MINISTERIUM DES INNERN UND FÜR SPORT VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Titelbild: Hambacher Schloss, Neustadt an der Weinstraße. Quelle: Pixabay Besuchen Sie auch den Internetauftritt des Verfassungsschutzes Rheinland-Pfalz! Über den nebenstehenden QR-Code gelangen Sie direkt dorthin. Ministerium des Innern und für Sport des Landes Rheinland-Pfalz Schillerplatz 3-5, 55116 Mainz Postfach 3280, 55022 Mainz Tel.: 06131/16-3773 E-Mail: info.verfassungsschutz@mdi.rlp.de Internet: www.verfassungsschutz.rlp.de Verfassungsschutzbericht 2021 ISSN 0948-8723 1 2 Vorwort Am 18. September 2021 starb in einer Tankstelle in Idar-Oberstein ein zwanzigjähriger junger Mann durch die Kugel eines "Corona-Leugners", weil er diesen auf die Verpflichtung zum Tragen einer Maske hingewiesen hatte. Die Tat markierte den traurigen Höhepunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf sich ein Teil des heterogenen Corona-Protestspektrums immer weiter radikalisiert und vom Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entfernt hat. Dieser Personenkreis betrachtet den Staat, der für die Sicherheit und Gesundheit aller Menschen Sorge trägt, als Feind. Um dies zu bekräftigen, werden Verschwörungsmythen, Falschinformationen und antisemitische Narrative verbreitet. Die Bevölkerung soll auf diese Weise verunsichert und aufgewiegelt werden. Der Staat und die Zivilgesellschaft müssen sich daher gemeinsam solchen Bestrebungen entschieden entgegenstellen. Der Verfassungsschutz verfolgt das Geschehen genau. Seinen Beobachtungen nach wird nicht nur von Rechtsextremisten oder von "Reichsbürgern" immer wieder versucht, Corona-Proteste zu instrumentalisieren und Eskalationen zu provozieren. Auch Personen, die nicht zu diesen bekannten extremistischen Milieus zählen, überschreiten die Schwelle zum Extremismus, indem sie fortwährend und zielgerichtet demokratische Entscheidungsprozesse und die entsprechenden Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative in sicherheitsgefährdender Art und Weise delegitimieren und verächtlich machen. 3 Diese neue Form von Extremismus dürfte auch nach einem Ende der Pandemie nicht einfach zum Erliegen kommen. Es hat sich bereits 2021 gezeigt, dass andere Ereignisse und Entwicklungen die Szene motivieren können. Die geschilderte Entwicklung hat die Bedeutung des Rechtsextremismus weder geschmälert noch die von ihm ausgehenden Gefahren gemindert. Rechtsextremismus ist auch 2021 die zentrale Herausforderung für Staat und Gesellschaft geblieben. Die Radikalisierung Einzelner oder von Gruppen bis hin zum Terrorismus bleibt eine Bedrohung; die Sicherheitsbehörden sind hoch sensibilisiert. Immer stärker in den Fokus rückt die Virtualisierung des Rechtsextremismus. Es hat sich regelrecht eine digitale Parallelwelt entwickelt, in der sich Hass und Hetze hemmungslos entfalten und verbreiten. Zudem nutzen Rechtsextremisten die sich ihnen bietenden Möglichkeiten, Anknüpfungspunkte an kontroverse gesellschaftspolitische Themenfelder zu finden, um ihr menschenverachtendes Gedankengut in die Mitte der Gesellschaft einsickern zu lassen. Der Schulterschluss mit Teilen der Corona-Protestbewegung zeigt hinlänglich, dass es gefährlich wäre, dieses Vorgehen zu unterschätzen. Die Landesregierung lässt daher bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus kein bisschen nach und geht konsequent dagegen vor. Auch der Islamismus blieb 2021 eine große Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Die erneute Eskalation im Israel-Palästina-Konflikt im Mai 2021 und die Machtergreifung der "Taleban" in Afghanistan spielten unter Islamisten eine wichtige Rolle und boten breiten Raum für Propaganda. In ihren Reaktionen und bei Demonstrationen zeigten Islamisten ihre israelfeindliche und antisemitische Grundhaltung sowie ihre pauschale Feindschaft gegenüber "dem Westen". Dies schlug sich auch in Gewalt gegen Menschen jüdischen Glaubens nieder. Der Schutz unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ist Teil der Staatsräson und hat oberste Priorität. Wer sie angreift, greift uns alle an. Ihre Feindschaft gegenüber Juden teilen Islamisten mit einem großen Teil der türkisch-nationalistischen "Ülkücü"-Bewegung, die der Öffentlichkeit auch unter dem Namen "Graue Wölfe" bekannt ist. Deren Mitgliederpotenzial ist in 4 Rheinland-Pfalz 2021 gestiegen. Allerdings reicht sie hinsichtlich ihrer Größenordnung und des Umfangs ihrer Aktivitäten bei Weitem nicht an die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) heran. Der Verfassungsschutz behält dieses Spektrum, das Bezüge zum Ausland aufweist, im Blick; politische Entwicklungen und Spannungen in den Heimatregionen können hier jederzeit eskalierend wirken. Das linksextremistische Spektrum stellt in Rheinland-Pfalz im bundesweiten Vergleich nach wie vor keinen besonderen Schwerpunkt dar. Während sich in anderen Regionen Deutschlands in den vergangenen Jahren Teile der Szene merklich radikalisiert haben, lässt sich diese Entwicklung in Rheinland-Pfalz so nicht nachvollziehen. Gleichwohl bleibt deren Beobachtung eine wichtige Aufgabe des Verfassungsschutzes. Insbesondere das Auftreten von Linksextremisten bei Protesten gegen Corona-Leugner und gegen Rechtsextremisten offenbarte erneut ein ernstzunehmendes Aggressionspotenzial. Eine immer wichtigere Aufgabe für den Verfassungsschutz stellt das Agieren fremder Staaten im Internet dar, die das Ziel verfolgen, insbesondere durch Falschinformationen Gesellschaften zu destabilisieren. Vor allem die Nachrichtendienste der Russischen Föderation und der Volksrepublik China missbrauchen die sozialen Medien in diesem Sinne. Deutschland ist von solchen Aktivitäten verstärkt betroffen. Gerade vor dem Hintergrund des von Russland am 24. Februar 2022 begonnenen Angriffskrieges gegen die Ukraine, der gezeigt hat, wie schamlos die russische Führung und die ihr unterstellten "Dienste" wahrheitswidrige Informationen und Propaganda im Netz streuen, haben die Sicherheitsbehörden darauf ein besonderes Augenmerk. Ob sich extremistische "Corona-Rebellen" und Rechtsextremisten in den sozialen Medien vernetzen und innerhalb von Minuten für Demonstrationen mobilisieren, fremde Nachrichtendienste dort Desinformationskampagnen fahren oder Cyberangriffe kritische Infrastrukturen zum Ziel haben: Die vergangenen Jahre zeigen, dass sich das Internet zum Drehund Angelpunkt für Extremismus und andere sicherheitsgefährdende Bedrohungen entwickelt hat und verglichen mit der sogenannten Realwelt längst kein nachgeordneter Schauplatz mehr ist. 5 Für den Verfassungsschutz hat die Bearbeitung entsprechender Phänomene deshalb einen sehr hohen Stellenwert. Hierauf und auf viele andere Aspekte, die unser aller Sicherheit betreffen, geht auch der Verfassungsschutzbericht 2021 ausführlich ein. Ich freue mich, wenn er Ihr Interesse findet. Roger Lewentz Minister des Innern und für Sport 6 INHALTSVERZEICHNIS Seite A. Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz 11 1. Struktur, gesetzliche Grundlagen und Aufgaben 12 2. Strukturdaten 16 3. Verfassungsschutzbericht 16 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 19 1. Extremismus-Prävention 21 2. Wirtschaftsschutz und Sicherheitspartnerschaft 28 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen 31 Brennpunktthemen 33 1. Zwanzig Jahre nach dem 11. September - die neue Dimension des Terrorismus und seine Folgen 34 2. Extremisten instrumentalisieren Hochwasserkatastrophe 44 3. Keine Waffen in Händen von Extremisten 49 4. Extremismus 2.0 - Digitalisierung schreitet voran 51 Rechtsextremismus und -terrorrismus 55 1. Personenpotenzial 56 2. Überblick und Entwicklungen 2021 56 3. Rechtsterrorismus 60 4. Gewaltorientierter Rechtsextremismus 60 7 5. Rechtsextremistische Parteien 61 5.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 62 5.2 "Der III. Weg"/"Der Dritte Weg" 64 5.3 "DIE RECHTE" 68 5.4 "Neue Stärke Partei" 70 5.5 Extremistische Strukturen in der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) 71 5.5.1 "Der Flügel" 72 5.5.2 "Junge Alternative für Deutschland" (JA) 74 6. Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen 75 6.1 "Neue Rechte" 75 6.2 Neonationalsozialismus/Neonazis 81 6.3 "Uniter" 82 7. Weitgehend unstrukturiertes Pesonenpotenzial 84 7.1 "Hammerskins" 84 7.2 Rechtsextremistische Musikszene 85 8. Rechtsextremismus im Internet 88 9. Kurzbeschreibungen 92 "Reichsbürger"-Spektrum und "Selbstverwalter" 103 1. Personenpotenzial 104 2. Überblick und Entwicklungen 2021 104 3. Gruppierungen und Strukturen 105 3.1 "Verfassunggebende Versammlung" (VV) 105 3.2 "Bismarcks Erben" und "Vaterländischer Hilfsdienst" 105 3.3 Gruppierung "S.H.A.E.F." 106 4. Kurzbeschreibungen 108 8 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 113 Linksextremismus 119 1. Personenpotenzial 120 2. Überblick und Entwicklungen 2021 120 3. Gruppierungen, Strukturen und Aktionsfelder 124 3.1 Autonomen-Szene 124 3.2 "Postautonome" - "Interventionistische Linke" (IL) 125 3.3 Anarchisten 125 3.4 Nicht gewaltorientierte dogmatische Linksextremisten und sonstige Linksextremisten: "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) und "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) 127 3.5 Linksextremistische Aktionsfelder 127 3.6 Ausblick 133 4. Kurzbeschreibungen 134 Islamismus 139 1. Personenpotenzial 140 2. Überblick und Entwicklungen 2021 140 2.1 Terrorismus (Jihadismus) 145 2.2 Salafistische Bestrebungen 149 2.3 Legalismus 152 2.3.1 Die Ideologie hinter dem Legalismus am Beispiel der "Muslimbruderschaft" 154 2.3.2 Instrumentalisierung gesellschaftlicher Probleme durch Legalisten: antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit 156 3. Kurzbeschreibungen 158 9 Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug (ohne Islamismus) 171 1. Personenpotenzial 172 2. Überblick und Entwicklungen 2021 172 3. Organisationen und Strukturen 173 3.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) 173 3.2 "Ülkücü"-Bewegung ("Graue Wölfe") 180 4. Kurzbeschreibungen 183 Spionageabwehr und Cyberangriffe 189 1. Aufgabe der Spionageabwehr und allgemeine Lage 190 2. Themenfelder der Spionageabwehr 191 2.1 Spionage 191 2.2 Proliferation 203 2.3 Wirtschaftsspionage/ -sabotage 203 2.4 Cyberangriffe, Datenspionage und -sabotage 205 Geheimund Sabotageschutz, Mitwirkungsaufgaben 211 1. Geheimund Sabotageschutz 212 2. Mitwirkungsaufgaben 213 D. Anhang 217 1. Übersichten Politisch motivierte Kriminalität (PMK) 218 2. Register 219 10 A. Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz 11 1. Struktur, gesetzliche Grundlagen und Aufgaben Der Verfassungsschutz hat den gesetzlichen Auftrag, die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) sowie den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu schützen. Insofern ist er ein Element der wehrhaften Demokratie. Diesen Auftrag erfüllen - dem föderalen Staatsaufbau Deutschlands entsprechend - das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das seinen Hauptsitz in Köln hat, und 16 weitere Landesbehörden für Verfassungsschutz. In den allermeisten Bundesländern ist der Verfassungsschutz im jeweiligen Innenministerium angesiedelt, so auch in Rheinland-Pfalz, wo es seit 1951 einen Verfassungsschutz gibt. Verfassungsschutzbehörde in Rheinland-Pfalz ist die Abteilung 6 im Ministerium des Innern und für Sport. Diese gliedert sich seit dem 15. Oktober 2020 in neun Referate. Struktur der Abteilung 6 - Verfassungsschutz - im Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz Referat Aufgabenbereiche 361 Zentrale Aufgaben, Informationstechnik 362 Grundsatzfragen, Datenschutz und Recht, Präventionsagentur gegen Extremismus 363 Operative Einsatzunterstützung 364 Spionageabwehr, Geheimschutz, Cybersicherheit 365 Rechtsextremismus und -terrorismus 366 Islamistischer Terrorismus, Salafismus 367 Islamismus, Extremismus mit Auslandsbezug 368 Linksextremismus 369 Nachrichtenbeschaffung Auftrag, Aufgaben und Methoden Als "Frühwarnsystem" beobachtet die Verfassungsschutzbehörde RheinlandPfalz gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag vor allem politisch bestimmte, zielund 12 zweckgerichtete Verhaltensweisen, die auf eine Beeinträchtigung oder gar Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zielen, und wertet sie aus. Dies ist in den SSSS 4 und 5 des Landesverfassungsschutzgesetzes (LVerfSchG) geregelt. Gemeint sind damit verfassungsfeindliche, das heißt extremistische Bestrebungen. Was ist Extremismus? Der für den Verfassungsschutz relevante Extremismusbegriff leitet sich aus der bestehenden Gesetzeslage ab. Als extremistisch werden demnach Bestrebungen, das heißt Verhaltensweisen, bezeichnet, die politisch bestimmt sind und mit denen das Ziel verfolgt wird, die freiheitliche demokratische Grundordnung in Gänze oder in Teilen zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Der Begriff beschreibt lediglich eine politisch intendierte Vorgehensweise, unabhängig ihrer jeweiligen weltanschaulichen Prägung. Nicht erfasst von der für den Verfassungsschutz relevanten Extremismusdefinition, die explizit auf ein Verhalten abstellt, sind Einstellungen, Meinungen, Haltungen oder Orientierungen. Ein besonderes Augenmerk legt der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz dabei auf das Internet, dessen Bedeutung für die Kommunikation von Extremisten und Terroristen in den zurückliegenden Jahren rapide zugenommen hat. Diese nutzen soziale Medien, um Hass und Hetze zu verbreiten und junge Menschen zu radikalisieren und zu rekrutieren. Mit dem neuen Landesverfassungsschutzgesetz vom Februar 2020 wurde deshalb auch eine Rechtsgrundlage geschaffen, um extremistische Bestrebungen in digitalen Medien zu beobachten und aufzuklären - auch durch ein konspiratives Vorgehen (SS 20 Abs. 2 LVerSchG). Die Analysen, Lagebilder und Operativmaßnahmen des Verfassungsschutzes tragen zur Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat gegen Extremisten bei. Nicht selten dienen sie als Grundlage für exekutive Maßnahmen, etwa Vereinigungsverbote oder Strafverfahren. 13 Damit der Verfassungsschutz eine Organisation oder Gruppierung beobachten darf, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein. Für die Beobachtung einer Einzelperson sind die Hürden noch höher. Denn dadurch greift der Verfassungsschutz in die Grundrechte der Betroffenen ein. Dementsprechend muss einer Beobachtung regelmäßig eine sehr sorgfältige Prüfung vorausgehen. Vom gesetzlichen Beobachtungsauftrag nicht umfasst sind radikale1 Bestrebungen und Verlautbarungen sowie bloße Meinungsbekundungen und politische Einstellungen. Entsprechende Äußerungen mögen populistisch, provokativ und polemisch sein, sie sind aber von der Meinungsfreiheit gedeckt. Extremistische Einstellungen alleine reichen also nicht aus, um ein Fall für den Verfassungsschutz zu werden. Es muss ein entsprechendes Verhalten hinzukommen, das sich massiv gegen die Grundpfeiler des demokratischen Verfassungsstaates richtet. Die Bekämpfung von extremistischen Bestrebungen ist indes nicht die einzige Aufgabe des Verfassungsschutzes. Darüber hinaus ist er gemäß den SSSS 5 und 6 LVerfSchG für die Abwehr von Spionage zuständig und wirkt bei Sicherheitsund Einbürgerungsüberprüfungen mit. Was ist eine Sicherheitsüberprüfung? Einer Sicherheitsüberprüfung müssen sich Personen unterziehen, die eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit ausüben sollen. Eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit übt aus, wer zum Beispiel Zugang zu Verschlusssachen hat oder ihn sich verschaffen kann. Ebenfalls vorgeschrieben ist die Überprüfung für Personen, die an einer sicherheitsempfindlichen Stelle innerhalb einer lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtung beschäftigt sind oder werden sollen. Das Verfahren ist im Landessicherheitsüberprüfungsgesetz (LSÜG) geregelt. Seine Erkenntnisse gewinnt der Verfassungsschutz in einem beträchtlichen Maße aus öffentlich zugänglichen Quellen. Unter Wahrung des Grundsatzes der Ver- 1 Während Extremisten das herrschende politische System überwinden und ein gänzlich neues an dessen Stelle setzen wollen, zielt Radikalismus auf eine Veränderung innerhalb des herrschenden Systems. Radikale politische Akteure erkennen die fdGO grundsätzlich an. Gewalt als politisches Mittel lehnen sie ab. 14 hältnismäßigkeit und auf der Basis der einschlägigen Gesetze setzt er außerdem nachrichtendienstliche Mittel ein, um verdeckt Informationen zu beschaffen. Dazu zählt zum Beispiel der Einsatz von Vertrauenspersonen. Bei der Erledigung seiner Aufgaben sind ihm polizeiliche oder strafprozessuale Zwangsmittel untersagt. Der Verfassungsschutz darf weder Personen kontrollieren und festnehmen noch Wohnungen durchsuchen und Sachen beschlagnahmen. Kontrolle des Verfassungsschutzes Die Tätigkeit des rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzes unterliegt einer intensiven Kontrolle, die vor allem die Parlamentarische Kontrollkommission des Landtags wahrnimmt. Sie wird regelmäßig und umfassend über die Arbeit "Wer die Freiheit aufgibt, um Sides Verfassungsschutzes unterrichtet. cherheit zu gewinnen, wird am Zudem gibt die Landesregierung laut Ende beides verlieren." SS 34 LVerfSchG der Kommission auf Benjamin Franklin (1706 bis 1790), Verlangen Einsicht in Akten und DaStaatsmann teien und gestattet die Befragung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verfassungsschutzbehörde und des zuständigen Ministers. Die Parlamentarische Kontrollkommission besteht aus drei Landtagsabgeordneten. Schließlich verfügt auch der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit über entsprechende Kontrollrechte. Wenn der Brief-, Postund Fernmeldeverkehr überwacht werden soll, um an Erkenntnisse zu gelangen, muss die Verfassungsschutzbehörde vorher die Genehmigung der vom Landtag eingesetzten unabhängigen G10-Kommission einholen. Die G10-Kommission wird vom Landtag für die Dauer einer Wahlperiode bestellt und besteht aus einem vorsitzenden Mitglied, das Volljurist/Volljuristin sein muss, und zwei weiteren Mitgliedern. Durch das neue Landesverfassungsschutzgesetz wurde die parlamentarische Kontrolle gestärkt. So erhält die Kontrollkommission nach SS 34 Abs. 4 LVerfSchG das Recht, einen Sachverständigen zu beauftragen, der einen bestimmten Sachverhalt untersuchen kann und dafür unter Umständen Zugang zu geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen und Erkenntnissen erhält. 15 Gesetzlich verankert wurde mit dem neuen Gesetz auch eine eigene Geschäftsstelle der Parlamentarischen Kontrollkommission, die deren Tätigkeit unterstützt und koordiniert und von einer Beamtin oder einem Beamten mit Befähigung zum Richteramt geleitet wird. Durch die ebenfalls neu geschaffene Möglichkeit der Kontrollkommission, Vorgänge öffentlich zu bewerten, und durch eine Berichtspflicht gegenüber dem Parlament werden Transparenz und demokratische Rückkopplung gestärkt. Bestand die Parlamentarische Kontrollkommission gemäß des alten Gesetzestextes aus drei Mitgliedern, wird deren Zahl seit dieser Wahlperiode am Anfang einer Legislatur vom Landtag festgelegt (SS 31 Abs. 2 LVerfSchG). Hinzu kommt eine informelle Kontrolle des Verfassungsschutzes durch die Medien, also die Presse, das Fernsehen, den Hörfunk und journalistische InternetPortale, die im Rahmen eigener Recherchen Anfragen zu bestimmten Sachverhalten stellen können. 2. Strukturdaten Der vom Landtag Rheinland-Pfalz beschlossene Haushaltsplan der Verfassungsschutzbehörde Rheinland-Pfalz weist für 2021 insgesamt 204 Stellen aus. Das sind sechs mehr als 2020. Für 2022 sind im Etat 205 Stellen eingeplant. Deren Zahl ist in den zurückliegenden Jahren kontinuierlich gewachsen. In der Entwicklung spiegeln sich die zunehmenden und immer komplexeren extremistischen und sicherheitsgefährdenden Bedrohungen wider. Das Budget für Sachausgaben (ohne Personalkosten) betrug im Haushaltsjahr 2021 rund 2,1 Millionen Euro und etwa 1,5 Millionen Euro für Investitionen. 3. Verfassungsschutzbericht Der Verfassungsschutzbericht ist seit mehr als 40 Jahren ein wesentliches Format der Öffentlichkeitsarbeit der Verfassungsschutzbehörde Rheinland-Pfalz. Er erscheint jährlich und dient der umfassenden Unterrichtung und Aufklärung der 16 Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen, von denen Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen. Der Bericht enthält keine abschließende Aufzählung, Darstellung und Be"Das fachlich zuständige Miwertung verfassungsfeindlicher Personisterium informiert die Öfnenzusammenschlüsse. Berichtet wird fentlichkeit über grundlegende nur zu Organisationen, die nachweisAngelegenheiten des Verfaslich verfassungsfeindliche Bestrebunsungsschutzes sowie über prägen verfolgen. Die Bewertung einer ventiven Wirtschaftsschutz, soOrganisation im Verfassungsschutzweit Geheimhaltungserforderbericht als extremistisch bedeutet nisse nicht entgegenstehen." hingegen nicht in jedem Fall, dass alle SS 7 Abs. 2 LVerfSchG ihre Mitglieder extremistische Bestrebungen entwickeln. Die Zahlenangaben sind teilweise geschätzt und auf den 31. Dezember 2021 datiert. Die im Verfassungsschutzbericht genannten Zahlen der Strafund Gewalttaten wurden nach dem von der Innenministerkonferenz beschlossenen polizeilichen Definitionssystem "Politisch motivierte Kriminalität" (PMK) erfasst, wonach die die Tat auslösende politische Motivation im Vordergrund steht. Es umfasst damit sowohl Taten mit erkennbar extremistischem Hintergrund wie auch politisch motivierte Delikte, bei denen nicht von einem extremistischen Hintergrund gesprochen werden kann. 17 18 B. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 19 "Prävention durch Information" ist ein Leitgedanke, dem sich der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz verpflichtet fühlt. Konkret bedeutet dies, dass er eine offensive und auf größtmögliche Transparenz angelegte Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit betreibt, die über die Herausgabe des jährlichen Verfassungsschutzberichts hinausgeht. Damit soll ein Beitrag zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Extremismus und zur Aufklärung über unterschiedliche extremistische Phänomene geleistet werden. Dieser Selbstverpflichtung, die auf einem gesetzlichen Auftrag fußt (vgl. SS 7 Abs. 2 LVerfSchG), kommt der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz in vielfältiger Form nach. Ein Schwerpunkt der Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit ist seit geraumer Zeit die Vortragstätigkeit. Auf Anfrage halten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Vorträge und Workshops über die Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes, Extremismus in allen seinen Erscheinungsformen und über Cybersicherheit. Von diesem Angebot haben in der Vergangenheit viele Interessierte und Einrichtungen im Land, darunter nicht zuletzt Schulen, Gebrauch gemacht. Mehrere Tausend Menschen konnten dadurch Jahr für Jahr unmittelbar erreicht werden. Diese Form der Informationsvermittlung und des Dialogs mit den Bürgerinnen und Bürgern war 2021 im zweiten Jahr in Folge aufgrund der Corona-Pandemie leider nur eingeschränkt möglich. Neben der Vortragstätigkeit veröffentlicht der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz Publikationen über Themen aus seinem Zuständigkeitsbereich, die auch auf den Internetseiten der Behörde unter www.verfassungsschutz.rlp.de veröffentlicht sind. Dort informiert er zudem ausführlich über seine Beobachtungsfelder. Termine für Vortragsveranstaltungen und Versand von Informationsmaterial: Ministerium des Innern und für Sport Abteilung Verfassungsschutz Schillerplatz 3-5 55116 Mainz Tel.: 06131/16-3773 Fax: 06131/16-3688 E-Mail: info.verfassungsschutz@mdi.rlp.de 20 1. Extremismus-Prävention Prävention gegen jede Form des Extremismus hat in Rheinland-Pfalz einen hohen Stellenwert. Sie wird ganzheitlich betrieben, ist auf Dauer angelegt und vielfältig. Die Festigung des Demokratiebewusstseins spielt dabei eine wichtige Rolle, wie auch die Förderung von Integration und Partizipation sowie des bürgerschaftlichen Engagements. Demokratie lebt von der Mitwirkung möglichst vieler Menschen, die sich für deren Erhalt und ihre Mitmenschen einsetzen. Wie wichtig dies aktuell ist, zeigt sich gerade während der Corona-Pandemie. Hetze gegen den demokratischen Rechtsstaat, Verschwörungsdenken und ein wieder verstärkt aufkeimender Antisemitismus sind Angriffe auf die Demokratie und die sie tragende Gesellschaft. Dem wird mit aller Entschiedenheit begegnet. Ausrichtung und Schwerpunkte der Extremismus-Prävention orientieren sich jeweils an den aktuellen Gefährdungsund Gefahrenlagen. Ein besonderes Augenmerk gilt angesichts der Ereignisse und Entwicklungen in den zurückliegenden Jahren der Rechtsextremismus-Prävention, ohne dass dadurch aber andere Themenfelder in den Hintergrund geraten. Im Laufe der Zeit sind die Präventionsstrukturen in Rheinland-Pfalz stetig gewachsen. Landesweit leisten heute viele Einrichtungen sowie Akteurinnen und Akteure aus Staat und Zivilgesellschaft einen Beitrag gegen Extremismus, Intoleranz und Demokratiefeindlichkeit. Austausch und Vernetzung bewegen sich auf einem hohen Niveau. Folgende Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt: Präventionsagentur gegen Extremismus Die beim rheinland-pfälzischen Verfassungsschutz durch Ministerratsbeschluss eingerichtete Präventionsagentur gegen Extremismus existiert seit Mitte 2008 - zunächst unter der Bezeichnung Präventionsagentur gegen Rechtsextremismus und seit Mitte 2017 unter dem aktuellen Namen. Sie ist Teil der offensiven Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit des rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzes und informiert auf der Grundlage 21 seiner Erkenntnisse über extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen im Land. Die Agentur steht außerdem Mandatsund Amtsträgern, Bediensteten und Gremien der Landesund Kommunalverwaltung als Ansprechpartner beratend zur Verfügung. Dabei stellt ihre personelle und fachliche Nähe zum Verfassungsschutz sicher, dass auf Informationen über die aktuelle Sicherheitslage zugegriffen werden kann. Die Präventionsagentur gegen Extremismus hilft des Weiteren bei der Koordination von Aktivitäten und dokumentiert diese, kooperiert mit anderen Akteuren, die in der Extremismus-Prävention aktiv sind und informiert über aktuelle extremistische Herausforderungen. Zudem fördert sie Projekte und Maßnahmen gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit finanziell. Hierzu zählt beispielsweise das Ende 2017 gegründete Bündnis "Demokratie gewinnt!". Auf ihrem Internetauftritt "gegen-extremismus.rlp.de" informiert die Agentur ausführlich über ihr Angebot und gibt einen Überblick über andere Präventionsund Bildungsangebote gegen Extremismus. In der Rubrik "Aktuelles" finden sich dort regelmäßig neue Informationen. Im Juni 2021 wurde bei der Präventionsagentur gegen Extremismus die Dokumentationsund Koordinierungsstelle Antisemitismus eingerichtet. Damit soll die Bearbeitung der verfassungsschutzrelevanten Formen des Antisemitismus intensiviert werden. Antisemitische Bestrebungen von Extremisten werden dort zusammengeführt und dokumentiert. Außerdem erstellt die Dokumentationsund Koordinierungsstelle anlassbezogen Analysen und Lagebilder, die unter anderem in die Präventionsarbeit einfließen. Daneben hat sie die Kooperation mit weiteren Stellen im Blick, die Aufgaben im Rahmen der Bekämpfung des Antisemitismus wahrnehmen, zum Beispiel der Im Oktober 2021 erschien die Broschüre über Beauftragten für jüdisches Leben und AntisemiAntisemitismus. tismusfragen (siehe hierzu Seite 25). 22 Präventionsagentur gegen Extremismus: Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz Schillerplatz 3-5 55116 Mainz Tel.: 06131/16-3773 Fax: 06131/16-17-3773 E-Mail: praeventionsagentur@mdi.rlp.de Homepage: gegen-extremismus.rlp.de Leitstelle Kriminalprävention Die Leitstelle Kriminalprävention mit Sitz im Ministerium des Innern und für Sport wurde 1997 auf Beschluss des Ministerrats eingerichtet. Sie fungiert als Geschäftsstelle des Landespräventionsrates Rheinland-Pfalz und versteht sich zudem als Servicestelle für die kriminalpräventiven Räte vor Ort. Zu den Aufgaben der Leitstelle Kriminalprävention gehören unter anderem die Betreuung und Beratung der kriminalpräventiven Gremien in den Kommunen, die Durchführung von Veranstaltungen wie dem Landespräventionstag, Fachtagungen, Informationsveranstaltungen sowie landesweite Präventionskampagnen und -projekte. Die Leitstelle "Kriminalprävention" fördert zudem kriminalpräventive Projekte durch die Bewilligung von Fördergeldern, so zum Beispiel für Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Leitstelle Kriminalprävention: Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz Schillerplatz 3-5 55116 Mainz Tel.: 06131/16-3712 Fax: 06131/16-17-3712 E-Mail: kriminalpraevention@mdi.polizei.rlp.de Homepage: kriminalpraevention.rlp.de 23 Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz Das Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz vernetzt im Auftrag des Förderprogramms "Demokratie leben!" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Landes Rheinland-Pfalz Engagierte und Aktive, die sich gegen jede Form von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und für eine demokratische Gesellschaft einsetzen. Hierfür bietet das Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz Raum für Interaktionen und Austausch über Demokratieförderung sowie Expertise in Extremismusprävention und -intervention. Um die Ziele "Demokratie fördern", "Vielfalt gestalten", "Extremismus vorbeugen" zu erreichen, setzt das Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz auf seine gesellschaftlich breit aufgestellten Netzwerke: # Im Kompetenznetzwerk "Demokratie leben!" Rheinland-Pfalz sind viele Initiativen, Vereine und Institutionen gebündelt, die sich gegen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und für Demokratie einsetzen. # Im Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus Rheinland-Pfalz haben sich Engagierte, Institutionen und Vereine zusammengetan, um ihre Arbeit gegen diese menschenverachtende und demokratiefeindliche Ideologie zu vereinen und sich auszutauschen. # Das Präventionsnetzwerk gegen religiös begründete Radikalisierung Rheinland-Pfalz - DivAN fördert den Diskurs möglichst vieler Akteurinnen und Akteure bei ihrem langfristigen Ziel, religiös begründeter Radikalisierung junger Menschen vorzubeugen. Vor allem bei rechtsextremistischer Radikalisierung kann das Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz auf eine langjährige Erfahrung zur Distanzierungsberatung zu24 rückgreifen. Bei "Rückwege" werden junge Menschen in Einzelfallhilfen und mit Gruppenangeboten dabei unterstützt, aus der Radikalisierungsspirale herauszukommen. Betroffene Eltern können sich bei der "Elterninitiative gegen Rechts" Hilfe holen. Für Ausstiegswillige aus der rechtsextremen Szene existiert seit 2001 die Beratungsstelle "(R)auswege". Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz: Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz c/o Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinallee 97-101 55118 Mainz Tel.: 06131/967-185 E-Mail: demokratiezentrum@lsjv.rlp.de Homepage: demokratiezentrum.rlp.de Beauftragte/Beauftragter für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen in Rheinland-Pfalz Seit Mai 2018 gibt es das Amt des/der Beauftragten der Ministerpräsidentin für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen in Rheinland-Pfalz. Damit wurden ein Bindeglied zwischen der Landesregierung und den jüdischen Gemeinden im Land und ein Koordinator aller Bemühungen zur Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus geschaffen. Die Sicherung und die Förderung des jüdischen Lebens in Rheinland-Pfalz gehören hierbei ebenso zu den Aufgaben wie die Unterstützung des interreligiösen Dialogs. Zu ihren Tätigkeitsschwerpunkten gehören vielfältige Gesprächs-, Besuchs-, Tagungs-, Fortbildungsund Vortragstermine. Darüber hinaus geht der Beauftragte/die Beauftragte antisemitischen Vorfällen nach und steht im ständigen Austausch mit den jüdischen Gemeinden und den Sicherheitsbehörden. Beauftragte für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen: Staatskanzlei Rheinland-Pfalz Peter-Altmeier-Allee 1 55116 Mainz Tel.: 06131/16-4064 Fax: 06131/16-4771 E-Mail: antisemitismusbeauftragte@stk.rlp.de 25 Meldestelle für menschenfeindliche, rassistische und antisemitische Vorfälle in Rheinland-Pfalz Im September 2020 nahm die vom Land geförderte Meldestelle für menschenfeindliche, rassistische und antisemitische Vorfälle in Rheinland-Pfalz die Arbeit auf. Auf der Plattform meldestelle-rlp.de können Vorfälle gemeldet werden, die mutmaßlich aus rassistischen, antisemitischen oder anderen menschenfeindlichen Motivlagen heraus begangen wurden. Melden können sich sowohl Betroffene als auch Zeuginnen und Zeugen von Vorfällen. Der merkmalsübergreifende Ansatz erfasst neben antisemitischen und rassistischen Vorfällen auch Handlungen, die sich gegen Wohnungslose oder sozial benachteiligte Menschen richten, Übergriffe, Beleidigungen oder Bedrohungen gegen vermeintliche politische Gegner sowie Repräsentanten des Staates oder der Zivilgesellschaft. Zudem bietet m*power unter anderem Einzelfallund Gruppenberatung, psychosoziale Prozessbegleitung und Bildungsarbeit an. Meldestelle für menschenfeindliche, rassistische und antisemitische Vorfälle in Rheinland-Pfalz: Meldestelle m*power Bahnhofplatz 7A 56068 Koblenz Tel.: 0261/55001140 E-Mail: kontakt@mpower-rlp.de Homepage: meldestelle-rlp.de Bündnis "Demokratie gewinnt!" - Demokratie-Tag Rheinland-Pfalz Mehr als 70 Organisationen aus Rheinland-Pfalz engagieren sich im Bündnis "Demokratie gewinnt!" dafür, junge Menschen frühzeitig an Demokratie, Beteiligung und freiwilliges Engagement heranzuführen. Das Bündnis will dazu beitragen, die Lernund Lebensorte von Kindern und Jugendlichen demokratisch und 26 partizipativ zu gestalten, damit sie von klein auf demokratische Haltungen und Kompetenzen erwerben können. Der Demokratie-Tag RheinlandPfalz findet seit 2006 jedes Jahr mit über 1.000 Teilnehmenden zu verschiedenen Themenschwerpunkten statt. Er ist im Land das zentrale Forum zum Austausch und zur Weiterentwicklung von Strategien und Methoden der Engagementund Demokratieförderung in und außerhalb von Schulen. Veranstalter ist das Bündnis "Demokratie gewinnt!". Bündnis "Demokratie gewinnt!": Koordination des Bündnisses "Demokratie gewinnt!" Staatskanzlei Rheinland-Pfalz Leitstelle Ehrenamt und Bürgerbeteiligung Tel.: 06131/16-4083 E-Mail: leitstelle@stk.rlp.de Homepage: demokratie-gewinnt.rlp.de Landesaktionsplan gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Rheinland-Pfalz ist ein weltoffenes und vielfältiges Land. Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt finden hier ihre Heimat. Diese Vielfalt von Lebensformen und Ausdrucksmöglichkeiten gibt Menschen Raum für die Entfaltung ihrer Persönlichkeiten und ist ein schützenswerter Grundpfeiler einer offenen, freien und solidarischen Gesellschaft. Vielen Menschen wird aber die Teilhabe an unserer Gesellschaft erschwert, weil sie bestimmten Gruppen zugerechnet werden. Um dem effektiv entgegen27 zutreten, hat die rheinland-pfälzische Landesregierung gemeinsam mit vielen Gruppen aus der Zivilgesellschaft einen Landesaktionsplan gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit entwickelt und im November 2020 veröffentlicht. Die in dem Plan enthaltenen Projekte und Maßnahmen wirken demokratiefeindlichen Ideologien, Einstellungen und Handlungen sowie ihrer Verbreitung entgegen und sie unterstützen und stärken Opfer. Eine Maßnahme des Landesaktionsplans gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist der Beratungskompass Rheinland-Pfalz. Auf der Internetseite beratungskompass-rlp.de finden Betroffene, Angehörige sowie Zeuginnen und Zeugen von menschenfeindlichen Vorfällen Stellen, die Beratung und Hilfe anbieten oder Ansprechpartnerinnen und -partner sowie Informationen vermitteln. Bei Selbsthilfeorganisationen können Betroffene mit Menschen sprechen, die ähnliche Erfahrungen machen oder gemacht haben wie sie. Darüber hinaus werden zur tieferen Auseinandersetzung Fortund Weiterbildungsangebote rund um den Themenkomplex Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gelistet. Auf einer integrierten Rheinland-Pfalz-Karte lassen sich Anlaufstellen in der Nähe schnell finden. Landesaktionsplan gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration Kaiser-Friedrich-Straße 5a 55116 Mainz Tel.: 06131/16-5642 oder 16-5689 E-Mail: LAP-GMF-Rassismus@mffki.rlp.de Homepage: mffki.rlp.de 2. Wirtschaftsschutz und Sicherheitspartnerschaft Wirtschaftsspionage verursacht in Deutschland sehr hohe finanzielle Schäden, gefährdet Arbeitsplätze und wertvollen Know-how-Vorsprung. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen sind sich dieser Gefahren und der negativen Auswirkungen nicht immer bewusst. Es ist daher wichtig, das Problembewusstsein zu stärken und den Betrieben Informationen über Präventionsmaßnahmen in geeigneter Form zur Verfügung zu stellen. 28 Zum Schutz der rheinland-pfälzischen Unternehmen haben die Landesregierung, die Industrieund Handelskammern und Unternehmensverbände sowie die Vereinigung für die Sicherheit der Wirtschaft bereits im Jahr 2005 eine förmliche Sicherheitspartnerschaft vereinbart. Der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz nimmt innerhalb der Sicherheitspartnerschaft eine koordinierende Rolle wahr. Getragen von einem gemeinsamen Grundverständnis des präventiven Wirtschaftsschutzes wurde diese Kooperation zu einem Vorzeigemodell für die Vernetzung staatlicher und wirtschaftlicher Akteure im Bereich der Unternehmenssicherheit. In der Gemeinsamen Erklärung zur Bildung einer Sicherheitspartnerschaft haben sich die Unterzeichner darauf verständigt, insbesondere die mittelständischen und exportorientierten Betriebe im Handel, Handwerk und Gewerbe hinsichtlich der Gefährdungen durch Wirtschaftsspionage, Proliferation, Sabotage, Extremismus und Terrorismus zu sensibilisieren und durch vielfältige Informationsangebote die erforderliche betriebliche Eigenvorsorge zu fördern. In den vergangenen Jahren ist Cybersicherheit ein Schwerpunktthema der Sicherheitspartnerschaft geworden. Immer relevanter werden zudem sogenannte hybride Bedrohungen. Sie bezeichnen die illegitime, koordinierte Einflussnahme staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Prozesse. Desinformationskampagnen, die Instrumentalisierung ökonomischer Abhängigkeiten für politische Zwecke und Cyberangriffe sind nur einige Beispiele für hybride Bedrohungen. Die Expertisen der Spionageabwehr über ITund Cybersicherheit werden seit Jahren auf Fachkongressen und Tagungen einem breiten Fachpublikum präsentiert. Aufgrund der Corona-Pandemie mussten 2021 aber größere Veranstaltungen abgesagt werden. Aktuelle Informationen des Wirtschaftsschutzes, insbesondere zur Cybersicherheit, wurden daher zielgerichtet und branchenspezifisch den rheinland-pfälzischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen über die Sicherheitspartnerschaft zugeleitet. 29 Informationen über Sicherheitspartnerschaft mit der Wirtschaft: Ministerium des Innern und für Sport Abteilung Verfassungsschutz Schillerplatz 3-5 55116 Mainz Tel.: 06131/16-3773 E-Mail: info.Verfassungsschutz@mdi.rlp,de Homepage: mdi.rlp.de/de/unsere-themen/sicherheit/verfassungsschutz/ spionageabwehr-wirtschaftsschutz-und-cybersicherheit 30 C. Verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen 31 32 Brennpunktthemen 33 1. Zwanzig Jahre nach dem 11. September - die neue Dimension des Terrorismus und seine Folgen Am 11. September 2001 veränderte eine Serie von terroristischen Anschlägen den Verlauf des gerade erst angebrochenen Jahrhunderts. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden zum Ziel einer Terrorattacke, die an Zerstörung und Symbolkraft bis heute einzigartig geblieben ist. Jihadistische Attentäter entführten vier Verkehrsflugzeuge. Zwei wurden Die Türme des World Trade Centers nach dem Einschlag des zweiin die Türme des New Yorker World ten Flugzeugs. Quelle: Wikimedia/Michael Foran Trade Centers gesteuert. Ein weiteres Flugzeug steuerten die Entführer in das Pentagon-Gebäude des US-Verteidigungsministeriums. Das vierte wurde von Passagieren über Pennsylvania zum Absturz gebracht, bevor die Entführer ihr eigentliches Ziel erreichen konnten. Bei den Anschlägen verloren 2.976 Menschen ihr Leben. Viele weitere wurden verletzt und leiden teils bis heute unter den Folgen. In den folgenden zwei Jahrzehnten prägte der islamistische Terrorismus - insbesondere in seiner jihadistischen Form - und dessen Bekämpfung die Sicherheitspolitik und Sicherheitsarchitektur weltweit. Erste Reaktionen Durch die 19 Attentäter geriet nicht nur die jihadistische Terrororganisation "alQaida" um Usama Bin Ladin, die für die Anschläge verantwortlich war, sondern das gesamte Spektrum des Islamismus in den Fokus der Öffentlichkeit. Alle wollten wissen, wer die Vereinigten Staaten ins Mark getroffen hatte. Als Reaktion auf die Anschläge rief die NATO das erste Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus und die USA führten wenige Wochen später einen Militärschlag gegen die afghanischen "Taleban" durch, die "al-Qaida" unterstützten und dieser einen sicheren Hafen boten. Daraus entwickelte sich ein dauerhaf34 tes militärisches Engagement der USA "Die Amerikaner und ihre Verund ihrer Verbündeten in Afghanistan, bündeten zu töten, ob Zivilisten das erst mit dem Abzug der US-Trupoder Soldaten, ist die Pflicht jepen 2021 endete. Auch nach 20 Jahren des Muslims, der dazu fähig ist, intensiver militärischer und ziviler Beegal, in welchem Land er die mühungen gelang es nicht, das Land Möglichkeit dazu hat (...)." politisch zu stabilisieren. Unmittelbar nach dem Abzug der Truppen ergrifDeklaration der Globalen islamischen Front für den Jihad gegen die Juden und fen die "Taleban" erneut die Macht im Kreuzfahrer 1998 Land. Die Wiederkehr der "Taleban"-Herrschaft fast genau zwanzig Jahre nach den Anschlägen des 11. September gibt Anlass zur Rückschau auf die letzten zwei Dekaden des jihadistischen Terrorismus. Wie hat er sich über die Zeit hinweg verändert? Welche Bedrohungen gehen heute von ihm aus und was ist in Zukunft zu erwarten? Eine neue Bedrohung Anfang der 2000er-Jahre waren Islamismus und Jihadismus nur wenigen Experten ein Begriff. In Deutschland gab es kaum relevante jihadistische Akteure. Das Gros kam ursprünglich aus dem Ausland und wies teilweise Kampferfahrung aus Kriegsund Krisengebieten wie Afghanistan oder dem Nordkaukasus auf. Diese Jihadisten nutzten die Bundesrepublik Deutschland primär als Rückzugsund Ruheraum. Im Vergleich zu anderen Staaten Westeuropas entfaltete der Jihadismus hier zunächst keine große Strahlkraft. Und doch war es mit Mohammed Atta, "Dieser Punkt in der islamischen Geschichte ist Zeuge eines gewaltigen Kampfes zwischen den Mächten der Ungläubigen, der Tyrannen und der Überheblichkeit auf der einen Seite und der islamischen Gemeinschaft und ihrer jihadistischen Vorhut auf der anderen Seite. Dieser Kampf fand seinen Höhepunkt in den gesegneten Angriffen auf New York und Washington ... und dem, was darauf folgte." "al-Qaida"-Anführer Aiman al-Zawahiri 35 Ziad Jarrah und Marwan al-Shehhi unter anderem die "Hamburger Zelle", die die Anschläge des 11. Septembers im Auftrag "al-Qaidas" verübte. Dabei führten die Jihadisten der Welt eine neue Dimension des Terrorismus vor Augen. In den Vordergrund rückte die religiöse Begründung der Taten. Die Ziele waren nun nicht mehr die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft oder nationalistische Staatsvisionen. Gekämpft wurde für einen globalen Gottesstaat und gegen "Ungläubige". Schließlich war auch die lose Organisationsform von "al-Qaida" in diesem Umfang ein Novum, das es der Terrororganisation erlaubte, schnell global zu wachsen. Terrorgruppierungen oder kleinere lokale Strukturen konnten weltweit durch eine Loyalitätserklärung ihre Zugehörigkeit zur Organisation bekunden, ohne kontinuierlichen Kontakt zu Kern-"al-Qaida" pflegen zu müssen. Es entstand eine Art "Franchise", bei dem die Zellen weitgehend autonom agierten. Ohne größere Infrastruktur vermochte "al-Qaida" somit ihre "nahen Feinde" in der islamischen Welt ebenso zu bekämpfen wie ihre "fernen Feinde" im Westen. Dabei stellte die Propaganda von "al-Qaida" und ihren regionalen Ablegern das zentrale Element der Rekrutierung von Anhängern und Sympathisanten dar. Im Vergleich zur Propaganda anderer islamistischer Gruppen erreichte sie einen neues Level an Professionalität und - über das Internet - an Reichweite. Mit wenigen Mausklicks wurden die Ziele, Nach Bin Ladins Tod 2011 übernimmt al-Zawahiri (rechts) die Taten, "Helden" und Ideen des JihaFührung von "al-Qaida". Quelle: Wikimedia dismus der ganzen Welt zugänglich. Der Jihadismus findet eine neue Heimat Auch in Deutschland formierte sich allmählich eine jihadistische Szene. Nicht nur durch Onlinepropaganda, sondern auch durch charismatische Prediger, einschlägige Moscheen und kleinere Personenzirkel, die für den Jihad warben. Den 36 ideologischen und sozialen Nährboden stellten der extremistische Salafismus und die größer werdende salafistische Szene dar. Diese wuchs in den Jahren nach 2001 durch Missionsaktivitäten mit politischer Botschaft und öffentlichkeitswirksame "Auftritte", die auf Provokation und die Schaffung einer Gegenkultur ausgelegt waren, langsam immer weiter an. Ihre Mitglieder wollten aus jihadistischen Motiven in Krisenund Kriegsgebiete ausreisen. Rekrutierer warben unter den jungen Jihadisten für die Ausbildung in Terrorcamps und den bewaffneten Jihad im Ausland. Eine größere Zahl an Ausreisen ließ sich aber erst in den Jahren 2009 und 2010 feststellen, als den Sicherheitsbehörden mehr als 100 jihadistisch motivierte Ausreisen in das afghanischpakistanische Grenzgebiet bekannt wurden. Zum anderen planten Szenemitglieder Anschläge in Deutschland. 2006 versuchten Jihadisten etwa, Sprengsätze in Zügen der Deutschen Bahn zu zünden, was allerdings an fehlerhaften Zündern scheiterte. Ein Jahr später kam es dann zur Festnahme der "Sauerlandgruppe". Den Mitgliedern wurde vorgeworfen, Anschläge gegen US-amerikanische Einrichtungen auf deutschem Boden vorbereitet zu haben. Bereits 2005/2006 hatte die Gruppe ein Ausbildungslager im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet besucht. Was bedeuten "naher Feind" und "ferner Feind"? Die Anschläge vom 11. September sind ein Ergebnis von "al-Qaidas" strategischer Unterscheidung zwischen dem "nahen Feind" (vermeintlich unislamische Regierungen in mehrheitlich muslimischen Ländern) und dem "fernen Feind" ("westliche" Länder, die "al-Qaida" als eine Bedrohung für den Islam ansieht). Ein Mittel zur Bekämpfung des "nahen" und des "fernen Feindes" sind Terroranschläge. Die Organisation möchte durch Anschläge gegen den "fernen Feind" dessen kulturellen, politischen und militärischen Rückzug aus mehrheitlich muslimischen Ländern erzwingen. Nach Überzeugung der Jihadisten würde die Aufgabe westlicher Interessen in der islamischen Welt den "nahen Feind" schutzlos gegenüber der jihadistischen Bewegung zurücklassen. So wäre der Weg zur Errichtung des globalen Kalifats geebnet. 37 Seit 2009 tauchten deutschsprachige Videobotschaften auf, in denen offen mit Anschlägen in Deutschland gedroht wurde. Die erste tödliche Terrorattacke im Land fand 2011 statt, als zwei US-amerikanische Soldaten am Frankfurter Flughafen durch einen Jihadisten erschossen wurden. Auch in anderen westlichen Ländern entstanden in den 2000er-Jahren vergleichbare jihadistische Kulturmilieus, die immer weniger durch die älteren arabischen "Mujahidin" getragen wurden, sondern durch Jugendliche und junge Erwachsene. In all diesen Staaten entstand ein jihadistischer "Homegrown Terrorism", bei dem sich Jugendliche radikalisierten, die im "Westen" geboren oder aufgewachsen waren und sich dann aus politisch-religiösen Gründen gewaltsam gegen die Gesellschaften wandten, in denen sie sozialisiert wurden. Vorgehen In diese Zeit fielen vereitelte Terrorplots und erfolgreich durchgeführte Anschläge mit vielen Todesopfern, die den Schrecken des 11. Septembers am Leben erhalten sollten. Hervorzuheben sind unter anderem die Sprengstoffanschläge in Madrid 2004 und in London 2005. Typisch für Terrorplots und Anschläge dieser Zeit war, dass Terrorzellen ihre Taten mit hohem Planungsaufwand über lange Zeit vorbereiteten. Die Ziele waren eine hohe Opferzahl und eine ebenso hohe Signalwirkung. Sprengstoffe waren das dominierende Tatmittel. Dieser Modus Operandi, der symbolträchtige Anschläge bewirken sollte, wurde über die Jahre hinweg seltener, da die behördliche Ermittlungsarbeit und die internationale Zusammenarbeit den Verfolgungsdruck auf jihadistische Zellen konstant erhöhten. Immer mehr Vorhaben wurden bereits im Vorfeld aufgedeckt und unterbunden. Dennoch bleiben solche aufwendig geplanten Anschläge eine Bedrohung, weil sie besondere mediale Strahlkraft besitzen und so für terroristische Akteure attraktiv bleiben. Der "Islamische Staat" (IS) Seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges 2011 stieg die Zahl der Ausreisen deutscher Jihadisten. 38 Eine Zäsur in der Entwicklung des globalen Jihadismus bildete die Entstehung des "Islamischen Staates" (IS). Im Zuge des Bürgerkrieges gelang es dem IS beziehungsweise seiner Vorläuferorganisation zeitweise, Teile Syriens und des Iraks zu besetzen, im Jahr 2014 das "Kalifat" auszurufen und in der Folge "staatsähnliche" Strukturen aufzubauen. Seit seiner militärischen Niederlage im Jahr 2019 agiert die Organisation wieder stärker als "klassische" Terrororganisation im Untergrund. Mit dem "Kalifat" des IS beherrschte eine jihadistische Gruppierung zum ersten Mal ein großflächiges Territorium. Ein Erfolg, der "al-Qaida" nie gelungen war. Das "Kalifat" wurde mit seiner brutal zur Schau gestellten Schreckensherrschaft zum islamistischen Sehnsuchtsort. Die Medienarbeit des IS setzte neue Maßstäbe für terroristische Propaganda, beflügelte dadurch den Jihadismus weltweit und befeuerte bei Jihadisten gezielt den Wunsch, selbst am Erhalt und der Expansion des Quasistaates mitzuwirken. Aus Deutschland sind zwischen 2011 und 2021 insgesamt mehr als 1.150 Islamistische Propaganda im Netz nimmt Kinder nicht aus. Quelle: Bundesamt für Verfassungsschutz Personen aus islamistischer Motivation heraus in Richtung Syrien und Irak gereist. Viele von ihnen, um den IS zu unterstützen. Anschläge gegen den "Westen" Der IS agierte auch außerhalb seines Kerngebiets und seiner "Provinzen". Er organisierte, unterstützte oder inspirierte Terrorzellen und Einzeltäter in westlichen Staaten. Ein tragisches Beispiel hierfür sind die koordinierten Anschläge in Paris am 13. November 2015, bei denen allein in der Konzerthalle Bataclan 89 Menschen getötet wurden. Der IS bekannte sich zu den Attacken. Insgesamt töteten die Attentäter an diesem Tag 130 Menschen und verletzten mehr als 350. 39 Deutschland im Fokus Auch den bisher größten islamistischen Terroranschlag in Deutschland reklamierte der IS für sich. Am 19. Dezember 2016 fuhr Anis Amri mit einem Lastwagen gezielt in einen Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Er tötete bei seiner Attacke zwölf Menschen, fast 100 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Seit 2015 gab es insgesamt zehn islamistisch motivierte Anschläge in Deutschland. Alleine sechs davon ereigneten sich zur Hochphase des IS im Jahr 2016. In Rheinland-Pfalz versuchte 2016 ein Minderjähriger, einen Sprengstoffanschlag in Ludwigshafen durchzuführen, der aus technischen Gründen misslang. Der Junge radikalisierte sich unter anderem über IS-Onlineangebote und wurde von der Organisation virtuell angeleitet. Bis heute rufen der IS und "al-Qaida" über ihre Onlinepropaganda besonders Einzeltäter zu selbstständigen Anschlägen in westlichen Staaten auf. Zusätzlich versuchen sie gezielt, bereits motivierte Einzelpersonen online zu rekrutieren und bei der Anschlagsplanung und -durchführung anzuleiten. In seiner Propaganda nutzt der IS den Mythos des "Kalifats" und die Terroraktivitäten seiner Provinzen. So avancierte die einstige irakische Regionalorganisation von "al-Qaida" zu einem eigenständigen globalen Spieler, der den Kampf um die Deutungshoheit innerhalb der jihadistischen Szene gegen die überalterte Kern-"al-Qaida" derzeit dominiert. Konstanten und Veränderungen Betrachtet man den jihadistischen Terrorismus in Europa in den vergangenen zwei Jahrzehnten, gibt es mindestens drei Konstanten: 1. Anschlagsplanungen und Anschläge häufen sich, wenn gewaltsame Konflikte in islamisch geprägten Staaten aufflammen, an denen sich westliche Staaten beteiligen. 2. Die Planungen und Anschläge korrelieren mit der Anzahl an Konflikten, in denen Muslime als unterlegene oder bedrohte Partei wahrgenommen werden. 40 3. Anschläge und Anschlagsplanungen lassen sich gehäuft feststellen, wenn es zu emotional aufgeladenen Einzelereignissen kommt, etwa im Zuge des "Karikaturenstreits", bei dem es in der Vergangenheit immer wieder zu Vergeltungsanschlägen gekommen ist. Neben diesen Konstanten lassen sich auch Veränderungen feststellen. Zuerst dominierte als Szenario der spektakuläre Großanschlag einer Gruppe mit unkonventionellen Sprengund Brandvorrichtungen als primärem Tatmittel. Die Akteure wollten Anschläge durchführen, die medial mit denen des 11. Septembers mithalten sollten. Mittlerweile sind die Tätertypen, Tatmittel und Ziele vielfältiger geworden. In den letzten Jahren kommt es vermehrt zu Einzeltäteroder KleinstzellenAnschlägen ohne größeren Planungsaufwand. Die Täter zeigen öfter psychische Auffälligkeiten und/oder haben eine allgemeinkriminelle Vorgeschichte. Eine virtuelle Radikalisierung spielt bei diesen Tätern eine größere Rolle, da ihnen intensive realweltliche Szeneanbindungen oft fehlen. Regelmäßig nutzt dieser Tätertypus einfache Tatmittel wie Kraftfahrzeuge oder Hiebund Stichwaffen. Bei diesem Vorgehen verwischen zunehmend die Grenzen zwischen Terroranschlag und Amoktat, was eine Aufklärung und Verhinderung im Vorfeld erheblich erschwert. Gegenwärtige Lage Derzeit setzt sich der Trend zum Anschlag einzelner Täter ohne größeren Planungsaufwand fort. Anschläge mit hohem Planungsaufwand und komplexem Vorgehen werden durch die Ermittlungsarbeit und internationale Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden erschwert. Zudem fehlt derzeit ein "sicherer Hafen", der dem ehemaligen "Kalifat" gleichen würde. Weiterhin fallen durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie viele "typische" Anschlagsziele mit Symbolwert und potenziell hoher Opferzahl weg. So gibt es etwa nur wenige Großveranstaltungen und der öffentliche Nahverkehr wird seltener genutzt. Schon das simple "Zusammenhalten" der jihadistischen Szene wird durch die Corona-Pandemie vor Herausforderungen gestellt. 41 "Wie erfolgreich Antiterrorismus ist, hängt davon ab, wie gut die Sicherheitsbehörden zwischen (tatsächlichen) Terroristen, Szene und Restbevölkerung unterscheiden und wie zielgerichtet und effizient ihre Maßnahmen für jede Gruppe sind." Terrorismusforscher Peter R. Neumann: Die neuen Dschihadisten, Bonn 2015, S. 196 Die gegenwärtig größte Bedrohung geht von radikalisierten Einzeltätern aus, die sich von jihadistischen Gruppierungen virtuell zu Attacken inspirieren oder anleiten lassen. Damit kommt der Beobachtung und Aufklärung der jihadistischen Onlineaktivitäten eine immer größere Rolle zu. Rückblick und Ausblick Auch nach 20 Jahren intensiver Bemühungen ist der islamistische Terrorismus nicht besiegt. In dieser Zeit hat sich die jihadistische Bewegung nicht nur als äußerst resistent gegen Repression erwiesen, sondern auch zur weiteren Polarisierung der Gesellschaft beigetragen. Ihre Bekämpfung bleibt eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Die Aufgabe von Sicherheitsbehörden ist es, Anschlagsvorhaben von Einzelpersonen und Gruppen möglichst frühzeitig zu erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Zusätzlich dämmen sie die Verbreitung islamistischer Ideologie ein, die den Nährboden für Radikalisierung darstellt. Wachsende Herausforderungen könnten sich hier bei Rückkehrern ergeben. Insbesondere das Schicksal vieler IS-Anhängerinnen aus Deutschland, die in Syrien inhaftiert sind, ist weiterhin offen. Viele wollen mit ihren Kindern zurückkehren. Bereits ihre "Tauhid"-Finger als Glaubensgeste für die Rückführung nach Deutschland ist politisch und adEinheit Gottes. Quelle: Telegram ministrativ anspruchsvoll. 42 Jede erfolgreiche Rückführung erfordert zudem die unmittelbare strafrechtliche Aufarbeitung möglicher Straftaten der zurückgekehrten Person. Ferner ist die nachhaltige Deradikalisierung und Distanzierung von der jihadistischen Ideologie ein zentrales Ziel der Arbeit mit Rückkehrern. Dabei gilt der Blick auf den Einzelfall, da sich die individuellen Motive hinter einer Rückkehr stark unterscheiden können. Das Spektrum reicht von weiterhin gewaltbereiten Jihadisten bis hin zu Desillusionierten, die der Szene den Rücken kehren. In jedem Fall ist ein behördenübergreifendes Zusammenspiel erforderlich, um die individuelle strafrechtliche Verantwortung, das Abwägen möglicher Sicherheitsrisiken und die soziale Reintegration im Blick zu behalten. Weitere Themen, die absehbar die Arbeit von Sicherheitsbehörden im Bereich Islamismus mitbestimmen dürften, sind die jihadistische Sozialisation in Familien und die Radikalisierung in Haftanstalten. Abzuwarten bleibt, ob sich Afghanistan unter den "Taleban" zu einem neuen sicheren Hafen für jihadistische Akteure entwickeln wird. Die "Taleban" verfolgen jedenfalls derzeit keine international ausgerichtete Agenda. Sollte sich dies ändern, könnte eine Verschärfung der Bedrohungslage die Folge sein. Davon unberührt sorgte bereits die Machtergreifung der "Taleban" bei vielen Islamisten für Euphorie, da man ihren Sieg als Sieg Gottes über die "Ungläubigen" deutete. Die "Taleban"-Herrschaft gilt ihnen als Beweis, für die richtige Sache zu kämpfen. Dies könnte in der jihadistischen Szene motivierend wirken. Die beiden großen Terrororganisationen und ihre Ableger werden weiter miteinander konkurrieren und um Anhänger und Sympathisanten werben. Dabei werden sie wahrscheinlich versuchen, eigene Anschläge im Westen durchzuführen. Ein Szenario dabei wären Hit-Teams, die medienwirksame Angriffe ausführen sollen. Im schlimmsten Falle droht ein Überbietungswettbewerb beider Organisationen auf europäischem Boden. Ferner werden sie massiv Onlinepropaganda einsetzen, die nahezu sicher zu weiteren Anschlägen in westlichen Staaten aufrufen wird. In naher Zukunft dürfte sich der Trend der einfach gelagerten Anschläge wahrscheinlich fortsetzen. Sollten neue "Islamische Staaten" entstehen oder alte erstarken - vor allem territorial -, könnte es zu neuen Ausreisehochs kommen und sich die inländische Bedrohungslage verschärfen. 43 Am 3. Februar 2022 starb der Anführer des IS Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurashi während eines Einsatzes von US-Spezialkräften im Nordwesten Syriens. Er leitete die Organisation seit dem Tod des ersten selbernannten IS-"Kalifen" Abu Bakr al-Baghdadi. Abu al-Hasan al-Hashimi al-Qurashi wurde rund einen Monat später zum Nachfolger des verstorbenen "Kalifen" ernannt. Der Tod eines weiteren Anführers bedeutet für den IS angesichts der vermessenen Inszenierung der Organisation einen erneuten Reputationsverlust. Inwieweit der plötzliche Führungswechsel die regionale und transnationale Handlungsfähigkeit der Gruppierung beeinträchtigt, lässt sich noch nicht klar bestimmen. Möglicherweise wird der IS sich trotz derzeitiger Erfolge seiner Regionalableger mittelfristig zu einer Terrororganisation entwickeln, die nur noch im Untergrund agieren kann und vom bleibenden Repressionsdruck immer weiter geschwächt wird. Sicher ist aber, dass die vollmundig verkündeten Ziele eines globalen oder auch nur regionalen "Kalifats" weder die Jihadisten des IS noch die "al-Qaidas" dauerhaft erreichen konnten. Gemessen an seinen Ansprüchen ist der Jihadismus an den eigenen Zielen gescheitert. 2. Extremisten instrumentalisieren Hochwasserkatastrophe Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat 2021 in Abstimmung mit den Landesbehörden für Verfassungsschutz den neuen Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" eingerichtet.2 Dies trägt in erster Linie der Entwicklung in der heterogenen Protestszene gegen die Corona-Politik Rechnung. Teile der Protestbewegung versuchen unter anderem durch die Verbreitung von Verschwörungsmythen, "Fake News" und antisemitischen Ressentiments das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen und deren Repräsentantinnen und Repräsentanten zu erschüttern. 2 Siehe Kapitel Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates, S. 113 ff. ? 44 Dabei nehmen sie Verbindungen zum Rechtsextremismus sowie zum "Reichsbürger"und "Selbstverwalter"Spektrum in Kauf. Sie wenden sich gegen staatliche Maßnahmen und behördliche Anordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und machen demokratische Entscheidungsprozesse verächtlich. Personen und Gruppierungen, die der Verfassungsschutz dem neuen Phänomenbereich zuordnet, beschränken sich in ihrer demokratiefeindlichen Agitation Gesetze zum Infektionsschutz wernicht nur auf den Themenkomplex "Corona" und die den als "Entmächtigung" der Bürger dargestellt. Quelle: Pixabay damit einhergehenden staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Am Beispiel der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen im Juli 2021 wird deutlich, dass diese Szene schnell neue beziehungsweise andere Themen aufgreift und in ihre Propaganda einbaut, um sie für ihre gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen zu instrumentalisieren. Agitation im Internet Kurz nachdem die Dimension der Hochwasserkatastrophe in der Nacht vom 14. auf den 15 Juli 2021 bekannt wurde, betrieben Extremisten aus der sogenannten Querdenken-Szene und Akteure des neuen Phänomenbereichs in den sozialen Medien eine massive Agitation gegen den Staat, dessen Institutionen, Repräsentantinnen und Repräsentanten - nicht zuletzt gegen die vor Ort eingesetzten Hilfskräfte. Die Extremisten verfolgten damit primär das Ziel, das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit des Staates bei der Bewältigung der Krise zu untergraben. Um staatliche Institutionen sowie die Bundesbeziehungsweise Landesregierung zu diskreditieren und zu delegitimieren, bedienten sie sich systematischer Falschmeldungen im Internet. So wurde kolportiert, man werde von der PoliDrastisches Beispiel für erfundene Nachrichten zei "massiv daran gehindert", zu helfen; solche ("Fake News"). Quelle: Telegram 45 Verzerrungen gipfelten in Aussagen wie: "Feuerwehr, Polizei, THW, Politik und Medien - alle nutzlos". Polizeiliche Maßnahmen wurden auf diese Weise per se diskreditiert. Politikerinnen und Politiker wurden als "korruptes Pack" tituliert, das man aus Deutschland "schmeißen" müsse. Mit der Verbreitung von Verschwörungsnarrativen und "Fake News" im Zusammenhang mit der Hochwasserkatastrophe wurde ebenfalls das Ziel verfolgt, Misstrauen gegenüber dem Staat und dessen Institutionen zu schüren. So wurde die haltlose Behauptung verbreitet, dass in Bad Neuenahr-Ahrweiler "600 Babyund Kinderleichen" angeschwemmt worden seien. Dies sei der Grund, warum Rettungskräfte abgezogen würden und Was sind "Chemtrails"? freiwilligen Helfern der Zugang zu den Katastrophengebieten verwehrt werde. Die "Chemtrail"-Theorie ist eine typische VerschwörungserzähZu den im Kontext mit der Flutkataslung, wonach eine verschwiegetrophe verbreiteten Verschwörungserne Elite aus mächtigen Staaten zählungen im Internet zählt auch, dass und Persönlichkeiten über die das Wetter bewusst durch sogenannte Kondensstreifen von Flugzeugen Chemtrails manipuliert und somit die Chemikalien versprühen soll, um Hochwasserkatastrophe künstlich erauf diesem Weg Einfluss auf das zeugt worden sei. Diese Aussagen wurWetter und das Klima zu nehmen, die Bevölkerung zu maniden in das Narrativ eingebettet, der pulieren, Menschen zu vergiften, Staat beziehungsweise die Regierung also letztlich um das Weltgeführe einen Krieg gegen die eigene schehen in ihrem Sinne zu beeinBevölkerung und versuche hierdurch flussen. andere Verbrechen, wie den Mord an Kindern, zu vertuschen. Extremisten starten Hilfsaktion vor Ort Führende Köpfe der "Querdenker"-Bewegung, die dem neuen Phänomenbereich zugerechnet werden, veröffentlichten Spendenund Mobilisierungsaufrufe für eine Hilfsaktion in den betroffenen Katastrophengebieten. So nahm der einschlägig bekannte Bodo Schiffmann in wenigen Tagen Spendengelder in Höhe von mehr als 700.000 Euro ein, die nach eigenen Angaben den Opfern der Katas46 trophe zu Gute gekommen sein sollen. Gemeinsam mit anderen szenebekannten Personen, wie dem Gründer von "Querdenken 711 - Stuttgart", Michael Ballweg, startete Schiffmann ein "Hilfsprojekt" im Katastrophengebiet, ohne dabei selbst vor Ort zu sein. Ein ehemaliger Oberstleutnant der Bundeswehr sollte in ihrem Auftrag die "Hilfsaktion" im Katastrophengebiet leiten. Frühzeitig stellte sich heraus, dass sich in diesem Zusammenhang eine Grundschule in Bad NeuenahrAhrweiler zu einem Ausgangspunkt der Szene entwickelte, in der unter Beteiligung von Extremisten eine Art Hilfsstützpunkt errichtet worden war. So wurde auf dem Nachrichtenkanal Telegram ab dem 18. Juli, also drei Tage nach der Naturkatastrophe, die Adresse der Grundschule in Bad NeuenahrAhrweiler verbreitet. Hilfsgüter könnten dort abgegeben werden und Helfer sich dort melden. Offenbar erzielte die Mobilisierung insbesondere über Telegram ihre gewünschte Wirkung, denn das "Hilfsprojekt" wurde rasch durch weitere Initiativen aus dem Spektrum der Corona-Maßnahmen-Kritiker mit Logistik, Hilfsgütern und Personal unterstützt. Zudem entfaltete es eine enorme Anziehungskraft auf extremistische Szenegrößen wie auch Rechtsextremisten, "Reichsbürger und Selbstverwalter" aus dem gesamten Bundesgebiet, die sich an dem Projekt beteiligen wollten und zeitweise in der Grundschule aufhielten. Aufgrund der erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit und des daraus resultierenden Drucks verließen die Extremisten in der Folge das Schulgebäude. In den sozialen Netzwerken, insbesondere auf Telegram, wurden die Ereignisse in der Schule nun weit weniger thematisiert und die "Hilfsaktion" verlor in der extremistischen Szene schnell an Anziehungskraft. Ende Juli wurde die Schule als "Stützpunkt" gänzlich aufgegeben, da diese für den anstehenden Schulbetrieb wiederhergerichtet werden sollte. Nachdem die verbliebenen Personen der Aufforderung zum Verlassen der Schule nachgekommen waren, wurde dies in den sozialen Medien der Corona-Protestszene und darüber hinaus reichweitenstark aufgegriffen und teilweise in den Kontext extremistischer Narrative eingebettet. 47 Fazit Extremisten verfügten über Sachund Geldmittel und konnten dadurch schnell an Ort und Stelle Hilfe leisten. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass es ihnen eigentlich nur um die Vermarktung beziehungsweise Inszenierung der Hilfsaktion auf den jeweiligen Internetpräsenzen und in den sozialen Medien ging. Sie wollten sich als "Kümmerer" profilieren. Die Hilfsbedürftigkeit der Bevölkerung wurde ausgenutzt, instrumentalisiert und in gängige Narrative gesetzt. Personen, die dem neuen Phänomenbereich zugerechnet werden, versuchten, die "Hilfsaktion" an der Grundschule in Bad Neuenahr-Ahrweiler für ihre Zwecke zu missbrauchen. Dabei ist zu beachten, dass nicht alle Personen, die sich zeitweise als Helfer in der Schule aufhielten oder diese unterstützten, einer extremistischen Bestrebung zugerechnet werden können. Viele Hilfswillige wurden von den Extremisten vor Ort schlicht ausgenutzt. Anhand dieses Beispiels wird abermals deutlich, dass vor allem soziale Medien zur Mobilisierung genutzt werden. Ohne die digitale Vernetzung wäre eine derart ereignisnahe, dynamisch verlaufende Aktion wie in Bad Neuenahr-Ahrweiler kaum denkbar. Zudem belegt sie eine zunehmende Verflechtung von bislang nicht miteinander bekannten Extremisten im virtuellen Raum, die sodann durch ein auslösendes Ereignis realweltlich in Erscheinung treten. Digitale Medien dienen hier als Verstärker bestehender Meinungen, Überzeugungen und Narrative, welche insbesondere von bekannten Extremisten als Multiplikatoren verbreitet werden und binnen kürzester Zeit sowie mit großer Reichweite Gleichgesinnte erreichen. Anhand der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zeigt sich, dass Extremisten des Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" spontan auch Themenkomplexe aufgreifen und für ihre demokratiefeindlichen Bestrebungen nutzen, die nichts mit den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu tun haben. Insofern ist auch nach dem Ende der Corona-Pandemie weiterhin damit zu rechnen, dass sich Extremisten neuen Themenfeldern zuwenden und dadurch im Fokus des Verfassungsschutzes bleiben. 48 3. Keine Waffen in den Händen von Extremisten Ein wesentliches Ziel der Sicherheitsbehörden ist es, Extremisten den Zugang zu Waffen und Munition zu verwehren sowie mit dafür Sorge zu tragen, dass waffenrechtliche Erlaubnisse nachträglich entzogen und Waffen eingezogen werden können. Die Gründe liegen auf der Hand: Das enorme Gefährdungspotenzial, das von Waffen im Besitz von Extremisten ausgeht, dokumentieren insbesondere die in den zurückliegenden Jahren mit Schusswaffen verübten rechtsextremistischen beziehungsweise rechtsterroristischen Anschläge. Im Februar 2020 wurde die nach dem Waffengesetz vorgesehene Regelabfrage, die bereits die örtlichen Polizeibehörden einbezog, auf den Verfassungsschutz erweitert. Das heißt, die Waffenbehörde ist seither gehalten, im Rahmen der obligatorischen Zuverlässigkeitsüberprüfung stets auch beim Verfassungsschutz anzufragen, ob dort Erkenntnisse zur Person vorliegen, die gegen die notwendige Zuverlässigkeit und persönliche Eignung des Antragstellers sprechen. Dieses Verfahren Vielen Rechtsextremisten ist eine Affinität zu Waffen eigen. gilt sowohl bei jedem Erstantrag auf Quelle: Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz Erteilung einer waffenrechtlichen Erlaubnis als auch bei allen Folgeüberprüfungen. In Rheinland-Pfalz gibt es aktuell rund 96.000 Inhaberinnen und Inhaber waffenrechtlicher Erlaubnisse, deren "Zuverlässigkeit" überprüft wird. Es dürfte etwa drei Jahre dauern, bis eine Regelabfrage zu jeder Person durchgeführt sein wird. Der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz hat daher alle Extremisten, die über waffenrechtliche Erlaubnisse verfügen (Stand: 15. März 2022), unabhängig von der eingangs beschriebenen Regelabfrage proaktiv einer Prüfung unterzogen. Dabei ist aufgrund der ideologisch bedingten Waffenaffinität die höchste Zahl im Rechtsextremismus festzustellen, gefolgt von der "Reichsbürger"und "Selbstverwalter"-Szene. So verfügten in der rechtsextremistischen Szene in RheinlandPfalz etwa 120 Personen über waffenrechtliche Erlaubnisse. In der Hälfte der Fäl49 le konnten den Waffenbehörden gerichtsverwertbare Erkenntnisse übermittelt werden, bei der anderen Hälfte war dies überwiegend aus Rechtsund Geheimhaltungsgründen nicht möglich. Im Zusammenhang mit der "Reichsbürger"-Szene wird die Effizienz dieser Verfahrensweise besonders deutlich: Von ursprünglich rund 80 Personen mit waffenrechtlicher Erlaubnis konnten inzwischen 70 Fälle abgeschlossen werden, insbesondere durch Entzug oder freiwillige Abgabe der Erlaubnisse sowie durch Einzug oder Rückgabe der Schusswaffen. In den anderen Phänomenbereichen liegt die Zahl der waffenrechtlichen Erlaubnisse jeweils im einstelligen beziehungsweise unteren zweistelligen Bereich. Allerdings kann trotz der Erweiterung der Regelabfrage auf die Verfassungsschutzbehörden und Übermittlung der nachrichtendienstlichen Erkenntnisse an die zuständigen Waffenbehörden künftig nicht ausgeschlossen werden, dass Extremisten auf legale Weise Waffen erlangen. Dies liegt zum einen daran, dass die rechtlichen Hürden des Waffengesetzes hoch sind. Insbesondere die Regelung, dass Erkenntnisse nicht älter als fünf Jahre sein dürfen, führt dazu, dass weiter zurückliegende Tatsachen, unabhängig von ihrer Aussagekraft, nicht in die Prüfung einfließen dürfen. Hinzu kommt die Problematik, dass Erkenntnisse oftmals dem "Quellenschutz" unterliegen oder aus anderen Gründen geheimhaltungsbedürftig sind. Der Waffenbehörde kann der Verfassungsschutz in diesen Fällen lediglich per Behördenzeugnis attestieren, dass die Person dem extremistischen Spektrum zugerechnet wird. Im Ergebnis hat die Erweiterung der Regelabfrage dazu geführt, dass auch beim Verfassungsschutz vorliegende Erkenntnisse in den Verfahren genutzt werden können. Derzeit wird auf Bundesebene geprüft, ob - beispielsweise durch eine Verlängerung der Verwendungsfrist - noch zusätzliche Informationen einbezogen werden können. Unabhängig davon wird die Verfassungsschutzbehörde Rheinland-Pfalz auch künftig die Waffenbehörden durch weitestmögliche Übermittlung von Erkenntnissen aktiv dabei unterstützen, dass Waffen nicht in die Hände von Extremisten gelangen. 50 4. Extremismus 2.0 - Digitalisierung schreitet voran Die Nutzung sozialer Medien weitet sich permanent aus und Extremisten aller Phänomenbereiche nehmen intensiv an dieser Entwicklung teil. Vor allem in den vergangenen Jahren hat sich im digitalen Raum inzwischen eine regelrechte Parallelwelt gebildet. Diese hat in ihrer Diversität und Qualität ein bislang ungekanntes Maß erlangt. Die Aktivitäten reichen von öffentlichkeitswirksamer, ideologisch durchdrungener Propaganda über Versuche der Meinungsbeeinflussung durch Verbreitung von Falschinformationen (Stichwort: "Fake News") und Verschwörungsnarrativen bis hin zur In den Händen von Extremisten kann die Tastatur zur "Waffe" werden. Symbolbild/Quelle: Pixabay Mobilisierung, Rekrutierung und Organisation in verborgenen virtuellen Gruppen und Räumen. Von Bedeutung für Extremisten sind die sozialen Medien zudem für die Vernetzung und Radikalisierung. Dynamische Vernetzung, Gefahr der Radikalisierung Die virtuelle Vernetzung von Extremisten mit Gleichgesinnten verläuft unter den besonderen Bedingungen der von ihnen genutzten sozialen Medien. Deren Plattform-Algorithmen schlagen nach einem ersten Kontakt mit gleichdenkenden Personen oder Organisationen im Netz automatisch weitere Profile vor, die für den Nutzer (beispielsweise aufgrund ähnlicher Profilnamen und -Inhalte) interessant sein könnten. Durch diese im Hintergrund wirkende Funktionsweise sozialer Netzwerke wird die virtuelle Vernetzung erheblich vereinfacht und beschleunigt. Von diesem Punkt an ist eine Vernetzung und eine damit einhergehende Radikalisierung oft ein Selbstläufer. Auf solche Weise entstehen Foren, Gruppen und andere virtuelle Räume, in denen sich regelrechte "Echokammern" und "Filterblasen" bilden, in denen sich extremistische Überzeugungen und Inhalte verdich51 ten beziehungsweise vervielfältigen. Die Folge ist eine extremistische Subkultur mit unterschiedlichsten Ausprägungen, die in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen ist. Ein Beispiel dafür ist eine rein virtuell existierende Szene, in der insbesondere rechtsextremistisch motivierte Attentäter und Amokläufer glorifiziert werden und ein regelrechter Kult um diese Personen geschaffen wird. In Foren und Chatgruppen werden Hass und Hetze, Tatvideos und Bildmaterial geteilt, mit dessen Hilfe sich die Nutzer gegenseitig auf ein immer höheres Radikalisierungsniveau befördern. In diesem Kontext fiel dem Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz 2021 im Bereich Rechtsextremismus ein Nutzer auf, der in entsprechenden Glorifizierung des neuseeländischen RechtsChatgruppen gewaltverherrlichende, homoextremisten und Attentäters Brenton Tarrant. phobe, rassistische und antisemitische Inhalte Quelle: Telegram veröffentlichte und zu konkreten Amoktaten aufrief. Durch die Sicherheitsbehörden konnte der betreffende Nutzer schließlich enttarnt und gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet werden. Jugendliche besonders gefährdet Auffällig ist, dass es sich bei den Konsumenten und auch Autoren von einschlägigen Online-Inhalten vermehrt um Jugendliche handelt. Deren Affinität, insbesondere für rechtsextremistische Darstellungen und Texte, dürfte unter anderem auf die zunehmende Verbreitung solcher Inhalte und die jugendgerechten Darstellungsformen in der virtuellen Welt zurückzuführen sein. Ein Beispiel ist das sogenannte Meme. Durch Makaberes Beispiel für ein rechtsextremistisches Meme. die Verbindung von Wörtern und insbeQuelle: VK sondere einprägsamen Bildern verbrei52 ten Rechtsextremisten ihre rassistischen und gewaltverherrlichenden Botschaften in hoher Taktung und mit großer Reichweite. Da Memes häufig vermeintlich humoristisch aufgebaut sind, eignen sie sich, um niedrigschwellig extremistisches Gedankengut speziell unter Jugendliche zu bringen. Fazit Die in Ansätzen skizzierte fortwährende Entwicklung verdeutlicht, dass sich das Internet im Laufe der Zeit zu einem - wenn nicht dem - zentralen Bezugspunkt für Extremisten, insbesondere Rechtsextremisten, entwickelt hat und ihnen neben der sogenannten Realwelt auch eine virtuelle "Heimat" gibt. Personen, die sich ohne das Internet nie kennengelernt hätten, finden und vernetzen sich. "Echokammern" und "Filterblasen" entstehen in zum Teil abgeschotteten virtuellen Räumen, lassen Hemmschwellen drastisch sinken und sorgen für ein gestiegenes Maß an Radikalisierung. Dies kann zu realweltlichen Gewalttaten bis hin zu terroristischen Anschlägen führen. Außerdem entstehen verschiedenste Subkulturen, deren Anhängerschaft permanent neue Formate extremistischer Inhalte produziert, rezipiert und verbreitet. Während die Internetszene immer einfallsreicher und professioneller in der Schaffung neuer inhaltlicher Formate geworden ist, ermöglicht die technische Weiterentwicklung der durch Extremisten genutzten sozialen Netzwerke und Messenger-Dienste zugleich ein immer leichteres Abtauchen ins Verborgene ("Going Dark"). Das Internet bildet insofern ein Kaleidoskop sämtlicher extremistischer Facetten und beherbergt eine nahezu unüberschaubare Parallelwelt. Für die Sicherheitsbehörden hat die Beobachtung dieser Parallelwelt erheblich an Bedeutung gewonnen und dürfte sich perspektivisch zu einem ebenso großen Beobachtungsfeld wie die realweltlichen Erscheinungsformen der extremistischen Phänomenbereiche entwickeln. 53 54 Rechtsextremismus und -terrorismus 55 1. Personenpotenzial 2021 2020 Gesamt 740 730 Gewaltorientierte* 150 150 Parteien und parteiabhängige Strukturen 295 285 * NPD 150 150 * "Der Dritte Weg" 50 50 * "DIE RECHTE" 15 15 * "Junge Alternative" 40 30 * "Neue Stärke Partei" 10 - * Sonstige 30 - Parteiunabhängige Strukturen 210 210 Unstrukturiertes Personenpotenzial** 235 235 Die Zahlenangaben sind zum Teil geschätzt und gerundet. Gesamtzahlen ohne Mehrfachmitgliedschaften. * Die Zahl der Gewaltorientierten ist eine Schnittmenge und beinhaltet vor allem Teile des unstrukturierten Personenpotenzials sowie Neonazis. ** Einschließlich ca. 30 Personen aus dem "Reichsbürger"-Spektrum. 2. Überblick und Entwicklungen 2021 Die derzeit größte Herausforderung für die freiheitliche demokratische Grundordnung unseres Landes ist weiterhin der Rechtsextremismus und -terrorismus. Die Gefahren, die von rechtsextremistischen Gruppierungen und Einzelpersonen für die Demokratie und Gesellschaft ausgehen, sind unverändert hoch. Der Verfassungsschutz, der sich nach seinem Selbstverständnis als "Frühwarnsystem der Demokratie" versteht, hat die Aufgabe, diese Gefahren frühzeitig zu erkennen und hierüber zu informieren. Ihr besonderes Augenmerk legt die Verfassungsschutzbehörde dabei weiterhin auf den gewaltorientierten Rechtsextremismus. Die Zahl der politisch motivierten Straftaten -rechtsbelief sich 2021 in Rheinland-Pfalz auf 754 (2020: 759). Charakteristisch für Rechtsextremisten ist nach wie vor ihre große Affinität zu Schusswaffen. Ein wichtiges Anliegen ist es daher, ihnen den Zugang zu Waffen 56 zu verwehren, waffenrechtliche Erlaubnisse zu entziehen und Waffen einzuziehen (siehe hierzu Brennpunktartikel, Seite 49 f.). Die rechtsextremistische Szene fokussierte sich 2021 vorwiegend auf die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und das Corona-Protestgeschehen. Darüber hinaus versuchten Rechtsextremisten, die verheerende Flutkatastrophe im Ahrtal für ihre Propaganda zu instrumentalisieren. Wenn rechtsextremistische Parteien bei der Bundesoder Landtagswahl antraten, konnten sie keine nennenswerten Erfolge verbuchen. Rechtsextremistische Parteien und parteiabhängige Gruppierungen in Rheinland-Pfalz Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) bleibt in RheinlandPfalz mit ca. 150 Mitgliedern weiterhin die zahlenmäßig stärkste rechtsextremistische Organisation. Trotz der seit Jahren rückläufigen Mitgliederzahlen gelingt es der Partei, regelmäßig öffentlichkeitswirksame Aktionen zu organisieren. Außer Demonstrationen und wiederkehrenden Gedenkveranstaltungen wurden auch im Berichtsjahr wieder sogenannte Schutzzonen-Aktionen durchgeführt. Die NPD nutzte sowohl die Corona-Pandemie als auch die verheerende Flutkatastrophe im Ahrtal zu propagandistischen Zwecken. Bei der Landtagswahl 2021 in Rheinland-Pfalz trat die Partei nicht an. Bei der Bundestagswahl erreichte sie 0,1 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen. Den Agitationsschwerpunkt der Partei "Der III. Weg" stellten 2021 die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie dar. Darüber hinaus nahm auch diese rechtsextremistische Partei die Flutkatastrophe im Ahrtal zum Anlass, gegen den Staat zu agitieren. Die Mitgliederzahl der Partei "DIE RECHTE" bleibt mit etwa 15 Personen auf niedrigem Niveau. Die Partei weist Überschneidungen zur rheinland-pfälzischen Kameradschaftsszene auf, insbesondere zur "Kameradschaft Rheinhessen". Dies erklärt, warum fast nur in Rheinhessen öffentliche Aktivitäten registriert wurden, die sich auf Kundgebungen oder Flugblattverteilungen beschränkten. Themenfelder waren hierbei die Asylpolitik und die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. 57 Mitte 2020 wurde die "Neue Stärke Partei" bekannt, die erst im Folgejahr begann, bundesweite Organisationseinheiten aufzubauen. Die Gruppierung tritt hauptsächlich in Thüringen auf. In Rheinland-Pfalz existiert die "Neue Stärke Rheinhessen", die als "Abteilung" der "Neuen Stärke Partei" anlässlich des Bundesparteitages im November 2021 gegründet wurde. Die Neugründung führte jedoch insgesamt nicht zu einer größeren Anhängerschaft der rechtsextremistischen Parteien im Land. In Rheinland-Pfalz gab es seitens der "Neuen Stärke Rheinhessen" vor allem gemeinsame Aktionen mit der neonazistischen "Kameradschaft Rheinhessen", wobei von einer Überschneidung des Personenpotentials auszugehen ist. Innerhalb der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) bildete die Gruppierung "Der Flügel" eine Strömung, die sich formal allerdings Ende April 2020 auflöste. Dies war nicht zuletzt auch auf die Beobachtung durch den Verfassungsschutz zurückzuführen. Dennoch festigten sich die vormals von "Flügel"-Anhängern vertretenen Positionen innerhalb der Gesamtpartei weiter. Im Übrigen wurden bei der Bundestagswahl 2021 Abgeordnete der Partei gewählt, bei denen es sich um Anhänger beziehungsweise Sympathisanten des ehemaligen "Flügels" handelt. Keine Veränderung innerhalb der Neonazi-Szene Innerhalb der rechtsextremistischen Szene machen Neonazis den größten Teil des gewaltorientierten Personenpotenzials aus. Seit mehreren Jahren stellt die Neonazi-Szene mit rund 200 Personen zudem den größten Anteil der parteiunabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen in Rheinland-Pfalz. Das Spektrum gliedert sich überwiegend in lose, informelle Zusammenschlüsse mit niedrigem Organisationsgrad. Straff strukturierte "Kameradschaften" haben hingegen an Bedeutung verloren. Zu den neonazistischen "Kameradschaften" gehören nach wie vor die "Kameradschaft Rheinhessen" und der "Nationale Widerstand Zweibrücken. Im Jahr 2021 beteiligte sich die Kameradschaftsszene regelmäßig an Veranstaltungen der Partei "DIE RECHTE". 58 "Neue Rechte" Im Berichtszeitraum musste die "Identitäre Bewegung" einige Rückschläge hinnehmen. Neben den aufgrund der Corona-Beschränkungen wenigen öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten wurde die Gruppierung "Generation identitaire" im März 2021 von der französischen Regierung verboten, da sie zu Hass aufgerufen und wie eine private Miliz agiert habe. Bei der "Generation identitaire" handelt es sich um die bekannteste Gruppe der sogenannten Identitären Frankreichs. Das österreichische Parlament hat im Juli zudem ein Verbot beschlossen, die Symbole der "Identitären Bewegung Österreich", insbesondere das Lambda-Symbol, öffentlich zu verwenden. Im Herbst berichtete die "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) über sogenannte Grenzgänge ihrer Aktivisten an der deutsch-polnischen Grenze, um "unerlaubte Einreisen" von Menschen aus arabischen Staaten zu dokumentieren und melden. Darüber hinaus agitierte die IBD 2021 gegen die staatlichen Corona-Beschränkungsmaßnahmen. Hierbei bedienten sie sich typischer rechtsextremistischer Narrative und Verschwörungsmythen, wie der Behauptung, dass "die Politik" die Corona-Pandemie zur Durchsetzung einer "neuen Weltordnung" nutze. Hass und Hetze im Netz unvermindert intensiv Rechtsextremisten nutzen weiterhin in unverminderter Intensität das Internet und verschiedene soziale Netzwerke und Messenger-Dienste zur Verbreitung von Hass und Hetze. Ebenso groß bleibt die Bedeutung des Internets für Rechtsextremisten hinsichtlich Kommunikation, Vernetzung und Organisierung sowie der Verbreitung ihrer Weltanschauung mittels Agitation und Propaganda. Auch durch die zeitweiligen Lockerungen der Corona-Beschränkungsmaßnahmen und den damit einhergehenden wachsenden Möglichkeiten realweltlicher Aktivitäten nahm das Ausmaß der Virtualisierung nicht ab. Vor allem die Nutzung neuer und alternativer sozialer Medien, die einen höheren Verschlüsselungsgrad bieten und dessen Betreiber sich durch kein oder nur geringes Eingreifen in die Inhalte und Aktivitäten ihrer Nutzer auszeichnen, erfreuen sich weiterhin großer Beliebtheit. 59 Wieder mehr rechtsextremistische Musikveranstaltungen Im Verlauf des Jahres 2021 nahm die Zahl der rechtsextremistischen Konzerte und Liederbeziehungsweise Balladenabende aufgrund der zeitweiligen Lockerungen der Corona-Bekämpfungsmaßnahmen wieder deutlich zu. Die Gefahr der Verbreitung rechtsextremistischer Ideologie durch Musik als Propagandamittel ist unverändert hoch. 3. Rechtsterrorismus Die Bedrohung durch den Rechtsterrorismus bleibt hoch. Anschläge, die in den vergangenen Jahren Menschenleben gefordert haben, und das rechtzeitige Aufdecken mehrerer rechtsterroristischer Was ist Terrorismus? Gruppen, bevor diese zur Tat schreiten konnten, mahnen, wachsam zu bleiTerrorismus ist nach der Definiben. tion der Verfassungsschutzbehörden der nachhaltig geführte Nach wie vor gilt ein Hauptaugenmerk Kampf für politische Ziele, die mit Hilfe von Anschlägen auf der Sicherheitsbehörden der AufdeLeib, Leben und Eigentum andeckung individueller Radikalisierungsrer Menschen durchgesetzt werprozesse. Dabei spielt das Internet eine den sollen, insbesondere durch tragende Rolle. schwere Straftaten, wie sie in SS 129a Abs. 1 StGB genannt sind, In Rheinland-Pfalz wurden im Berichtsoder durch andere Straftaten, die zeitraum keine rechtsterroristischen zur Vorbereitung solcher StraftaGewalttaten und Strukturen bekannt. ten dienen. Jedoch kann deshalb nicht von einer Entwarnung gesprochen werden. Die Sicherheitsbehörden behalten die Entwicklungen vor allem im Internet fest im Blick und stehen im engen Austausch untereinander. 4. Gewaltorientierter Rechtsextremismus Der rechtsextremistischen Weltanschauung wohnen Menschenverachtung, Aggressivität und ein militantes Politikverständnis inne. Rechtsextremisten wäh60 nen sich in der Rolle "politischer Kämpfer"; entsprechend groß ist das Potenzial gewaltorientierter Rechtsextremisten im Bundesgebiet. Ihnen und ihrem Umfeld gilt ein Hauptaugenmerk des Verfassungsschutzes. "Combat 18" (C18) Die neonazistische Gruppierung "Combat 18 Deutschland" (C18) bestand in Deutschland seit spätestens 2014. Der Name steht für "Kampfgruppe Adolf Hitler" - abgeleitet vom ersten und achten Buchstaben des Alphabets (A und H). Bei C18 handelte es sich um eine neonazistische, rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche Vereinigung, die eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus aufwies und vor allem in der rechtsextremistischen Musikszene aktiv war. Die Gruppierung wurde 2020 bestandskräftig verboten. Einzelne Protagonisten der Gruppierung wohnen in Logo der Gruppe C18 Rheinland-Pfalz. Trotz des Verbotes ist zu erwarten, dass die Verbindungen einzelner C18-Anhängern und ihre ideologische Ausrichtung fortbestehen.3 5. Rechtsextremistische Parteien Rechtsextremistische Parteien nehmen in unterschiedlicher Intensität vordergründig am demokratischen Wettbewerb um die Gunst der Wählerinnen und Wählern teil und nutzen die Rechte, die ihnen nach dem Parteienprivileg des Grundgesetzes zustehen. Dabei verachten sie die Demokratie und arbeiten letzthin auf ihre Abschaffung hin. Dieses Paradoxon lässt sich in einer freiheitlichen Demokratie nicht in Gänze auflösen, auch nicht durch Verbote. Umso wichtiger ist es für die politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen, ihr Handeln konsequent zu entlarven und dabei ihre Ziele und Vorgehensweisen aufzudecken. 3 Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof führt eine Ermittlungsverfahren gegen Angehörige der Gruppierung "Combat 18" wegen des Verdachts von Verstößen gegen das Vereinigungsverbot. Am 6. April 2022 fanden bundesweit Razzien gegen Mitglieder von "Combat 18" statt. Vier Durchsuchungen in diesem Verfahren fanden in Rheinland-Pfalz statt. 61 5.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Die NPD zielt darauf ab, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen und den demokratischen Rechtsstaat durch einen an einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft" ausgerichteten autoritären Nationalstaat zu ersetzen. Dieses rassistische Konzept, das alle Menschen ausschließt, die aus Sicht der NPD nicht zur "Volksgemeinschaft" zählen, missachtet die Garantie der Menschenwürde und das Demokratieprinzip der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 17. Januar 2017, Az.: 2 BvB 1/13). Seit ihrer Gründung im Jahr 1964 Was ist staatliche Teilfinanziespielte die NPD als die älteste rechtsrung? extremistische Partei in Deutschland Das Parteiengesetz (PartG) entüber mehrere Jahrzehnte eine wichtihält Regelungen zur staatlichen ge Rolle in der rechtsextremistischen Teilfinanzierung der Parteien. Szene. Seit einigen Jahren verzeichnet Demnach haben alle Parteien die Partei allerdings einen MitgliederAnspruch auf staatliche Mitschwund, der sich im Jahr 2021 forttel, die nach dem endgültigen setzte. So ist aktuell von einer bundesWahlergebnis der jeweils letzten weiten Mitgliederzahl von weniger als Europaoder Bundestagswahl 3.500 auszugehen (2020: 3.500, 2019: mindestens 0,5 % oder einer 3.600, 2018: 4.000). Dies spiegelt sich Landtagswahl 1 % der für die Lisauch in den desaströsen Ergebnissen ten abgegebenen gültigen Stimbei Landtagswahlen und der Bundesmen erzielt haben. tagswahl 2021 wider. Weder im Bund noch in den Ländern, in denen die Partei bei Wahlen antrat, konnte die NPD die Hürden für eine staatliche Teilfinanzierung überwinden, sodass auf die Partei erhebliche finanzielle Probleme zukommen dürften. In Rheinland-Pfalz trat die NPD bei der Landtagswahl 2021 nicht an. Auch im Jahr 2021 gelang es der NPD insofern nicht, diesen Trend umzukehren. Die fortlaufenden Wahlniederlagen verstärken den innerparteilichen Unmut, weshalb Perspektiven und strategische Neuausrichtung bereits auf einem Bundesparteitag im Jahr 2020 diskutiert werden sollten. Dieser konnte jedoch aufgrund der Corona-Pandemie nicht wie geplant stattfinden und aus den gleichen 62 Gründen auch nicht im vergangenen Jahr. Nach einer Parteivorstandssitzung im Oktober 2020 veröffentlichte der NPD-Bundesvorsitzende Frank Franz ein YouTube-Video und erklärte, dass es zu grundlegenden Veränderungen kommen müsse. Diese wurden auf dem Bundesparteitag erwartet, der am 14. und 15. Mai 2022 angesetzt war. Entwicklung in Rheinland-Pfalz Die NPD gliedert sich in 16 Landesverbände, die sich wiederum in Kreisverbände unterteilen. In Rheinland-Pfalz umfasst der Landesverband die drei Kreisverbände Mittelrhein, Westpfalz und Trier. Die Zahl der NPD-Mitglieder beläuft sich konstant auf rund 150 Personen. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten gehen weiterhin überwiegend vom Kreisverband Westpfalz aus. Dies dürfte auf das Engagement des dort wohnhaften Hauptprotagonisten der rheinland-pfälzischen NPD, des Landesvorsitzenden Markus Walter, zurückzuführen sein. Werbung der NPD für die 2018 initiierte "Schutzzonen-Kampagne". Quelle: Facebook Neben Demonstrationen und wiederkehrenden "Gedenkveranstaltungen" wurden im Jahr 2021 "Schutzzonen-Aktionen" durchgeführt. Mit dieser Kampagne versucht die NPD insbesondere Geflüchtete und Migranten als "Gefahr für die öffentliche Sicherheit und existentielle Bedrohung für das deutsche Volk" zu diffamieren. So dokumentieren Parteimitglieder ihre Präsenz an öffentlichen Orten, um ein Gefühl der Sicherheit zu suggerieren. 63 Im Zuge der Corona-Pandemie nahm die Partei die staatlichen Beschränkungsmaßnahmen zum Anlass, die demokratischen Entscheidungen der Parlamente und Regierungen verächtlich zu machen. Die NPD versuchte sich darüber hinaus als anschlussfähige nationale Alternative für die bürgerliche Mitte zu präsentieren. In RheinlandPfalz nahmen vereinzelt Mitglieder der NPD an Demonstrationen gegen die Corona-Beschränkungsmaßnahmen teil. Die NPD missbrauchte zudem die FlutDie NPD instrumentalisiert die Flutkatastrophe im Juli 2021 katastrophe im Ahrtal für ihre verfasauf Facebook. Quelle: Facebook sungsfeindliche Propaganda. 5.2 "Der III. Weg"/"Der Dritte Weg" Die neonazistisch geprägte Partei "Der III. Weg" wurde im September 2013 in Heidelberg gegründet. Die Teilnahme an Wahlen, wie an der Bundestagswahl 2021 in Sachsen-Anhalt und Bayern, sichert ihr den durch das Parteienprivileg besonders geschützten Status. "Der III. Weg" versteht sich auch als "Bewegung". Quelle: Homepage "Der III. Weg" "Der III. Weg" verfügt bundesweit über keine flächendeckende Parteistruktur und gemessen am gesamten rechtsextremistischen Personenpotenzial über eine vergleichsweise geringe Mitgliederzahl. In Rheinland-Pfalz existieren nach der Eingliederung des "Stützpunktes Rheinhessen" in den "Stützpunkt Westerwald/ 64 Taunus" zusammen mit dem "Stützpunkt Pfalz" lediglich noch zwei regionale Verbände. Beide gehören dem Landesverband West an. Das rheinland-pfälzische Personenpotenzial umfasst weiterhin insgesamt etwa fünfzig Förderund Vollmitglieder. Programmatisch weist die Partei "Der III. Weg" eindeutige Anklänge an den historischen Nationalsozialismus auf. In ihrem "10-Punkte-Programm" fordert sie die Erhaltung und Entwicklung einer "biologischen Volkssubstanz" sowie die Schaffung eines "Deutschen Sozialismus". Offen kommunizierter Rassismus, Antisemitismus und die pauschale Ablehnung von Asylsuchenden und der damit einhergehenden massiven Fremdenfeindlichkeit belegen ebenso die neonationalsozialistische Ausrichtung der Partei wie ein immanenter Geschichtsrevisionismus. Maßgebliche Funktionäre der NSDAP und die Taten deutscher Soldaten der Weltkriege - insbesondere der "Wehrmacht" im Zweiten Weltkrieg - werden glorifiziert. "Der III. Weg" sieht sich als "ganzheitliche Organisation" und stützt die Parteiarbeit auf die drei Säulen "Politischer Kampf", "Kultureller Kampf" und "Kampf um die Gemeinschaft", die alle Lebensbereiche abzudecken versucht. Auch wenn die Partei faktisch ein Sammelbecken der neonazistischen Szene ist, versucht sie ihrerseits, an die bürgerliche Mitte anzuknüpfen, indem man sich als "Kümmerer" der Belange der deutschen Bevölkerung inszeniert. Das taktische Kalkül hinter diesem Unterfangen zielt neben dem Wunsch, sich in der gesellschaftlichen Mitte zu etablieren, darauf ab, neue Interessenten und Mitglieder sowie Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Anschluss an die Mitte der Gesellschaft versucht die Partei unter anderem über aktuelle Themen, wie die massive Kritik an Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, und die Selbstinszenierung als "Kümmerer" vor Ort zu erreichen. Entwicklungen 2021 Trotz ihrer geringen Reichweite trat die Partei "Der III. Weg" bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 an. Mit nur 513 Erststimmen und 7.830 Zweit65 stimmen belief sich ihr Wahlergebnis auf null Prozent. Auch die Teilnahme an den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Bayern verlief mit 0,2 Prozent in Sachsen-Anhalt und null Prozent in Bayern ähnlich erfolglos. Auf ihrer Website propagierte die Partei dies dennoch als Erfolg und ließ verlauten, das Ergebnis im Vergleich zur Europawahl 2019 verdoppelt zu haben und weiterhin von so vielen Wählern gewählt worden zu sein, dass deren Zahl die Mitgliederzahl um das Zehnfache überstiegen habe. Die Partei schloss daraus, eine Hochrechnung auf das ganze Bundesgebiet zeige, dass mehrere zehntausend Menschen darauf warten würden, von der Partei erreicht zu werden. Bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz am 14. März 2021 trat "Der III. Weg" nicht an. Im Bundestagswahlkampf hatte die Partei durch die Plakatkampagne "Hängt die Grünen!" bundesweit für Aufsehen gesorgt. Der Zusatz "Macht unsere nationalrevolutionäre Bewegung durch Plakatwerbung in unseren Parteifarben in Stadt und Land bekannt" war auf den Plakaten deutlich kleiner aufgedruckt. In einer gerichtlichen Auseinandersetzung vor dem Oberverwaltungsgericht Sachsen unterlag die Partei schlussendlich und musste die umstrittenen Plakate in der sächsischen Stadt Zwickau abnehmen. Nach Ansicht des Gerichts erfülle das Plakat den Wahlplakat der Partei "Der III. Weg". objektiven Tatbestand der Volksverhetzung. In Rheinland-Pfalz wurden keine Plakate bekannt. Derartige Plakataktionen der Partei sind nicht neu. "Der III. Weg" nutzt solche Aktionen regelmäßig, um zu provozieren, bundesweit mediale Beachtung zu finden und sich über die Stammwählerschaft hinaus bekannt zu machen. Am 13. November 2021 fand der Bundesparteitag der Partei statt, auf welchem der seit vielen Jahren in der rechtsextremistischen Szene aktive Matthias Fischer (Brandenburg) zum neuen Bundesvorsitzenden gewählt wurde. Er löste damit den Rheinland-Pfälzer Klaus Armstroff ab, der das Amt seit der Gründung der Partei im Jahr 2013 innehatte. Armstroff bekleidet als stellvertretender Vorsit66 zender jedoch weiterhin ein Amt und komplettiert zusammen mit drei Beisitzern den neuen Parteivorstand. Am 14. und 15. Juli 2021 kam es im nördlichen Rheinland-Pfalz zu einer verheerenden Hochwasserkatastrophe. Auch "Der III. Weg" nutzte dieses Ereignis und die Notlage der betroffenen Bevölkerung, um sich als vermeintlich wahrer "Kümmerer" der deutschen Betroffenen darzustellen und dem Staat Tatenlosigkeit vorzuwerfen. Im Zusammenhang mit Veröffentlichungen von eigenen Hilfsaktionen in Bad Neuenahr glorifiziert sich die Partei "Der III. Weg" als Helfer in der Not. Die Darstellungen vermitteln den Eindruck, als hätten sich die Rechtsextremisten den Weg zu den Notleidenden freikämpfen müssen und seien zugleich von der Polizei "mit boshaften Augen wie unter Wölfen" schikaniert worden. Im gleichen Atemzug wurde die Katastrophe in perfider Weise dazu genutzt, Menschen mit Migrationshintergrund als vermeintliche Plünderer darzustellen. "Sie sind mit die Ersten die zur Hilfe stehen, von staatlicher Seite war da noch niemand zu sehen. Dennoch nahmen sie entschlossen die Zügel in die Hand, und ringen um das Wohl der Menschen im geplagten Vaterland. (...) Die Volksgenossen halfen sich selber im Schulterschluss, "wir halten zusammen" war ihr fester Entschluss. Aufrufe wurden gestartet, man ließ keine Ruh, wo das System versagt - da greifen Bürgerhände zu! Auch DER III. WEG kämpfte sich den Weg zu den Notleidenden frei, aus ganz Deutschland kamen die Kameraden herbei." Auszug aus einem Gedicht auf der Website der Partei "Der III. Weg" Im Oktober 2021 führte die Partei sogenannte Grenzgänge an der deutsch-polnischen Grenze in Brandenburg durch, um vermeintlich illegale Grenzübertritte von Polen nach Deutschland zu verhindern. Diese Aktion löste bundesweit eine große mediale Aufmerksamkeit aus. Aktivisten aus Rheinland-Pfalz beteiligten sich nicht an der Aktion. "Der III. Weg" führt regelmäßig wiederkehrende überregionale Veranstaltungen durch, die neben der Vernetzung der Akteure insbesondere der Stärkung 67 der Gemeinschaft und Bindung an die Was bedeutet "Julfest"? Partei dienen. Im Jahr 2021 waren dies Im Nationalsozialismus sollte unter anderem der "Tag der Heimatdas christliche Weihnachtsfest treue 2021" am 3. Juli 2021 in Olpe durch das Julfest ersetzt und im (Nordrhein-Westfalen), das "HeldenSinne eines scheinbar germanigedenken" am 13. November 2021 in schen Erbes aufgeladen mit naWunsiedel (Bayern) oder die Weihtional-sozialistischer Ideologie, nachtsfeier am 11. Dezember 2021 in fortgeführt werden. Große Teile Siegen (Nordrhein-Westfalen). Parteider rechtsextremistischen Szeaktivisten aus Rheinland-Pfalz nahmen ne führen dieses Brauchtum fort lediglich in einer unteren einstelligen und bekennen sich damit indiPersonenzahl teil. rekt zur national-sozialistischen Ideologie. In Rheinland-Pfalz selbst finden weiterhin regelmäßig politische Stammtische, sogenannte Julfeiern "mit dem gemeinschaftlichen Singen von Kampf-, Volksund Heimatliedern" sowie freizeitliche Aktivitäten der Stützpunkte Pfalz und Westerwald/Taunus statt. Öffentlichkeitswirksame Aktionen waren aber nur in geringem Umfang zu verzeichnen. 5.3 "DIE RECHTE" Die 2012 in Hamburg gegründete Partei "DIE RECHTE" gilt weiterhin vornehmlich als "Auffangbecken" für Neonazis. Mit ihrem Parteienstatus beabsichtigt sie, neonazistische Propaganda unter dem Schutz des Parteienprivilegs zu betreiben und staatliche Sanktionsmaßnahmen zu umgehen. Das fälschlicherweise dem preußischen "Freiheitskämpfer" Auch 2021 waren die Mitgliederzahlen Theodor Körner zugeordnete Zitat offenbart die Demokratiefeindlichkeit der Partei "DIE RECHTE". Quelle: "DIE RECHTE" der Partei bundesweit rückläufig. Im August 2021 führte die Partei "DIE RECHTE" ihren 11. Bundesparteitag durch. Dabei wurde der Parteigründer Christian Worch nach seinem überraschenden 68 Rücktritt im Jahr 2017 wieder zum Bundesvorsitzenden gewählt. 2021 nahm die Partei lediglich an Kommunalwahlen in Niedersachsen ohne nennenswertes Ergebnis teil. Der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten liegt ohnehin weniger auf parteipolitischer Teilhabe als auf Demonstrationen, Kundgebungen und Mahnwachen. Das Programm der Partei ist von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus geprägt. So zeichnet sie pauschal ein negatives Bild von Zuwandererinnen und Zuwanderern, indem sie diese als "Bedrohung" für die einheimische Bevölkerung bezeichnet und so fremdenfeindliche Vorurteile schürt. In anderen Kontexten propagiert "DIE RECHTE" antisemitisches Gedankengut. So wurde auf Kundgebungen Israel als "Terrorstaat" diffamiert. Des Weiteren stellt sich die Partei offen in eine nationalsozialistische Tradition, indem sie sich zum rassistisch definierten Modell der "Volksgemeinschaft" bekennt, dem zentralen gesellschaftspolitischen Element der nationalsozialistischen IdeoWahlkampfplakat der rechtsextremen Partei. Quelle: "DIE RECHTE" logie. Entwicklung in Rheinland-Pfalz Zum "Landesverband Südwest" der Partei "DIE RECHTE" gehören RheinlandPfalz und das Saarland. Allerdings findet die Partei in der rheinland-pfälzischen rechtsextremistischen Szene nur wenig Resonanz und ist ausschließlich im rheinhessischen Raum in der Öffentlichkeit aktiv. Ihr Tätigwerden beschränkt sich hauptsächlich auf öffentlichkeitswirksame Aktionen wie Kundgebungen oder Flugblattverteilungen. Die Themenfelder ihrer Agitation umfassen beispielsweise die Asylpolitik oder die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Fast ausschließlich kooperiert der Landesverband dabei mit anderen "nationalen Kräften", insbesondere mit solchen aus der neonazistischen "Kameradschaftsszene". Die Mitgliederzahl in Rheinland-Pfalz liegt aktuell bei etwa 15 Personen. 69 5.4 "Neue Stärke Partei" Die organisationsübergreifende und zunächst parteiunabhängige rechtsextremistische Gruppierung "Neue Stärke" wurde Mitte 2020 bekannt und entwickelte im Laufe des Jahres 2021 Bestrebungen, sich zu einer bundesweiten Organisation aufzubauen. Seit einem Bundesparteitag im November 2021 tritt sie als Partei auf und weist eigenen Angaben zufolge bundesweit eine dreistellige Mitgliederzahl auf. Während des Bundesparteitages Logo und Slogan der "Neue Stärke Partei" wurde unter anderem die Abteilung "Neue Stärke Rheinhessen" gegründet. Auch in anderen Bundesländern bildeten sich bereits regionale Ableger. Ihre Hauptaktionen entfaltet die Gruppierung derzeit allerdings in Thüringen, wo auch die beiden Vorsitzenden beheimatet sind. "Der Nationalstaat hat den Auftrag, deutsches Familienleben zu sichern, um damit das deutsche Volk zu erhalten." Aus dem Parteiprogramm der "Neuen Stärke Partei" Die "Neue Stärke Partei" stellt die Parteigründung als den für sie effektivsten Weg dar, den politischen Willensbildungsprozess zu beeinflussen. Sie zeigt sich dabei offen für die Zusammenarbeit mit anderen rechtsextremistischen Organisationen und Parteien. Die Bildung von Kooperationen ist in der rechtsextremistischen Szene nicht neu. Insbesondere unter dem Schutz des Parteienprivilegs können diese Gruppierungen so ihre verfassungsfeindlichen Aktivitäten entfalten. Das "Grundsatzprogramm" der "Neuen Stärke Die "Neue Stärke Partei" ist gegen einen Partei" ist von dem Gedanken eines biologistischangeblichen "Genderwahn". Quelle: Twitter völkischen Nationalismus geprägt. Die "deutsche 70 Zukunft" der "deutschen Familien" und der "Jugend der Nation" stehen dabei im Mittelpunkt ihrer Programmatik. Grundrechte sollen nur "deutschen Volksangehörigen" zuerkannt werden sowie Personen, die die Gesellschaftskonzeption der "Neuen Stärke" teilen. Auch das Denken der Partei ist von einem traditionellen Familienbild geprägt. Andere Lebensmodelle als die von Vater-Mutter-Kind werden kategorisch abgelehnt und verächtlich gemacht. Aber auch gegenüber Menschen mit anderer Herkunft oder Religion wird ablehnend agiert. Sie werden als Ursache angeführt, weshalb sich das "deutsche Volk in einer heiklen Phase seiner Existenz" befinde. So werde das Leben der "deutschen Volksseele" durch Überfremdung und kommunistische Umerziehung massiv bedroht. Die "Neue Stärke Partei" war bundesweit speziell ab der zweiten Jahreshälfte 2021 äußerst aktiv und führte regelmäßig Demonstrationen, Kundgebungen oder sonstige Veranstaltungen durch. Dabei ist die Gruppierung stetig bemüht, neue Mitglieder zu rekrutieren beziehungsweise neue Abteilungen auf Bundesebene zu gründen. In Rheinland-Pfalz konnten von Ende 2021 an verstärkt gemeinsame Aktionen der "Neuen Stärke Werbung der "Neue Stärke Partei" für eiRheinhessen" mit anderen regionalen Gruppierunnen "Aktionstag". Quelle: Twitter gen, insbesondere der "Kameradschaft Rheinhessen", festgestellt werden. Durch dieses Zusammenwirken soll ein größeres Potential suggeriert werden. Dabei kommt es allerdings zu Überschneidungen der Mitgliedschaften einzelner Personen. 5.5 Extremistische Strukturen in der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat nach vorausgegangener intensiver Prüfung am 15. Januar 2019 die Einstufung den der AfD zuzurechnenden Gruppierungen "Der Flügel" und der Jugendorganisation "Junge Alternative" (JA) zu 71 Verdachtsfällen erklärt. Diese Bewertung ist mangels regionaler Organisationsstrukturen des "Flügels" eine bundeseinheitliche.4 5.5.1 "Der Flügel" "Der Flügel" gründete sich als Sammlungsbewegung und Interessengemeinschaft innerhalb der AfD durch die sogenannte Erfurter Resolution, die im März 2015 im Rahmen des Landesparteitages der AfD Thüringen vorgestellt wurde. Die "Erfurter Resolution" wird daher als Gründungsurkunde des "Flügels" angesehen. Sie wurde verfasst, um die innerparteilichen Differenzen aufzuzeigen, sich gegen die Logo "Der Flügel" Anpassung der AfD an den "politischen Mainstream" zu positionieren und sich für eine explizit völkisch-nationalistische Ausrichtung der AfD auszusprechen. "Der Flügel" agierte als Verbindung im neurechten Spektrum zwischen rechtsextremistischen Gruppierungen auf der einen und nicht-extremistischer Klientel auf der anderen Seite. Die ideologische Ausrichtung konnte insbesondere Aussagen führender Funktionäre bei Reden auf Veranstaltungen oder in zentralen Positionspapieren entnommen werden. "Der Flügel" propagierte ein in Teilen revisionistisches Geschichtsbild. Aussagen von Funktionären und Anhängern der Bewegung waren teilweise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, vor allem aber gegen die Menschenwürde sowie das Demokratieund Rechtsstaatsprinzip gerichtet. In Rheinland-Pfalz gab es keine festen Strukturen, die dem "Flügel" zugerechnet werden konnten. Auch fanden in der Vergangenheit im Land keine nennenswer- 4 Der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz kennt die Unterteilung in Prüffall, Verdachtsfall und gesicherte extremistische Bestrebung nicht. Vielmehr ist sie gemäß SS 5 LVerfSchG bereits beim Vorliegen von tatsächlichen Anhaltspunkten für den Verdacht von Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zur Beobachtung befugt und kann entlang ihrer gesetzlichen Bestimmungen die erforderlichen Maßnahmen ergreifen. 72 ten Veranstaltungen des "Flügels" statt. Eine exakte Bezifferung der dem "Flügel" in Rheinland-Pfalz zuzurechnen Personen war nicht möglich. Außerhalb der Landesgrenzen zählte insbesondere das von Anhängern aus dem gesamten Bundesgebiet besuchte "Kyffhäusertreffen" als bedeutsam und inhaltlich prägend, welches regelmäßig seit 2015 abgehalten wurde. Auf dem Treffen wurde ersichtlich, dass Vernetzungen mit der "Neuen Rechten" bestehen. Beispielsweise nahm in der Vergangenheit Götz Kubitschek, der Gründer des neurechten "Instituts für Staatspolitik (IfS)5, am Kyffhäusertreffen teil. Ziel dieser Veranstaltungen war neben der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls maßgeblich die Weiterentwicklung der gemeinsamen politischen Ausrichtung. Entwicklung 2021 Seit der vom AfD-Bundesvorstand beschlossenen formalen Auflösung des "Flügels" im Frühjahr 2020 trat dieser nicht mehr offiziell in Erscheinung. Dennoch gab es auch 2021 Aktivitäten, die in weiten Teilen aber unter dem Etikett der AfD stattfanden. Mitglieder des "Flügels" fungierten hierbei insbesondere als Netzwerker innerhalb des neurechten Spektrums. Anhänger des "Flügels" konnten 2021 ihren Einfluss beziehungsweise ihre Stellung innerhalb der Gesamtpartei trotz der formalen Auflösung der Sammlungsbewegung festigen. Der Zuspruch, den die Hauptprotagonisten dieser innerparteilichen Strömung erfahren, ist ungebrochen und nimmt an Bedeutung augenscheinlich weiter zu. Hierfür sprechen auch die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021. Unter den gewählten Abgeordneten der AfD befinden sich weiterhin (ehemalige) Flügel-Anhänger und Sympathisanten. 5 Die Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt hat das IfS als erwiesene rechtsextremistische Bestrebung eingestuft. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stuft das IfS als Verdachtsfall ein. 73 5.5.2 "Junge Alternative für Deutschland" (JA) Die "Junge Alternative für Deutschland" (JA) ist seit 2013 als eigenständiger Verein konstituiert und verfügt damit über Satzungs-, Programm-, Finanzund Personalautonomie. Sie ist die offizielle Jugendorganisation der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) und besteht aktuell aus 16 Landesverbänden. Der Landesverband Rheinland-Pfalz untergliedert sich seinerseits nochmals in vier Regionalverbände (MittelLogo "Junge Alternative Rheinrhein-Westerwald, Pfalz, Rheinhessen-Nahe und Trier), die land-Pfalz" die Interessensvertretung vor Ort wahrnehmen. Entwicklung 2021 Das Jahr 2021 stand für die JA ganz im Zeichen von Wahlen. Neben einer obligatorischen Wahlkampfunterstützung der Mutterpartei bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz im März und der Bundestagswahl im September standen Neuwahlen des JABundesund des JA-Landesvorstandes Rheinland-Pfalz an. Bei der Neuwahl des Bundesvorstandes am 17. und 18. April 2021 im hessischen Volkmarsen trat der bis dahin amtierende Bundesvorsitzende der JA und Abgeordneter im Landtag Rheinland-Pfalz, Damian Lohr, wie bereits im Vorjahr angekündigt, nicht mehr zur Wahl an. Gewählt wurde erstmalig eine Doppelspitze. Als gleichberechtigte Co-Vorsitzende "Mit Marcel Philipps hat die JA fungierten zunächst Marvin Neumann einen jungen, integren und dyna(Brandenburg) und Carlo Clemens mischen Vorsitzenden gewählt, (Nordrhein-Westfalen). Wider Erwarauf den ich nur stolz sein kann. ten erklärte Neumann bereits weniSo wie ich Marcel kennengelernt ge Wochen später seinen Austritt aus habe, werden wir auch zukünftig der AfD und kam damit einem Parals konservative und pragmatiteiausschlussverfahren zuvor, das ihm sche Jugend unsere Positionen aufgrund früherer rassistischer Äunach außen hin verkörpern." ßerungen in sozialen Medien gedroht hatte. Den Vorsitz hat seither Carlo Alexander Jungbluth, ehemaliger Landesvorsitzender der JA RP, im Juli 2021 Clemens allein inne. Bei der Wahl wurde auch der seinerzeit stellvertretende 74 Vorsitzende der JA Rheinland-Pfalz, Justin C. Salka, in den Bundesvorstand gewählt. Dieser trat jedoch aus vornehmlich privaten Gründen ebenfalls zeitnah von seinem Posten zurück. Beeinflusst wurde seine Entscheidung mutmaßlich auch durch ein laufendes Ermittlungsverfahren der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz, in welchem ihm in je einem Fall 2018 und 2019 das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß SS 86 a Strafgesetzbuch vorgeworfen wird Auch bei der Neuwahl des JA-Landesvorstands Rheinland-Pfalz im Juli 2021 kam es zu personellen Veränderungen. So wurde mit Marcel Philipps auf Vorschlag seines Vorgängers, Alexander Jungbluth, ein neuer Vorsitzender gewählt. Eine programmatische Neuausrichtung der JA Rheinland-Pfalz dürfte damit jedoch nicht einhergehen, zumal etablierte Funktionäre wie Salka in den Ämtern bestätigt wurden. 2021 war die JA bemüht, im digitalen Raum zurückhaltender aufzutreten. Neben den Wahlen zum Landtag Rheinland-Pfalz und zum Deutschen Bundestag lag der Schwerpunkt der öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten auf einer Bewertung der Corona-Lage und der damit zusammenhängenden politischen Entscheidungen. 6. Parteiunabhängige beziehungsweise parteiungebundene Strukturen 6.1 "Neue Rechte" Bei der sogenannten Neuen Rechten handelt es sich um ein heterogenes, informell vernetztes Spektrum, zu dem unter anderem Einzelpersonen, Gruppierungen, Publizisten, Publikationen und Verlage zählen, die in Teilen dem Rechtsextremismus zugerechnet werden können. Die "Neue Rechte" lässt sich nicht konturenscharf vom Rechtspopulismus und Konservativismus abgrenzen, die Übergänge sind fließend. Ihre Anhängerschaft orientiert sich maßgeblich am etatistisch6antidemokratischen und antiliberalen Gedankengut der als "Konservative Revo- 6 Etatismus bezeichnet eine politische Anschauung, die dem Staat eine überragende Bedeutung im wirtschaftlichen und sozialen Leben einräumt. 75 lution" bekannt gewordenen intellektuellen Strömung in der Weimarer Republik.7 Zum historischen Nationalsozialismus und weitestgehend auch zu Gruppierungen aus dem übrigen rechtsextremistischen Spektrum wahren Aktivisten der "Neuen Rechten" oftmals nur vordergründig Distanz. Kernziel der Protagonisten der "Neuen Rechten" ist die Verwirklichung einer "Kulturrevolution von rechts", das heißt eine möglichst breite Verankerung einschlägiger, antidemokratischer weltanschaulicher Positionen in der Gesellschaft auf dem Weg zu einem grundlegenden Systemwandel. Dabei spielen insbesondere Aktivitäten im vorpolitischen Raum und zur metapolitischen Theoriebildung wichtige Rollen. "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) Die in Frankreich gegründete "Identitäre Bewegung" (IB) erlangte vor allem über die sozialen Netzwerke Bekanntheit und fand binnen kürzester Zeit auch in Deutschland Anhänger in den Kreisen der "Neuen Rechten". Ihrem 2012 gegründeten deutschen Ableger, der "Identitären Bewegung Deutschland" (IBD), mangelt es bis heute an einer starken Führung. Diese "Lücke" füllt faktisch der Sprecher der Bewegung in Österreich, Martin Sellner. Er gilt als die Führungsfigur der IB im deutschsprachigen Raum und als einer der führenden Köpfe des europäischen Rechtsextremismus. Was ist die "Generation identitaire"? Die französische Jugendorganisation "Generation identitaire" kann als Vorläuferorganisation der heutigen "Identitären Bewegung" angesehen werden. Sie entstand in den frühen 2000er Jahren aus der Partei "Bloc identitaire". Im Frühjahr 2021 hat die französische Regierung die "Generation identitaire" verboten, da sie wie eine "private Miliz" auftrete und zu "Diskriminierung, Hass und Gewalt" aufrufe. Im Zusammenhang mit dem Verbot der "Generation identitaire" nahmen am 20. Februar 2021 auch Aktivisten aus Deutschland an einer Protestkundgebung in der französischen Hauptstadt Paris teil. 7 Die als "Konservative Revolution" bezeichnete antiliberale, antidemokratische und nationalistische Strömung in der Weimarer Republik von 1918 bis 1933 gilt als ein geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus. 76 Die IBD wurde durch inszenierte Aktionen und provokante Tabubrüche zu einer medienwirksamen rechtsextremistischen Bewegung und machte in der Vergangenheit regelmäßig in einem zu ihrer tatsächlichen Stärke unverhältnismäßigen Ausmaß Schlagzeilen. Insgesamt ist es über die Jahre um die Gruppierung etwas ruhiger geworden, so auch 2021. Inwiefern dies teilweise auch auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg im Juni 2021 zurückzuführen ist, lässt sich nicht abschließend beurteilen.8 Wenngleich sich die IBD nach außen durch ihr jugendlich-trendiges Auftreten und die von ihr gewählte Rhetorik deutlich vom historischen NationalsoLogo der "Identitären Bewegung" zialismus abzugrenzen versucht, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Positionen nicht neu sind, sondern lediglich in einem neuen Gewand erscheinen und einen zutiefst rechtsextremistischen Charakter aufweisen. Der zentralen Forderung der IBD nach dem Erhalt des deutschen Volkes in seiner ethnokulturellen Identität liegt dem Grunde nach ein völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff zu Grunde, der gegen die in Art. 1 GG verbriefte Menschenwürde verstößt, die die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, ungeachtet aller tatsächlich bestehenden Unterschiede, umfasst. Deutlich wird dies an einer von der IBD behaupteten und massiv kritisierten "Heterogenisierung von Gesellschaften durch fremdkulturelle Einwanderung" und ihrer kontinuierlichen verbalen Agitation gegen Ausländerinnen und Ausländer. Vor allem Personen muslimischen Glaubens werden pauschal diffamiert und verächtlich gemacht. Die IBD versucht somit auf eine vergleichsweise subtile Art und Weise, den gesamtgesellschaftlichen Diskurs nach rechts zu verschieben und die Meinungsführerschaft zu übernehmen. 8 Das Bundesinnenministerium berichtete über die "Identitäre Bewegung Deutschland e.V." in den Jahren 2016 bis 2018 als sogenannten Verdachtsfall und im Verfassungsschutzbericht 2019 als "gesichert rechtsextremistische Bestrebung". Mit Beschluss vom 23 Juni 2021 (OVG 1 N 96/20) stellte das OVG in zweiter Instanz fest, dass es an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung keine ernstlichen Zweifel gibt und die Einstufungen der IBD in den Verfassungsschutzberichten 2016 und 2019 des Bundes nicht zu beanstanden sind. Vgl. u.a. Pressemitteilung des OVG Berlin Brandenburg Nr. 24/21 vom 29. Juni 2021. 77 Um ihre Ziele zu erreichen, verfolgt die Gruppierung seit ihrer Gründung wechselnde Strategien. Der Schwerpunkt lag dabei stets in dem Bestreben, als patriotische Jugendbewegung wahrgenommen zu werden, die für die Werte Heimat, Freiheit und Tradition einsteht. Insofern waren die gewählten Aktionsformen regelmäßig dem Medienkonsumverhalten der jungen Zielgruppe angepasst. Zunächst war es der IBD gelungen, durch Social-Media-Kampagnen einen hohen Bekanntheitsgrad zu erlangen, der über rechtsextremistische Kreise hinausreichte. Dieser Status konnte aber Infolge von diversen Sperrund Löschmaßnahmen großer Plattformbetreiber nicht aufrechterhalten werden. Auch die nachfolgend dargestellten, vergleichsweise bedeutsamen Aktivitäten im Jahr 2021 konnten diesen Trend nicht umkehren. Entwicklungen 2021 Im Februar 2021 startete die IBD - wie andere Extremisten auch - den Versuch, die Corona-Pandemie für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. So richtete sie eigens die Internetseite "Rechtsklick" ein, auf der sie zum aktiven Widerstand gegen die "Corona-Zwangsmaßnahmen" aufrief und versuchte, diesen auch zu organisieren. Parallel hierzu warb sie in den sozialen Netzwerken für eine Teilnahme an den Protesten. In der Folge konnten sowohl einzelne "Identitäre" sowie regionale Untergruppen der IBD bei Demonstrationen festgestellt werden. Teils wurden Transparente gezeigt, die eindeutig der IBD zugeordnet werden konnte. Um ein breites, über das neurechte Spektrum Beispiel für unverfängliche Botschaft der IBD. hinausgehendes gesellschaftliches Publikum Quelle: phalanx-europa zu erreichen, verwendete die IBD zuletzt Symbole und Farben, die auf den ersten Blick keinen Rückschluss auf die Bewegung zuließen. Auf den Telegram-Kanälen der IB Rheinland-Pfalz und IB Deutschland konnten zuletzt mehrere Hinweise auf Kampagnen oder Demonstrationen im Kontext 78 der Corona-Pandemie festgestellt werden. So sind insbesondere auch vermehrt Instagram-Accounts zu beobachten, die aufgrund ihres Profilnamens oder von Profilbeschreibungen zwar vordergründig keinen Bezug zur IBD vermuten lassen, jedoch Beiträge enthalten, die eindeutig der Gruppierung zuzurechnen sind. Neben dem Pandemie-Protest bediente die IBD ihre bisherigen KernThemen. Am 21. Mai 2021 wurde über den Telegram-Kanal der IB RheinlandPfalz ein Bericht über Plakataktionen Agitation gegen die Globalisierung auf dem Telegram-Kanal der im Rahmen der "GedankenverbreIB Rheinland-Pfalz. Quelle: Telegram cher-Kampagne" im Raum Koblenz und Neuwied geteilt. In dem Beitrag wird dazu aufgerufen, sich gegen den "Great Reset" zur Wehr zu setzen.9 Am 7. Juli 2021 beschloss das österreichische Parlament ein Verbot, die Symbole der "Identitären Bewegung Österreich" (IBÖ) öffentlich zu verwenden, insbesondere das "LambdaSymbol". Aus diesem Anlass wurde auch in Rheinland-Pfalz zur Teilnahme an einer für den 31. Juli 2021 geplanten Demonstration in der österreichischen Hauptstadt Wien unter dem Motto "Gegen das Lambda Verbot" beziehungsweise Lambda-Symbol der "Identi"Ihr Verbot ist uns gleich" aufgerufen. Unter den Teilnehmern tären Bewegung" der Demonstration konnten Aktivisten aus Deutschland festgestellt werden. 9 Beim "Great Reset" handelt es sich ursprünglich um die als "The Great Reset" (englisch für "Der große Neustart") bezeichnete Initiative des Weltwirtschaftsforums (WEF), die die Weltwirtschaft nach der COVID-19-Pandemie gerechter, sozialer und nachhaltiger gestalten sollte. Insbesondere im Rahmen der Corona-Proteste wird es nunmehr aber als widerkehrendes Narrativ im Kontext von Verschwörungstheorien benutzt, welches besagt, dass die Eliten der Welt eine "neue Weltordnung" (New World Order, kurz NWO) errichten wollten. Mit Hilfe der Pandemie könne das Vorhaben nun realisiert werden. Teilweise wird behauptet, dass die Pandemie eigens für diesen Zweck geplant und inszeniert worden sei. 79 Anfang August 2021 fand das alljährliche "Sommerlager" der IBD unter Beteiligung von knapp 50 jungen Aktivistinnen und Aktivisten in der Alpenregion statt. Unter anderem gab es neben Vortragsveranstaltungen auch körperli"Sommerlager" der IBD 2021: "körperliche Ertüchtigung" zählt zum Selbstverche Wettbewerbe. Einzelne ständnis der "Identitären". Quelle: Telegram Aktivisten aus Deutschland nahmen darüber hinaus Ende August an einem Lager der "Identitäten Bewegung Dänemark" teil. Die sich im Herbst 2021 zuspitzende Flüchtlingssituation an der deutsch-polnischen Grenze versuchte die IBD - vergleichbar der Flutkatastrophe im Sommer - für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Sie berichtete unter der Überschrift "Schützt die Grenze - illegale Einwanderung stoppen" über "Grenzgänge" ihrer Anhängerschaft. Damit tat es die IBD der neonazistischen Partei "Der III. Weg" gleich, die ebenfalls im Oktober 2021 zu einem "Grenzgang" an der deutschpolnischen Grenze im brandenburgischen Guben aufrief, um gegen "illegale Einwanderung" vorzugehen. Fazit und Ausblick Es bleibt festzuhalten, dass für 2021 insgesamt nur ein geringes öffentlichkeitswirksames Aktivitätsniveau des rheinland-pfälzischen Ablegers der IBD festzustellen war, was auch den Corona-bedingten Einschränkungen geschuldet gewesen sein dürfte. Auch können die erwähnten Gerichtsentscheidungen, staatlichen Maßnahmen und nicht zuletzt die Sperrungen von Internetpräsenzen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die einst vorhandene Zugkraft der Bewegung nicht mehr vorhanden ist. Ob das Ansehen der IBD innerhalb der Szene als auch ihrer eigentlichen Zielgruppe (Jugendliche und junge Erwachsene) zukünftig wieder besser wird, bleibt abzuwarten. Die besondere Stellung, die die Organisation innerhalb der rechtsextremistischen Szene für sich in Anspruch nahm, ist deutlich 80 verblasst, ihr Image hat merklich gelitten. Ob die Verschleierung der "eigenen Farben" und Symbole bei öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten den Weg aus der Krise bereiten kann, erscheint fraglich. 6.2 Neonationalsozialismus/Neonazis Der Neonationalsozialismus ist eine besonders rigide und menschenverachtende Form des Rechtsextremismus. Er umfasst Aktivitäten und Bestrebungen, deren Ziel die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Schaffung eines totalitären Führerstaates ist. Neonazis bekennen sich offen zum historischen Nationalsozialismus. Dies zeigt sich in vielfältiger Weise - vor allem aber in der Verwendung einschlägiger Begriffe aus der Zeit des Die "Kameradschaft Nationaler Widerstand Zweibrücken" mobilisiert für einen "Trauermarsch". Quelle: Twitter Naziregimes und in der Verherrlichung der Protagonisten von 1933 bis 1945. Gewalttaten bis hin zum millionenfachen Völkermord in dieser Zeit werden relativiert oder gar geleugnet. Neonazis streben übereinstimmend einen diktatorisch geführten Staat nach Vorbild des "Dritten Reiches" an, der ebenfalls auf einer nach rassistischem Muster definierten "Volksgemeinschaft" fußt. Ihr politisches Denken ist von ausgeprägtem Feindbilddenken bestimmt. Menschen mit einer "anderen" Herkunft, Religion oder Lebenseinstellung werden pauschal stigmatisiert, diffamiert und ausgegrenzt. Charakteristisch für Neonazis ist zudem ein erhebliches Aggressionspotential, viele werden als gewaltorientiert eingestuft. Entwicklung in Rheinland-Pfalz Seit mehreren Jahren gehören dem neonazistischen Spektrum in Rheinland-Pfalz konstant rund 200 Personen an. Dieses Personenpotential umfasst überwiegend lose, informelle Zusammenschlüssen mit niedrigem Organisationsgrad. Demge81 genüber hat die früher dominierende, straff strukturierte "Kameradschaftsszene" fortwährend an Bedeutung verloren. In den vergangenen Jahren wurden die Strukturen der Szene immer weniger gefestigt. In Rheinland-Pfalz sind in der neonazistischen "Kameradschaftsszene" - wie in den vergangenen Jahren - die seit 2018 bestehende "Kameradschaft Rheinhessen" und der seit 2003 existierende "Nationale Widerstand Zweibrücken" aktiv. Dabei dürfte sich die Zahl der Unterstützer beider Gruppen mittlerweile jeweils auf unter zehn Personen verringert haben. Neben den "Kameradschaften" existieren neonazistische informelle Zusammenschlüsse mit regionalem Charakter in Rheinland-Pfalz, so in der Vorderpfalz mit Überschneidungen in den Rhein-Neckar-Raum. Bei Demonstrationen oder Kundgebungen geben sich Neonazis oftmals "modern" und greifen aktuelle Themen wie die staatlichen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auf. So führten neonazistische Gruppierungen auch 2021 zahlreiche Demonstrationen und Kundgebungen in Rheinhessen (Alzey, Bingen, Ingelheim, Worms und Wörrstadt) beziehungsweise im Raum Zweibrücken mit Teilnehmerzahlen im unteren zweistelligen Bereich durch. Größtenteils wurden die VeranstaltunDie "Kameradschaft Rheinhessen" instrumentalisiert Sorgen in Kooperation mit der NPD oder gen der Bevölkerung für ihre Propaganda. Quelle: Twitter dem "Landesverband Südwest" der Partei "DIE RECHTE" abgehalten. Die Zusammenarbeit kann dabei als interessengeleitet gewertet werden, um der Öffentlichkeit eine hohe Akzeptanz der propagierten Standpunkte und ein vermeintlich großes Personenpotential zu suggerieren. 6.3 "UNITER" Die Gruppe "UNITER" (lateinisch: in eins verbunden) wurde ursprünglich von aktiven und ehemaligen Angehörigen von Nachrichtendiensten sowie von Spezialeinheiten der Bundeswehr und der Polizeibehörden des Bundes und der Län82 der mit dem Ziel gegründet, sich gegenseitig im "zivilen Leben" zu unterstützen. Nach eigenen Angaben sollen sich Mitglieder von "UNITER" zwischenzeitlich "sowohl in der Wissenschaft, dem privaten Sicherheitsbereich, als auch unter Ärzten, Anwälten, Handwerkern oder im Sport finden". Symbol der Gruppe "Uniter" Die Gruppierung agierte als eingetragener Verein, verlegte ihren Sitz jedoch nach Aberkennung der Gemeinnützigkeit in Deutschland im Februar 2020 in die Schweiz und hat seither die Adresse UNITER Deutschland, CH-8000 Zürich. Der Verein geriet in den Fokus der Verfassungsschutzbehörden, nachdem bei einigen Mitgliedern hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen festgestellt werden konnten sowie Erkenntnisse über Verbindungen zu anderen rechtsextremistischen Organisationen zu Tage traten. Zudem war zu erkennen, dass einige Mitglieder gegen das staatliche Gewaltmonopol agitierten und dieses beseitigen wollten. "UNITER" wurde aufgrund dieser Erkenntnislage 2020 im Verfassungsschutzbericht des Bundes erstmals als Verdachtsfall aufgeführt. Dagegen hat der Verein am 14. Juni 2021 beim Verwaltungsgericht Köln Klage gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz eingereicht. Mit der Klage will "UNITER" feststellen lassen, dass die Einstufung als rechtsextremer Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz rechtswidrig sei. Eine Entscheidung steht noch aus. Aktivitäten Seit Erhebung der Klage entfaltet "UNITER" keine öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten mehr. Am 4. Juli 2021 wurde der letzte Eintrag auf der Facebook-Seite des Vereins eingestellt, in dem "UNITER" zu der Bewertung und Einstufung des Bundesamtes für Verfassungsschutz Stellung nahm und darüber informierte, dass der Verein Klage erhoben habe. Der Beitrag ist nicht mehr abrufbar.10 10 www.facebook.com/Uniter.Network, abgerufen am 20.01.2022. 83 Zuvor konnten insbesondere auf der Facebook-Präsenz des Vereins regelmäßig Beiträge festgestellt werden, darunter auch solche über eigene Veranstaltungen und Kurse. 7. Weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial Der Begriff weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial umfasst unter anderem organisationsungebundene Rechtsextremisten und rechtsextremistische Internetaktivisten, die keiner Organisation zugerechnet werden können. Wesentliche Teile dieses Spektrums bilden subkulturelle Rechtsextremisten, beispielsweise Skinheads und die rechtsextremistische Musikszene. 7.1 "Hammerskins" "Hammerskins" (HS) haben ihre Wurzeln in den USA. Sie gehören als Skinhead-Netzwerk in Deutschland seit den 90er Jahren zum Kreis der subkulturell geprägten Rechtsextremisten. Innerhalb dieser sonst losen Szene grenzen sie sich durch eine strenge hierarchische Organisationsstruktur als elitärer und konspirativer Zirkel ab. Kennzeichen der Bruderschaft ist ein schwarz-weiß-rotes Logo mit zwei gekreuzten Zimmermannshämmern vor einem Zahnradkranz. Das Symbol steht für die "weiße Arbeiterklasse", die nach eigenem SelbstSymbol der "Hammerskins" verständnis dazu berufen sei, eine "höher entwickelte Zivilisation" aufzubauen. Der von der Gruppierung genutzte Zahlencode "38", der für den dritten und achten Buchstaben im Alphabet steht, nimmt Bezug auf die "crossed hammers" (deutsch: "gekreuzte Hämmer"). Die HS sind geprägt von einer tief rassistischen Ideologie und deutlichen Bezügen zum historischen Nationalsozialismus. Sie sind innerhalb der weltweiten "Hammerskin Nation" (HSN) auf kontinentaler wie nationaler Ebene in sogenannten Chaptern organisiert, die wiederum einer strengen Hierarchie folgen: ausgehend von den untergeordneten Unterstützerebenen "Crew38" und "Sup84 porter" können Interessenten bei entsprechender Zustimmung zunächst in den Anwärterstatus, den sogenannten Prospect of the Nation (POTN), und letztlich zum "Member" aufsteigen. Öffentlichkeitswirksame politische Aktivitäten entfalten die HS nicht, vielmehr beschränken sie sich auf die Organisation rechtsextremistischer Konzerte und Veranstaltungen. Außerhalb der eigenen Reihen treten die "Hammerskins" nicht als solche erkennbar auf. Umso unerwarteter dürfte für sie der Umstand gewesen sein, als sie 2021 im Fokus der umfangreichen medialen Berichterstattung einer Rechercheplattform standen, die sich unter dem Titel "Das geheime Netzwerk der Hammerskins-Chapter in Deutschland" der Geschichte der deutschen Ableger der HSN angenommen hatte. Hierauf basierend strahlte auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen einen Dokumentarfilm aus, der einen Blick ins Innerste der elitären Bruderschaft ermöglichte. 7.2 Rechtsextremistische Musikszene Musik spielt als Propagandamittel eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung des rechtsextremistischen Gedankenguts und gilt zudem als Anknüpfungspunkt für den Einstieg in die rechtsextremistische Szene. Kombinierte Musikund Rednerveranstaltungen sind weiterhin die teilnehmerstärksten Zusammenkünf"Musik ist das ideale Mittel, Jute von Rechtsextremisten. Hierbei gendlichen den Nationalsozialiskommt es zu einem Zusammentreffen mus näher zu bringen. Besser als der verschiedenen rechtsextremistidies in politischen Veranstaltunschen Spektren, bei dem Angehörige gen gemacht werden kann, kann der subkulturell geprägten und der damit Ideologie transportiert neonazistischen Szene überwiegen. werden". Damit fördern solche Veranstaltungen Ian Stuart (1957 bis 1993), vormals Sänbei den Szeneangehörigen ein idenger der britischen Band "Skrewdriver" titätsstiftendes Gemeinschaftsund Stärkegefühl. Sie dienen dem gegenseitigen Austausch und bieten so die Möglichkeit, bestehende Kontakte - auch über Ländergrenzen hinaus - zu pflegen und sich weiter zu vernetzen. 85 Zugleich werden durch die Liedtexte rechtsextremistische Überzeugungen, Feindbilder und Ideologiefragmente verbreitet und gefestigt. Die Musik verbindet insofern die ideologische Agitation mit jugendspezifischen Formen der Freizeitgestaltung und Unterhaltung. Sie stellt einen bedeutenden und aus der Sicht der Szene attraktiven Bestandteil des Rechtsextremismus dar, der eine umfassende Erlebniswelt bietet. Darüber hinaus werden Teile der erwirtschafteten Gewinne zu einem verstärkten Ausbau rechtsextremistischer Aktivitäten und Strukturen genutzt. Musik gilt damit im Rechtsextremismus als politischer Impulsgeber sowie als Identität und Zusammenhalt stiftendes Element und ist nicht zuletzt ein Medium für die menschenverachtende und demokratiefeindliche Weltanschauung und damit ein Katalysator für Hass und Hetze. Die emotionalisierende Wirkung der Musik kann Gewalt schüren. Bei subkulturell geprägten Rechtsextremisten findet sich regelmäßig ein Weltbild mit rassistischen, Gewalt gegen Ausländer befürwortenden, antisemitischen und das demokratische System ablehnenden Ideologiebestandteilen. Dies drückt sich auch in etlichen Liedtexten der dem subkulturell geprägten Rechtsextremismus zuzurechnenden Musikgruppen aus. Die Liedtexte fungieren als wichtiges Medium zur Verbreitung rechtsextremistischer Inhalte und haben darüber Werbung für ein "Wohnzimmerkonzert". hinaus zum Teil gewaltbefürwortenden ChaQuelle: Telegram rakter. Damit stehen sie im Widerspruch zu den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In Einzelfällen wird in den Texten sogar mehr oder weniger unverhohlen zu Gewalt aufgerufen. Sie tragen damit nicht unwesentlich zu der bei vielen der subkulturell geprägten Rechtsextremisten zumindest latent vorhandenen Gewaltbereitschaft sowie der oftmals niedrigen Hemmschwelle zur Gewaltausübung bei, die ihren Ausdruck in meist aus der Situation heraus begangenen Strafund Gewalttaten finden kann. So kommt es auf Konzertveranstaltungen - angeheizt durch Musik mit aggressiven Texten und erhöhtem Alkoholkonsum - nicht selten zu körperlichen 86 Auseinandersetzungen untereinander. Dadurch und wegen des gemeinschaftsstiftenden und verbindenden "Event-Charakters" geht mit derartigen Musikveranstaltungen in jedem Fall ein erhöhtes Radikalisierungspotential einher. Entwicklung 2021 Rheinland-Pfalz nimmt im Ländervergleich bei der Anzahl der rechtsextremistischen Musikveranstaltungen und den dabei zu verzeichnenden Teilnehmerzahlen einen hinteren Platz ein. Zu Beginn des Jahres 2020 fanden aufgrund der Beschränkungen der Corona-Pandemie (Lockdown) nahezu keine Musikveranstaltungen statt. Erst im Sommer 2020 konnten solche auch in Rheinland-Pfalz wieder registriert werden. 2021 ließ sich hingegen eine deutliche Steigerung rechtsextremistischer Konzerte oder Liederbeziehungsweise Balladenabende feststellen, die seitdem wieder regelmäßig, teilweise monatlich stattfinden. Insgesamt wurden 20 Musikveranstaltungen registriert, an denen insgesamt etwa 550 Personen teilnahmen; im Vorjahr waren es zwölf Musikveranstaltungen mit rund 340 Teilnehmern. Die rechtsextremistischen Konzerte, Balladenbeziehungsweise Liederabende werden auf einschlägigen sozialen Netzwerken wie Facebook, Threema oder Telegram beworben. Der Verfassungsschutzbehörde sind aktuell fünf aktive rechtsextremistische Bands und fünf Liedermacher mit Rheinland-Pfalz-Bezug bekannt. Das Genre der rechtsextremistischen Musikszene in Rheinland-Pfalz ist vielseitig. Es reicht von Rock der Band "FLAK" bis hin zu sogenannten FaschoSchlagern von "Johnny Zahngold". Letzterer veröffentlichte im Jahr 2021 in Kooperation mit einem weiteren rechtsextremistischen Liedermacher ein digitales Album. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie fiel auf, dass die rechtsextremistische Musikszene durch Zusammenarbeit mit promiCD-Cover "Johnny Zahngold". nenten Bands und Sängern versuchte, ihre Quelle: punikoff.wordpress.com 87 musikalische Reichweite zu steigern. So kam es unter Beteiligung eines rheinland-pfälzischen Musikers und des Sängers der in der Szene erfolgreichen Band "Kategorie C" gemeinsam mit Xavier Naidoo zur Produktion einer Mini-CD. 8. Rechtsextremismus im Internet - Jahresbericht der Internetbearbeitung Rechtsextremismus/Taskforce "Gewaltaufrufe rechts" Auch im Berichtsjahr nutzten Rechtsextremisten das Internet in unverminderter Intensität, um sich zu vernetzen, zu organisieren, zu mobilisieren, auszutauschen, zu radikalisieren und ihre Ideologie und Propaganda möglichst weit zu streuen. Der Grad der Virtualisierung nahm auch nicht ab, als zur Jahresmitte angesichts vorübergehender Lockerungen der Corona-bedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens die Zahl realweltlicher Veranstaltungen von Rechtsextremisten, wie beispielsweise Demonstrationen oder interne Treffen, wieder anstieg. Entsprechend den Erwartungen des Verfassungsschutzes Rheinland-Pfalz nahm dieser Trend sogar stetig zu. Entwicklung und Statistik Die statistischen Daten der Internetbearbeitung Rechtsextremismus - Taskforce "Gewaltaufrufe rechts" zeigen, dass im Vergleich zum Vorjahr - und bereits zum zweiten Mal in Folge - erneut ein Anstieg der insgesamt bearbeiteten Fälle mit Bezug zu bekannten Beobachtungsobjekten zu verzeichnen ist. So stieg die Zahl von 246 im Jahr 2020 auf 281 im vergangenen Jahr. Die Zahl der Fälle, die keinem bekannten Beobachtungsobjekt zugerechnet werden können und durch anlassunabhängige Recherchen ermittelt wurden, sowie die Zahl der Meldungen von Straftaten an das Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz sanken zwar im Vergleich zum Vorjahr, jedoch stieg deren Bedeutung hinsichtlich strafrechtlicher und Gefährdungsrelevanz. 88 Auswertung Dass sich die zunehmende Bedeutung der Internetbearbeitung Rechtsextremismus nicht nur durch Zahlen belegen lässt, zeigen mehrere Gefährdungssachverhalte. Bei diesen bestanden Verdachtslagen im Hinblick auf illegalen Waffenbesitz, Vorbereitungshandlungen für konkrete Anschlagsszenarien sowie potentielle Amoklagen. In jedem dieser Fälle wurden durch Recherchen und operative Maßnahmen umfangreiche Erkenntnisse erlangt, welche die zuständigen Strafverfolgungsbehörden in die Lage versetzten, tätig zu werden. Neben den mit Priorität verfolgten Gefährdungssachverhalten prägten die intensivierten Bestrebungen von Rechtsextremisten, das Internet, die sozialen Netzwerke und Messenger-Dienste zu nutzen, um sich zu vernetzen, zu mobilisieren und Propaganda zu verbreiten, die Arbeit der Internetauswertung Rechtsextremismus. Die Fortschreitung dieses Trends manifestierte sich maßgeblich Mitte Juli 2021 während der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und NordrheinWestfalen. Von Beginn an nutzten Rechtsextremisten das Ereignis, um es für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Dabei spielten das Internet und der MessengerDienst Telegram in dreierlei Hinsicht eine zentrale Rolle: 89 1. Staatsfeindliche Propaganda: Insbesondere in Ausnutzung der anfangs unübersichtlichen Lage im Katastrophengebiet betrieben zahlreiche Rechtsextremisten und rechtsextremistische Gruppierungen staatsfeindliche Meinungsmache nach dem Motto "Wir sind für Euch da, während der Staat versagt", um den staatlichen Katastrophenschutz und darüber hinaus den Staat sowie seine Entscheidungsträgerinnen und -träger als Von einer rechtsextremistischen Gruppierung auf Telegram verGanzes verächtlich zu machen öffentlichtes Foto eines Banners im Flutgebiet. Quelle: Telegram und zu diskreditieren. 2. Mobilisierung für und Organisierung einer eigenen Katastrophenhilfe: Unmittelbar nach den dramatischen Ereignissen in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli verbreitete eine Reihe von Rechtsextremisten und rechtsextremistischer Organisationen im Internet und vor allem auf Telegram unzählige Appelle, die zu aktiver Katastrophenhilfe aufriefen. So veröffentlichte ein rheinlandpfälzischer rechtsextremistischer Liedermacher und Mitglied der rechtsextremistischen Band "FLAK" auf seinem Telegram-Kanal einen entsprechenden Beitrag, in dem er für aktive Hilfe vor Ort warb. 3. Spendenaufrufe: Neben der Mobilisierung für aktive Hilfe im Katastrophengebiet konnten auf Telegram innerhalb weniger Tage mehrere Spendenaufrufe rechtsextremistischer Akteure zur finanziellen Unterstützung der Betroffenen festgestellt werden. Dass es sich hierbei keineswegs um selbstlose Taten handelte, offenbarten verschiedenste mit den Hilfsund Spendenaufrufen einhergehende Verweise auf rechtsextremistische Organisationen und Musiker. Sie verfolgten ausschließlich das Ziel, sich in der Bevölkerung ein positives Ansehen zu verschaffen und für ihre Ideologie zu werben. Durch eine harmlose Gestaltung von Online-Auftritten wurde versucht, niedrigschwellig Anschluss an die gesellschaftliche Mitte zu erlangen. Im Zuge dessen wurden der Stellenwert Telegrams für die rechtsextremistische Szene sowie der dadurch bestehende hohe Vernetzungsgrad nochmals deutlich. 90 Auch zeigte sich, wie schnell mithilfe moderner Online-Kommunikation Personen mobilisiert und Sachverhalte instrumentalisiert werden können. Neben der Aufklärung rechtsextremistischer Agitation und Einflussnahme im von der Flutkatastrophe betroffenen Teil von Rheinland-Pfalz entwickelte sich der aus der Protestbewegung gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie erwachsene neue Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates"11 zu einem Schwerpunkt. Dieser zeigte sich neben seinen realweltlichen Erscheinungsformen insbesondere im virtuellen Raum. Dabei ist auch hier der Messenger-Dienst Telegram das zentrale Instrument zur Radikalisierung, Vernetzung und Mobilisierung. Die Bedeutung des virtuellen Raums für diese neue Form des Extremismus wird unter anderem durch die Verbreitung einschlägiger Inhalte auf verschiedensten Plattformen belegt, die darauf abzielen, Nutzerinnen und Nutzer zu radikalisieren. Auf Telegram bestehen zudem unzählige Gruppen und Kanäle, die den Staat delegitimierende Inhalte verbreiten und der Rekrutierung dienen. Dabei reichen die virtuellen Agitationsund Organisationsformen von Kanälen mit mehreren tausend Abonnenten über sowohl private wie auch öffentliche Gruppen mit Mitgliederzahlen im dreiund vierstelligen Bereich bis hin zu geheimen Kleinstgruppen. Insbesondere in letzteren konnte ein zum Teil sehr hoher Radikalisierungsgrad einzelner Extremisten festgestellt werden, was sich unter anderem in Gewaltaufrufen und Morddrohungen gegen Politikerinnen und Politiker sowie Polizeibeamtinnen und -beamte gezeigt hat. Fazit Aufgrund des verstärkt feststellbaren hohen Radikalisierungsgrades von Einzelpersonen - insbesondere im Rechtsextremismus, aber auch im neuen Bereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" - ist davon auszugehen, dass die Internetbearbeitung Rechtsextremismus künftig noch intensiver in der operativen Bearbeitung von Gefährdungssachverhalten tätig sein wird. 11 Bundesamt für Verfassungsschutz: Neuer Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates", abrufbar unter www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2021/202104-29-querdenker.html, abgerufen am 07.04.2022. 91 9. Kurzbeschreibungen "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Bund Rheinland-Pfalz Gründungsjahr 1964 1964 Sitz Berlin Pirmasens Vorsitzende(r) Frank Franz Markus Walter Mitgliederzahl in ca. 150 (2020: ca. 150) Rheinland-Pfalz (Mitgliederzahl im Vorjahr) Struktur in Landesverband mit drei Kreisverbänden Rheinland-Pfalz Publikationen Website, und Medien "Deutsche Stimme" (DS, Zeitung), "DS-TV" (YouTube-Kanal), "Stimme Deutschlands" (Magazin) Teilund Neben"Junge Nationalisten" (JN), organisationen "Kommunalpolitische Vereinigung" (KPV), "Ring Nationaler Frauen" (RNF), "Deutsche Stimme Verlagsgesellschaft mbH" (DS-Verlag) Ideologie, Programm, Strategie Die Ideologie der NPD fußt auf der Vorstellung einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft". Dabei und in anderen Punkten weist die Partei eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus auf. Sie ist in diesem 92 Sinne von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus geprägt. Die NPD sieht sich als "einzige Partei, die sich zum deutschen Volk bekennt und dabei am Abstammungsprinzip festhalten wird". Ausländer, Asylsuchende, Muslime und Deutsche mit Migrationshintergrund werden pauschal diskriminiert und kriminalisiert. Die Partei spricht sich gegen die bestehende politische Ordnung aus und fordert offen einen fundamentalen "Systemwechsel". Sie folgt damit der Intention, den demokratischen Verfassungsstaat systematisch und umfassend zu bekämpfen. Um ihre Ziele zu erreichen, verfolgt die NPD eine "Vier-Säulen-Strategie", beruhend auf den Prämissen "Kampf um die Köpfe", "Kampf um die Straße", "Kampf um die Parlamente" und "Kampf um den organisierten Willen". Sonstiges Das Bundesverfassungsgericht stellte mit Urteil vom 17. Januar 2017 (BvB 1/13)12 fest, dass die NPD mit dem Nationalsozialismus wesensverwandt sei und verfassungsfeindliche Ziele verfolge. Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde und ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. 12 Das Bundesverfassungsgericht wies zugleich den Antrag des Bundesrates zurück, die NPD nach Art. 21 Abs. 2 GG zu verbieten, da keine "konkreten Anhaltspunkte von Gewicht" bestünden, die eine Umsetzung der Ziele der Partei als möglich erscheinen ließen. 93 "Der Dritte Weg"/"Der III. Weg" Bund Rheinland-Pfalz Gründungsjahr 2013 2013 Sitz Weidenthal k. A. (Rheinland-Pfalz) Vorsitzende(r) Matthias Fischer Vorsitzender des Landesverbandes West: Julian Bender Mitgliederzahl in 50 Vollund Fördermitglieder (2020: 50) Rheinland-Pfalz Publikationen Auf der parteieigenen Homepage werden tagesaktuell und Medien Berichte eingestellt. Auftritte in sozialen Medien werden regelmäßig von den Betreibern gelöscht. Intern publiziert die Partei in der "nationalrevolutionären Schriftenreihe" einzelne Bücher. Struktur, Landesverbände Bayern, Sachsen, West (Hessen, NordTeilund Nebenrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland); organisationen Gebietsbereiche Mitte (Berlin, Brandenburg, SachsenAnhalt, Thüringen) und Süd (Baden-Württemberg); Gebietsverband Nord (keine Strukturen) sowie 20 Regionalverbände ("Stützpunkte") Ideologie, Programm, Strategie Die Partei "Der III. Weg" sieht sich innerhalb der rechtsextremistischen Szene als "elitäre Speerspitze". Sie lehnt die demokratischen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland ab und fordert mit aggressiver Wortwahl einen "Deutschen Sozialismus". Ihre Ideologie und Programmatik lehnen sich an das 94 Gedankengut des historischen Nationalsozialismus an, was sich auch in den Handlungen der Mitglieder und in Veröffentlichungen der Partei zeigt. Diese sind nicht zuletzt von der rigiden Ablehnung aller Menschen geprägt, die den programmatischen Vorstellungen eines ethnisch homogenen deutschen Volkes widersprechen. Dabei offenbaren sich unverhohlen Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Fremdenund Demokratiefeindlichkeit. Interessenten und Wähler versucht die Partei entlang der drei Säulen "Politischer Kampf", "Kultureller Kampf" und "Kampf um die Gemeinschaft" zu erreichen. 95 "DIE RECHTE" Bund Rheinland-Pfalz Gründungsjahr 2012 2013 Sitz Dortmund k. A. (Nordrhein-Westfalen) Vorsitzende(r) Christian Worch Florian Grabowski Mitgliederzahl in ca. 15 (2020: ca. 15) Rheinland-Pfalz Publikationen Website, soziale Medien wie Facebook, Twitter oder und Medien Telegram Struktur, Landesverbände Baden-Württemberg, Bayern, BreTeilund Nebenmen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, organisationen Sachsen, Sachsen-Anhalt, "Südwest" (Rheinland-Pfalz und Saarland); Kreisverbände und "Stützpunkte" Ideologie, Programm, Strategie Die Ideologie der Kleinpartei "DIE RECHTE" ist neonationalsozialistisch, antisemitisch und fremdenfeindlich geprägt. Politisches Ziel ist ein "fundamentaler Systemwechsel". Die Partei setzt in diesem Zusammenhang auf Themen wie "Meinungsfreiheit", "Staatswillkür", "Versammlungsfreiheit" und Aktionen gegen den politischen Gegner ("gegen linken Terror"). Einige Untergruppen der Partei dienen als "Auffangbecken" für Neonazis verbotener Neonazi-Gruppen. 96 "Der Flügel" Bund Rheinland-Pfalz Gründungsjahr 2015 (formal aufgelöst k. A. Ende April 2020) Sitz Thüringen k. A. Mitgliederzahl in (2020: ca. 30) Rheinland-Pfalz (Mitgliederzahl im Vorjahr) Publikationen Erfurter Resolution (Gründungsurkunde), diverse Webund Medien Angebote, zum Beispiel Rundbriefe, bis Frühjahr 2020, seitdem Verlagerung der Aktivitäten in geschlossene Gruppen in sozialen Netzwerken Ideologie, Programm, Strategie Das propagierte Konzept des "Flügels" legte den Fokus auf die Verächtlichmachung und Ausgrenzung von Migranten und Ausländern sowie politisch Andersdenkenden. Als höchster Wert wurde der Fortbestand eines vermeintlich existenten einheitlichen Volkes angesehen. Nicht-Deutsche galten als nicht integrierbar und als potenziell schädlich für den Fortbestand des deutschen Volkes. "Flügel"-Anhänger wendeten sich gegen das Demokratieund das Rechtsstaatsprinzip. In seiner Ausrichtung war der "Flügel" als rassistisch, antipluralistisch sowie undemokratisch zu bewerten. Einzelne "Flügel"-Anhänger unterhielten Kontakte zu Organisationen, die der "Neuen Rechten" zugeordnet werden können. 97 "Junge Alternative" (JA) Bund Rheinland-Pfalz Gründungsjahr 2013 2014 Sitz Berlin k. A. Vorsitzende(r) Carlo Clemens Marcel Philipps Nordrhein-Westfalen Mitgliederzahl in ca. 40 (2020: ca. 40) Rheinland-Pfalz Publikationen Soziale Medien, Website und Medien Struktur, Vier rheinland-pfälzische Regionalverbände (MittelTeilund Nebenrhein-Westerwald, Pfalz, Rheinhessen-Nahe und Trier), organisationen wobei nur teilweise Aktivitäten entfaltet werden. Ideologie, Programm, Strategie Bei der JA handelt es sich um eine Jugendorganisation, deren Bestrebungen sich gegen die Garantie der Menschenwürde sowie das Demokratieund das Rechtsstaatsprinzip richten. Zentrale politische Vorstellung der JA ist die "Erhaltung des deutschen Volkes" in seinem Bestand, was zugleich den Ausschluss ethnisch "Fremder" bedingt und somit im Widerspruch zum Grundgesetz steht. 98 "Neue Stärke Partei" Bund Rheinland-Pfalz Gründungsjahr 2021 2021 Sitz Thüringen Rheinhessen Vorsitzende(r) Michael Fischer k. A. Bryan Kahnes Mitgliederzahl in ca. 10 Rheinland-Pfalz Publikationen Website, soziale Medien wie Twitter oder Telegram und Medien Struktur, Verschiedene "Abteilungen" im Bundesgebiet: Erfurt, Teilund NebenGera, Magdeburg, Rheinhessen, Sachsen, Sachsen-Anorganisationen halt, Westfalen Ideologie, Programm, Strategie Das "Grundsatzprogramm" der "Neuen Stärke Partei" ist von dem Gedanken eines biologistisch-völkischen Nationalismus geprägt. Die "deutsche Zukunft" steht dabei im Mittelpunkt der rassistischen Programmatik, in welcher der "Nationalstaat" den Auftrag hat, "deutsches Familienleben" zu sichern. 99 "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) Bund Rheinland-Pfalz Gründungsjahr 2012 2015 Sitz Paderborn k. A. (Nordrhein-Westfalen) Vorsitzende(r) Philip Thaler k. A. (Sachsen-Anhalt) Mitgliederzahl in konstant im niedrigen zweistelligen Bereich Rheinland-Pfalz (Mitgliederzahl im Vorjahr) Publikationen Die Aktivitäten werden insbesondere über Telegram darund Medien gestellt. Darüber hinaus werden gelegentlich Flyer verteilt oder Plakate und Aufkleber platziert. Struktur, In Rheinland-Pfalz sind keine/nur bedingt feste StrukTeilund Nebenturen vorhanden. organisationen Ideologie, Programm, Strategie Ideologisch vertritt die "Identitäre Bewegung" das Konzept der "ethnokulturellen Identität", das auf der wirklichkeitsfremden Vorstellung eines ethnisch homogenen Volkes mit einheitlichem kulturellen Hintergrund basiert. In diesem Sinne wähnt sich die IB in der Rolle als "Schutzwall des Volkes", dessen "Großer Austausch" durch die Masseneinwanderung "Kulturfremder" drohe. Sonstiges Die bekannteste Führungspersönlichkeit der deutschsprachigen IB ist der Österreicher Martin Sellner. 100 Neonationalsozialistische Gruppierungen (Neonazis) Mitgliederzahl in ca. 200 (2020: ca. 200) überwiegend in: Rheinland-Pfalz * informellen Zusammenschlüssen und virtuellen Netzwerken, * "Kameradschaften", * rechtsextremistischen Parteien (insbesondere "Der Dritte Weg" und "DIE RECHTE") Strukturen "Kameradschaften": * "Nationaler Widerstand Zweibrücken", * "Kameradschaft Rheinhessen" Ideologie, Programm, Strategie Ideologisch orientiert sich das strukturell heterogene Neonazi-Spektrum durchweg am historischen Nationalsozialismus. Prägende Ideologieelemente der Neonazis sind ein ausgeprägtes Rassedenken, Antisemitismus, Nationalismus und Antipluralismus. Neonazis streben ein antidemokratisches Staatsmodell an, das nach dem "Führerprinzip" autoritär geleitet werden soll und auf einer hierarchischen Ordnung beruht. Das von ihnen propagierte Gesellschaftsmodell fußt auf der Vorstellung einer ethnisch homogenen, exkludierenden "Volksgemeinschaft". Des Weiteren sind antiamerikanische und antikapitalistische Einstellungen charakteristisch für die Gedankenwelt insbesondere jüngerer Neonazis. Programme beziehungsweise schriftlich niedergelegte Zielsetzungen (Programmatiken) sind im Neonazis-Spektrum eher die Ausnahme. Vielmehr werben Neonazis für ihre (verfassungsfeindlichen) politischen Ziele zumeist durch einschlägige Agitation. Dabei greifen sie tagesaktuelle Themen wie die Asylund Flüchtlingspolitik oder die Corona-Krise auf, verhalten sich aus taktischen Gründen aber nicht selten zurückhaltend. Mit diesem Vorgehen versuchen Neonazis ihre eigentlichen Ziele zu verschleiern und Anschluss an bürgerliche Protestkampagnen zu erlangen. Sonstiges Der in den letzten Jahren zu beobachtende Trend eines Abbaus fester Strukturen im Neonazi-Spektrum zugunsten informeller Gruppen und virtueller Netzwerke hält an. 101 "Uniter" Bund Rheinland-Pfalz Gründungsjahr 2016 k. A. Sitz Rotkreuz (Schweiz) k. A. Vorsitzende(r) k. A. K. A. Mitgliederzahl in Einzelne Mitglieder Rheinland-Pfalz Publikationen www.facebook.com/Uniter.Network, und Medien uniter.network, verschiedene Telegram-Kanäle, Instagram, LinkedinProfil, Twitter Ideologie, Programm, Strategie Zusammenschluss ehemaliger und aktiver Angehöriger von Spezialeinheiten der Bundeswehr und der Polizeien des Bundes und der Länder. Gewichtige Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, Verbindungen zu anderen rechtsextremistischen Bestrebungen sowie Bestrebungen zur Beseitigung des staatlichen Gewaltmonopols. 102 "Reichsbürger"-Spektrum und "Selbstverwalter" 103 1. Personenpotenzial 2021 2020 Gesamt 850 700 Gewaltorientierte 100 100 Organisationsgebundene Personen* 250 110 Angaben gerundet, Gesamtzahl ohne Mehrfachmitgliedschaften. *In Gruppierungen, die 2020 Aktivitäten entwickelten. 2. Überblick und Entwicklungen 2021 Das zentrale ideologische Element der Szene der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" ist die fundamentale Ablehnung der Legitimität und Souveränität des Staates sowie der bestehenden Rechtsordnung. An dessen Stelle setzen sie häufig das historische Deutsche Reich unterschiedlicher Datierungen. Sie nutzen verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder beanspruchen für sich ein selbst definiertes Naturrecht. Die "Reichsbürger"-Szene setzt sich aus vielen Einzelpersonen ohne Organisationbezug, Kleinstund Kleingruppierungen sowie Personenzusammenschlüssen zusammen. "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" sprechen den Vertreterinnen und Vertretern des Staates ihre Legimitation ab und treten zum Teil aggressiv gegenüber Behörden, Gerichten und staatlichen Institutionen auf. 2021 setzte sich der Zulauf im "Reichsbürger"-Spektrum landeswie bundesweit weiter fort. Insbesondere der Kreis organisationsgebundener Personen wuchs deutlich an, in Rheinland-Pfalz auf nunmehr etwa 250 Personen. Konstant geblieben ist mit etwa 100 Personen das Potenzial gewaltorientierter "Reichsbürger" und "Selbstverwalter". Mit einem Anteil von etwa 4 Prozent (ca. 30 Personen) ist die Schnittmenge der Personen, die Bezüge zum Rechtsextremismus aufweisen, eher klein und im Vergleich zu den Vorjahren gleich geblieben. Der maßgebliche Anteil am organisationsgebundenen Personenpotenzial in Rheinland-Pfalz kann den Gruppierungen "Freistaat Preußen" und "Volksstaat Bayern" zugerechnet werden, die allerdings weitgehend inaktiv sind. Beide Grup104 pierungen gehören dem fiktiven "Staatenbund Deutsches Reich" an, welcher sich auf die Reichsverfassung von 1871 beruft. 3. Gruppierungen und Strukturen 3.1 "Verfassunggebende Versammlung" (VV) Bei der "Reichsbürger"-Gruppierung "Verfassunggebende Versammlung" (VV) handelt es sich um eine bundesweit aktive Vereinigung, die die bestehenden Strukturen der Bundesrepublik Deutschland ablehnt und ihr die Existenzberechtigung abspricht. Die Legitimation der Bundesrepublik Deutschland sei mit der Widervereinigung im Jahr 1990 erloschen, folglich sei sie kein Staat, sondern eine "Firma". Die Anhänger der Gruppierung planen deshalb an einem nicht näher bestimmten Tag eine temporäre "Verfassunggebende Versammlung" einzuberufen, in welcher sodann eine "echte Verfassung" ausgearSymbol der VV beitet und Gesetze erlassen werden sollen. In Rheinland-Pfalz wird der Gruppierung ein Personenpotential im mittleren zweistelligen Bereich zugerechnet. Hier verteilte die VV im Jahr 2021 vereinzelt Flugblätter. 3.2 "Bismarcks Erben" und "Vaterländischer Hilfsdienst" Im Jahr 2021 ist die Gruppierung "Bismarcks Erben" und der dazugehörige "Vaterländische Hilfsdienst" in Rheinland-Pfalz insbesondere durch Flugblätter in Erscheinung getreten. Der "Vaterländische Hilfsdienst" existiert deutschlandweit und organisiert sich in "Militärbezirken", in denen nach eigenen Angaben regelmäßig Treffen abgehalten werden sollen. Die Gruppierung weist insbesondere deutliche gebietsund geschichtsrevisionistische Bezüge auf. Sie tritt teilweise auch unter dem Namen "Ewiger Die Gruppierung beruft sich auf ein Gesetz aus dem WeltBund" auf. kriegsjahr 1916. Quelle: hilfsdienst.net 105 Ziele der Gruppierung sind die Beendigung des angeblichen Kriegsund Belagerungszustands sowie die Reorganisation des Deutschen Kaiserreiches. Hierzu dient der "Vaterländische Hilfsdienst" als eine Art Vorfeldorganisation, welche sich als legitime "Ordnungsmacht" in Deutschland wähnt. Als rechtliche Grundlage wird das historische "Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst" von 1916 herangezogen. 3.3 Gruppierung "S.H.A.E.F." S.H.A.E.F. ist das Akronym für "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force", dem Oberkommando der alliierten Streitkräfte in Nordwestund Mitteleuropa im Zweiten Weltkrieg, das 1943 gegründet und nach Kriegsende Mitte 1945 aufgelöst wurde. Die Anhänger und Sympathisanten des Phantasiekonstrukts "S.H.A.E.F" behaupten, dass (allein) die damaligen, vom alliierten Hauptquartier erlassenen, zwischenzeitlich längst aufgehobenen Gesetze weiterhin Gültigkeit hätten, und sehen in Staatsbediensteten sowie Politikerinnen und Politikern Erfüllungsgehilfen einer unrechtmäßigen Besatzerherrschaft. Der frühere US-Botschafter in Deutschland, Richard Grenell, "S.H.A.E.F."-Anhänger versendeten wurde von der Gruppierung für deren Agitation vereinnahmt. 2021 vor allem zahlreiche DrohschreiQuelle: Telegram ben an Behörden und Schulen, auch in Rheinland-Pfalz. Unter anderem wurden "Todesurteile" ausgesprochen. Die maßgebliche Führungsperson hinter "S.H.A.E.F.", der selbsternannte "Major" Thorsten Jansen, wurde im November 2021 durch die Polizei in Niedersachsen festgenommen. 106 Insbesondere im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie traten "Reichsbürger" unter dem Kürzel "S.H.A.E.F." vermehrt öffentlich in Erscheinung und agitierten gegen die staatlichen Beschränkungsmaßnahmen, die aus ihrer Sicht unrechtmäßig gewesen sind. Anhänger dieser Gruppierung beteiligten sich auch in Rheinland-Pfalz vereinzelt an Corona-Protesten. 107 4. Kurzbeschreibungen "Freistaat Preußen" (Teilorganisation des "Staatenbunds Deutsches Reich") Gründungsjahr Abspaltung der im Oktober 2012 gegründeten gleichnamigen Organisation Sitz Königsfeld (Eifel) Verantwortlich Beate Maria Rude (u.a.) Mitgliederzahl in ca. 20 (ca. 20) Rheinland-Pfalz (Mitgliederzahl im Vorjahr) Publikationen Internetseite www.freistaat-preussen.world, und Medien Veröffentlichung von "Amtsblättern" und "Bekanntmachungen" auf der Internetseite Ideologie, Programm, Strategie Ziele sind die Reorganisation des Freistaates Preußen mit seiner Verfassung vom 30. November 1920, welche nach wie vor Rechtsgültigkeit besitze, und die Wiederherstellung seiner Handlungsfähigkeit. Ferner stellt die Gruppierung fiktive Ausweise aus, zum Beispiel Staatsangehörigkeitsausweise, Personenstandsund Willenserklärung sowie Personaldokumente, und versendet diese. Außerdem schickt sie pseudojuristischer "Amtsblätter" und "Anordnungen" an Behörden und Institutionen und veröffentlicht sie auf ihrer Internetseite. Sonstiges Bekanntmachungen und Anordnungen des "Freistaats Preußen" befassten sich im Jahr 2020 überwiegend mit völkerund staatsrechtlichen Fragen. 108 "Volksstaat Bayern" (Teilorganisation des "Staatenbunds Deutsches Reich") Gründungsjahr Im Dezember 2015 unter der Bezeichnung "Bundesstaat Bayern" gegründet und im September 2018 in "Volksstaat Bayern" umbenannt. Sitz Landsham (Bayern) Verantwortlich Mehrere Verantwortliche, darunter zwei Personen aus Rheinland-Pfalz Mitgliederzahl in ca. 20 (ca. 20) Rheinland-Pfalz (Mitgliederzahl im Vorjahr) Publikationen Internetseite www.volksstaat-bayern.info, und Medien Veröffentlichung von fiktiven "Beschlüssen" und "Anordnungen" auf der Internetseite Ideologie, Programm, Strategie Ziel der Gruppierung ist die "Wiederherstellung des Völkerrechtsubjektes Volksstaat Bayern als souveräner Bundesstaat im Völkerrechtssubjekt Deutsches Reich". Dem fiktiven "Territorium" des Volksstaates Bayern werden auch Teile des heutigen Bundeslandes Rheinland-Pfalz zugerechnet. Sonstiges Auf der Internetseite der Gruppierung werden "Informationsveranstaltungen" im Raum Ludwigshafen am Rhein beworben. Bei der Staatsanwaltschaft München II ist ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Urkundenfälschung (SS 267 StGB) sowie Amtsanmaßung (SS 132 StGB) anhängig. 109 Gruppierung "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force - S.H.A.E.F." Gründungsjahr k. A. Sitz k. A. Verantwortlich Thorsten Gerhard Jansen ("Major", "Commander") Mitgliederzahl in Einzelne (2020: nicht bekannt) Rheinland-Pfalz (Mitgliederzahl im Vorjahr) Publikationen Nutzung von Internetkanälen und sozialen Medien, und Medien unter anderem zur Verbreitung von "Bekanntmachungen" (Schmähschriften) und Verschwörungsnarrativen Teilorganisatiokeine nen Ideologie, Programm, Strategie Die Anhänger der Gruppierung behaupten, dass die vom seinerzeitigen alliierten Hauptquartier S.H.A.E.F. im Nachkriegsdeutschland erlassenen Gesetze weiterhin Gültigkeit haben und die Regierung von diesem ausgeübt werde. Deutschland gelte daher nicht als souveräner Staat ("BRD GmbH"), sondern als besetztes Gebiet, die deutsche Rechtsordnung sei unwirksam. Die Rechtsprechung wird nicht anerkannt. Sonstiges Die frühere Führungsperson der Gruppierung, der selbsternannte "Major" Jansen, wurde im November 2021 festgenommen. 110 "Verfassungsgebende Versammlung" (VV) Gründungsjahr 2014 Sitz k. A. Verantwortlich k. A. Mitgliederzahl in Einzelne (2020: Einzelne) Rheinland-Pfalz (Mitgliederzahl im Vorjahr) Publikationen Internetauftritt und soziale Medien, Flugblätter und und Medien Propagandaartikel Teilorganisatio"Osnabrücker Landmark" nen Ideologie, Programm, Strategie Die Ideologie der VV fußt auf der Annahme, die Legitimation der Bundesrepublik Deutschland sei im Zuge der Wiedervereinigung 1990 erloschen. Demzufolge soll sie seitdem eine "Firma" sein, die lediglich verwaltet wird. Die Anhänger der VV planen, an einem nicht näher bestimmten "Tag X" eine temporäre "Verfassunggebende Versammlung" einzuberufen und so die Verfassung und die Gesetze als Basis eines neuen, vermeintlich (wieder) handlungsfähigen Deutschlands zu schaffen. 111 "Bismarcks Erben"/"Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) Gründungsjahr 2018 Sitz k. A. Verantwortlich k. A. Mitgliederzahl in Einzelne (2020: Einzelne) Rheinland-Pfalz (Mitgliederzahl im Vorjahr) Publikationen Präsenzen im Internet und den sozialen Medien, Flugund Medien blätter und Propagandaartikel TeilorganisatioGliederung in "Armeekorpsbezirke" - entsprechend hisnen torischer Grenzen Ideologie, Programm, Strategie Die Gruppierung "Bismarcks Erben" orientiert sich am "Ewigen Bund", einem Zusammenschluss deutscher Gliedstaaten zu Zeiten des Deutschen Kaiserreichs. Ihre Anhänger erachten die Reichsverfassung von 1871 als "das höchste Gesetz der Deutschen" und bedienen sich üblicher Argumente aus dem "Reichsbürger"-Milieu. So behaupten sie, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht souverän sei, und erkennen den Zwei-plus-vier-Vertrag nicht als Friedensvertrag an. Den von der Gruppierung nach historischem Vorbild gegründete "Vaterländische Hilfsdienst" beschreibt sie als "zivile Ergänzung zur Wehrpflicht". Dieser diene zum Aufbau von "Verwaltungsstrukturen", auf die dann der "Kaiser" nach seiner Rückkehr an die Macht zurückgreifen könne. 112 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 113 Neuer Extremismus - Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Gegen die von der Bundesregierung und den Länderregierungen beschlossenen weitreichenden Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat sich eine heterogene Protestbewegung formiert, die seitdem sowohl auf Demonstrationen als auch im virtuellen Raum ihre Ablehnung des Regierungsund Verwaltungshandelns zum Ausdruck bringt. Proteste gegen staatliche Maßnahmen sind ein zulässiges Mittel der Meinungsäußerung in einem pluralistischen demokratischen Rechtsstaat. Daraus folgt, dass auch die Teilnahme an Veranstaltungen gegen die Corona-Beschränkungsmaßnahmen grundsätzlich von der grundgesetzlich verbrieften Versammlungsund Meinungsfreiheit gedeckt ist. Etwas anders gilt, wenn Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Grenze des rechtlich Zulässigen überschreiten und in einer demokratieund rechtsstaatsverachtenden Art und Weise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung agitieren und deren Beseitigung fordern. In diesem Sinne versuchen seit Beginn der Proteste beispielsweise Rechtsextremisten sowie "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" diese für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, um das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland verbal zu attackieren und zu diffamieren. Zugleich traten im Verlauf der Proteste auch zunehmend Personen und Gruppierungen in Erscheinung, die zwar ebenso in verfassungsfeindlicher Weise agieren, in ideologischer Hinsicht aber keinem der klassischen Phänomenbereiche wie Rechtsoder Linksextremismus beziehungsweise dem "Reichsbürger"-Spektrum zugeordnet werden können. Diese Personen verbindet unter anderem, dass sie die freiheitliche demokratische Grundordnung, die Parlamente und die demokratisch legitimierten Politikerinnen und Politiker diffamieren und sich dabei auf ein vermeintliches Widerstandsrecht gegen den Staat und seine Repräsentanten berufen. Diese demokratiefeindliche Delegitimierung erfolgt dabei nicht zuvorderst durch eine unmittelbare Ablehnung der Demokratie als solcher, sondern über eine ständige verfassungsschutzrelevante Agitation. Ziel ist es, das Vertrauen in rechtsstaatliche und demokratische Entscheidungsprozesse sowie das politische System insgesamt nachhaltig zu erschüttern und dessen Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen. 114 Darauf hat der Verfassungsschutzverbund im Frühjahr 2021 reagiert und den neuen Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" mit dem Sammel-Beobachtungsobjekt "Demokratiefeindliche und/ oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates" eingerichtet.13 Ideologische Elemente - Verschwörungstheorien, Widerstandsnarrativ und Systemsturz Viele Akteurinnen und Akteure, die dem neuen Phänomenbereich zuzuWas ist QAnon? rechnen sind, eint ein tiefer Glaube an Nach dem QAnon-Mythos soll Verschwörungstheorien und eine Eineine korrupte Elite angeblich teilung der Welt in "Gut" und "Böse". Kinder entführen, sie in unter"Korrupte Eliten" aus Politik, Medien, irdischen Lagern foltern und erWirtschaft und Wissenschaft hanmorden, um aus ihnen ein "Ledeln demnach gegen die Interessen benselixir" zur gewinnen. Solche des "einfachen Volkes". Ihnen wird Verschwörungstheorien sind gegar unterstellt, sie würden einen Krieg eignet, Hass auf und Misstrauen gegen die Bevölkerung führen. Im Hingegenüber dem Staat, dessen tergrund seien verborgene Kräfte am Institutionen und RepräsentanWerk, die diese Eliten steuerten. So sei ten zu schüren. Das Vertrauen in beispielsweise die Corona-Pandemie die verfassungsmäßige Ordnung absichtlich herbeigeführt worden, um soll erschüttert und im Ergebnis die Bevölkerung zu entmündigen und Demokratie und Rechtsstaatgefügig zu machen. Die Impfung gegen lichkeit beseitigt werden. das Corona-Virus sei ein Mittel, um Menschen zu töten und so eine Bevölkerungsreduktion herbeizuführen. Dabei sind diese demokratieund staatsfeindlichen Erzählungen hochgradig anschlussfähig an antisemitische Verschwörungstheorien beziehungsweise bedienen antisemitische Ressentiments. Dabei spielt auch die Verschwörungstheorie "QAnon" eine Rolle, auf die bereits im Verfassungsschutzbericht 2020 eingegangen wurde (vgl. Verfassungsschutzbericht 2020, S. 38). 13 Unter dem Arbeitsbegriff "Sammelbeobachtungsobjekt" werden Bewegungen lose formierter beziehungsweise strukturierter Personen und Gruppierungen zusammengefasst, bei denen von einer einheitlichen weltanschaulich-ideologischen Ausrichtung gesprochen werden kann. 115 Im Zusammenhang mit der Ablehnung der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie konnte auf Demonstrationen und in entsprechenden Online-Foren eine zunehmende Gleichsetzung der Bundesrepublik Deutschland mit Unrechtsregimen wie der ehemaligen DDR und dem Nationalsozialismus beobachtet werden. Dabei werden die Menschheitsverbrechen, die im "Dritten Reich" begangen wurden, auf unsägliche Weise relativiert und die Opfer des Nationalsozialismus herabgewürdigt. Bezweckt wird damit eine Delegitimierung des bestehenden staatlichen Systems in Deutschland, das zu einem System deklariert wird, in dem nicht Recht und Gesetz herrschten, sondern staatliche Willkür, Repression und Mord. Parolen wie "Corona-Diktatur" oder die Betitelung von Personen aus Politik, der Justiz, der Polizei, aus der Wissenschaft und den Medien als "Faschisten" sind gängiges Vokabular. Mit Verschwörungstheorien und der Behauptung, man befinde sich auf dem Weg in den Totalitarismus, beziehungsweise es bestehe bereits eine Diktatur, werden existenzielle Bedrohungsszenarien verbreitet und Ängste geschürt. Sie sollen bei den Adressaten Handlungsdruck erzeugen, damit diese sich gegen das "Unrechtsregime" zur Wehr setzen. In dieWas sind die Nürnberger Prosem Zusammenhang wurde und wird zesse? in Reden auf Demonstrationen und in Die Nürnberger Prozesse gelten der Online-Propaganda immer wieals der wichtigste Bestandteil der ein vermeintliches Widerstandsdes alliierten Bestrafungsprorecht ausgerufen, das mitunter weit gramms gegen führende Vertreüber zivilen Ungehorsam hinausgeht. ter des NS-Regimes. Sie fanden So wolle man unter anderem eine vom 20. November 1945 bis 14. "Widerstandsbewegung" aufbauen, April 1949 statt und umfassten die sich mit allen Mitteln gegen eine den Nürnberger Prozess gegen mögliche Impfpflicht zur Wehr setze. die Hauptkriegsverbrecher sowie Festgestellt wurden auch Aufrufe, diemehrere sogenannte Nürnberger jenigen Politikerinnen und Politiker vor Nachfolgeprozesse. Gegen zwölf "Kriegsgerichte" zu stellen, die für die der 24 Angeklagten wurde die Corona-Maßnahmen verantwortlich Todesstrafe verhängt. seien, gleich den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen ("Nürnberg 2.0"). Die hier dargestellte verfassungsfeindliche Agitation und Propaganda zielt al116 lenfalls vordergründig auf die Aufhebung der bestehenden Corona-Maßnahmen ab und stellt auch keine legitime Kritik an politischen Entscheidungen dar. Vielmehr überschreitet sie die Grenze des rechtlich Zulässigen, der grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit, indem letztlich ein "Systemsturz" propagiert und angestrebt wird, also die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als solcher. Radikalisierung und Gefährdungspotenzial Am 18. September 2021 wurde in Idar-Oberstein der Kassierer einer Tankstelle von einem Kunden mit einem gezielten Schuss getötet. Zuvor war der mutmaßliche Täter darauf hingewiesen worden, im Verkaufsraum einen Mund-NasenSchutz zu tragen. Nach seiner Festnahme gab der mutmaßliche Täter unter anderem an, dass er die Corona-Maßnahmen ablehne; das Opfer machte er für die Gesamtsituation verantwortlich, da es die bestehenden Regeln durchzusetzen versuchte. Er habe ein Zeichen setzen wollen, so der mutmaßliche Täter. Dieses Tötungsdelikt ist bisheriger Tiefpunkt und Zeichen einer Entwicklung, in der sich Teile der Corona-Maßnahmen-Kritiker im Verlauf der Pandemie immer weiter radikalisieren, wobei meist weitere Motive zu dieser Entwicklung beitragen. Seit Beginn der Impfkampagne gegen das Corona-Virus, der späteren Freigabe des Impfstoffs für Kinder und Jugendliche sowie der Debatte um eine allgemeine Impfpflicht werden Hass und Hetze in sozialen Medien und Messenger-Diensten durch extremistische Propaganda zunehmend befeuert und Gewaltund Tötungsfantasien verbreitet. Im Mittelpunkt steht hierbei der Instant-Messenger Telegram. Es kursierte eine "Todesliste" mit den Namen der Politikerinnen und Politiker, die im April für die sogenannte Corona-Notbremse des Bundes stimmten. Die Drohungen richteten sich jedoch auch gegen Politikerinnen und Politiker auf kommunaler Ebene sowie gegen Ärztinnen und Ärzte. So wurde beispielsweise ein Arzt in Neuwied vor Sonderimpfaktionen für Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren im Dezember Adressat mehrerer Hassmails. In einer wurde er gar mit dem nationalsozialistischen Kriegsverbrecher Josef Mengele verglichen. Solche Drohungen und Einschüchterungsversuche sind ein weiterer Indikator für die teilweise Radikalisierung der Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen. Im Internet ist zudem in Teilen eine Vermischung der Agitation aus dem neu117 en Phänomenbereich und der Kritik an den staatlichen Corona-Maßnahmen mit rechtsextremistischen Narrativen, Propaganda der "Reichsbürger und Selbstverwalter"-Szene sowie staatsfeindlichen Verschwörungstheorien zu beobachten. Eine Abgrenzung bürgerlicher Maßnahmen-Kritiker und Impfgegner zu extremistischen Inhalten findet dort kaum mehr statt. Entwicklung und Protestgeschehen in Rheinland-Pfalz Die Verfassungsschutzbehörde rechnet dem neuen Phänomenbereich im Land bislang eine untere zweistellige Zahl von Personen zu, die in einer demokratieund rechtsstaatsverachtenden Art und Weise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung agitieren. Vereinzelt bildeten sich 2021 Kleinstgruppen, die vor allem in sozialen Medien zum "Widerstandskampf" aufriefen. Sofern hier ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorlag, erfolgte die konsequente Weiterleitung an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden (siehe Brennpunktthema, Seite 44 ff.). In Rheinland-Pfalz kam es Ende 2021 vermehrt zu Protesten gegen die staatlichen Corona-Beschränkungsmaßnahmen. Mobilisiert wurde vor allem gegen eine vermeintlich bevorstehende allgemeine Impfpflicht. Die Proteste fanden nicht nur in einzelnen Städten statt, sondern verlagerten sich mehr und mehr in die Fläche und den ländlichen Raum. Das Spektrum der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war von Anfang an heterogen und überschritt ideologische Grenzen. Außer dem überwiegenden Teil von Personen aus der bürgerlichen Mitte konnten unter den Teilnehmenden auch Angehörige des "Reichsbürger"-Spektrums sowie der rechtsextremistischen Szene festgestellt werden. Die Proteste verliefen in Rheinland-Pfalz überwiegend friedlich und wurden zu keinem Zeitpunkt durch Extremisten gesteuert. Das Vorhaben insbesondere rechtsextremistischer Kreise, die dem bürgerlichen Lager angehörigen Kritiker der Corona-Beschränkungsmaßnahmen in ihrem Sinne zu instrumentalisieren, schlug fehl. 118 Linksextremismus 119 1. Personenpotenzial 2021 2020 Gesamt 520 520 Gewaltorientierte Linksextremisten 120 120 Nicht gewaltorientierte dogmatische Linksextremisten und sonstige 400 400 Linksextremisten Gesamtzahlen ohne Mehrfachmitgliedschaften. Die Zahlenangaben sind zum Teil geschätzt und gerundet. 2. Überblick und Entwicklungen 2021 Linksextremisten verfolgen das Ziel, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu überwinden und durch ein autoritär-sozialistisches, kommunistisches oder anarchistisches Gesellschaftsmodell zu ersetzen.14 Die vielfältigen Aktionsformen von Linksextremisten reichen von offener Agitation und Propaganda bis hin zu massiver Gewaltanwendung. Um ihre gesellschaftliche Isolierung zu überwinden, beteiligen sich Linksextremisten an breiten, von zivilgesellschaftlichen Gruppen getragenen Protestbündnissen, zum Beispiel im Kontext von Klimaprotesten, und versuchen, diese entsprechend ihrer verfassungsfeindlichen Ziele zu beeinflussen und instrumentalisieren. Im eher ländlich geprägten Rheinland-Pfalz gibt es weniger linksextremistische Aktivitäten als in Ländern mit Ballungszentren oder Stadtstaaten wie Berlin und Hamburg. Auch die Gesamtzahl der Linksextremisten und das Potenzial der gewaltorientierten Autonomen sind hier vergleichsweise gering. Bestimmte Aktionsfelder wie "Antigentrifizierung", die eher in urbanen Großräumen zum Tragen kommen, spielen in Rheinland-Pfalz nur eine untergeordnete Rolle. Gleichwohl spiegeln sich auch in der rheinland-pfälzischen linksextremistischen Szene bundesweite Entwicklungen, die Anlass zur Besorgnis geben. So motivier14 Weitergehende Informationen gibt es in der Broschüre "Linksextremismus - Ideologien, Akteure, Aktionsfelder", abrufbar unter: mdi.rlp.de/de/unsere-themen/verfassungsschutz/aufgabenfelder-und-extremismus-bereiche/linksextremismus. 120 te 2021 die Teilnahme von Personen aus dem "Reichsbürger"-Spektrum sowie von Angehörigen der rechtsextremistischen Szene an Protestaktionen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen auch Linksextremisten, sich an Gegendemonstrationen zu beteiligen. Während der Veranstaltungen kommt es dann immer wieder zu teilweise heftigen verbalen Anfeindungen, gegenseitigen Beleidigungen und zu Verstößen gegen das Versammlungsgesetz. Hiervon kann eine eskalierende Wirkung ausgehen. Seit Anfang 2021 nimmt die linksextremistische Szene die Thematik "Corona" auch über die Beteiligung an solchen Protesten hinaus stärker in den Fokus, wie intensivere Mobilisierungsbestrebungen und die steigende Zahl entsprechender Versammlungsanmeldungen belegen. Eigeninitiativ inszenierte Proteste richteten sich beispielsweise gegen Pharmaunternehmen. So fand am 23. Januar 2021 am Sitz des Unternehmens Biontech in Mainz eine Versammlung unter dem Motto "Gebt die Patente frei - Corona Impfstoff für alle!" statt15, an der Linksextremisten teilnahmen. Gewaltorientierte Szene radikalisiert sich weiter Von gewaltorientierten Linksextremisten gehen in einigen Teilen des Bundesgebiets erhebliche Gefahren für die Innere Sicherheit aus. Besonders ausgeprägte gewaltaffine Szenen gibt es aktuell insbesondere in Berlin, Bremen, Hamburg und Leipzig. Rheinland-Pfalz ist im Ländervergleich nach wie vor kein Schwerpunkt gewaltorientierter Linksextremisten. Das gewaltorientierte linksextremistische Spektrum besteht hier bei konstanter Größe weit überwiegend aus Angehörigen der Autonomen-Szene, insbesondere den sogenannten Antifa-Gruppen. Ungeachtet dessen ist die allgemeine Entwicklung im gewaltorientierten Linksextremismus besorgniserregend. Gewalt gegen Menschen ist in weiten Teilen dieses Spektrums längst kein Tabu mehr. Dies verdeutlicht insbesondere die kon15 Weitere Veranstaltungen im Phänomenbereich Linksextremismus fanden zum Beispiel am 6. April in Mainz ("Demo gegen die Ausgangssperre"), am 1. Mai in Bingen und am 22. Mai in Neustadt an der Weinstraße ("Solidarisch durch die Pandemie") statt. 121 tinuierlich gesunkene Hemmschwelle zur Gewaltanwendung gegen "echte" oder vermeintliche Rechtsextremisten sowie gegen Vertreterinnen und Vertretern des Staates, vor allem der Polizei. Unter den gewaltorientierten Linksextremisten hat die Radikalisierung zugenommen. Teilweise bilden sich klandestine Kleingruppen, die abgeschottet von der Szene planvoll vorgehen. Die Täter spähen im Vorfeld das private Umfeld ihrer Opfer aus und suchen sie dann mitunter an ihren Wohnanschriften auf. Schwere Körperverletzungen bis hin zum Tod der Angegriffenen werden billigend in Kauf genommen. In Sachsen findet derzeit ein Strafprozess statt, der Einblicke in die gewalttätige linksextremistische Szene und deren Handlungsweisen gibt. Der Prozess gegen mehrere mutmaßliche Linksextremisten in Dresden, insbesondere gegen die Person, die als Anführerin einer militanten Gruppe mitverantwortlich für Angriffe auf Rechtsextremisten sein soll, hat vereinzelt auch zu Solidaritätsbekundungen von Linksextremisten aus Rheinland-Pfalz geführt. Die Aktionen linksextremistischer Einzeltäter und Kleingruppen stellen eine neue Eskalationsstufe dar. Vergleichbare Tendenzen sind in der rheinland-pfälzischen linksextremistischen Szene bislang nicht erkennbar. Individuelle Radikalisierungsprozesse können aber auch hier nicht ausgeschlossen werden. Die weitere Entwicklung wird daher vom Verfassungsschutz aufmerksam beobachtet und analysiert. Gewalt gegen Sachen als Mittel im "Kampf gegen das System" Auch Gewalt gegen Sachen bleibt ein aus Sicht gewaltorientierter Linksextremisten legitimes wie gängiges Mittel im "Kampf gegen das System". Brandstiftungen und mitunter massive Sachbeschädigungen verursachen immense Schadenssummen und sorgen in einigen Ländern verstärkt für Schlagzeilen. In Bayern kam es zu Anschlägen auf die kritische Infrastruktur16, bei denen die Sicherheitsbehörden aufgrund von einschlägigen Selbstbezichtigungen von linksextremisti16 Ein durch Brandstiftung ausgelöstes Feuer verursachte im Mai 2021 einen Stromausfall bei 20.000 Haushalten in München. 122 schen Taten ausgehen. Für die Szene haben solche Taten nicht zuletzt angesichts der medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit, die mit ihnen einhergeht, eine große Symbolkraft nach innen wie nach außen. Antifaschismus bleibt wichtigstes Aktionsfeld Wichtigstes Aktionsfeld rheinland-pfälzischer Linksextremisten blieb auch 2021 der "Antifaschismus", der sich nach linksextremistischem Verständnis nicht nur gegen Rechtsextremisten richtet, sondern gegen die staatliche Ordnung insgesamt. Vor allem öffentliche Veranstaltungen der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) waren das Ziel von Protestaktionen. Dabei wurde in den sozialen Medien regelmäßig gegen die AfD - auch über die Grenzen von RheinlandDie "Antifa Koblenz" mobilisiert auf Instagram Pfalz hinaus - agitiert und mobilisiert, zum Beigegen den geplanten Bundesparteitag der AfD. spiel gegen den für den 11. Dezember 2021 in Quelle: Instagram Wiesbaden geplanten, letztlich aber aufgrund der Corona-Lage abgesagten Bundesparteitag. Ein weiteres Beispiel für das Aktionsfeld Antifaschismus ist die Teilnahme von rheinland-pfälzischen Linksextremisten an Demonstrationen gegen die rechtsextremistische Kleinstpartei "Der III. Weg". Auffällig sind dabei die Bestrebungen, das Thema "Antifaschismus" mit anderen Themenfeldern zu verknüpfen, um sich an bürgerlich geprägte Protestpotenziale anzunähern oder Teile von ihnen für gemeinsame Aktionen zu gewinnen. Dieses Phänomen war gegen Ende des Jahres 2021 vor allem im Zusammenhang mit Gegenveranstaltungen zu den Corona-Protesten zu beobachten. Die "Antifa Koblenz" ist auch jenseits Die Mobilisierungsfähigkeit der linksextremistischen der rheinland-pfälzischen Grenzen aktiv. gewaltorientierten Szene in Rheinland-Pfalz bewegt Quelle: Instagram 123 sich im Vergleich zu anderen Ländern auf einem eher niedrigen Niveau und erfolgt hauptsächlich anlassbezogen und reaktiv. In Abhängigkeit vom jeweiligen Anlass kann es aber durchaus zu einem höheren Mobilisierungsgrad kommen. Hierzu trägt regelmäßig die Unterstützung durch Szeneangehörige aus anderen Ländern bei. 3. Gruppierungen, Strukturen und Aktionsfelder Das linksextremistische Personenpotential in Rheinland-Pfalz umfasst konstant rund 520 Personen. Davon gelten nach wie vor etwa 120 als gewaltorientiert; ca. 400 gehören zum Spektrum der nicht gewaltorientierten dogmatischen Linksextremisten und sonstigen Linksextremisten oder folgen einer anarchistischen Weltanschauung. 3.1 Autonomen-Szene Im linksextremistischen Spektrum stellen Autonome bundesweit den größten Teil des gewaltorientierten Personenpotenzials. In Rheinland-Pfalz ist die Autonomen-Szene nahezu deckungsgleich mit dem Lager der gewaltorientierten Linksextremisten. Sie bedient sich einer Reihe von weltanschaulichen Versatzstücken des Anarchismus und des Kommunismus, ohne dass sich daraus eine eigene, in sich geschlossene Ideologie erkennen lässt. Kernziel der Autonomen ist die Überwindung des "herrschenden Systems". Der Idealzustand aus ihrer Sicht ist die Fiktion eines Lebens "frei von Zwängen", Normen und AutoriDemonstration gegen den "Trauermarsch" von Rechtsextremistäten. Gewalt im politischen Kampf ten am 13. November 2021 in Remagen. Quelle: Facebook rechtfertigen Autonome als legitimes und unverzichtbares Mittel gegen die "strukturelle Gewalt des kapitalistischen 124 Staates" und dessen "System von Zwang, Ausbeutung und Unterdrückung". Autonome gelten als organisationsund hierarchiefeindlich. Sie streben mehrheitlich strukturlose, informelle Formen der Zusammenarbeit untereinander an. Gleichwohl gibt es innerhalb der autonomen Szene auch Bestrebungen beziehungsweise Gruppierungen wie die "Interventionistische Linke", die sich stärker vernetzen und den Aufbau von regionalen und überregionalen Organisationsstrukturen vorantreiben, sogenannte Postautonome. 3.2 "Postautonome" - "Interventionistische Linke" (IL) Sogenannte Postautonome stellen Prinzipien der "klassischen" Autonomen-Szene in Frage, ohne aber mit deren gewaltorientiertem Politikansatz zu brechen. Ziel der den "Postautonomen" zuzurechnenden IL ist die Überwindung des Kapitalismus durch einen revolutionären Umsturz. Als bundesweites Netzwerk mit mehr als 30 Ortsgruppen fungiert sie als ein Bindeglied zwischen militanten Strukturen der Autonomen-Szene und nicht gewaltorientierten Linksextremisten sowie nichtextremistischen Gruppen und (Protest-)Initiativen. Eine Ortsgruppe der IL in Rheinland-Pfalz gibt es nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes Rheinland-Pfalz zurzeit nicht. Gleichwohl sind Mitglieder von IL-Ortsgruppen aus anderen Bundesländern immer wieder auch in Rheinland-Pfalz aktiv, so zum Beispiel bei Demonstrationen, wie die 2003 gegründete IL Rhein-Neckar auf ihrer Homepage bekundet. 3.3 Anarchisten Der "klassische" Anarchismus ist eine politische Ideenlehre mit verschiedenen Strömungen, deren Anhängerschaft die radikale Absage an den Staat und alle Regierungsformen, einschließlich der Demokratie, eint. Die Zahl derer, die solchen Strömungen zugerechnet werden können, ist im Vergleich zum "Antifa"Spektrum bundeswie landesweit gering. In Rheinland-Pfalz sind kleinere Zusammenschlüsse des "klassisch" orientierten anarchistischen Spektrums bekannt. Hierzu zählt die am 2. Januar 2019 ge125 gründete Organisation "die plattform". Sie sieht sich als "eine anarchakommunistische Organisation für den deutschsprachigen Raum", deren Ziel "die Überwindung aller Formen der Unterdrückung und Herrschaft und der Aufbau einer herrschafts-, klassenund staatenlosen Gesellschaft auf Grundlage des anarchistischen Kommunismus" ist. Die unter der Bezeichnung "die plattform" firmierenden Gruppen streben entgegen dem im Anarchismus überwiegend niedrigen Organisationsgrad eine striktere Organisierung nach den Prinzipien von "ideologischer und taktischer Einheit, Disziplin und Kollektivtätigkeit der Mitglieder" an. Publikationsorgane von "die plattform" sind die Zeitschrift "Kollektive Einmischung" und ein eigener "YouTube"-Kanal. Es bestehen Lokalstrukturen in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Rostock, im Ruhrgebiet und in Trier. Die Trierer Lokalgruppe ist 2019 aus der ein Jahr zuvor gegründeten "Stella Nigra" hervorgegangen. Laut deren Internetseite versucht sie "anarchistische Ideen von gleichberechtigter Organisation aller! Menschen von unten in lokale und globale Kämpfe - etwa um Klimagerechtigkeit oder Feminismus - zu tragen". So rief die Gruppe Die Gruppierung "die plattform" demonstriert vor der Aufsichtsund Dienstleistungsdirektion (ADD) in Trier. 2021 unter anderem dazu auf, eine Quelle: trier.dieplattform.org Waldbesetzung zwischen dem Trierer Stadtteil Zewen und der Gemeinde Igel, die Aktivisten wegen des geplanten Baus der Westumfahrung Trier begonnen hatten, zu unterstützen. 126 3. 4. Nicht gewaltorientierte dogmatische Linksextremisten und sonstige Linksextremisten: "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) und "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) Die orthodox-kommunistische DKP ist in Rheinland-Pfalz nach wie vor mit einem Bezirksverband präsent, dessen Mitgliederzahl sich konstant im mittleren zweistelligen Bereich bewegt. Laut ihrer Internetseite existieren Ortsgruppen in Bad Kreuznach, Idar-Oberstein, Landau, Mainz, Trier und Worms. Auf kommunaler Ebene hat die DKP in Rheinland-Pfalz ein Mandat. Die DKP-nahe Jugendorganisation Klassenkampfrhetorik maidemo.noblogs.org der DKP zum Tag der Arbeit 2021. Quelle: SDAJ verfügt in Rheinland-Pfalz über einen Landesverband, der nach eigenen Angaben zurzeit vier Ortsgruppen im Kreis Birkenfeld, in Landau, in Mainz und in Trier umfasst. Öffentliche Aktivitäten entwickelt die DKP regelmäßig im Themenfeld "Antimilitarismus". 3.5 Linksextremistische Aktionsfelder Linksextremisten, vor allem aus dem gewaltorientierten Spektrum, nehmen sich mehrerer Themenund Aktionsfelder an. In erster Linie versprechen sie sich davon gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Anschlussfähigkeit an nichtextremistische Kreise. Eines ihrer Ziele ist es, Teile des zivilgesellschaftlichen Spektrums im eigenen Sinne zu politisieren und nach Möglichkeit zu radikalisieren. 127 Antifaschismus/Antirassismus Linksextremisten kämpfen nicht nur gegen rechtspopulistische und -extremistische Bestrebungen, sondern auch gegen die staatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, die sie als "faschistisches System" diffamieren. Insbesondere die AfD ist in den vergangenen Jahren zu einem Feindbild der linksextremistischen Szene geworden. Parteitage und Wahlveranstaltungen bildeten unter anderem für (gewaltorientierte) Linksextremisten einen Anlass für Gegenaktionen. Neben dem bürgerlichem Spektrum rufen auch linksextremistische (autonome) Gruppen zu Gegenprotesten auf. Vielerlei als "Antifaschismus" maskierte Hetze ist im Internet zu finden, zum Beispiel auf der Facebook-Seite der "Gutmenschlichen "Dreck-weg-Tag" nach linksextremistischer Lesart. Quelle: Facebook Aktion Mainz". Ein wiederkehrender Anlass für öffentlichen Protest mit Bezug zum "Antifaschismus" ist der Aufmarsch von Rechtsextremisten, der regelmäßig im November in Remagen stattfindet.17 Dort demonstrierten am 13. November 2021 ca. 700 Personen, darunter rund 400 aus dem linksextremistischen Spektrum aus Rheinland-Pfalz, NordrheinWestfalen und anderen Bundesländern. Der Gegenprotest wurde unter dem Motto "Rechte Netzwerke in Polizei und Justiz Aufruf zu Protest gegen Demonstration von Rechtsexaufdecken" im Vorfeld der Veranstaltung tremisten in Remagen. Quelle: remagen.blackblogs.org auch in Nachbarländern stark beworben. 17 Die rechtsextremistischen Demonstrationen, die in den vergangenen Jahren regelmäßig im November stattfanden, sollen an die alliierten Kriegsgefangenenlager ("Rheinwiesenlager") in der Region nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern. 128 Aufgrund der Corona-Auflagen fanden insbesondere "Blockadetrainings" als Online-Veranstaltungen statt. Nachdem es 2019 im Anschluss an die Proteste in Remagen zu Auseinandersetzungen gekommen war, verlief der Aufzug 2021 weitgehend friedlich. Antirepression Linksextremisten diffamieren den demokratischen Rechtsstaat, seine Re"Wütende Antirepressionsdemo präsentanten und Institutionen als - Ein Jahr nach dem 15.08.2020 "Unrechtsund Unterdrückungssysdemonstrierten wir mit vielen antem". Sie unterstellen, dass missliebige deren in Ingelheim und nahmen politische Meinungen und Überzeuuns ein Jahr nach Bahnhofstungungen von Staats wegen durchweg nel und Kessel für unsere Wut unterdrückt würden und Zensur herrund unseren Hass auf die Bullensche. Meinungsfreiheit bestünde nur schweine die Straße." auf dem Papier. Insbesondere Autonome propagieren, dass sie "permanen"Antifa Koblenz" ten staatlichen Repressionen" ausgesetzt seien, und dass es diese - das heißt letztlich den Staat als solchen - mit allen Mittel zu bekämpfen gelte. Im Fokus der Agitation steht vor allem die Polizei, die als Teil des staatlichen "Repressionsapparats" wahrgenommen wird. Als ein Anlass für die Diffamierung der Polizei wurde 2021 der Jahrestag einer Kundgebung der Partei "DIE RECHTE" in Ingelheim am Rhein genutzt, bei der am 15. August 2020 anreisende Gegendemonstranten aus dem bürgerlichen und linksextremistischen Lager durch eine Polizeiabsperrung daran gehindert worden waren, auf die Wegstrecke der rechtsextremistischen Demonstration zu gelangen. Am 14. August 2021 mobilisierten dort nun antifaschistische Gruppen für eine Demonstration "gegen Polizeigewalt und autoritären Staat!" 129 Was verstehen Linksextremisten unter Repression? Der von Linksextremisten häufig genutzte Begriff der "Repression" wird im Duden als "gewaltsame Unterdrückung von Kritik, Widerstand, politischen Bewegungen, individueller Entfaltung (und) individuellen Bedürfnissen" definiert und ist mit der Unterdrückung von Menschenrechtsverletzungen in Diktaturen verknüpft. Durch die Instrumentalisierung der Begrifflichkeiten Repression und Antirepression in innenpolitischen Zusammenhängen zielen Linksextremisten darauf ab, den Rechtsstaat zu diffamieren. Durch diese bewusste Verdrehung wird Polizei, Justiz und dem Verfassungsschutz die Legitimation abgesprochen. In Veröffentlichungen - insbesondere im Zusammenhang mit derzeit laufenden Strafverfahren - wird Staatsanwaltschaft, Gerichten und Sicherheitsbehörden angebliche "politische Verfolgung" vorgeworfen. Solidaritätsaktionen mit "politischen Gefangenen" Vom "Repressionsstaat" festgenommene beziehungsweise verurteilte Linksextremisten werden als Vorbilder verklärt, insbesondere wenn sie sich aus Szenesicht im antifaschistischen "Kampf" "verdient" gemacht haben. Dies schließt auch überführte Gewalttäterinnen und Gewalttäter mit ein, die selbst vor körperlichen Angriffen nicht zurückschrecken. Ein Beispiel ist die Linksextremistin Lina E. aus Leipzig, gegen die am Oberlandesgericht Linksextremisten fordern die Entlassung von Lina E. aus der UntersuchungsDresden ein Prozess geführt haft. Quelle: Facebook wird. Auch in Rheinland-Pfalz nehmen linksextremistische Gruppen dies zum Anlass, sich mit Inhaftierten zu solidarisieren und deren Freilassung zu fordern: "Feuer und Flamme der Repres130 sion! Getroffen hat es einige, gemeint sind wir alle!". Damit soll der "militante Antifaschismus" als Mittel für die Durchsetzung politischer Ziele legitimiert werden. Darüber hinaus rufen linksextremistische Gruppen regelmäßig dazu auf, solidarische Briefe an linksextremistische Inhaftierte zu schreiben. Ein Beispiel hierfür ist die Aktion "Briefe schreiben in den Knast", die von der Gruppierung "Antifa Trier" am 28. Juli 2021 propagiert wurde. Antiimperialismus Antiimperialismus ist Teil des ideologischen Selbstverständnisses insbesondere marxistisch-leninistisch geprägter linksextremistischer Gruppierungen. Mit dem Begriff Imperialismus verbinden sie heute den an die "kapitalistischen" Staaten gerichteten Vorwurf der hemmungslosen "kolonialistischen Ausbeutung" der Entwicklungsländer. Antigentrifizierung Linksextremisten lehnen die struktu"Autonome und revolutionäre relle Umwandlung von gewachsenen Freiräume in Berlin, aber auch Stadtteilen und Gebäuden durch Savor unserer eigenen Haustür sind nierungsmaßnahmen vehement ab, elementarer Bestandteil linksraweil, so ihre pauschale Wahrnehmung, dikaler Perspektiven auf eine verdadurch die ursprünglich dort ansäsänderte Gesellschaft. Stellt euch sigen Anwohnerinnen und Anwohner auch in Koblenz gegen die Ververdrängt und ins soziale Abseits gedrängung von Menschen durch trieben werden (Gentrifizierung). Dadie Aufwertung von Wohnraum bei verfolgen sie durchaus auch eigene und schafft alternative PerspekInteressen wie den Erhalt von ihnen tiven (...) Wir sind wütend! Tragt besetzter Häuser ("Freiräume"). Der mit uns diese Wut auf die Straße "Kampf" gegen "antisoziale Stadt(...)." umstrukturierungen" soll vor allem "Antifa Koblenz" Menschen ansprechen, die vom Ver131 lust ihrer Wohnungen bedroht sind und fürchten, ihren ursprünglichen Wohnort verlassen zu müssen. Insbesondere in Berlin, aber auch in anderen Städten wie Hamburg, Stuttgart und Leipzig verspricht sich die linksextremistische Szene vom Kampf gegen solche Maßnahmen Zustimmung bei den Betroffenen. Die Aktionen der Linksextremisten reichen von Hausbesetzungen bis hin zu Brandanschlägen und teils massiven Sachbeschädigungen, insbesondere an Fahrzeugen von Immobilien-Unternehmen, Sicherheitsfirmen und Bauunternehmen, die sie für die Gentrifizierung verantwortlich machen. 2021 blieb Antigentrifizierung ein untergeordnetes Aktionsfeld der rheinlandpfälzischen Szene. Auch in den Jahren davor kam es nur vereinzelt zu Solidaritätsbekundungen mit Hausbesetzern. Beispielsweise mobilisierte die "Antifa Koblenz" am 9. Oktober 2020 für eine Spontandemonstration gegen die Räumung der "Liebig34", einem durch eine Hausbesetzung entstandenen Wohnprojekt der "linken" Szene in Berlin. Antimilitarismus Antimilitarismus ist ein klassisches linksextremistisches Aktionsfeld, dessen Wurzeln bis zu den Anfängen der kommunistischen Bewegung zurückreichen. Im Gegensatz zum Pazifismus geht es Linksextremisten nicht nur um die Abschaffung des Militärs, sondern darüber hinaus um die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie. Im Fokus antimilitaristischer Aktionen der linksextremistischen Szene steht vorrangig naturgemäß die Bundeswehr. Die Auslandseinsätze der deutschen Streitkräfte sowie die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Systemen kollektiver Sicherheit wie der NATO stehen dabei im Mittelpunkt der Agitation. Zudem rücken die Armeen verbündeter Staaten ins Blickfeld der Linksextremisten. Rheinland-Pfalz ist seit Jahrzehnten ein wichtiger Standort von NATO-Truppen, allen voran der 132 Landund Luftstreitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika. Daher ist Rheinland-Pfalz immer wieder Schauplatz antimilitaristischer Aktionen. 3.6 Ausblick Das Agieren von Linksextremisten in Rheinland-Pfalz und in anderen Ländern wird maßgeblich davon abhängen, wie sich die rechtsextremistische Szene sowie diffuse Protestmilieus (islamund asylfeindliche Tendenzen, "Corona-Leugner") entwickeln werden. Dabei werden sich die gewaltorientierten rheinland-pfälzischen Linksextremisten voraussichtlich weiterhin zu verschiedenen Anlässen auf Aktionen und Kampagnen gegen erkannte und vermeintliche Rechtsextremisten konzentrieren. Schließlich werden Linksextremisten auch in Zukunft Anschluss an Bündnisse gegen Rechtsextremismus aus dem bürgerlichen Spektrum suchen und entsprechende Demonstrationen für ihren "Kampf" gegen den politischen Gegner und das "System" nutzen. Der am 24. Februar 2022 begonnene russische Angriffskrieg auf die Ukraine wird auch von der linksextremistischen Szene in Rheinland-Pfalz thematisiert. Trotz der grundsätzlich pro-russischen Einstellung dogmatischer Linksextremisten solidarisiert sich die Szene mit der Bevölkerung der Ukraine. Allerdings wird zugleich heftige Kritik an NATO, USA und EU geübt. Ihnen wird vorgeworfen, selbst expansive Ziele verfolgen und Profit aus dem Krieg ziehen zu wollen. In Rheinland-Pfalz werden dabei die US Air Base im pfälzischen Ramstein und der Fliegerhorst der deutschen Luftwaffe in Büchel (Landkreis Cochem-Zell) als Ausdruck des "NATO-Imperialismus" gebrandmarkt. Im Kontext der Geschehnisse und der politischen Entscheidungen der Bundesregierung wird auch die deutliche Erhöhung des Wehretats scharf kritisiert. Perspektivisch ist ein Wiederaufleben des Aktionsfelds "Anti-Militarismus" zu erwarten, mit Ausdrucksformen wie Ostermärschen und Kundgebungen. In diesem Zusammenhang dürfte die Agitation insbesondere auf die atomare Teilhabe Deutschlands und hier vor allem die in Aussicht stehende Stationierung sogenannter Tarnkappenjets der Bundeswehr in Büchel zielen. 133 4. Kurzübersichten "Interventionistische Linke" (IL) Gründung 2005 Struktur Bundesweites Netzwerk von Ortsgruppen Mitgliederzahl in In Rheinland-Pfalz gibt es keine Ortsgruppe, daher liegen Rheinland-Pfalz auch keine Erkenntnisse zur Mitgliederzahl im Land vor. Publikationen Zeitschrift "Arranca!" sowie verschiedene, aktionsabund Medien hängig unregelmäßig erscheinende Publikationen Ideologie, Programm, Strategie Die IL wurde als bundesweites Netzwerk mit dem Ziel einer verbindlichen "Organisierung" autonomer Gruppierungen und Aktivisten gegründet. In Bündnissen und Initiativen bemüht sich die IL um eine aktionsorientierte Zusammenführung linksextremistischer Akteure unterschiedlicher ideologischer Prägung, um die Handlungsfähigkeit in Deutschland wie auch in internationalen Kampagnen und Netzwerken zu erhöhen. Sie übernimmt somit die Funktion als Bindeglied zwischen Autonomen, dogmatischen und sonstigen Linksextremisten. Zugleich fungiert sie als Scharnier zwischen militanten Strukturen und nicht gewaltorientierten Linksextremisten sowie nicht extremistischen Gruppen und Initiativen (z.B. im Zusammenhang mit Protesten gegen den Braunkohleabbau in Nordrhein-Westfalen). Ziel der IL ist die Überwindung des "Kapitalismus" mittels eines revolutionären Umsturzes. Der "Antikapitalismus" bildet dementsprechend den ideologischen Schwerpunkt der IL. Die Einstellung der IL zur Gewalt ist taktisch bestimmt. 134 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung 1982 Sitz Gelsenkirchen (Nordrhein-Westfalen) Vorsitzende(r) Gabi Fechtner Struktur Landesverbände (LV, Stand 2021: Sieben), die jeweils mehrere Länder umfassen (Rheinland-Pfalz, Hessen und das Saarland bilden einen LV mit Geschäftsstelle in Frankfurt am Main) Mitgliederzahl in Einzelne Mitglieder in Ludwigshafen am Rhein Rheinland-Pfalz Publikationen Magazin "Rote Fahne" und Medien Jugendverband "REBELL" Ideologie, Programm, Strategie Die MLPD ist streng maoistisch-stalinistisch ausgerichtet. Als Ziel strebt sie die Errichtung einer Gesellschaft des "echten Sozialismus" als Vorstufe einer "klassenlosen", kommunistischen Gesellschaft an. Dafür sei "die Vergesellschaftung aller wesentlichen Produktionsmittel, ihre Überführung in Gemeineigentum und ihre Unterstellung unter die Verwaltung durch die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen" nötig. Die Partei zeigt unter anderem Engagement in der Klimaprotestbewegung, so insbesondere bei Demonstrationen. Jugendarbeit nimmt bei der MLPD breiten Raum ein. Ihr 1992 gegründeter Jugendverband "REBELL", der die politischen Ziele der Mutterpartei teilt, wirbt sehr aktiv um neue Mitglieder, unterstützt die Partei bei Wahlkämpfen und beteiligt sich rege im Rahmen der Klimaproteste. 135 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung 1968 Sitz Essen (Nordrhein-Westfalen) Vorsitzende(r) Patrik Köbele Struktur Bezirksverbände und Ortsgruppen Mitgliederzahl in 90 Rheinland-Pfalz Publikationen Zeitung "unsere zeit" (wöchentlich), Theoriemagazin und Medien "Marxistische Blätter" (zweimonatlich) Jugendverband "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) Ideologie, Programm, Strategie Die marxistisch-leninistische DKP versteht sich als Nachfolgerin der 1956 durch das Bundesverfassungsgericht verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD). Zugleich betont sie, dass sie stets mit der vormaligen "Sozialistischen Einheitspartei" (SED) der DDR eng verbunden war. Die DKP hält unverändert an ihrem Ziel der Errichtung einer sozialistischen/ kommunistischen Gesellschaft fest und strebt auf diesem Weg einen "grundlegenden Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnissen" an. Hauptsächliche Aktionsfelder der DKP sind der "Antifaschismus", der "Antikapitalismus" und der "Antimilitarismus". Der Jugendverband SDAJ ist zwar formal unabhängig; er betrachtet sich gleichwohl als Nachwuchsorganisation der DKP. Wichtiges Instrument der SDAJ ist die Bündnispolitik, die gewaltbereite Linksextremisten nicht ausschließt. Neben der Betätigung in den Aktionsfeldern der DKP nimmt die SDAJ an Aktionen der Klimaprotestbewegung teil und versucht, Einfluss auf diese zu nehmen. 136 "Rote Hilfe e.V." (RH) Gründung 1975 Sitz Göttingen (Niedersachsen) Vorsitz Bundesvorstand Struktur Ortsgruppen, davon eine in Mainz Mitgliederzahl in 100 Rheinland-Pfalz Publikationen Zeitschrift "DIE ROTE HILFE" (vierteljährlich und als und Medien Onlinemagazin) Ideologie, Programm, Strategie Die RH, eine der bundesweit größten linksextremistischen Gruppierungen, definiert sich laut Satzung als eine "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation". In diesem Sinne leistet sie Strafund Gewalttätern aus dem linksextremistischen Spektrum politische und finanzielle Unterstützung, so bei anfallenden Anwaltsund Prozesskosten. Durch meinungsbildende Öffentlichkeitsarbeit versucht die RH, die Sicherheitsund Justizbehörden sowie die rechtsstaatliche Demokratie zu diskreditieren (Aktionsfeld "Antirepression"). Zudem betreut die RH rechtskräftig verurteilte Straftäter während ihrer Haftzeit. Ziel ist es, diese weiter beziehungsweise noch stärker an die Szene zu binden und zum "Weiterkämpfen" zu motivieren. Mit ihrem Tun trägt die RH zur bundesweiten Vernetzung und zum Zusammenhalt unterschiedlicher linksextremistischer Strömungen bei. Darüber hinaus legitimiert sie Strafund Gewalttaten. 137 138 Islamismus 139 1. Personenpotenzial 2021 2020 Gesamt 660 650 Organisationsgebundene Islamisten 420 420 Salafisten 240 230 davon Gewaltorientierte18 65 65 Die Zahlenangaben sind zum Teil geschätzt und gerundet. 2. Überblick und Entwicklungen 2021 "Islamismus" ist ein Oberbegriff für verschiedene extremistische Strömungen innerhalb des Islam. Ihr Ziel ist es, eine ausschließlich religiös legitimierte Gesellschafts-, Rechtsund Staatsordnung zu errichten. Islamisten streben somit nach einem Staat, der mit den Normen und Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung teilweise unvereinbar ist. Um ihre Ziele umzusetzen, verfolgen Islamisten unterschiedliche Strategien. Das Spektrum reicht dabei von gewaltfreien Bestrebungen, die einen allmählichen und unauffälligen politischen wie gesellschaftlichen Wandel herbeiführen wollen, bis hin zu terroristischen Organisationen. Trotz ihrer Vielfalt weisen islamistische Gruppierungen inhaltliche Gemeinsamkeiten auf. So behaupten sie einen Absolutheitsanspruch für den Koran und die Überlieferungen der Taten und Aussprüche des Religionsstifters Muhammad. Islamisten deuten diese religiösen Quellen als absoluten Maßstab für alle Menschen, dem eine umfassende persönliche, soziale und politische Geltung zukommt. Weitere gemeinsame Merkmale sind beispielsweise eine strikte und oft aggressiv artikulierte Unterscheidung von Menschen in "Gläubige" und "Ungläubige" (kuffar), die Reklamierung einer muslimischen Opferrolle, ein religiös verbrämter Antisemitismus und das Feindbild "Westen". 18 Der Begriff "gewaltorientiert" bezeichnet nicht ausschließlich Personen, die selbst Gewalt anwenden, sondern auch solche, die Gewalt legitimieren, befürworten oder unterstützen. 140 Das Jahr im Überblick Für den gesamten Phänomenbereich Islamismus spielten im vergangenen Jahr die anhaltende pandemische Lage, die Eskalation im Israel-Palästina-Konflikt und die Machtergreifung der "Taleban" in Afghanistan eine wichtige Rolle. Im zweiten Jahr der Pandemie hielten Islamisten an ihren bisherigen Anpassungsstrategien fest. Staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionslage akzeptierten sie überwiegend, auch weil sie den im Frühislam zur Bekämpfung der Pest ergriffenen Maßnahmen ähnelten. An ihrer grundsätzlichen Ablehnung des säkularen Rechtsstaats änderte dies jedoch nichts. Die islamistische Propaganda deutete die Pandemie weiterhin als Ausdruck "(...) Sie lügen über die Sichergöttlicher Macht. Für Muslime sei sie heit von Impfstoffen! Sie haben eine Glaubensprüfung, für Ungläubige gelogen über die Klimaerwäreine Strafe. Eine einheitliche verschwömung und den Klimawandel. rungstheoretische Erklärung über den (...) Sie haben über 9.11. gelogen. Ursprung des Virus konnte auch in Aber sie sagen ganz bestimmt diesem Berichtsjahr nicht beobachtet die Wahrheit über COVID-19 werden. Jedoch brachten Einzelpersound Pandemien (...)" nen oder islamistische Gruppen teilAuszug aus einem salafistischen Teleweise krude Erklärungsansätze in den gram-Posting islamistischen Diskurs ein, die insbesondere darauf abzielten, Impfstoffe und Impfkampagnen zu diskreditieren. Einige ausländische jihadistische Gruppierungen versuchten, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen. Eine "al-Qaida"-Medienabteilung rief zu Angriffen auf Polizisten im Rahmen der zahlreichen Demonstrationen gegen staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf. Neben den bislang erfolglosen Versuchen, die pandemische Lage zur Durchführung terroristischer Anschläge auszunutzen, inszenierten sich einige islamistische Organisatoren als effektive Bekämpfer der Pandemie, indem sie beispielsweise öffentlichkeitswirksam islamkonforme Hygienemaßnahmen verbreiteten. In Rheinland-Pfalz schränkte die Pandemie auch im Jahr 2021 die Kontaktmög141 lichkeiten der islamistischen Szene ein bzw. verlagerte sie erneut in die virtuelle Welt. Die dort bereits im vergangenen Jahr geschaffenen Angebote und Formate wurden teilweise ausgebaut. Dadurch konnten die Akteure der Szene auch im Berichtsjahr ein erhöhtes Personenpotenzial erreichen, das aufgrund der Kontaktbeschränkungen viel Zeit online verbrachte. Israel-Palästina-Konflikt Im Mai 2021 eskalierte der israelisch-palästinensische Konflikt. Der militärischen Auseinandersetzung waren Streitigkeiten um die Eigentumsverhältnisse von Wohngrundstücken im Jerusalemer Stadtteil Scheich Jarrah vorausgegangen. Die Eskalation gipfelte im Abschuss mehrerer Tausend Raketen auf Ziele in Israel durch die HAMAS und den "Islamischen Jihad" sowie in den Vergeltungsschlägen durch die israelische Luftwaffe gegen Ziele in Palästina. Beide Seiten beklagten Tote und Verletzte. Am 21. Mai einigten sich die Konfliktparteien auf eine Waffenruhe. Der Nahostkonflikt ist eines der Kernthemen islamistischer Ideologie, berührt aber allgemein das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen. Entsprechend groß war die internationale Resonanz auf die militärische Auseinandersetzung. Auch in vielen deutschen Städten kam es zu teilweise israelfeindlichen Demonstrationen und Kundgebungen. Hierbei wurden Parolen wie "Beschießt Tel Aviv", "Terrorstaat Israel" und "Scheiß Juden" skandiert. Darüber hinaus ereigneten sich im Mai gehäuft Angriffe auf jüdische Personen und Einrichtungen. Beispielsweise wurden vor den Synagogen in Bonn und Münster israelische Flaggen verbrannt; das jüdische Gotteshaus in Bonn wurde zudem mit Steinen beworfen. In Rheinland-Pfalz gab es 14 Demonstrationen und Kundgebungen, an denen sich zumeist organisationsunabhängige Personen beteiligten, Demonstration im Mai 2021 in Koblenz. Quelle: Facebook in kleinerer Zahl aber auch 142 Personen, die den Sicherheitsbehörden aus extremistischen Zusammenhängen bekannt sind. Die größte Versammlung mit geschätzt 700 Teilnehmern fand am 16. Mai in Koblenz unter dem Motto "Demo für Nahostkonflikt" statt. Hierbei wurden Sprechchöre und Plakate mit der Aussage beziehungsweise Aufschrift "Kindermörder Israel" festgestellt. Am 15. Mai bildete sich in Trier als Reaktion auf eine pro-israelische Kundgebung eine spontane pro-palästinensische Gegendemonstration. Wie auch bei der Demonstration in Koblenz riefen Demonstranten in Trier auf Arabisch "Wir opfern unser Leben und unser Blut für al-Aqsa"19. Zudem wurde die Parole "Zionisten - Faschisten!" skandiert und Israel mit Schimpfwörtern bedacht. Ein Demonstrationsteilnehmer verlas ein Gedicht mit dem Titel "Ich werde für Jerusalem als Märtyrer sterben". Auch in den sozialen Medien formierte sich unter rheinland-pfälzischen Islamisten sowie Extremisten mit säkular-nationalistischem Hintergrund pro-palästinensischer und antiisraelischer Protest. Hierbei teilten sie in ihren Profilen Propagandabilder und Zitate extremistischer Organisationen - beispielsweise der HAMAS und der ihr zugehörigen "Izz al-Din al-Qassam-Brigaden". Propaganda der "Izz al-Din al-Qassam-Brigaden" Die Ereignisse zeigen, welche ungebrochene Bedeutung dem seit Jahrzehnten anhaltenden Konflikt zukommt. Das humanitäre Leid der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten löst bei jeder neuen Eskalation eine Welle der Solidarität aus. Außerhalb des legitimen Protestspektrums positionieren sich islamistische Bewegungen, aber auch säkular-palästinensische Extremisten als kompromisslose Verteidiger der "palästinensischen Sache" und versuchen über dieses Thema, eine breite Masse mit ihren extremistischen Forderungen zu erreichen. 19 Die al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem gilt Muslimen als die drittheiligste Stätte. 143 Machtübernahme der "Taleban" In Afghanistan endeten nach 20 Jahren die Einsätze der NATO und US-amerikanischen Streitkräfte. Wegbereiter des Abzugs waren die Friedensverhandlungen zwischen den "Taleban" und den USA, die mit dem Abkommen von Doha im Februar 2020 abgeschlossen wurden. Im Laufe des Jahres 2021 eroberten die "Taleban" in einer landesweiten militärischen Offensive gegen afghanische Streitkräfte sukzessive einzelne Provinzen. Im August nahmen sie dann die Hauptstadt Kabul ein und verkündeten die Wiedererrichtung des "Islamischen Emirats Afghanistan". Die Anhänger des islamistischen Spektrums in Deutschland positionierten sich unterschiedlich zu dem Machtwechsel: Einige Organisationen distanzierten sich rhetorisch von den "Taleban", nutzten die Ereignisse aber, um westlichen Regierungen außenpolitisches Versagen vorzuwerfen. Teilweise unterstellten Anhänger dem deutschen Staat eine Doppelmoral im Umgang mit Muslimen - zum Beispiel im Zusammenhang mit der Evakuierung afghanischer Ortskräfte. Auch Salafisten diskutierten die Machtübernahme kontrovers. Einige Anhänger bekundeten ihre Sympathie mit den "Taleban" und begrüßten deren Erfolg als einen historischen Sieg "des Islam" über den Westen. Andere teilten zwar die generelle Scha"Mag sein, dass sich die Gedenfreude über das Scheitern westlischwister in Al Quds [d.h. Jerusacher Politik in Afghanistan, erkannten lem] über die Ankunft der Taliban die "Taleban" aber nicht als legitime isfreuen würden" lamische Machthaber an, da diese ihrer Ansicht nach zu viele Kompromisse auf Salafistisches Instagram-Posting Kosten unumstößlicher religiöser Werte eingehen würden. So kritisierten einige Salafisten, dass sich die "Taleban" um internationale diplomatische Anerkennung bemühen und sich damit den Gesetzen der "Ungläubigen" unterwerfen würden. Auswanderungsbewegungen in das neue "Islamische Emirat Afghanistan" blieben bisher aus und sind in größerem Umfang auch in Zukunft nicht zu erwarten, da die "Taleban" im Unterschied zum IS nicht gezielt ausländische 144 Unterstützer mobilisieren. Zudem ist es für ausreisewillige Personen schwer, Zugang zur Clanund Stammesstruktur der "Taleban" zu erhalten. 2.1 Terrorismus/Jihadismus Der Jihadismus ist eine Variante der salafistischen Ideologie, die den bewaffneten Kampf zur Umsetzung ihrer Ziele fordert. Das schließt mitunter auch den Kampf gegen andere Muslime (zum Beispiel Schiiten) mit ein, sofern diese den Zielen der Jihadisten im Wege stehen oder ihrer rigorosen salafistischen Lehre nicht folgen. Jihadistische Gruppen wenden in der Regel auch terroristische Strategien an, das heißt, sie verüben gezielt Anschläge gegen unbeteiligte Zivilisten, Posting aus einem jihadistischen Telegramum ihre Interessen durchzusetzen. Kanal. Quelle: Telegram Nach dem Ende der sowjetischen Besatzung Afghanistans im Jahr 1989 breitete sich der jihadistische Terrorismus in weiteren Teilen der Welt aus und wurde im zunehmenden Maße auch für westliche Staaten ein Sicherheitsproblem. Insbesondere in sogenannten schwachen und gescheiterten Staaten entwickelten sich regionale Ableger von "al-Qaida" und ab 2014 auch des "Islamischen Staates" (IS). Die "Taleban" hingegen verfolgen eine lokale Agenda und führen ihren militärischen Kampf ausschließlich in Afghanistan und im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Ein Kennzeichen für den transnationalen Jihadismus ist seine hohe geografische Reichweite weit über die ursprünglichen Konfliktregionen hinaus. Seit ihrer Gründung verzeichnen sowohl "al-Qaida" als auch der IS Anschläge in mittlerweile mehr als 50 verschiedenen Ländern. Anders als die "Taleban" in Afghanistan konnte der IS im Irak und Syrien auch 2021 seine ehemalige Gebietsherrschaft und militärische Stärke nicht wieder 145 zurückerlangen. Stattdessen führt er im Irak weiterhin einen asymmetrischen Konflikt gegen seine politischen Gegner, das heißt den irakischen Staat, schiitische Milizen und kurdische Kräfte, und passt sich dabei an die nach wie vor instabile Lage in der Region an. Wie sich die Lage in dieser Region entwickeln wird, ist derzeit nicht absehbar. Fest steht jedoch, dass der IS auch außerhalb des Iraks durch seine diversen "Provinzen" (wilayat) weiterhin transnational Einfluss ausübt. Formal gelten die Anführer jihadistischer Gruppen beispielsweise im Jemen, Libyen oder in der Sinai-Region als Emire, die dem selbsternannten "Kalifen" des IS den Treueschwur (bai'a) leisten. Der afghanische IS-Ableger "Islamischer Staat - Khorasan Provinz" (ISKP) erregte mit einem Anschlag auf den internationalen Flughafen von Kabul am 26. August Aufsehen. Durch die Attacke starben mindestens 183 Menschen; die meisten davon Afghanen, die nach der Eroberung Kabuls durch die "Taleban" auf eine Evakuierung hofften. Der Konflikt zwischen den "Taleban" und dem ISKP dauert an. Dabei musste der ISKP weitere Niederlagen hinnehmen und sieht sich jetzt mit einem "staatlichen" Verfolger konfrontiert. Der IS und "al-Qaida" riefen im Berichtsjahr auch weiterhin zu Anschlägen in westlichen Ländern auf. In der zweiten Ausgabe des neuen Onlinemagazins "Die Wölfe von Manhattan" forderte eine "al-Qaida"nahe Medienstelle zum Beispiel dazu auf, öffentliche Titelseite der 2. Ausgabe des "ManhatProteste gegen staatliche Corona-Maßnahmen in tan Wolves Magazin". Ouelle: Telegram Europa für Anschläge zu nutzen. "Al-Qaidas" Anführer Aiman al-Zawahiri erschien 2021 in zwei neuen Botschaften. In einer davon äußerte er sich unter anderem zum Jahrestag der Anschläge vom 11. September. Al-Zawahiris wahrscheinlichster Nachfolger wurde laut Presseberichten im November 2020 im Iran von israelischen Agenten getötet. 146 In Deutschland ereigneten sich im Berichtsjahr keine Anschläge mit eindeutig islamistischem Hintergrund. Personen aus dem jihadistisch-salafistischen Spektrum sind aber weiterhin zu diesem Zweck aktiv. Den Sicherheitsbehörden gelang es, Straftaten zur Vorbereitung oder Ermöglichung von Anschlägen rechtzeitig aufzudecken. Bis zum dritten Quartal 2021 leitete die Generalbundesanwaltschaft 197 neue Ermittlungsverfahren mit Bezug zum islamistischen Terrorismus ein, davon vier mit dem Tatvorwurf "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat" (SS 89a Strafgesetzbuch). Von Personen, die aus islamistischer Motivation heraus aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak gereist und danach wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind (Rückkehrer), geht ebenfalls weiterhin eine Gefahr aus. Die Zahl neuer Rückkehrer hat aber über die vergangenen Jahre bundesweit stark abgenommen. Situation in Rheinland-Pfalz In Rheinland-Pfalz gelten weiterhin 65 Personen (2020: 65) als Anhänger des jihadistischen beziehungsweise gewaltorientieren Salafismus. Der Begriff "gewaltorientiert" bezeichnet hierbei nicht ausschließlich Personen, die selbst Gewalt anwenden, sondern auch solche, die Gewalt legitimieren, befürworten oder unterstützen. Im März verhängte das Oberlandesgericht Koblenz gegen eine deutsche Staatsangehörige aus Rheinland-Pfalz eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung, wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Die Verurteilte war 2014 mit ihrem damaligen Ehemann und zwei seiner Schwestern in das Herrschaftsgebiet des IS gereist. Im Jahr 2015 wurde ihr Ehemann bei Kämpfen getötet. In der Folge heiratete sie drei weitere Male ISKämpfer und geriet 2019 schließlich selbst in Gefangenschaft. Im Januar 2020 wurde sie nach Deutschland abgeschoben und in Untersuchungshaft genommen. Die jihadistische Szene in Rheinland-Pfalz weist insgesamt einen geringen Organisationsgrad auf und brachte im vergangenen Jahr keine einflussreichen Mei147 nungsführer hervor. Ihre Anhänger sind unterschiedlich stark vernetzt. Einige stehen untereinander in regelmäßigem Kontakt und bilden informelle Netzwerke unterschiedlicher Reichweite. Andere Anhänger verfügen nur über sehr eingeschränkte und instabile Kontakte in die Szene. Manche agieren nahezu ausschließlich virtuell. Der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz beobachtet den Radikalisierungsverlauf von Personenzusammenschlüssen und Einzelpersonen in Bezug auf deren Gewaltbereitschaft, Gewaltbefürwortung und Aktivitäten zur Verbreitung der islamistischen Ideologie. Dabei zeigt sich, dass die individuellen Entwicklungen hin zu einer salafistischjihadistischen Radikalisierung sehr unterschiedlich verlaufen. Auch die Motivationen und Prozesse unterscheiden sich erheblich, sodass ein einheitliches Radikalisierungsprofil bei Jihadisten in Rheinland-Pfalz nicht feststellbar ist. Ein latentes Sicherheitsrisiko geht nicht nur von ideologisch gefestigten Mitgliedern aus dem militanten Kern der Szene aus, sondern ebenfalls von psychisch labilen Einzelpersonen, die ihr paranoides Weltbild auch aus extremistischen Ideologien speisen und aus irrationalen Motiven heraus Anschläge nach jihadistischem Vorbild begehen können. Terror oder Amok? Bei Anschlägen durch Einzeltäter fällt die Abgrenzung zwischen Amok, Terrorismus und wahnhafter Gewalt zunehmend schwer. Allgemeingültige Kriterien zur Abgrenzung solcher Fälle gibt es nicht. Stattdessen müssen die genauen Tatumstände jedes einzelnen Falles bewertet werden. Insgesamt betrachtet zeichnet sich bei islamistischen und rechtsextremistischen Anschlägen der vergangenen Jahre in Europa das Bild eines neuen Tätertyps ab: psychisch auffällige und zugleich ideologisch radikalisierte Einzeltäter. Die Grenzen zwischen wahnhafter Gewalt, Amoklauf und terroristischem Anschlag verwischen zunehmend. Darüber hinaus entfielen durch die Corona-Pandemie Möglichkeiten sozialer Kontrolle, die das Risiko einer unerkannten Radi148 kalisierung von Einzelpersonen erhöhen und die Prognose und Verhinderung von Anschlägen erschweren. Aus der Haft entlassene Islamisten stellen für die Sicherheitsbehörden ebenfalls eine besondere Herausforderung dar, da deren vorgebliche Distanzierung von Szene und Ideologie mitunter nur schwer einzuschätzen ist. 2.2 Salafistische Bestrebungen Mit dem Begriff "Salafismus" werden verschiedene Strömungen des sunnitischen Islam bezeichnet, die ihre ideengeschichtlichen Wurzeln vor allem im saudi-arabischen Wahhabismus haben. Salafisten orientieren sich kompromisslos an einem idealisierten Vorbild der "frommen Altvorderen" (as-salaf as-salih). Die Lebensweise, Glaubensund Gesellschaftsvorstellungen der ersten Muslime sollen so genau und umfassend wie möglich auf die Gegenwart übertragen werden. Dazu gehört ein wortwörtliches "Tauhid"-Finger als Glaubensgeste und ErkenVerständnis des Koran sowie der Taten und Ausnungszeichen. Quelle: Facebook sprüche Muhammads. Salafisten wollen zu einem ihrer Meinung nach unverfälschten und wahren Glauben zurückkehren. Im Zentrum ihrer "wahren" Glaubenslehre steht dabei ein monotheistisches Bekenntnis (tauhid) zu dem einen und einzigen Gott. Salafistischer Auffassung zufolge gehört zu einem "richtig" praktizierten Glauben an einen monotheistischen Gott die konsequente Ablehnung und verbale oder tätliche Bekämpfung aller (potenziellen) "Götzen" (tawaghit). Auch weltliche Staatsformen werden oft als "Götzen" beziehungsweise "falsche Götter" gedeutet. Außerdem lehnen Salafisten andere Religionen, andere Strömungen innerhalb des Islam und religiöse Neuerungen (bid'a) ab. Rechtsordnungen, die ihnen zufolge "unislamische" Gesetze anwenden, sind für Salafisten illegitim und werden teils offen bekämpft. 149 Die salafistische Weltsicht ist von eiWas ist politischer Salafismus? nem Schwarz-Weiß-Denken geprägt, Im politischen Salafismus wird in dem alle erdenklichen Aspekte des die eigene Ideologie primär Lebens in Gegensätze wie "Glaube/ durch Propagandaaktivitäten Unglaube" oder "Paradies/Hölle" unverbreitet, die oft als "Missionsterteilt werden. Daraus ergibt sich eine arbeit" beziehungsweise "Dawa" für alle Varianten des Salafismus cha(deutsch "Einladung") bezeichrakteristische Kultur der Abwertung net werden. Auf lange Sicht solund Abgrenzung von allem, was als len durch diese Tätigkeiten eine "Sünde", "Polytheismus" beziehungsGesellschaft und ein Staat nach weise "Beigesellung" (shirk) oder "Unsalafistischen Vorstellungen erglaube" (kufr) gilt. Sie unterscheiden richtet werden. Das Fernziel ist sich aber in der Wahl ihrer Strategien, dabei ein weltumspannendes mit denen sie ihre Vorstellungen einer "Kalifat". islamischen Lebensführung und Gesellschaftsordnung umsetzen wollen. Was ist jihadistischer Salafismus? Die Verfassungsschutzbehörden beobIm jihadistischen Salafismus soll achten dabei den politischen und den dieses Ziel mit Gewalt erreicht jihadistischen Salafismus als extremiswerden. Aufgrund der ideologitische Bestrebungen. schen Nähe und seiner ambivalenten Gewalteinstellung bildet Am 5. Mai 2021 wurden der Verein der politische Salafismus den "Ansaar International e.V." (AI) und Unterbau des Jihadismus. seine Teilorganisationen durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat verboten. Das bundesweite Vereinsnetzwerk mit Hauptsitz in Düsseldorf steht im Verdacht, islamistisch-terroristische Organisationen im Ausland mit Spendengeldern unterstützt und salafistische "Missionierung" betrieben zu haben. Das Vereinsverbot stieß in der salafistischen Szene auf negative Resonanz. Unterstützer sehen darin einen Beleg für die angebliche Islamfeindlichkeit des deutschen Staates und verteidigen die Aktivitäten von AI als legitime Unterstützung hilfsbedürftiger Muslime. Auch in Rheinland-Pfalz waren Mitglieder des Vereins aktiv. 150 Lage in Rheinland-Pfalz In Rheinland-Pfalz gelten rund 240 Personen als Anhänger salafistischer Bestrebungen. Damit bewegt sich das Personenpotenzial leicht über dem Vorjahresniveau (2020: 230). Dabei rechnet der Verfassungsschutz etwa 175 Salafisten (2020: 165) dem politischen und 65 (2020: 65) dem jihadistischen bzw. gewaltorientierten Salafismus zu. Grund für den leichten Anstieg des politisch-salafistischen Personenpotenzials ist eine Aufhellung des Dunkelfelds. Wie in anderen Bundesländern setzt sich die salafistische Szene im Land aus informellen Gruppierungen, Netzwerken, unabhängigen Initiativen und Vereinen zusammen. Sie ist fragmentiert und hat keine zentralen Führungspersönlichkeiten oder -organisationen. Teilweise bestehen zwischen den Akteuren Kontakte, die zur losen Vernetzung und Zusammenarbeit innerhalb der regionalen und bundesweiten Szene beitragen. Der Verfassungsschutz hat im Jahr 2021 nur eine geringe Aktivität der salafistischen Szene in Rheinland-Pfalz festgestellt. Die CoronaPandemie schränkte ihren Handlungsspielraum - zum Beispiel bei der Durchführung öffentlicher Veranstaltungen - merklich ein. Szenetypische "Dawa"-Aktionen zielten eher auf das unmittelbare persönliche Umfeld der Salafisten ab. Man warb weiterhin im Freundeskreis, der Familie und in einzelnen MoGeforderte Abkehr vom "Ungläubigen" (kafir). scheevereinen für kleinere Veranstaltungen Quelle: Telegram wie beispielsweise Lesezirkel. Daneben kam es erneut zu verstärkten Onlineaktivitäten, mit denen der bereits vorhandene virtuelle Sozialisationsraum für tatsächliche und potenzielle Salafisten weiter anwuchs. Damit setzt sich der Trend zum Rückzug aus der Öffentlichkeit weiter fort. Salafisten konzentrierten sich darauf, die eigene Szene zu stärken. Es entsteht zunehmend ein breit aufgestelltes Kulturmilieu, das keine reine Jugendkultur mehr ist. Die Flutkatastrophe im Juli wurde von Salafisten aus Rheinland-Pfalz nicht zu ideologischen Zwecken instrumentalisiert. Es wurden vielmehr kleinere Hilfsaktionen aus dem salafistischen Spektrum bekannt. 151 Einzelne Salafisten im Land betätigten sich wie bereits im Vorjahr im Umfeld legalistischer Organisationen. Hier gilt es, die mögliche Etablierung einer beständigen "Mischszene" im Blick zu behalten, bei der einzelne legalistische Organisationen vom Engagement tendenziell jüngerer, oft medienaffiner Salafisten profitieren würden, während Salafisten deren Vereinsstrukturen, internationale Verbindungen und Ressourcen nutzen könnten. 2.3 Legalismus Personen und Organisationen des leWas ist Legalismus? galistischen Islamismus in Deutschland stehen zumeist mit internatioUnter Legalismus versteht der nalen oder im Ausland gegründeten Verfassungsschutz eine Straislamistischen Organisationen in Vertegie, wonach extremistische bindung. Ihr Handeln ist zwar überGruppierungen und Akteure bewiegend auf Deutschland fokussiert, strebt sind, ihre Ziele mit legawurzelt aber zugleich in den ideologilen Mitteln zu erreichen. Gewalt schen Prämissen der übergeordneten wird von ihnen weder praktiziert Organisationen. noch propagiert. Weiterhin kommunizieren leGrundsätzlich sind legalistische - galistische Organisationen ihre ebenso wie gewaltorientierte - Islatatsächlichen Ziele in der Regel misten dem Ideal einer umfassenden nicht öffentlich. Vielmehr vertreislamischen Ordnung mit rechtlichem ten sie nach außen zumeist eine und politischem Geltungsanspruch gemäßigtere Agenda als vor den verpflichtet. Weniger eindeutig und eigenen Mitgliedern. Dadurch einheitlich ist bei ihren Vertretern hierverschleiern sie vor Außenstezulande die Frage, in welchem Umhenden ihre extremistische Ausfang, in welcher Form, zu welchem richtung. Zeitpunkt und für welche Zielgruppe (ausschließlich Muslime oder auch Nichtmuslime) dieses Ideal in Deutschland umgesetzt werden soll. So stehen auf der einen Seite Bekenntnisse zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Auf der anderen Seite vermitteln legalistische Islamisten intern zumeist ein Islamverständnis mit rechtlicher und gesellschaftspolitischer Kom152 ponente, dessen konkrete Ordnungsvorstellungen in individuelle Grund"Sie [die Frau] darf zum Gebet rechte zumindest der muslimischen ihr Haus verlassen, um sich zu Bürgerinnen und Bürger eingreifen. bilden, oder anderen erlaubten Tangiert sind hierbei insbesondere die Zwecken (...)." allgemeine Handlungsfreiheit (Art. Yusuf al-Qaradawi, maßgebliche Auto- 2 Abs. 1 GG), die Gleichheit vor dem rität für viele legalistische Islamisten Gesetz (Art. 3 GG), die Glaubensund Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) sowie die Meinungsfreiheit (Art. 5 GG). Legalistische Islamisten setzen auf eine Strategie der allmählichen und mittelbis langfristigen Veränderung. Nach innen gerichtet besteht die Strategie darin, unter den in Deutschland wohnhaften Musliminnen und Muslimen neue Anhänger zu gewinnen, sie an die Organisation zu binden und im Sinne der eigenen Lehre zu erziehen, das heißt sie zu einem an Scharia-Normen gebundenen Islamverständnis hinzuführen und hierzu zu verpflichten. Dieses Islamverständnis betont zudem eine starke innermuslimische Gruppenzugehörigkeit mit gesellschaftlichen Abgrenzungstendenzen nach außen. Eine entscheidende Bedeutung kommt hierbei den eigenen Freizeitund vor allem Bildungsangeboten zu. Die Durchführung von Seminaren, Entwicklung von Schulungsmaterialien, Ausbildung von Predigern und der Betrieb von Bildungseinrichtungen sind insoweit zentrale Tätigkeiten von Vertretern des islamistischen Legalismus. Zugleich ist die Strategie legalistischer Islamisten nach außen gerichtet, indem sie sich bei Entscheidungsträgern für ihre Interessen einsetzen. Durch die Beteiligung an Dialogforen, Mitwirkung an Gremien, Zusammenarbeit mit Behörden, Gewinnung von Fürsprechern und gegebenenfalls durch politische Partizipation soll der Weg zur Bewilligung eigener Vorhaben geebnet werden. Im Einzelnen kann es sich hierbei zum Beispiel um die Gründung islamischer Kindertagesstätten und Schulen, die Trennung von Jungen und Mädchen im Sportunterricht an öffentlichen Schulen oder die Mitbestimmung bei den Lehrplänen für islamischen Religionsunterricht handeln - hierbei im Sinne des eigenen Religionsverständnisses. 153 Bei kritischen Nachfragen oder Widerstand reagieren legalistische (und andere) Islamisten nahezu regelmäßig mit dem Vorwurf des antimuslimischen Rassismus. Dieses Vorgehen ist Teil einer breiter angelegten Strategie, mit der versucht wird, in öffentlichen Debatten zu den Themen Islamismus, Islamkritik und Islamfeindlichkeit die Deutungshoheit zu erlangen. 2.3.1 Die Ideologie hinter dem Legalismus am Beispiel der "Muslimbruderschaft" Die international am weitesten verzweigte islamistisch-legalistische Organisation ist die "Muslimbruderschaft". Sie wurde 1928 in Ägypten gegründet, hat sich jedoch in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einer transnationalen Bewegung entwickelt. Zeitgleich existiert ein Flagge der "Muslimbruderschaft". breites Netzwerk an Organisationen, die ihr zuzurechnen sind oder ihr nahestehen. Auch in Deutschland haben ihre Anhänger ein umfangreiches, wenn auch Was sind "Usra"-Zellen? intransparentes Netzwerk mit Vereinen, islamischen Zentren und "Usra"Die "Muslimbruderschaft" schult Zellen aufgebaut. Hinzu kommen eiihre wichtigsten Mitglieder ideogene Institutionen, die auf bestimmte logisch in elitären Kleingruppen, Bereiche des religiösen und sozialen die konspirativ geführt werden. Lebens spezialisiert sind, zum BeiIn Anlehnung an das arabische spiel Imamausbildung, Jugendarbeit Wort für "Familie" (usra) wird und Rechtsgutachten. Mithilfe dieser eine solche Gruppe "Usra" oder Strukturen wirken Anhänger der "Mus"Usra"-Zelle genannt. limbruderschaft" hierzulande auf Teile der muslimischen Bevölkerung ein und streben darüber hinaus einen zunehmenden gesamtgesellschaftlichen Einfluss an. Die Ideologie der "Muslimbruderschaft" stellt hierbei über staatliche Grenzen und einzelne Institutionen hinweg das verbindende Element der Organisation 154 dar. Getragen wird sie im Wesentlichen von mehreren Merkmalen, die eng aufeinander bezogen sind. Aus ihrem ganzheitlichen Islamverständnis leitet sie die Untrennbarkeit von Religion und Staat ab. Hieraus ergibt sich das Ziel, ein "islamisches Herrschaftssystem" zu errichten. Die Ideologen der "Muslimbruderschaft" vermeiden inzwischen zwar vielfach den Begriff "islamischer Staat" und sprechen stattdessen häufiger von einem "Zivilstaat" mit "islamischem Referenzrahmen". Dessen Hauptmerkmal ist jedoch seine Bindung an "die Scharia", deren Anwendung zentrale Meinungsführer der "Muslimbruderschaft" bis heute unverändert fordern. Sie verstehen diese als ein umfassendes und zeitlos gültiges "integrales Werteund Regelsystem", das über säkularem Recht steht. Auch dort, wo wohlwollend von Demokratie gesprochen wird, ist immer eine Demokratie in den Grenzen unverrückbarer Scharia-Normen gemeint. Ihre konkrete Umsetzung hätte eine Begrenzung der Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten ebenso zur Folge wie Einschränkungen der Freiheiten in Bezug auf Meinung, Weltanschauung, Presse und Religionsausübung. Zur Ideologie der "Muslimbruderschaft" gehören weiterhin Feindbilder, die konkret auf westliche Staaten sowie den Staat Israel als regionalen Hauptfeind bezogen sind. Dessen Existenzrecht wird beständig negiert. Die Rhetorik der "Muslimbruderschaft" richtet sich ferner ausdrücklich gegen Juden und bedient sich dabei diffamierender Zuschreibungen wie Verschwörer und "Zwietrachtsäer". Schließlich ist das Verhältnis zur Gewalt ambivalent. Auf der einen Seite verfolgt die Organisation ihre Ziele in arabischen Staaten seit den 1970er-Jahren "Die wirklichen Feinde der Musliweitgehend gewaltfrei. Dies gilt für die me sind auch die USA, nicht nur Vertreter der "Muslimbruderschaft" in Israel. Den Jihad gegen diese beiDeutschland noch eindeutiger. Weiden Ungläubigen zu führen, ist terhin wird im Gegensatz zu heutigen ein Gebot Gottes, das nicht auJihadisten der militante Jihad zum ßer Acht gelassen werden kann." Zwecke eines Regimewechsels und zur Muhammad Badie, oberster Führer der weltweiten Ausdehnung islamischer "Muslimbruderschaft", im Jahr 2010 Herrschaft abgelehnt. 155 Auf der anderen Seite befürworten Ideologen der "Muslimbruderschaft" in konkreten Konflikten sehr wohl den bewaffneten Jihad. So vertreten etwa im israelisch-palästinensischen Konflikt alle führenden Akteure der "Muslimbruderschaft" die Auffassung, dass der kämpferische Jihad eine "individuelle religiöse Pflicht" sei. Diese sei zudem durch das Recht auf bewaffneten Widerstand gegen eine Besatzungsmacht völkerrechtlich gedeckt. Sogar Selbstmordanschläge werden in diesem Kontext als legitim angesehen. 2.3.2 Instrumentalisierung gesellschaftlicher Probleme durch Legalisten: antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit Rassismus ist hierzulande ein unbestrittenes gesellschaftliches Problem. Er tritt in unterschiedlichen Ausprägungen zutage - oft subtil in Situationen alltäglicher Diskriminierung, teils offen und mitunter auch gewaltsam. Rassismus richtet sich zum Teil gezielt gegen Muslime. Islamfeindliche Vorfälle werden von unterschiedlichen muslimischen Gruppierungen aufgegriffen. Bei islamistischen Organisationen hat die Debatte über antimuslimischen Rassismus in den vergangenen Jahren nochmals erheblich an Dynamik gewonnen. Teilweise verschwimmen bei ihnen die Grenzen zwischen berechtigter Kritik an tatsächlichen Missständen und inflatioAusschnitt eines Videos von "Muslim Interaktiv". Quelle: Younären Schuldzuweisungen gegenüber Tube Nichtmuslimen. Der Vorwurf des antimuslimischen Rassismus wird mitunter bereits im Falle abweichender Meinungen zu bestimmten Aspekten des Islam erhoben. Dadurch erfolgt eine Diskreditierung des Gegenübers, verknüpft mit der Absicht, entsprechende Äußerungen zukünftig zu unterbinden und so die Meinungsfreiheit einzuschränken. Besonders prägnant treten diesbezüglich Gruppierungen und Initiativen in Erscheinung, die der 2003 verbotenen "Hizb ut-Tahrir" (HuT) nahestehen: "Ge156 neration Islam" (GI), "Muslim Interaktiv" (MI) und "Realität Islam" (RI). Mittels professionell gestalteter Videobotschaften oder durch mitunter aufwendig inszenierte Aufmärsche zu politischen und gesellschaftlichen Themen versuchen sie, ihre Zielgruppe zu erreichen. Ganz im Sinne einer "identitären" Be"Er ist wieder da! Der totalitäre wegung adressieren sie ihre Zielgruppe Geist von 1933, der Deutschland bewusst als Muslime und vermitteln und Österreich in einen Abgrund ihnen eindringlich, Opfer einer islamvoll Hass, Verachtung und Gefeindlichen Gesellschaft zu sein. Verwaltbereitschaft gegen Andersgleiche mit dem Schicksal der Juden in denkende gerissen hat! (...)." der Zeit des frühen NationalsozialisYouTube-Video von "Muslim Interaktiv" mus werden bewusst gezogen. Mithilfe eines solchen Bedrohungsszenarios soll zum einen der Zusammenhalt unter den Muslimen gestärkt werden. Zum anderen geht das Motiv der Unterdrückung der Muslime mit einer Abwertung und Delegitimierung von Demokratie und Verfassung einher. Als einzig wahre Staatsund Rechtsordnung wird im Gegenzug die Wie"Die Frage, wen man wählt, kann dererrichtung des islamischen Kalifats man auch so stellen: mit "der Scharia" als Rechtsgrundlage Welches Gift willst du einnehbeschworen. men? Denn sämtliche Parteien tragen zu der AssimilationsagenInsgesamt betrachtet instrumentada bei. (...) Denn diese Parteien lisieren Gruppierungen, die der HuT richten mit Gesetzen, welchen nahestehen, die berechtigte Debatte man als Muslim widersprechen um antimuslimischen Rassismus. Sie sollte." nutzen sie als Mittel zur Durchsetzung YouTube-Video von "Muslim Interaktiv" der eigenen Ideologie. Diese Strategie anlässlich der Bundestagswahl 2021 muss von Initiativen, die sich ernsthaft gegen Rassismus und Islamfeindlichkeit einsetzen, deutlich unterschieden werden. 157 3. Kurzbeschreibungen Kern-"al-Qaida" Gründung 1980er-Jahre Sitz Transnationales Netzwerk Leitung Aiman al-Zawahiri Anhänger-/MitKeine gesicherten Zahlen gliederzahl in Rheinland-Pfalz Publikationen Medienstelle "as-Sahab" und Medien Struktur, Transnationales Netzwerk von Teilorganisationen und Teilund NebenUnterstützern. Hervorzuheben sind: organisationen "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM), "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) Ideologie, Programm, Strategie "Al-Qaida" ("die Basis") ist eine transnational agierende jihadistische Terrororganisation, die Ende der 1980er-Jahre von Usama Bin Ladin und seinem Umfeld gegründet wurde. Ihr Fernziel ist das globale Kalifat. Ihre Ideologie erklärt jeden, den ihre Anhänger als Bedrohung für den Islam wahrnehmen, zum Feind, der bekämpft werden muss. Dabei unterscheidet "al-Qaida" zwischen dem "nahen Feind" (vor allem vermeintlich unislamische Regierungen in mehrheitlich muslimischen Ländern) und dem äußeren "fernen Feind" (meist "westliche" Länder, in denen "al-Qaida" eine Bedrohung für den Islam sieht). Ein Mittel zur Bekämpfung des "nahen" und des "fernen Feindes" sind Terroranschläge. Die Organisation möchte durch Anschläge gegen den "fernen Feind" dessen kulturellen, politischen und militärischen Rückzug aus mehrheitlich muslimischen Ländern erzwingen. Nach Überzeugung der Jihadisten würde die Aufgabe westlicher Interessen in der islamischen Welt den "nahen Feind" schutzlos gegenüber der jihadistischen Bewegung zurücklassen. So wäre der Weg zur Errichtung des globalen Kalifats geebnet. 158 Die Organisation hat weltweit Regionalableger und Unterstützer. Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und einer Welle weiterer schwerer Terroranschläge versteht sich "al-Qaida" als jihadistische Avantgarde, die sowohl eigene (medienwirksame) Anschläge durchführt als auch Einzeltäter oder Kleinstgruppen weltweit zu Anschlägen inspiriert. Heute konkurriert die Organisation mit dem "Islamischen Staat" (IS), der aus der Regionalstruktur der "al-Qaida im Irak" (AQI) hervorging, um die Führungsrolle innerhalb der weltweiten jihadistischen Bewegung. Dabei konnte "al-Qaida" kaum von der militärischen Niederlage des IS profitieren. Strukturen der Gruppierung in Rheinland-Pfalz sind nicht bekannt. 159 "Islamischer Staat" (IS) Gründungsjahr 2014 (Ausrufung des "Kalifats") Sitz Syrien/Irak Leitung Abu al-Hasan al-Hashimi al-Qurashi (seit 2022) Anhänger-/ Keine gesicherten Zahlen Mitgliederzahl in Rheinland-Pfalz Publikationen Nachrichtenagentur "Amaq" und Medien Struktur, Transnationales Netzwerk von Unterstützern und ReTeilund Nebengionalablegern ("Provinzen") organisationen Ideologie, Programm, Strategie Der "Islamische Staat" (IS) ging aus einer jihadistischen Terrororganisation hervor, die unter anderem als "al-Qaida im Irak" (AQI), "Islamischer Staat im Irak" (ISI) oder "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS) auftrat. Das ideologische Fernziel ist die gewaltsame Errichtung eines weltumspannenden islamischen "Kalifats". Seit dem Beginn des Irakkrieges 2003 verübten die Vorgängerorganisationen des IS regelmäßig Anschläge im Irak, die sich vor allem gegen US-amerikanische Soldaten und Schiiten richteten. Im syrischen Bürgerkrieg entwickelte sich die Organisation ab dem Jahr 2013 zu einer der wichtigsten Konfliktparteien und konnte dabei auch Gebietsgewinne verzeichnen. Im darauffolgenden Jahr gelangen ihr zudem Territorialgewinne im Nordirak, was im Juli 2014 schließlich zur Ausrufung des "Kalifats" unter dem damaligen IS-Anführer mit dem Aliasnamen Abu Bakr al-Baghdadi führte. Fortan lautete die Selbstbezeichnung der Terrororganisation "Islamischer Staat". Mit der Ausrufung des "Kalifats" entwickelte der IS für Jihadisten auf der ganzen Welt eine starke Anziehungskraft, die auch viele Europäer zu einer Ausreise 160 in sein damaliges Kerngebiet veranlasste. Weltweit verübten seine Mitglieder Terroranschläge und es entstanden in einigen Ländern Regionalableger ("Provinzen"). Nach der zunächst raschen territorialen Expansion des "Kalifats" im Irak und in Syrien verzeichnete der IS dann beständig Gebietsverluste als Folge erfolgreicher Militäroperationen gegen ihn. Die Organisation zog sich schließlich in den Untergrund zurück und gilt seit März 2019 als militärisch besiegt. Im Oktober desselben Jahres kam der selbsternannte "Kalif" al-Baghdadi im Laufe einer US-amerikanischen Militäroperation zu Tode. Unter seinem Nachfolger mit dem Aliasnamen Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurashi gelang es dem IS, wieder zu erstarken. Anhand asymmetrischer Konfliktführung und durch seine regionalen Provinzen konnte der IS Handlungsspielraum zurückgewinnen. Im Februar 2022 starb al-Qurashi während eines Einsatzes von US-Spezialkräften im Nordwesten Syriens. Rund einen Monat später wurde Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurashi zum Nachfolger ernannt. Die Gruppierung betreibt weiterhin global ausgerichtete Propaganda, die unter anderem zu Anschlägen in westlichen Ländern aufruft. Seit dem 12. September 2014 besteht in Deutschland gegen den IS eine Verbotsverfügung des Bundesinnenministeriums. Strukturen in Rheinland-Pfalz sind nicht bekannt. 161 HAMAS Gründung 1987 im Gaza-Streifen Sitz Gazastreifen Vorsitzende(r) Ismail Haniya Anhänger-/ 45 (2020: 45) Mitgliederzahl in Rheinland-Pfalz Publikationen "al-Aqsa TV" (Fernsehsender), und Medien englischund arabischsprachiges Web-Angebot der HAMAS-Kernorganisation Ideologie, Programm, Strategie Die HAMAS (arabische Abkürzung für "Islamische Widerstandsbewegung") ist aus der transnationalen "Muslimbruderschaft" hervorgegangen, verfolgt jedoch als palästinensische Widerstandsbewegung gegen den israelischen Staat eine nationale Agenda. Sie strebt die Errichtung eines islamischen Staates auf dem gesamten Gebiet "Palästinas" an, wozu die Organisation auch das Territorium Israels zählt. Hierbei setzt sie gegenüber Israel auch militärische und terroristische Mittel ein und unterhält einen paramilitärischen Zweig, die "Izz al-Din al-QassamBrigaden". Diese waren im Mai 2021 für die Raketenangriffe auf israelisches Territorium verantwortlich (siehe Seite 142 f.). Aufgrund ihres Gewalteinsatzes wird die HAMAS seit dem Jahr 2003 auf der EU-Terrorliste geführt. Die HAMAS verfügt auch im Ausland, darunter in Deutschland, über Mitglieder und Organisationsstrukturen. Ihr Tätigkeitsspektrum umfasst im Wesentlichen folgende Punkte: * Unterstützung der Mutterorganisation in den palästinensischen Gebieten mit Spendensammlungen, 162 * Festigung des Einflusses auf die palästinensische Diaspora, bewusst auch gegenüber konkurrierenden palästinensischen Gruppierungen, * palästinensische Lobbyarbeit in der europäischen Öffentlichkeit. Während der israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen im Mai 2021 riefen HAMAS-Mitglieder und -Sympathisanten in den sozialen Medien intensiv zur Teilnahme an den öffentlichen Demonstrationen auf. Um rechtliche Konsequenzen zu umgehen, kommunizieren HAMAS-Aktivisten hierzulande ihre Verbindungen zur Mutterorganisation nicht nach außen. In Rheinland-Pfalz bestehen keine Strukturen, die der HAMAS zuzurechnen sind. Indessen engagieren sich in unterschiedlichen Städten des Landes HAMAS-Anhänger für die Organisation, beispielsweise durch die Mitwirkung oder Teilnahme an HAMAS(-nahen) Kongressen in Deutschland und im Ausland sowie die Veröffentlichung von HAMAS-Propaganda im Internet. 163 "Hizb Allah" Gründung 1982 im Libanon Sitz Beirut, Libanon Vorsitzende(r) Hassan Nasrallah (Generalsekretär) Anhänger-/ 85 (2020: 70) Mitgliederzahl in Rheinland-Pfalz Publikationen "al-Ahd - al-Intiqad" (Wochenzeitschrift), und Medien "al-Manar" (Fernsehsender) Teilund Neben"Waisenkinderprojekt Libanon e.V." (WKP); seit 2014 organisationen verboten Ideologie, Programm, Strategie Die "Hizb Allah" ("Partei Gottes") ist eine schiitisch-islamistische Organisation im Libanon. Sie tritt in ihrem Heimatland als einflussreicher politischer Akteur in Erscheinung und verfügt zusätzlich über einen karitativen und einen militärischen Zweig. Dieser bewaffnete Zweig mit der Bezeichnung "alMuqawama al-islamiyya" ("Islamischer Widerstand") ist für Terroranschläge insbesondere gegen israelische und jüdische Ziele verantwortlich. Deshalb befindet sich der militärische Flügel der "Hizb Allah" seit dem Jahr 2013 auf der EU-Terrorliste. Deutschland stellt für die "Hizb Allah" einen Raum für logistische und finanzielle Unterstützungsleistungen dar. Ihre Anhängerschaft in Deutschland ist zwar intern gut vernetzt, tritt nach außen allerdings nur wenig in Erscheinung, da sie darauf bedacht ist, nicht mit der "Hizb Allah" in Verbindung gebracht zu werden. 164 Verbotsmaßnahmen Mit Verfügung vom 26. März 2020 erließ das Bundesinnenministerium ein Betätigungsverbot gegen die "Hizb Allah" in Deutschland, das am 30. April 2020 verkündet und umgesetzt wurde. Das BMI stellte fest, dass die Tätigkeit der "Hizb Allah" Strafgesetzen zuwiderläuft und sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Im Zusammenhang mit dem Betätigungsverbot kam es in mehreren Bundesländern zu Durchsuchungen. Betroffen waren auch die Räumlichkeiten vier größerer Vereine in Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen, da bei ihnen Anhaltspunkte für eine Zugehörigkeit zur "Hizb Allah" vorlagen. Ebenfalls im "Hizb Allah"-Zusammenhang standen vereinsrechtliche Verbotsmaßnahmen am 15. April 2021, die am 19. Mai umgesetzt wurden. Sie richteten sich gegen Ersatzorganisationen/Nachfolgevereine des 2014 verbotenen "Hizb Allah"-Spendensammelvereins "Waisenkinderprojekt Libanon e.V." (WKP). Dieser war kurzzeitig auch unter dem Namen "Farben für Waisenkinder e.V." bekannt. Neben zwei Vereinen in Niedersachsen war auch ein Verein in Rheinland-Pfalz von dem Verbot betroffen. Es handelte sich um den Verein "Deutsche Libanesische Familie e.V." (DLF) mit Sitz in Ingelheim. Dem Verfassungsschutz lagen Anhaltspunkte dafür vor, dass Funktionäre des verbotenen WKP ihre früheren Aktivitäten fortsetzten, das heißt Spendengelder für libanesische Waisenkinder von gefallenen "Hizb Allah"-Kämpfern sammelten und in den Libanon brachten. 165 "Hizb ut-Tahrir" (HuT) Gründungsjahr 1953 in Jerusalem Sitz dezentral Vorsitzende(r) Ata Abu al-Rashta alias Abu Yasin Anhänger-/ nahestehende Einzelpersonen Mitgliederzahl in Rheinland-Pfalz Publikationen Zeitungen/Zeitschriften: und Medien "al-Khilafa", "Hilafet", "Köklü Degisim", "al-Waie", "Expliciet" Ideologisch "Realität Islam" (RI), nahestehende "Generation Islam" (GI), Gruppierungen "Muslim Interaktiv (MI) Ideologie, Programm, Strategie Die "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung", HuT) strebt die Errichtung eines islamischen Staates unter der Führung eines Kalifen sowie der Scharia als Rechtsgrundlage an. Ziel ist die Vereinigung aller Muslime in einem Kalifatsstaat. Nationalstaat, Demokratie sowie Säkularismus sind mit der Lehre und Zielsetzung der HuT nicht vereinbar und werden von ihr rigoros abgelehnt. Die HuT existiert meist als kleine oder sogar äußerst marginale islamistische 166 Gruppierung in einer Vielzahl von Staaten, unterliegt jedoch in vielen Staaten einem Verbot. Ab dem Jahr 2015 haben sich in Deutschland mehrere Gruppierungen und Initiativen herausgebildet, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen. Zu nennen sind hier insbesondere die Gruppierungen "Realität Islam" (RI) "Generation Islam" (GI) und "Muslim Interaktiv" (MI). Sie betreiben sowohl in der Realwelt als auch ganz besonders in sozialen Netzwerken eine aktive Öffentlichkeitsarbeit. Dort erreichen sie zehntausende, teilweise sogar hunderttausende Interessierte. Sie haben dadurch eine beträchtliche Reichweite und damit verbundenes Einflusspotenzial. Die Themen und Präsentation sind auf Musliminnen und Muslime insbesondere der jüngeren Generation zugeschnitten, die Rhetorik gegenüber nichtmuslimischen Gesellschaften in hohem Maße konfrontativ ("Wertediktatur", "Assimilationsterror", "Obrigkeitsstaat", "Ethnozid" und anderes). Ihre Strategie, eine Art "identitäre" muslimische Bewegung zu etablieren, wird wesentlich durch das Schüren antiwestlicher Feindbilder vorangetrieben (siehe hierzu auch Kapitel 2.3.2). Betätigungsverbot In Deutschland erging im Jahre 2003 ein Betätigungsverbot gegen die HuT, da sie sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtete und Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Belange befürwortete. Aufgrund des Betätigungsverbots kann die HuT als solche in Deutschland keine öffentlichen Aktivitäten entfalten. Mittels der erwähnten ideologisch nahestehenden Gruppierungen setzt sie ihre Agitation und die Rekrutierung neuer Mitglieder jedoch subtil fort. 167 "Kalifatsstaat" Gründungsjahr 1984 Sitz Vereinsstrukturen seit 2001 verboten; früherer Sitz in Köln Vorsitzende(r) Metin Kaplan, wohnhaft in der Türkei (nicht von allen "Kalifatsstaat"-Anhängern als Anführer akzeptiert) Anhänger-/ 90 (2020: 90) Mitgliederzahl in Rheinland-Pfalz Publikationen mehrere Internetseiten und Medien Ideologie, Programm, Strategie Der "Kalifatsstaat" war eine türkisch-islamistische Organisation, die im Jahr 2001 durch das BMI verboten wurde. Unterschwellig unterhalten Anhänger der "Kalifatsstaat"-Ideologie weiterhin Strukturen, allerdings nicht im Sinne einer einheitlichen Organisation. Die Frage, ob Metin Kaplan weiterhin als Oberhaupt der Gruppierung und Kalif anzusehen ist, führte zu Fraktionierungen innerhalb der "Kalifatsstaat"-Gemeinde. Intern wird weiterhin die charakteristische "Kalifatsstaat"-Lehre sowohl in Predigten als auch mittels digitaler Medien propagiert. Zu ihren zentralen Punkten gehören die Etablierung eines islamischen Staates unter der Führung eines Kalifen sowie die Anwendung des islamischen Rechts (Scharia). Demgegenüber wird die Demokratie zurückgewiesen. Gegenüber Juden und westlichen Staaten wird eine ablehnende Haltung eingenommen. Das Vereinsverbot verhindert die Mitwirkung in Gremien und Einflussnahme auf politische Entscheidungen. Gleichwohl ist die "Kalifatsstaat"-Propaganda dazu imstande, das Weltbild der eigenen Anhängerschaft ideologisch zu festigen sowie individuelle Radikalisierungsprozesse zu fördern oder gar auszulösen. 168 "Muslimbruderschaft" Gründungsjahr 1928 in Ägypten, Aufbau von Strukturen in Deutschland ab 1958 Sitz Transnationale Bewegung Anhänger-/ ca. 50 (2020: ca. 50) Mitgliederzahl in Rheinland-Pfalz Publikationen "Risalat al-Ikhwan" (Wochenzeitschrift) und Medien Ideologie, Programm, Strategie Der programmatische Kern der "Muslimbruderschaft" ist die Einheit von Religion und Staat, die nach ihrem Verständnis durch die Anwendung der islamischen Rechtsvorschriften verwirklicht werden soll. In Schriften der "Muslimbruderschaft" wird weltlichen Gesetzen zugunsten der angestrebten islamischen Ordnung zumeist ebenso eine Absage erteilt wie Reformen auf dem Gebiet des islamischen Rechts. Der Gestaltungsfreiraum menschlichen Handelns wird damit erheblich eingeschränkt. Dies läuft letztlich auf eine Zurückdrängung der Volkssouveränität hinaus (zur Ideologie der "Muslimbruderschaft" siehe Kapitel 2.3.1). Angehörige der "Muslimbruderschaft" schufen in den zurückliegenden Jahrzehnten in Europa ein weitverzweigtes Netz von Moscheen, Instituten und Verbänden. Sie verbreiten bis heute ihre Ideologie und verfolgen ihre gesellschaftlichen sowie politischen Interessen. Als wichtigste und zentrale Organisation von Anhängern der "Muslimbruderschaft" in Deutschland fungiert nach Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden die "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V." (DMG) mit Sitz in Berlin. Bis ins Jahr 2018 war sie unter dem Namen "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) bekannt. Sie hatte 169 2019 gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen ihrer Nennung in den Verfassungsschutzberichten des Bundes geklagt. Im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zog die DMG im August 2021 kurz vor dem anberaumten Termin für eine mündliche Verhandlung ihre Klage zurück. Damit wurde das Verfahren eingestellt. In Rheinland-Pfalz sind Personen aktiv, die der Lehre der "Muslimbruderschaft" folgen und in ihr deutsches organisatorisches Umfeld eingebunden sind. Ebenso liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass einzelne Moscheevereine Bezüge zur "Muslimbruderschaft" aufweisen und durch ihre Ideologie beeinflusst sind. Typisch ist das Engagement von Anhängern der "Muslimbruderschaft" im Bildungsbereich. Hierbei wird das Ziel verfolgt, die Adressaten im Sinne des Islamverständnisses der "Muslimbruderschaft" zu beeinflussen und sie zugleich zu selbstbewussten Interessensvertretern hierzulande zu erziehen. 170 Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug (ohne Islamismus) 171 1. Personenpotenzial 2021 2020 Gesamt 650 600 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 450 450 Türkisch-rechtsextremistische Organisationen 150 100 Türkisch-linksextremistische Organisationen 50 50 (Angaben gerundet) 2. Überblick und Entwicklungen 2021 In Deutschland sind mehrere extremistische Organisationen aktiv, die ihren Ursprung im Ausland haben.20 Sie streben eine grundlegende Veränderung der dortigen politischen Verhältnisse an und folgen dabei ihren jeweiligen ideologischen Überzeugungen. Diese gehen hinsichtlich ihrer konkreten Ausrichtung weit auseinander. Das Spektrum umfasst neben der kurdisch-nationalistischen und zugleich linksextremistischen PKK sowohl türkisch-rechtsextremistische als auch türkisch-linksextremistische Organisationen. Einige von ihnen setzen auch Gewalt und terroristische Mittel ein, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Den Bearbeitungsschwerpunkt des Verfassungsschutzes bilden hierbei Organisationen mit Bezug zur Türkei und in deutlich geringerem Maße zu den palästinensischen Gebieten im Nahen Osten. Die extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug nutzen Deutschland als einen aus ihrer Sicht sicheren Rückzugsraum, aus dem heraus sie ihre Strukturen im jeweiligen Herkunftsland propagandistisch, materiell und finanziell unterstützen können. Zudem versuchen sie, hierzulande neue Anhängerinnen und Anhänger, Mitglieder und gegebenenfalls Kämpferinnen und Kämpfer zu rekrutieren sowie öffentliche Lobbyarbeit für die eigenen Interessen zu betreiben. 20 Islamistisch agierende Extremisten mit Auslandsbezug werden vom Verfassungsschutz im Phänomenbereich Islamismus bearbeitet. 172 Die Bestrebungen von Extremisten mit Auslandsbezug laufen darauf hinaus, Was sind auswärtige Belange? auswärtige Belange der Bundesrepublik Die Politik der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Darüber Deutschland ist auf ein friedhinaus richten sich ihre Aktivitäten zuliches Verhältnis zu anderen meist gegen den Gedanken der VölkerStaaten ausgerichtet. Ihre ausverständigung des Grundgesetzes. wärtigen Belange, das heißt ihre öffentlichen Angelegenheiten In Rheinland-Pfalz werden etwa 650 und Interessen, wären jedoch Personen dem Spektrum des auslandsbeeinträchtigt, wenn von deutbezogenen Extremismus zugerechnet, schem Boden Bestrebungen ausdas heißt rund 50 mehr als 2020. Zu gingen, die gewaltsam die poihrer Anhängerschaft gehören neben litischen Verhältnisse in einem Ausländern auch deutsche Staatsanausländischen Staat verändern gehörige mit Migrationshintergrund wollten. und in kleinerer Zahl deutsche Staatsangehörige ohne Migrationshintergrund. Bei letzteren ist teilweise gleichzeitig eine Einbindung in die linksextremistische Szene festzustellen. Hinsichtlich des Personenpotenzials und des Umfangs ihrer Aktivitäten kommt der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) anhaltend eine besondere Bedeutung zu. Einen Gegenpol zu ihr bildet die türkisch-nationalistische "Ülkücü"-Bewegung, umgangssprachlich bekannt als "Graue Wölfe". Deren Mitgliederpotenzial umfasst in Rheinland-Pfalz 2021 insgesamt rund 150 Personen. Der Zuwachs gegenüber den zurückliegenden Jahren ist insbesondere auf eine Erhellung des Dunkelfeldes zurückzuführen sein. 3. Organisationen und Strukturen 3.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) kämpft für eine erweiterte politische und kulturelle Eigenständigkeit innerhalb der angestammten kurdischen Siedlungsgebiete.21 21 Kurdische Siedlungsgebiete befinden sich in den Staaten Irak, Iran, Syrien und Türkei. 173 Struktur und Strategie Zur Durchsetzung ihrer Ziele verfolgt die Organisation weiterhin eine Doppelstrategie: Während sie in der Türkei, der nordirakischen Grenzregion sowie im Norden Syriens mit ihren bewaffneten Einheiten auf die Anwendung von Gewalt setzt, nutzt sie Deutschland sowie andere westeuropäische Staaten primär als Rückzugs-, Finanzierungsund Rekrutierungsraum. Zudem versucht sich die PKK als legitimer gesellschaftspolitischer Ansprechpartner und als alleiniger Interessenvertretung der gesamten kurdischstämmigen Bevölkerung darzustellen. Zu den beschriebenen Zwecken unWas ist Legalismus? terhält die PKK nahezu in ganz Europa einerseits konspirativ agierende, Unter Legalismus versteht der hierarchisch aufgebaute OrganisatiVerfassungsschutz eine Straonsstrukturen. Andererseits hat sie tegie, wonach (extremistische) auf europäischer, bundesdeutscher, Gruppierungen und Akteure beregionaler und lokaler Ebene legalististrebt sind, ihre Ziele mit legasche Strukturen etabliert. Diese treten len Mitteln zu erreichen. Gewalt offiziell zwar nicht unter der Bezeichwird von ihnen weder praktiziert nung PKK in Erscheinung. Allerdings noch propagiert. liegen starke Anhaltspunkte für eine Weiterhin kommunizieren leBeeinflussung und Steuerung durch galistische Organisationen ihre die konspirativen Strukturen, das heißt tatsächlichen Ziele in der Regel den illegal tätigen Funktionärsapparat nicht öffentlich. Vielmehr vertreder PKK vor. Dies hat konkrete Auswirten sie nach außen zumeist eine kungen auf die ideologische Indoktrigemäßigtere Agenda als vor den nierung, die Organisation von Speneigenen Mitgliedern. Dadurch denkampagnen sowie im Hinblick auf verschleiern sie vor AußensteKundgebungen zugunsten der PKK und henden ihre extremistische Ausihres Anführers Abdullah Öcalan. Hierrichtung. mit sind zugleich die wichtigsten Aktionsfelder der PKK umrissen. Als Dachverband dieser legalistischen PKK-nahen Strukturen in Deutschland fungiert die "Konföderation der Gesellschaften Mesopotamiens in Deutschland" (KON-MED). Ihr gehört in Rheinland-Pfalz das seit 2013 bestehende "Demokra174 tisch-Kurdische Gesellschaftszentrum Mainz e.V." an, dessen Mitgliederzahl im mittleren zweistelligen Bereich liegt. Darüber hinaus versucht die PKK, ihre Ideologie mithilfe sogenannter Massenorganisationen zu verbreiten und sich als legitimer Ansprechpartner für Politik und Zivilgesellschaft darzustellen. Aktivitäten und Propaganda Charakteristisch für die PKK-Propaganda sind insbesondere einseitige Opferund Täterzuschreibungen. Gegenüber dem türkischen Staat werden massive Vorwürfe erhoben, Selbstkritik bleibt hingegen völlig aus. Während die vom türkischen Militär ausgehende Gewalt verurteilt wird, werden die Gewaltaktionen der PKK in den eigenen Medien sowie bei (internen) Veranstaltungen als "Märtyreroperationen" verherrlicht. Männliche wie weibliche Kämpfer und Attentäter der PKK werden als "Märtyrer" gehuldigt. In der PKK-Propaganda vermischen sich kurdisch-nationalistische, separatistische und linksextremistische, hier insbesondere antifaschistische Aspekte. Zudem beinhaltet Kämpferinnen und Kämpfer im Dienste Abdullah Öcalans. Monatszeitung Sterka Ciwan, November 2021 sie einen ausgeprägten Personenkult um den inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan. Darüber hinaus weist die Verherrlichung der "Kämpferinnen" und "Kämpfer" unwillkürlich Parallelen zum Märtyrerkult einiger islamistischer Gruppierungen auf. Allerdings ist die PKK insgesamt nicht religiös und in keiner Weise islamistisch ausgerichtet. Trotz der Pandemie-bedingten Einschränkungen führten die PKK und PKKnahen Organisationseinheiten auch 2021 zahlreiche öffentlichkeitswirksame Aktionen in Innenstädten durch, insbesondere Kundgebungen, Demonstrationen und Mahnwachen. Wie bisher wurden dabei Forderungen wie die Haft175 entlassung ihres Führers Abdullah Öcalan, die Aufhebung des PKK-Verbots und die Streichung der PKK von der EU-Terrorliste gestellt. Ebenso wurden die Beendigung der türkischen Militäroffensive in den kurdischen Siedlungsgebieten sowie eine Neuausrichtung der Politik westlicher Staaten gegenüber der Türkei und in der Kurdenfrage gefordert, auch im Hinblick auf Waffenlieferungen an die Türkei. Generell stellte Rheinland-Pfalz 2021 innerhalb des Bundesgebiets keinen Schwerpunkt öffentlicher Aktionen der PKK dar. Im Land fanden neben kleineren Aktionen, die vor allem durch die PKK-Jugendorganisationen durchgeführt wurden, nur vereinzelt öffentlichkeitswirksame Aktionen statt. Hierzu zählten folgende zwei Beispiele: Am 7. Februar 2021 organisierte der Vorstand des "Demokratisch-Kurdischen Gesellschaftszentrums Mainz e.V." eine Versammlung in Mainz. An der Kundgebung unter dem Motto "Sorge um die Gesundheit von Abdullah Öcalan", die als Ersatzveranstaltung für den Corona-bedingt ausgefallenen alljährlichen "Langen Marsch" der PKK-Anhänger zu werten ist, beteiligten sich ca. 100 Personen. In Trier gab es am 22. Februar 2021 eine Veranstaltung zum Thema "Schluss mit der Totalisolation Öcalans - Mobile Öcalan Bibliothek". Bei der Veranstaltung sollen themenbezogene Bücher und Broschüren verteilt worden sein. Neben diesen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen bot die PKK auch in Rheinland-Pfalz interne Schulungen und Versammlungen an. PKK-Anhänger aus Rheinland-Pfalz beteiligten sich darüber hinaus auch 2021 an überregionalen Aktionen. Pandemiebedingt verliefen viele, insbesondere im ersten Quartal 2021, noch dezentral und damit abseits der durch die Organisation angestrebten großen Öffentlichkeit. Nach den Lockerungen im Frühjahr normalisierte sich das Veranstaltungsgeschehen weitestgehend. Die folgenden teilnehmerstärkeren, überregionalen Veranstaltungen sind dabei hervorzuheben: An einer Kundgebung unter dem Motto "Defend Kurdistan - gegen die türkische Besatzung" am 14. August in Düsseldorf beteiligten sich rund 1.500 Personen, vorwiegend PKK-Anhänger, aber auch solche aus dem deutschen links176 extremistischen Spektrum. Laut der PKK-nahen Nachrichtenagentur "Firat News Agency" (ANF) erklärte ein Co-Vorsitzender des Dachverbandes PKK-naher Vereine in Deutschland, KON-MED, unter anderem: "Die Kriegskoalition AKP/MHP macht das Leben immer unerträglicher. Mit ihrer in Südkurdistan praktizierten Politik verfolgt sie über die Besatzung einen Plan zur Vernichtung und des Völkermordes. In der Türkei findet jeden Tag unter staatlicher Beaufsichtigung ein neues Massaker statt. Zu diesem Geschehen werden wir nicht schweigen. Wir rufen alle in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden dazu auf, mit uns am 14. August gegen den türkischen Faschismus Mobilisierung im Internet. Quelle: ANF NEWS zu demonstrieren." Am 25. September fand im niederländischen Landgraaf das 29. "Interna"Wir wollen dieses große Festival tionale Kurdische Kulturfestival" als in ein Volksfest gegen die genoziGroßdemonstration mit 7.000 bis dalen Invasionen des faschistisch 8.000 Teilnehmerinnen und Teilnehagierenden türkischen Staates, mern statt, von denen ein großer Teil Verhaftungen und Massaker, die aus Deutschland angereist war. Die absolute Isolation gegen den kurdischen Repräsentatnten AbVeranstaltung stand unter dem Motto dullah Öcalan und die Angriffe "Status für Kurdistan, Freiheit für Abauf Rojava, Sengal und Basur dullah Öcalan" und war nach Angaben verwandeln." von "Firat News Agency" einem bei türkischen Luftangriffen im Oktober Aufruf des Dachverbands PKK-naher Vereine in Deutschland, KON-MED, 2020 ums Leben gekommenen PKKvom 24. September 2021 Funktionär gewidmet. Dem Festival ging der mehrtägige traditionelle "Lange Marsch" der PKK-Jugend voraus. Er begann am 11. September in Köln und endete am 16. September in Aachen. Wie schon in vergangenen Jahren kam es zu mehreren Zwischenfällen, unter anderem zu Angriffen auf Polizeibeamtinnen und -beamte, Beleidigungen, Verstößen gegen das Vereinsgesetz und Auseinandersetzungen mit An177 hängern aus dem türkisch-nationalistischen Umfeld. Die Teilnehmenden skandierten mehrfach "Jeder Muslim sollte einen Kopfschuss bekommen" und "PKK kämpft!". Anlässlich des 28. Jahrestags des PKK-Betätigungsverbots in Deutschland fand vom 22. bis 27. November eine Aktionswoche statt. Anhänger der PKK forderten unter anderem mit Mahnwachen, Informationsveranstaltungen und PKK-Symbolik und Pyrotechnik auf einer Demonstration in Berlin. Kundgebungen die Aufhebung des Quelle: ANF NEWS Verbots. Den Abschluss der Aktionswoche bildete eine Demonstration mit rund 2.000 Teilnehmern am 27. November in Berlin. Zur Teilnahme hatte ein heterogenes Spektrum von Organisationen aufgerufen, darunter viele aus dem Umfeld der PKK und einige aus der deutschen linksextremistischen Szene. Die Vielzahl der auch 2021 von der PKK realisierten Aktionen kann letztlich nicht über ihre Probleme hinwegtäuschen. Insbesondere der durch die konsequente Strafverfolgung von PKK-Kadern in Deutschland bestehende erhebliche Verfolgungsdruck scheint sich auf die Gewinnung von Nachwuchsfunktionären und die üblicherweise jährliche Kaderrotation, bei der die Führungskräfte eines Gebietes ausgetauscht werden, auszuwirken. Das Oberlandesgericht Koblenz verurteilte am 26. Februar 2021 einen regionalen PKK-Funktionär wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland (SSSS 129 a Abs. 1 Nr. 1, 129 b Abs. 1 Strafgesetzbuch) zu zwei Jahren und drei Monaten Haft. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er ab Mitte August 2015 bis Mitte 2016 eigenverantwortlich das PKK-Gebiet Mainz geleitet und in dieser Funktion durch das Organisieren und Überwachen von Spendenkampagnen und Veranstaltungen Finanzmittel beschafft hatte. Finanzen Im Rahmen ihrer europaweiten, jährlichen Spendenkampagne konnte die PKK auch 2020/2021 erneut ein Rekordergebnis für Deutschland erzielen. Die hierbei 178 gesammelten Spendengelder dienen sowohl der Finanzierung der Organisationsstrukturen und Medien in Europa als auch der Unterstützung der PKK-Strukturen und Kampfeinheiten in den kurdischen Siedlungsgebieten. Zusätzlich erzielte die PKK Einnahmen durch Mitgliedsbeiträge der Vereine und Privatpersonen, den Verkauf von Publikationen sowie durch Erlöse aus Feiern und Veranstaltungen. Rekrutierungsmaßnahmen Die konfliktgeladene Situation in den kurdischen Siedlungsgebieten nutzt "Das kurdische Volk muss all die PKK weiterhin dazu, um in Deutschseinen Kindern von klein auf beiland insbesondere jugendliche Anbringen, dass der türkische Staat hänger zu indoktrinieren und für den der Feind ist [...] Der Patriotisbewaffneten Kampf in der Heimat zu mus ist daran zu bemessen, wierekrutieren. Entsprechende Aufrufe viel Schaden dem Feind zugefügt werden weiterhin über die von der PKK wird." beeinflussten Medien, nicht zuletzt im PKK-Monatszeitung "Serxwebun" ("UnInternet, sowie auf Veranstaltungen abhängigkeit"), Nr. 476, August 2021 verbreitet. Die Anwerbung vieler Ausreisewilliger erfolgt durch PKK-Kader. Funktionäre der PKK-Jugendorganisation spielen dabei eine bedeutende Rolle. Teilweise stammen PKK-Kämpfer auch aus der deutschen linksextremistischen Szene. Ausblick Grundsätzlich ist zu beobachten, dass sich aktuelle Ereignisse in den kurdischen Siedlungsgebieten auch auf das Verhalten der PKK-Anhängerschaft in Deutschland auswirken. Bei einer erneuten Verschärfung der militärischen Auseinandersetzungen in Nordsyrien und dem Irak ist von einer weiter steigenden Emotionalisierung der unterschiedlichen politischen Lager auszugehen. In diesem Fall könnte es neben einem erhöhten Demonstrationsaufkommen auch wieder zu vermehrten gewalttätigen Aktionen kommen. Vergleichbare Reaktionen könnten auch infolge des Todes von Abdullah Öcalan eintreten. 179 3.2 "Ülkücü"-Bewegung ("Graue Wölfe") Die "Ülkücü"-Bewegung ist eine heterogene türkisch-rechtsextremistische Bewegung, deren Wurzeln in der natio"Das Türkentum ist ein Privinalistischen, rassistischen und antiseleg, das nicht jedem Menschen, mitischen Ideologie des Panturkismus schon gar nicht Menschen wie liegen. Ihre Anhänger identifizieren den Juden, zuteilwird." sich noch heute mit den ErrungenHüseyin Nihal Atsiz (einer der bekannschaften des Osmanischen Reiches.22 testen Vordenker der "Ülkücü"-BeweDaraus resultiert ein ausgeprägtes Nagung) tionalund Überlegenheitsgefühl. Aus diesem leitet sich die Forderung nach der "Wiedervereinigung" aller Turkvölker in einem Staat beziehungsweise Großreich "Turan" ab. Dabei soll die Führung des Großreiches allein den Türken vorbehalten sein. Diese Überzeugung fußt auf der Annahme, dass das Türkentum allen anderen Völkern und Staaten überlegen sei. Damit verknüpft sind die Abwertung anderer Volksgruppen und politischer Gegner. Insbesondere Kurden und Andersdenkende sind Zielscheibe der "Ülkücü"-Propaganda. Die Vordenker der Bewegung definierten zudem die Juden als "heimlichen Feind aller Völker". Die "Ülkücü"-Bewegung ist in der Türkei in Form der türkisch-nationalistischen Partei MHP (Milliyetci Hareket Partisi) an der bestehenden Regierungskoalition beteiligt und bestimmt den politischen Kurs maßgeblich mit. Der Ideologie immanente Ziel der "Ülkücü-Bewegung": Türkisches Großreich "Turan". Quelle: Facebook Antisemitismus schlägt sich auch in der aktuellen Rhetorik des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahceli nieder. 22 Das Osmanische Reich (ca. 1300-1922) war ein multinationales und multireligiöses Großreich unter türkischer Führung. 180 Während der israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen im Frühjahr 2021 bediente sich dieser der üblichen verschwörungsideologischen Ressentiments gegen Juden. Die Stimmungsmache richtet sich zunehmend auch gegen im Exil lebende türkische Oppositionelle und Journalisten. Der konfrontative Ton des MHP-Vorsitzenden beeinflusst die in Deutschland lebenden "Ülkücü"Anhänger gleichfalls. In unregelmäßigen Abständen sind auch deutsche Politiker türkischer und kurdischer Abstammung mit Türkei-kritischer Haltung Anfeindungen von Seiten der "Ülkücü"Anhänger ausgesetzt. Die im Sommer 2021 in "Wolfsgruß", Erkennungszeichen der "GrauDeutschland kursierenden sogenannten "Todesen Wölfe". listen", deren Urheberschaft bis dato nicht feststeht, bergen das Potenzial für erneute Konflikte zwischen türkischund kurdischstämmigen Personen sowie zwischen Anhängern und Oppositionellen der türkischen Regierung hierzulande. Einzeltäter, die der Ideologie der nationalistischen "Grauen Wölfe" nahestehen oder diese sogar teilen, könnten infolgedessen durch die Stimmungsmache dazu animiert werden, Straftaten gegen politischer Gegner in Deutschland zu begehen. Die Ideologie der MHP wird von der "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) unter den hier lebenden Türken verbreitet. Die ADÜTDF ist die Deutschlandorganisation der MHP. Öffentlichkeitswirksam werden Zusammenkünfte zwischen Angehörigen der ADÜTDF und Vertretern der MHP präsentiert. Zu erwähnen war der Große Jahreskongress der ADÜTDF 2021 in Hessen. An ihm nahmen außer einem MHP-Funktionär aus der Türkei unter anderem Vertreter rheinland-pfälzischer Vereine teil. Der MHP eröffnen diese zugleich die Chance, ihre politischen Interessen in die türkischen Gemeinden in Deutschland zu tragen. Die ADÜTDF ist andererseits darum bemüht, in der Öffentlichkeit als rechtskonforme, integrationswillige und gewaltablehnende Organisation, die sich gegen Rassismus und für kulturelle Verständigung einsetzt, wahrgenommen zu werden. Das zweite Jahr der Corona-Pandemie hat die Aktivitäten der "Ülkücü"-Anhänger bundesweit nachhaltig beeinträchtigt. Im Berichtszeitraum waren keine öf181 fentlichkeitswirksamen Veranstaltungen der fünf rheinland-pfälzischen ADÜTDF-Vereinen zu verzeichnen. Ihre Aktivitäten beschränkten sich weitgehend auf interne Treffen sowie den virtuellen Raum. So wurden in dortigen Beiträgen ideologische Vordenker der Ülkücü-Bewegung sowie der MHP-Parteigründer Alparslan Türkes an ihren Todestagen gehuldigt. 182 4. Kurzbeschreibungen "Arbeiterpartei Kurdistans" (Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) seit 2007 offiziell "Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" ("Koma Civaken Kurdistan", KCK) Gründung 1978 in der Türkei Vorsitzende(r) Abdullah Öcalan (seit 1999 in der Türkei inhaftiert), seitdem jedoch mehr ideell als faktisch Mitgliederzahl in ca. 450 (2020: ca. 450) Rheinland-Pfalz Publikationen "Firat News Agency" (Nachrichtenagentur), und Medien "Yeni Özgür Politika" (Tageszeitung), "Serxwebun" (Monatszeitung), "Sterka Ciwan" (Monatszeitung), "Sterk TV" (Fernsehsender), "Mezopotamien Verlag und Vertreib GmbH" (Verlag) Teilund Neben"Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft organisationen Kurdistans in Europa" (KCDK-E), europäische Dachorga(unter anderem) nisation; "Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e.V." (KON-MED, zuvor YEK-KOM und NAV-DEM, Dachorganisation PKK-naher Vereine in Deutschland); "Förderation der Demokratischen Gesellschaften Kurdistans e. V. Hessen-Saarland (unter Einschluss von Rheinland-Pfalz, FCDK-KAWA); "Volksverteidigungskräfte" (Hezen Parastina Gel, HPG), militärischer Arm in der Türkei; "Bewegung der revolutionären Jugend" (TCS) Betätigungsverbot seit 22. November 1993 durch Bundesminister des Innern (bestandskräftig seit 26. März 1994) Einstufung als seit 2. Mai 2002 durch EU Terrororganisation 183 "Ülkücü-Bewegung" ("Graue Wölfe") Mitgliederzahl in ca. 150 (2020: 100) Rheinland-Pfalz Publikationen "Bülten" (unregelmäßig) und Medien Verbandliche "Föderation der Türkisch-DemoStrukturen in kratischen Idealistenvereine in Deutschland Deutschland e.V." (ADÜTDF) Ideologie, Programm, Strategie Unter dem Oberbegriff "Ülkücü"-Bewegung werden Anhänger einer türkischnationalistischen, rechtsextremistischen Ideologie bezeichnet. Ihr bekanntestes Erkennungsmerkmal ist der sogenannte Graue Wolf und der daraus abgeleitete Wolfsgruß, weshalb sie umgangssprachlich unter dem Begriff "Graue Wölfe" bekannt sind. Die Anhänger begreifen sich selbst als ülkücüler (Idealisten). Langfristiges Ziel der Bewegung ist die Wiedervereinigung aller Turkvölker in einem ethnisch homogenen Staat "Turan" (pan-türkisches Gedankengut). Die 1969 von Alparslan Türkes (1917-1997) gegründete türkisch-nationalistische Partei MHP (Milliyetci Hareket Partisi) ist die Hauptorganisation der "Ülkücü"-Bewegung. Als Deutschlandorganisation der MHP verbreitet die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) deren Ideologie unter den in Deutschland lebenden Türken. Die "Ülkücü"-Bewegung hat bundesweit ca. 11.000 Mitglieder, Anhänger und Unterstützer. Die Personen sind mehrheitlich in Vereinen des bundesweiten Dachverbandes ADÜTDF organisiert. Der Dachverband und seine angeschlossenen Vereine führen vor allem kulturelle, religiöse und sportliche Veranstaltungen durch. Diese dienen unter anderem dem Zweck, neue Mitglieder zu 184 werben, das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Szene zu stärken sowie potentielle Anhänger möglichst schon im jungen Alter an die "Ülkücü"Ideologie heranzuführen. Außer festen Organisationsstrukturen besteht die "Ülkücü"-Bewegung auch aus einer kleineren, wenngleich zahlenmäßig schwieriger zu erfassenden unorganisierten Szene. Sie setzt sich größtenteils aus internetaffinen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen, die vor allem über soziale Netzwerke miteinander in Kontakt stehen. Dort pflegen sie ihre Feindbilder und agieren mittels Hass-Postings gegen ihre "Feinde". Sie fallen durch Störaktionen am Rande von Veranstaltungen und Kundgebungen kurdischer, mitunter PKK-naher Gruppen auf. Vereinzelt nehmen sie an pro-palästinensischen Demonstrationen teil. 185 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) Gründung 1994 in Damaskus, Syrien Vorsitzende(r) Gruppe von Führungskadern Mitgliederzahl in einzelne (2020: einzelne) Rheinland-Pfalz Publikationen "Halk Okulu" (wöchentlich), und Medien "Devrimci Sol" (unregelmäßig), "Bizim Genclik" (unregelmäßig) Ideologie, Programm, Strategie Die marxistisch-leninistisch ausgerichtete DHKP-C ("Devrimci Halk Kurtulus Partisi - Cephesi") verfolgt fortgesetzt die gewaltsame Zerschlagung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung in der Türkei und strebt die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus an. Nachdem die DHKP-C insbesondere zwischen 2012 und 2016 zahlreiche terroristische Anschläge in der Türkei verübt hat, blieben öffentlichkeitswirksame Anschläge seit 2018 aus. Dies ist unter anderem durch die Festnahme wichtiger DHKP-C-Führungskader im November 2017 bedingt. Wenngleich die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der DHKP-C rückläufig sind, hält die DHKP-C bis heute grundsätzlich am bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat, dessen Vertreter und Einrichtungen fest. In Deutschland ist die DHKP-C seit 1998 verboten. Da sie aufgrund dieses Vereinsverbots nicht offen agieren kann, tritt sie unter Tarnbezeichnungen wie "Halk Cephesi" (Volksfront) oder "Halk Meclisi" (Volksrat) auf. Die Mitglieder konzentrieren sich vorwiegend auf finanzielle Unterstützungsleistungen sowie Propagandaaktivitäten. Weiterhin zeigt sich die Anhängerschaft solidarisch mit ihren inhaftierten Mitgliedern ("revolutionäre Gefangene"), ebenso mit den DHKP-C-Attentätern in der Türkei. 186 Aktivitäten der DHKP-C und ihrem Umfeld waren auch im Jahr 2021 in Rheinland-Pfalz nur marginal zu verzeichnen. Sonstiges Die DHKP-C befindet sich seit 2002 auf der EU-Liste terroristischer Organisationen. 187 188 Spionage und Cyberangriffe 189 1. Aufgaben der Spionageabwehr und allgemeine Lage Die Bedrohungslage für die Bundesrepublik Deutschland durch Spionage, Die Verfassungsschutzbehörde Einflussnahme und sonstige nachrichRheinland-Pfalz hat gemäß SS 5 tendienstliche Aktivitäten fremder Nr. 2 LVerfSchG die Aufgabe, Staaten ist als sehr hoch einzuschätsicherheitsgefährdende oder zen. Die Ausforschung von Politik, geheimdienstliche Tätigkeiten Wirtschaft, Wissenschaft und Militär in der Bundesrepublik Deutschanderer Länder steht insbesondere land für eine fremde Macht zu für die Nachrichtendienste autoritär beobachten, soweit tatsächliche regierter Staaten im Mittelpunkt des Anhaltspunkte für den Verdacht Aufklärungsinteresses. Zudem beobsolcher Tätigkeiten vorliegen. achten sie systematisch Personen und Organisationen, die in Opposition zu den jeweiligen Regierungen stehen. Die Methoden, mit denen fremde Staaten versuchen, Spionage zu betreiben und Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen, werden immer vielfältiger und subtiler. Man spricht inzwischen von einer "hybriden Bedrohung". Mit Blick auf die verschiedenen KriWas ist Proliferation? senherde in Europa sowie den Nahen Unter Proliferation versteht man und Fernen Osten sind fremde Nachdie Weiterverbreitung von atorichtendienste besonders an (militär-) maren, biologischen und chepolitisch und strategisch relevanten mischen MassenvernichtungsEntwicklungsund Entscheidungsprowaffen beziehungsweise der zu zessen Deutschlands und seiner Rolle ihrer Herstellung verwendeten in der EU sowie der NATO interessiert. Produkte sowie von entspreZudem stehen weiterhin die wissenchenden Waffenträgersystemen, schaftlich-technologischen Ressoureinschließlich des dafür erforcen der Bundesrepublik Deutschland derlichen Know-how. im Zielspektrum fremder Nachrichtendienste. Diese bemühen sich um den Aufbau verdeckt operierender Strukturen zur Informationsgewinnung und zum illegalen Gütertransfer, die anschließend vor allem der Wirtschaftsspionage und der Proliferation dienen. 190 Neben dem unverzichtbaren Einsatz menschlicher Quellen zur Informationsgewinnung (Human Intelligence) setzen die Nachrichtendienste fremder Staaten vermehrt auf die Sammlung elektronischer Daten, die durch die zunehmende Vernetzung offen zugänglich sind oder durch Cyberattacken illegal beschafft werden (Cyber Intelligence). Staatlich gesteuerte Cyberangriffskampagnen wie GHOSTWRITER und HAFNIUM belegen, dass derartige Angriffe nicht nur immer zahlreicher, sondern auch komplexer und professioneller werden. Durch die stetig wachsende Nutzung sogenannter smarter Technologien in allen Lebensund Arbeitsbereichen verschieben sich Informationen zunehmend aus der realen in die digitale Welt und werden zu weltweit verfügbaren und begehrten Daten für Cyberkriminalität sowie für Cyberspionage und -sabotage. Insbesondere die Nachrichtendienste der Russischen Föderation und der Volksrepublik China nutzen die sozialen Medien, um gesellschaftliche Gruppen zu beeinflussen. Deutschland ist von solchen Aktivitäten verstärkt betroffen, wie sich während der Corona-Pandemie und der Flutkatastrophe im Ahrtal gezeigt hat (siehe Seite 194). Mittels gezielter Propaganda und Desinformationskampagnen wurden 2021 zum Beispiel diskreditierende Meldungen zu westlichen Impfstoffen verbreitet, Falschmeldungen über die Hochwasserhilfen im Ahrtal gestreut und eine einseitige und tendenziöse Berichterstattung betrieben. Ziele sind die Verunsicherung der Gesellschaft und eine negative Einflussnahme auf gesellschaftliche sowie politische Meinungsbildungsund Entscheidungsprozesse. 2. Themenfelder der Spionageabwehr 2.1 Spionage Die Spionageabwehr geht gemäß ihres gesetzlichen Auftrags allen tatsächlichen Anhaltspunkten für sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten nach. Ziel ist es, illegale Aktivitäten fremder Mächte aufzuklären und zu verhindern. Hauptträger der Spionageaktivitäten gegen die Bundesrepublik Deutschland sind Russland, China und Iran. Aber auch Nachrichtendienste anderer Staaten sind in der Bundesrepublik Deutschland aktiv. 191 Russische Nachrichtendienste Russland verfügt über drei Nachrichtendienste, denen neben immensen Personalressourcen auch weitreichende Befugnisse zur Verfügung stehen. Nachrichtendienste der Russischen Förderation SWR Ziviler Auslandsnachrichtendienst (Slushba Wneschnej ca. 15.000 Mitarbeiter Raswedki) * Spionage in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, * Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts der Russischen Föderation, * Ausforschung westlicher Nachrichtendienste, * Elektronische Fernmeldeaufklärung, * Proliferationsund Terrorismusbekämpfung FSB Inlandsnachrichtendienst (Federalnaja Slushba ca. 350.000 Mitarbeiter (davon ca. Besopasnosti) 200.000 Grenzschutztruppen) * Abwehr ziviler und militärischer Spionagetätigkeiten ausländischer Nachrichtendienste gegen Russland, * Ausspähung der Opposition, * Bekämpfung von Extremismus-, Terrorismusund Organisierter Kriminalität, * Sicherung der Staatsgrenzen 192 GRU (Glawnoj Raswedywatelnoje Militärischer Auslandsnachrichtendienst Uprawlemije) ca. 12.000 Mitarbeiter * Informationsbeschaffung in den Bereichen Militärund Sicherheitspolitik sowie militärisch nutzbare Technologien, * Ausspähung der Bundeswehr sowie Standorte ausländischer Streitkräfte und der NATO (z.B. Air Base Ramstein) Die Nachrichtendienste SWR (gegründet 1991) und FSB (gegründet 1995) sind im Wesentlichen aus dem "Komitee für Staatssicherheit" (KGB), dem Inund Auslandsgeheimdienst der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangen. Dagegen existiert der Militärnachrichtendienst GRU ("Hauptverwaltung für Aufklärung") bereits seit 1918. Die Steuerung von Operationen der russischen Nachrichtendienste erfolgt entweder direkt aus Moskau oder über Legalresidenturen an den diplomatischen Vertretungen. Ihre vorrangigen Aufklärungsfelder sind alle Politikbereiche mit möglichen Auswirkungen auf Russland, insbesondere die westliche Bündnispolitik, aber auch die Außenund Wirtschaftspolitik. Die anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Sanktionen gegen Russland infolge des Ukraine-Konflikts lassen erwarten, dass die Aktivitäten der russischen Nachrichtendienste mit hoher Intensität fortgeführt werden. Mit den russischen Nachrichtendiensten werden auch Attentate im Inund Ausland in Verbindung gebracht. Im Dezember 2021 verurteilte das Kammergericht Berlin einen russischen Staatsbürger wegen eines an einem Landsmann am 23. August in Berlin begangenen Mordes (sogenannter Tiergartenmord) zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Das Gericht erkannte die Urheberschaft Russlands für die Tat als ausreichend begründet. Das Auswärtige Amt erklärte anschließend zwei russische Diplomaten zu "Personae non gratae". 193 Verstärkte Einflussnahmeversuche Russlands Signifikant sind die Aktivitäten russischer Nachrichtendienste, die zum Ziel haben, Einfluss auf gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse zu nehmen und die Politik sowie die politischen Entscheidungsträger zu diskreditieren. Dies geschieht nicht zuletzt in den sozialen Medien durch russische staatliche oder halbstaatliche Medien und auf Videoplattformen. Insgesamt spricht man meist (noch) von illegitimer Einflussnahme, da die Schwelle zur Illegalität gezielt nicht überschritten wird. Insbesondere die Corona-Pandemie wird seit 2020 genutzt, um Zweifel an der deutschen Politik zu schüren. RTDE, der deutschsprachige Ableger des regierungsnahen russischen Fernsehsenders RT (früher Russia Today), betrieb auch 2021 fortwährend eine einseitige und tendenziöse Berichterstattung, die unter anderem die westlichen Impfstoffe stark in Frage stellte und einen russischen Impfstoff bewarb. Dieses Vorgehen wiederholte sich im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe im Juli 2021 in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, als der Sender von einem "Systemversagen" sprach. Um noch mehr Einfluss in Deutschland zu gewinnen, bemühte sich RT DE um eine Sendelizenz im Deutschen TV-Netz. Nachdem diese nicht gewährt wurde, versuchte man diese Hürde zu umgehen, indem man Sendelizenzen in anderen Staaten beantragte. Auch durch YouTube wurden mehrfach Kanäle von RT DE gesperrt, da diese Falschinformationen verbreitet hatten. Geleakte E-Mails in Wahlkampfzeiten sind weitere Beispiele von Meinungsbildungsbeeinflussung, die Russland zugeschrieben werden. Infolge des Ausschlusses russischer Sportler von den Olympischen und den Paralympischen Spielen wurde die Datenbank der WADA23 durch russische Hacker angegriffen. Der vor der Bundestagswahl 2021 bekannt gewordene Angriff auf die IT-Infrastruktur des Bundestages wird einer durch Russland gesteuerten Hackergruppierung zugerechnet. Die Cybergruppierung GHOSTWRITER versuchte im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 erfolglos, private E-Mail-Accounts deutscher Mandatsträger und Parteiverbände zu infiltrieren. 23 Die Welt-Anti-Doping-Agentur ist eine NGO mit dem Ziel, Maßnahmen gegen Doping im Leistungssport zu koordinieren und organisieren. 194 Schon wegen der permanenten Spannungen zwischen Russland und der NATO, der Verschärfung im Russland-Ukraine-Konflikt und der Diskussionen um das Projekt Nord Stream 2 war zu erwarten, dass die Bestrebungen Russlands, die Meinungsbildung in Deutschland aggressiv in seinem Sinne zu beeinflussen, im Jahr 2021 unvermindert fortdauern würden. Nach dem russischen Angriff Was sind die "Fünf Gifte"? auf die Ukraine Ende Februar 2022 Zu den "Fünf Giften" gehören traten diese Aktivitäten in eine neue aus chinesischer Sicht die MePhase. Die Kanäle russischer Staatsditationsbewegung Falun Gong medien versuchten sogleich, Russland und deren Angehörige, die Mitals Opfer darzustellen und im weiteglieder der Demokratiebeweren Verlauf des Krieges mutmaßliche gung, die Befürworter der EigenKriegsverbrechen zu leugnen. Russland staatlichkeit Taiwans sowie die sei gezwungen worden, sich gegen die nach Unabhängigkeit strebenwestlichen Aggressoren und die Ukraden Volksgruppen der Uiguren ine zu verteidigen. Nachdem die EU und der Tibeter. das Fernsehprogramm, Apps, Websites und Social-Media-Plattformen von RT DE und Sputnik verboten hatte, war zwar eine verringerte Aktivität auf Nachrichtenseiten und Social-Media-Accounts zu beobachten. Unter bestimmten technischen Voraussetzungen besteht jedoch weiter die Möglichkeit, diese zu konsumieren. Chinesische Nachrichtendienste Die Hauptaufklärungsziele der chinesischen Nachrichtendienste im Inund Ausland, auch in der Bundesrepublik Deutschland, sind weiterhin die als "Fünf Gifte" bezeichneten Bewegungen und Volksgruppen. Die sonstigen Aktivitäten der Nachrichtendienste werden stark durch den jeweiligen Fünfjahresplan der Volksrepublik China geprägt, der die Interessen der allgegenwärtigen Kommunistischen Partei Chinas (KPCH) spiegelt. Wichtige Ziele der Auslandsaufklärung sind Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Dabei liegt der Fokus insbesondere auf politischen Entscheidungsprozessen sowie der Technologieund Wirtschaftsspionage. Chinas Nachrichtendienste sind hierbei mit umfassenden Befugnissen ausgestattet und unterliegen keinen rechtsstaatlichen Beschränkungen. 195 Die wichtigsten Nachrichtendienste der Volksrepublik China sind der zivile Inund Auslandsnachrichtendienst MSS, das "Ministerium für öffentliche Sicherheit" (MÖS), der militärische Inund Auslandsnachrichtendienst MID und das "Büro 610" der KPCH, das allein der Beobachtung und Verfolgung der FalungGong-Bewegung dient. Nachrichtendienste der Volksrepublik China MSS Ziviler Inund Auslandsnachrichten(Ministry of State Security / dienst Ministerium für Staatssicher- * Spionage in den Bereichen Politik, Wirtheit) schaft und Wissenschaft, * Spionageabwehr, * Oppositionsausspähung, * Bekämpfung von Gefahren für die öffentliche Ordnung MÖS / MPS "Polizeiministerium" mit Zugriff auf die (Ministerium für öffentliche Polizei sowie auf eigene nachrichtenSicherheit/Ministry dienstliche Spezialeinheiten of Public Security)) * Ausspähung von Staatsgefährdern, * Zensur von Medien und Internet, * Militärische und nachrichtendienstliche Auslandsmissionen 196 MID Militärischer Inund Auslandsnach(Military Intelligence richtendienst Directorate) * Aufklärung insbesondere fremder Streitkräfte, * Entsendung von Militärattaches sowie Kontakt zu ausländischen Streitkräften Büro 610 Institution der KPCh * Beobachtung und Verfolgung der Falun Gong-Bewegung in Inund Ausland Die Aktivitäten der chinesischen Nachrichtendienste sind seit Jahren verstärkt in der digitalen Welt festzustellen. Mittels Fake-Profilen versuchen diese auf Social Media-Plattformen unter anderem zu Parlamentarierinnen und Parlamentariern, hochrangigen Beamtinnen und Beamten sowie Angehörigen der Streitkräfte Kontakt herzustellen, um sie zu einer Zusammenarbeit mit dem Ziel der Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse und die öffentliche Meinung zu bewegen. Ein weiteres bevorzugtes Ziel sind gut vernetzte Entscheidungsträgerinnen und -träger in Industrie, Forschung und Entwicklung. Bei ihnen legen es die chinesischen Nachrichtendienste darauf an, sie als "Lobbyisten" für chinesische Interessen zu gewinnen. Chinesische Investitionen in Deutschland können wirtschaftliche Abhängigkeiten erzeugen, die bei Bedarf als Hebel für politische Zugeständnisse eingesetzt werden können. Ein Beispiel hierfür sind etwa Investitionen im Rahmen der sogenannten Neuen Seidenstraße. Vor Reisen nach China müssen bei der digitalen Beantragung eines Visums ausführliche persönliche Angaben gemacht werden. Die dortigen Sicherheitsbehörden sind so in der Lage, Personen mit für China interessantem Profil her197 auszufiltern. Nach der Einreise können dann mit geringem Risiko Überwachungsmaßnahmen oder Anwerbungsversuche unternommen werden. Insbesondere für regimekritische Reisende erhöht sich somit das Repressionsrisiko. Was ist die "Neue Seidenstraße"? Die Neue Seidenstraße, auch als One Belt, One Road und Belt and Road bekannt, ist ein langfristiges Projekt der Kommunistischen Partei Chinas zum Aufbau von Infrastrukturen für Transport, Versorgung und Handel. Vorbild sind historische Routen zwischen China und dem Westen, die man erweitert und verändert. Einbezogen werden Asien, Afrika und Europa, nicht aber die USA, die dem Projekt ablehnend gegenüberstehen. Errichtet werden Straßen, Bahnlinien, Brücken, Häfen und Kraftwerke, wobei chinesische Arbeiter vor Ort sind. Quelle: wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/neue-seidenstrasse-100610, abgerufen am 15. April 2021 Iranische Spionageaktivitäten in Deutschland Die Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran sind seit Jahren immer stärker in Europa und der Bundesrepublik Deutschland aktiv. Als wichtige Instrumente der politischen Führung agieren hier vor allem das iranische Ministry of Intelligence (MOIS) sowie die "Quds Force", eine nachrichtendienstlich agierende Spezialeinheit der Iranischen Revolutionsgarden. Eine Abteilung des MOIS sowie einzelne Personen stehen auf der EU-Terrorliste. Die "Quds Force" wird von den Vereinigten Staaten von Amerika als Terrororganisation eingestuft. Primäre Aufklärungsziele der iranischen Nachrichtendienste im Ausland sind politische und militärische Erkenntnisse sowie Informationen aus Wirtschaftsunternehmen und wissenschaftlichen Institutionen westlicher Staaten. Darüber hinaus gehört die gezielte Ausspähung oppositioneller Gruppierungen im Ausland zu den Schwerpunktaufgaben. Außerdem schrecken iranische Nachrichtendienste nicht vor Staatsterrorismus zurück. Dies dürfte auch der Hintergrund sein bei dem Fall eines im Februar 2021 198 von einem belgischen Gericht wegen versuchten Mordes und Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung zu 20 Jahren Haft verurteilten iranischen Diplomaten. Als Offizier des MOIS soll dieser einen Sprengstoffanschlag auf ein Jahrestreffen der iranischen Exil-Opposition im Juli 2018 in Paris geplant haben. Ziel des Anschlagsplans war eine Veranstaltung, an der hochrangige Politiker aus den Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und Frankreich teilnahmen. Der Diplomat war offiziell als Dritter Botschaftsrat an der iranischen Botschaft in Wien akkreditiert. Im Rahmen der Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden wurde im Vorfeld des versuchten Terroranschlages eine Vielzahl von Reisen in mehrere europäische Staaten, unter anderem nach Deutschland festgestellt. Hier besuchte er mehrere Orte im gesamten Bundesgebiet, auch in RheinlandPfalz. Ob die vielen Reisen einen nachrichtendienstlichen Hintergrund hatten, ist nicht verifizierbar. Der Iran hat sich mittlerweile neben Russland, China und Nordkorea zudem als weiterer ernstzunehmender Akteur auf dem Feld der Cyberspionage etabliert. In den vergangenen Jahren wurden in verschiedenen westlichen Staaten verstärkte iranische Cyberangriffe auf diverse Ziele festgestellt. Hiervon waren unter anderem Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland betroffen. Darüber hinaus wurde der weit verbreitete Instant-Messenger-Dienst "Telegram" vermutlich von iranischen Behörden oder Nachrichtendiensten gezielt dazu benutzt, Angehörige der iranischen Opposition im Ausland zu überwachen. 199 Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran MOIS Ziviler Inund Auslandsnachrichten(Ministry of Intelligence of dienst the Islamic Republic of Iran) * Beobachtung der Opposition im Inund Ausland, * Auslandsaufklärung mit Fokus auf Politik, Militär, Wirtschaft und Forschung Quds Force (QudsMilitärische Spezialeinheit der Iranischen Brigaden)24 Revolutionsgarden * Militärische und nachrichtendienstliche Auslandsmissionen, * Ausspähung israelischer und pro-jüdischer Ziele im Ausland 24 "Jerusalem Force" (Logo der Iranischen Revolutionsgarden). 200 Türkische Nachrichtendienste Der im Inund Ausland tätige türkische Nachrichtendienst Milli Istihbarat Teskilati (MIT) ist direkt dem türkischen Staatspräsidenten unterstellt und verfügt über weitreichende Exekutivbefugnisse. Dem MIT werden rund 8000 bis 9000 hauptamtliche Mitarbeiter zugerechnet. In der Bundesrepublik Deutschland leben mehr als 2,7 Millionen Bürgerinnen und Bürger türkischer Herkunft. Von daher hat die innenpolitische Lage der Türkei auch regelmäßig Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland und die hiesigen Aktivitäten des MIT. So forderte die Türkei in Folge des Putschversuchs 2016 heimatverbundene Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik Deutschland auf, "Staatsfeinde" zu melden. Denunziationen, Ausspähungen und Bespitzelungen zugunsten des MIT nahmen danach deutlich zu und dauern an, auch in Rheinland-Pfalz. Betroffen sind vor allem Menschen, die eine Nähe zur oppositionellen Gülen-Bewegung hatten oder haben oder denen dies unterstellt wird. In Deutschland ist die Bewegung im Gegensatz zur Türkei nicht als terroristisch eingestuft. Bekannt ist, dass Türkei-treue Zuträgerinnen und Zuträger Oppositionelle an die konsularischen Vertretungen der Türkei melden, an denen der MIT Legalresidenturen unterhält. Des Weiteren versucht auch die Türkei, mit Hilfe ihres Nachrichtendienstes und anderer staatlich gelenkter Akteure gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse in Deutschland in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dabei bedient man sich vor allem bundesweit etablierter und integrierter Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Oft sind dies Führungspersonen in türkischen Personenzusammenschlüssen, die in der Regel eng an türkische Staatsstrukturen angeschlossen sind. Als wichtiges weiteres Aufklärungsziel des MIT gilt nach wie vor die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK). Die in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegte PKK kämpft für eine erweiterte politische und kulturelle Eigenständigkeit innerhalb der angestammten kurdischen Siedlungsgebiete, die sich zu einem großen Teil auf die Türkei erstrecken. Zur Durchsetzung ihrer Ziele geht sie in der Türkei, der nordirakischen Grenzregion sowie im Norden Syriens mit bewaffneten Einheiten gewaltsam vor. Von offizieller türkischer Seite wird sie einschließlich ihres Unterstützerumfeldes als terroristisch eingestuft. 201 Nachrichtendienst der Türkei MIT (MillA(r) Ädegstihbarat Inund Auslandsnachrichtendienst Teskilati) * Beobachtung der Opposition im Inund Ausland, * Weitere Aufklärungsziele sind vor allem wirtschaftliche, politische, militärische und technologische Themen Nachrichtendienste anderer Staaten Auch andere Staaten als die genannten entfalten in unterschiedlicher Intensität auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland nach deutschem Recht gesetzeswidrige geheimdienstliche Bestrebungen, die von Spionage im "klassischen" Sinn bis zur Ausspähung Oppositioneller reichen. Insbesondere die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika haben ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland forciert. Als Versuch der Rechtfertigung bagatellisieren die Dienste ihre illegalen Methoden als "Beitrag zur internationalen Terrorismusbekämpfung". Staatsterrorismus: Verfahren gegen syrische Geheimdienstmitarbeiter Vor dem Oberlandesgericht Koblenz fand bis April 2020 der weltweit erste Strafprozess wegen "Staatsfolter" durch mutmaßliche Angehörige eines syrischen Geheimdienstes statt. Die beiden Angeklagten waren nach Deutschland geflüchtet und aufgrund der Aussagen von mehreren Opfern 2019 in Berlin und 202 Zweibrücken festgenommen worden. Dem Hauptangeklagten warf die Bundesanwaltschaft unter anderem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mord vor, begangen in den Jahren 2011 und 2012. Er wurde im Januar 2022 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt; das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der in Zweibrücken festgenommene Angeklagte wurde bereits im Februar 2021 wegen Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. 2.2 Proliferation Ein weiterer Aufgabenbereich des Verfassungsschutzes sind die Aufklärung und Verhinderung der Versuche sogenannter kritischer Staaten25, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen und der benötigten Trägertechnologie sowie des entsprechenden Know-hows zu gelangen. Da sie zur eigenen Entwicklung und Herstellung häufig nicht in der Lage sind, versuchen diese Staaten, sich notwendiges Wissen, Produkte und Güter mit geheimdienstlichen Methoden illegal zu beschaffen. Entsprechende Beschaffungsversuche sind seit Jahren vor allem seitens der Islamischen Republik Iran festzustellen. 2.3 Wirtschaftsspionage/-sabotage Die rheinland-pfälzische Wirtschaft steht seit Jahren wegen der großen Zahl hier ansässiger innovativer Unternehmen und weltweit anerkannter Wissenschaftsund Forschungsleistungen im Fokus fremder Nachrichtendienste. Gefährdet sind dabei nicht nur Weltfirmen, sondern auch kleine und mittelständige Betriebe sowie Hochschulen und andere Forschungseinrichtungen. Durch Wirtschaftsspionage26 wird versucht, Forschungsund Entwicklungskosten einzusparen, Rückstände bei eigenen Entwicklungen aufzuholen und da25 Kritische Staaten sind vor allem proliferationsrelevante Länder. Bei ihnen befürchtet man, dass sie atomare, biologische und chemische Waffen in einem Krieg einsetzen oder deren Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele androhen. 26 Unter Wirtschaftsspionage versteht man die staatlich gelenkte oder gestützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen und Betrieben. 203 durch die Zeitspanne bis zur Produktion marktreifer Produkte drastisch zu verkürzen. Negative Folgen zu Lasten der Opfer von Wirtschaftsspionage können der Abfluss von Know-how, bedeutende finanzielle Einbußen und der Wegfall von Arbeitsplätzen sein. In Abgrenzung dazu steht die Konkurrenzausspähung. Für das Opfer entstehen letztendlich zwar die gleichen Folgen, die Initiative geht jedoch nicht von einem fremden Staat, sondern vom Mitbewerber selbst aus. Da in allen Organisationsund Produktionsbetrieben Informationstechnik eingesetzt wird, ist diese auch häufig Ziel einer gezielten Cybersabotage. Ein Ausfall von Verwaltung oder Fertigung kann neben einem finanziellen Schaden auch einen Reputationsverlust verursachen. Für Staaten mit einer konkurrenzund zukunftsfähigen Wirtschaft liegt der Ausforschungsfokus stärker auf wirtschaftspolitischen Strategien und zukünftigen sozioökonomischen Trends als auf den Forschungsund Entwicklungsergebnissen selbst. Hochund Schlüsseltechnologien, die für die Konkurrenzfähigkeit der heimischen Volkswirtschaft und bei der Erschließung von zukunftsträchtigen Märkten von Bedeutung sein können, stehen im Zentrum des nachrichtendienstlichen Interesses. Insbesondere die Nachrichtendienste der Russischen Föderation und der Volksrepublik China sind für eine aggressive Wirtschaftsspionage bekannt. Die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts wurde ihnen als gesetzlicher Auftrag übertragen. Hinzu kommt, dass beide Nationen mit verschieden Embargos seitens anderer Industrienationen oder Bündnisse belegt wurden. Die weltweit zunehmenden Angriffskampagnen chinesischer Cybergruppierungen, die sich im Schwerpunkt gegen westliche und europäische Staaten richten, führten im Juli 2021 erstmals zu einer öffentlichen politischen Reaktion der EU. So verurteilte man offiziell und gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika, der NATO und dem Vereinigten Königreich Aktivitäten von Cybergruppierungen - speziell der Gruppierung HAFNIUM, die für die Angriffe auf Microsoft Exchange Server verantwortlich gemacht wird. Da die Cyberangriffe mit dem Ziel des Diebstahls geistigen Eigentums und zu Spionagezwecken vom Hoheitsge204 biet Chinas ausgingen, wird China vorgeworfen, die verurteilten Aktivitäten nicht ausreichend zu bekämpfen. Die EU und ihre Partner forderten die chinesische Regierung auf, alle geeigneten und verfügbaren Maßnahmen zu ergreifen, um Abhilfe zu schaffen.27 Die engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China bieten zahlreiche Möglichkeiten zur Wirtschaftsund Technologiespionage, beispielsweise über deutsche Firmenniederlassungen in China. Neben Nachrichtendiensten treten vermehrt Staatsunternehmen als Akteure auf. Sie bieten deutschen Unternehmen Joint Ventures an, um einen Marktzugang in China überhaupt erst zu ermöglichen. Bereits mit Verhandlungsbeginn werden in solchen Fällen Cyberattacken aus dem chinesischen IP-Raum auf das Firmennetzwerk festgestellt. Es folgen Delegationsbesuche, Einladungen nach China, Abschlussverhandlungen und Vertragsunterzeichnungen. Die Operation wird seitens des chinesischen Partners auf die Zulieferer des deutschen Unternehmens ausgeweitet und endet "schlimmstenfalls" mit einer vollständigen Indigenisierung28. 2.4 Cyberangriffe, Datenspionage und -sabotage Bei einem Cyberangriff handelt es sich um eine elektronische Manipulation, durch die sich Hacker unbefugten Zugang zu IT-Systemen verschaffen. Derartige Angriffe verfolgen das Ziel, bestehende Sicherheitsbarrieren von Computersystemen zu umgehen beziehungsweise zu überwinden, um beispielsweise vertrauliche oder persönliche Daten auszuspähen oder Daten zu sabotieren. Die Angreifer nutzen dabei insbesondere Schadsoftware und Sicherheitslücken in der von dem Ziel-System genutzten Software. Die Folgen solcher Angriffe können erheblich sein. 27 Vgl. BfV; Erklärung des Hohen Vertreters der EU für Außenund Sicherheitspolitik vom 19.07.2021, abrufbar unter www.consilium.europa.eu, abgerufen am 30.11.2021. 28 Aufkauf der Firmen und Produktionsstätten, Verlagerung nach China. 205 Desinformationskampagnen in Zeiten der Corona-Pandemie Verschiedene inund ausländische Akteure haben 2021 die Corona-Pandemie zum Anlass für Desinformationskampagnen genommen. Neben der Verbreitung von Falschinformationen in Messengerdiensten wie Telegram wurden und werden auch Internetforen und Informationsportale für eine gezielte Beeinflussung des öffentlichen Diskurses genutzt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnete dieses Phänomen treffend als "Infodemie". Verstärkt sind zudem Destabilisierungsversuche ausländischer Staaten festzustellen. Pro-russische, staatsnahe Propagandamedien wie RT DE verbreiten gezielt Falschinformationen und Diskreditierungen. Weitere Akteure benutzen das Internet, um die Auftritte von Behörden, Einrichtungen sowie Wirtschaftsunternehmen täuschend echt nachzustellen. Mit beinahe identischen Adressen und falschen Inhalten versehen, dienen diese dem Anschein nach authentischen Seiten der Initiierung betrügerischer Handlungen oder Meinungsmanipulation. Als präventive Maßnahme gegen derartiges Vorgehen bietet die Verfassungsschutzbehörde Rheinland-Pfalz seit Beginn der Pandemie ausgewählten Unternehmen im Land Informationen aus einem speziellen "Domain Name Monitoring" an. Dabei werden aus öffentlich zugänglichen Datenquellen regelmäßig mehrere Tausend neu registrierte Domainnamen ermittelt, die Bezüge zu rheinland-pfälzischen Unternehmen aufweisen. Unternehmen wurden vom Verfassungsschutz im Rahmen der Sicherheitspartnerschaft oder nach Vorfällen regelmäßig aufgefordert, ihre bereits getroffenen Sicherheitsmaßnahmen zu überprüfen und diese bei Bedarf zu aktualisieren. Durch effektive Sicherheitsvorkehrungen, die auch den "Faktor Mensch" berücksichtigen, entsteht so ein wirkungsvolles Schutzschild vor Cyberbedrohungen. Im Rahmen von reaktiven Maßnahmen unterstützt der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz betroffene Unternehmen und Institutionen bei der Aufarbeitung der IT-Sicherheitsvorfälle und berät diese unter Wahrung der Vertraulichkeit über das weitere Vorgehen. 206 EMOTET Im Januar 2021 wurde im Rahmen einer international konzertierten Maßnahme mit Strafverfolgungsbehörden aus Frankreich, Litauen, den Niederlanden und der Ukraine sowie aus England, Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika die Infrastruktur der Schadsoftware EMOTET übernommen und zerschlagen. Auch in Rheinland-Pfalz wurden zahlreiche Organisationen und Unternehmen Opfer von EMOTET. Nach einigen Monaten verteilte sich aber wieder zunehmend eine neue Variante von EMOTET. Dies bedeutet, dass Schadsoftware wieder auf dem Vormarsch ist. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass es künftig erneut zu umfangreichen Kampagnen kommen wird. Was ist EMOTET? Emotet ist eine Schadsoftware, die vor allem über Gefälschte E-Mails im Namen von Freunden, Nachbarn oder Kollegen verteilt wird. Sie liest die Kontakte infizierter System aus und nutzt diese Informationen zur weiteren Verbreitung des Schadprogramms. Aufgrund der korrekten Angabe der Namen und Mailadressen von Absender und Empfänger in Betreff, Anrede und Signatur wirken diese Nachrichten auf viele authentisch. Deswegen verleiten sie zum unbedachten Öffnen des schädlichen Dateianhangs oder der in der Nachricht enthaltenen URL. Dadurch kann es bei infizierten Computern zu einem unbemerkten Abfluss von Daten oder einer Übernahme des Systems kommen. GHOSTWRITER Im Fall der Cybergruppierung GHOSTWRITER konnten die Sicherheitsbehörden erstmals die gleichzeitige Durchführung von Desinformation und Spionage durch einen mutmaßlich staatlich gesteuerten Cyberakteur entlarven. GHOSTWRITER verbreitet vor allem gefälschtes Material, wie angebliche Pressemitteilungen von offiziellen Stellen, ebensolche Korrespondenz von Regierungsstellen oder frei erfundene Zitate von politischen Amtsträgerinnen und -trägern. Die Falschnachrichten werden zum einen über Blogs, Nachrichtenportale und sogenannte Spear-Phishing-Attacken via E-Mail in Umlauf gebracht. Zum anderen 207 kompromittiert GHOSTWRITER aber auch seriöse Nachrichtenseiten und Social-Media-Accounts von Journalistinnen und Journalisten sowie Politikerinnen und Politikern, um darüber Falschnachrichten zu verbreiten ("Hack and Publish"). Die nachfolgende Abbildung visualisiert einen Ausschnitt der weltweit verteilten Server-Infrastruktur von GHOSTWRITER mittels Graph-Technologie. Der Umfang der dort bereitgestellten Schadsoftware ist anhand der roten Symbole erkennbar. Ausschnitt aus der weltweit verteilten Server-Infrastruktur der Cybergruppierung "GHOSTWRITER". Die Länderflaggen zeigen die verschiedenen interagierenden Verbindungsknoten, über die die rot gekennzeichnete Schadsoftware verteilt wird. Gezielte Desinformationskampagnen werden als Werkzeug hybrider Kriegsführung betrachtet. Sie sollen vordergründig nicht nur Schaden anrichten, sondern Gesellschaften destabilisieren und die öffentliche Meinung eines Staates beeinflussen. Vergleichbare Kampagnen wurden bereits in der Vergangenheit vor internationalen Wahlen beobachtet. Ein Hackerangriff auf das Statistische Bundesamt im September 2021 zeigt, wie wichtig die Vorbereitung auf eine mögliche Einflussnahme und deren Abwehr ist. Um schon im Vorfeld die Einflussnahme nachrichtendienstlicher Akteure auf die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz und die Bundestagswahl 2021 zu verhindern, wurden die beteiligten Sicherheitsbehörden sowie politisch aktive Stellen und Personen sensibilisiert und Handlungsempfehlungen übermittelt. Ein Thema waren dabei die Phishing-Mail-Kampagnen der GHOSTWRITER Gruppierung. Unter Vortäuschung von existierenden Absenderadressen verschiedener E-MailProvider hatte diese auf den ersten Blick seriös wirkende E-Mails versendet, um 208 deren maliziöse Inhalte zu verschleiern. Die Empfänger sollten dazu verleitet werden, auf einen Link zu klicken und sich mit den eigenen Zugangsdaten auf einer Seite anzumelden, welche derjenigen des E-Mail-Providers nachempfunden war. Ziel dieser Kampagne ist es, Postfächer politisch aktiver Stellen und Personen zu übernehmen und für Desinformationskampagnen zu nutzen. Durch die umfangreichen Sensibilisierungsmaßnahmen konnten entsprechende Kampagnen verhindert werden. HAFNIUM Zum Jahreswechsel 2020/2021 wurde eine kritische Sicherheitslücke in der E-Mail-Software Microsoft Exchange Server bekannt, die es ermöglichte, E- Mail-Konten auszuspionieren und Schadsoftware zu installieren. Damit konnte langfristig Zugriff auf die IT-Umgebung der Opfer erlangt und unbemerkt Datenspionage betrieben werden. Weltweit waren Hunderttausende von E-Mail-Servern massiv betroffen. Durch die von Microsoft bereitgestellten Sicherheitsupdates konnten die Unternehmen die Sicherheitslücken im März 2021 schließen. Im Bundesgebiet konnten mehrere hundert Angriffe unter der Ausnutzung Was ist Hafnium? der MS-Exchange-Schwachstelle festHafnium ist eine mutmaßlich gestellt werden. chinesische Cyberspionage-Einheit, der auch Verbindungen zu Microsoft selbst ordnet diese Kamden dortigen Geheimdiensten pagne der Angreifer-Gruppierung nachgesagt werden. Bekannt HAFNIUM zu, einer chinesischen Cywurde sie durch die Ausnutzung berspionage-Einheit, der auch Verbineiner Sicherheitslücke von Midungen zu den dortigen Geheimdienscrosoft Exchange-Servern mit ten nachgesagt werden. Es ist jedoch weltweit Hunderttausenden davon auszugehen, dass weitere HaBetroffenen. Sie ermöglichte cker-Gruppierungen diese Sicherheitseinen unbemerkten Zugriff auf lücken ausgenutzt haben. diese E-Mail-Server, der für Datenspionage und die Installation Auch in Rheinland-Pfalz setzen zahlweiterer Schadsoftware genutzt reiche Organisationen und Unternehwurde. men die E-Mail-Software Microsoft 209 Exchange Server ein. Es ist anzunehmen, dass viele davon Sicherheitslücken aufwiesen und einem sehr hohen Angriffsrisiko ausgesetzt waren. Vor diesem Hintergrund steht der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz als zentraler und kompetenter Ansprechpartner für Wirtschaftsunternehmen, Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Behörden im Land zu Verfügung. Zu den Themenfeldern Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage als auch -sabotage werden Informationen, Sensibilisierungsmaßnahmen und Beratungsgespräche angeboten. Darüber hinaus werden Informationen zu erkannten Angriffsmustern zur Verfügung gestellt. Diese Daten zu Bedrohungsanalysen versetzen rheinland-pfälzische Unternehmen in die Lage, geeignete Schutzmaßnahmen einzuleiten. 210 Geheimund Sabotageschutz, Mitwirkungsaufgaben 211 1. Geheimund Sabotageschutz Sicherheitsrelevante staatliche InDas Landessicherheitsüberprüformationen müssen vor dem Zugriff fungsgesetz (LSÜG) bildet die durch Unbefugte, wie beispielsweise rechtliche Grundlage, nach der fremde Nachrichtendienste oder terdie Zuverlässigkeit der Personen, roristische Vereinigungen, besonders die mit geheimhaltungsbedürfgeschützt werden. Hierzu zählen instigen Informationen arbeiten, besondere solche, die zur Funktionsüberprüft werden muss. Vorgafähigkeit der Sicherheitsarchitektur ben für die Schutzmaßnahmen der Bundesrepublik Deutschland beifür die materielle und digitale tragen. Sie unterliegen daher - je nach Sicherung der Informationen, die dem Grad ihrer Bedeutung und der povon den Behörden eingehalten tenziellen Gefährdung durch Geheimwerden müssen, befinden sich in nisverrat - einer gesetzlichen Geheimder Verschlusssachenanweisung haltung, die durch unterschiedliche des Landes (VSA). Geheimhaltungsgrade dokumentiert wird. Besonders schützenswert sind auch Informationen über lebensoder verteidigungswichtige Einrichtungen, das heißt die sicherheitssensible Infrastruktur. Der Schutz dieser Informationen soll das Risiko von Sabotage durch "Innentäter" minimieren. Die Sicherheitsüberprüfung ist ein wichtiges Instrument im Rahmen des Geheimund Sabotageschutzes und wird im LSÜG geregelt. Entsprechend der Einstufung der geheim zu haltenden Informationen (Verschlusssachen), zu denen eine Person Zugang erhalten soll, kommen drei Stufen in Frage. Der Verfassungsschutz wirkt daran maßgeblich mit und überprüft Personen hinsichtlich bekannter oder potenzieller Sicherheitsrisiken. Jede Überprüfung beinhaltet eine bundesweite Abfrage und Speicherung im nachrichtendienstlichen Informationssystem der Verfassungsschutzbehörden (NADIS) aus. Im Rahmen einer Sicherheitsüberprüfung werden unter anderem auch Datenbanken der Polizei abgefragt. Im Falle der höchsten Stufe der Überprüfung werden zudem Sicherheitsermittlungen angestellt, zum Beispiel werden sogenannte Referenzpersonen befragt, die Auskunft über die zu prüfende Person geben können. Auch die regelmäßige Information und ausführliche fachliche Beratung der Geheimund Sabotageschutzbeauftragten von Landesbehörden und Kommunen 212 durch den Verfassungsschutz sind Bestandteil des Geheimschutzes. Ziel ist eine möglichst gleichwertige Sicherheitsstruktur und eine Steigerung der Sensibilität im Umgang mit Verschlusssachen. Besonders intensiv informiert und berät der Verfassungsschutz die Geheimschutzbeauftragten der Landesund Kommunalbehörden seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. 2. Mitwirkungsaufgaben Zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie der Sicherheit des Bundes und der Länder prüft der Verfassungsschutz unter anderem Personen, die zum Beispiel in staatlichen Bereichen eingesetzt werden oder Aufenthaltsrechte in Deutschland erhalten sollen. Diese als Mitwirkungsaufgaben bezeichneten Überprüfungen haben ihre rechtliche Grundlage in den Verfassungsschutzgesetzen der Länder und des Bundes. Zweck der Prüfung ist es, festzustellen, ob zu Personen sicherheitsrelevante Mitwirkungsanfragen 2021: nachrichtendienstliche Erkenntnisse # Waffengesetz: 28.824 vorliegen, die Zweifel an deren Geeignetheit für eine bestimmte Aufgabe, # Bewacherverordnung: 1.234 Erlaubnis oder eine VISA-Erstellung, # Luftsicherheitsgesetz: 1.481 einen Aufenthaltstitel oder eine Ein- # Sprengstoffgesetz: 627 bürgerung begründen können. Diese # Atomgesetz: 188 Anfragen stellen die zuständigen Be- # Einbürgerung: 8.265 hörden auf der Grundlage von Fachgesetzen beim Verfassungsschutz, bevor # Aufenthaltstiteln: 34.215 sie eine Genehmigung oder Zulassung # Sicherheitsüberprüfungen: 706 erteilen. Das Ergebnis der Überprüfung # Gesamt: 75.540 wird von der jeweils anfragenden Behörde bewertet. Mitwirkungsbereiche Seit 2020 müssen die Waffenbehörden beim Verfassungsschutz zu Personen anfragen, die eine waffenrechtliche Erlaubnis beantragen oder verlängern wollen. 213 Dazu zählt auch der Waffenbesitz für Jagdscheininhaber. Der Verfassungsschutz kann dazu beitragen, dass Extremisten nicht legal in den Besitz von Waffenerlaubnissen gelangen oder eine bereits erteilte Waffenerlaubnis entzogen bekommen. Diese Überprüfungen nach dem Waffengesetz machen inzwischen den größten Teil der Zuverlässigkeitsüberprüfungen aus. Dazu steht der Verfassungsschutz in intensivem Kontakt mit den örtlichen Waffenbehörden (siehe Brennpunktartikel, Seite 49 ff). Der zivile Luftverkehr steht im besonderen Sicherheitsinteresse, um Gefährdungen gar nicht erst entstehen zu lassen und Anschläge sowie die damit verbundenen Folgen zu verhindern. Im Fokus stehen dabei Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit Zugang zu Einrichtungen und Abläufen des Luftverkehrs haben. International und national wird den Schutzmaßnahmen gegen sogenannte Innentäter daher eine hohe Bedeutung beigemessen. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Luftsicherheitsgesetz zu, das eine Zuverlässigkeitsüberprüfung aller Personen vorsieht, die Einfluss auf die Sicherheit des Luftverkehrs haben können. Die dafür zuständige Luftsicherheitsbehörde in Rheinland-Pfalz ist der Landesbetrieb Mobilität. Dieser veranlasst nach Maßgabe des Gesetzes eine Überprüfung der Personen beim Verfassungsschutz. Um die Entwendung oder Freisetzung von radioaktiven Stoffen zu Anschlagszwecken durch Beschäftigte zu verhindern, werden Personen, die bei der Einrichtung, dem Betrieb, im Umgang und bei der Beförderung von radioaktivem Material eingesetzt werden, vom Verfassungsschutz überprüft. Die Überprüfung leitet die für Strahlenschutz zuständige Genehmigungsund Aufsichtsbehörde auf der Grundlage des Atomgesetzes ein. Eine Überprüfung des Verfassungsschutzes nach dem Sprengstoffgesetz findet statt, wenn Personen gewerbsmäßig mit explosionsgefährlichen Stoffen umgehen oder diese transportieren. Zuständige Behörden für die Einleitung der Überprüfung sind in Rheinland-Pfalz die Aufsichtsund Dienstleistungsdirektion (ADD) und das Landesamt für Geologie und Bergbau. Im Bewachungsgewerbe wurden die Regularien deutlich verschärft. Extremisten sollen nicht als Bewacher oder Inhaber von Sicherheitsdiensten tätig sein. Die Gewerbeordnung verlangt deshalb die Überprüfung dieser Personen durch den 214 Verfassungsschutz, bevor sie diese Tätigkeit aufnehmen. Die Gewerbeämter leiten die Überprüfung ein. Ein weiterer Mitwirkungsbereich des Verfassungsschutzes sind Einbürgerungsund Aufenthaltsentscheidungen. Zuständige Stellen sind dabei die Stadtund Kreisverwaltungen. Der Verfassungsschutz wird beteiligt, weil das Staatsangehörigkeitsgesetz unter anderem das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als eine von mehreren Voraussetzungen für eine Einbürgerung vorsieht. Im Hinblick auf Aufenthaltstitel, wie Aufenthaltsund Niederlassungserlaubnisse, enthält das Aufenthaltsgesetz vergleichbare Regelungen, aus denen sich Mitwirkungsaufgaben des Verfassungsschutzes ergeben. Hier geht der Gesetzgeber davon aus, dass ein Ausweisungsinteresse besonders schwer wiegt, wenn der Ausländer die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. 215 216 D. Anhang 217 1. Übersichten Politisch motivierte Kriminalität (PMK)28 Die Gesamtzahl der polizeilich registrierten PMK-Straftaten stieg von 1.180 (2020) um 599 Fälle auf 1.779 im Jahr 2021 an. Die deutliche Steigerung beruht auf einem starken Anstieg der Zahl der keinem Phänomenbereich zuzuordnenden Delikte von 184 im Jahr 2020 auf 855 im Jahr 2021. Die Zahl der PMK-Gewaltdelikte sank hingegen von 90 (2020) auf 75 im vergangenen Jahr. Davon können 28 Gewaltdelikte keinem Phänomenbereich zugeordnet werden (2020: 10). 1.1 Politisch motivierte Kriminalität -rechtsIm Bereich PMK -rechtsblieb die Zahl der registrierten Straftaten 2021 mit 754 Delikten gegenüber 759 in 2020 nahezu konstant auf vergleichsweise hohem Niveau. Von den 754 registrierten Straftaten waren 402 (53 Prozent) sogenannte Propagandadelikte nach SSSS 86 und 86a Strafgesetzbuch (StGB), die die Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen sowie das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen unter Strafe stellen (2020: 395, ca. 52 Prozent). Die Zahl der in den Straftaten enthaltenen Gewalttaten (ohne Sachbeschädigungen) sank 2021 auf 37 Delikte, darunter 34 Körperverletzungen (2020: 54, darunter 53 Körperverletzungen). 1.2 Politisch motivierte Kriminalität -linksIm Bereich der PMK -linkssank die Zahl der registrierten Straftaten von 196 im Jahr 2020 auf 140 (2021). Die Zahl der in den Straftaten enthaltenen Gewalttaten (ohne Sachbeschädigungen) sank 2021 auf vier Delikte (2020: 21). 1.3 Politisch motivierte Straftaten - ausländische Ideologie - Im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - ausländische Ideologie - sank die Zahl der Straftaten 2021 auf 16 Delikte (2020: 28). Die Zahl der in den Straf28 Die Zahlenangaben stammen vom Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz (Stand: 31. Januar 2022). 218 taten enthaltenen Gewalttaten (ohne Sachbeschädigungen) sank 2021 auf zwei Delikte (2020: vier). 1.4 Politisch motivierte Straftaten - religiöse Ideologie - Im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - religiöse Ideologie - blieb die Zahl der Straftaten 2021 mit 14 Delikten nahezu konstant (2020: 13). Die Zahl der in den Straftaten enthaltenen Gewalttaten (ohne Sachbeschädigungen) stieg 2021 auf vier Delikte (2020: eins). 1.5 Antisemitische Straftaten Die antisemitischen Straftaten stiegen von 46 im Jahr 2020 auf 61 Delikte 2021. Die weitaus überwiegenden Delikte sind dem Phänomenbereich PMK - rechts - zuzuordnen (50 Straftaten). Fünf antisemitische Straftaten können dem Bereich PMK - religiöse Ideologie - zugerechnet werden, sechs Delikte sind keinem Phänomenbereich zuzuordnen. 1.6 Politisch motivierte Straftaten gegen Amtsund Mandatsträger Die Zahl der Straftaten gegen Amtsund Mandatsträger in Rheinland-Pfalz sank im Jahr 2021 auf 71 Delikte (2020: 82). Die Mehrzahl der Taten (56) kann keinem Phänomenbereich zugeordnet werden (2020: 45); sieben Taten können dem Phänomenbereich Rechts, sechs Taten dem Phänomenbereich Links und je eine Straftat den Bereichen ausländische Ideologie und religiöse Ideologie zugerechnet werden. In fünf der 71 Fälle handelt es sich um Gewalttaten. 2. Register Das Register enthält die Bezeichnungen der im rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzbericht 2021 genannten Gruppierungen, bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass diese verfassungsfeindliche Ziele verfolgen oder verfolgt haben und aufgrund dessen als extremistisch bezeichnet werden können. 219 Gruppierungen Seite A "al-Qaida" 34 ff., 145 f., 158 f. "Antifa Koblenz" 123, 129, 131, 132 "Antifa Trier" 131 "Arbeiterpartei Kurdistans" (Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) 173 ff. B "Bismarcks Erben" 105 f. C "Combat 18" (C 18) 61 D "Der III. Weg" (auch: "Der 3. Weg" / "Der dritte Weg") 64 ff., 94 f. "Der Flügel" ("Flügel") 72 f., 97 "die plattform" 125 f. "DIE RECHTE" 68 f. "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) 127 F "FLAK" 87, 90 "Freistaat Preußen" 104, 108 G "Gutmenschliche Aktion Mainz" 128 H HAMAS ("Islamische Befreiungsbewegung") 142 f., 162 f. "Hammerskins" 84 f. "Hizb Allah" ("Partei Gottes") 164 f. "Hizb ut-Tahrir" (HuT) 156, 166 f. 220 Seite I "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) 76 ff. "Interventionistische Linke" (IL) 125, 134 "Islamischer Staat" (IS) 146, 155, 160 f. J "Junge Alternative" (JA) 74 f., 98 K "Kalifatsstaat" 168 "Kameradschaft Nationaler Widerstand Zweibrücken" 58, 81 f., 101 "Kameradschaft Rheinhessen" 57 f., 71, 82, 101 "Karegorie C" 88 M "Marxistisch Lenininistische Partei Deutschlands" (MLPD) 135 "Muslimbruderschaft" 154 ff., 169 f. N "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 62 ff., 92 f. "Neue Stärke Partei" 70 f. Q "Querdenken 711 Stuttgart" 47 R "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) 186 f. "Rote Hilfe e.V." 137 S "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) 127, 136 "Staatenbund Deutsches Reich" 105, 108 f. "S.H.A.E.F." 106 f., 110 221 Seite T "Taleban" 34 f., 43, 141 ff. U "Ülkücü"-Bewegung ("Graue Wölfe") 180 ff. "Uniter" 82 ff., 102 V "Vaterländischer Hilfsdienst" 105 f., 112 "Verfassungsgebende Versammlung" (VV) 111 "Volksstaat Bayern" (ehemals "Bundesstaat Bayern") 109 222 Hinweis: Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums des Innern und für Sport herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern im Zeitraum von sechs Monaten vor einer Wahl zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Landtags-, Bundestags-, Kommunaloder Europawahlen. Missbräuchlich ist während dieser Zeit insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken und Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl darf die Druckschrift nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der Landesregierung zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Den Parteien ist es gestattet, die Druckschriften zur Unterrichtung ihrer eigenen Mitglieder zu verwenden. 223 Impressum Herausgeber: Ministerium des Innern und für Sport Schillerplatz 3 - 5 55116 Mainz Satz und Druck: Landesamt für Vermessung und Geobasisinformation Rheinland-Pfalz Der Verfassungsschutzbericht 2021 ist auch im Internet abrufbar unter: www.verfassungsschutz.rlp.de ISSN 0948-8723 224 MINISTERIUM DES INNERN UND FÜR SPORT Schillerplatz 3-5 55116 Mainz Telefon: 06131/16-3773 www.verfassungsschutz.rlp.de Besuchen Sie auch den Internetauftritt des Verfassungsschutzes Rheinland-Pfalz! Über den nebenstehenden QR-Code gelangen Sie direkt dorthin.