der HAMAS oder die Koranschändungen dazu in der Lage sind, jihadistische und politische Salafisten weltweit zu mobilisieren. Dies führte zu einer gesteigerten abstrakten Gefährdungslage. Die Zustimmung, die die Terrorattacke auf Israel im gesamten salafistischen Spektrum erreichte, war unerwartet hoch. Jihadisten und politische Salafisten sind regional und national orientierten islamistischen Organisationen wie der HAMAS gegenüber in der Regel ablehnend eingestellt. Dass deren brutale Anschläge dennoch positive Resonanz fanden, lag mit hoher Wahrscheinlichkeit an der Bedeutung des Nahostkonflikts für den gesamten Islamismus und den geteilten antisemitischen Feindbildern. Salafisten deuteten die Geschehnisse des Jahres insgesamt als Beweis für eine vermeintliche Feindschaft zwischen "dem Westen" und "dem Islam". Vor diesem Hintergrund wurden die Terroranschläge auf Israel von Salafisten als Racheakte im Namen des Islam gedeutet. Dieses Freund-Feind-Denken ist im Salafismus tief verankert und trägt zu einer wachsenden Abgrenzung der Szene von anderen Teilen der Gesellschaft bei, die die Bereitschaft zur Konfrontation mit Andersdenkenden fördern kann. Insbesondere antisemitische Einstellungen sind unter politischen und jihadistischen Salafisten weit verbreitet und wurden im Berichtsjahr offen zur Schau gestellt. Daher werden zukünftige Eskalationen im Nahostkonflikt ebenso wie neuerliche Koranschändungen keine bedachteren Reaktionen aus der salafistischen Szene hervorrufen, sondern die abstrakte Gefährdungslage nahezu sicher erneut unmittelbar verschärfen. 208 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus 3.3 Organisationsgebundener Islamismus Die meisten Islamisten in Deutschland sind Mitglieder, Anhänger und/oder Unterstützer einer Organisation. All diese Organisationen haben ihren Ursprung im Ausland, zumeist in der Nahostregion oder der Türkei. Sie verfügen aber auch in Deutschland über Strukturen in Form von zugehörigen oder nahestehenden Vereinigungen. Aus taktischen Gründen vermeiden diese Vereinigungen hierzulande jedoch eine namentliche Anlehnung an die Mutterorganisation. Hinsichtlich ihrer konkreten Agenda, ihrer strategischen Ausrichtung und ihres rechtlichen Status in Deutschland lassen sich die Organisationen wie folgt kategorisieren: Legalistische Organisationen Unter Legalismus versteht der Verfassungsschutz eine Strategie extremistischer Gruppierungen und Akteure, die eigenen Ziele mit legalen Mitteln zu erreichen. Gewalt wird von ihnen weder praktiziert noch propagiert, mitunter jedoch anlassbezogen legitimiert. Legalistische Islamisten streben schrittweise eine gesellschaftliche und politische Veränderung an. Nach innen gerichtet besteht die Strategie darin, in Deutschland wohnhafte Musliminnen und Muslime als neue Anhänger zu gewinnen und sie an die Organisation sowie die dort vermittelte Lehre zu binden. Hierbei sollen sie zu einem Islamverständnis geführt und verpflichtet werden, das an Scharia-Normen gebunden ist. Dieses Verständnis betont eine starke innermuslimische Gruppenzugehörigkeit mit Abgrenzungstendenzen von der übrigen Gesellschaft. Eine wichtige Rolle kommt den eigenen Freizeitund vor allem Bildungsangeboten zu wie zum Beispiel Seminaren, Schulungsmaterialien und der Ausbildung von Predigern. Hierzu betreiben legalistische Islamisten teilweise eigene Bildungseinrichtungen und sind bestrebt, weitere zu etablieren. 209 Nach außen gerichtet besteht die Strategie legalistischer Islamisten darin, sich bei Entscheidungsträgern für ihre Interessen einzusetzen. Durch die Beteiligung an Dialogforen, Mitwirkung in Gremien, Zusammenarbeit mit Behörden, Gewinnung von Fürsprechern und gegebenenfalls durch politische Partizipation soll der Weg zur Realisierung eigener Vorhaben geebnet werden. Bei kritischen Nachfragen oder Widerstand reagieren legalistische (und andere) Islamisten nahezu regelmäßig mit dem Vorwurf des antimuslimischen Rassismus. Dieses Vorgehen ist Teil einer breiter angelegten Strategie, mit der sie versuchen, in öffentlichen Debatten über den Islam, Islamismus und Islamfeindlichkeit die Deutungshoheit zu erlangen und anderslautende Stimmen zu diskreditieren. "Der Islam hat dem muslimischen Legalistische Islamisten beMann erlaubt, jüdische oder christkennen sich öffentlich meist zur freiheitlichen demokratischen liche Frauen zu heiraten, weil sie zu Grundordnung. Intern vermitteln den Leuten der Schrift [...] gehören sie - oftmals unter Berufung auf [...]. Es ist der muslimischen Frau islamistische Gelehrte - jedoch untersagt, einen Nichtmuslim zu ein Islamverständnis mit rechtheiraten, gleich, ob er zu den Leulicher und gesellschaftspolitischer Komponente, dessen konkrete ten der Schrift gehört oder nicht." Ordnungsvorstellungen in individuelle Grundrechte zumindest der Yusuf al-Qaradawi, maßgebliche Autorität für viele muslimischen Bürgerinnen und legalistische Islamisten, insbesondere Muslimbrüder Bürger eingreifen. Tangiert sind hierbei insbesondere die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 GG), die Glaubensund Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) sowie die Meinungsfreiheit (Art. 5 GG). In Rheinland-Pfalz zählen vor allem Anhänger der "Muslimbruderschaft" zum legalistischen Islamismus. 210 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus Terrororganisationen mit Regionalbezug Während der "Islamische Staat" (IS) und "al-Qaida" eine globale Agenda verfolgen, besitzen Organisationen wie die palästinensische HAMAS oder die libanesische "Hizb Allah" eine regionale Ausrichtung. Sie verfügen über paramilitärische Flügel, die Terroranschläge verüben. Die von ihnen ausgehende Gewalt ist ganz überwiegend auf die Nahostregion begrenzt und hierbei gegen israelische Ziele gerichtet. Die HAMASund "Hizb Allah"-Anhänger hierzulande betrachten Deutschland vor allem als Rückzugsund Ruheraum, den sie in konspirativer Weise zur Sammlung von Spendengeldern nutzen. Durch die finanzielle und propagandistische Unterstützung der Organisationen gefährden sie auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Die "Hizb Allah" unterliegt in Deutschland seit 2020 einem Betätigungsverbot, die HAMAS seit November 2023. Im Jahr 2023 haben sich einzelne Anhaltspunkte dafür ergeben, wonach die HAMAS bestrebt sein könnte, ihren operativ-terroristischen Aktionsraum auf Europa auszuweiten. Verbotene Organisationen Eine weitere Kategorie im islamistischen Gesamtspektrum bilden Gruppierungen, die zwar nicht terroristisch ausgerichtet sind, aber aufgrund ihrer verfassungsfeindlichen Ausrichtung und ihrer Verstöße gegen den Gedanken der Völkerverständigung verboten wurden. Zu nennen sind hier die 2003 mit einem Betätigungsverbot belegte "Hizb ut-Tahrir" ("Befreiungspartei") und der 2001 mit einem Vereinigungsverbot belegte "Kalifatsstaat". Trotz der Verbote liegen Anhaltspunkte für fortgesetzte Aktivitäten vor. 211 Entwicklung Beherrschendes Thema im Bereich des organisationsgebundenen Islamismus waren 2023 die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Nahostregion nach dem Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober. Zwar äußerten sich einige der entsprechenden Organisationen wie zum Beispiel hiesige Vertreter der "Muslimbruderschaft" öffentlich zurückhaltend, in der Anhängerschaft rief jedoch kein Ereignis der vergangenen Jahre vergleichbar emotionale Reaktionen hervor. Nähere Informationen hierzu befinden sich im Brennpunktthema "Operation al-Aqsa-Flut - der Gazakrieg und die Resonanz in Deutschland". 212 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus 4. KURZBESCHREIBUNGEN Kern-"al-Qaida" Gründungsjahr 1980er-Jahre Sitz Transnationales Netzwerk Leitung Nach dem Tod von Aiman al-Zawahiri am 31. Juli 2022 wurde bisher kein offizieller Nachfolger öffentlich benannt. Anhänger-/ Mitgliederzahl in Keine gesicherten Zahlen Rheinland-Pfalz Publikationen Medienstelle "as-Sahab" und Medien Teilund NebenTransnationales Netzwerk von Teilorganisationen und organisationen Unterstützern. Hervorzuheben sind: # "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) # "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) Ideologie, "Al-Qaida" (Arabisch für "die Basis") ist eine transnational agierende Programm, jihadistische Terrororganisation, die Ende der 1980er-Jahre von UsaStrategie ma Bin Ladin und seinem Umfeld gegründet wurde. Ihr Fernziel ist das globale Kalifat. Ihre Ideologie besagt, dass Muslime "den Islam" gegen feindliche Mächte verteidigen müssten. Ein legitimes Mittel dabei seien Terroranschläge. Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und einer Welle weiterer schwerer Terrorattacken versteht sich "al-Qaida" als jihadistische Avantgarde, die sowohl eigene (medienwirksame) Anschläge durchführt als auch Einzeltäter oder Kleinstgruppen zu Anschlägen inspiriert. Die Organisation hat weltweit Regionalableger und Unterstützer. Heute konkurriert sie mit dem "Islamischen Staat" (IS), der aus der Regionalstruktur der "al-Qaida im Irak" (AQI) hervorging, und dessen Provinzen, um die Führungsrolle innerhalb der globalen jihadistischen Bewegung. Strukturen der Gruppierung in Rheinland-Pfalz sind nicht bekannt. 213 "Islamischer Staat" (IS) Gründungsjahr 2014 (Ausrufung des "Kalifats") Sitz Syrien/Irak Leitung Abu Hafs al-Hashimi al-Qurashi Anhänger-/ Mitgliederzahl in Keine gesicherten Zahlen Rheinland-Pfalz Publikationen Nachrichtenagentur "Amaq" und Medien Teilund NebenTransnationales Netzwerk von Unterstützern und Regionalorganisationen ablegern ("Provinzen") Ideologie, Der "Islamische Staat" (IS) spaltete sich 2014 im Zuge eines inProgramm, ternen Machtkampfs um die Führungsrolle im syrischen BürgerStrategie krieg von "al-Qaida" ab. Vor der Ausrufung des Kalifats 2014 trat die Organisation unter anderem als "al-Qaida im Irak" (AQI), "Islamischer Staat im Irak" (ISI) oder "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS) auf. Ihr ideologisches Fernziel ist die gewaltsame Errichtung des globalen Kalifats. Der IS übte auf Jihadisten in der ganzen Welt eine starke Anziehungskraft aus, die auch viele Europäer zu einer Ausreise in sein ehemaliges Kerngebiet in Syrien und Irak veranlasste. Seit März 2019 gilt er dort als militärisch besiegt. Mittlerweile amtiert der fünfte Kalif, nachdem 2023 auch sein Vorgänger (Abu al-Husain al-Husaini al-Qurashi) getötet wurde. Viele seiner Mitglieder befinden sich in Gefangenenlagern, hängen aber nach wie vor der Ideologie an. 214 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus "Islamischer Staat" (IS) Ideologie, Der IS ist weit über die Grenzen seines ehemaligen Kerngebiets Programm, hinaus aktiv und hat Anschläge in mehr als 50 Ländern verübt. Er Strategie betreibt eine global ausgerichtete Propaganda, die zu Anschlägen in westlichen Ländern aufruft. Regionalableger gelten als "Provinzen" - wie etwa der "Islamische Staat - Provinz Khorasan" (ISPK) in Afghanistan und Pakistan oder der "Islamische Staat - Provinz Westafrika" (ISWAP). Strukturen der Gruppierung in Rheinland-Pfalz sind nicht bekannt. 215 HAMAS Gründungsjahr 1987 im Gazastreifen Sitz Gazastreifen Vorsitzende(r) Ismail Haniya Anhänger-/ Mitgliederzahl in 45 (2022: 40) Rheinland-Pfalz Publikationen "al-Aqsa TV" (Fernsehsender), und Medien Englischund arabischsprachiges Web-Angebot der HAMASKernorganisation Ideologie, Die HAMAS (arabische Abkürzung für "Islamische WiderstandsProgramm, bewegung") ist aus der transnationalen "Muslimbruderschaft" Strategie hervorgegangen, verfolgt jedoch als palästinensische Widerstandsbewegung gegen den israelischen Staat eine nationale Agenda. Sie strebt die Errichtung eines islamischen palästinensischen Staates auf dem gesamten Territorium Israels an. Gegenüber Israel setzt die HAMAS militärische und terroristische Mittel ein und unterhält einen paramilitärischen Zweig, die "Izzal-Din-al-Qassam-Brigaden". Die EU führt die HAMAS seit 2003 als Terrororganisation. Am 7. Oktober 2023 startete die HAMAS einen Großangriff auf Israel. Hierbei wurden über 1.200 Zivilisten und Sicherheitskräfte ermordet oder im Kampf getötet. Darüber hinaus wurden etwa 240 Israelis und andere Staatsbürger als Geiseln genommen und nach Gaza verschleppt. Im Zeitraum von Oktober bis Dezember 2023 soll die HAMAS mehr als 10.000 Raketen von Gaza in Richtung Israel abgefeuert haben. 216 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus HAMAS Ideologie, Die HAMAS verfügt auch im Ausland, darunter in Deutschland, Programm, über Mitglieder. Ihr Tätigkeitsspektrum umfasst im Wesentlichen Strategie folgende Punkte: # Unterstützung der Mutterorganisation in den palästinensischen Gebieten mit Spendensammlungen, # Festigung des Einflusses auf die palästinensische Diaspora, bewusst auch gegenüber konkurrierenden palästinensischen Gruppierungen, # palästinensische Lobbyarbeit in der europäischen Öffentlichkeit. Um rechtliche Konsequenzen zu umgehen, kommunizieren HAMAS-Aktivisten hierzulande ihre Verbindungen zur Mutterorganisation nicht nach außen. In Rheinland-Pfalz bestehen keine Strukturen, die der HAMAS zuzurechnen sind. Indessen engagieren sich in unterschiedlichen Städten des Landes HAMAS-Anhänger für die Organisation, beispielsweise durch die Mitwirkung oder Teilnahme an HAMAS(-nahen) Kongressen in Deutschland und im Ausland sowie die Veröffentlichung von HAMAS-Propaganda im Internet. BetätigungsMit Verfügung vom 2. November 2023 hat das Bundesminisverbot terium des Innern und für Heimat ein Betätigungsverbot gegen die HAMAS verhängt. Hiermit sind sämtliche Aktivitäten für die HAMAS verboten, wie die Aufrechterhaltung oder Gründung von organisierten Strukturen der Organisation, finanzielle Unterstützungsleistungen oder die Verwendung von Kennzeichen der Organisation. 217 "Hizb Allah" Gründungsjahr 1982 im Libanon Sitz Beirut, Libanon Vorsitzende(r) Hassan Nasrallah (Generalsekretär) Anhänger-/ Mitgliederzahl in 95 (2022: 80) Rheinland-Pfalz Publikationen "al-Ahed News al-Intiqad" (Website), und Medien "al-Manar" (Fernsehsender) Ideologie, Die "Hizb Allah" ("Partei Gottes") ist eine schiitisch-islamistische Programm, Organisation im Libanon. Als hybride Organisation verkörpert Strategie sie die Eigenschaften einer Partei, Wohlfahrtsorganisation, Miliz, Terrororganisation und eines kriminellen Netzwerks. Die verschiedenen Flügel handeln nicht unabhängig voneinander, sondern sind an die politischen Ziele der "Hizb Allah" gebunden und stellen nach dem Selbstverständnis der Organisation Teile eines untrennbaren Gesamtgefüges dar. An dessen Spitze stehen die Generalversammlung ("Schura-Rat") als oberstes Beschlussund Kontrollorgan sowie der Generalsekretär, derzeit Hassan Nasrallah. Die "Hizb Allah" bestreitet das Existenzrecht Israels, dessen Bekämpfung zentrale Bedeutung für die Organisation hat. Hierzu unterhält sie einen militärischen Flügel, der sich seit 2013 auf der EU-Terrorliste befindet. Seit der Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen der palästinensischen HAMAS und Israel im Oktober 2023 hat auch der Beschuss seitens der "Hizb Allah" aus dem Libanon auf Israel wieder zugenommen. 218 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus "Hizb Allah" Ideologie, Deutschland stellt für die "Hizb Allah" vorrangig einen Raum für Programm, logistische und finanzielle Unterstützungsleistungen dar. Ihre Strategie Anhängerschaft in Deutschland ist zwar intern gut vernetzt, tritt nach außen allerdings nur wenig in Erscheinung, da sie darauf bedacht ist, nicht mit der "Hizb Allah" in Verbindung gebracht zu werden. Verbots2020 erließ das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimaßnahmen mat ein Betätigungsverbot gegen die "Hizb Allah" in Deutschland. Im Frühjahr 2021 folgten Verbotsmaßnahmen gegen Ersatzorganisationen des 2014 verbotenen "Hizb Allah"-Spendensammelvereins "Waisenkinderprojekt Libanon e.V." (WKP). Hiervon war auch der Verein "Deutsche Libanesische Familie e.V." (DLF) in Ingelheim am Rhein betroffen. Dem Verfassungsschutz lagen Anhaltspunkte dafür vor, dass Funktionäre des verbotenen WKP ihre früheren Aktivitäten fortsetzten, das heißt Spendengelder für libanesische Waisenkinder von gefallenen "Hizb Allah"-Kämpfern sammelten und in den Libanon brachten. Das Bundesverwaltungsgericht entschied am 14. Dezember 2022, dass das Verbot des DLF rechtmäßig und verhältnismäßig war. 219 "Hizb ut-Tahrir" (HuT) Gründungsjahr 1953 in Jerusalem Sitz unbekannt Vorsitzende(r) Ata Abu al-Rashta alias Abu Yasin Anhänger-/ Mitgliederzahl in nahestehende Einzelpersonen Rheinland-Pfalz Publikationen Zeitungen/Zeitschriften: "al-Khilafa", "Hilafet", "Expliciet" und Medien Ideologisch "Realität Islam" (RI), nahestehende "Generation Islam" (GI), Gruppierungen "Muslim Interaktiv" (MI) Ideologie, Die "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung", HuT) strebt die Programm, Errichtung eines islamischen Staates unter der Führung eines Strategie Kalifen sowie der Scharia als Rechtsgrundlage an. Ziel ist die Vereinigung aller Muslime in einem Kalifatsstaat. Die HuT existiert meist als kleine oder sogar äußerst marginale islamistische Gruppierung in einer Vielzahl von Staaten, unterliegt jedoch in vielen Staaten einem Verbot. Ab dem Jahr 2015 haben sich in Deutschland mehrere Gruppierungen und Initiativen herausgebildet, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen. Zu nennen sind hier insbesondere die Gruppierungen "Realität Islam" (RI) "Generation Islam" (GI) und "Muslim Interaktiv" (MI). Sie betreiben sowohl in der Realwelt als auch ganz besonders in sozialen Netzwerken eine aktive Öffentlichkeitsarbeit. Dort erreichen sie zehntausende, teilweise sogar hunderttausende Interessierte. Die Themen und deren Präsentation sind insbesondere auf Musliminnen und Muslime der jüngeren Generation zugeschnitten, die Rhetorik gegenüber nichtmuslimischen Gesellschaften in hohem Maße konfrontativ. 220 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus "Hizb ut-Tahrir" (HuT) Ideologie, Die Strategie der genannten Gruppierungen, eine Art "identitäre" Programm, muslimische Bewegung zu etablieren, wird wesentlich durch das Strategie Schüren antiwestlicher Feindbilder vorangetrieben. Verbalen Angriffen sind in besonderem Maße Personen des öffentlichen Lebens - Journalisten, Politiker oder Wissenschaftler - ausgesetzt, die zum Islam eine andere Auffassung vertreten als sie selbst. Dies läuft auf eine Einschränkung der Meinungsfreiheit hinaus. Wenngleich die HuT-nahen Gruppierungen gewaltfrei auftreten, können doch wiederholt gewaltbefürwortende Andeutungen in Bild, Sprache und Musik (Sprechgesang) festgestellt werden. HuT-nahe Gruppierungen traten im Jahresverlauf 2023 vermehrt mit Großveranstaltungen in Erscheinung. In Hamburg kamen am 4. Februar auf einer von MI organisierten Kundgebung circa 3.500 Teilnehmer zusammen, um gegen eine Koranverbrennung in Schweden zu demonstrieren. Ein Veranstaltungsredner skandierte unter anderem, dass die Zukunft dem Islam, Allah und dem Koran gehöre. Am 3. November fand im nordrhein-westfälischen Essen eine Demonstration unter dem Titel "GAZA UNTER BESCHUSS! GEMEINSAM GEGEN DAS UNRECHT!" mit etwa 3.000 Teilnehmern statt. Hierbei wurde das Existenzrecht Israels negiert und für die Etablierung eines Kalifats geworben. Diese offensive Forderung aus dem HuT-Umfeld auf einer öffentlichen Veranstaltung in Deutschland stellt ein Novum dar. BetätigungsIn Deutschland erging im Jahr 2003 ein Betätigungsverbot gegen verbot die HuT, da sie sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtete und Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Belange befürwortete. Aufgrund des Betätigungsverbots kann die HuT als solche in Deutschland keine öffentlichen Aktivitäten entfalten. Mittels der erwähnten ideologisch nahestehenden Gruppierungen setzt sie ihre Agitation und die Rekrutierung neuer Mitglieder jedoch zunehmend offensiv fort. 221 "Kalifatsstaat" Gründungsjahr 1984 Sitz Vereinsstrukturen seit 2001 verboten; früherer Sitz in Köln Vorsitzende(r) Metin Kaplan, wohnhaft in der Türkei (nicht von allen "Kalifatsstaat"-Anhängern als Anführer akzeptiert) Anhängerzahl in 110 (2022: 90) Rheinland-Pfalz Publikationen mehrere Internetseiten und Medien Ideologie, Die Lehre des "Kalifatsstaats" ist durch eine strikte Ablehnung Programm, der Demokratie und ihrer wesentlichen Prinzipien und InstituStrategie tionen geprägt. Stattdessen soll ein islamischer Staat mit der Scharia als Rechtsordnung und einem Kalifen als Staatsoberhaupt etabliert werden. Der "Kalifatsstaat" wurde im Jahr 2001 durch das Bundesministerium des Innern verboten. Das Vereinsverbot verhinderte in den Folgejahren die Mitwirkung in Gremien, Einflussnahme auf politische Entscheidungen und Bewilligung eigener Projekte, beispielsweise im Bildungsbereich. Den Sicherheitsbehörden lagen allerdings Erkenntnisse vor, wonach Anhänger der "Kalifatsstaat"-Ideologie unterschwellig weiterhin Strukturen in mehreren Bundesländern unterhielten. 222 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus "Kalifatsstaat" Ideologie, Zur Unterbindung fortgesetzter Aktivitäten fanden 2022 umProgramm, fangreiche Durchsuchungsmaßnahmen in sechs Bundesländern Strategie statt, darunter in Rheinland-Pfalz. Mittlerweile wurden drei Personen, einer von ihnen als Rädelsführer und zwei - aus Rheinland-Pfalz stammende Personen - als Mitglieder der verbotenen Vereinigung zu Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt. Im Urteil, das noch nicht rechtskräftig ist, wurde festgehalten, dass sie zur Aufrechterhaltung des organisatorischen Zusammenhalts des "Kalifatsstaats" beigetragen hatten, unter anderem mittels finanzieller Unterstützungsleistungen, der Vermittlung der "Kalifatsstaat"-Lehre und Ausrichtung von überregionalen Zusammenkünften von Mitgliedern der "Kalifatsstaat"-Bewegung. Bei der Umsetzung ihrer Aktivitäten nutzten sie den "Sportund Kulturverein Bad Kreuznach e.V.". 223 "Muslimbruderschaft" Gründungsjahr 1928 in Ägypten, Aufbau von Strukturen in Deutschland ab 1958 Sitz Transnationale Bewegung Anhängerzahl in ca. 50 (2022: ca. 50) Rheinland-Pfalz Publikationen "Risalat al-Ikhwan" (Wochenzeitschrift) und Medien Ideologie, Der programmatische Kern der "Muslimbruderschaft" ist die EinProgramm, heit von Religion und Staat, die nach ihrem Verständnis durch die Strategie Anwendung der islamischen Rechtsvorschriften anstelle weltlicher Gesetze verwirklicht werden soll. Der Gestaltungsfreiraum menschlichen Handelns wird dadurch erheblich eingeschränkt, was letztlich auf eine Zurückdrängung der legislativen Gewalt und Volkssouveränität hinausläuft. Angehörige der "Muslimbruderschaft" schufen in den zurückliegenden Jahrzehnten in Europa ein weitverzweigtes Netz von Moscheen, Instituten und Verbänden. Als wichtigste und zentrale Organisation von Anhängern der "Muslimbruderschaft" in Deutschland fungiert die "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V." (DMG) mit Sitz in Berlin. In Rheinland-Pfalz sind Personen aktiv, die der Lehre der "Muslimbruderschaft" folgen und in ihr hiesiges organisatorisches Umfeld eingebunden sind. Ebenso liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass einzelne Moscheevereine Bezüge zur "Muslimbruderschaft" aufweisen und durch ihre Ideologie beeinflusst sind. Typisch ist das Engagement von Anhängern der "Muslimbruderschaft" im Bildungsbereich. Hierbei verfolgen sie die Absicht, ihre Zielgruppe im Sinne des Islamverständnisses der "Muslimbruderschaft" zu beeinflussen und sie zugleich zu selbstbewussten Interessensvertretern hierzulande zu erziehen. 224 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Islamismus 225 EXTRE MISTISCH 226 BESTREB E EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN MIT AUSLANDSBEZUG (OHNE ISLAMISMUS) 1. Personenpotenzial S. 228 2. Überblick und Entwicklungen 2023 S. 229 SCHE 3. Gruppierungen und Strukturen S. 231 3.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) S. 231 3.2 "Graue Wölfe" ("Ülkücü"-Bewegung) S. 237 3.3 Linksextremistische palästinensische Organisationen S. 239 4. Ausblick S. 240 5. Kurzbeschreibungen S. 241 REBUN 227 1. PERSONENPOTENZIAL 2023 2022 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) 450 450 Türkisch-rechtsextremistische Organisationen 280 150 Türkisch-linksextremistische Organisationen 50 50 EinzelEinzelPalästinensisch-linksextremistische Organisationen mitglieder mitglieder Gesamt 780 650 Die Zahlenangaben sind geschätzt und gerundet. 228 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Auslandsbezogener Extremismus 2. ÜBERBLICK UND ENTWICKLUNGEN 2023 In Deutschland sind mehrere extremistische Organisationen aktiv, die ihren Ursprung im Ausland haben. Sie streben eine grundlegende Veränderung der dortigen politischen Verhältnisse an, teilweise mit gewaltsamen und terroristischen Mitteln. Hinsichtlich ihrer ideologischen Überzeugungen gibt es grundlegende Unterschiede. Einige Organisationen vertreten eine nationalistisch-rechtsextremistische, andere eine linksextremistische Ideologie, teilweise einhergehend mit separatistischen Zielsetzungen. Islamistisch agierende Extremisten weisen häufig ebenfalls einen Auslandsbezug auf, werden vom Verfassungsschutz jedoch im Phänomenbereich Islamismus bearbeitet. Den Bearbeitungsschwerpunkt des Verfassungsschutzes im Extremismus mit Auslandsbezug bilden Organisationen mit Bezug zur Türkei. Aufgrund der Entwicklungen im Nahen Osten sind im Berichtsjahr darüber hinaus vor allem palästinensische und pro-palästinensische Gruppierungen mit extremistischem Hintergrund in Erscheinung getreten. Die extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug nutzen Deutschland als einen aus ihrer Sicht sicheren Rückzugsraum, aus dem heraus sie ihre Strukturen im jeweiligen Herkunftsland propagandistisch, materiell und finanziell unterstützen können. Zudem versuchen sie, hierzulande neue Anhänger, Mitglieder und gegebenenfalls Kämpfer zu rekrutieren sowie öffentliche Lobbyarbeit für die eigenen Interessen zu betreiben. Durch ihr Handeln gefährden sie auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus richten sich ihre Aktivitäten zumeist gegen den Gedanken der Völkerverständigung des Grundgesetzes. 229 INFORMATION Was sind auswärtige Belange? Die Politik der Bundesrepublik Deutschland ist auf ein friedliches Verhältnis zu anderen Staaten ausgerichtet. Ihre auswärtigen Belange, das heißt ihre öffentlichen Angelegenheiten und Interessen, wären jedoch beeinträchtigt, wenn von deutschem Boden Bestrebungen ausgingen, die gewaltsam die politischen Verhältnisse in einem anderen Staat verändern wollten. Ebenso wie ihre Zielsetzung ist die Zusammensetzung dieser Gruppen häufig heterogen. Zu ihnen gehören neben Ausländern auch deutsche Staatsangehörige mit und in kleinerer Zahl ohne Migrationshintergrund. Letztere sind teilweise gleichzeitig in die (deutsche) linksextremistische Szene eingebunden. Die Anzahl der in Rheinland-Pfalz lebenden Extremisten mit Auslandsbezug lag zum Jahresende 2023 bei etwa 780 (2022: 650). Der neue Zahlenwert ergibt sich weniger aus einer tatsächlichen Steigerung des Personenpotenzials als vielmehr durch eine Veränderung infolge hiesiger Aufklärungsbemühungen. Diese haben im türkischen Rechtsextremismus ("Graue Wölfe", siehe Seite 237 ff.) Erkenntnisse über höhere Mitgliederzahlen erbracht als zuvor bekannt (ca. 280). Hinsichtlich des Personenpotenzials und der Aktivitäten ist die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) allerdings weiterhin die bedeutendste Organisation (ca. 450 Mitglieder). Deutlich weniger Anhänger haben türkisch-linksextremistische Organisationen (circa 50 Personen) und linksextremistische palästinensische Gruppierungen (Einzelpersonen). 230 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Auslandsbezogener Extremismus 3. GRUPPIERUNGEN UND STRUKTUREN 3.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Die 1978 in der Türkei gegründete "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) kämpft für eine erweiterte politische und kulturelle Eigenständigkeit innerhalb der angestammten kurdischen Siedlungsgebiete.1 Zur Durchsetzung ihrer Ziele verfolgt die Organisation weiterhin eine Doppelstrategie: Während sie in der Türkei, der nordirakischen Grenzregion sowie im Norden Syriens mit ihren bewaffneten Einheiten auf Gewalt setzt, nutzt sie Deutschland sowie andere westeuropäische Staaten primär als Rückzugs-, Finanzierungsund Rekrutierungsraum. Zudem versucht sich die PKK als legitimer Ansprechpartner und als alleinige Interessenvertretung der gesamten kurdischstämmigen Bevölkerung darzustellen. Zu diesen Zwecken unterhält die PKK in nahezu ganz Europa konspirativ agierende, hierarchisch aufgebaute Organisationsstrukturen. Daneben hat sie auf europäischer, bundesdeutscher, regionaler und lokaler Ebene legalistische Strukturen in Form von Organisationen und Vereinen etabliert. Diese treten offiziell zwar nicht unter der Bezeichnung PKK in Erscheinung. Allerdings liegen starke Anhaltspunkte für eine Beeinflussung und Steuerung dieser "Fassadenstrukturen" durch den konspirativen, illegal tätigen Funktionärsapparat der PKK 1 Kurdische Siedlungsgebiete befinden sich in den Staaten Irak, Iran, Syrien und Türkei. 231 vor. Dies hat konkrete Auswirkungen auf die Indoktrinierung, die Organisation von Spendenkampagnen sowie auf Kundgebungen zugunsten der PKK und ihres Anführers Abdullah Öcalan. Hiermit sind zugleich die wichtigsten Aktionsfelder der PKK umrissen. Als Dachverband dieser legalistischen PKK-nahen Strukturen in Deutschland fungiert die "Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e.V." (KON-MED). Ihr sind fünf regionale Föderationen nachgeordnet. Das "Demokratisch-Kurdische Gesellschaftszentrum Mainz e.V." gehört einer dieser Föderationen, der "Föderation der demokratischen Gesellschaften Kurdistans e.V." (FCDK-KAWA), an. Ferner unterhält die PKK für bestimmte Bevölkerungsgruppen, beispielsweise Studierende, Jugendliche oder für Frauen eigene Organisationseinheiten. INFORMATION Was ist Legalismus? Unter Legalismus versteht der Verfassungsschutz eine Strategie extremistischer Gruppierungen und Akteure, die eigenen Ziele mit legalen Mitteln zu erreichen. Gewalt wird von ihnen weder praktiziert noch propagiert. Weiterhin kommunizieren legalistische Organisationen ihre tatsächlichen Ziele in der Regel nicht öffentlich. Vielmehr vertreten sie nach außen zumeist eine gemäßigtere Agenda als vor den eigenen Mitgliedern. Dadurch verschleiern sie vor Außenstehenden ihre extremistische Ausrichtung. 232 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Auslandsbezogener Extremismus Die umfassenden Organisationsstrukturen ermöglichen der PKK ein Agieren in der Fläche und in mehreren Lebensbereichen - hierbei konsequent darauf ausgerichtet, dass sich die Mitglieder mit der PKK und ihren Zielsetzungen identifizieren und sie sowohl propagandistisch als auch finanziell unterstützen. Auf einer eher niedrigschwelligen Ebene erfüllen öffentlichkeitswirksame Kundgebungen, Mahnwachen und (Groß-)Veranstaltungen vor allem den Zweck, den inneren Zusammenhalt der Organisation und ihrer Mitglieder zu stärken, sowie unter der kurdisch-stämmigen Bevölkerung neue Anhänger für die PKK zu rekrutieren. Durch eine breite Öffentlichkeit sollen zudem weitere Fürsprecher für die "kurdische Sache" gewonnen werden. Über die örtlichen Vereine, dortige Gemeinschaftsaktivitäten und die Vermittlung identitätsstiftender Inhalte findet eine weitergehende Bindung an die PKK statt. Zentrale Bedeutung im Tätigkeitsspektrum hat die Finanzierung der Organisation einschließlich der Kampfeinheiten in den kurdischen Siedlungsgebieten. Die Finanzmittel werden insbesondere durch die jährliche Spendenkampagne in Deutschland und anderen europäischen Ländern, durch regelmäßige Mitgliedsbeiträge von Vereinen und Privatpersonen, den Verkauf von Publikationen sowie durch Erlöse aus Feiern und Veranstaltungen generiert. Einen weiteren Baustein im Gesamtgefüge stellt die Rekrutierung von Nachwuchs sowohl für die Tätigkeit der Organisation im Inland als auch für den Kampfeinsatz im Ausland dar. Um die Sichtweise der Organisation nach außen zu vermitteln, hat die PKK einen Apparat von eigenen und organisationsnahen Medien und Medienunternehmen aufgebaut. Eckpfeiler der PKK-Informationspolitik sind die Nachrichtenagentur "Firat News Agency" (ANF) mit Sitz in den Niederlanden und die Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" ("Neue freie Politik"). 233 Die Forderungen und Themen der PKK haben sich im Berichtsjahr gegenüber den Vorjahren nicht verändert und lassen sich wie folgt umreißen: # Verurteilung der türkischen Militäroffensive im Nordirak und Nordsyrien, # Isolationshaft und Gesundheitszustand des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, # Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland, zum Teil in Kooperation mit Personen aus der linksextremistischen deutschen Szene, # Streichung der PKK von der EU-Terrorliste, # Solidaritätsbekundungen mit inhaftierten PKK-Funktionären, # Glorifizierung von PKK-Kämpfern und "Märtyrern", das heißt Personen, die für die PKK ihr Leben gelassen haben. Rheinland-Pfalz war auch im Jahr 2023 kein räumlicher Schwerpunkt öffentlicher Aktionen der PKK. Gegen Jahresende hielten mehrere Hundert Teilnehmer in Mainz eine Gedenkfeier anlässlich der Gründung der PKK am 27. November 1978 ab. Darüber hinaus nahmen Anhänger aus Rheinland-Pfalz regelmäßig an Veranstaltungen im Bundesgebiet teil. Eine öffentlichkeitswirksame Veranstaltung mit circa 12.000 Teilnehmern war erneut das "Internationale Kurdische Kulturfestival", das am 9. September in Frankfurt am Großkundgebung in Berlin, Quelle: ANF, 18. November 2023 Main und damit erstmals seit vier Jahren wieder in Deutschland stattfand. Wie in den Vorjahren wurde deutlich, dass es sich nur vordergründig um ein FolkloreFestival handelte. Tatsächlich stand die PKK maßgeblich hinter der Veranstaltung und nutzte sie für ihre Anliegen und Botschaften. Diesbezüglich war neben 234 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Auslandsbezogener Extremismus einer Schweigeminute für die getöteten Kämpfer der PKK-Guerillaeinheiten insbesondere eine Grußbotschaft von Cemil BAYIK bemerkenswert, der als Co-Vorsitzender der PKK-Dachorganisation KCK einer der höchsten PKK-Funktionäre ist. Am 18. November richtete die PKK in Festival-Teilnehmer in den Uniformen der PKK-Guerilla. Quelle: PKK-nahe Webseite Nuce Ciwan, September Berlin ihre alljährliche bundesweite 2023. Demonstration anlässlich des nunmehr 30. Jahrestags des PKK-Betätigungsverbots in Deutschland aus. Hierbei kam es seitens einiger Teilnehmer zu gewaltsamen Angriffen auf Einsatzkräfte der Polizei. Die PKK hatte nach dem schweren Erdbeben im Süden der Türkei am 6. Februar 2023 aus humanitären Gründen eine einseitige Feuerpause ausgerufen. Im Juni erfolgte jedoch seitens der PKK deren Beendigung. "Der türkische Staat und das AKP/MHP-Regime verstärken jedoch ihre Angriffe, ihre Invasion, ihre Vernichtungspolitik [...] Es ist unabdingbar angesichts dieser Angriffe, überall aktiv zum Kampf überzugehen und den Feind wirkungsvoll zu treffen. Aus diesen Gründen erklären wir, dass wir mit dem heutigen Tag unsere Feuerpause beendet haben. Es ist jetzt für alle noch klarer erkennbar, dass es keine Entwicklung ohne die Zerstörung des AKP/MHP-Faschismus geben kann." ANF News (PKK-nahe Nachrichtenagentur), 13. Juni 2023 235 Am 1. Oktober zeigte sich, dass aus der Drohung Wirklichkeit wurde. Zwei Attentäter verübten im Eingangsbereich des türkischen Innenministeriums in Ankara einen Sprengstoffanschlag, bei dem zwei Polizisten verletzt und die Attentäter getötet wurden. Zu dem Anschlag bekannte sich das "Bataillon der Unsterblichen", ein Ableger des militärischen Arms der PKK. In der nachfolgenden Berichterstattung PKK-naher Medien wurden die beiden Selbstmordattentäter als Helden dargestellt. Wenngleich die PKK Europa weiterhin vorrangig als Raum für Finanzierungs-, Rekrutierungsund Propagandatätigkeiten nutzt, belegt der Brandanschlag auf ein Gebäude türkischer Vereine im hessischen Offenbach auch ihre grundsätzliche Bereitschaft zu militanten Aktionen. In der Nacht vom 1. auf den 2. November hatte eine vermummte Person mehrere Brandsätze in den Eingangsbereich des Gebäudes geworfen. Es entstand ein Sachschaden, Personen kamen bei dem Brand hingegen nicht zu Schaden. Wenige Tage später bekannte sich die Organisation auf der Webseite der PKK-Jugendorganisation "Komalen Ciwan"/ "Tevgera Ciwanen Soresger" zu der Tat. Diese sei eine Reaktion auf die "Angriffe des türkischen Staates auf Kurdistan". An der Hauswand wurde zudem ein Graffito mit dem Schriftzug "TOD DEM FASCHISMUS" und "PKK" angebracht. 236 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Auslandsbezogener Extremismus 3.2 "Graue Wölfe" ("Ülkücü"-Bewegung) Hinter dem Begriff "Graue Wölfe" steht eine türkisch-nationalistische Bewegung, die sich aus mehreren Parteien, Organisationen und weiteren Akteuren zusammensetzt. Die Bewegung fußt auf einer nationalistischen Ideologie mit unverkennbar rassistischen und antisemitischen - im Ergebnis rechtsextremisDer "Wolfsgruß" als Erkennungszeichen tischen - Elementen. Ihr langfristiges Ziel ist die Vereinigung aller Turk-Völker in einem Großreich "Turan" (pan-türkisches Gedankengut). Gegenüber anderen Völkern in der Region, namentlich Armeniern und Kurden, existieren in der Anhängerschaft der "Grauen Wölfe" tradierte Feindbilder. Die Vordenker der Bewegung definierten zudem die Juden als "heimlichen Feind aller Völker". Das bekannteste Erkennungszeichen der Bewegung ist der graue Wolf und der daraus abgeleitete Wolfsgruß. Diese Handgeste ist auch bei rheinland-pfälzischen Anhängern der Bewegung auf zahlreichen Fotos festzustellen. Angehörige der Bewegung begreifen sich selbst als Idealisten, im Türkischen ülkücüler. Anhänger der "Grauen Wölfe" sind in der Türkei mit der "Partei der nationalistischen Bewegung" (MHP, Milliyetci Hareket Partisi) an der bestehenden Regierungskoalition beteiligt und bestimmen den dortigen politischen Kurs maßgeblich mit. Der konfrontative Ton des MHP-Vorsitzenden Türkisches Großreich "Turan" als Ziel, beeinflusst auch die in Deutschland lebenden Quelle: Facebook Parteianhänger. In unregelmäßigen Abständen sind zudem deutsche Politiker türkischer und kurdischer Abstammung mit einer Türkei-kritischen Haltung Anfeindungen aus diesem Spektrum ausgesetzt. Das Potenzial für Konflikte zwischen türkischund kurdischstämmigen Personen sowie zwischen Anhängern und Oppositionellen der türkischen Regierung hierzulande bleibt weiterhin bestehen. 237 "Israel ist eine 75 Jahre Hinzu kommen nach politischen Ereignissen wie dem Angriff der HAMAS auf Israel alte Krebszelle, die sich im im Oktober 2023 verbale Anfeindungen Nahen Osten festgesetzt gegenüber dem Staat Israel. Bei dieser hat und die Fähigkeit besitzt Gelegenheit brachte der MHP-Vorsitzende sich auszuweiten. Netanjahu Anschuldigungen vor, wonach die israeliist ein Mörder, ein Babysche Führung insgeheim das Ziel verfolge, das Projekt eines Großreiches Israel zu reamörder." lisieren. Gemäß diesem Plan reiche dessen Territorium vom Nil bis zum Euphrat und Devlet Bahceli, Vorsitzender der Partei MHP. Quelle: Türkisches Nachrichtenschließe die Türkei mit ein. portal am 06.12.2023 Als Deutschlandorganisation der MHP fungiert die "Föderation der TürkischDemokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF). Sie ist darum bemüht, in der hiesigen Öffentlichkeit als rechtskonforme, integrationswillige und gewaltablehnende Organisation wahrgenommen zu werden, die sich gegen Rassismus und für kulturelle Verständigung einsetzt. Tatsächlich aber steht die ADÜTDF auf derselben ideologischen Grundlage wie die MHP und ist mit ihr verflochten. Öffentlichkeitswirksam präsentiert die ADÜTDF Zusammenkünfte zwischen ihren Angehörigen und MHP-Vertretern. Der MHP eröffnen solche Zusammenkünfte die Möglichkeit, ihre politischen Interessen in türkische Gemeinden in Deutschland zu tragen. Bereits im Vorfeld der Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in der Türkei am 14. Mai 2023 war eine Zunahme solcher Aktivitäten festzustellen. Verantwortliche der rheinlandpfälzischen ADÜTDF-Vereine warben offen für eine Stimmabgabe für die MHP bei der Parlamentswahl. Dies erfolgte unter anderem durch die Ausstrahlung eines in der Türkei gedrehten Wahlwerbespots der MHP zugunsten der Partei und ihres Vorsitzenden Devlet Bahceli. Zwecks Wählermobilisierung führten Vereinsangehörige bis unmittelbar vor der Parlamentswahl auch Aktivitäten in Rheinland-Pfalz durch. 238 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Auslandsbezogener Extremismus 3.3 Linksextremistische palästinensische Organisationen Bereits in den 1960er und 1970er Jahren wurden linksextremistische palästinensische Organisationen mit zum Teil terroristischer Ausrichtung gegründet. Zu nennen ist hier beispielsweise die "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP), die auch in Deutschland über Anhänger verfügt. Aufgrund der langjährigen Dominanz islamistischer Protagonisten waren sie in der öffentlichen Wahrnehmung zeitweise in den Hintergrund gerückt. Angesichts des ungelösten und wieder verschärften israelisch-palästinensischen Konflikts sind die Anhänger und Unterstützer linksextremistischer Palästinenserorganisationen jedoch seit einigen Jahren auch in Deutschland wieder vermehrt aktiv. Die erneute und diesmal besonders schwere Gewalteskalation in Israel und im Gazastreifen seit Oktober 2023 hat bei ihnen zu einer nochmals deutlich gesteigerten und sichtbaren Betätigung geführt. So spielen sie nicht nur in sozialen Medien, sondern in mehreren Fällen auch bei der Organisation, Mobilisierung und Teilnahme an pro-palästinensischen Kundgebungen in Deutschland eine relevante Rolle. Durch ihre Verlautbarungen schüren Anhänger dieses Spektrums gezielt Hass gegen Israel. Sie negieren Israels Existenzrecht und propagieren dessen gewaltsame Bekämpfung. In entsprechender Weise nehmen sie gegenüber der Gewalt der HAMAS und anderer palästinensischer Terrororganisationen eine rechtfertigende und sogar befürwortende Position ein. Angehörige der Gruppierung "Samidoun" verteilten am Tag der HAMAS-Angriffe auf Israel in einer Spontanaktion in Berlin Süßigkeiten, um den Angriff zu feiern. Dazu veröffentlichte "Samidoun" einen entsprechenden Eintrag auf Instagram, versehen mit dem Kommentar: "Es lebe der Widerstand des palästinensischen Volkes. Verteilen Geste der Solidarität mit der HAMAS am von Süßigkeiten auf der Sonnenallee in Berlin zur 7. Oktober in Berlin, Quelle: Instagram Feier des Sieges des Widerstands". 239 Das zunehmend offensive Agieren von "Samidoun" und ihre verstärkten gegen die Völkerverständigung gerichteten Bestrebungen führten am 2. November 2023 zu einem Betätigungsverbot des internationalen "Samidoun"-Netzwerks in Deutschland sowie einem Verbot der Teilorganisation "Samidoun Deutschland" durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat. Weitere Informationen sind im Brennpunktthema "Operation al-Aqsa-Flut", Gazakrieg und die Resonanz in Deutschland sowie in der Kurzbeschreibung "Linksextremistische palästinensische Organisationen" enthalten. 4. AUSBLICK Die Auseinandersetzungen in Nahost werden im auslandsbezogenen Extremismus absehbar ein beherrschendes Thema bleiben. Eine vorrangige Rolle kommt hierbei palästinensisch-extremistischen Gruppierungen zu. Sie profitieren von der Solidarisierung durch andere Gruppierungen, darunter aus den Bereichen des deutschen und türkischen Linksextremismus, des türkischen Rechtsextremismus und Islamismus. Wie nur wenige andere Themen verbindet der wiederentbrannte Nahostkonflikt unterschiedlichste Akteure, die ihn als regionale Ausprägung eines übergeordneten Konflikts zwischen "imperialistischen" Kräften des "Nordens" und unterdrückten Völkern des "globalen Südens" betrachten. Dies stellt für sie den ideologischen Ausgangspunkt dar, um sich im genannten Kontext gegen Israel und seine Unterstützer zu stellen. 240 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Auslandsbezogener Extremismus 5. KURZBESCHREIBUNGEN "Arbeiterpartei Kurdistans" ("Partiya Karkeren Kurdistan", PKK) seit 2007 offiziell "Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" ("Koma Civaken Kurdistan", KCK) Gründungsjahr 1978 in der Türkei Leitung Abdullah Öcalan (seit 1999 in der Türkei inhaftiert), seither vor allem ideelle Führungsfigur, faktische Leitung durch im Ausland befindliche Gruppe von Führungskadern Mitgliederzahl in ca. 450 (2022: ca. 450) Rheinland-Pfalz Publikationen "Firat News Agency" (Nachrichtenagentur), "Yeni Özgür Politika" und Medien (Tageszeitung), "Serxwebun" und "Sterka Ciwan" (Monatszeitungen), "Sterk TV" (Fernsehsender), Teilund Neben"Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistans organisationen in Europa" (KCDK-E), europäische Dachorganisation; "Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e.V." (KON-MED), Dachorganisation PKK-naher Vereine in Deutschland; "Föderation der Demokratischen Gesellschaften Kurdistans e.V." Hessen-Saarland (unter Einschluss von Rheinland-Pfalz, FCDK-KAWA); "Volksverteidigungskräfte" (Hezen Parastina Gel, HPG), militärischer Arm in der Türkei Betätigungsseit 22. November 1993 verbot (bestandskräftig seit 26. März 1994) Einstufung als Terrorseit 2. Mai 2002 in der EU organisation 241 "Graue Wölfe" ("Ülkücü-Bewegung") Mitgliederzahl in ca. 280 (2022: 150) Rheinland-Pfalz Publikationen "Bülten" (unregelmäßig) und Medien Verbandliche "Föderation der Türkisch-Demokratischen Strukturen in Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) Deutschland "Föderation der Weltordnung in Europa" (ANF) Ideologie, Unter dem Oberbegriff "Graue Wölfe" werden Anhänger einer türProgramm, kisch-nationalistischen, rechtsextremistischen Ideologie bezeichnet. Strategie Sie haben bundesweit circa 11.000 Mitglieder, Anhänger und Unterstützer. Die Personen sind mehrheitlich in Vereinen des bundesweiten Dachverbandes ADÜTDF organisiert. Bei dem stärker religiös ausgerichteten Dachverband ANF, der seinen Sitz in Ludwigshafen am Rhein hat, handelt es sich um die Europaorganisation der extrem-nationalistischen türkischen "Partei der Großen Einheit" (BBP). Die Dachverbände und ihre angeschlossenen Vereine führen vor allem kulturelle, religiöse und sportliche Veranstaltungen durch. Diese dienen unter anderem dem Zweck, neue Mitglieder zu werben und an die Ideologie heranzuführen sowie das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Szene zu stärken. Neben den festen Organisationsstrukturen besteht die "Ülkücü"Bewegung aus einer kleineren unorganisierten Szene. Sie setzt sich größtenteils aus internetaffinen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen, die vor allem über soziale Netzwerke miteinander in Kontakt stehen. Dort pflegen sie ihre Feindbilder und agieren mit Hass-Postings gegen ihre "Feinde". Sie fallen durch Störaktionen am Rande von Veranstaltungen und Kundgebungen kurdischer, mitunter PKK-naher Gruppen auf. Vereinzelt nehmen sie an pro-palästinensischen Demonstrationen teil. 242 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Auslandsbezogener Extremismus "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) Gründung 1994 in Damaskus, Syrien Vorsitzende(r) Gruppe von Führungskadern Mitgliederzahl in 20 (2022: einzelne) Rheinland-Pfalz Publikationen "Halk Okulu" (wöchentlich), "Devrimci Sol" (unregelmäßig), und Medien "Bizim Genclik" (unregelmäßig) Ideologie, Die marxistisch-leninistisch ausgerichtete DHKP-C ("Devrimci Halk Programm, Kurtulus Partisi - Cephesi") verfolgt fortgesetzt die gewaltsame ZerStrategie schlagung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung in der Türkei und strebt die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus an. Nachdem die DHKP-C insbesondere zwischen 2012 und 2016 zahlreiche terroristische Anschläge in der Türkei verübt hat, blieben öffentlichkeitswirksame Anschläge seit 2018 weitgehend aus. Dies ist unter anderem durch die Festnahme wichtiger DHKP-C-Führungskader im November 2017 bedingt. Wenngleich die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der DHKP-C rückläufig sind, hält die DHKP-C bis heute grundsätzlich am bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat, dessen Vertreter und Einrichtungen fest. In Deutschland ist die DHKP-C seit 1998 verboten. Da sie aufgrund dieses Vereinsverbots nicht offen agieren kann, tritt sie unter Tarnbezeichnungen wie "Halk Cephesi" (Volksfront) oder "Halk Meclisi" (Volksrat) auf. Die Mitglieder konzentrieren sich vorwiegend auf finanzielle Unterstützungsleistungen sowie Propagandaaktivitäten. Sonstiges Die DHKP-C befindet sich seit 2002 auf der EU-Liste terroristischer Organisationen. 243 Linksextremistische palästinensische Organisationen Mitgliederzahl in Einzelmitglieder (2022: Einzelmitglieder) Rheinland-Pfalz Organisationen "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP), "Samidoun" Ideologie, Linksextremistische palästinensische Organisationen bestreiProgramm, ten das Existenzrecht Israels und propagieren den bewaffneten Strategie Kampf gegen Israel, den sie in der Nahostregion teilweise aktiv betreiben. Seit ihrer Gründung im Jahr 1967 zählt die PFLP zum Spektrum der terroristischen palästinensischen Organisationen. Sie verfolgt das Ziel eines palästinensischen Staates in den historischen Grenzen Palästinas vor Gründung des Staates Israel. Hierzu propagiert die PFLP den bewaffneten Kampf gegen Israel und unterhält einen eigenen militärischen Arm, die "Abu-Ali-Mustafa-Brigaden". In Deutschland ist die PFLP nicht terroristisch tätig. Mit circa 80 Anhängern und Mitgliedern versucht sie vor allem, politische Unterstützung für ihre Anliegen zu erlangen. Hierzu nutzt sie ihre Kontakte zu anderen pro-palästinensischen Gruppierungen, darunter auch aus dem Spektrum des deutschen Linksextremismus. In enger Verbindung zur PFLP steht die Gruppierung "Samidoun - Palestinian Solidarity Network" ("Samidoun - Palästinensisches Solidaritätsnetzwerk"). Sie wurde 2011 gegründet und hat ihren Hauptsitz in den USA. Das offizielle Ziel von "Samidoun" ist es, palästinensische Gefangene in ihrem Kampf um Freilassung aus zumeist israelischen Gefängnissen zu unterstützen. Die Gefangenen weisen in vielen Fällen Verbindungen zur PFLP auf. Im Ergebnis setzt sich "Samidoun" auch für Personen ein, die wegen Terroranschlägen gegen die israelische Zivilbevölkerung verurteilt wurden. 244 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Auslandsbezogener Extremismus Linksextremistische palästinensische Organisationen Ideologie, Die Vereinigung tritt vor allem propagandistisch in Erscheinung. Programm, Gemäß ihrem Verständnis unterliegt Palästina vom Fluss Jordan Strategie bis zum Mittelmeer einer israelischen Besatzung, die es zu bekämpfen gelte, auch mittels Gewaltanwendung. Der Schwerpunkt der Aktivitäten von "Samidoun" lag in den vergangenen Jahren in der Hauptstadt Berlin. Vereinzelt konnten Bezüge nach Rheinland-Pfalz festgestellt werden. Verbot Am 2. November 2023 erließ das Bundesministerium des Innern und für Heimat ein Betätigungsverbot gegen das internationale Netzwerk "Samidoun" in Deutschland sowie ein Vereinsverbot der gebietlichen Teilorganisation "Samidoun Deutschland". In Deutschland betätigt sich "Samidoun" auch unter der Bezeichnung "HIRAK - Palestinian Youth Mobilization Jugendbewegung (Germany)" und "Hirak e.V.". In der Verbotsverfügung wurde unter anderem festgehalten, dass sich "Samidoun" gegen den Gedanken der Völkerverständigung richte sowie die öffentliche Ordnung und sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährde. Sonstiges Die PFLP steht seit 2002 auf der Terrorliste der Europäischen Union. 245 SPIONA ABWEHR 246 UND CYB NAGE SPIONAGEABWEHR UND CYBERSICHERHEIT 1. Allgemeine Lage S. 248 2. Aufgaben der Spionageabwehr S. 249 2.1 Spionageabwehr S. 249 EHR 2.2 Proliferation S. 260 2.3 Wirtschaftsspionage und -sabotage S. 261 2.4 Angebote der Spionageprävention S. 263 2.5 Cyberangriffe, Datenspionage und -sabotage S. 264 2.6 Hybride Bedrohungen und Desinformation S. 267 CYBER 247 1. ALLGEMEINE LAGE Die Bedrohung der Bundesrepublik Deutschland durch Spionage, Einflussnahme und sonstige nachrichtendienstliche Aktivitäten fremder Staaten ist, angesichts des Krieges in der Ukraine, vor allem von Russland ausgehend als sehr hoch einzuschätzen. Auch Nachrichtendienste weiterer autoritär regierter Staaten versuchen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Militär anderer Länder umfassend auszuforschen. Zudem beobachten und bedrohen sie zum Teil Personen und Organisationen, die in Opposition zu ihren Regierungen stehen. Aufgrund der Ausweisung einer Vielzahl russischer Diplomaten aus Europa und der Schließung von Konsulaten ist von einer Änderung russischer Spionagestrategien auszugehen. Zu erwarten ist der verstärkte Aufbau verdeckt operierender Strukturen. Zudem dürfte Russland im geheimdienstlichen Bereich noch enger mit befreundeten Ländern kooperieren, mitunter zu Zwecken der Wirtschaftsspionage und der Proliferation. Auch aufgrund der durch die EU verhängten Sanktionen stehen wissenschaftlich-technologische Ressourcen der Bundesrepublik stärker im Fokus russischer Dienste, mit dem Ziel der Informationsgewinnung und des illegalen Gütertransfers. Neben dem Einsatz menschlicher Quellen zur Informationsgewinnung (Human Intelligence) setzen Nachrichtendienste fremder Staaten immer mehr auf die Sammlung elektronischer Daten, die offen zugänglich sind oder die sie durch Cyberattacken illegal beschaffen (Cyber Intelligence). Diese Angriffe werden zahlreicher, komplexer und professioneller. Mit den Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz können Cyberangriffe deutlich optimiert und leichter durchgeführt werden. 248 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit Um gesellschaftliche Gruppen zu beeinflussen, nutzen insbesondere die Nachrichtendienste Russlands und Chinas soziale Medien. Auch Deutschland ist von solchen Versuchen zunehmend betroffen, wie sich insbesondere im Russland-Ukraine-Krieg zeigt. Mittels gezielter Propaganda und Desinformationskampagnen werden Meldungen verbreitet, deren Ziel es ist, die Gesellschaft zu verunsichern und gesellschaftliche sowie politische Meinungsbildungsund Entscheidungsprozesse zum Schaden demokratischer Strukturen zu beeinflussen. 2. AUFGABEN DER SPIONAGEABWEHR 2.1 Spionageabwehr Die Spionageabwehr geht allen tatsächlichen Anhaltspunkten für sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten nach. Dabei steht der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz in einem kontinuierlichen Austausch mit den Nachrichtendiensten des Bundes und den Verfassungsschutzbehörden anderer Bundesländer. Ziel ist es, illegale Aktivitäten fremder Mächte aufzuklären und zu verhindern. Hauptträger der Spionageaktivitäten gegen die Bundesrepublik Deutschland sind die Russische Föderation, die Volksrepublik China und der Iran. Aber auch Nachrichtendienste anderer Staaten wie beispielsweise der Türkei sind in der Bundesrepublik aktiv. 249 Wichtige Nachrichtendienste Russlands SWR Ziviler Auslandsnachrichtendienst (Slushba Wneschnej Raswedki) # Spionage in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie; # Ausforschung westlicher Nachrichtendienste; # elektronische Fernmeldeaufklärung; # Proliferationsund Terrorismusbekämpfung; # rund 15.000 Mitarbeiter FSB Inlandsnachrichtendienst (Federalnaja Slushba Besopasnosti) # Spionageabwehr; # Oppositionsausspähung; # Bekämpfung von Extremismus, Terrorismus und Organisierter Kriminalität; # Sicherung der Staatsgrenzen; # rund 350.000 Mitarbeiter (inklusive Grenzschutztruppen) GRU Militärischer Auslandsnachrichtendienst (Glawnoje Raswedywatelnoje # Informationsbeschaffung in den Bereichen Uprawlemije) Militärund Sicherheitspolitik sowie militärisch nutzbare Technologien; # rund 12.000 Mitarbeiter 250 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit Grundsätzlich erfolgt die Steuerung nachrichtendienstlicher Operationen direkt aus Moskau oder Legalresidenturen in den diplomatischen Vertretungen. In Folge des Angriffs Russlands auf die Ukraine wurde europaweit eine hohe Anzahl russischer Diplomaten ausgewiesen, was die russischen Nachrichtendienste dazu zwingt, ihre Vorgehensweisen langfristig anzupassen. In Folge der Ausweisungen kann Russland seit Beginn des Jahres 2024 in Deutschland nur noch den Routinebetrieb der Botschaft in Berlin sowie des Generalkonsulates in Bonn aufrechterhalten. Seit Kriegsbeginn wurden umfängliche Finanzund Wirtschaftssanktionen gegen Russland beschlossen. Russische Netzwerke verwenden vermehrt konspirative Methoden, um die bestehenden Sanktionen zu umgehen. Beispielsweise wird versucht, Lieferungen über Drittländer abzuwickeln, die sich nicht an den Sanktionen beteiligen. Als vorrangige Aufklärungsfelder der russischen Dienste lassen sich weiterhin alle Politikfelder mit möglichen Auswirkungen auf Russland, insbesondere die Bündnisund Außenpolitik sowie die Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage benennen. Bereits seit Sommer 2022 bildet die Bundeswehr ukrainische Soldaten aus und für einen bedeutenden Teil der Materialsowie Rüstungslieferungen an die Ukraine dient Deutschland als Transitland. Mit der Ramstein Air Base befindet sich die zentrale europäische Drehscheibe für Frachtund Truppentransporte des US-Militärs in Rheinland-Pfalz. Doch auch weitere Militärstandorte im Land sind dauerhaft von militärischen Ausbildungsoder Logistikmaßnahmen betroffen und daher für russische Nachrichtendienste interessant. Darunter fallen auch die Artillerieschule in Idar-Oberstein, wo fortwährend ukrainische Soldaten an der Panzerhaubitze 2000 ausgebildet werden oder der Fliegerhorst Büchel, der derzeit für die Stationierung von F-35-Kampfflugzeugen umgebaut wird. In 2023 wurden bundesweit mehr als 400 Drohnensichtungen im Umfeld von militärischen Sicherheitsbereichen gemeldet. Es bleibt jedoch äußerst schwierig, diese Drohnenflüge tatsächlichen Spionageaktivitäten zuzuordnen. 251 Die Bestrebungen Russlands, die Meinungsbildung in Deutschland in seinem Sinne zu beeinflussen, dauern an. Durch russische staatliche oder halbstaatliche Medien, auf Videoplattformen und mittels Social Media wird einseitig über den Russland-Ukraine-Krieg berichtet. Der Angriff auf die Ukraine wird legitimiert und Russland als Opfer dargestellt. Eine besondere Rolle bei der Verbreitung von Desinformations-Narrativen kommt dem Messengerdienst Telegram zu. Zudem häufen sich Fälle sogenannter Deepfakes, deren Urheberschaft in Russland zu verorten ist. Mittels Künstlicher Intelligenz werden manipulierte Tonoder Videodateien geschaffen, um beispielsweise im Rahmen von Telefonoder Videoanrufen dem Gesprächspartner eine falsche Identität vorzuspielen. Chinesische Nachrichtendienste China interpretiert die globale Weltordnung auf eine Weise, die den Wettbewerb der Großmächte mit den USA in den Vordergrund stellt und andere globale Dynamiken vernachlässigt. Das Ziel Chinas ist es, seinen Einfluss in allen Bereichen zu stärken, sei es militärisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich, technologisch, normativ oder politisch-ideologisch. Gerade im Bereich des eigenen militärischen und technologischen Fortschrittes ist China weiterhin auf Wissen aus dem Ausland angewiesen. Die Schwerpunkte der chinesischen Nachrichtendienste werden stark durch den jeweiligen Fünfjahresplan der Volksrepublik China geprägt, der die Interessen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCH) spiegelt. Der Fokus liegt insbesondere auf politischen Entscheidungsprozessen sowie der Technologieund Wirtschaftsspionage. 252 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit Wie die China-Strategie der Bundesregierung feststellt, sind Deutschland und China mittlerweile gleichzeitig Partner, Wettbewerber und systemische Rivalen. Es gibt daher ein breites Nebenund Miteinander von offiziellen Kooperationen, Investitionen, aber auch Einflussnahme-, Desinformationsund Spionageaktivitäten. Etablierte chinesische Strategien wie Firmenübernahmen werden angesichts strengerer Kontrollmechanismen vermehrt durch Lizenzmodelle ersetzt, um spezialisiertes Know-how und sensible Technologien zu akquirieren. Deutschland und China verbindet eine langjährige Partnerschaft in Forschung und Bildung, doch China wird auch in diesem Kontext zunehmend zum Wettbewerber. Es ist zu erwarten, dass Aktivitäten zum Zwecke des Technologietransfers weiter ausgebaut und beispielsweise zivile Forschungskooperationen für militärische Zwecke genutzt werden. In Zusammenhang mit dem ungewollten Abfluss von Forschungsdaten ist 2023 vor allem das China Scholarship Council (CSC) aufgefallen, welches Stipendien an Chinesinnen und Chinesen im Ausland vergibt. Die Vergabebedingungen setzen dabei nicht nur eine loyale Einstellung gegenüber der Kommunistischen Partei Chinas (KPCH) voraus, sondern sehen auch regelmäßige Berichte an chinesische Stellen vor. Weitere Aufklärungsziele der chinesischen Nachrichtendienste sind die "Fünf Gifte": die Meditationsbewegung Falun Gong1 und deren Angehörige, die Mitglieder der Demokratiebewegung, die Befürworter der Eigenstaatlichkeit Taiwans sowie die nach Unabhängigkeit strebenden Volksgruppen der Uiguren und der Tibeter. Das Interesse gilt auch den Aktivitäten der in Deutschland lebenden Auslandsgemeinde. Chinas Nachrichtendienste sind hierbei mit umfassenden Befugnissen ausgestattet und unterliegen keinen rechtsstaatlichen Beschränkungen durch den chinesischen Staat. 1 Bei der Falun-Gong-Bewegung handelt es sich um eine ursprünglich unpolitische spirituelle Bewegung. Seit 1999 kritisiert sie allerdings öffentlich mit weltweiten Aktionen auch die chinesische Staatsführung. Seither sieht sie sich der Verfolgung durch chinesische Behörden ausgesetzt. 253 Die wichtigsten Nachrichtendienste der Volksrepublik China stellen das "Ministerium für Staatssicherheit" (MSS), das "Ministerium für öffentliche Sicherheit" (MÖS), das "Military Intelligence Directorate" (MID) und das "Büro 610" dar. Wichtige Nachrichtendienste der Volksrepublik China MSS Ziviler Inund Auslandsnachrichtendienst (Ministry of State Security/Ministerium # Spionage in den Bereichen Politik, für Staatssicherheit) Wirtschaft und Wissenschaft; # Spionageabwehr; # Oppositionsausspähung; # Bekämpfung von Gefahren für die öffentliche Ordnung; # weltweit größter ziviler Nachrichtendienst MÖS/MPS # Das "Polizeiministerium" kann auf die Poli(Ministerium für öfzei sowie auf eigene nachrichtendienstlifentliche Sicherheit/ che Spezialeinheiten zurückgreifen. Ministry of Public # Ausspähung von Staatsgefährdern; Security) # Zensur von Medien und Internet; # Militärische und nachrichtendienstliche Auslandsmissionen MID Militärischer Inund Auslandsnachrichten(Military Intelligence dienst Directorate) # Aufklärung insbesondere fremder Streitkräfte; # Entsendung von Militärattaches sowie Kontakt zu ausländischen Streitkräften Büro 610 Institution der KPCh Beobachtung und Verfolgung der Falun Gong-Bewegung im Inund Ausland 254 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit Chinesische Nachrichtendienste versuchen mittels Fake-Profilen auf SocialMedia-Plattformen hochrangige Mitarbeiter aus Politik und Verwaltung, Industrie, Militär sowie Forschung und Entwicklung zu kontaktieren und zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Die nahezu anonyme Kontaktaufnahme ermöglicht es, ohne hohen Aufwand und kostengünstig auch aus dem Ausland Verbindungen zu knüpfen. Darüber hinaus bemüht sich China, deutsche Entscheidungsträger als "Lobbyisten" für seine Interessen zu gewinnen. Chinesische Investitionen in Deutschland können wirtschaftliche Abhängigkeiten erzeugen, die bei Bedarf als Hebel für politische Zugeständnisse eingesetzt werden können. Als Beispiel hierzu dienen etwa Investitionen im Rahmen der "Belt and Road Initiative" (BRI). Diese ist Teil der außenpolitischen Neuorientierung Chinas und besteht aus zwei Großvorhaben. Einerseits werden große Investitionen in Infrastrukturprojekte auf dem Landweg getätigt, zum Beispiel in neue Straßen, Schienen oder Pipelines. Dieser Teil der BRI ist auch als "Neue Seidenstraße" bekannt. Andererseits sollen im Rahmen der sogenannten "maritimen Seidenstraße" auch Handelsrouten zur See erschlossen werden. Dafür werden neue Häfen gebaut oder in bereits bestehende wie den Hafen von Piräus (Griechenland) investiert. Die chinesische Staatsreederei Cosco hält seit Sommer 2023 knapp 25 Prozent der Anteile am Containerterminal Tollerort des Hamburger Hafens, das als kritische Infrastruktur eingestuft ist. Vor Reisen nach China müssen im digitalen Visumantrag ausführliche Angaben zur Person gemacht werden. Die örtlichen Sicherheitsbehörden filtern so Personen heraus, die ein für China interessantes Profil haben. Nach der Einreise erfolgen Überwachungsmaßnahmen oder Anwerbungsversuche. Insbesondere für regimekritische Reisende erhöht sich somit das Repressionsrisiko. Das Geheimdienstgesetz der Volksrepublik China sieht vor, dass alle Organisationen und Bürger der Volksrepublik China die Geheimdienstbehörden unterstützen und mit den Behörden kooperieren sollen. Den genannten Behörden wird die 255 Befugnis eingeräumt, Organe, Organisationen und Bürger um Unterstützung, Hilfe und Kooperation zu ersuchen. Somit können quasi alle Chinesinnen und Chinesen zur Zusammenarbeit mit chinesischen Sicherheitsbehörden verpflichtet werden. Auf diese Gefahr weist der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz im Rahmen der Spionageprävention beziehungsweise des Wirtschaftsund Wissenschaftsschutzes hin. Iranische Spionageaktivitäten in Deutschland Die Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran sind seit Jahren immer stärker in Europa und der Bundesrepublik Deutschland aktiv. Als wichtige Instrumente der politischen Führung agieren hier vor allem das iranische Nachrichtenministerium "Ministry of Intelligence" (MOIS) sowie die "Quds Force", eine nachrichtendienstlich agierende Spezialeinheit der Iranischen Revolutionsgarden. Eine Abteilung des MOIS sowie einzelne Regierungsmitarbeiter stehen auf der EU-Terrorliste. Die "Quds Force" wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Iranische Nachrichtendienste galten auch 2023 als Urheber diverser staatsterroristischer Operationen weltweit. Primäre Aufklärungsziele der iranischen Nachrichtendienste im Ausland sind politische und militärische Erkenntnisse sowie Informationen aus Wirtschaftsunternehmen und wissenschaftlichen Institutionen westlicher Staaten. Darüber hinaus gehört die gezielte Ausspähung oppositioneller Gruppierungen im Ausland sowie die Aufklärung israelischer beziehungsweise jüdischer Ziele, unter anderem in Deutschland, zu den Schwerpunktaufgaben iranischer Nachrichtendienste. Seit 2018 sind gegen 24 mutmaßliche iranische Agenten in Deutschland neun Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. 256 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit Seit dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel im Oktober 2023 und dem infolgedessen wieder aufgeflammten Nahostkonflikt offenbart der Iran wiederholt öffentlich seine antisemitische und israelfeindliche Haltung. Dies äußert sich unter anderem in der finanziellen und militärischen Unterstützung antiisraelischer Milizen und Gruppierungen. Der Iran hat sich mittlerweile neben Russland, China und Nordkorea als weiterer ernstzunehmender Akteur auf dem Feld der Cyberspionage etabliert. In den vergangenen Jahren wurden in verschiedenen westlichen Staaten verstärkte iranische Cyberangriffe auf diverse Ziele festgestellt. Hiervon waren unter anderem deutsche Universitäten betroffen. Darüber hinaus benutzten vermutlich iranische Behörden oder Nachrichtendienste den weit verbreiteten Instant Messenger Telegram dazu, Angehörige der iranischen Opposition im Ausland zu überwachen. Wichtige Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran MOIS Ziviler Inund Auslandsnachrichtendienst (Ministry of Intelligence of the Islamic # Beobachtung der Opposition im Inund Republic of Iran) Ausland; # Auslandsaufklärung mit Fokus auf Politik, Militär, Wirtschaft und Forschung Quds Force Militärische Spezialeinheit der Iranischen (Quds-Brigaden) Revolutionsgarden # Militärische und nachrichtendienstliche Auslandsmissionen; # Ausspähung israelischer und pro-jüdischer Ziele im Ausland 257 Türkische Nachrichtendienste Der türkische Nachrichtendienst "Milli Istihbarat Teskilati" (MIT) ist als größter von mehreren Nachrichtendiensten in der Türkei direkt dem Staatspräsidenten unterstellt2 und verfügt über weitreichende Exekutivbefugnisse. Die Bundesrepublik Deutschland ist für den MIT von großem Interesse. Die Türkeistämmigen bilden die größte Diasporagemeinde in Deutschland und in Rheinland-Pfalz. Ein erhebliches nachrichtendienstliches Interesse besteht an Organisationen in Deutschland, die in der Türkei als extremistisch oder terroristisch definiert werden, sowie an Vereinigungen und Einzelpersonen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher Opposition zur gegenwärtigen türkischen Regierung stehen. Die Türkei fordert in der Diaspora lebende und heimatverbundene Migranten auf, "Staatsfeinde" zu melden. Denunziationen, Ausspähungen und Bespitzelungen zugunsten des MIT haben seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 deutlich zugenommen - auch in Rheinland-Pfalz. Verschiedene Zuträger melden Oppositionelle an die konsularischen Vertretungen der Türkei, in denen der MIT Legalresidenturen unterhält. Vordergründige Aufklärungsziele des MIT stellen die in Deutschland verbotene "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) und die Anhängerschaft des islamischen Predigers Fethullah Gülen dar. Vor dem Hintergrund der türkischen Parlamentsund Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 versuchte die Türkei, gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse in Deutschland in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dazu waren bundesweit 2 Im Juni 2023 ernannte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seinen langjährigen Berater Ibrahim Kalin zum Chef des MIT. 258 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit verschiedene türkische Vereinigungen aktiv, häufig auch Führungspersonen türkischer Organisationen, die eng an türkische Staatsstrukturen angeschlossen sind, um Einfluss auf die hier lebenden Staatsbürger auszuüben. Als bedeutendste Organisation ist die "Union of International Democrats" (UID) zu nennen, welche aufgrund personeller und struktureller Verflechtungen mit der türkischen Regierung als Vorfeldund Lobbyorganisation der AKP anzusehen ist. Nachrichtendienst der Türkei MIT Inund Auslandsnachrichtendienst (Milli Istihbarat Teskilati) # Oppositionsausspähung; # Weitere Aufklärungsziele sind vor allem wirtschaftliche, politische, militärische und technologische Themen. # 8.000 bis 9.000 hauptamtliche Mitarbeiter Nachrichtendienste anderer Staaten Auch andere Staaten als die genannten entfalten in unterschiedlicher Intensität auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland nach deutschem Recht gesetzeswidrige geheimdienstliche Bestrebungen, die von Spionage im "klassischen" Sinn bis zur Ausspähung Oppositioneller reichen. Insbesondere die Geheimdienste der Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika haben ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland forciert. Als Versuch der Rechtfertigung bagatellisieren die Dienste ihre illegalen Methoden als "Beitrag zur internationalen Terrorismusbekämpfung". 259 2.2 Proliferation Ein wichtiger Aufgabenbereich des Verfassungsschutzes ist die Aufklärung und Verhinderung der Versuche sogenannter kritischer Staaten3, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen und der benötigten Trägertechnologie sowie des entsprechenden Know-hows zu gelangen. Da sie zur eigenen Entwicklung und Herstellung häufig nicht in der Lage sind, versuchen diese Staaten sich notwendiges Wissen, Produkte und Güter auch mit geheimdienstlichen Methoden illegal zu beschaffen. Entsprechende Beschaffungsversuche unternimmt seit Jahren vor allem die Islamische Republik Iran. Die seit Februar 2022 infolge des Russland-Ukraine-Krieges erlassenen Sanktionen gegen die Russische Föderation erweitern die bereits seit 2014 bestehenden Sanktionen unter anderem durch ein Waffenembargo und weitere Handelsbeschränkungen. Es liegen vermehrt Hinweise auf proliferationsrelevante Beschaffungsversuche in Deutschland vor - unter Umgehung der Sanktionen und Verschleierung der tatsächlichen Endverwender. 3 Kritische Staaten sind vor allem proliferationsrelevante Länder. Von ihnen wird befürchtet, dass sie atomare, biologische und chemische Waffen in einem Krieg einsetzen oder deren Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele androhen. 260 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit 2.3 Wirtschaftsspionage und -sabotage Wirtschaftsspionage4 erfolgt im Auftrag fremder Staaten. Sie hat das Ziel, Forschungsund Entwicklungskosten einzusparen, bestehende Rückstände eigener Entwicklungen aufzuholen und dadurch die Zeitspanne bis zur Produktion marktreifer Produkte drastisch zu verkürzen. Negative Folgen zu Lasten der Opfer von Wirtschaftsspionage können der Abfluss von Know-how, bedeutende finanzielle Einbußen und der Wegfall von Arbeitsplätzen sein. Für Staaten mit einer konkurrenzund zukunftsfähigen Wirtschaft liegt der Ausforschungsfokus eher auf wirtschaftspolitischen Strategien und sozioökonomischen Trends, als auf den Forschungsund Entwicklungsergebnissen selbst. Hochund Schlüsseltechnologien, die für die Konkurrenzfähigkeit der heimischen Volkswirtschaften und bei der Erschließung von zukunftsträchtigen Märkten von Bedeutung sein können, stehen im Zentrum des nachrichtendienstlichen Interesses. Der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz informiert regelmäßig über diese Gefahr und leitet relevante Informationen über die Mitglieder der Sicherheitspartnerschaft an Wirtschaft und Wissenschaftseinrichtungen weiter. Hier ansässige innovative Unternehmen und weltweit anerkannte Wissenschaftsund Forschungsleistungen können potenzielle Ausspähziele fremder Nachrichtendienste sein. Gefährdet sind dabei nicht nur Weltfirmen, sondern auch kleine und mittelständige Betriebe sowie Hochschulen und andere Forschungseinrichtungen. 4 Unter Wirtschaftsspionage versteht man die staatlich gelenkte oder gestützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen und Betrieben. 261 Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine Anfang 2022 und den daraufhin verhängten westlichen Sanktionen gegen die Russische Föderation wird sehr konkret mit Sabotage gegen die Wirtschaft und die Infrastruktur gerechnet. Insbesondere der Energiesektor ist in hohem Maße durch staatlich gesteuerte Sabotagehandlungen bedroht. Insbesondere die Nachrichtendienste Russlands und Chinas sind seit je her für ihre aggressive Wirtschaftsspionage bekannt. Hinzu kommt, dass beide Nationen mit verschieden Embargos seitens anderer Industrienationen oder Bündnisse belegt wurden. Russische Aktivitäten Die westlichen Sanktionen, die teils drastische Wirtschaftsund Handelsbeschränkungen umfassen, wirken sich auf die Leistungsfähigkeit der russischen Wirtschaft aus, so dass mit einer weiteren Zunahme der russischen Wirtschaftsspionageaktivitäten zu rechnen ist. Beschäftigte in relevanten Forschungsoder Wirtschaftssektoren können zum Ziel russischer Ansprache-, Bedrohungsund Erpressungsversuche werden. Über die Mitglieder der Sicherheitspartnerschaft werden deshalb aktuelle Informationen wie etwa zu Bedrohungslagen, zum Schutz vor Innentätern und zur Sicherheit auf Auslandsreisen geteilt. Chinesische Aktivitäten Die engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China bieten Möglichkeiten zur Wirtschaftsspionage, beispielsweise über deutsche Firmenniederlassungen in China. Oft treten auch Staatsunternehmen als Akteure auf. Sie bieten deutschen Unternehmen Joint Ventures an, um einen Marktzugang in China zu ermöglichen. Mit Ver262 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit handlungsbeginn finden Cyberattacken auf das Firmennetzwerk statt. Es folgen Delegationsbesuche, Einladungen nach China, Abschlussverhandlungen und Vertragsunterzeichnung. Die Operation kann seitens des chinesischen Partners auf die Zulieferer des deutschen Unternehmens ausgeweitet werden und endet schlimmstenfalls mit einer vollständigen Indigenisierung5. Eine weitere Gefahr des Wissensabflusses nach China kann von chinesischen Studierenden sowie Forschenden an deutschen Universitäten, Forschungsinstituten und in Unternehmen ausgehen. Deren Aufenthalte werden teilweise von der Volksrepublik China finanziert, wodurch entsprechende Pflichten gegenüber dem Heimatland erwachsen. Auch hierzu bietet der Verfassungsschutz Sensibilisierungsund Beratungsgespräche an. 2.4 Angebote der Spionageprävention Die veränderte Sicherheitslage erfordert auch neue Präventionsansätze. Auf Grundlage der Erfahrungen aus dem Wirtschaftsschutz hat der Verfassungsschutz sein Beratungsspektrum auf die Spionageprävention erweitert. Sie richtet sich nicht nur an Wirtschaftsunternehmen, sondern auch an Einrichtungen der Wissenschaft, des Staates und der Verwaltung. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Betreibern der kritischen Infrastruktur. Der Verfassungsschutz informiert, sensibilisiert und berät hinsichtlich der Gefahren von Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage. Das beinhaltet die Aufklärung über mögliche Methoden und Ziele von Spionageund Sabotagehandlungen. Anhand aktueller Beispiele werden Angriffsmodi illustriert und Vorschläge für probate Schutzmaßnahmen unterbreitet. Auch die Gefahren von Desinformation und Einflussnahme werden thematisiert. 5 Aufkauf der Firmen und Produktionsstätten, Verlagerung nach China. 263 2.5 Cyberangriffe, Datenspionage und -sabotage Fremde Nachrichtendienste nutzen Cyberangriffe zur Spionage, Manipulation und Sabotage. Ihre Ziele können Regierungsorganisationen, das Militär, die Wirtschaft, Wissenschaft und kritische Infrastrukturen sein. Selbst im Bereich von Cybercrime sind mutmaßlich nachrichtendienstlich gesteuerte Hackergruppen aktiv. Hacker verschaffen sich mit verschiedensten Methoden Zugriff auf IT-Systeme, indem sie Sicherheitsbarrieren von Computersystemen umgehen beziehungsweise überwinden. Die Angreifer nutzen dabei insbesondere Schadsoftware und Sicherheitslücken in der vom Ziel-System genutzten Software. Insbesondere mit Künstlicher Intelligenz lassen sich Angriffsprogramme generieren und Schäden in erheblichem Umfang verursachen. Russland und China waren auch im Jahr 2023 die Hauptakteure im Bereich der Cyberangriffe. Potenzielle Angriffsziele wurden durch den Verfassungsschutz regelmäßig sensibilisiert und über Präventionsmaßnahmen informiert. Eine wichtige Rolle übernahm dabei das Netzwerk der Sicherheitspartnerschaft. Umfängliche Informationen zum Schutz vor Cyberspionage und -sabotage werden auf der Homepage cyberschutz.rlp.de bereitgestellt. Der Verfassungsschutz steht für Vorträge und Beratungsgespräche zur Verfügung. Ghostwriter Seit Januar 2021 ist diese Russland zugeschriebene Gruppierung in Deutschland aktiv. Bei ihr konnte von den Sicherheitsbehörden erstmalig die gleichzeitige Durchführung von Desinformation und Spionage durch einen mutmaßlich staatlich gesteuerten Cyberakteur entlarvt werden. GHOSTWRITER verbreitet vor allem gefälschtes Material wie angebliche Pressemitteilungen von offiziellen Stellen, ebensolche Korrespondenz von Regierungsstellen oder frei erfundene Zitate von politischen Amtsträgerinnen und -trägern. Die Falschnachrichten werden zum einen über Blogs, Nachrichtenportale und sogenannte Spear264 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit Phishing-Attacken via E-Mail in Umlauf gebracht. Zum anderen kompromittiert GHOSTWRITER aber auch seriöse Nachrichtenseiten und Social-Media-Accounts von Journalistinnen und Journalisten sowie Politikerinnen und Politikern, um darüber Falschnachrichten zu verbreiten ("Hack and Publish"). Den Sicherheitsbehörden lagen auch in 2023 Hinweise darüber vor, dass staatlich gelenkte Cyberangriffe und gezielte Desinformationskampagnen erfolgt sind und weiter zunehmen werden. Auch Personen aus Rheinland-Pfalz waren hiervon betroffen. Cosy Bear, Fancy Bear, Snake Mit diesen Namen werden russische Angreifergruppierungen bezeichnet, die seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges insbesondere gegen die Ukraine sowie europäische Regierungsinstitutionen, Militäreinrichtungen und diplomatische Vertretungen aktiv sind. Immer wieder richten sich Überlastungsangriffe (sogenannte DDoS-Angriffe) gegen die Websites deutscher Flughäfen, Banken und Behörden. Der Zusammenhang von solchen Angriffen nach pro-ukrainischen Politikentscheidungen der Bundesregierung ist offenkundig. Prominent war dies im Frühjahr 2023 der Fall, als die Lieferung von Leopard-Panzern in die Ukraine beschlossen wurde. Durch Cybersabotage besonders gefährdet sind KRITIS Einrichtungen in Deutschland und Rheinland-Pfalz. Russland zielt im Cyberraum darauf ab, deren IT-Infrastrukturen zu Sabotagezwecken lahmzulegen. Von diesen Angriffen sind derzeit vorrangig Einrichtungen der kritischen Infrastruktur in der Ukraine betroffen. Es muss jedoch damit gerechnet werden, dass auch Ziele auf dem Gebiet der EU verstärkt in den Fokus der Angreifer rücken. Die russischen Dienste verfügen über entsprechendes Know-how und die erforderlichen Kapazitäten. 265 Der Verfassungsschutz warnt insbesondere die KRITIS-Einrichtungen in Rheinland-Pfalz vor der Gefahr der Cybersabotage, damit diese ihre IT auf höchstem Niveau absichern. Besonders gefährdet sind die Branchen Elektrizität, Telekommunikation und Logistik. Brechen diese Systeme zusammen, funktionieren auch alle anderen Strukturen wie Gesundheit, Ernährung etc. nicht mehr. China Auch die chinesischen Nachrichtendienste sind im Cyberraum aktiv. Die chinesische Cyberstrategie soll einen wichtigen Beitrag zu den industrieund geopolitischen Zielen des Landes leisten, denn China ist auf Wissen aus dem Ausland angewiesen, um die eigene Position zu stärken. Wirtschaftsund Wissensspionage sind daher wichtige Quellen für die Marktentwicklung Chinas. Die Cyberspionageangriffe richten sich gegen Unternehmen, wissenschaftliche Einrichtungen, Behörden und Privatpersonen sowie gegen politische Institutionen. Sie dienen der Wirtschaftsspionage (zum Beispiel in den Bereichen der Hochtechnologie, der Biomedizin und der Rüstung), aber auch der Ausspähung von sensiblen Informationen zu politischen Entscheidungsprozessen. Nicht nur der Hackerangriff von außen, sondern auch Innentäter sind eine Gefahr für ungewollten Wissensabfluss. 266 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit 2.6 Hybride Bedrohungen und Desinformation Die Hauptziele hybrider Bedrohungen sind die nachhaltige Störung des gesellschaftlichen Gefüges und die Beeinflussung demokratischer Entscheidungsprozesse sowie der politischen Willensbildung. Um die Wirksamkeit der entsprechenden Maßnahmen nicht zu gefährden, wird die staatliche Urheberschaft beziehungsweise die Identität des Auftraggebers gezielt verschleiert. Spionage-, Sabotage-, Proliferationsund Cyberaktivitäten sind allesamt mögliche Ausprägungen hybrider Bedrohungen. Erst wenn mehrere dieser Einzelmaßnahmen koordiniert eingesetzt werden, spricht man von einer hybriden Bedrohung. Diese Aufzählung kann beinahe beliebig fortgesetzt werden. Auch Investitionen und damit das Herstellen und Ausnutzen wirtschaftlicher Abhängigkeiten sind ein bewährtes Mittel fremder Staaten, wie das Beispiel China zeigt. Schließlich werden Kooperationen unter dem Deckmantel des kulturellen Austauschs für eine tendenziöse Selbstdarstellung und die Beeinflussung von Institutionen und Personen der Partnerländer genutzt. Insgesamt hat die Konzentration hybrider Bedrohungen seit dem RusslandUkraine-Krieg stark zugenommen. Cyberangriffe, Spionage und Desinformationskampagnen flankieren die Kriegshandlungen und formieren sich in ihrer Gesamtheit zu einer hybriden Bedrohung für Deutschland und Rheinland-Pfalz. Desinformationskampagnen sind für Russland ein wichtiges Werkzeug der hybriden Kriegsführung. Sie sollen nicht nur kurzfristig Schaden anrichten, sondern mittelfristig Gesellschaften destabilisieren und die öffentliche Meinung in einem Staat beeinflussen. Seit Februar 2022 nehmen inund ausländische Akteure die Kriegshandlungen in der Ukraine zum Anlass für Desinformationskampagnen. Neben Messengerdiensten wie Telegram werden Internetforen, Videound Informationsportale für 267 eine gezielte Beeinflussung des öffentlichen Diskurses genutzt. Russland wird regelmäßig als Opfer dargestellt und zugleich die Ukraine als "Erfüllungsgehilfe" der NATO und der USA diffamiert. Die in aller Regel tendenziöse, verkürzende und verfälschte Berichterstattung bedient einschlägige pro-russische Narrative und Verschwörungstheorien. Offenkundig wird damit versucht, durch zielgruppenspezifisch zugeschnittene Falschinformationen die Politik der Bundesregierung zu diskreditieren. Weitere Akteure benutzen das Internet, um die Auftritte von Behörden, Einrichtungen sowie Wirtschaftsunternehmen täuschend echt nachzustellen. Mit beinahe identischen Internet-Adressen und falschen Inhalten versehen, dienen diese dem Anschein nach authentischen Seiten der Initiierung betrügerischer Handlungen oder der Meinungsmanipulation. Desinformation im Nahostkonflikt Eine neue Qualität der Desinformation kann im Zuge der Eskalation des Nahostkonflikts zwischen der Hamas und Israel verfolgt werden. Diese wird von einer Flut an Informationen begleitet, deren Ursprung und Authentizität sich häufig nur schwer ergründen lassen. Neben geläufigen Taktiken wie gestellten beziehungsweise manipulierten Szenen oder aus dem Zusammenhang gerissenen Bildern und Videos werden in einem bislang nicht gekannten Ausmaß neue Methoden der Desinformation verwendet. Dies ist vor allem auf KI-basierte Generatoren zurückzuführen. Sie vervielfachen und vereinfachen gleichzeitig die Möglichkeiten zur Erstellung hochwertigen Bild-, Videound Audiomaterials. Bei der Verbreitung dieser Inhalte über mehrere Nutzer in diversen sozialen Netzwerken geht häufig jedweder Bezug zum Ursprung verloren. 268 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Spionageabwehr und Cybersicherheit In vielen Fällen zielen die KI-generierten Inhalte des Hamas-Israel-Konfliktes darauf ab, bei den Betrachtern starke Emotionen wie Mitleid oder Empörung hervorzurufen oder an ihre patriotischen Gefühle zu appellieren - auch bei den Angehörigen der in Deutschland lebenden Communities. Hierfür können beispielsweise das Leid unschuldiger Zivilisten auf drastische Weise inszeniert oder die militärische Stärke einer der beiden Parteien besonders eindrucksvoll präsentiert werden. Bei genauerer Betrachtung offenbaren die Bilder einer KI derzeit häufig noch kleinere Fehler wie deformierte Körperteile, überschüssige oder fehlende Finger und Zehen Vater mit fünf Kindern inmitten von Trümmern. sowie künstlich wirkende Anordnungen Typische KI-Artefakte sind die miteinander verschmolzenen Hände vor dem Hals des Vaters und Strukturen. Aufgrund des technischen und überschüssige oder fehlende Finger und Fortschritts und der meist eher schlechten Zehen. Quelle: X Bildqualität wird eine Verifizierung oder Falsifizierung jedoch auch für professionelle Fakten-Checker zunehmend schwierig. Die auf KI-Inhalte spezialisierten Detektionstools stecken derzeit "noch in den Kinderschuhen". Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Zweifel an der Echtheit von Inhalten bisweilen so weit geht, dass selbst Originalaufnahmen in Frage gestellt werden und die Verunsicherung über im Internet und den sozialen Netzwerken verbreitete Meldungen wächst. Immer wieder wird diese Verunsicherung bewusst ausgenutzt und politisch instrumentalisiert. Ob Informationen von Kriegsschauplätzen als authentisch betrachtet werden, kann so trotz einer immer stärker vernetzten Welt zu einer Frage der Deutungshoheit werden. 269 GEHEIM SABOT 270 SCHUTZ IM UND GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ, MITWIRKUNGSAUFGABEN 1. Geheimund Sabotageschutz S. 272 2. Mitwirkungsaufgaben S. 274 TAGE UTZ, MIT 271 1. GEHEIM UND SABOTAGE SCHUTZ Sicherheitsrelevante staatliche Informationen und Institutionen müssen vor dem Zugriff von Angreifern, beispielsweise fremden Nachrichtendiensten oder terroristischen Vereinigungen, besonders geschützt werden, da sie zur Funktionsfähigkeit der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland und zur Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung beitragen. Sie unterliegen daher einer gesetzlichen Geheimhaltung, die durch verschiedene Geheimhaltungsgrade dokumentiert wird. Diese hängen von der Bedeutung der Informationen und der potenziellen Gefahr ab, die ihr Bekanntwerden zur Folge hätte. Besonders wichtig sind deshalb Informationen über lebensoder verteidigungswichtige Einrichtungen, die auch als sicherheitssensible Infrastruktur bezeichnet werden. Der Schutz dieser Informationen soll das Risiko von Sabotage durch sogenannte "Innentäter" minimieren. Ein wichtiges Instrument des Geheimund Sabotageschutzes ist die Sicherheitsüberprüfung, die im Landessicherheitsüberprüfungsgesetz (LSÜG) geregelt ist. Der Einstufungsgrad schützenswerter Informationen (Verschlusssachen), zu denen eine Person Zugang erhalten soll, entscheidet über die Überprüfungstiefe. In den Landesund Kommunalbehörden verantworten Geheimund Sabotageschutzbeauftragte die Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen. Der Verfassungsschutz wirkt daran maßgeblich mit und überprüft Personen, die von einer öffentlichen Stelle mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen oder bereits betraut worden sind (Wiederholungsüberprüfung), hinsicht272 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Geheimund Sabotageschutz INFORMATION Was ist das Landessicherheitsüberprüfungsgesetz (LSÜG)? Das Landessicherheitsüberprüfungsgesetz (LSÜG) ist die rechtliche Grundlage, nach der die Zuverlässigkeit der Personen, die mit geheimhaltungsbedürftigen Informationen arbeiten, überprüft werden muss. Vorgaben für die Schutzmaßnahmen für die materielle und digitale Sicherung der Informationen, die von den Behörden eingehalten werden müssen, befinden sich in der Verschlusssachenanweisung des Landes (VSA). lich bekannter oder potenzieller Sicherheitsrisiken. Jede Überprüfung umfasst eine bundesweite Abfrage und Speicherung im nachrichtendienstlichen Informationssystem der Verfassungsschutzbehörden (NADIS) sowie Abfragen in Datenbanken anderer Sicherheitsbehörden wie zum Beispiel der Polizei. Für den Zugang zu besonders sensiblen Bereichen umfasst die Sicherheitsüberprüfung unter anderem die Befragung von sogenannten Referenzpersonen, die Auskunft über die zu prüfende Person geben. Auch die regelmäßige Information und ausführliche fachliche Beratung der Geheimund Sabotageschutzbeauftragten von Landesbehörden und Kommunen durch den Verfassungsschutz ist Bestandteil des Geheimschutzes. Das Ziel sind möglichst gleichwertige Sicherheitsstandards und eine Steigerung der Sensibilität im Umgang mit Verschlusssachen. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind beim Geheimschutz die Standards erhöht worden. 273 2. MITWIRKUNGSAUFGABEN Zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Mitwirkungsanfragen 2023 sowie der Sicherheit des BunWaffengesetz 27.622 des und der Länder überprüft der Verfassungsschutz unter Bewachungsverordnung 1.205 anderem Personen, die in staatLuftsicherheitsgesetz 2.350 lichen Bereichen eingesetzt werden oder Aufenthaltsrechte Sprengstoffgesetz 645 in Deutschland erhalten sollen. Atomgesetz 148 Im Rahmen von ZuverläsEinbürgerung 12.515 sigkeitsüberprüfungen wird überprüft, ob zu Personen Aufenthaltstitel 43.965 sicherheitsrelevante nachrichSicherheitsüberprüfungen 441 tendienstliche Erkenntnisse vorliegen, die Zweifel an der Gesamt 88.891 Eignung für eine bestimmte Aufgabe, eine Erlaubnis, die Erstellung eines Visums, einen Aufenthaltstitel oder eine Einbürgerung begründen könnten. Diese Anfragen werden auf der Grundlage von Fachgesetzen von den zuständigen Behörden vor der Erteilung einer Genehmigung oder Zulassung beim Verfassungsschutz gestellt. Die anfragende Behörde bewertet die Zuverlässigkeit einer Person nach dem Ergebnis der Überprüfung. 274 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Geheimund Sabotageschutz Überprüfungen dieser Art werden zu großen Teilen automatisiert durchgeführt. Die gesetzliche Nachberichtspflicht gewährleistet, dass auch im Nachhinein erlangte Erkenntnisse unverzüglich der zuständigen Behörde mitgeteilt werden. Im Jahr 2023 wurden 88.891 Mitwirkungsanfragen beim Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz gestellt. Das sind rund 10.000 mehr als im Jahr zuvor. Zurückzuführen ist dieser deutliche Anstieg fast ausschließlich auf die gestiegene Zahl von Überprüfungen im Zusammenhang mit Aufenthaltstiteln. Eine tatsächliche sicherheitsbezogene Relevanz resultierte aus weniger als einem Prozent der Anfragen. Bereiche mit gesetzlich vorgeschriebener Zuverlässigkeitsüberprüfung Der Verfassungsschutz wird von den zuständigen Stadtund Kreisverwaltungen bei allen Einbürgerungsund Aufenthaltsentscheidungen beteiligt. Der Verfassungsschutz wird eingebunden, weil das Staatsangehörigkeitsgesetz das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Voraussetzung für die Einbürgerung vorsieht. Er überprüft daher, ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Person, die eingebürgert werden möchte, Bestrebungen gegen Deutschland, seine Verfassungsorgane oder deren Repräsentantinnen und Repräsentanten verfolgt. 275 Im Hinblick auf Aufenthaltstitel wie Aufenthaltsund Niederlassungserlaubnisse enthält das Aufenthaltsgesetz vergleichbare Regelungen, aus denen sich Mitwirkungsaufgaben des Verfassungsschutzes ergeben. Eine Ausweisung soll dem Gesetzgeber zufolge insbesondere dann erfolgen, wenn die betreffende Person die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Im Bewachungsgewerbe soll sichergestellt werden, dass extremistische Personen nicht als Bewacher oder Inhaber von Sicherheitsdiensten tätig sind. Die Gewerbeordnung verlangt deshalb die Überprüfung dieser Personen durch den Verfassungsschutz, bevor sie die Tätigkeit aufnehmen. Um Großveranstaltungen, zum Beispiel große Sportoder Musikevents vor extremistischen Anschlägen zu schützen, werden spezielle Akkreditierungsverfahren durchgeführt, an denen der Verfassungsschutz in Form von Abfragen beziehungsweise Überprüfungen beteiligt ist. In Rheinland-Pfalz basieren diese auf dem Polizeiund Ordnungsbehördengesetz. Nicht zuletzt infolge des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke Anfang Juni 2019 wurde die Abfrage beim Verfassungsschutz 2020 in das Waffengesetz aufgenommen. Die kommunalen Waffenbehörden fragen zu Personen an, die eine waffenrechtliche Erlaubnis beantragen oder verlängern wollen. Der zivile Luftverkehr steht im besonderen Sicherheitsinteresse, um Gefährdungen gar nicht erst entstehen zu lassen und Anschläge sowie die damit verbundenen Folgen zu verhindern. Überprüft werden Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit Zugang zu Einrichtungen und Abläufen sowie Einfluss 276 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen | Geheimund Sabotageschutz auf die Sicherheit des Luftverkehrs haben. International und national wird den Schutzmaßnahmen gegen sogenannte "Innentäter" daher eine hohe Bedeutung beigemessen. Nach Maßgabe des Luftsicherheitsgesetzes veranlasst der Landesbetrieb Mobilität (LBM) als zuständige Luftsicherheitsbehörde in Rheinland-Pfalz Überprüfungen personenbezogener Daten beim Verfassungsschutz. Um die Entwendung oder Freisetzung von radioaktiven Stoffen zu Anschlagszwecken durch Beschäftigte zu verhindern, überprüft der Verfassungsschutz Personen, die bei der Einrichtung, dem Betrieb, im Umgang und bei der Beförderung von radioaktivem Material eingesetzt werden. Die Überprüfung leitet die für Strahlenschutz zuständige Genehmigungsund Aufsichtsbehörde auf der Grundlage des Atomgesetzes ein. Eine Überprüfung nach dem Sprengstoffgesetz findet durch den Verfassungsschutz statt, wenn Personen gewerbsmäßig mit explosionsgefährlichen Stoffen umgehen oder diese transportieren. Zuständige Behörden für die Einleitung der Überprüfung sind in Rheinland-Pfalz die Aufsichtsund Dienstleistungsdirektion (ADD), das Landesamt für Geologie und Bergbau sowie die Ordnungsämter der Stadtund Kreisverwaltungen. 277 D. ANHANG 278 Verfassungsschutzbericht 2023 G D. ANHANG 279 1. POLITISCH MOTIVIERTE KRIMINALITÄT (PMK) Die folgenden Zahlen der Strafund Gewalttaten sind nach dem von der Innenministerkonferenz beschlossenen polizeilichen Definitionssystem "Politisch motivierte Kriminalität" (PMK) erfasst worden. Nach diesem System steht die politische Motivation, die die Tat auslöst, im Vordergrund. Es umfasst damit sowohl Taten mit erkennbar extremistischem Hintergrund als auch politisch motivierte Delikte, bei denen sich kein extremistischer Hintergrund feststellen lässt. Die Gesamtzahl der polizeilich registrierten PMK-Straftaten stieg 2023 von 1.672 (2022) um 337 Fälle (plus 20 Prozent) auf 2.009. Die Zahl der Straftaten, die keinem Bereich zuzuordnen sind, sank 2023 um etwa 35 Prozent auf 423 Delikte (2022: 653). Die Zahl der PMK-Gewaltdelikte lag mit 111 im Berichtsjahr nur geringfügig unter dem Wert von 2022 (113). 280 D. Anhang Politisch motivierte Kriminalität -rechtsIm Bereich PMK -rechtsnahm die Zahl der registrierten Straftaten 2023 mit 1.245 Delikten gegenüber 740 in 2022 deutlich zu. Von den 1.245 registrierten Straftaten waren 587 (47 Prozent) sogenannte Propagandadelikte nach SSSS 86 und 86a Strafgesetzbuch (StGB), die die Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen sowie das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen unter Strafe stellen (2022: 387, 52 Prozent). Die Zahl der in den Straftaten enthaltenen Gewalttaten (ohne Sachbeschädigungen) stieg 2023 um rund 41 Prozent auf 69 Delikte, darunter 63 Körperverletzungen (2022: 49, darunter 48 Körperverletzungen). Politisch motivierte Kriminalität -rechtsin Rheinland-Pfalz 2019 - 2023 1.400 1.000 800 600 400 200 0 2019 2020 2021 2022 2023 Gewalttaten PMK -rechtsStraftaten PMK -rechts281 Politisch motivierte Kriminalität -linksIm Bereich der PMK -linksstieg die Zahl der registrierten Straftaten 2023 um etwa 62 Prozent von 79 im Jahr 2022 auf 128. Die Zahl der in den Straftaten enthaltenen Gewalttaten (ohne Sachbeschädigungen) sank 2023 auf zwei Delikte (2022: acht). Politisch motivierte Kriminalität -ausländische IdeologieIm Bereich der politisch motivierten Kriminalität -ausländische Ideologiesank die Zahl der Straftaten 2023 auf 174 Delikte (2022: 193). Die Zahl der in den Straftaten enthaltenen Gewalttaten (ohne Sachbeschädigungen) sank 2023 auf acht Delikte (2022: 28). Politisch motivierte Kriminalität -religiöse IdeologieIm Bereich der politisch motivierten Kriminalität -religiöse Ideologiestieg die Zahl der Straftaten 2023 auf 39 Delikte (2022: sieben). Die Zahl der in den Straftaten enthaltenen Gewalttaten (ohne Sachbeschädigungen) lag 2023 bei zwei Delikten (2022: eins). 282 D. Anhang Antisemitische Straftaten Die antisemitischen Straftaten nahmen 2023 stark zu, und zwar von 46 Delikten im Jahr 2022 auf 171 Delikte. Die weitaus überwiegende Zahl ist dem Phänomenbereich PMK -rechtszuzuordnen (106 Straftaten beziehungsweise 62 Prozent). 42 antisemitische Straftaten können dem Phänomenbereich PMK -ausländische Ideologiezugerechnet werden, 13 sind dem Bereich -religiöse Ideologiezuzuordnen. Antisemitische Straftaten in Rheinland-Pfalz 2019 - 2023 200 150 100 50 0 2019 2020 2021 2022 2023 Antisemitische Straftaten 283 Straftaten gegen Amtsund Mandatsträger Die Zahl der Straftaten gegen Amtsund Mandatsträger in Rheinland-Pfalz stieg im Jahr 2023 auf 103 Delikte (2022: 54). Die Mehrzahl der Taten (56) kann keinem Phänomenbereich zugeordnet werden (2022: 43). Drei Taten fallen in den Phänomenbereich -rechts-, 40 Taten in den Phänomenbereich -linksund vier Straftaten in den Bereich -ausländische Ideologie-. In zwei Fällen handelte es sich um Gewalttaten, welche sich keinem Phänomenbereich zuordnen ließen. 2. REGISTER Das Register enthält die Bezeichnungen der im rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzbericht 2023 genannten Gruppierungen, bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass diese verfassungsfeindliche Ziele verfolgen oder verfolgt haben und aufgrund dessen als extremistisch bezeichnet werden können. 284 D. Anhang Register A S. 52, 195, 200, 211, "al-Qaida" 213 "Alternative für Deutschland" (AfD) S. 105 ff., 179 "Antifaschistische Aktion Süd" S. 171 f. "Antifaschistische Aktion Südliche Weinstraße" S. 171 "Die Artgemeinschaft-Germanische Glaubens-Gemeinschaft S. 92 wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." (AG-GGG) "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) S. 231 ff., 241, 258 B "Bismarcks Erben"/ "Vaterländischer Hilfsdienst" (VHD) S. 152 f., 157 C "Crew 38" S. 91, 125 D S. 54, 70 ff., 93, "Der III. Weg" (auch: "Der 3. Weg", "Der Dritte Weg") 99 ff., 131, 138 "Die Heimat" (ehemals "Nationaldemokratische Partei 54, 92, 96 ff., 122, Deutschlands" [NPD]) 137 "die plattform" S. 175 f., 186 "DIE RECHTE" S. 93, 104, 122 f., 139 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) S. 176 f., 180, 184 "Deutsche Muslimische Gemeinschaft" (DMG) S. 51, 224 "Division Germania" (Musik-Band) S. 131 285 Register E "Ein Prozent" S. 112 F "FLAK" (Band) S. 128 ff. "Föderation der Weltordnung in Europa" (ANF) S. 55, 242 G S. 51 f., 58, 65, 191, "Generation Islam" (GI) 220 H S. 44 ff., 192 ff., HAMAS ("Islamische Befreiungsbewegung") 206 ff., 216 f. "Hammerskins" S. 91, 124 ff., 131 "Heureka" (Liedermacher) S. 129 ff. "Hizb Allah" ("Partei Gottes") S. 45 ff., 211, 218 f. S. 47, 51, 58, 65 f., "Hizb ut-Tahrir" (HuT) 220 f. I "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) S. 116 ff., 142 "Institut für Staatspolitik e.V." (IfS) S. 112 "Interventionistische Linke" (IL) S. 175, 182 "Islamischer Staat" (IS) S. 193 ff., 214 286 D. Anhang Register J "Johnny Zahngold" (Liedermacher) S. 129 "Julia Juls" (Liedermacherin) S. 129 "Junge Alternative" (JA) S. 107 ff., 141 "Junge Nationalisten" (JN) S. 54, 92, 98, 137 K "Kalifatsstaat" S. 211, 222 S. 93 f., 104, 122 f., "Kameradschaft Rheinhessen" 143 "Kategorie C" (Band) S. 130 M "Makss Damage" (Rapper) S. 75 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) S. 183 "Mjöllnir" (Band) S. 129 "Mosel.Inferno" S. 92, 98 f. S. 47, 51, 210, 212, "Muslimbruderschaft" 216, 224 "Muslim Interaktiv" (MI) S. 52, 65, 220 N "Nationalrevolutionäre Jugend" (NRJ) S. 71 ff. "Neue Stärke Partei" (NSP) S. 140 "N'Socialist Soundsystem" (Band) S. 129 "Nationaler Widerstand Zweibrücken" S. 94, 122 f., 143 287 Register O "One Eight Versand" S. 133 P "Phil von FLAK" (Liedermacher) S. 129, 131 "Proto" (Rapper) S. 75 R "Regiment 25" (Band) S. 129 ff. "Realität Islam" (RI) S. 65, 220 "Revolutionärer Aufbau Rhein-Main" S. 171 "Revolte Rheinland" S. 93, 118 ff. "Renitenz" (Liedermacher) S. 129 f. "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) S. 53, 243 "Rote Hilfe e.V." S. 185 S S. 46, 55 f., 193, "Samidoun" 239 f., 244 f. "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) S. 176 f., 180, 184 "Stahlgewitter" (Band) S. 131 "S.H.A.E.F." S. 153, 156 T "Taleban" S. 195 "The Hoizers" S. 129 288 D. Anhang Register U "Ülkücü-Bewegung" ("Graue Wölfe") S. 237 ff., 242 V "Vaterländischer Hilfsdienst" S. 152 f., 157 "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) S. 56, 239, 244 289 IMPRESSUM Herausgeber Ministerium des Innern und für Sport Schillerplatz 3-5 55116 Mainz Gestaltung RHEINDENKEN GmbH Druck Landesamt für Vermessung und Geobasisinformation Rheinland-Pfalz Der Verfassungsschutzbericht 2023 ist auch im Internet abrufbar unter: www.verfassungsschutz.rlp.de ISSN 0948-8723 Schillerplatz 3-5 55116 Mainz poststelle@mdi.rlp.de www.mdi.rlp.de 292 Verfassungsschutzbericht 2023