Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2023 www.im.nrw Impressum Herausgeber Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen Friedrichstraße 62-80 40217 Düsseldorf Telefon: 0211/871-01 Telefax: 0211/871-3355 poststelle@im.nrw.de www.im.nrw Redaktion Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen Telefon: 0211/871-2821 Telefax: 0211/871-2980 kontakt.verfassungsschutz@im1.nrw.de www.im.nrw/themen/verfassungsschutz Bestellservice info.verfassungsschutz@im1.nrw.de www.im.nrw/publikationen Stand: April 2024 Druck: Silber Druck oHG Fotos: picture alliance/dpa, Caroline Seidel, Jochen Tack, Bernd Thissen, Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen Vorwort Der Verfassungsschutzbericht ist ein jährlicher Seismograph, wie es um den Schutz unserer Demokratie steht. 75 Jahre nach Verabschiedung unseres Grundgesetzes, dem Fundament unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, ist die Bedrohung durch Extremismus höher als je zuvor. Und das betrifft alle Extremismusbereiche - insbesondere Rechtsextremismus, Islamismus, aber auch die Gefahren durch Spionage. Die Terroranschläge gegen Israel am 7. Oktober 2023 haben Extremisten zu Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden vereint. Kundgebungen, bei denen ein Kalifat auf deutschem Boden herbeigesehnt und Israelfeindlichkeit offen zur Schau gestellt wurden, boten abscheuliche Bilder. Neben islamistischen Bestrebungen machten auch türkische Rechtsextremisten und Gruppierungen im auslandsbezogenen Linksextremismus gegen Israel mobil. Bei all den Emotionen darüber, was in Nahost passiert, darf niemand Israel das Existenzrecht absprechen. Und deswegen war es konsequent und richtig, eine Organisation wie Samidoun zu verbieten. Eine Vereinigung, die sich gegen die Völkerverständigung richtete, die die Terroranschläge gegen den Staat Israel bejubelte und damit ihr antisemitisches Weltbild verbreitete. Gegen solche Bestrebungen gehen wir auch künftig vor. Antisemitismus, von dem wir uns längst für immer verabschieden wollten, ist weiter stark verbreitet und in unserer Gesellschaft wieder öffentlich sichtbar. Die Zahl der antisemitischen Straftaten ist 2023 um über 65 Prozent gestiegen, insbesondere nach dem 7. Oktober 2023. Das muss uns aufschrecken. Wir müssen unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger schützen. Nie wieder ist jetzt. Terroristische Anschläge durch islamistisch motivierte Extremisten sind weiter eine große Bedrohung für uns. Die Messerangriffe im April 2023 in der Duisburger Altstadt und einem Fitnessstudio haben gezeigt, welche Gefahren im Verborgenen lauern. Aber die Sicherheitsbehörden und der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem sind wachsam. Der vereitelte Anschlag auf den Kölner Dom im Dezember ist der beste Arbeitsbeweis dafür. 4 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Der Islamismus nährt weiter den Boden, um die Gesellschaft zu spalten. Über soziale Medien gelangt extremistisches Gedankengut von salafistischen Predigern direkt in Kinderzimmer. Gegen diese Wege der Radikalisierung müssen wir präventiv vorgehen. Die neue Website des Wegweiser-Präventionsprogramms mit Chatfunktion ist hier ein wertvoller Baustein. Im Dezember hat der Verfassungsschutz die Jugendorganisation der AfD, die "Junge Alternative", als Verdachtsfall eingestuft. Wer sein eigenes rechtsextremistisches Regelwerk vorzieht, ist Demokratiefeind. Das Treffen von Rechtsextremisten und AfDMitgliedern in Potsdam, bei dem es auch um einen Masterplan zur "Remigration" von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gegangen sein soll, ist eines der traurigsten Kapitel Nachkriegsdeutschlands. Ob der Angriff Russlands auf die Ukraine, Gasmangellage oder Migration von Flüchtlingen - der Rechtsextremismus schlägt aus gegenwärtigen Krisen Kapital. Mit Kampagnen zielen die Extremisten auf die Mitte der Gesellschaft ab. Das ist eine schleichende und zugleich die größte Bedrohung für unsere Demokratie. Wie perfide Linksextremismus daherkommt, haben wir in Lützerath gesehen, als gewaltbereite Demonstranten aus der linksextremistischen Szene zusammen mit Klimaschützern Richtung Abbruchkante marschierten und Polizeiketten überrannten. Auch Spionage und Cyberangriffe ausländischer Geheimdienste sind weiter eine Gefahr für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Der Verfassungsschutz stellt rege Aktivitäten aus Russland, China und dem Iran fest. Das Oberlandesgericht Düsseldorf bestätigte in einem Urteil staatsterroristische Aktivitäten des Iran in Nordrhein-Westfalen. Auch Fake News bleiben gefährlich und sind in Anbetracht gegenwärtiger Krisenlagen Öl im Feuer. Der Verfassungsschutz schaut in jede Richtung und hat alle Entwicklungen im Blick. Dafür danke ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verfassungsschutzes. Aber den Laden zusammenhalten können sie nicht allein. Dafür braucht es Menschen, die aufstehen, die auf die Straße gehen und lauter sind, wenn Hass und Hetze Stammtische und Internetforen fluten. Lassen Sie uns diese Demokratie zusammenhalten. Denn das Wort Demokratie meint uns alle. Herbert Reul Minister des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen 5 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Inhaltsverzeichnis Vorwort 2 Vorbemerkung 8 Kompakt 13 Extremismus in Zahlen 21 Personenpotenziale in Nordrhein-Westfalen 30 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) 32 Sonderthema: Nahost-Konflikt und Auswirkungen auf extremistische Szenen in NRW 51 Antisemitismus 63 Rechtsextremismus 75 Im Fokus: Verbotsverfahren gegen rechtsextremistische Organisationen 78 Die Heimat (bis Mai 2023 NPD) 82 Aufbruch Leverkusen 88 Völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD), ehemals "Flügel" 92 Junge Alternative Landesverband Nordrhein-Westfalen 96 Der III. Weg 100 Die Rechte 106 Identitäre Bewegung Deutschland e.V. (IBD) und Nachfolgestrukturen 110 Neonazis 114 Subkulturell geprägter Rechtsextremismus 120 6 InhaltsverzeIchnIs Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter 126 Rechtsextremistische Zeitschriften 134 Rechtsterrorismus 138 Rechtsextremismus im Internet 142 Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates 149 Linksextremismus 157 Im Fokus: Dogmatische Kleingruppen 160 ' Linksjugend [ solid] Nordrhein-Westfalen 164 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 168 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 172 Autonome Linksextremisten 176 Auslandsbezogener Extremismus 187 Im Fokus: Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in der Türkei - Auswirkungen in der Ülkücü-Bewegung 190 Ülkücü-Bewegung(Graue Wölfe) 194 Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKP-C) 200 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) und unterstützende Organisationen 204 Samidoun - Palestinian Solidarity Network 214 Islamismus 219 Im Fokus: Salafismus als Lifestyle 222 Extremistischer Salafismus 228 HAMAS 238 Hizb Allah (Partei Gottes) und schiitischer Islamismus 244 InhaltsverzeIchnIs 7 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Hizb ut-Tahrir (Islamische Befreiungspartei - HuT) 250 Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 256 Muslimbruderschaft (unter anderem Deutsche Muslimische Gemeinschaft, DMG) 260 Milli Görüs-Bewegung 266 Türkische Hizbullah (TH) 270 Furkan-Gemeinschaft 274 Scientology Organisation (SO) 279 Spionageabwehr und Wirtschaftsschutz 287 Im Fokus: Das Gefährdungspotenzial iranischer Nachrichtendienste in Deutschland und NRW 290 Spionage, Proliferation und sicherheitsgefährdende Aktivitäten für fremde Mächte 298 Cyberangriffe ausländischer Staaten 332 Wirtschaftsschutz und Geheimschutz in der Wirtschaft 344 Präventionsarbeit und Aussteigerprogramme 349 Im Fokus: Wegweiser im Internet - Niederschwelliger Beratungszugang per Live-Chat 352 Übergreifende Konzepte und Vernetzung 356 Präventionsprogramm Wegweiser -Stark ohne islamistischen Extremismus 364 VIR - Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen 368 Aussteigerprogramme 370 Veranstaltungen, Vorträge und Fortbildungen 376 Digitale Angebote und Veröffentlichungen 384 8 InhaltsverzeIchnIs Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Über den Verfassungsschutz 389 Index 394 InhaltsverzeIchnIs 9 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Vorbemerkung Der vorliegende Verfassungsschutzbericht bezieht sich auf Ereignisse und Beobachtungen im Jahr 2023. Hinweise auf Geschehnisse außerhalb Nordrhein-Westfalens sind aufgenommen, soweit sie für das Verständnis des Berichts erforderlich sind. Ergänzende Informationen finden Sie im Internet unter www.im.nrw/verfassungsschutz. Grundlagen und Zielsetzung des Verfassungsschutzes Nach SS 3 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen (VSG NRW) hat der Verfassungsschutz die Aufgabe, bereits im Vorfeld von konkreten Gefährdungslagen Informationen zu sammeln und auszuwerten über > Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, > sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht, > Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden und > Bestrebungen und Tätigkeiten, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind. Der Verfassungsschutz sammelt die für ihn relevanten Informationen und wertet sie aus, sobald tatsächliche Anhaltspunkte den Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen oder Tätigkeiten im vorgenannten Sinne begründen. Dabei wird der Verfassungsschutz in seiner Eigenschaft als Frühwarnsystem des demokratischen Rechtsstaates schon im Vorfeld konkreter Gefahren oder Straftaten tätig. Bei der Wahrnehmung seines gesetzlichen Auftrags richtet er seinen Fokus schwerpunktmäßig auf Strukturen und Organisationen, insbesondere solche, die gewaltorientiert sind. 10 InhaltsverzeIchnIs Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Über seine Erkenntnisse und Einschätzungen informiert der Verfassungsschutz die Öffentlichkeit regelmäßig und gebündelt in seinem jährlichen Verfassungsschutzbericht und darüber hinaus bei bedeutsamen konkreten Anlässen. Eine Berichterstattung im Verfassungsschutzbericht setzt voraus, dass aufgrund hinreichend gewichtiger tatsächlicher Anhaltspunkte ein Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen besteht. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y Bei "Bestrebungen" handelt es sich gemäß SS 3 Abs. 5 VSG NRW um politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der gegen die in SS 3 Abs. 1 VSG NRW genannten Schutzgüter gerichtet ist. Ein "Personenzusammenschluss" besteht aus mehreren Personen, die gemeinsam handeln. Daneben können aber auch Einzelpersonen unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen. Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Im Zentrum steht der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie bildet den Kern des Grundgesetzes (GG), der gemäß Art. 79 Abs. 3 GG gegen jede Veränderung geschützt ist. SS 3 Abs. 6 VSG NRW zählt hierzu im Einzelnen folgende Grundsätze: > das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, InhaltsverzeIchnIs 11 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 > die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, > das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, > die Ablösbarkeit der Regierung und deren Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, > die Unabhängigkeit der Gerichte, > den Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft und > die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte. Auswärtige Belange der Bundesrepublik und Völkerverständigung Daneben beobachtet der Verfassungsschutz Bestrebungen, "die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden". Hier geht es beispielsweise um gewaltbereite extremistische Gruppen mit Auslandsbezug, die vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus Gewaltaktionen vorbereiten, um eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse im Ausland, insbesondere in ihren Heimatländern, herbeizuführen und die dadurch die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten beeinträchtigen (SS 3 Abs. 1 Nr. 3 VSG NRW). Auch Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, gerichtet sind, gehören zu den Beobachtungsobjekten des Verfassungsschutzes (SS 3 Abs. 1 Nr. 4 VSG NRW). Der Verfassungsschutz beobachtet international operierende Gruppierungen, die beispielsweise darauf abzielen, konfessionelle oder ethnische Gruppen im Ausland zu bekämpfen. In diesem Fall sind die Angriffe nicht auf die staatliche Ordnung oder die Grenzen eines einzelnen anderen Landes gerichtet, sondern gegen bestimmte (Volks-)Gruppen in den betreffenden Staaten. Gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind damit auch Gruppierungen, die die - notfalls gewaltsame - Rückgewinnung der ehemaligen deutschen Ostgebiete propagieren. 12 InhaltsverzeIchnIs Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Arbeitsweise des Verfassungsschutzes Bei seiner Tätigkeit stützt sich der Verfassungsschutz in großem Umfang auf frei verfügbare Informationen wie sie Zeitungen, Radiound Fernsehberichte sowie Veröffentlichungen im Internet und den sozialen Medien liefern. Quellen können dabei unter anderem wissenschaftliche Beiträge, Interviews und zum Beispiel Parteiprogramme sein. Typischerweise geben sich extremistische Organisationen in ihren Programmen und öffentlichen Auftritten jedoch gemäßigt, um ihre Akzeptanz und ihre Wahlchancen nicht zu beeinträchtigen. Klartext wird häufig nur in den inneren Zirkeln und unter Ausschluss der Öffentlichkeit gesprochen. Auch darüber muss der Verfassungsschutz verlässliche Informationen erlangen, um sich ein realistisches Bild von den Zielen und den Methoden derartiger Organisationen zu verschaffen und seinen Auftrag zur Information von Politik und Öffentlichkeit zu erfüllen. Zur Aufklärung konspirativ arbeitender verfassungsfeindlicher Organisationen und Einzelpersonen ist deshalb der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel notwendig. Dabei werden nach Maßgabe konkreter gesetzlicher Vorgaben insbesondere Vertrauenspersonen (V-Personen) eingesetzt und Zielpersonen observiert. In besonders gravierenden Einzelfällen erfolgt eine Überwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs. Die gesamte Tätigkeit des Verfassungsschutzes unterliegt der Kontrolle des Parlamentarischen Kontrollgremiums des nordrhein-westfälischen Landtags und bei bestimmten Maßnahmen zur Kommunikationsüberwachung oder Finanzermittlung dem Genehmigungsvorbehalt durch eine unabhängige Kommission (G 10-Kommission). InhaltsverzeIchnIs 13 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 14 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kompakt KompaKt 15 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kompakt Rechtsextremismus > Ein Teil des Rechtsextremismus, insbesondere die Neue Rechte, versucht fremdenfeindliche und autoritäre Argumente im politischen Diskurs zu "normalisieren" und somit anschlussfähig für breitere Teile der Gesellschaft zu werden. > Der Rechtsextremismus nutzt die virtuellen Möglichkeiten des Internets zur Verbreitung von Propaganda, zur Mobilisierung sowie zur Vernetzung und Organisation. > Die rechtsextremistische Szene reagierte intensiv auf die Eskalation des NahostKonflikts in den sozialen Medien, allerdings kaum in Form von Versammlungen oder Straftaten. Mehrheitlich unterstützten Rechtsextremisten aufgrund von antisemitischen Feindbildern die Palästinenser beziehungsweise die HAMAS. Ereignisse im Berichtszeitraum 8. Januar 17. März Castrop-Rauxel: FestHaftbefehl gegen Putin nahme nach islamistisch beim Internationalen motivierter Planung eines Strafgerichtshof Gift-Anschlags 2023 [?] 11. Januar Räumung von Lützerath 16 KompaKt Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 > Das Zusammenwirken von Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Delegitimierern in terroristischen Gruppierungen zeigt, dass sich Teile der verschiedenen extremistischen Szenen, trotz ideologischer Differenzen, gleichsam im Widerstand sehen und deshalb schwere Gewalttaten als notwendig und gerechtfertigt erachten. Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates > Der Phänomenbereich Verfassungschutzrelevante Delegitimierung des Staates ist im stetigen Wandel. > Die Szene der Delegitimierer ist bis auf einen "harten Kern" zusammengeschrumpft. Dieser "harte Kern" hat sich zunehmend in einer staatsfeindlichen Ideologie radikalisiert, in der ein tief verankertes, grundsätzliches Misstrauen gegenüber Regierung, staatlichen Institutionen und Strukturen zu einer Systemfeindschaft geführt hat. Linksextremismus > Im Linksextremismus traten insbesondere mit den unterschiedlichen Positionen zu Ukrainekrieg und Nahost-Konflikt ideologische Trennlinien deutlicher zutage. > Im autonomen beziehungsweise postautonomen Spektrum setzten sich die Spaltungstendenzen der Vorjahre zwischen hierarchiefreien autonomen und strategisch-ideologischen postautonomen Ansprüchen fort. 26. April Einstufung der Jungen Alternativen, Institut für Staatspolitik und "Ein Prozent" durch das Bundesamt für Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch 14. Mai Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in der Türkei KompaKt 17 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Auslandsbezogener Extremismus > Im säkularen auslandsbezogenen Extremismus wirkten sich insbesondere bei den Gruppierungen, die dem türkischen Rechtsoder Linksextremismus zuzuordnen sind, die Parlamentsund Präsidentschaftswahl in der Türkei auf die Aktivitäten der Organisationen aus. Insbesondere die türkisch-rechtsextremistische Ülkücü-Bewegung (sogenannte Graue Wölfe) fiel mit polarisierenden Aktivitäten während des Wahlkampfes auf. > Im Bereich säkularer palästinensischer Gruppierungen kam es nach dem Beginn des aktuellen Nahost-Konflikts zu einer deutlichen Zunahme von antiisraelischen Aktivitäten, insbesondere zu einem deutlichen Anstieg von Demonstrationen. Islamismus > Die Gefahr islamistisch motivierter Anschläge ist weiterhin abstrakt hoch. > Die abstrakt hohe Gefahr kann jederzeit konkret werden. Sie ist durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) selbst und seine regionalen Ableger, wie etwa den Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISPK), gegeben. > Darüber hinaus besteht auch weiterhin eine erhebliche Gefahr durch selbst radikalisierte, allein handelnde Täter. Bei diesen ist nicht auszuschließen, dass die derzeitigen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt eine Tatmotivation fördern können. 6. Juli Festnahme von Mitgliedern der islamistischen Terrorzelle ISPK in NRW 2023 [?] 31. Mai Urteil des OLG Dresden gegen Lina E. wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung 18 KompaKt Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 > Es werden wieder vermehrt extremistisch-salafistische Ideologien "auf die Straße" und online in die Mitte der Gesellschaft getragen (verstärkte Da'wa-Aktivitäten). > Nach den Terroranschlägen gegen den Staat Israel sind nur wenige offene Sympathiebekundungen für die HAMAS erkennbar. Islamistische Organisationen agierten nach den Terroranschlägen eher zurückhaltend und griffen die starke Emotionalisierung von Einzelpersonen nur bedingt auf. > Das Verbot der HAMAS sowie die vereinsrechtlichen Ermittlungen gegen das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) und die schiitisch-islamistische Szene erschweren islamistischen Akteuren aus diesem Bereich die Betätigung. Spionageabwehr und Wirtschaftsschutz > Die steigende Anzahl internationaler Konflikte und regionaler Krisen hat im Jahr 2023 das Risiko für Cyberangriffe, Sabotageakte sowie staatsterroristische Aktivitäten auch in Deutschland und NRW weiter erhöht. > Ausländische Akteure haben darüber hinaus ihre Versuche der illegitimen Einflussnahme weiter intensiviert und treten zunehmend aggressiv auf. 24. August 24. Oktober Anklage gegen den BNDVereitelung eines Mitarbeiter Carsten L. geplanten Anschlags mit durch den Generaleinem LKW gegen eine bundesanwalt pro-israelische Demonstration in Duisburg 7. Oktober Terroranschläge der HAMAS gegen den Staat Israel KompaKt 19 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 > Insbesondere Russland versucht durch Desinformation das Fundament der Demokratie in Deutschland zu untergraben, indem es darauf hinwirkt, Zweifel an den demokratischen Institutionen zu wecken und gesellschaftliche Spaltlinien zu vertiefen. Präventionsarbeit und Aussteigerprogramme > Die neue Online-Komponente des Präventionsprogramms "Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus" ermöglicht eine anonyme und niedrigschwellige Kontaktaufnahme. Dies geschieht über das integrierte Chatmodul auf der Wegweiser-Website. > Seit dem HAMAS-Terrorangriff auf den Staat Israel am 7. Oktober 2023 ist der Bedarf an Beratungen durch Wegweiser gestiegen. Die Online-Beratung erwies sich als ein wichtiges Angebot neben der analogen Beratungsstruktur. > Die Evaluationen des Präventionsprogramms Wegweiser und des Aussteigerprogramms Islamismus (API) erbrachten sehr positive Ergebnisse. Beide Evaluationen geben Handlungsempfehlungen, deren Umsetzung im Jahr 2023 für Wegweiser und für alle drei Aussteigerprogramme des NRW-Verfassungsschutzes begann. 2. November Verbot von HAMAS und Samidoun durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat 2023 [?] 3. November Offene Forderung eines Kalifats in Deutschland bei einer Demonstration in Essen 20 KompaKt Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 29. November 31. Dezember Haftbefehl gegen JugendVerdacht islamistischer liche in Leverkusen wegen Anschlagspläne auf den Anschlagsplänen gegen Kölner Dom und enteine Synagoge und einen sprechende Festnahmen Weihnachtsmarkt durch die NRW-Polizei 12. Dezember Anklage gegen die Gruppe Reuß durch die Bundesanwaltschaft KompaKt 21 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 22 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Extremismus in Zahlen extremIsmus In zahlen 23 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Extremismus in Zahlen Politisch motivierte Kriminalität: Schwerpunkte beim Tatmittel Internet liegen in den Bereichen Rechtsextremismus und sonstige Zuordnung. 24 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Politisch motivierte Kriminalität nach PMK-Phänomenbereichen Politisch motivierte Kriminalität nach PMK-Phänomenbereichen extremIsmus In zahlen 25 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Tatverdächtige PMK-rechts Tatverdächtige PMK-links Tatverdächtige PMK-ausländische Ideologie Tatverdächtige PMK-religiöse Ideologie 26 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Personenpotenzial im Rechtsextremismus Personenpotenzial im Linksextremismus extremIsmus In zahlen 27 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Personenpotenzial im auslandsbezogenen Extremismus Personenpotenzial im Islamismus 28 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Personenpotenzial im extremistischen Salafismus Präventionsprogramm Wegweiser im Überblick extremIsmus In zahlen 29 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Fallzahlen seit Einrichtung der Aussteigerprogramme Knapp zwei Drittel der Hinweise auf potenzielle Klienten stammen von Behörden und Netzwerkpartnern 30 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Das Aussteigerprogramm API befasst sich in rund einem Viertel der Fälle mit Frauen Achtzig Prozent der im API begleiteten Personen sind dem Verfassungsschutz als Gefährder oder zumindest relevante Person bekannt In sechzig Prozent der Fälle hat Left die in das Programm aufgenommenen Personen aktiv angesprochen extremIsmus In zahlen 31 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Personenpotenziale in Nordrhein-Westfalen Die Angaben zu den Parteien und Organisationen umfassen grundsätzlich das gesamte Personenpotenzial. Die Angaben sind gerundet. Rechtsextremismus 2022 2023 Die Heimat (bis Mai 2023 NPD) 350 400 Die Rechte 270 50 Der III. Weg 40 40 Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien 950 950 (völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD), ehemals "Flügel") Junge Alternative 200 In parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen, 1.150 1.250 insbesondere neonazistischen Kameradschaften und Mischszene Unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial, 1.250 1.150 insbesondere die Skinhead-Szene abzüglich Doppelzurechnungen* -465 -295 Gesamt 3.545 3.745 davon gewaltorientierte Rechtsextremisten 1.900 1.800 Reichsbürger und Selbstverwalter 3.400 3.400 Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende 300 300 Delegitimierung des Staates * Einzelne Personen können gleichzeitig zwei Organisationen oder Gruppierungen zugerechnet werden. Die Mitglieder der Partei Die Rechte werden weiterhin als Neonazis gezählt. Linksextremismus 2022 2023 Gewaltorientierte Linksextremisten einschl. Autonome und Anarchisten* 1.260 1.413 DKP 800 800 MLPD 750 750 Gesamt 2.810 2.963 *Gewaltorientierte Anarchisten sind erstmalig ausgewiesen. 32 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Auslandsbezogener Extremismus 2022 2023 ADÜTDF 2.000 2.000 ATIB 600 600 ANF 300 300 Freie Szene der Ülkücü-Bewegung 800 800 DHKP-C 200 200 KONGRA-GEL bzw. PKK 2.200 2.200 Samidoun 5 Gesamt 6.100 6.105 Islamismus 2022 2023 Extremistischer Salafismus 2.800 2.700 davon politisch 2.200 2.100 davon gewaltbereit 600 600 HAMAS 150 175 Hizb Allah 350 400 Hizb ut-Tahrir 120 130 Kalifatsstaat 150 100 Muslimbruderschaft (inkl. HAMAS) 270 320 Milli Görüs-Bewegung (extremistischer Teil) 250 250 Türkische Hizbullah 50 30 Furkan-Gemeinschaft 80 70 abzüglich Doppelzurechnungen* -150 -175 Gesamt 4.070 4000 * Einzelne Personen können gleichzeitig zwei Organisationen oder Gruppierungen zugerechnet werden. extremIsmus In zahlen 33 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) Betrachtung der Gesamtentwicklung In Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2023 insgesamt 7.596 Politisch motivierte Straftaten bekannt (2022: 8.948). Damit ist im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang um 1.352 Delikte beziehungsweise um 15,1 Prozent zu verzeichnen. Der Rückgang der Gesamtentwicklung ist darauf zurückzuführen, dass im Jahr 2023 erheblich weniger Verstöße gegen das Versammlungsgesetz registriert wurden. Wenn man die letzten zehn Jahre betrachtet, ist, mit Ausnahme des Jahres 2022, ein neuer Höchststand festzustellen. Die Politisch motivierte Kriminalität ist in den Bereichen rechts, links sowie ausländische und religiöse Ideologie jeweils gestiegen. Außerdem nahmen antisemitische Straftaten und Straftaten mit dem Tatmittel "Internet" deutlich zu. Die Aufklärungsquote im Bereich der PMK für das Jahr 2023 stieg auf 40,9 Prozent (2022: 31,0 Prozent). Es wurden mit 3.110 Straftaten im Vergleich zum Vorjahr 335 Delikte mehr aufgeklärt (2022: 2.775). Gesamtentwicklung der Politisch motivierten Kriminalität im 10-Jahres-Vergleich 34 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Gewaltdelikte der Politisch motivierten Kriminalität (PMKGewalt) Die Zahl der bekannt gewordenen Gewaltdelikte mit politischer Motivation ist in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zum Jahr 2022 gestiegen. Es wurden insgesamt 541 Gewaltdelikte erfasst, was eine Steigerung um 36,6 Prozent (2022: 396) bedeutet. 252 Gewaltdelikte konnten polizeilich aufgeklärt werden (2022: 260). Die Aufklärungsquote lag mit 46,6 Prozent niedriger als im Vorjahr (2022: 65,7 Prozent). Straftaten mit dem Tatmittel Internet Im Jahr 2023 wurden 1.859 politisch motivierte Straftaten erfasst, die mit dem Tatmittel "Internet" begangen wurden. 763 Fälle wurden der PMK -sonstige Zuordnung-, 723 Fälle der PMK -rechts-, 156 Fälle der PMK -ausländische Ideologie-, 110 Fälle der PMK -linksund 107 Fälle der PMK -religiöse Ideologiezugeordnet. Verglichen mit dem Jahr 2022 (1.091 Gesamtstraftaten) entspricht dies einer Steigerung von 70,4 Prozent. In allen Phänomenbereichen ist ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Dieser beträgt bei der PMK-sonstige Zuordnung58,3 Prozent (2022: 482), 54,4 Prozent (2022: 468) bei der PMK-rechtsund 144,4 Prozent (2022: 45) bei der PMK-links-. Tatmittel Internet im 2-Jahres-Vergleich extremIsmus In zahlen 35 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Der deutlichste Anstieg ist bei der PMK -religiöse Ideologiefestzustellen. Im Jahr 2022 wurden 24 Fälle registriert. Dies bedeutet einen Anstieg um 345.8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Im Bereich der Hasskriminalität hat der Phänomenbereich PMK -rechtsmit 392 Straftaten (2022: 217) und 65,4 Prozent den größten Anteil an der Gesamtfallzahl von 599 Straftaten (2022: 267). Damit können die meisten zuzuordnenden Straftaten im Bereich der Hasskriminalität dem Phänomenbereich PMK -rechtszugeordnet werden. Dem Internet kommt hier eine bedeutende Rolle zu, da es über Social-Media-Anwendungen vielfältige und schnelle Verbreitungswege für "Hasspostings" bietet. In den letzten Jahren konnte hierbei eine zunehmende Verrohung der Kommunikation, die sich unter anderem auch direkt an gesellschaftliche und politisch engagierte Personen richtet, festgestellt werden. Gerade Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum nutzen diese Möglichkeit, um ihre strafbaren Äußerungen teils offen, teils verdeckt zu veröffentlichen und zu verbreiten. Bei den antisemitischen Straftaten lag der Schwerpunkt mit 117 Straftaten und 54,7 Prozent an der Gesamtfallzahl (214 Straftaten) ebenfalls im Bereich der PMK -rechts-. Antisemitische Straftaten mit dem Tatmittel Internet sind im Jahr 2023 um 78.3 Prozent gestiegen (2022: 120). Beim Themenfeld "Israel-/Palästina-Konflikt" lag der Schwerpunkt mit 94 von 201 Straftaten (46,8 Prozent) im Bereich PMK -ausländische Ideologie. 2022 wurde lediglich eine Tat im Bereich PMK-ausländische Ideologieregistriert. Der Anstieg steht im Zusammenhang mit den Terroranschlägen gegen den Staat Israel am 7. Oktober 2023 und der diesbezüglich festzustellenden Zunahme antisemitischer Straftaten in Nordrhein-Westfalen, unter anderem aus dem Phänomenbereich PMK -ausländische Ideologie-. Beim Themenfeld "islamfeindlich" lag der Schwerpunkt mit 81 von 114 Straftaten (71,1 Prozent) genauso wie im Themenfeld "fremdenfeindlich" mit 381 von 548 Straftaten (69,5 Prozent) sowie im Themenfeld "ausländerfeindlich" mit 204 von 221 Straftaten (92,3 Prozent) wiederum im Bereich der PMK -rechts-. Bereits 2022 lag der Schwerpunkt im Bereich der PMK -rechts(Themenfeld "fremdenfeindlich" 208 von 239 Straftaten (87 Prozent), Themenfeld "ausländerfeindlich" 70 von 78 Straftaten (89,7 Prozent) und Themenfeld "islamfeindlich 17 von 19 Straftaten (89,4 Prozent)). Im Themenfeld "Konfrontation/politische Einstellung gegen sonstige politische Gegner" lag der Schwerpunkt mit 374 von 550 Straftaten (68 Prozent) sowie im Themen36 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 feld "Konfrontation/politische Einstellung gegen den Staat, seine Einrichtungen und Symbole" mit 524 von 824 Straftaten (63,6 Prozent) im Bereich der PMK -sonstige Zuordnung-. Dies war auch 2022 der Fall ("Konfrontation/politische Einstellung gegen sonstige politische Gegner" 104 von 163 Straftaten (63,8 Prozent), genauso wie im Themenfeld "Konfrontation/politische Einstellung gegen den Staat, seine Einrichtungen und Symbole" mit 303 von 485 Straftaten (62,5 Prozent). Mehrfachnennungen von Themenfeldern sind bei der Erfassung möglich. Die Summe der einzelnen Themenkomplexe liegt deshalb über der Gesamtsumme. Propagandadelikte Einen hohen Anteil der PMK verzeichnet jährlich wiederkehrend die Gruppe der Propagandadelikte, also Straftaten der SSSS 86 und 86a Strafgesetzbuch. Im Vergleich zum Vorjahr stieg mit 2.608 Straftaten beziehungsweise mit 34,3 Prozent der prozentuale Anteil der Propagandadelikte am Straftatenaufkommen der PMK (2022: 2.396 Straftaten beziehungsweise 26,8 Prozent). Bei den meisten Propagandadelikten handelt es sich um das Anbringen von Hakenkreuzsymbolen im öffentlichen Raum, die nur wenige Ermittlungsansätze bieten und daher schwer aufzuklären sind. Mit 36,5 Prozent liegt die Aufklärungsquote der Propagandadelikte über dem Niveau des Vorjahres (2022: 33,5 Prozent). Extremistische Straftaten Von den 7.596 im Jahr 2023 bekannt gewordenen Delikten der PMK sind 7.078 (93,2 Prozent) als extremistische Straftaten eingestuft. Diese Kategorie umfasst Straftaten, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Beim Anteil am Gesamtaufkommen der PMK ist ein Rückgang zu verzeichnen (2022: 95,9 Prozent). Entwicklung der Phänomenbereiche der Politisch motivierten Kriminalität Betrachtet man die Entwicklung der PMK differenziert nach den Phänomenbereichen, so ist bis auf den Bereich PMK-sonstige Zuordnungein Anstieg der Fallzahlen festzustellen. Die Gründe dafür liegen maßgeblich in den Terroranschlägen gegen den Staat Israel und den damit einhergehenden vielen Versammlungen, bei denen es verstärkt zu Straftaten in den Extremismusbereichen kam. Besonders im Phänomenbereich der "PMKreligiöse Ideologie"stieg die Anzahl der Straftaten von 60 auf 305, ein Anstieg um 408,3 Prozent. extremIsmus In zahlen 37 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Demgegenüber ist der Rückgang der Gesamtfallzahlen dem Bereich der PMK-sonstige Zuordnunggeschuldet. Hier sanken die Fallzahlen von 3.819 auf 1.816 um 52,4 Prozent, ein Rückgang um 2.003 Straftaten. Antisemitische Straftaten Die Anzahl der antisemitischen Straftaten (aller Phänomenbereiche) ist von 331 auf 547 Straftaten gestiegen (65,3 Prozent). Dieser Anstieg ist insbesondere auf das hohe Aufkommen antisemitischer Straftaten seit den Terroranschlägen gegen den Staat Israel am 7. Oktober 2023 und dem in der Folge wieder verstärkten Nahostkonflikt zurückzuführen. Bei den Deliktsgruppen machten - wie in den Vorjahren - Volksverhetzungen (296 Straftaten), Propagandadelikte (72 Straftaten) und Sachbeschädigungen (75 Straftaten) den überwiegenden Anteil der Fallzahlen aus (81 Prozent). Die Anzahl der antisemitischen Gewaltdelikte ist im Vergleich zum Vorjahr (2022: 8 Straftaten) mit 13 Straftaten deutlich gestiegen (62,5 Prozent). Antisemitische Strafund Gewalttaten im 10-Jahres-Vergleich 275 Straftaten beziehungsweise 50,3 Prozent der antisemitischen Straftaten wurden im Jahr 2023 dem Phänomenbereich PMK -rechtszugeordnet. Der Anteil der PMK -rechtsam Gesamtaufkommen antisemitischer Straftaten ist im Vergleich zu den Vorjahren somit deutlich niedriger (2021: 84,2 Prozent; 2022: 86,7 Prozent). Dieser anteilige Rückgang der PMK -rechtssteht vordergründig im Zusammenhang mit den 38 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Terroranschlägen gegen den Staat Israel am 7. Oktober 2023 und dem diesbezüglich festzustellenden Zuwachs antisemitischer Straftaten aus den Phänomenbereichen PMK -ausländische Ideologieund -religiöse Ideologie(jeweils 112 Straftaten beziehungsweise 20,5 Prozent). Politisch motivierte Kriminalität -rechtsDie Anzahl der Straftaten im Phänomenbereich PMK -rechtsist mit 3.549 Straftaten (2022: 3.453) im Vergleich zum Vorjahr um 96 Straftaten (2,8 Prozent) leicht gestiegen. Propagandadelikte und Volksverhetzungen machten mit 77,2 Prozent (2.740 von 3.549 Straftaten), wie in den Vorjahren, den überwiegenden Anteil der Straftaten im Bereich PMK -rechtsaus (2022: 75,3 Prozent). Es konnten 1.552 Straftaten beziehungsweise 43,7 Prozent polizeilich aufgeklärt werden. Damit stieg die Aufklärungsquote um 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt wurden 1.362 Tatverdächtige ermittelt (2022: 1.293). Davon waren 1.124 Personen beziehungsweise 82,5 Prozent männlich und 238 beziehungsweise 17,5 Prozent weiblich. Auffallend ist der Anstieg des Anteils der über 60-jährigen Tatverdächtigen, die im Jahr 2023 die am höchsten belastete Altersgruppe mit 303 Personen (2022: 197) darstellten. Es folgte die Gruppe der 50-59-Jährigen mit 267 Personen. 631 (46,3 Prozent) der 1362 Tatverdächtigen waren bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten, womit im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang zu verzeichnen ist (2022: 778 beziehungsweise 60,2 Prozent). Vorherrschende Themenfelder der PMK -rechtswaren wie in den vergangenen Jahren Nationalsozialismus/Sozialdarwinismus (Anstieg von 2.352 auf 2.429 Straftaten) und Hasskriminalität (Anstieg von 1.292 auf 1.432 Straftaten). Dahinter folgte das Themenfeld Konfrontation/politische Einstellung (Anstieg von 847 auf 988 Straftaten). Der letztjährig festgestellte und unter anderem mit den Lockerungen der Corona-Einschränkungen begründete Anstieg an Propagandadelikten hatte weiter Bestand. Wurden 2022 insgesamt 2.087 Propagandadelikte polizeilich erfasst, so war für 2023 mit 2.137 Strafanzeigen eine weitere leichte Zunahme um 50 Straftaten zu verzeichnen (2,4 Prozent). extremIsmus In zahlen 39 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Gewaltkriminalität im Phänomenbereich PMK -rechtsDie Anzahl der Gewaltdelikte durch rechtsmotivierte Tatverdächtige blieb mit 116 Straftaten gegenüber dem Vorjahr konstant (2022: 117 Straftaten). Schwerpunktmäßig handelte es sich um Körperverletzungen (108 Straftaten beziehungsweise 93,1 Prozent). Die Aufklärungsquote der Gewaltdelikte im Bereich PMK -rechtslag mit 84 geklärten Taten bei 72,4 Prozent (2022: 85 Straftaten beziehungsweise 72,6 Prozent). PMK-rechts und PMK-rechts-Gewalt im 10-Jahres-Vergleich Hasskriminalität im Phänomenbereich PMK -rechtsDer Hasskriminalität werden Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen eine Person wegen ihrer Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, des sozialen Status, physischer und/oder psychischer Behinderung oder Beeinträchtigung, ihres Geschlechts/ geschlechtlichen Identität, der sexuellen Orientierung oder aufgrund ihres äußerlichen Erscheinungsbildes gerichtet sind. Die Hasskriminalität im Phänomenbereich PMK -rechtsist mit 1.432 Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 10,8 Prozent angestiegen (2022: 1.292 Straftaten). Deliktisch gesehen lagen die Schwerpunkte der Hasskriminalität bei Volksverhetzungen (575 Straftaten), Beleidigungen (406 Straftaten) und Straftaten gemäß Paragraph 86, 86a Strafgesetzbuch (193 Straftaten). Die Anzahl der Gewaltdelikte im Themenfeld Hasskriminalität ist mit 102 Straftaten leicht gestiegen (2022: 99 Straftaten). 40 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Reichsbürger/Selbstverwalter Die Anzahl der Gesamtstraftaten im Zusammenhang mit Reichsbürgern/Selbstverwaltern ist 2023 im Vergleich mit dem Vorjahr von 77 auf 56 Taten um 27,3 Prozent gesunken. Unter diesen Taten sind vier Gewaltdelikte zu verzeichnen. Dies entspricht im Vergleich zum Vorjahr einem deutlichen Rückgang (2022:12). Alle vier Gewaltdelikte wurden 2023 aufgeklärt. Politisch motivierte Kriminalität -linksDie Anzahl der Straftaten im Phänomenbereich der PMK -linksist mit 1.097 Straftaten im Vergleich zum Vorjahr (2022: 824 Straftaten) um 33,1 Prozent gestiegen. Im Jahr 2023 wurden insgesamt 348 Tatverdächtige (2022: 308) ermittelt. Davon waren 217 (62,4 Prozent) männlich und 131 (37,6 Prozent) weiblich. Die am höchsten belasteten Altersgruppen waren mit 76 Personen beziehungsweise 21,8 Prozent die 21bis 24-Jährigen, neben den 25bis 29-Jährigen mit 60 Personen beziehungsweise 17,2 Prozent. 116 Tatverdächtige (33,3 Prozent) waren zuvor polizeilich in Erscheinung getreten (2022: 86 beziehungsweise 27,9 Prozent). Vorherrschende Themenfelder im Bereich der PMK -linkswaren in absteigender Reihenfolge "Konfrontation/politische Einstellung" (Anstieg um 36,9 Prozent von 579 auf 793), "Ökologie/Industrie/Wirtschaft" (Anstieg um 96,7 Prozent von 274 auf 539), "Innenund Sicherheitspolitik" (Anstieg um 68 Prozent von 222 auf 373) sowie "Antifaschismus" (Anstieg um drei Prozent von 133 auf 137). Die Anzahl der Straftaten im Zusammenhang mit den Protesten im Rheinischen Braunkohlerevier stieg im Vergleich zum Vorjahr um 158,8 Prozent. In diesem Kontext wurden im Berichtszeitraum 396 Straftaten verübt (2022: 153 Straftaten). Im Vergleich zu den Gesamtfallzahlen der PMK -links(1.097) machten diese Straftaten einen Anteil von 36,1 Prozent aus. Vorrangig wurden dabei Körperverletzungsdelikte (120 beziehungsweise 30,3 Prozent), Sachbeschädigungen (77 beziehungsweise 19,4 Prozent) sowie Widerstandshandlungen (65 beziehungsweise 16,4 Prozent) verzeichnet. Der Anstieg ist auf die Räumung der Ortschaft Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier im Januar 2023 zurückzuführen. Im Jahr 2023 konnten mit 308 Straftaten insgesamt mehr Straftaten aufgeklärt werden als im Jahr zuvor (2022: 236 Straftaten). Die Aufklärungsquote sank jedoch auf 28,1 Prozent (2022: 28,6 Prozent). extremIsmus In zahlen 41 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Gewaltkriminalität im Phänomenbereich PMK -linksDie Anzahl der Gewaltdelikte durch linksmotivierte Tatverdächtige stieg mit 274 Straftaten gegenüber dem Vorjahr (2022: 71 Straftaten) um 285,9 Prozent. PMK-links und PMK-links-Gewalt im 10-Jahres-Vergleich Schwerpunktmäßig handelte es sich um Körperverletzungen (145 Straftaten beziehungsweise 52,9 Prozent) sowie Widerstandshandlungen (72 Straftaten beziehungsweise 26,3 Prozent). Die Körperverletzungsdelikte stiegen um 417,9 Prozent (2022: 28), die Widerstandsdelikte um 414,2 Prozent (2022: 14). Die Gewaltstraftaten im Zusammenhang mit den Protesten im Rheinischen Braunkohlerevier machten mit 227 Delikten einen Anteil von 82,4 Prozent der Gewaltdelikte der PMK -linksaus. Die Aufklärungsquote der Gewaltdelikte lag mit 71 aufgeklärten Taten bei 25,9 Prozent. Politisch motivierte Kriminalität -ausländische Ideologie Im Jahr 2023 wurden in Nordrhein-Westfalen 829 Straftaten im Phänomenbereich PMK - äusländische Ideologie erfasst. Dies bedeutet eine leichte Steigerung zum Vorjahr um 3,75 Prozent (2022: 792 Straftaten). Vorherrschende Themenfelder im Bereich der PMK - Ausländische Ideologie waren in rund 93 Prozent aller Fälle (773 von 829) das Themenfeld "Krisenherde/Bürgerkriege", gefolgt von "Konfrontation/politische Einstellung" (46 Prozent) (379 von 829). 42 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Es wurden 276 Tatverdächtige ermittelt (2022: 233). Davon waren 208 (75,4 Prozent) männlich und 68 (24,6 Prozent) weiblich; die relativen Zahlen entsprechen jenen des Jahres 2022. Wie bereits 2022 war etwa ein Drittel der ermittelten Tatverdächtigen zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten. Die Aufklärungsquote veränderte sich im Vergleich zu 2022 wenig. Während die Quote bei den Gewaltdelikten um 13 Prozent sank, stieg sie in der Gesamtschau um fünf Prozent. Von der ungewöhnlich hohen Anzahl von 92 Gewaltdelikten im Jahr 2022 entfielen alleine 42 auf Widerstandshandlungen im Rahmen von Versammlungsgeschehen. Damit einher ging ein hoher Anteil aufgeklärter Taten. Dies normalisierte sich im Jahr 2023 wieder auf lediglich drei Widerstandsdelikte und insgesamt 45 Körperverletzungsdelikte. Nachdem die Anzahl der Straftaten des Phänomenbereiches PMK - ausländische Ideologieaufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und dessen Auswirkungen auf die Sicherheitslage in NRW im Jahr 2022 auf 792 Straftaten und damit um den Faktor 3,75 gestiegen waren, wurden im Jahr 2023 829 Straftaten gemeldet. Die Fallzahlen dieses Phänomenbereiches blieben also auf einem vergleichbar hohen Niveau. Der russische Angriffskrieg wirkte sich auf die Fallzahlen ähnlich deutlich aus wie die Terrorangriffe gegen den Staat Israel und die darauffolgende militärische Offensive Israels gegen Stellungen der HAMAS in Palästina. Wie sehr ausländische Konflikte bis hin zu Kriegen die Fallzahlen der PMK -ausländische Ideologiebeeinflussen, wird anhand folgender Zahlen deutlich: Während in den Monaten Januar bis April 2023 sowie Juni bis September 2023 durchschnittlich 30 Straftaten der PMK -ausländische Ideologiegemeldet wurden, stiegen die Zahlen im Oktober 2023 und damit zum Zeitpunkt der Terroranschläge gegen den Staat Israel (7. Oktober 2023) um mehr als das Achtfache auf 257. Es folgten 190 Straftaten im November 2023 und immer noch 86 im Monat Dezember 2023. Damit ist auch zu erklären, dass sich die Gesamtzahl der Volksverhetzungen in diesem Phänomenbereich 2023 im Vergleich zum Vorjahr auf 155 Straftaten mehr als verfünffachte. Insgesamt sind die Terrorangriffe gegen den Staat Israel als das dominierende Thema der PMKausländische Ideologieim Jahr 2023 zu sehen. Das Rezipieren vornehmlich pro-palästinensischer Positionen im Rahmen von Versammlungen oder im Rahmen des öffentlichen Diskurses auf Social-Media-Kanälen mündete vielfach in strafrechtlich relevantem Verhalten. Wie bereits im Jahr 2022 entfiel ein immer noch erheblicher Teil der Straftaten auf Sachverhalte im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. So wurextremIsmus In zahlen 43 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 den 187 oder 22,6 Prozent (2022: 499 oder 63 Prozent) der gemeldeten 829 (2022: 792) Straftaten mit dem ThemenfeldUnterbegriff "Ukraine" erfasst. Diese Zahlen zeigen aber auch, dass der Faktor Zeit einen großen Einfluss auf die Fallzahlenentwicklung hat. Aus kriminalfachlicher Sicht zeigt sich in beiden Konflikten eine deutliche und starke Einflussnahme der Emotionalisierung auf die Fallzahlen. Zu Beginn eines Ereignisses steigen die Fallzahlen stark an und zeigen mit anhaltender Dauer eine rückläufige Entwicklung. Auch im Jahr 2023 waren Themen im Kontext des Konfliktes der Türkei mit Teilen der kurdischen Bevölkerung maßgeblich für die Veranstaltungslage und die Fallzahlen der PMK -ausländische Ideologie-. Dabei stach der Monat Mai 2023 mit 57 Straftaten heraus, in welchem knapp doppelt so viele Taten gemeldet wurden, wie in den übrigen Monaten (exklusive der bereits thematisierten Monate Oktober bis Dezember). So wurden 112 (2022: 174) der 829 Meldungen mit dem Unterbegriff "Türkei" versehen - alleine 27 Meldungen mit Tatzeit Mai 2023. In den Monat Mai 2023 fielen die Präsidentund Parlamentswahlen in der Türkei. Die erhöhten Fallzahlen im Mai sind im Zusammenhang dieser Wahlen zu sehen und sind auf die verstärkte politisch motivierte Agitation im Rahmen des Wahlkampfes um Wählerstimmen der türkischen Diaspora zurückzuführen. 48 der 829 Meldungen wurden mit dem Unterbegriff "Kurden" versehen. Die Zahl fiel im Vergleich zu 2022 (141 Meldungen) deutlich geringer aus. Dabei handelte es sich um Straftaten ohne PKK-Bezug. Bei 64 der 829 Meldungen war 2023 ein PKK-Bezug erkennbar, 2022 waren es noch 98 Fälle. Im Jahr 2022 entfiel ein Großteil der damals gemeldeten Straftaten auf Widerstandshandlungen im Zuge einer unfriedlich verlaufenen Versammlung in Köln ("Langer Marsch der kurdischen Jugend"). Weitere relevante Themenfelder der PMK -ausländische Ideologieim Jahr 2023 waren die konfliktträchtigen politischen Gegebenheiten im Irak (14 Meldungen im Sachzusammenhang, im Vergleich: 25 im Jahr 2022) und im Iran (24 Meldungen, im Vergleich: 36 im Jahr 2022). Gewaltkriminalität im Phänomenbereich PMK -ausländische Ideologie In Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2023 insgesamt 58 Gewaltdelikte der PMK - ausländische Ideologieerfasst (2022: 92 Gewaltdelikte, Rückgang um 40,8 Prozent). Der Anteil der Gewaltdelikte der PMK -ausländische Ideologielag mit sieben Prozent deutlich unter dem Anteil der Gewaltdelikte der Vorjahre 2021 (12,8 Prozent) und 2022 44 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 (11,6 Prozent). Dieser Rückgang ist insbesondere aufgrund der unfriedlich verlaufenen Versammlung in Köln ("Langer Marsch der kurdischen Jugend") im Jahr 2022 und den damit einhergehenden Straftaten zu begründen. Ausländische Ideologie und PMK-ausländische Ideologie-Gewalt im 10-Jahres-Vergleich Die Aufklärungsquote lag mit 70,7 Prozent wie auch in den Vorjahren sehr deutlich über der Gesamtaufklärungsquote der PMK -ausländische Ideologievon 33,7 Prozent. Politisch motivierte Kriminalität -religiöse IdeologieIm Bereich PMK - Religiöse Ideologie wurden in Nordrhein-Westfalen 305 Straftaten (2022: 60 Straftaten) erfasst, was einer Steigerung von 408,3 Prozent entspricht. 121 der insgesamt 305 erfassten Straftaten (2022: 48 von 60 Straftaten) konnten aufgeklärt werden, was einer Aufklärungsquote von 39,7 Prozent (2022: 80 Prozent) entspricht. Die gestiegenen Fallzahlen mit dem Schwerpunkt auf Sachbeschädigungen, Volksverhetzungen und Störungen des öffentlichen Friedens und die im Vergleich zum Vorjahr niedrigere Aufklärungsquote lassen sich durch die Zuspitzung des Nahostkonfliktes seit den Terroranschlägen gegen den Staat Israel erklären. In Teilen der muslimischen Bevölkerung führten die auf den Anschlägen der Hamas folgenden und immer noch andauernden Kampfhandlungen zu einer hohen Emotionalisierung sowie einer Vielzahl von themenbezogenen Versammlungen und daraus resultierenden Straftaten. extremIsmus In zahlen 45 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Anschlagsgefahr im Bereich des Islamistischen Terrorismus ist weiterhin abstrakt hoch. Das gilt für die Bundesrepublik Deutschland und damit natürlich auch für Nordrhein-Westfalen. Die abstrakt hohe Gefahr kann jederzeit konkret werden. Sie wird durch den IS selbst, aber auch durch ihre regionalen Ableger wie etwa den Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISPK) verbreitet. Darüber hinaus besteht auch weiterhin eine große Gefahr durch selbst radikalisierte, allein handelnde Täter. Bei diesen ist nicht auszuschließen, dass die derzeitigen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt eine Tatmotivation fördern können. PMK-relgiöse Ideologie und PMK-religiöse Ideologie-Gewalt im 7-Jahres-Vergleich Gewaltkriminalität im Phänomenbereich -religiöse IdeologieEs wurden 15 Gewaltdelikte im Bereich PMK -religiöse Ideologieerfasst, darunter zwei Tötungsdelikte, die aufgeklärt werden konnten. Mit diesen Tötungsdelikten einhergehend gab es aber auch den ersten terroristischen Anschlag mit Toten in NordrheinWestfalen (Fitnessstudio Duisburg). Es konnten insgesamt 116 Tatverdächtige ermittelt werden (2022: 45): 91 Männer (78,4 Prozent) sowie 25 Frauen (21,6 Prozent), davon waren 56 Tatverdächtige (48,3 Prozent) bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten (2022: 48,9 Prozent). Politisch motivierte Kriminalität -sonstige ZuordnungIm Bereich der PMK -sonstige Zuordnungsank die Zahl der Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 52,5 Prozent von 3.819 auf 1.816 Straftaten, befand sich aber im Vergleich zu den Jahren vor der Corona-Pandemie nach wie vor auf einem hohen Niveau. Der Rückgang des Gesamtaufkommens an Straftaten der PMK -sonstige Zuordnungim Vergleich zum Jahr 2022 ist insbesondere auf den Rückgang an Verstößen gegen das Versammlungsgesetz zurückzuführen. Die Zahl der Straftaten gegen das Ver46 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 sammlungsgesetz sank von 2.130 Delikten im Jahr 2022 auf 139 Delikte im Jahr 2023. Von den 1.816 im Jahr 2023 erfassten Straftaten konnten 850 aufgeklärt werden, was einer Aufklärungsquote von 46,8 Prozent entspricht. Damit stieg die Aufklärungsquote im Bereich der PMK - sonstige Zuordnungvon 22,8 Prozent auf den im Vierjahresvergleich höchsten Stand (2020: 28 Prozent, 2021: 32,5 Prozent, 2022: 22,8 Prozent, 2023 46,8 Prozent). PMK-sonstige Zuordnung und PMK-sonstige Zuordnung-Gewalt im 5-Jahres-Vergleich Die Entwicklung der Gewaltstraftaten im Bereich der PMK -sonstige Zuordnungwies in den vergangenen Jahren eine steigende Tendenz auf. So wurden im Jahr 2021 insgesamt 69 Gewaltstraftaten im Bereich PMK -sonstige Zuordnungverzeichnet. Im Jahr 2022 waren es bereits 107 Gewaltstraftaten (Steigerung von 55,1 Prozent). Dieser Trend wurde im Jahr 2023 durchbrochen. Im Jahr 2023 wurden für den Bereich der PMK -sonstige Zuordnung-78 Gewaltstraftaten verzeichnet, was einem Rückgang um 27,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Die Aufklärungsquote im Bereich der Gewaltstraftaten der PMK - sonstige Zuordnungstieg im Vergleich zum Vorjahr leicht. Wurden von 107 Gewaltstraftaten im Jahr 2022 noch 57 Prozent beziehungsweise 61 Taten aufgeklärt, so waren es im Jahr 2023 60,3 Prozent beziehungsweise 47 Taten. Unter den aufgeklärten Gewaltdelikten befindet sich auch ein versuchtes Tötungsdelikt in Ratingen zum Nachteil von Polizeibeamten, Feuerwehrbeamten, Rettungssanitätern sowie einem Notarzt. extremIsmus In zahlen 47 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Jahr 2023 wurden insgesamt 814 Tatverdächtige ermittelt (2022: 812). Davon waren 708 Männer (87,0 Prozent) und 106 Frauen (13 Prozent). 315 Tatverdächtige (38,7 Prozent) waren bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten (2022: 320 beziehungsweise 39,4 Prozent). Vorherrschende Themenfelder waren "Konfrontation/politische Einstellung" (Rückgang von 3280 auf 1068 Erfassungen), "gegen den Staat, seine Einrichtungen und Symbole" (Rückgang von 2712 auf 870 Erfassungen) sowie "Innenund Sicherheitspolitik" (Rückgang von 581 auf 347 Erfassungen). Eine grundsätzliche Gleichsetzung der erfassten Themenfelder mit den registrierten Straftaten ist nicht möglich, da zu einem Zähldelikt auch mehrere Themenfelder vergeben werden können. 48 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 extremIsmus In zahlen 49 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Strafund Gewalttaten der PMK-Phänomenbereiche nach Deliktsgruppen 50 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 extremIsmus In zahlen 51 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 52 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Sonderthema: Nahost-Konflikt und Auswirkungen auf extremistische Szenen in NRW sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw 53 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Sonderthema: Nahost-Konflikt und Auswirkungen auf extremistische Szenen in NRW Am frühen Morgen des 7. Oktober 2023 startete die islamistische Terrorgruppe HAMAS, die den Gaza-Streifen kontrolliert, unter der Bezeichnung "al-Aqsa-Flut" einen Großangriff auf Israel. Zahlreiche Raketen wurden auf israelisches Gebiet abgefeuert, die teilweise die entsprechenden Abwehrmaßnahmen überwinden konnten und erhebliche Schäden anrichteten. Darüber hinaus gelang es einer größeren Zahl an HAMAS-Kämpfern, die Sicherungsmaßnahmen am Gaza-Streifen zu durchbrechen und bis zu zehn Kilometer auf israelisches Gebiet vorzudringen. Mehrere Orte in der Grenzregion wurden vorübergehend durch die HAMAS kontrolliert, bevor sie durch die israelischen Streitkräfte zurückgedrängt wurden. Die Kommandos der HAMAS richteten ihr Handeln nicht allein gegen militärische Ziele, sondern verfolgten offensichtlich die Absicht, maximalen Schaden anzurichten, indem sie wahllos israelische Zivilisten ermordeten, als Geiseln nahmen und diese teilweise in den Gazastreifen entführten. Als Reaktion erklärte Israel den Kriegszustand und drohte massive Vergeltung an. Die israelischen Streitkräfte beschossen Gaza mit Artillerie und flogen Luftangriffe. In NRW haben die Ereignisse in den extremistischen Szenen Reaktionen hervorgerufen. Diese werden im Folgenden näher dargestellt. Relevante Reaktionen ausländischer Regierungen werden ebenfalls thematisiert. Reaktionen im Rechtsextremismus Die rechtsextremistische Szene reagierte auf die Eskalation des Nahost-Konflikts in den sozialen Medien, allerdings kaum in Form von Versammlungen oder Straftaten. Mehrheitlich unterstützten Rechtsextremisten die Palästinenser beziehungsweise die HAMAS. Diese Unterstützung war oftmals antisemitisch motiviert beziehungsweise konnotiert und zeigte sich in der Ablehnung der Existenz des Staates Israel. Der Dortmunder Kreisverband der Partei Die Heimat (ehemals NPD) thematisierte in mehreren Posts am 8. November 2023 den Sitzungsausschluss eines Ratsherrn aus der Sitzung des Dortmunder Stadtrates. Dieser hatte eine Palästina-Fahne auf seinem Tisch aufgestellt und ist nach Angaben der Partei aufgrund dessen von der Sitzung ausgeschlossen worden. Die Partei sprach in diesem Zusammenhang von staatlicher Zensur und es wurden Parallelen zur Gestapo beziehungsweise Stasi gezogen. Die Heimat Dortmund drapierte die Palästina-Flagge in Kombination mit Transparenten 54 sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 antisemitischen Inhalts unter anderem auch an Wohnhäusern im sogenannten "Nazi-Kiez" in Dortmund-Dorstfeld und stellte das anschließende Entfernen der Fahnen durch Polizeikräfte als staatliche Zensur dar. Vor allem Rechtsextremisten aus der Strömung der Neuen Rechten thematisierten dagegen pro-palästinensische Kundgebungen in Deutschland, um insbesondere fremdenfeindliche Botschaften zu transportieren. In einem Beitrag in der Zeitschrift Sezession vom 17. Oktober 2023 über eine deutsche Position zum Nahostkonflikt bezog Götz Kubitscheck unter anderem folgende Position: "Es sind starke jüdische Lobbyorganisationen hierzulande, die die Destabilisierung der Bundesrepublik Deutschland durch Masseneinwanderung unterstützt haben, und zwar mittels moralpolitischer Intervention - geschichtspolitisch aufgeladen und auf eine Weise, die notwendige Diskussionen im Keim erstickte." Auch Vertreter des völkisch orientierten Rechtsextremismus nahmen den Nahostkonflikt zum Anlass, ihre fremdenfeindlichen Thesen zu verbreiten. So äußerte sich der Stützpunkt Sauerland/Siegerland des III. Wegs am 6. November 2023 besorgt zur pro-palästinensischen Demonstration in Siegen am Vortag, die die Partei wegen der Vielzahl eingewanderter Menschen als Bedrohung empfand. In einem weiteren Telegram-Post des Stützpunkts Sauerland/Siegerland des III. Wegs vom 15. November 2023 wurde mittelbar Bezug auf den Nahost-Konflikt genommen. In dem Beitrag wird ein Polizeieinsatz mit Schusswechsel vom selben Tage in Gummersbach zum Anlass genommen, die Verhältnisse in Deutschland mit denen in einem aktuellen Kriegsgebiet, nämlich dem Gazastreifen, zu vergleichen. So würde das Einkaufen in Deutschland einem Spaziergang im Gazastreifen ähneln. Durch die Gleichsetzung eines Polizeieinsatzes anlässlich eines Diebstahls mit den kriegsähnlichen Bedingungen im Gazastreifen wurden diese bagatellisiert und gleichzeitig instrumentalisiert, um die angeblich durch eine Masseneinwanderung gestiegene Kriminalität in Deutschland zu dramatisieren. Reaktionen im Islamismus Alle islamistischen Strömungen haben bereits vor dem 7. Oktober 2023 eine strikte Ablehnung des Staates Israel erkennen lassen und sind deutlich durch einen starken Antisemitismus geprägt. Militante Aktionen wurden zum Teil auch von jenen Akteuren befürwortet oder zumindest relativiert, die dem legalistischen Islamismus zuzurechnen sind. Angesichts dieser Voraussetzungen war die Reaktion der Szene auf die terroristischen Angriffe der HAMAS bis Ende 2023 eher verhalten. Es waren fast keine offenen Sympathiebekundungen für die HAMAS erkennbar, wohl aber wurde zur Solidarität mit Palästina aufgefordert. sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw 55 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zudem konnte auf Social-Media-Kanälen von Akteuren der islamistischen Szene vermehrt pro-palästinensische "Aufklärungsarbeit" zum Nahostkonflikt sowie diesbezüglich Relativierungen der Angriffe der HAMAS festgestellt werden. Der durch die palästinensische Terrororganisation HAMAS verübte Angriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 und die daraus resultierende verschärfte Konfliktlage im Nahen Osten bildeten den Nährboden für eine massive Drohpropaganda aus dem jihadistischen Spektrum. Sowohl von jihadistischen Gruppierungen, als auch von nahestehenden Medienstellen und einzelnen Anhängern dieser Gruppierungen, wurden Drohungen gegen Israel, Europa oder insgesamt den Westen - teilweise mit konkreten Anschlagsvorschlägen - lanciert. Im Zuge der Kämpfe um das Al-Schifa-Krankenhaus rief al-Qaida in einer Erklärung am 20. November 2023 erneut zu Angriffen auf amerikanische, europäische und israelische Interessen auf, insbesondere auf europäische und amerikanische Militärbasen sowie Botschaften: "Die Botschaften sind legitime Ziele für unser Volk und für die islamische Ummah. Wir rufen die Jugend der Ummah auf, sie zu stürmen und niederzubrennen und dem Weg der Jugend in Bengasi zu folgen, an dem Tag, als sie vor ein paar Jahren den amerikanischen Botschafter abschlachteten und durch die Straßen schleiften". Al-Qaida war zwar nie ein aktiver Akteur im Nahostkonflikt, hat in der Vergangenheit aber verschiedentlich Einzeltäter zu Anschlägen motivieren können. In der deutschsprachigen jihadistischen Szene fanden sich zahlreiche, fast durchweg antisemitische Texte und Videos, in denen Solidarität mit den Palästinensern bekundet sowie das Märtyrertum und das Töten von Juden glorifiziert wurden. Ein Großteil der Propaganda beinhaltete Darstellungen der erhofften Zerstörung Israels. Auch wurde pro-palästinensische Propaganda wie etwa die der al-Qassam-Brigaden, des militärischen Arms der HAMAS, weiterverbreitet. Kritik und Polemik wandte sich mitunter direkt gegen die Israel-Politik Deutschlands oder den Zentralrat der Juden in Deutschland. In einigen Posts wurde unverblümt zu Anschlägen aufgerufen mit Äußerungen wie "Hört auf zu sitzen und nur zu reden" oder "Deutschland hat soooo viele Sehenswürdigkeiten". Jenseits des Jihadismus waren im salafistischen Islamismus zahlreiche Solidaritätsund Sympathiebekundungen mit Palästina festzustellen. Neben diesen Aussagen wurde ein Opfernarrativ verbreitet und westliche Medien wurden der Lüge bezichtigt. Eine hohe Emotionalisierung der salafistischen/islamistischen Szene ist auch auf die einseitige Berichterstattung in arabischen Medien sowie einschlägiger Kanäle auf In56 sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 stagram, YouTube und TikTok zurückführbar gewesen. Diese berichteten intensiv in parteiischen Darstellungen über die vorgebliche Grausamkeit der israelischen Armee gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung. Da diese Kanäle fast ausschließlich als Informationskanäle des salafistischen/islamistischen Spektrums hierzulande dienen, war die Stimmung in dieser Szene nach wie vor deutlich angespannter als es die deutschsprachige Medienberichterstattung vermuten ließ. Die Muslimbruderschaft (MB) hat den Kampf gegen Israel stets als gerechtfertigten "Verteidigungs-Jihad" bezeichnet. Der 2022 in Katar verstorbene langjährige spirituelle Mentor der MB, Youssuf al-Qaradawi, äußerte in mehreren Fatwas zwischen 2002 und 2005 die Legitimität von Selbstmordattentaten auch gegen die israelische Zivilbevölkerung. Da Männer und Frauen in Israel Wehrdienst leisteten, gäbe es in Israel keine Zivilisten, so die Begründung. Die internationale Organisation der Muslimbruderschaft bezog am 13. Oktober 2023 Stellung. Darin wurden die israelischen Angriffe auf Gaza, aber auch das vermeintliche Schweigen der Weltbevölkerung kritisiert. Zeitweise zitierte die MB auf ihrer internationalen Webseite eine Fatwa des renommierten salafistischen Gelehrten Bin Baz, wonach der militante Jihad in Palästina religiös legitimiert sei und alle Muslime die Pflicht hätten, diesen zu unterstützen. In einem weiteren Beitrag ("Dies sind die Tage Gottes - Von den Banu Nadir zur Operation al-Aqsa-Flut") rief die Internationale Organisation der MB dazu auf, jede mögliche materielle und moralische Unterstützung für die HAMAS bereitzustellen. In Deutschland sind die Anhänger der Muslimbruderschaft vor allem in der Deutschen Muslimischen Gemeinschaft (DMG) organisiert. Diese hat sich im Gegensatz zur Positionierung der Zentrale der Muslimbruderschaft bis Ende 2023 nicht zu den terroristischen Angriffen der HAMAS auf den Staat Israel geäußert. Eindeutig extremistische Reaktionen entsprechen allerdings auch nicht dem Bild, um das die Muslimbruderschaft in Deutschland bemüht ist. Die Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland (PGD), die als wichtigster Anlaufpunkt hiesiger HAMAS-Anhänger zu bewerten war, hat sich im September 2023 offiziell als Verein aufgelöst. HAMAS-Anhänger betrachten Deutschland als Rückzugsraum, aus dem heraus sie die Mutterorganisation in Gaza finanziell und propagandistisch unterstützen, sie setzen in der Bundesrepublik jedoch selbst keine Gewalt ein und treten nicht militant auf. Zudem war erkennbar, dass die HAMAS-Szene in NRW mittlerweile sehr eingeschüchtert ist und nur noch sehr vorsichtig agiert. Der bisher sehr aktive Spendensammelverein Die Barmherzigen Hände e.V., der in Dortmund sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw 57 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 gemeldet war und die zweite Institution in NRW darstellte, die offene HAMAS-Bezüge erkennen ließ, wurde im August 2023 aus dem Vereinsregister gelöscht. Eine offene Thematisierung des Nahostkonflikts durch HAMAS-nahe Organisationen fand in Nordrhein-Westfalen somit quasi nicht statt. Die Furkan-Gemeinschaft Dortmund reagierte recht schnell in sozialen Medien wie Facebook und X auf die terroristischen Angriffe der HAMAS auf den Staat Israel. Dabei wurde das übliche Opfernarrativ bedient und die Angriffe als Akt der Selbstverteidigung dargestellt. Berichterstattungen über die HAMAS wurden als unwahr dargestellt. Auch Kanäle und Personen der Hizb ut-Tahrir (Islamische Befreiungspartei - HuT) haben sich zu den Vorfällen des Nahostkonflikts geäußert und dabei den Palästinensern ihre Unterstützung zugesichert. Am 29. Oktober 2023 wurde auf dem Kanal von Realität Islam (RI) ein Video mit dem Titel "Politik zwingt Moscheeverbände zu Solidarität mit Israel" veröffentlicht. Dort wurde die Verteidigung des israelischen Handelns durch den deutschen Staat thematisiert. Der Staat mache die Moscheeverbände zu Instrumenten, um die Muslime hierzulande besser steuern zu können. Den muslimischen Institutionen, Vereinen und Verbänden würde die volle Solidarität mit Israel aufgezwungen werden. Hierbei handle es sich um eine Erniedrigung und Dämonisierung der Moscheeverbände. Der Staat übe Druck aus, um die Assimilationsagenda voranzutreiben, die muslimische Community zu spalten und um die muslimischen Stimmen auszuschalten. Die islamische Position müsse aus diesem Grund von allen Muslimen weiter vertreten werden. Höhepunkt der HuT-Aktivitäten in NRW war eine pro-palästinensische Demonstration am 3. November 2023 in Essen. Hauptredner der Veranstaltung war ein prominenter Aktivist der HuT-nahen Gruppierung Generation Islam (GI). In seiner Rede beschrieb dieser unter anderem die aktuellen israelischen Angriffe als "Völkermord in seiner reinsten Definition". Zudem bezeichnete er Israel als "faschistisches Regime" und warf dem Staat Israel vor, "ethnische Säuberungen" zu begehen. Israel wolle "die Menschen in Gaza töten und sie vertreiben". Die Kundgebung war erkennbar durch die Ideologie der HuT geprägt. Auf der Demonstration wurde offen das Kalifat gefordert. Die Veranstaltung hatte damit eine deutliche islamistische Prägung. Unter anderem wurden die Parolen: "Eine Khalifa für Palästina", "Gaza bebt, die Ummah lebt!", "Muslime leiden, Herrscher schweigen" sowie "Es ist unser Kummer, wir sind eine Ummah" skandiert. Auf den von den Teilnehmern mitgeführten Plakaten war unter anderem "Eine Ummah, eine Einheit, eine Lösung - KHILAFAH" (Forderung nach dem Kalifat) und "Oh 58 sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 you Generals be the Salahuddin of this time" (Generäle muslimischer Staaten sollen sich wie Saladin verhalten und Jerusalem [für das Kalifat] erobern) zu lesen. GI war in NRW bis zu diesem Zeitpunkt noch nie offen in Erscheinung getreten. In NRW gab es bislang auch keine festen Organisationsstrukturen. Allerdings erreichte die Gruppierung mit ihren Auftritten in den sozialen Medien ein Publikum im mittleren fünfstelligen Bereich und wurde auch in NRW rezipiert. Die Demonstration stellte eine neue Qualität islamistischer Aktivitäten dar. Eine offene Forderung des Kalifats vor einem derart großen Publikum gab es seit Jahren nicht mehr. GI rief am 5. November 2023 zudem zu einem sogenannten Twitterstorm auf X (vormals Twitter) auf. Ein Twitterstorm ist ein Phänomen, bei dem eine große Anzahl von Menschen auf der SocialMedia-Plattform X zeitgleich über ein bestimmtes Thema diskutiert oder auf ein Ereignis reagiert, oft ausgelöst durch einen provokativen Tweet oder eine kontroverse Debatte. Diese Masse an Tweets kann eine Lawine an Reaktionen, Diskussionen und manchmal auch Kontroversen auslösen. Ein Twitterstorm kann die öffentliche Meinung beeinflussen und hat oft eine breite Sichtbarkeit, sowohl auf der Plattform selbst als auch in anderen GI ruft unter dem Hashtag #StaatsräsonTötet zum Twitterstorm auf. (sozialen) Medien. In dem Kommentar wurde der Bundesregierung von GI vorgeworfen, vermeintliche Verbrechen Israels aus Gründen der Staatsräson Deutschlands zu rechtfertigen. Der Twitterstorm richte sich gegen den vorgeblichen "Besatzungsgenozid in Palästina" und solle die von Medien und Politik angeblich verschwiegene Wahrheit über die Situation im Gaza-Streifen sichtbar machen. Der Aufruf zum Twitterstorm wurde von zahlreichen Gruppierungen geteilt, darunter auch Realität Islam. Hinsichtlich des Erfolges der Aktion war zu beobachten, dass das zugehörige Hashtag in den deutschsprachigen Interaktionen zum Konflikt auf X in der Zeit vom 5. bis zum 6. November 2023 eines der meistgenutzten Hashtags war. sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw 59 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Reaktionen im Linksextremismus Die Terroranschläge der HAMAS auf den Staat Israel erzeugten auch im linksextremistischen Spektrum Resonanz und Reaktionen. Die traditionellen Konfliktlinien im Linksextremismus wurden anhand des Konfliktes erneut sichtbar und zeigten die Spaltung in ein pro-palästinensisches und ein pro-israelisches Lager. Der Konflikt betrifft die sogenannten Antiimps (Antiimperialisten) und Antideutschen. Einige antiimperialistische, vorwiegend also internationalistisch und traditionskommunistisch ausgerichtete Gruppierungen, positionierten sich dabei traditionell palästinasolidarisch. Sie arbeiteten teilweise mit internationalistischen und palästinasolidarischen Zusammenschlüssen anderer Phänomenbereiche, wie Samidoun, "Palästina spricht" oder Young Struggle/Zora zusammen beziehungsweise hielten gemeinsame Veranstaltungen mit Themenbezug ab. Demgegenüber standen, als kleine Splittergruppen der linksextremistischen Szene, sogenannte Antideutsche, die sich aus einem historisch/ideologischen Kontext uneingeschränkt israelsolidarisch, teilweise darüber hinausgehend wegen der Interpretation der USA als "Schutzmacht" des Staates Israel auch proamerikanisch positionierten. Sowohl in der Vergangenheit als auch im aktuellen Nahost-Konflikt stellte sich der überwiegende Teil der linksextremistischen Szene klar gegen Antisemitismus. Dieser Teil lehnte sowohl das staatliche Agieren Israels (nicht zuletzt die israelische Siedlungspolitik), aber auch der palästinensischen Akteure (insbesondere derer mit religiöser Prägung wie die HAMAS), die das Bestandsrecht des Staates Israel infrage stellen (Losung "From the river to the sea, Palestine will be free"), ab. Im Zuge des Protestgeschehens war somit die Teilnahme von Gruppierungen und Einzelpersonen des linksextremistischen Spektrums an palästinaaber auch israelsolidarischen Veranstaltungen festzustellen. Eine pro-palästinensische Demonstration am 9. Oktober 2023 in Duisburg wurde auch von der mittlerweile verbotenen Gruppierung Samidoun unterstützt. Samidoun gilt als Vorfeldorganisation der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), bei der es sich um eine säkulare militant-palästinensische Organisation handelt, die in Deutschland insbesondere durch die Verbreitung israelfeindlicher Propaganda auffällt und Kontakte zu Teilen des deutschen Linksextremismus sowie der Boycott, Divestment and Sanctions-Bewegung (BDS) unterhält. BDS und PFLP werden vom Verfassungsschutz NRW als verfassungsfeindliche Organisationen bewertet, da sie das Existenzrecht Israels in Abrede stellen. 60 sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Aufruf auf Facebook zu einer Demonstration durch "Palästina-Solidarität Duisburg". Die oben genannte Versammlung wurde von der informellen Vereinigung Palästina Solidarität Duisburg organisiert. Hierbei handelt es sich um ein relativ neues Bündnis, welches seit Anfang 2023 bekannt ist. Als Organisator von Versammlungen der Gruppe trat mehrfach eine Person auf, die ursprünglich dem dogmatischen Linksextremismus/Marxismus-Leninismus zuzuordnen ist. In einem Instagram-Beitrag vom 9. November 2023 anlässlich des Gedenktages der Novemberpogrome äußerte die Gruppierung unter anderem: "Erinnern muss bedeuten, für alle zu kämpfen, die durch diese deutsche Kultur der aktiven Ignoranz getötet wurden und werden." Diese Aussage legte nahe, dass sich die Formulierung "diese deutsche Kultur" auf die Haltung der deutschen Politik zum Umgang mit Juden beziehungsweise mit Israel bezog. Die Palästina Solidarität Duisburg bezeichnete diese Kultur als "aktive Ignoranz" und äußert, dass dadurch Menschen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart getötet wurden. Auf diese Weise deutete die Gruppierung eine Parallele zwischen einer damaligen "aktiven Ignoranz" in Form der Ermordung von Juden während des nationalsozialistischen Holocausts und der heutigen aktiven Ignoranz, ausgedrückt durch die heutige Positionierung der deutschen Regierung an der Seite Israels im Krieg gegen die HAMAS, an. Dieser implizite Vergleich stellte eine Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus gegen Juden dar. sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw 61 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zudem sah die Palästina Solidarität Duisburg offenbar keinen Widerspruch zwischen ihrer stark israelfeindlichen Positionierung zum aktuellen Konflikt und dem Gedenken an jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Ausländische Nachrichtendienste und sonstige staatliche und staatsnahe Akteure Der terroristische Angriff der HAMAS auf den Staat Israel am 7. Oktober 2023 und die nachfolgende Eskalation des Nahostkonflikts sind von weitreichender weltpolitischer Bedeutung. Vor diesem Hintergrund wurden internationale Konfliktlinien zwischen diversen Staaten erneut deutlich; eine Ausweitung des Konflikts auf benachbarte Regionen unter Einbeziehung weiterer staatlicher Akteure scheint nach wie vor möglich und ist in Teilen bereits erfolgt. So kommt es immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem israelischen Militär und der Hizb Allah an der Nordgrenze Israels. Darüber hinaus griffen die Huthi-Rebellen aktiv in den Konflikt ein, indem sie die Region passierende Handelsschiffe mit Raketen beschossen. In der Folge mieden seit Ende 2023 viele Reedereien die entsprechenden Gebiete und die Passage durch den Suez-Kanal. Inzwischen hat sich unter Führung der USA die internationale Militärkoalition "Operation Prosperity Guardian" gebildet, um die Schifffahrt vor Ort zu schützen. In der Folge kam es im Dezember 2023 wiederholt zu Kämpfen zwischen den Huthis und Einheiten der Koalition. Wesentlicher Akteur hinter einer Vielzahl entsprechender gegen Israel sowie gegen Israel unterstützende Staaten gerichteter Angriffe war und ist die Islamische Republik Iran. Bereits unmittelbar nach den Terrorangriffen vom 7. Oktober 2023 bekundete Teheran seine Unterstützung für die HAMAS, wies jedoch eine direkte Beteiligung an dem Angriff zurück. Demgegenüber gilt allerdings als gesichert, dass Iran die HAMAS, die Hizb Allah oder auch die Huthi-Rebellen umfangreich finanziell und logistisch unterstützt und deren Aktivitäten so vielfach erst ermöglicht. Einendes Band zwischen den teils unterschiedlichen Gruppen ist der Kampf gegen Israel. In der Islamischen Republik Iran ist Antisemitismus nicht nur Teil der offiziellen Staatsräson. Neben den USA hat Iran Israel sowie seine Repräsentanten und exponierte Unterstützer zu seinen Feinden erklärt. Die Haltung Irans sowie seine Positionierung und Involvierung innerhalb des Nahost-Konflikts haben dabei auch Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland und NRW. Bereits seit einigen Jahren stehen (pro-)jüdische und (pro-)israelische Ziele in Deutschland im verstärkten Aufklärungsinteresse iranischer Nachrichtenund Sicherheitsdienste. Dabei besteht darüber hinaus die Gefahr, dass iranische oder von Iran beauftragte und gesteuerte Akteure auch mit gewalttätigen Mitteln gegen entsprechende Ziele vorgehen. Das Risiko von Iran ausgehender staats62 sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 terroristischer Anschläge steigt insbesondere bei eskalierenden Konfliktlagen - wie dem Nahostkonflikt - und ist daher gegenwärtig als erhöht zu bezeichnen. Im Rahmen des Nahost-Konflikts haben russische Stellen wiederholt versucht, eigene Narrative und Desinformation zu verbreiten, insbesondere, um die Ukraine zu diskreditieren. Bereits einige Tage nach den Terrorangriffen der HAMAS war in russischen Desinformationskanälen unter anderem unter Berufung auf ein BBC-Video behauptet worden, die HAMAS habe ursprünglich an die Ukraine gelieferte Waffen für den Angriff vom 7. Oktober 2023 genutzt. Dieses Video stellte sich inzwischen als Fälschung heraus. Entsprechende Narrative wurden auch von pro-russischen Akteuren in Deutschland aufgegriffen und auf Veranstaltungen zur Stimmungsmache genutzt. Sie zielten darauf, bei Politik und Bevölkerung die Unterstützungsbereitschaft gegenüber der Ukraine - zum Beispiel durch Waffenlieferungen - zu reduzieren. China versuchte, sich im Rahmen des Nahost-Konflikts als Vermittler und neutraler Friedensstifter zu positionieren und forderte einen sofortigen Waffenstillstand. Dabei machte die chinesische Regierung in öffentlichen Statements das vermeintliche Ignorieren des palästinensischen Rechts auf Eigenstaatlichkeit als Hauptursache für den Konflikt aus. Bereits in den vergangenen Jahren hatte China wiederholt für einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 und mit einer Hauptstadt Ostjerusalem plädiert. Im November 2023 bezeichnete Chinas Außenminister Wang China als "guten Freund und Bruder der arabischen und islamischen Welt." Auch die Türkei hatte sich unmittelbar nach den Terrorangriffen der HAMAS auf Israel als Vermittler ins Spiel gebracht. Zum Jahresende hin nahm die türkische Regierung und insbesondere der türkische Staatspräsident Erdogan jedoch eine scharfe propalästinensische Haltung unter Einbeziehung der Unterstützung der HAMAS ein. Präsident Erdogan bezeichnete Israel wiederholt als Terrorstaat, die HAMAS wird seitens der türkischen Regierung nicht als Terrororganisation, sondern als Freiheitsund Widerstandsbewegung angesehen. Dabei fallen staatliche türkische Akteure wie beispielsweise Vertreter der türkischen Religionsbehörde DIYANET wiederholt durch antisemitische Aussagen auf. Entsprechende Agitation kann mit Blick auf die große türkeistämmige Diaspora sowie insbesondere regierungsnahe oder ultranationalistische Personen und Organisationen Einfluss auf Haltungen, Stimmungen und Aktivitäten entsprechender Akteure in Deutschland und NRW entfalten. sonderthema: nahost-KonflIKt und auswIrKungen auf extremIstIsche szenen In nrw 63 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 64 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Antisemitismus antIsemItIsmus 65 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Antisemitismus Der Landtag von Nordrhein-Westfalen hat sich anlässlich der 80. Wiederkehr des Aufstandes im Warschauer Ghetto zur besonderen historischen Verantwortung für die Sicherheit jüdischen Lebens und jüdischer Kultur bekannt. Nordrhein-Westfalen ist die Heimat der größten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland mit rund 27.000 Jüdinnen und Juden. Dem Einsatz gegen Antisemitismus kommt vor diesem Hintergrund eine besondere Relevanz auch für die Arbeit des Verfassungsschutzes zu. Auch 78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist Antisemitismus nicht verschwunden. Vielmehr ist gegenwärtig wieder eine größere Sichtbarkeit zu konstatieren. Das Protestund Demonstrationsgeschehen als Reaktion auf den Krieg im Gaza-Streifen hat die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung sichtbar werden lassen. Deutlich wurde hier auch die Notwendigkeit einer Dunkelfeldstudie für Nordrhein-Westfalen, die antisemitische Vorurteile und Ressentiments in der Gesellschaft untersucht. Aus den Forschungsergebnissen sollen Handlungsempfehlungen für die NRW-Landesregierung abgeleitet werden. Der Verfassungsschutz kooperiert in beratender Funktion mit der Landesantisemitismusbeauftragten, die diese Studie in Auftrag gegeben hat. Als Reaktion auf den terroristischen Angriff der HAMAS und der darauffolgenden Resonanz in NRW hat die Landesregierung einem 10-Punkte-Plan gegen Antisemitismus beschlossen. Dieser beinhaltet auch die Erweiterung des Beratungsangebots des Präventionsprogramms Wegweiser um eine Online-Komponente. Antisemitismus-Definition Um Antisemitismus wirksam bekämpfen zu können, ist es notwendig, das Phänomen zu allererst zu erkennen und zu benennen. Die Landesregierung orientiert sich an der sogenannten IHRA-Arbeitsdefinition (International Holocaust Remembrance Alliance) von Antisemitismus. Im Mai 2016 verabschiedete das Plenum der IHRA diese Arbeitsdefinition auf eine deutsch-rumänische Initiative hin in Bukarest. Sie wurde von der Bundesregierung am 20. September 2017 durch Kabinettbeschluss verabschiedet. Damit hat die Bundesregierung die Grundlage für ein gemeinsames Verständnis von 66 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Antisemitismus auf nationaler Ebene gelegt. In dieser Definition sind Kriterien für einen israelbezogenen Antisemitismus abgebildet: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." Die Bundesregierung hat außerdem folgende Erweiterung verabschiedet: "Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." Insbesondere hinsichtlich der Konkretisierung bezüglich eines israelbezogenen Antisemitismus können die 2004 vom European Monitoring Center on Racism and Xenophobia ausbuchstabierten fünf Anwendungsmerkmale herangezogen werden: > Aberkennung des Existenzund Selbstbestimmungsrechts Israels, > Vergleich beziehungsweise Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus, > Anlegen anderer Maßstäbe an Israel als an andere Länder, > Verantwortlichmachen von Juden aus aller Welt für das Regierungshandeln Israels, > Bezugnahme auf Israel oder Israelis mit antisemitischen Bildern, Symbolen oder Floskeln. Eine weitere Möglichkeit, israelbezogenen Antisemitismus zu identifizieren, besteht in der Verwendung des sogenannten 3-D-Test: Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards gegen Israel. Die Grenze der Kritik israelischen Regierungshandelns ist dann überschritten, wenn beispielsweise Israel als Kindermörder bezeichnet wird, seine Existenz in Frage gestellt wird oder Kriterien angelegt werden, die in vergleichbaren Situationen bei anderen Staaten nicht angewandt werden. Antisemitismus ist eine phänomenübergreifende Erscheinung. Im Folgenden werden die Erscheinungsformen des Antisemitismus im Jahr 2023 im Kontext extremistischer Bestrebungen dargestellt. Die Reaktionen auf den Krieg im Gaza-Streifen nach dem 7. Oktober 2023 werden in dem Sonderkapitel "Nahost-Konflikt und Auswirkungen auf extremistische Szenen in NRW" beschrieben. antIsemItIsmus 67 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Rechtsextremismus Antisemitismus als pauschale Judenfeindschaft kommt im Rechtsextremismus in verschiedenen Varianten vor. Im Rechtsextremismus wird vor allem ein rassistischer Antisemitismus vertreten, wie ihn die Nationalsozialisten propagierten. Seit 1945 entwickelt sich ein sekundärer Antisemitismus, der sich durch Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr auszeichnet. Dieser lässt sich pointiert mit folgender Aussage zusammenfassen: "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen." Ebenfalls tritt ein auf den Staat Israel bezogener Antisemitismus hinzu. Dabei werden antisemitische Stereotype auf Israel projiziert. Offener Antisemitismus mit positiven Bezügen auf den historischen Nationalsozialismus spielt im Rechtsextremismus vor allem im Neonazismus weiterhin eine bedeutsame Rolle. Eine solche neonazistische Weltanschauung mit antisemitischen Positionen findet man neben der Neonaziszene in NRW vor allem in der Partei Die Heimat (ehemals NPD), den Parteien Die Rechte und Der III. Weg sowie der revisionistischen Szene. Auch in der heterogenen Reichsbürgerszene greifen einige Akteure auf antisemitische Motive und Narrative zurück. So wird die Bundesrepublik als Instrument einer vermeintlichen jüdischen Beherrschung Deutschlands dargestellt. Klassische antisemitische Positionen sind in der Öffentlichkeit weitgehend stigmatisiert. Deswegen äußern sich neuere rechtsextremistische Akteure, die die öffentliche Ausgrenzung als Rechtsextremisten vermeiden wollen, in der Regel nicht zu Juden oder Israel. Die Partei Der III. Weg sieht sich in der ideologischen Nachfolge der NSDAP und baut das Parteiprogramm auf dem historischen Nationalsozialismus mit seinen antisemitischen Leitbildern auf. Ferner macht die Partei regelmäßig das Gedenken an den Holocaust in der deutschen Zivilgesellschaft, Medien, Bildung und Politik verächtlich. So fordert sie vehement ein Ende des "Schuldkultes", dessen erklärtes Ziel es sei, Deutschland mittels "Arisierungs-Mahnmälern" von einem Lebensraum für Deutsche in eine "Erinnerungslandschaft" zu verwandeln. Auf ihrer Internetseite agitierte die Partei wiederholt und fortwährend gegen den Staat Israel. Regelmäßig wurden in der Vergangenheit die Beiträge mit einem blutverschmierten Davidstern und der Aufschrift "Terrorstaat Israel" als Headline versehen. Inhaltlich wurde dem Staat Israel eine Finanzierung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, die Durchführung eines Genozides im Gazastreifen sowie eine Vorreiterund führende Rolle einer sogenannten "Impfdiktatur" während der Corona-Pandemie vorgeworfen. 68 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Inhalte des Telegram-Chats "Feuerkrieg Division" orientierten sich an neueren rechtsextremistischen Strömungen, die vor allem aus den USA stammen. Dieses sind unter anderem das Huldigen von Attentätern, die sogenannte SIEGE-Culture sowie die Incel-Szene. Den genannten Szenen ist gemeinsam, dass sie eine starke antisemitische Ausrichtung innehaben und letztlich eine jüdische Weltverschwörung für angebliche Untergangsund Überfremdungsszenarien verantwortlich machen. Im Ergebnis kennen diese Ideologien nur Gewaltverbrechen - oftmals gegen Menschen jüdischen Glaubens oder mit Migrationshintergrund - als Ausweg aus diesen Untergangsszenarien. Die Durchführung von Amokläufen mit möglichst vielen Opfern wird glorifiziert und als ultimative Erlösung für den Täter angesehen. Aus diesen Szenen bedienten sich Chatteilnehmer ideologischer Versatzstücke, die in Form von kommentierten Bildern ("Memes") und Aussprüchen in die Chatverläufe einflossen. Reichsbürger und Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates In der Szene der Delegitimierer wurden im Berichtszeitraum vielfach Verschwörungserzählungen verbreitet. Zum Teil waren diese antisemitisch aufgeladen. Insgesamt wurde der Nahost-Konflikt in der Reichsbürgerund Selbstverwalter-Szene zwar nur in relativ geringem Maße thematisiert. Insbesondere in den sozialen Medien war aber feststellbar, dass mittels Verbreitung antisemitischer Narrative, häufig auch getarnt in neuen Gewändern (zum Beispiel "Westküsten-Adel"), von einer vermeintlichen "jüdischen Weltverschwörung" ausgegangen wird. Diese Narrative haben die Existenz von heimlichen Mächten, welche die Geschicke der Welt im Hintergrund lenken würden, zum Inhalt. Das Zeitgeschehen wurde auch im letzten Jahr nur als Anlass genutzt, antisemitische Verschwörungsmythen zu verbreiten. So äußerte sich am 3. November 2023 die Gruppierung Staats-Simulation aus Anlass der Sendung von "Markus Lanz" vom 1. November 2023. Staats-Simulation ist der Reichsbürgerszene zuzuordnen. Thematisiert wurden beispielsweise immer wieder verschiedene Verschwörungsmythen über sogenannte "Reptiloiden" oder dubiose Schattenmächte. Darüber hinaus teilte Staats-Simulation antisemitische und fremdenfeindliche Inhalte. Im Fokus des Posts stand die reichsbürgertypische Argumentation, die Bundesrepublik Deutschland sei kein souveräner Staat und die deutsche Politik würde von den "Amerikanischen Zionisten" vorgegeben. Begriffe wie "Firma Bundeswehr", "Verwaltungsfirma" oder "private Firmen" wurden über den gesamten Post gestreut, um die Bundesrepublik als konstruiertes Staatsgebilde zu diffamieren, welches illegalerweise versuche, sich die unterdrückten Bürger für seinen selbstheraufbeschworenen Konflikt zunutze zu machen. Ganz im Duktus der "jüdischen Weltverschwörung" hätten Benjamin Netanjahu als Ministerpräsident Israels und die israelfreundlichen USA die ganze UNO unter ihrem Kommando und würden antIsemItIsmus 69 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 ihre Macht für den Kampf gegen ihre persönlichen Gegner wie Russland oder aktuell die HAMAS ausnutzen. Die Erbengemeinschaft Jakob e.V. schreibt sich nach außen hin den Kampf gegen den Antisemitismus auf die Fahne. Entgegen dieser Darstellung wurde jedoch der Begriff des Antisemitismus vom Verein instrumentalisiert, um Presseberichte oder staatliche Maßnahmen wie Corona-Impfungen etc. als solche zu diffamieren, die gezielt gegen den Verein und seine Mitglieder als "Nicht-Juden" eingesetzt würden. Unter anderem die Räumung des Vereinssitzes in Harsewinkel durch die Kommune im Jahr 2021 wurde entsprechend als "Anschlag" eines korrupten Systems dargestellt. Verschwörungsideologien rund um die Familie Rothschild wurden ebenso propagiert. Der Chat-Kanal der Online-Gruppierung Freie Nordrhein Westfalen fiel hinsichtlich deutlicher antisemitischer Äußerungen bis hin zu einer Holocaustleugnung auf. So postete ein Nutzer am 16. September 2023 ein Video aus dem Kanal "Deutschland kämpft - PY" mit Aussagen wie "Der Holocaust ist die größte und schwärzeste Lüge der Geschichte" oder "Juden sind blutrünstige kriminelle Vampire". Eine Einordnung und/oder eine kritische Reaktion von anderen Mitgliedern des Kanals fand bei den beobachteten Postings dieser Art grundsätzlich nicht statt. Derartige ideologische Auffassungen werden in der Gruppierung geduldet werden oder machen sogar ihr ideologisches Fundament aus. Dies wird durch ein weiteres Posting des Kanals untermauert, in dem ein konkreter Bezug zwischen Judentum und der Covid-19-Pandemie hergestellt wurde. In der Auffassung des Kanalbetreibers waren die Juden Auslöser einer sogenannten "Covid Agenda", die zur Unterjochung der Weltbevölkerung dienen soll. Der Kanal Freie Nordrhein Westfalen hat sich von seiner anfangs kritischen Ausrichtung gegenüber den staatlichen Maßnahmen während der Corona-Pandemie hin zu einem virtuellen Sammelbecken von Antisemiten, Rechtextremisten und Verschwörungsgläubigen entwickelt. Deutlich wurde dies auch durch den Repost eines Videos des Dortmunder Kreisverbandes der Partei Die Heimat. In diesem wurde der Ausschluss eines Ratsmitgliedes dieser Partei mit seiner Bekundung einer pro-palästinensischen Haltung in Verbindung gebracht. Am 8. November 2023 wurde das Video von der rechtsextremistischen Gruppierung Freie Nordrhein-Westfalen auf deren Telegram-Kanal repostet. Die Freien Nordrhein-Westfalen positionierten sich seit Beginn des Konfliktes auf ihrem Telegram-Kanal eindeutig pro-palästinensisch sowie pro-HAMAS. Dies entsprach der allgemeinen antisemitischen Agenda, die die Gruppierung auf ihrem Telegram-Kanal bereits vorher verbreitete. In einem weiteren Post auf Telegram vom 8. November 2023 wurde die Unterstützung Deutschlands für Israel 70 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 kritisiert. Es fände eine Täter-Opfer-Umkehr statt. In dem Zusammenhang wurden Geburtstagsgrüße an die bekannte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck übermittelt. Antisemitismus im Islamismus Alle islamistischen Strömungen lassen seit jeher eine strikte Ablehnung des Staates Israel erkennen und sind deutlich durch einen starken Antisemitismus geprägt. Militante Aktionen wurden im Berichtsjahr zum Teil auch von jenen Akteuren befürwortet oder zumindest relativiert, die dem legalistischen Islamismus zuzurechnen sind. In NRW waren im schiitisch-extremistischen Spektrum auf den Nahostkonflikt nur wenige Reaktionen feststellbar. In einem Beitrag im "Muslim-Forum" vom 8. Oktober 2023 wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit "Palästina eine neue Front im Dritten Weltkrieg" darstelle. Inhaltlich setzte sich der Beitrag mit den "zionistischen Besatzern" und dem Recht der "Unterdrückten" auf Widerstand auseinander. Kritisiert wurde unter anderem, dass die komplette Vorgeschichte des Konfliktes ausgeklammert werde und die HAMAS aus Sicht des Westens die Terroristen seien. Die Kriegsverbrechen Israels würden dabei komplett ignoriert. In der Thematisierung des Nahostkonfliktes wurden antisemitische Klischees verwendet, die die Juden pauschal als Aggressoren und Unterdrücker und die Muslime als Opfer von deren Aggression darstellen. Sie dienten häufig zur Rechtfertigung der gegen Juden und/oder Israel gerichteten Gewalt. Diese Klischees reichten vom Vorwurf des subversiven Wirkens der Juden seit den Anfängen des Islam über die Unterstellung einer weltweiten Verschwörung der Juden, die sich vor allem gegen Muslime richte, bis hin zu Vernichtungsphantasien gegen den Staat Israel. Hierbei handelte es sich um Stereotype, die auch unabhängig von konkreten tagesaktuellen Ereignissen zur Propaganda genutzt wurden. Bereits vor dem 7. Oktober 2023 schrieb eine Person mit Bezügen zur Muslimbruderschaft, die früher eine leitende Stellung in einem Moscheeverein hatte, in Bezug auf Palästina: "Gott festige unsere Position und verleihe uns den Sieg über die Ungläubigen". Innerhalb des heterogenen Spektrums islamistischer Bestrebungen konnte man drei Hauptarten von Antisemitismus bei Islamisten nennen: den "klassischen" Antisemitismus, der überwiegend europäischen Diskursen entstammt, aber in einen islamischen Kontext gestellt wurde, den sich als Antizionismus darstellenden Antisemitismus und einen auf die Vernichtung Israels zielenden Antisemitismus, der sich ebenfalls als Antizionismus darstellte. Ein in NRW wohnhafter Funktionär der islamistischen Saadet Partisi, die dem Beobachtungsobjekt Milli Görüs-Bewegung zuzurechnen ist, äußerte im Internet, dass sich jeder muslimische Jugendliche zionistischen Projekten wie MaßantIsemItIsmus 71 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 nahmen gegen den Klimawandel oder der Geschlechtergleichstellung widersetzen müsse. Außerdem müsse man vermeintlichen zionistischen Pläne zur Umgestaltung des Nahen Ostens entgegentreten. Ein Kennzeichen des modernen islamistischen Antisemitismus war auch der Versuch, diesen mit Belegen aus dem Koran oder der Sunna religiös zu legitimieren und damit als einen vermeintlich konstitutiven Bestandteil des Islam erscheinen zu lassen. Linksextremismus Antisemitismus zeigte sich in allen Phänomenbereichen des Extremismus - auch im Linksextremismus. Klassischer Antisemitismus gehört zwar gegenwärtig nicht zum Kernbestand von linksextremistischen Ideologien. Varianten des Antisemitismus weisen aber Anschlussfähigkeit zu einigen linksextremistischen Strömungen auf, beispielsweise zum Antiimperialismus. Dazu zählt der israelbezogene Antisemitismus, auf den alle Extremismen zugreifen. Die Aggression gegen Menschen jüdischen Glaubens äußerte sich im Linksextremismus im Berichtsjahr stellvertretend auf dem Umweg einer stigmatisierenden Thematisierung des Staates Israel. Dies zeigte sich durch die Dämonisierung des Staates Israels anhand traditionell antisemitischer Stereotype ("Kindermörder", "künstliches Gebilde", "Macht über Politik und Medien weltweit"), der Übertragung von Verantwortlichkeit auf Menschen jüdischen Glaubens für Handlungen der israelischen Regierung oder die grundsätzliche Leugnung des Rechts von jüdischen Menschen auf nationale Selbstbestimmung. Der Großteil der Akteure im Linksextremismus positionierte sich gegen jeden Antisemitismus. Dennoch erreichten einige Akteure mit Bezügen zum Antiimperialismus in ihren Verlautbarungen die Grenze eines israelbezogenen Antisemitismus (MLPD, DKP, SDAJ, Teile der Linksjugend [keine einheitliche Position in den Ortsgruppen] und wenige Einzelakteure beziehungsweise Kleinstgruppen aus dem Spektrum der Autonomen). Dieser war allerdings weniger deutlich ausgeprägt als in anderen Phänomenbereichen. Eine offene Ablehnung von Menschen jüdischen Glaubens war im Linksextremismus nicht feststellbar. Gleichwohl berichteten solche Gruppen oft mit negativ konnotierten Formulierungen einseitig über den Staat Israel ("Staatsterror", "Apartheidscharakter", "rassistische Säuberungen" oder "zionistische Aggression") und zeigten keine Bereitschaft zur Reflexion über eine antisemitische Lesart der eigenen Positionen oder dadurch generierte Unterstützung für antisemitische Bestrebungen. Solche Gruppen oder Einzelpersonen beteiligten sich in geringem Umfang an Versammlungen, bei denen es zu antisemitischen Vorfällen kam. 72 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Deutlich wurde dies insbesondere in Reaktionen auf den Krieg im Gaza-Streifen nach dem 7. Oktober 2023. In dem Sonderkapitel "Nahost-Konflikt und Auswirkungen auf extremistische Szenen in NRW" wird hierauf näher eingegangen. Antisemitismus im auslandsbezogenem Extremismus Antisemitismus kommt im auslandsbezogenen Extremismus vorrangig im türkischen Rechtsextremismus bei der Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe) vor. Die Ideologie der Grauen Wölfe ist von einem übersteigerten Nationalbewusstsein und einer Überhöhung der türkischen Ethnie bei gleichzeitiger Herabwürdigung anderer Volksgruppen geprägt. Zu den erklärten Feinbildern gehören unter anderem Armenier, Kurden und Juden. Generell werden alle als Feinde bewertet, die türkischen Interessen im Wege stehen (Freund-Feind-Denken). Antisemitismus ist grundlegender Bestandteil der ideologischen Ausrichtung der Ülkücü-Bewegung. Den Juden fällt als "heimlicher Feind aller Völker" eine negative Sonderstellung zu. Bereits Hüseyin Nihal Atsiz beschrieb die Juden als Feinde des türkischen Volkes. Atsiz ist ein Vordenker der Ülkücü-Ideologie und wird nach wie vor in der Ülkücü-Bewegung hoch verehrt. Der Antisemitismus wird mit historisch geprägten Interpretationen und biologischen Minderwertigkeitszuschreibungen begründet. Hinzu kommt ein Antizionismus, der sich durch die einseitige Parteinahme für Belange der Palästinenser manifestiert. Unter den Grauen Wölfen wurde Antisemitismus im Berichtsjahr in unterschiedlich starker Ausprägung nach außen getragen. Während in den vereinsgebundenen Strukturen, also in den Dachverbänden Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V. (Almanya Demokartik Ülkücü Türk Dernekleri Ferdasyonu - ADÜTDF), Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (Avrupa Türk Islam Kültür Dernekleri Birligi - ATIB) und Föderation der Weltordnung in Europa (Avrupa Nizam-i Alem Federasyonu - ANF) offen antisemitische Propaganda eher vermieden wurde, wurden in der freien Szene rassistische und antisemitische Feindbilder offen thematisiert. Die freie Szene der Ülkücü-Bewegung ist nach wie vor im digitalen Raum sehr aktiv. Von Anhängern der Ülkücü-Ideologie wurden im Berichtszeitraum vielfach antisemitische Postings geteilt und zustimmend kommentiert. Im Zusammenhang mit dem terroristischen Angriff der HAMAS auf den Staat Israel konnten Solidaritätsbekundungen mit Palästina in den sozialen Medien verzeichnet werden. In den Kommentarspalten wurde eine deutlich antiisraelische Haltung eingenommen und der Angriff der HAMAS teilweise als eine begründete und folgerichtige Handlung bewertet. Palästina habe das Recht, sein eigenes Land zu schützen. In diesem Zusammenhang wurde auch das Verhalten des Westens kritisiert und ihm Heuchelei und Doppelmoral antIsemItIsmus 73 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 vorgeworfen, da der Umgang mit dem palästinensischen Volk als Menschenrechtsverletzung und Kriegsverbrechen erachtet wurde, die jedoch vom Westen und insbesondere Deutschland nicht als Solche wahrgenommen würden. Durch einen Vergleich mit dem Ukrainekrieg wurde versucht, eine undifferenzierte Verhaltensweise des Westens in Konfliktlagen darzustellen, die auf einer Islamfeindlichkeit des Westens beruhe. Darüber hinaus wurden häufig Beiträge geteilt, die den Staat Israel mit dem Unrechtsstaat des Dritten Reiches verglichen. Prävention Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus war ein wesentlicher Bestandteil von Aufklärungsveranstaltungen des Verfassungsschutzes. Im Rahmen der Aussteigerprogramme erfolgte eine Aufarbeitung antisemitischer Einstellungen je nach individueller Ausprägung bei den Klienten. Nicht zuletzt besitzt der Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausprägungen in den extremistischen Szenen auch die Funktion eines Brückenthemas. Die Judenfeindschaft wurde in ihren unterschiedlichen Ausprägungen in allen Aufklärungsveranstaltungen zum Thema Rechtsextremismus eingehend thematisiert. An den Veranstaltungen beteiligte sich der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz auch gemeinsam mit Kooperationspartnern wie der Landeszentrale für politische Bildung. Praktisch alle Aufklärungsveranstaltungen zum Thema Rechtsextremismus gingen somit auf das Thema Antisemitismus ein. Die Veranstaltungen erfolgten bezogen auf die Zielgruppen auch in Kooperation mit externen Partnern. So wurden Sensibilisierungsveranstaltungen für Beschäftigte von Justiz und Polizei in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Interkulturelle Kompetenz der Justiz NRW und den Extremismusbeauftragten der Kreispolizeibehörden durchgeführt. Auf Einladung von Schulen und Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung wurden Vorträge und Workshops für pädagogische Fachkräfte/Lehrkräfte und Jugendliche angeboten. Als Reaktion auf die zunehmende Relevanz von Verschwörungsmythen im Zuge der Pandemie besteht seit Ende 2020 ein spezielles Vortragsangebot, bei dem explizit auch Antisemitismus angesprochen wird.Die Zielgruppe Jugendliche und junge Erwachsene wird zudem seit 2014 mittelbar über das Projekt VIR angesprochen. Hierbei handelt es sich um ein Qualifizierungskonzept für Interessierte zu Trainerinnen und Trainern, damit diese Jugendliche und junge Erwachsene bei der Distanzierung von rechtsextremistischen Einflüssen unterstützen. 74 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Mit Informationen über aktuelle Entwicklungen islamistischer Szenen richtete sich der Verfassungsschutz entsprechend seines gesetzlichen Auftrages unter anderem in Form von Vortragsveranstaltungen an die Öffentlichkeit, an Politik sowie an Fachkräfte aus allen Tätigkeitsfeldern. Dies erfolgt seit dem Jahr 2019 beispielsweise in den Bereichen Schule, Jugendund Sozialarbeit, Polizei und Justiz sowie in Unternehmen. Jede Veranstaltung im vergangenen Jahr war auf die jeweilige Zielgruppe sowie die Zielsetzung der Veranstaltung zugeschnitten und wurde in unterschiedlichen Formaten, zum Beispiel Vorträgen, durchgeführt. Da der Antisemitismus fester Bestandteil der islamistischen Ideologie ist, wurde das Themenfeld in jeder Veranstaltung aufgegriffen. Das Ministerium des Innern koordiniert und finanziert das Landespräventionsprogramm "Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus". Dieses richtet sich vorwiegend an Jugendliche und junge Erwachsene, welche in den Islamismus abzurutschen drohen, und an deren Umfeld. Die 24 zivilgesellschaftlichen oder kommunal getragenen Wegweiser-Beratungsstellen behandeln vor Ort im Rahmen von Sensibilisierungsveranstaltungen und Workshops für Schülerinnen und Schüler sowie für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren (zum Beispiel Lehrkräfte) verschiedene ideologische Aspekte im Islamismus wie den Antisemitismus. Diese Beratungsarbeit hat das Ziel, den Unterschied zwischen politischen Haltungen und Antisemitismus im Islamismus deutlich zu machen. Die Beratungsstellen vermitteln eine auf Demokratie und Toleranz basierende Haltung. Sofern in Einzelfällen antisemitische Einstellungen festgestellt wurden, wurden diese mit den Klientinnen und Klienten thematisiert und aufgearbeitet. Seit dem 15. November 2023 sind die Beraterinnen und Berater von Wegweiser für Ratsuchende auch online per Chat erreichbar. Die Bereitstellung der OnlineKomponente von Wegweiser als Präventionsprogramm gegen Islamismus wurde auch als ein Teil des 10-Punkte-Plans der Landesregierung gegen Antisemitismus vorgestellt. antIsemItIsmus 75 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 76 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Rechtsextremismus rechtsextremIsmus 77 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zusammenfassung Die rechtsextremistische Szene versuchte 2023 Krisen und Proteste zu nutzen, um ihre menschenund demokratieverachtende Agenda zu verbreiten. Der nach den Terroranschlägen der HAMAS gegen den Staat Israel wieder aufgeflammte NahostKonflikt und auch die Bauernproteste Ende 2023 griff die Szene auf. Auch wenn die Rechtsextremisten in den meisten Fällen das Protestgeschehen nicht dominierten, nimmt eine Abgrenzung zum Rechtsextremismus in Teilen der Protestszene ab. Terroranschläge der HAMAS und israelische Bodenoffensive Die rechtsextremistische Szene reagierte intensiv auf die Eskalation des NahostKonflikts in den Sozialen Medien, allerdings kaum in Form von Versammlungen oder Straftaten. Mehrheitlich unterstützten Rechtsextremisten die Palästeninser beziehungsweise die HAMAS. Diese Unterstützung ist antisemitisch motiviert und zeigt sich in der Ablehnung der Existenz des Staates Israel. Rechtsextremisten aus der Strömung der Neuen Rechten thematisierten allerdings pro-palästinensische Kundgebungen in Deutschland oder warnten vor Migration aus dem Nahen Osten, um fremdenfeindliche Botschaften zu transportieren. Entgrenzung Insbesondere die Neue Rechte, versucht fremdenfeindliche und autoritäre Argumente im politischen Diskurs zu "normalisieren" und somit anschlussfähig für breitere Teile der Gesellschaft werden. Mit der Jungen Alternative Landesverband Nordrhein-Westfalen und dem völkisch-nationalistischen Personenzusammenschluss innerhalb der AfD, ehemals Flügel gibt es zwei Personenzusammenschlüsse innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD), die dort eine entsprechende Agenda verbreiten und anderen rechtsextremistischen Gruppierungen, wie zum Beispiel der Identitären Bewegung oder dem Institut für Staatspolitik, ein Forum bieten. Radikalisierung Ein anderer Teil der rechtsextremistischen Szene möchte die freiheitliche demokratische Grundordnung offensiv bekämpfen, auch unter Anwendung von Gewalt. In einem von Widerstandsund Bürgerkriegsrhetorik geprägten Umfeld haben sich in den vergangenen Jahren mehrfach rechtsterroristische Strukturen oder allein handelnde 78 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Täter entwickelt. Oftmals handelt es um allein handelnde Täter oder Kleinstgruppen. Dabei hat sich die Bandbreite der Tätertypen vergrößert. Schwere Straftaten lassen sich immer weniger einem bestimmten rechtsextremistischen Akteur oder einer Szene zuordnen. Ein Teil der Tatverdächtigen ist zuvor kaum oder überhaupt nicht durch rechtsextremistische Aktivitäten aufgefallen. Das Zusammenwirken von Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Delegitimierern in terroristischen Gruppierungen zeigt, dass sich Teile der verschiedenen extremistischen Szenen, trotz ideologischer Differenzen, gleichsam im Widerstand sehen und deshalb schwere Gewalttaten als notwendig und gerechtfertigt erachten. Virtualisierung Der Rechtsextremismus nutzt die Möglichkeiten des Internets zur Verbreitung von Propaganda, zur Mobilisierung sowie zur Vernetzung und Organisation. Ein besonderes Problem dabei stellt die Radikalisierung von Jugendlichen dar, die täglich in geschlossenen Foren und Gruppen interagieren, in denen die Teilnehmer sich in ihrem Hass auf rechtsextremistische Feindbilder anstacheln und Gewalt befürworten. Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürger und Selbstverwalter leugnen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und versuchen die Handlungsfähigkeit des Staates zu beeinträchtigen Bei Protestgeschehen wirken Reichsbürger vielfältig mit. Das Verbreiten von Verschwörungsmythen kann zu einer Verunsicherung der Bevölkerung beitragen. Von einzelnen Reichsbürgern geht ein erhebliches Gefahrenpotenzial aus. Dies umfasst auch die Bildung terroristischer Vereinigungen. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y rechtsextremIsmus 79 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Fokus: Verbotsverfahren gegen rechtsextremistische Organisationen Als Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik wurde die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gründungszeit von den damaligen Politikern als Wehrhafte Demokratie konzipiert. Die Wehrhafte Demokratie ist von der Idee getragen, dass der demokratische Rechtsstaat seine Abschaffung nicht toleriert. Das bedeutet unter anderem, dass dieser in rechtsstaatlichen Verfahren die Freiheiten seiner extremistischen Gegner beschneiden darf. Vereinsverbote sind ein probates Mittel und Ausdruck der wehrhaften Demokratie. Die Vereinigungsfreiheit ist nach Artikel 9 Grundgesetz grundrechtlich geschützt. Allerdings macht das Grundgesetz eine wichtige Einschränkung. Nach Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz und in Verbindung mit dem Vereinsgesetz sind "Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, [...] verboten". Zuständig für ein Verbot von länderübergreifend tätigen Vereinigungen ist das Bundesinnenministerium. Bei Vereinigungen, die nur in einem Bundesland agieren, sind die Landesinnenministerien zuständig. Die Verfassungsschutzbehörden liefern im Vorfeld oftmals Erkenntnisse, die als Grundlage für die Verbotsmaßnahmen dienen. Aktuelle Verbotsverfahren In den vergangenen Jahrzehnten haben die Innenministerien immer wieder das Mittel des Vereinsverbotes genutzt, um rechtsextremistische Aktivitäten einzudämmen. 2023 verbot das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) zwei rechtsextremistische Vereinigungen: die Hammerskins Deutschland und die Artgemeinschaft. Das BMI begründete das Verbot der Hammerskins Deutschland am 24. Juli 2023 damit, dass die Vereinigung bezwecke, ihre rechtsextremistische Weltanschauung auszuleben und zu verfestigen. Dies erfolgte insbesondere durch Konzertveranstaltungen. Dabei wurden auch Nichtmitglieder mit rechtsextremistischem Gedankengut konfrontiert, ideologisiert und radikalisiert. Von den 28 Adressaten des Verbots haben vier Personen ihren Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen. 80 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Beim Verbot der Artgemeinschaft war ausschlaggebend, dass die sektenartig agierende rassistische und antisemitische Vereinigung die aktive Vermittlung einer in weiten Teilen an den Nationalsozialismus angelehnten Ideologie betrieb. Eine besondere Rolle spielte dabei die manipulativ indoktrinierende Erziehung ihrer Kinder und der Vertrieb entsprechender Literatur. Das Verbot wurde am 27. September 2023 vollzogen. In der Verbotsverfügung benennt das BMI 39 Vereinsmitglieder, die Ziele und Zwecke der Vereinigung vorangetrieben haben, darunter vier Personen aus NordrheinWestfalen. Fortführung einer verbotenen Vereinigung Trotz eines Verbotes versuchen einige Rechtsextremisten, Ersatzorganisationen zu bilden oder bestehende Organisationen als Ersatzorganisationen fortzuführen. Dies ist strafbar. Beispielsweise verbot das BMI im Januar 2020 die Vereinigung Combat 18. Unter den sieben Adressaten der Verbotsverfügung war ein Rechtsextremist aus Nordrhein-Westfalen. Nachdem die ehemalige Führungsperson und weitere ehemalige Mitglieder die verbotene Vereinigung fortsetzten, erfolgten im April 2022 umfangreiche Durchsuchungsmaßnahmen der Polizei. Davon waren zwei nordrhein-westfälische Rechtsextremisten betroffen. Folgen Verbote schränken rechtsextremistische Organisationen in ihren Aktionsmöglichkeiten ein. Die verbotenen Vereinigungen dürfen nicht mehr für sich werben, was die mögliche Rekrutierung und Indoktrinierung neuer Anhänger erschwert. Zudem werden mit den Verboten auch die Strukturen und die wirtschaftliche Basis der rechtsextremistischen Vereinigungen zerschlagen. Die Auflösung von Szenetreffpunkten erschwert es, die Aktivitäten fortzuführen und den Zusammenhalt der Mitglieder aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus zeigen Verbote eine abschreckende Wirkung und verunsichern die Szene. Bestenfalls wenden sich potenzielle Anhänger ab und ein Teil der von einem Verbot Betroffenen stellt seine rechtsextremistischen Aktivitäten ein. Zugleich ist die Wirkung von Vereinigungsverboten aber auch begrenzt. Sie wirken nicht auf die Einstellungen der Mehrzahl der Anhänger und Sympathisanten. Ferner können Verbote nicht intendierte Nebenwirkungen begünstigen. Manche Betroffene und das Umfeld fühlen sich durch die repressiven Maßnahmen und die damit einhergehende öffentliche Aufmerksamkeit in ihrer Bedeutung sogar gestärkt und setzen die Aktivitäten mit gestärktem Selbstwertgefühl fort. rechtsextremIsmus 81 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Verbote in den vergangenen Jahren haben in Teilen des Rechtsextremismus zu Lerneffekten geführt. So entwickeln einige rechtsextremistische Strategen Organisationsstrukturen, mit denen sie sich nicht strafbar machen und die sich Verboten als Ersatzorganisation entziehen. Als das Innenministerium Nordrhein-Westfalen 2012 die vier aktivsten neonazistischen Kameradschaften verbot, gründeten die führenden Neonazis den Landesverband der Partei Die Rechte, um ihre neonazistischen Aktivitäten unter dem Schutz des Parteienprivilegs fortzusetzen. Da es dem Landesverband aber zunehmend an Mitgliedern mangelte, die sich für Parteiarbeit interessieren, löste er sich Anfang 2023 auf. Kommunikation von Verboten Die Innenministerien kommunizieren vor dem Vollzug nicht öffentlich über Verbote. Denn dies würde den betroffenen Rechtsextremisten ermöglichen, sich auf die Folgen einzustellen. Allerdings wird der Vollzug offensiv kommuniziert. Denn ein Zweck des Verbotes ist, die entsprechende Vereinigung als demokratiefeindlich öffentlich zu stigmatisieren. Einhergehend ist damit das Signal an die Zivilgesellschaft, dass der demokratische Rechtsstaat sich im Rahmen seiner Möglichkeiten mit Rechtsextremismus auseinandersetzt und konsequent einschreitet. In diesem Sinne sollen Vereinsverbote mithin dazu dienen, das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Allerdings sind Verbotsmaßnahmen in die vielfältigen Möglichkeiten, sich mit Rechtsextremismus auseinanderzusetzen, einzuordnen. Denn repressive Mittel sind nur ein Bestandteil der streitbaren Demokratie. Mindestens genauso wichtig sind Präventionsmaßnahmen, denn letztlich sind mündige Bürger der beste Verfassungsschutz. 82 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 rechtsextremIsmus 83 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Heimat (bis Mai 2023 NPD) Sitz/Verbreitung Bundesverband: Berlin; Landesverband: Essen Gründung/Bestehen seit 1964 (Bundesund Landesverband NRW) Struktur/ Repräsentanz Bundesvorsitzender Frank Franz (seit 2014) Landesvorsitzender: Claus Cremer (seit Juni 2008); einstellige Zahl aktiver Kreisverbände Mitglieder/Anhänger/ circa 400/ Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Publikationen als Printversion: Zeitschrift des Bundverbandes Deutsche Stimme; Zeitschrift der Parteizentrale Deutsche Nachrichten; Web-Angebote: fast alle aktiven Parteistrukturen sind in den sozialen Netzwerken vertreten Kurzporträt/Ziele Das Bundesverfassungsgericht stellte in seiner Entscheidung vom 17. Januar 2017 im NPD-Verbotsverfahren fest, dass es sich um eine verfassungsfeindliche Partei handele, der es aber an Potenzial fehle, ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu realisieren. Die Partei kooperiert mit anderen rechtsextremistischen Parteien und Neonazis. Der Landesverband hat zunehmend an Bedeutung verloren und verfügt nur noch über wenige Kreisverbände. Es ist jedoch zu beobachten, dass einzelne Kreisverbände einen Zuwachs an Nachwuchs verzeichnen. Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden 84 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Heimat lehnt die freiheitliche Demokratie in Deutschland ab und will diese beseitigen. So negiert die Partei die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes. Insbesondere wendet sich das politische Konzept gegen die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde. Die von der Partei Die Heimat verfolgten politischen Ziele laufen auf einen autoritären Staat hinaus. Die Heimat verfolgt eine rechtsextremistische Ideologie, die auf das Prinzip der Volksgemeinschaft baut und sich vor allem durch Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus hervortut. Angesichts der vielfachen Bezüge auf die Ideologie der NSDAP gibt es eine inhaltliche Wesensverwandtschaft der Partei Die Heimat mit dem Nationalsozialismus. Die Partei verfolgt ihre verfassungsfeindlichen Ziele überdies in einer aggressiv-kämpferischen Weise. Sie versteht sich als Bürgerbewegung, deren Aktionen mehr auf Kontroversen und Provokationen abzielen, als auf klassischer politischer Parteiarbeit. Die Heimat unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Übertritt von Mitgliedern der Partei Die Rechte in die NPD Seit Januar 2023 hat eine neue Phase des NPD-Landesverbandes begonnen. Startpunkt war die Selbstauflösung des nordrhein-westfälischen Landesverbandes von Die Rechte am 7. Januar 2023. Der Landesverband dieser rechtsextremistischen Partei fungierte vor allem als Auffangstruktur für die im Jahr 2012 verbotenen neonazistischen Kameradschaften in Dortmund, Hamm und Aachen. Ziel des Landesverbandes war es, neonazistische Aktivitäten unter dem Schutz des sogenannten Parteienprivilegs zu betreiben und verfassungsfeindliche Propaganda zu verbreiten. Am Tag nach der Selbstauflösung gründeten vormalige Mitglieder von Die Rechte in Dortmund den NPD-Kreisverband Heimat Dortmund. Der NRW-Landesverband der NPD teilte daraufhin am 9. Januar 2023 in einer Pressemitteilung mit, dass bereits seit einigen Monaten Gespräche zwischen NPD und Die Rechte in NRW über einen Parteiwechsel liefen. So seien bereits Mitte 2022 der Vorsitzende des Kreisverbandes RheinErft sowie der stellvertretende Landesvorsitzende zur NPD gewechselt. Weitere Parteiwechsel führten dazu, dass am 18. März 2023 der NPD-Kreisverband Ostwestfalen-Lippe wiedergegründet wurde. Insofern hat der Landesverband inzwischen zwei neue handlungsfähige Kreisverbände hinzugewonnen. Im Stadtrat Dortmund wechselte der bisherige Ratsherr von Die Rechte zur Heimat Dortmund. Somit verfügt die NPD in Nordrhein-Westfalen nun über drei Mandate in Stadträten in rechtsextremIsmus 85 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Nordrhein-Westfalen. Weiterhin wechselten zwei Bezirksvertreter in Dortmund von Die Rechte zur Heimat Dortmund. Die Neumitglieder des Dortmunder Kreisverbandes sind überwiegend im Alter von 25 bis 50 Jahren. Damit tragen sie zu einer Verjüngung der Mitgliederstruktur der Landespartei bei. Zudem sind die Neumitglieder aktionsorientierter. Diese Entwicklung dürfte in Zukunft zum einen auf eine Zunahme von Social-Media-Aktivitäten und zum anderen zu mehr Versammlungen im Sinne des traditionell von der NPD propagierten "Kampfes um die Straße" führen. Ideologisch bedeutet die Aufnahme der ehemaligen Mitglieder der Partei Die Rechte, die NPD weiter für die Neonaziszene zu öffnen und mit den neuen Mitgliedern eine Radikalisierung der Partei einzuleiten. Beispielhaft zeigt sich dies an den Führungspersonen des Kreisverbandes Heimat Dortmund. Der neue Vorsitzende ist zugleich Herausgeber der rechtsextremistischen Zeitschrift NS Heute. In letzterer Funktion wurde er wegen Volksverhetzung und des Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen vom Landgericht Dortmund am 3. Februar 2023 zu einer Bewährungsstrafe von 12 Monaten verurteilt. Der stellvertretende Vorsitzende des Kreisverbandes Heimat Dortmund ist zugleich Organisator der rechtsextremistischen Kampfsportreihe Kampf der Nibelungen. Diese ist darauf ausgerichtet, die Teilnehmer auf den Kampf gegen das System physisch und psychisch vorzubereiten und einzuschwören. Angesichts früherer Konflikte zwischen dem NPD-Landesverband NRW und der Partei Die Rechte ist offen, wie die langjährigen NPD-Mitglieder in den Kreisverbänden die Aufnahme der neuen Mitglieder und die damit einhergehende Änderung der innerparteilichen Machtverhältnisse in Nordrhein-Westfalen bewerten. Bundesparteitag der NPD am 4. und 5. Juni 2023 Auf dem außerordentlichen Bundesparteitag im sächsischen Riesa beschloss eine Mehrheit von 77 Prozent der Parteimitglieder eine Umbenennung der NPD in Die Heimat. Auch der Kreisvorsitzende von Heimat Dortmund, der erst im Januar 2023 von Die Rechte zur NPD übergetreten war, trat als Delegierter ans Parteitagsmikrofon und warb für den Reformkurs: "Es geht darum, wieder neuen Schwung in diesen Laden zu bringen!" Die Partei habe "ein so großes politisches Vorfeld, das wir für uns gewinnen können. Das geht aber nicht mehr mit dem alten Namen, da muss ein deutlich sichtbares [...] Signal des Neustartes sein!" Mit der Umbenennung möchte die rechtsextremistische Partei zugleich ihre strategische Ausrichtung verändern. Laut 86 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 ihrer Pressemitteilung will sie sich zu einem "patriotischen Dienstleister" und einer "Anti-Parteien-Bewegung" verändern, die "patriotische Netzwerke" und "wirksame Bündnisse auf den Straßen" etabliert - also mehr völkisch-nationalistische Bürgerbewegung statt klassischer Parteiarbeit. Der NRW-Landesvorsitzende Claus Cremer unterstützte diese Reformbemühungen ausdrücklich. Ungeachtet dieser Absichtsbekundungen strebt Die Heimat weiterhin die Teilnahme an Wahlen an. Auf dem Parteitag wählten die Delegierten 15 Kandidaten für die Liste zur Europawahl 2024. Davon stammen immerhin vier Kandidaten aus dem nordrheinwestfälischen Landesverband. Der NRW-Landesvorsitzende kandidiert auf dem dritten und seine Stellvertreterin auf dem vierten Listenplatz. Abwandlung des antisemitischen Spruches "Die Juden sind unser Unglück" auf dem Telegram-Kanal der Heimat Dortmund rechtsextremIsmus 87 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Mündliche Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zum Ausschluss von der Parteienfinanzierung am 4. Juli 2023 Nach einem Antrag des Bundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung im Jahr 2019 verhandelte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 4. Juli 2023 über den Ausschluss von Die Heimat von der staatlichen Parteienfinanzierung. Bei einem erfolgreichen Antrag entfällt die Steuerbegünstigung für die Parteispenden. Unter anderem war der NRW-Landesvorsitzende Claus Cremer als Auskunftsperson vor das Bundesverfassungsgericht geladen. Der Parteivorstand sagte allerdings kurzfristig seine Teilnahme an der Verhandlung ab und bezeichnete das Verfahren in seiner Pressemitteilung als "Justiz-Simulation". Gleichwohl fand die Verhandlung statt, da es beim Bundesverfassungsgericht keine Anwesenheitspflicht gibt. Propaganda-Aktivitäten Antisemitische Propaganda ist ein fortdauerndes Agitationsthema der Partei. Der Landesvorsitzende Cremer postete am 7. Oktober 2023, kurz nach dem Angriff der HAMAS auf Israel, auf seinem Telegram-Kanal die palästinensische Fahne mit dem Text "Free Palestine". Dazu schrieb er: "Die Welt brennt derzeit an allen Ecken und Enden. Deshalb ist es wichtig den Überblick zu behalten und zu wissen, auf welcher Seite man steht." Die Ermordung und Entführung von israelischen Zivilisten verharmlost und rechtfertigt Cremer damit als vermeintlichen Befreiungskampf. Hier zeigt sich der Antisemitismus in seiner israelbezogenen Ausprägung. Wie in den vergangenen Jahren spielt weiterhin fremdenfeindliche Agitation, die sich insbesondere gegen Flüchtlinge richtet, eine herausragende Rolle bei Die Heimat. Der Kreisverband Heimat Dortmund macht seit November 2023 verstärkt Stimmung gegen die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften in Dortmund und rief die eigene rechtsextremistische Anhängerschaft dazu auf, öffentliche Informationsveranstaltungen zu den Flüchtlingsunterkünften zu besuchen, um dort zu protestieren. Vernetzung Auch im Jahr 2023 vertrat der NRW-Landesvorsitzende Claus Cremer Die Heimat in der europäischen Vereinigung rechtsextremistischer Parteien Alliance for Peace and Freedom (APF). Unter dem neuen Parteinamen Die Heimat nahm er als offizieller Beauftragter für internationale Beziehungen am Europakongress der APF vom 7. bis 9. Juli 2023 in Belgrad teil. Auf dem Kongress waren außerdem Rechtsextremisten aus Italien, Großbritannien, Frankreich, Griechenland, Spanien, Rumänien und Serbien ver88 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 treten. Auf seinem Telegram-Kanal berichtete er, dass man sich unter anderem zu "Planungen des europäischen Widerstandes" und den Europawahlen 2024 ausgetauscht habe. Die Bedeutung von internationaler Zusammenarbeit von Rechtsextremisten erläuterte Cremer in einem Interview mit der rechtsextremistischen Musikzeitschrift Rock Hate, welche dieses im April 2023 auf ihrer Webseite veröffentlichte. Der NPD-Landesvorsitzende redete in Kriegsrhetorik über Migration nach Europa und stellte die Situation als rassistischen Überlebenskampf dar: "Wir sind momentan in einem gesamteuropäischen Fremdenfeindliche Aktion der Heimat Dortmund auf Telegram Abwehrkampf. Wir sind momentan in einer Situation beziehungsweise in einer Zeit, wo es in erster Linie darum gehen muss, unsere Art, unsere Kultur und unsere Rasse zu retten. Das heißt, wir stehen im Grunde genommen als europäische weiße Völker mit dem Rücken zur Wand. " Bewertung, Tendenzen, Ausblick Durch den Wechsel von Die Rechte zur NPD gewinnt die Partei neue Mitglieder und Handlungsfähigkeit. Dadurch nimmt die Bedeutung des nordrhein-westfälischen Landesverbandes in der rechtsextremistischen Szene in Nordrhein-Westfalen und im Bundesverband der Partei zu. Zugleich radikalisieren die Neumitglieder den Landesverband. Durch die Neumitglieder erhielt der Bundesvorstand Unterstützung für die Umbenennung und Neuausrichtung der Partei. Des Weiteren stärken die Neumitglieder die Vernetzung mit der neonazistischen Szene, da die ehemaligen Führungspersonen von Die Rechte deutschlandweit gut vernetzt sind. Inwieweit die älteren Mitglieder die Umbenennung in Die Heimat, die Neuausrichtung und den Mitgliederzuwachs von aktionsorientierten Rechtsextremisten mittragen, ist noch offen. rechtsextremIsmus 89 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Aufbruch Leverkusen Sitz/Verbreitung Leverkusen Gründung/Bestehen seit 2019 Struktur/ Repräsentanz Lokaler Verein in Leverkusen, ein Sitz im Leverkusener Stadtrat Mitglieder/Anhänger/ 30 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Präsenzen auf diversen Social Media Plattformen; insbesondere Facebook und Telegram Kurzporträt/Ziele Bei der Gruppierung Aufbruch Leverkusen handelt es sich um eine lokal agierende Nachfolgeorganisation von Pro NRW, deren Akteure sich zum Teil aus der aufgelösten rechtsextremistischen Partei rekrutieren. Weiterhin sucht Aufbruch Leverkusen die Zusammenarbeit mit anderen extremistischen Gruppierungen und bezeichnet sich inzwischen als "Querfront-Friedensbewegung". Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Gruppierung Aufbruch Leverkusen missachtet mit ihren Aussagen und Forderungen die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, insbesondere die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot. Sie vermittelt ein negatives Menschenbild über bestimmte Minderheiten, welches ausschließlich auf deren Nationalität oder Religionszugehörigkeit abstellt. Dabei greifen sowohl Wortwahl als auch Argumentationsmuster die Menschenwürde an und sind deshalb nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Aufbruch Leverkusen unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. 90 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Protestgeschehen Mit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges der Russischen Föderation auf die Ukraine am 24. Februar 2022 verbreitete die maßgebliche Führungsperson von Aufbruch Leverkusen, Markus Beisicht, die Narrative der russischen Regierung. Er organisierte mit weiteren Personen mehrfach entsprechende Kundgebungen. Zur heterogenen Teilnehmerschaft zählten unter anderem Rechtsextremisten, Reichsbürger, Delegitimierer sowie prorussische Einflussakteure. Bundesweit arbeitet Beisicht mit dem Chefredakteur des rechtsextremistischen Monatsmagazins COMPACT, Jürgen Elsässer, zusammen. Beisicht greift die vom COMPACT-Magazin initiierte Kampagne gegen die USA beziehungsweise NATO ("Ami go home" beziehungsweise "Frieden mit Russland - Keine Sanktionen - keine Waffen - keine NATO-Truppen") auf. So trat Elsässer im Rahmen seiner Vortragsreihe "Ami go home" am 30. Juni 2023 bei Aufbruch Leverkusen in Leverkusen auf. Zudem war Beisicht Redner auf dem COMPACT-Sommerfest am 12. August 2023, das in SachsenAnhalt stattfand. Markus Beisicht redet beim Sommerfest der rechtsextremistischen Zeitschrift Compact. Bilder davon sind bei Telegram zu sehen. rechtsextremIsmus 91 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Gründung einer neuen Partei "Aufbruch Frieden-Souveränität-Gerechtigkeit" Beisicht kündigte in einer Presseerklärung auf der Facebook-Seite der Vereinigung "Aufbruch Frieden-Souveränität-Gerechtigkeit" am 2. September 2023 an, dass man am 31. August 2023 eine gleichnamige Partei gegründet habe. Das Ziel der Partei sei Aufbruch Leverkusen wirbt auf Telegram für "Aufbruch FriedenSouveränität-Gerechtigkeit". die Teilnahme an der Europawahl. Bei einem Einzug in das Europaparlament wolle man dort "mit anderen Gruppierungen zusammenarbeiten, die an einer echten Friedenspolitik unter der Einbeziehung von Russland interessiert" seien. Die Funktionäre stammen aus dem prorussischen, rechtsextremistischen und islamistischen Spektrum. Die inhaltliche Klammer dieser Partei ist der Antiamerikanismus. Positionierung im Nahostkonflikt Den terroristischen Angriff der HAMAS auf Israel im Oktober 2023 und die damit verbundene Reaktion Israels versuchte Beisicht für sogenannte "Friedensdemos" zu instrumentalisieren, um Feindseligkeiten gegenüber Israel und den westlichen Partnern zu schüren. Am 20. Oktober 2023 führte Aufbruch Leverkusen eine "Mahnwache: Frieden für alle im Nahen Osten" vor dem Rathaus in Leverkusen durch. Der Mobilisierungsaufruf benennt indes nicht die Morde der HAMAS, sondern distanziert sich nur von Israel ("Die deutsche Staatsraison beinhaltet keineswegs die bedingungslose Unterstützung Israels!"), so dass der Eindruck eines grundlos aggressiv agierenden israelischen Staates erweckt wird. Die Veranstaltung wurde von Facebook-Post zur Mahnwache am 20. Oktober 2023 in Leverlediglich vier Teilnehmern besucht. kusen mit Markus Beisicht und dem Islamisten Bernhard Falk. 92 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Führungsperson des Vereins Aufbruch Leverkusen, Markus Beisicht, agierte 2023 außerhalb typischer rechtsextremistischer Themenfelder. Bei der Zusammenarbeit mit prorussischen Einflussakteuren und Islamisten bildet der Antiamerikanismus den kleinsten gemeinsamen Nenner. Die bisherigen Anhänger von Aufbruch Leverkusen folgen dem "Themenhopping" und neuen extremistischen Kooperationspartnern der Führungsfigur Beisicht weitgehend nicht. Insofern ist die Zukunft von Aufbruch Leverkusen ungewiss. rechtsextremIsmus 93 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD), ehemals "Flügel" Sitz/Verbreitung Seit der formalen Auflösung des Flügels am 30. April 2020 dezentrale Auffächerung; Aktivitäten auf lokaler Ebene Gründung/Bestehen seit 14. März 2015 (Veröffentlichung der "Erfurter Resolution") Struktur/ Repräsentanz Sammlungsbewegung; maßgebliche Leitund Identifikationsfigur: Björn Höcke Mitglieder/Anhänger/ Personenpotenzial von circa 950 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Verlagerung in geschlossene Gruppen und allgemeine Diskussionsforen der sozialen Netzwerke Kurzporträt/Ziele Der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss tritt seit der vorgeblichen Auflösung des Flügels nicht mehr als formale Gruppierung im öffentlichen Raum auf. Er existiert in Nordrhein-Westfalen in virtuellen Strukturen fort und versucht als Parteiströmung auf die inhaltliche und personelle Ausrichtung der AfD Einfluss zu nehmen. Mit dem Alternativen Kulturkongress Deutschland verfügt er über eine Substruktur in OWL, die Veranstaltungen organisiert. Die ideologische Ausrichtung fokussiert sich im Wesentlichen auf das völkische Konzept des sogenannten Ethnopluralismus. Damit knüpft der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss unmittelbar an den Entwurf einer ethnisch homogenen Gemeinschaft an, den die rechtsextremistische Neue Rechte vertritt. 94 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Finanzierung Indirekt, in dem der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss entsprechend seiner Verankerung in den Parteistrukturen der AfD an den Mitgliedsbeiträgen partizipiert. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss propagiert eine völkisch-nationalistische Ideologie, die Migranten und Muslime ausgrenzt und abwertet. Der völkischnationalistische Personenzusammenschluss verbreitet ein in Teilen revisionistisches Geschichtsbild. Sein ethnisch homogener Volksbegriff und sein antiindividualistisches Menschenbild sind in der Gesamtschau nicht mit der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde und dem Demokratieund dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar. Der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die ideologische Führungsperson des ehemaligen Flügels, Björn Höcke, besuchte 2023 zweimal Veranstaltungen in Nordrhein-Westfalen. Der AfD Kreisverband Wesel berichtete über einen Besuch Höckes, im Rahmen einer vorgeblich "privaten Veranstaltung" am 24. Mai 2023 und sprach von "[...] viel Übereinstimmung und Harmonie [...]". Auf einer Veranstaltung des AfD Bezirksverbandes Arnsberg auf der Hohensyburg in Dortmund am 19. November 2023 anlässlich des Volkstrauertages hielt Höcke eine geschichtsrevisionistische Rede. Er versucht die nationalsozialistischen Verbrechen zu relativieren, indem er den Gegnern Deutschlands im ersten und zweiten Weltkrieg ebensolche Verbrechen zu unterstellt. Angriffe im ersten Weltkrieg auf deutsches Militär bezeichnet er als "Vernichtungskrieg". Diese Kriegsform zielt auf die Vernichtung oder Dezimierung der Bevölkerung ab, wie es die nationalsozialistische Kriegsführung im zweiten Weltkrieg gegen die Sowjetunion versuchte. Bombenangriffe der Alliierten im zweiten Weltkrieg nennt er "Bombenterror". Den vorangegangenen Versuch des nationalsozialistischen "totalen Krieges" erwähnt er hingegen nicht. Der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss thematisierte auch den terroristischen Angriff der HAMAS auf Israel. Dies wird zum Anlass genommen, islamfeindliche Positionen zu verbreiten und auf die aktuelle Debatte um Zuwanderung zu beziehen. Am 8. September 2023 veröffentlichte ein Anhänger des völkisch-nationalistischen Personenzusammenschlusses einen Beitrag in den sozialen Medien, in dem er rechtsextremIsmus 95 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 schreibt: "Lass es die Welt wissen. Es gibt mit Moslems keinen Frieden. Gott stehe uns bei. Diese Leute sind nun in Masse in unserem Haus." Der Alternative Kulturkongress Deutschland, eine Substruktur des völkisch-nationalistischen Personenzusammenschlusses in Nordrhein-Westfalen, lud für den 9. November 2023 im Raum Paderborn zu einer Veranstaltung mit Martin Sellner ein. Dieser war langjähriger Kopf der Identitären Bewegung Österreich und ist nun als rechtsextremistischer Publizist und Influencer tätig. Im Sommer 2023 veröffentlichte er sein Buch "Regime Change von rechts". Bewertung, Tendenzen, Ausblick Trotz der formellen Auflösung des Flügel agiert der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss innerhalb der AfD informell weiter. Er kooperiert mit dem nicht parteigebundenen Umfeld der rechtsextremistischen Strömung der Neuen Rechten. In Nordrhein-Westfalen stellt er einen relevanten - jedoch nicht dominierenden - Faktor im Landesverband der AfD dar. 96 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 rechtsextremIsmus 97 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Junge Alternative Landesverband NordrheinWestfalen Sitz/Verbreitung Bundesweit Gründung/Bestehen seit Bundesverband 15. Juni 2013 in Darmstadt; Landesverband 16. Februar 2014 in Düsseldorf Struktur/ Repräsentanz Der Bundesverband verfügt über 16 Landesverbände. Der Landesverband NRW gliedert sich in 5 Bezirksverbände. Mitglieder/Anhänger/ Aktiv circa 50 bis 100 Unterstützer 2023 Mitglieder circa 200 Veröffentlichungen Es bestehen mehrere Internetpräsenzen der JA NRW und ihrer regionalen Untergliederungen. Darüber hinaus veröffentlicht die JA NRW den eigenen Podcast "Basislager" und das Mitgliedermagazin "Distel" Kurzporträt/Ziele Die Junge Alternative Landesverband Nordrhein-Westfalen (JA NRW) ist die offizielle Jugendorganisation der AfD in Nordrhein-Westfalen. Neben politischen Gremiensitzungen und Veranstaltungen, wie Vorträgen, bietet die JA NRW auch gemeinschaftsstiftende Freizeitangebote an. Dazu zählen unter anderem Feiern, Ausflüge und Fußballturniere. Die JA NRW vertritt einen völkischen Nationalismus, wobei das ethnisch "Fremde" ausgeschlossen werden soll. Dies entspricht der von der Neuen Rechten geprägten Idee des Ethnopluralismus. Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Verkauf von Merchandise Produkten, Spenden 98 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die JA NRW missachtet in ihren Aussagen und Forderungen die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, insbesondere die Menschenwürde und das Diskriminierungsgebot. Sie vermittelt ein negatives Menschenbild über bestimmte Minderheiten, welches ausschließlich an deren Nationalität oder Religionszugehörigkeit anknüpft. Dabei greifen sowohl Wortwahl als auch die Argumentationsmuster die Menschenwürde an und sind deshalb nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Die JA NRW unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Das Bundesamt für Verfassungsschutz gab am 15. Januar 2019 die Einstufung des Bundesverbandes der JA als Verdachtsfall bekannt. In den vergangenen Jahren ist die JA NRW ideologisch auf den politischen Kurs des Bundesverbandes der JA eingeschwenkt. Dieser zeichnet sich durch ein völkisch-ethnisches Volksverständnis und Fremdenfeindlichkeit aus. Am 12. Dezember 2023 wurde die Einstufung der JA NRW als Verdachtsfall veröffentlicht. Der Vorsitzende der JA NRW, Felix Cassel, reagierte auf die Einstufung in einem über Instagram und Telegram verbreiteten Video. Darin geht er darauf ein, dass die Verbreitung fremdenfeindlicher Aussagen zur Einstufung geführt hat. Dies bezeichnet er als "typisch linke Evergreens". Er konzediert, dass sich die JA NRW durch die Einstufung nicht einschüchtern lasse. Weitere Führungspersonen der JA NRW bekundeten auf ihren Social-Media-Präsenzen, dass sie die Einstufung als Verdachtsfall für unerheblich halten. Insofern ist davon auszugehen, dass die Jugendorganisation an ihrem politischen Kurs festhalten möchte. Die JA NRW begann im Jahr 2022 eine Kampagne zum Thema Abschiebungen. Am 30. Januar 2022 veröffentlichte sie einen Aufkleber mit der Aufschrift "abschieben schafft wohnraum". Diesen verbreitet sie als Sticker zum Bestellen sowie als Download auf der Webseite der JA NRW und bewirbt ihn unter anderem auf ihrem Twitter-Kanal. Mit dem Slogan versucht sie, für die komplexen Ursachen der Wohnungsknappheit, Flüchtlinge als Sündenböcke darzustellen. Zugleich wird aus der Vielfalt möglicher Lösungen ausschließlich auf Abschiebungen rekurriert. Ende Februar 2023 weitete die JA NRW ihre "Abschieben"-Kampagne aus und veröffentlichte vier weitere Sticker mit den jeweiligen Slogans "abschieben schafft sicherheit", "abschieben rettet leben", "abschieben schafft tierschutz" und "abschieben schützt frauen". Die Ausweitung der Kampagne rechtsextremIsmus 99 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 verdeutlicht die Zielrichtung der JA NRW, Flüchtlinge pauschal als Sündenböcke für viele relevante Probleme der Inneren Sicherheit darzustellen. ja.duesseldorf * Folgen Ebenso schürt die JA NRW Ressentiments gegenja.duesseldorf Lest ihr hier irgendwo Unwahrheiten? über Muslimen. Im FebruWir auch nicht. ar 2023 veröffentlichte die Es kommen wohl neue #Sticker der @ja.nrw in den Umlauf. Haltet Jugendorganisation der Ausschau. AfD einen Sticker, der auf #abschiebenschafftwohnraum Bearbeitet * 32 Wo. deren Webseite bestellt und heruntergeladen werden Gefällt 202 Mal kann. Auf dem Sticker steht 12. FEBRUAR der Text "invasive Arten ab"Abschieben"-Kampagne der JA NRW auf Instagram schieben". Darunter ist ein Waschbär mit islamischer Kopfbedeckung und geschultertem Gewehr abgebildet. Muslime werden hier in pauschaler Weise als gefährlich und gewaltbereit dargestellt. Weiterhin wird mit der Analogie zur Tierwelt suggeriert, dass Muslime nicht kompatibel mit der einheimischen Art seien. Diese Analogie unterstellt, Muslime seien aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit nicht willens und fähig zur Integration. Schließlich zeigt die Forderung "invasive Arten abschieben", dass Muslime allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ohne Anspruch auf individuellen Rechtsschutz ausgegrenzt werden sollen. Die JA NRW führte am 16. September 2023 in Dortmund eine sogenannte "JA Akademie" durch, bei der der Österreicher Philipp H. referierte. Dieser benannte in seiner Vorstellung ausdrücklich seine rechtsextremistische Biografie: "Ich habe die Identitäre Bewegung unter anderem mehrere Jahre lang geleitet und war in dieser Funktion, das vielleicht auch eine Überleitung zum ersten Vortrag, auch zu den unter den 17 Glücklichen, die deshalb unter anderem von der österreichischen Staatsanwaltschaft wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt waren." Seinen Vortrag zum Thema "Remigration" verbreitete die JA NRW im Nachhinein auf ihrem YouTubeKanal und bewarb ihn auf ihrem Telegram-Kanal. Insofern sind ihr die Aussagen inhaltlich zuzurechnen. Der Referent setzt sich in seinem Vortrag für eine "Remigration" ein, die er wie folgt begründet: "Das rechte Hauptziel, der Erhalt der ethnokulturellen Identität. Die größte Bedrohung, Bevölkerungsaustausch durch Ersetzungsmigration. Dieser Gefahr muss mit einer alternativen Bevölkerungsund Migrationspolitik begegnet werden, zu der eben auch als ein Aspekt die Politik der Remigration gehört.". Er vertritt einen völkischen Nationalismus, der ethnische Vielfalt als Bedrohung darstellt 100 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 und deswegen für eine Ausgrenzung von Menschen mit Migrationsbiografie plädiert. Dies bezieht er ausdrücklich auch auf deutsche Staatsbürger mit Migrationsbiografie. Auch die regionalen Strukturen der JA NRW verbreiten Ideen der rechtsextremistischen Strömung der Neuen Rechten. So fungierte der Bezirksverband Düsseldorf der JA NRW als Co-Organisator einer Vortragsveranstaltung am 3. März 2023 mit dem neurechten Publizisten Benedikt K. Der Bezirksverband Köln verloste im Oktober 2023 das Buch "Regime Change von Rechts" des Rechtsextremisten Martin Sellner, der mehrere Jahre als Führungsperson der Identitären Bewegung in Österreich agierte. Der Bezirksverband Südwestfalen-Ruhr teilte den Spendenaufruf des rechtsextremistischen Vereins Ein Prozent für fremdenfeindliche Straftäter. Eine Delegation der JA NRW nahm an der Europawahlversammlung der AfD in Magdeburg teil, die am letzten Juliund am ersten Augustwochenende stattfand, um die Kandidaten für die Europawahl zu wählen. Ein Delegierter der JA NRW kommentierte die Wahlen in einem Online-Szene-Medium. Er hob hervor, dass auf den ersten 15 Listenplätzen zwei Repräsentanten der JA gewählt worden seien. Von deren erhoffter Wahl in das Europaparlament verspricht er sich folgende Vorteile: "Davon wird die Jugendorganisation in punkto Auslandsvernetzung, europaweiter Führungsrolle und finanzieller Zuflüsse erwartbar profitieren". Positiv bewertet er daneben die Wahl einer Person aus Nordrhein-Westfalen auf die Kandidatenliste, die "seit jungen Jahren im rechten Vorfeld verankert und niemals mit dem miefigen Altparteiensumpf in Kontakt gekommen" sei. Dass viele Kandidaten die völkische Verschwörungstheorie des "Bevölkerungsaustausches" behaupteten und in fremdenfeindlicher Manier "Remigration" forderten, zeige laut des Delegierten der JA NRW, dass "kluge Sprachverwendung und der konsequente Kampf um unsere ethnokulturelle Identität nun parteiübergreifender Konsens sind". Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die JA NRW hat sich zu einem Bestandteil der rechtsextremistischen Strömung der Neuen Rechten entwickelt. Sie vertritt eine rechtsextremistische Agenda, die auf die Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft zielt und diese bewirbt. In den Sozialen Medien verbreitetet sie entsprechende Aussagen. Sie unterhält vielfältige Beziehungen zu Akteuren und Organisationen aus dem Netzwerk der Neuen Rechten. Zudem verschafft die JA NRW wiederkehrend Protagonisten der Neuen Rechten ein Forum. rechtsextremIsmus 101 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Der III. Weg Sitz/Verbreitung Bundesverband: Weidenthal (Rheinland-Pfalz); Verbreitung hauptsächlich in Südund in Ostdeutschland; zwei sogenannte Stützpunkte in NRW Gründung/Bestehen seit 28. September 2013 in Heidelberg Struktur/ Repräsentanz Vorsitzender Bundesverband: Matthias Fischer Vorsitzender Landesverband West (ehemals Gebietsverband West): Julian Bender Fünf Landesverbände: Bayern, Sachsen, Kurhessen, Brandenburg und West - dieser umfasst zwei sogenannte Stützpunkte in Nordrhein-Westfalen. Gründung des Stützpunktes Sauerland-Süd am 29. Dezember 2015. Zu ihm gehören insbesondere Siegen und der Landkreis Olpe. Der Stützpunkt Rheinland, am 16. März 2019 gegründet, umfasst den Großraum Düsseldorf und Köln Mitglieder/Anhänger/ rund 40 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Verschiedene Internetpräsenzen, Publikationen, insbesondere in Form von Büchern und Flyern Kurzporträt/Ziele Die Partei Der III. Weg propagiert ein rechtsextremistisches Staatsund Gesellschaftsbild, insbesondere greift sie völkisch-nationalistische Elemente des historischen Nationalsozialismus auf. So lehnt sie sich mit ihrem 10-Punkte-Programm ideologisch an das Gedankengut der NSDAP an und fordert einen "deutschen Sozialismus" ein. Zudem beteiligt sich die Partei an revisionistischen Kampagnen, die darauf abzielen, nationalsozialistische Verbrechen zu relativieren. 102 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Finanzierung Überwiegend über Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Das Parteiprogramm von Der III. Weg zeigt, dass die Partei eine ethnisch homogene Gesellschaft im Sinne des völkischen Nationalismus anstrebt, die durch die rigide Ausgrenzung aller vermeintlich Fremden ohne Rücksicht auf die Menschenrechte verwirklicht werden soll. Diesem Verständnis folgend agitiert die Partei vor allem gegen Migranten und verletzt damit fortlaufend deren Menschenwürde. Zahlreiche Mitglieder waren zuvor in anderen rechtsextremistischen Organisationen aktiv. Zudem pflegt die Partei Kontakte zu verschiedenen rechtsextremistischen Organisationen in Europa. Der III. Weg unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Stützpunkt Sauerland-Süd Mit der Eröffnung eines Parteibüros in Siegen im Jahr 2020 wollte die Partei eine Anlaufstelle in der Region schaffen. Nachdem der Vermieter den Mietvertrag aber nicht verlängerte, zog die Partei im März 2022 nach Hilchenbach im Kreis Siegen-Wittgenstein um. In einem zentralen Gebäude in der Stadt wird das Erdgeschoss als Parteibüro sowie das dazugehörige Grundstück für Veranstaltungen genutzt. An dem Haus hängen auch Plakate und Parteifahnen. Mit dem Büro möchte Der III. Weg sich auch als "Kümmerer-Partei" darstellen und bietet soziale Hilfen an. Allerdings beschränken die Rechtsextremisten ihre Hilfsangebote auf Deutsche im völkisch-nationalistischen Sinne. Julian Bender, Vorsitzender des Stützpunktes Sauerland-Süd und auch Vorsitzender des Landesverbandes West, strebt den Kauf der Immobilie an. Als die Stadt Hilchenbach von dem Umzug und der Kaufabsicht erfuhr, versuchte sie, den Immobilienerwerb zu verhindern. Seitdem gibt es mehrere rechtliche Auseinandersetzungen zwischen Bender und der Stadt Hilchenbach. rechtsextremIsmus 103 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Veranstaltungen Der III. Weg hielt am 2. September 2023 in Hilchenbach seinen Bundesparteitag ab, bei dem die Mitglieder den Vorstand wiederwählten. Insgesamt kamen circa 75 Rechtsextremisten aus dem gesamten Bundesgebiet ins Siegerland. Im Anschluss folgte der nunmehr sechste "Tag der Heimattreue", der auf einer öffentlichen Wiese hinter dem Parteigebäude stattfand. Die Wahl des Veranstaltungsortes sowie der weitgehende Verzicht auf Sichtschutzwände sollten wie eine Machtdemonstration wirken. Es gab ideologisch durchwirkte Reden und den Auftritt eines rechtsextremistischen Sängers. Zudem wurden rechtsextremistische Devotionalien zum Verkauf angeboten. Zum Rahmenprogramm gehörten sogenannte Kampfsportvorführungen und Selbstverteidigungstrainings. Rund 100 Rechtsextremisten nahmen daran teil. Wie in den vergangenen Jahren organisierte Der III. Weg den "Hochsauerlandmarsch". Auch diesmal ging es nicht nur um sportliche Betätigung, sondern um das ideologisch geprägte Gemeinschaftserlebnis durch die Stärkung der eigenen Wehrhaftigkeit unter dem Motto "Sturm der Berge". Rund 40 Rechtsextremisten absolvierten die Strecke im Stile einer militärischen Durchschlageübung. Mit dem Marsch versuchte die Partei einmal mehr ihr elitäres Selbstverständnis zu unterstreichen, dass gewisse körperliche Anforderungen gemäß der Maxime "Stärke durch Disziplin" erfüllt werden müssen. Eine Neuauflage des Marsches für 2024 wurde bereits angekündigt. Auf der Website des III. Weg wird für den "Hochsauerlandmarsch" geworben. 104 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Auch revisionistische Veranstaltungen waren für den "Stützpunkt Sauerland Süd" wieder von symbolischer Bedeutung, bei denen man in Bezug auf den Nationalsozialismus eine Täter-Opfer-Umkehr betrieb. So "erinnerte" die Partei an die Bombardierung der Stadt Olpe am 28. März 1945. Mit Fackeln und Parteifahnen bemühten die Rechtsextremisten die Erzählung, das nationalsozialistische Deutschland sei im Zweiten Weltkrieg Opfer der Alliierten gewesen. In der Veranstaltungsankündigung hieß es, die Ahnen würden verunglimpft und versucht, "uns Deutschen jegliche Identität auszutreiben". Revisionistisches "Heldengedenken" am Volkstrauertrag auf Telegram Wie bereits im Nationalsozialismus widmet Der III. Weg den Volkstrauertag zu einem "Heldengedenken" um und beging am 18. November 2023 eine dementsprechende Veranstaltung. In diesem Zusammenhang diffamierte die Partei die Erinnerung an Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands mit der Forderung, dass der "vorgelebte Schuldkult nicht zur Identitätsfrage" erhoben werden solle. rechtsextremIsmus 105 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Mit manchen Veranstaltungen versuchte Der III. Weg, sich anschlussfähiger für die Gesellschaft darzustellen. Auch hier bleibt das Ziel der Rechtsextremisten, ein Gemeinschaftserlebnis zu schaffen und die eigene Ideologie zu verbreiten. So veranstaltete der Stützpunkt am 1. Mai 2023 das "Nationalrevolutionäre Maifest" auf dem Parteigelände und richtete sich mit einem eigenen Kinderprogramm offenbar auch an Familien. Eine ähnliche Vorgehensweise zeigte sich beim "Nationalrevolutionären Weihnachtsmarkt" auf dem Parteigelände am 9. Dezember 2023. Mit einzelnen Verkaufsständen, Werbung für eine "nationalMusikund Kinderprogramm versuchte die Partei wierevolutionäre" Veranstaltung auf Telegram der, sich anschlussfähig zu präsentieren. Propaganda Der "Stützpunkt Sauerland-Süd" schürt fortwährend Ängste vor Migranten. Menschen mit Migrationsbiografie werden dabei pauschal als kriminell und Gefahr für die Einheimischen dargestellt. So hieß es beispielsweise in einem Beitrag des "Stützpunkt Sauerland-Süd" am 12. Mai 2023: "Ausländerkriminalität, Drogenhandel und Gewalttaten spiegeln in Siegen die katastrophalen und irreparablen Folgen einer kranken Zuwanderungspolitik der BRD wieder. [...] Auf der Strecke bleiben besorgte Deutsche, die sich nicht mehr sicher und noch weniger wohl fühlen." Ebenso griffen die Rechtsextremisten immer wieder lokalpolitische Diskussionen um Flüchtlingsunterkünfte auf, um fremdenfeindlich zu agitieren und Bedrohungsszenarien zu verbreiten. Nach dem Angriff der HAMAS auf Israel veröffentlichte Der III. Weg am 11. Oktober 2023 auf seiner Webseite einen Beitrag. In diesem schrieb die Partei: "Unter dem Namen Operation 'Al-Aqsa-Flut' haben palästinensische Kämpfer einen massiven Gegenangriff auf das zionistische Gebilde Israel gestartet." Der Ausdruck "zionistisches Gebilde" verdeutlicht, dass die Rechtsextremisten den Staat Israel nicht anerkennen. Zudem verharmlosen sie die Ermordung und Entführung israelischer Zivilisten als "Gegenangriff", der anscheinend gerechtfertigt sei. Der "Stützpunkt Sauerland-Süd" verdeutlichte aber in einem anderen Beitrag ebenfalls am 11. Oktober 2023 auf seinem Telegram-Kanal, dass die Rechtsextremisten aufgrund ihrer Fremdenfeindlichkeit aktuell auch keine Solidaritätsbekundungen für Palästina abgeben: "KEINE SOLIDARITÄT MIT ISRAEL! Doch ebenso wenig kann es derzeit eine Solidarität mit Palästina geben, bis nicht alle durch Araber okkupierten Gebiete in Deutschland und Westeuropa freigegeben sind [...]". 106 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Stützpunkt Rheinland Der Stützpunkt Rheinland ist öffentlich wesentlich weniger aktiv. Die bedeutsamste Aktivität war eine Gedenkveranstaltung für den in der rechtsextremistischen Szene zum Märtyrer erhobenen Freikorps-Kämpfer der 1920er Jahre Albert Leo Schlageter im Mai in Düsseldorf. Ansonsten nahmen Mitglieder des Stützpunktes wiederkehrend an Veranstaltungen der rechtsextremistischen Partei teil. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der "Stützpunkt Sauerland-Süd" stellt in Nordrhein-Westfalen mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und provokanten Veröffentlichungen das Zentrum der Parteiaktivitäten dar. Gleichwohl gelingt es der Partei nicht, an die Mitte der Gesellschaft anzuschließen und ihren Einfluss auszubauen. Die Aktionen sind weniger auf Mitgliedergewinnung, als mehr auf Provokation und Einschüchterung ausgerichtet. Die Partei Der III. Weg sieht sich als weitestgehend in der Tradition der Nationalsozialisten stehende elitäre Partei an. Entsprechend des elitären Selbstverständnisses wird in Nordrhein-Westfalen weiterhin keine Zusammenarbeit mit anderen rechtsextremistischen Organisationen angestrebt. rechtsextremIsmus 107 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Rechte Sitz/Verbreitung Zwei Landesverbände, in NRW zwei Kreisverbände Gründung/Bestehen seit Bundesverband: 27. Mai 2012 Landesverband NRW: 15. September 2012 - 7. Januar 2023 Struktur/ Repräsentanz Bundesvorsitzender: Christian Worch Der Landesverband Nordrhein-Westfalen wurde am 7. Januar 2023 aufgelöst. Im Ruhrgebiet existieren noch zwei Kreisverbände. Mitglieder/Anhänger/ NRW: 50\ Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Webangebote: Veröffentlichungen der Partei auf Bundesund Kreisverbandsebene überwiegend auf Telegram, X und eigenen Webseiten Kurzporträt/Ziele Die Rechte stellt vor allem ein Sammelbecken von Neonazis da, die aus den 2012 verbotenen Kameradschaften in Dortmund, Hamm und Aachen kamen. Nachdem Anfang 2023 zahlreiche Mitglieder zur NPD (jetzt: Die Heimat) wechselten, verbleiben lediglich zwei Kreisverbände in Nordrhein-Westfalen. Die verbliebenen Mitglieder kooperieren sowohl mit der Neonaziszene als auch mit Der Heimat. Die Partei Die Rechte agitiert insbesondere fremdenfeindlich und antisemitisch. Des Weiteren stellte sich die Partei offen in eine nationalsozialistische Tradition. Finanzierung Mitgliedsbeiträge der Parteimitglieder und Einnahmen aus Spenden 108 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Partei Die Rechte ist ein Sammelbecken für Neonazis. Sie lehnt die freiheitliche Demokratie in Deutschland ab und will diese beseitigen. So negiert die Partei die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere, dass jeder Mensch als Individuum und ohne Vorbedingungen eine Würde besitzt. Die von der Partei Die Rechte verfolgten politischen Ziele laufen auf einen autoritären Staat hinaus. Sie verfolgt eine rechtsextremistische Ideologie, die auf das Prinzip der Volksgemeinschaft baut und sich vor allem durch Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus hervortut. Angesichts der vielfachen Bezüge auf die Ideologie der NSDAP gibt es eine inhaltliche Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus. Die Rechte verfolgt ihre verfassungsfeindlichen Ziele überdies in einer aggressiv-kämpferischen Weise. Sie unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bundesverband Der Bundesverband führte am 2. September 2023 seinen 12. Bundesparteitag durch und wählte einen neuen Bundesvorstand. Vorsitzender wurde der langjährige Neonazi und Parteigründer Christian Worch. Während in den vergangenen Jahren Rechtsextremisten aus Nordrhein-Westfalen den Bundesvorstand dominierten, stammen im neuen Vorstand lediglich zwei der neun Mitglieder aus Nordrhein-Westfalen. Landesverband Nordrhein-Westfalen Am 7. Januar 2023 wurde auf einem Landesparteitag der Partei Die Rechte die Auflösung des Landesverbands Nordrhein-Westfalen beschlossen. Am 8. Januar 2023 wurde sodann die Neugründung des Kreisverbands Dortmund der Partei NPD beschlossen, dessen neugewählter stellvertretender Vorsitzender, Alexander Deptolla, tags zuvor noch das Amt des Landesvorsitzenden der Partei Die Rechte bekleidete. Mit dem weitgehenden Übertritt des personalstarken und einflussreichen Dortmunder Kreisverbands verlor der Landesverband seinen tragenden Pfeiler. In Nordrhein-Westfalen verbleiben bislang die Kreisverbände in Duisburg und Gelsenkirchen/ Recklinghausen. Letzterer Kreisverband zeigt aber kaum noch Aktivitäten. Auch die unter dem Label "FreiVest" betriebenen Prepperaktivitäten des Kreisverbandes sind weitgehend zum Erliegen gekommen. Allerdings ließ sich deren Führungsperson als Beisitzer in den Bundesvorstand wählen. rechtsextremIsmus 109 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Der Kreisverband Duisburg orientiert sich weitgehend am historischen Nationalsozialismus. Einen Ausflug stellte er unter das Motto "Kraft durch Freude". Dies war der Name einer nationalsozialistischen Massenorganisation im Dritten Reich, die vor Beginn des II. Weltkriegs der größte Reiseveranstalter war. Am 8. März 2023 führte der Kreisverband ein sogenanntes "Heldengedenken" durch. Die Nationalsozialisten benannten den Volkstrauertag 1934 in "Heldengedenken". Statt an die Toten zu denken, sollten im Sinne der Propaganda Helden gedacht werden. Der Kreisverband Duisburg knüpft daran an und möchte, laut seiner Webseite, "daran erinnern, welchen Kampf unsere Großväter einst für unsere Zukunft und die der Völker, beschritten haben." Mit diesem Geschichtsrevisionismus verklären die Rechtsextremisten den Angriffskrieg von Nazideutschland. Den eskalierenden Nahost-Konflikt thematisierte der Duisburger Kreisverband zur Verbreitung von antisemitischer Propaganda. Zwei Tage nach dem Angriff der HAMAS auf israelische Zivilisten veröffentlichte Die Rechte Duisburg auf ihrem Telegram-Kanal am 9. Oktober 2023 ein Bild der israelischen Flagge Die Rechte bezeichnet Israel auf Telegram als mit dem Schriftzug "Terrorstaat Israel", um "Terrorstaat". Israel zu dämonisieren. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten der verbliebenen Rechtsextremisten in der Partei Die Rechte sind in Nordrhein-Westfalen kaum zu verzeichnen. Der Parteiwechsel von Führungspersonen und zahlreichen Mitgliedern zu Anfang des Jahres 2023 hat die Handlungsfähigkeit stark geschwächt. Im rechtsextremistischen Spektrum spielen die verbliebenen Kreisverbände nur noch eine Nebenrolle, obgleich sie mit anderen rechtsextremistischen Organisationen und Szenen zusammenarbeiten. Auf die rechtsextremistische Ausrichtung der Partei wird der Bedeutungsverlust indes keinen Einfluss haben. 110 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 rechtsextremIsmus 111 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Identitäre Bewegung Deutschland e.V. (IBD) und Nachfolgestrukturen Sitz/Verbreitung Ursprung in Frankreich; seit 2012 in Deutschland; Vereinssitz in Paderborn Gründung/Bestehen seit Seit Mai 2014 ist die ursprünglich virtuelle Aktionsform als Identitäre Bewegung Deutschland e.V. (IBD) vereinsrechtlich registriert. Struktur/ Repräsentanz Kleinstgruppen auf regionaler Ebene, die vor Ort agieren und teilweise mit der Landesgruppe der IBD verbunden sind. Mitglieder/Anhänger/ Aktivistenkreis: rund 20 Unterstützer 2023 aktionsorientierte Sympathisanten: rund 20 Veröffentlichungen Es bestehen zentrale Profile auf Telegram als Kanäle zur direkten, zielgruppenorientierten Ansprache im öffentlichen Raum. Abgespaltene Kleinstgruppen sind unter eigenem Namen zusätzlich auf Instagram, Facebook und Twitter aktiv. Kurzporträt/Ziele Die IBD ist eine rechtsextremistische Jugendorganisation. In der Außenwirkung verfolgt sie die Strategie, gemäßigt zu wirken und sich sprachlich und symbolisch von NS-orientierten Rechtsextremisten abzugrenzen, um eine öffentliche Stigmatisierung zu vermeiden. Durch mediengerecht inszenierte Aktionsformen an öffentlichen Orten mit anschließender Berichterstattung in den sozialen Medien möchte die IBD Reichweite erzeugen und neue Mitglieder werben. Ihre Zielgruppe setzt sich vorwiegend aus jungen Menschen zusammen. 112 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 In den vergangenen Jahren hat die IBD einen Transformationsprozess eingeleitet, so dass von IBD-Protagonisten zahlreiche Kleinstgruppen und Projekte initiiert wurden, die unter neuem Erscheinungsbild aber mit gleicher rechtsextremistischer Ideologie auftreten. Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden sowie Merchandising Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Ideologie der IBD als Teil der rechtsextremistischen Strömung der Neuen Rechten richtet sich gegen die Menschenrechte und eine pluralistische Demokratie. Sowohl die rassistische Doktrin des Ethnopluralismus als auch der kollektivistische Grundsatz, das Individuum mit seinen Menschenrechten der Nation unterzuordnen, sind unvereinbar mit den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Mit ihren öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten versucht die IBD Einfluss auf die politische Öffentlichkeit zu nehmen und ihre rechtsextremistischen Positionen zu verbreiten. Die IBD unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Deutschlandweit setzte die IBD weiterhin auf öffentlichkeitswirksame Aktionen und europaweite Vernetzung. Auch ihre Schulungstätigkeiten für ihre Anhänger betrieb sie weiter. Das sogenannte "Sommerlager" im Jahr 2023 vermittelte den Eindruck, dass im Gegensatz zu vergangenen Jahren mehr Wert auf militärischen Drill und Kampfsport gelegt wird. Wie im Jahr 2022 von der Leitfigur der IBD im deutschsprachigen Raum, dem Österreicher Martin Sellner, gefordert, verschleiert die IBD zunehmend ihre Aktionen. Das macht sie, indem sie verstärkt auf autonom agierende Regionalund Ortsgruppen setzt, die unter neuen Namen auftreten. Außerdem verzichtet sie weitestgehend auf die Nutzung des Lambda-Symbols als Erkennungszeichen. Diese Entwicklung soll die IBD langfristig flexibler machen, vor sogenannten "Outingaktionen" und vor staatlichen Maßnahmen schützen. Dies ist insbesondere als Reaktion auf das Verbot der Generation Identitaire in Frankreich und der Nutzung des Lambda-Symbols der IBD in Österreich zurückzuführen. Beide Verbote erfolgten im Jahr 2021. rechtsextremIsmus 113 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Sellner selbst tritt nicht mehr als Vertreter der Identitären Bewegung Österreich auf. Gleichwohl verbreitet er weiterhin deren rechtsextremistische Ideologie. 2023 führte er eine Lesereise zu seinem aktuellen Buch "Regime Change von rechts" durch und trat am 8. November 2023 in Bielefeld und am 9. November 2023 im Raum Paderborn auf. Als einzige IBD-Regionalstruktur in Nordrhein-Westfalen existiert in OWL die Gruppierung Westfalens Eichensöhne. Diese beteiligte sich an einer in der Neuen Rechten populären Kampagne unter dem Motto "Stolzmonat". Mit dieser Kampagne soll der von der LGBTQ-Community initiierte "Pridemonth", der ein Zeichen gegen gesellschaftWestfalens Eichensöhne mit Banneraktion auf liche Ausgrenzung setzen soll, karikiert und Telegram für Nationalismus geworben werde. In Nordrhein-Westfalen relevante Nachfolgestrukturen der IBD sind die Revolte Rheinland und Lukreta. Beide Gruppierungen führten im Berichtszeitraum öffentlichkeitswirksame Aktionen im realweltlichen und im virtuellen Raum durch. Ziel der Aktionen und der anschließenden eigenen Berichterstattung ist es, eine möglichst große Reichweite insbesondere bei jüngeren Leuten zu erzielen und subtil ihre rechtsextremistischen Ansichten zu verbreiten. Die Revolte Rheinland veröffentlichte am 9. Januar 2023 ein Video über eine Aktion vor einer Flüchtlingsunterkunft in Bonn. Dabei baute die Gruppierung vor dem Einfahrtstor einen Bauzaun auf, stellte sich maskiert davor und zeigte ein Banner mit der Aufschrift "Zäune hoch, Anträge runter!" Im März 2023 überklebten Akteure der Revolte Rheinland ein Straßenschild in arabischer Sprache in Düsseldorf. Die anschließende Inszenierung der Aktion über soziale Netzwerke betitelte die Revolte Rheinland mit: "Remigration statt Unterwerfung". Der Begriff Remigration wird hauptsächlich von Personen und Gruppierungen im Spektrum der Neuen Rechten verwendet und gilt als sprachliche Modernisierung der rechtsextremistischen Parole "Ausländer raus!". Mit solchen vermeintlich unverfänglichen Begriffen versucht die Gruppierung ihre rechtsextremistischen Botschaften zu verbreiten. Des Weiteren zeigte die Revolte Rheinland abwertendes und ausgrenzendes Verhalten gegenüber Minderheiten, indem sie bei114 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 spielsweise anlässlich des CSD in Düsseldorf queerfeindliche Plakate aufhängte. Die Gruppierung Lukreta, der ausschließlich Frauen angehören, versucht hauptsächlich durch realweltliche Veranstaltungen und virtuelle Aktionen die Islamfeindliche Aktion der "Revolte Rheinland" auf Instagram Themen sexuelle Gewalt gegen Frauen und Jugendschutz zu instrumentalisieren. Dabei werden Migranten pauschal als Gewalttäter stigmatisiert und LGBTQ-Menschen als Gefahr für Kinder und Jugendliche dargestellt. Die Nachfolgegruppierungen der IBD sind über die sozialen Netzwerke vernetzt und unterstützen sich gegenseitig durch das Teilen, Kommentieren und Liken von Veröffentlichungen. In dieses Netzwerk ist der Landesverband Nordrhein-Westfalen der Jungen Alternative einbezogen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Bundesvergleich ist Nordrhein-Westfalen weiterhin kein Schwerpunkt der IBD. Die IBD tritt jedoch kaum noch als solche auf. In Nordrhein-Westfalen spielen vielmehr die Nachfolgegruppierungen Revolte Rheinland und Lukreta eine Rolle und versuchen durch öffentlichkeitswirksame Aktionen beziehungsweise Kampagnen in den Sozialen Medien Aufmerksamkeit für rechtsextremistische Botschaften zu erzielen. Die Nachfolgegruppierungen sind Bestandteil eines Netzwerkes der rechtsextremistischen Strömung der Neuen Rechten. rechtsextremIsmus 115 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Neonazis Sitz/Verbreitung Landesweite Verbreitung mit regionalen Schwerpunkten Gründung/Bestehen seit 1970er Jahre Struktur/ Repräsentanz Gruppierungen auf lokaler Ebene, die teilweise in vereinsähnlichen sogenannten Kameradschaften oder in Parteistrukturen organisiert sind; überregionale Vernetzung der Szene zur Koordinierung und Durchführung gemeinsamer Aktivitäten. Mit den Verboten der wichtigsten Kameradschaften hat in der Neonazi-Szene in Nordrhein-Westfalen ein Wandel stattgefunden: Das rechte Parteienspektrum stellt in Nordrhein-Westfalen nunmehr das Zentrum des Neonazismus dar. Mitglieder/Anhänger/ circa 700/ Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Internetpräsenzen von Einzelpersonen und Personenzusammenschlüssen. Kurzporträt/Ziele Der Neonazismus stellt sich in die ideologische Tradition des historischen Nationalsozialismus. Die Anhänger organisieren sich regional in Kleingruppen, sogenannten Kameradschaften. Diese werden oftmals von einer Person nach dem Führerprinzip geleitet. Die Szene ist überregional vernetzt und findet sich bei Veranstaltungen wie Demonstrationen, Rechtsrock-Konzerten oder rechtsextremistischen Kampfsportevents zusammen. Die Mehrzahl der Neonazis ist in Nordrhein-Westfalen in den Parteien Die Rechte beziehungsweise Die Heimat und Der III. Weg organisiert. 116 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Der Rest der Szene in Nordrhein-Westfalen besteht aus kleineren, nur lose organisierten Gruppierungen und Einzelpersonen, die sich gelegentlich an Veranstaltungen der Partei Die Heimat beteiligen. Finanzierung Beiträge der Anhänger Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Neonazi-Szene ist durch ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus sowie durch ihre Gewaltbereitschaft gekennzeichnet. Ideologische Grundlage ist ein rassistisches Menschenbild und die Vorstellung einer antipluralistischen Gesellschaft sowie eines autoritären Staates. Vermeintlich Fremde und auch politische Gegner gelten als Feinde, denen ein geringeres beziehungsweise gar kein Existenzrecht zuerkannt wird. Damit wird Gewalt gegen "Feinde" legitimiert. Die Szene der Neonazis unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Den positiven Bezug der Neonazi-Szene zum Nationalsozialismus verdeutlicht ein Interview mit Sven Skoda, einem aktiven Neonazi, in der November-Ausgabe der rechtsextremistischen Zeitschrift N.S. Heute. Auf die Frage, mit welcher historischen Person er gerne ein Gespräch führen würde, sagte Skoda: "Vorausgesetzt, dass es ein Gespräch wäre, bei dem es keine Tabus geben würde, ganz klar Adolf Hitler. Niemand sonst könnte mir so viele historische Fragen beantworten, die für unsere heutige Geschichte noch Relevanz haben und für mich deswegen wichtig sind. Sonst wohl Joseph Goebbels, weil er wie ich eine rheinische Frohnatur war." Neonazistische Gruppierungen Angesichts von Verboten von neonazistischen Kameradschaften ist ein Teil der Neonazi-Szene in Nordrhein-Westfalen Mitglied von rechtsextremistischen Parteien, da die Hürden für ein Parteiverbot deutlich höher liegen. Die verbliebenen neonazistischen Gruppierungen agierten 2023 kaum noch öffentlich. Vom Freundeskreises Rhein-Sieg war auf Social Media-Kanälen nur noch deren Führungsperson Frank Kraemer sichtbar. rechtsextremIsmus 117 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die einzige öffentlich präsente neonazistische Gruppierung ist die Volksgemeinschaft Niederrhein (VGN). Sie bildete sich 2017 in Kamp-Lintfort. Deren Führungsperson verfügt dort über ein Haus mit großem Grundstück, das der VGN als Anlaufstelle und Ort für Treffen dient. 2023 organisierte man zwei rechtsextremistische Musikveranstaltungen. Angesicht relativ weniger Aktivitäten im zurückliegenden Jahr kündigte die VGN Logo der "Volksgemeinauf ihrem Telegram-Kanal am 26. Dezember an, 2024 wieder schaft Niederrhein" aktiver werden zu wollen. Die Dortmunder Neonazi-Szene In 2023 entwickelte sich eine lose organisierte Szene um den Neonazi Steven F. in Dortmund. Dieser konnte sich in verschiedenen Social-Media-Formaten von nicht-extremistischen Influencern darstellen. Die Influencer verzichteten weitgehend auf kritische Fragen und boten so dem Neonazi die Bühne, seinen Bekanntheitsgrad enorm zu erhöhen und insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene zu erreichen, die mit klassischen rechtsextremistischen Social-Media-Formaten kaum Berührungspunkte haben. Banneraktion der Neonaziszene für den rechtsextremistischen Straftäter Steven F. auf Instagram Diese Szene agiert im Umfeld des Dortmunder Kreisverbandes von Die Heimat. Weitgehender inhaltlicher Konsens dieser Szene sind die Wiederherstellung und Bewahrung angeblicher verloren gegangener Männlichkeit, die Propagierung eines traditionellen Familienbilds und damit verbunden die Feindschaft gegenüber Menschen mit 118 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 anderen sexuellen Orientierungen oder Geschlechteridentitäten. Ebenso ist die Feindschaft gegenüber Migranten Konsens. Für die Attraktivität der Szene spielt die "Erlebniswelt Rechtsextremismus" eine wesentliche Rolle - insbesondere Kampfsport. Dem Selbstverständnis der jungen Männer nach müssen sie stets auf eine körperliche Auseinandersetzung mit dem politischen Feindbild vorbereitet sein. Dies führt aber nicht nur zu prinzipieller Gewaltbereitschaft, sondern auch konkret zu Gewaltstraftaten. So verübten Angehörige dieser Szene Gewaltstraftaten gegen vermeintliche Feinde. Kampfsport Die vom Dortmunder Neonazi Alexander Deptolla organisierte rechtsextremistische Kampfsportveranstaltung Kampf der Nibelungen (KDN) avancierte bis Ende der 2010er Jahre zum wichtigsten Szene-Event. Neben der Unterhaltung und dem sportlichen Aspekt, vermittelte die Veranstaltung ideologisch die Notwendigkeit zur eigenen körperlichen Ertüchtigung, um wehrhaft im Kampf gegen den politischen Gegner zu sein. Nachdem der KDN in den vergangenen Jahren von den Sicherheitsbehörden weitgehend unterbunden wurde, verlagerten die Neonazis ihre Aktivitäten ins Ausland. Gemeinsam mit den rechtsextremistischen Gruppierungen "Legio Hungaria" aus Ungarn und "Pride France" aus Frankreich veranstalte das KDN-Team am 6. Mai 2023 die sogenannte "European Fight Night" (EFN) in Ungarn, die als Ersatzveranstaltung des KDN fungierte. Werbung für die "European Fight Night" auf Telegram rechtsextremIsmus 119 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Vorfeld haben die Polizei und mehrere Kommunen in Nordrhein-Westfalen bei zahlreichen rechtsextremistischen mutmaßlichen Teilnehmern versucht, die Ausreise zur Veranstaltung zu verhindern. Gegen Meldeauflagen der Polizei beziehungsweise Passentziehungen und räumliche Beschränkungen des Personalausweises durch die Kommunen klagte eine Reihe von betroffenen Rechtsextremisten. In den meisten Fällen konnten die Rechtsextremisten mit Eilanträgen vor den Verwaltungsgerichten die Aufhebung der behördlichen Maßnahmen erreichen. Im Fall des Organisators Deptolla erkannte das Oberverwaltungsgericht Münster zwar an, dass eine Passentziehung möglich, im Verfahren aber keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte dafür vorgetragen seien, seine Teilnahme an der Veranstaltung werde das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland sowie deren Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die grenzüberschreitende Bekämpfung des Neonazismus gefährden. Ursprünglich war ein Veranstaltungsort in Budapest vorgesehen. Nachdem der Inhaber der vorgesehenen Lokalität kurzfristig absagte, wichen die Organisatoren nach Csokakö in Ungarn aus, wo sie die Veranstaltung auf einem Sportplatz durchführten. Durch die kurzfristige Verlegung kamen nur rund 150 bis 200 Zuschauer. Außerdem begann die EFN verspätet und die Kämpfe in den Abendstunden waren bei einsetzender Dunkelheit nicht für alle Zuschauer gut zu verfolgen. Insofern dürften die Teilnehmerzahl und der Ablauf der Veranstaltung die Erwartungen der Beteiligten enttäuscht haben. Nach Angaben der Veranstalter nahmen 32 Kämpfer aus 12 Ländern an der Veranstaltung teil. Das zeigt die Bedeutung von rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltungen für die internationale Vernetzung von militanten Neonazis. Banner der veranstaltenden Organisationen bei der "European Fight Night" auf Telegram 120 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Zu Beginn des Jahres 2023 wechselten zahlreiche Neonazis von der Partei Die Rechte zur NPD, die sich inzwischen Die Heimat nennt. Das bedeutet aber keinen Wandel der Inhalte oder der Aktivitäten, sondern nur der Organisationszugehörigkeit. Damit bilden Die Heimat und Der III. Weg die Zentren der Neonazi-Szene Nordrhein-Westfalens. Ansonsten nimmt die Neonazi-Szene unterschiedliche Entwicklungspfade. Langjährige neonazistische Gruppierungen treffen sich weiterhin, agieren indessen weitgehend ohne Außenwirkung, um keinen Anlass für staatliche Repressionsmaßnahmen zu bieten. Die jüngere Neonazi-Szene in Dortmund hingegen agiert provokant und versucht öffentliche Räume für sich zu reklamieren - auch wenn dies bei strafbewehrtem Handeln zu Strafverfahren führt. Die neonazistische Kampfsportszene hingegen verlegt ihre Veranstaltungen ins Ausland, damit die deutschen Sicherheitsbehörden diese nicht verhindern können. rechtsextremIsmus 121 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Subkulturell geprägter Rechtsextremismus Sitz/Verbreitung Landesweite Verteilung mit regionalen Schwerpunkten Gründung/Bestehen seit Ende der 1960er Jahre in Großbritannien, seit circa Ende der 1970er Jahre in anderen europäischen Staaten Struktur/ Repräsentanz In der Regel keine festen Strukturen, eine Ausnahme bilden die Brothers of Honour sowie die 2023 verbotenen Hammerskins mit einem festen hierarchischen Aufbau. Mitglieder/Anhänger/ circa 1.150 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Print-Publikationen, Soziale Medien, CDs und StreamingAngebote und Online-Shops Kurzporträt/Ziele Der subkulturell geprägte Rechtsextremismus definiert sich hauptsächlich über eine spezifische Musik und den damit zusammenhängenden Lebensstil. Es geht darum, eine rechtsextremistische Erlebniswelt mit gemeinsamen Freizeitaktivitäten wie Musikveranstaltungen zu schaffen. Subkulturell geprägte Rechtsextremisten vertreten rassistische, fremdenfeindliche, nationalistische und antisemitische Positionen. Zudem befürworten sie rassistische Gewalt. Rechtsextremistische Skinheads bilden immer noch die wichtigste Subkultur im Rechtsextremismus. Äußerlichkeiten wie Dresscode oder Haarschnitt lassen heutzutage allerdings kaum noch eine eindeutige Zuordnung zur rechtsextremistischen Skinhead-Szene zu. Einerseits gibt es weitgehend unpolitische Jugendliche, die ein vermeintlich Skinhead-typisches Aussehen zeigen, ohne dem rechtsextremistischen Teil der Szene anzugehören. 122 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Andererseits verlieren die altbekannten Erscheinungsbilder seit einigen Jahren immer mehr an Bedeutung. Insbesondere für den rechtsextremistischen Teil der Skinhead-Szene ist es im Alltag einfacher, nicht durch offensichtliches Tragen von einschlägig bekannten Zeichen oder Haarschnitten eine politische Zuordnung zu ermöglichen. Finanzierung Verkäufe von CDs und Merchandise-Artikeln, Organisation und Durchführung von Musikveranstaltungen Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Subkulturell geprägte Rechtsextremisten vertreten rassistische, fremdenfeindliche, nationalistische und antisemitische Positionen gepaart mit einem hohen Gewaltpotenzial. Musik spielt hier eine herausragende Rolle zur Selbstvergewisserung, Politisierung und Rekrutierung der Szene. Bands, CDs und Konzerten gilt deshalb ein besonderes Interesse. Oftmals gehen gerade rechtsextremistische Musikveranstaltungen mit menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Liedtexten sowie gelegentlich mit offenen Bekenntnissen zum Nationalsozialismus, wie dem Zeigen des Hitler-Grußes, einher. Der subkulturell geprägte Rechtsextremismus unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Gruppierungen Blood and Honour (B&H) und Hammerskins sind die wichtigsten international tätigen rechtsextremistischen Skinhead-Organisationen, die Konzerte veranstalten. In Deutschland wurde bereits im September 2000 die Blood and Honour-Division Deutschland verboten. In anderen Ländern ist B&H eng mit Combat 18 (C18) verbunden. Die deutsche C18-Gruppierung wurde 2020 vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat verboten. Eine weitere international agierende Organisation von besonderer Bedeutung sind die Hammerskins. Die deutsche Sektion hat das Bundesministerium des Innern am 24. Juli 2023 verboten. Das Verbot hat die Polizei am 19. September 2023 umgesetzt, vier rechtsextremIsmus 123 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Personen in Nordrhein-Westfalen die Verbotsverfügung zugestellt und deren Wohnungen durchsucht. Die sogenannte Hammerskin-Nation (HSN) wurde Ende der 1980er Jahre in den USA gegründet und ist seit Anfang der 1990er Jahre in Deutschland aktiv. Sie versteht sich als Elite der rechtsextremistischen Skinhead-Szene und hat eine hierarchische Struktur. Die Vereinigung ist nach Ländern unterteilt. Eine Ebene darunter ist sie in mehreren Regionalgruppen, sogenannten Chaptern, organisiert, die unabhängig voneinander agieren. In Nordrhein-Westfalen waren bis zum Verbot die "Chapter Westfalen" und "Chapter Rheinland" aktiv. Das Spektrum der Aktivitäten umfasste unter anderem interne Treffen und Feiern sowie Besuche von rechtsextremistischen Musikveranstaltungen. Abgesehen davon beteiligten sich die Hammerskins in den vergangenen Jahren mehrfach an der Organisation von rechtsextremistischen Musikund Kampfsportveranstaltungen. Eine weitere Gruppierung sind die Brothers of Honour. Deren Führungsperson ist zugleich Sänger der rechtsextremistischen Band Oidoxie. Weitere Führungspersonen stammen ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen. Die meisten Mitglieder der deutschlandweit aktiven Gruppierung sind seit vielen Jahren im subkulturellen Rechtsextremismus aktiv. Die Brothers of Honour veranstalten eigene rechtsextremistische Musikveranstaltungen und besuchten in Deutschland und in anderen Ländern rechtsextremistische Konzerte. Am 3. Juni 2023 unterband die Polizei in Rheinland-Pfalz im Kreis Altenkirchen an der Landesgrenze zu Nordrhein-Westfalen eine von der Gruppierung organisierte Musikveranstaltung mit der rechtsextremistischen Band Odessa. Im Außenbereich der Veranstaltungsstätte stellte die Polizei einen Verkaufsstand mit NS-Devotionalien fest. Weiterhin sind die Mindener Jungs als regionale subkulturelle Gruppierung seit vielen Jahren aktiv. Bei den Mitgliedern handelt es sich überwiegend um langjährige Szeneangehörige. Diese unterhalten auch Kontakte zu den Brothers of Honour. Bands und Konzerte Mit der im Jahr 2021 erstmals erschienen rechtsextremistischen Musikzeitschrift Rock Hate, die in Nordrhein-Westfalen herausgegeben wird, hat die Szene ein neues Medium zur Information, Werbung und internen Diskussion. Inzwischen Der Podcast von "Rock Hate" auf Telegram sind sieben Ausgaben des Maga124 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 zins erschienen. Darüber hinaus betreibt Rock Hate einen Telegram-Kanal und einen Podcast. Im Telegram-Kanal werden aktuelle CD-Veröffentlichungen rechtsextremistischer Bands und Inhalte anderer rechtsextremistischer Gruppierungen geteilt und beworben. Überregional bekannt in der Szene sind aus Nordrhein-Westfalen unter anderem die Bands Oidoxie, Sleipnir, Division Germania, Sturmwehr und Smart Violence, die allesamt seit mehreren Jahren aktiv sind. Letztere veröffentlichte 2023 das Album "Der letzte seiner Art". Konzerte sind ein wichtiges Element der Erlebniswelt Rechtsextremismus, in der politischen Agitation, Freizeitaktivitäten und Unterhaltung verbunden werden, um insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen. Die Attraktivität der Veranstaltungen macht neben der Musik das Treffen Gleichgesinnter, der Konsum von Alkohol und das Zeigen rechtsextremistischer Symbolik sowie Slogans aus. Im Unterschied zu den vorwiegend rocklastigen, größeren Konzerten dienen Balladenoder Liederabende dazu, einen eher kleineren Teilnehmerkreis anzusprechen. Dabei spielt meistens ein Sänger mit Gitarre überwiegend ruhige Stücke. Derartige Veranstaltungen werden oftmals von Parteiverbänden oder Freien Kameradschaften mit dem Ziel organisiert, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Im Jahr 2023 fanden in Nordrhein-Westfalen wieder vermehrt Konzerte oder anderweitige Musikveranstaltungen statt. Dies waren sieben Konzerte, zehn Liederbeziehungsweise Balladenabende und sechs sonstige rechtsextremistische Veranstaltungen mit Livemusik. Zu den sonstigen Veranstaltungen zählen zum Beispiel parteiinterne Feste oder Geburtstagsfeiern, bei denen Musik Teil der Veranstaltung ist. Zu letzterem zählt der "Nationalrevolutionäre WeihnachtsKonzertankündigung von Makss markt" der Partei Der III. Weg mit rund 80 Teilnehmern. Damage und Proto auf dem Telegram-Kanal des III. Wegs in Dort traten die Rechtsrapper Makss Damage und Hilchenbach Proto auf, die unter anderem das Lied "weiß, männlich, kampfbereit" sangen. Die Anzahl der festgestellten Musikveranstaltungen ist im Vergleich zum Vorjahr somit von 25 auf 23 leicht gesunken. Soweit bekannt, nahmen maximal 100 Personen an den jeweiligen Veranstaltungen teil. rechtsextremIsmus 125 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Einen rechtsextremistischen Liederabend in einer Gelsenkirchener Kleingartenanlage beendete am 28. Oktober 2023 die Polizei, weil der Verdacht bestand, dass Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen oder vorbereitet wurden. Zu Beginn der Musikveranstaltung wurden wiederholte und lautstarke "Sieg Heil"-Rufe aus dem Vereinsheim der Kleingartenanlage vernommen. Insgesamt leitete die Polizei sieben Strafverfahren ein. Zu den 78 festgestellten Personen gehörte auch der Kopf der rechtsextremistischen Band Sturmwehr und eine weitere Person, die mit jenem das rechtsextremistische Bandprojekt Hier und Jetzt bildet. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Rechtsextremistische Musik ist zum einen ein Ausdrucksmittel einer Subkultur, die sich für Menschenverachtung und Demokratiefeindschaft ausspricht. Zum anderen ist sie ein effektives Mittel rechtsextremistischer Strategen, ihre Propaganda Jugendlichen und jungen Erwachsenen nahezubringen. Zudem handelt es sich bei rechtsextremistischer Musik um ein kommerzielles Geschäft, an dem Bands, Konzertveranstalter und Vertriebe verdienen. Mit der Modernisierung der Erscheinungsformen des Rechtsextremismus hat sich auch deren Musik gewandelt. Die Vielfalt an Musikstilen hat zugenommen. Dies beinhaltete sogar ideologisch widersprüchlich erscheinende Entwicklungen wie Nationaler Rap. Durch die digitale Revolution der letzten 20 Jahre haben sich die Vertriebsbedingungen für rechtsextremistische Musik enorm verbessert. Nachdem die Corona-Pandemie mit den damit einhergehenden Beschränkungen zu einem Einbruch bei den Veranstaltungen geführt hatte, war 2022 durch die Versuche der subkulturellen Szene gekennzeichnet, wieder rechtsextremistische Musikveranstaltungen durchzuführen. Dies hat sich auch 2023 fortgesetzt, wobei die Szene in Nordrhein-Westfalen weiterhin Schwierigkeiten hat, Veranstaltungsörtlichkeiten zu finden. 126 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 rechtsextremIsmus 127 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter Sitz/Verbreitung NRW-weite Verbreitung Gründung/Bestehen seit 1985 (Gründung der ersten Reichsbürgergruppierung Kommissarische Reichsregierung (KRR) in Berlin) Struktur/ Repräsentanz Die heterogene Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter besteht aus einer Vielzahl von Einzelpersonen und Kleingruppen, die zum Teil miteinander kooperieren, sich zum Teil aber auch scharf voneinander abgrenzen. Neben kleinen, sektenartigen Gruppen mit hohem Organisationsgrad gibt es ebenso lose strukturierte Gruppierungen sowie Einzelpersonen, die nur im Internet aktiv sind oder sich an Behörden wenden. Bei der Mehrzahl der Reichsbürger und Selbstverwalter in Nordrhein-Westfalen ist keine feste Organisationsbindung erkennbar. Mitglieder/Anhänger/ circa 3.400 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Publikationen wie Flyer, Broschüren, Flugblätter, Postwurfsendungen. Eigene Webseiten der einzelnen Gruppierungen sowie soziale Medien. Offene Briefe, sogenannte "Anordnungen", "Amtsblätter" oder "Bekanntmachungen" an Behörden Kurzporträt/Ziele Inhaltlicher Konsens der Reichsbürger-Szene sind Behauptungen, dass das Deutsche Reich in den Grenzen des Kaiserreichs von 1871 beziehungsweise der 1930erJahre weiterhin existiere und/oder dass der Bundesrepublik Deutschland die rechtliche Legitimation fehle. Die Bundesrepublik sei eine GmbH und die Behörden deshalb nur "Scheinbehörden".Teilweise behaupten Reichsbürger auch, dass eine von ihnen geführte kommissarische Reichs128 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 regierung die Staatsgewalt ausübe. Daraus leiten sie für sich hoheitliche Befugnisse ab. Selbstverwalter knüpfen dagegen in ihrer Argumentation nicht an eine staatliche Autorität an. Sie berufen sich auf ein selbst definiertes Naturrecht, wonach sie als Individuen eigene Hoheitsrechte besäßen. Reichsbürger und Selbstverwalter sprechen gleichermaßen demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation ab und begehen Verstöße gegen die Rechtsordnung. Die Anhänger sind überzeugt, nach einem von ihnen erklärten Austritt aus der angeblichen Bundesrepublik Deutschland GmbH in der Folge nicht weiter an bestehende Gesetze gebunden zu sein. Teile der Reichsbürger-Szene überschneiden sich personell mit der rechtsextremistischen Szene und vertreten rechtsextremistische Argumentationsmuster. Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter lässt sich in drei Motivgruppen unterteilen: erstens Rechtsextremisten, zweitens Verschwörungsmystiker und drittens Personen, die sich finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Staat entziehen möchten. Im jeweiligen Einzelfall können sich die Motive unterschiedlich mischen. Oftmals haben Reichsbürger und Selbstverwalter durch eine Lebenskrise Zugang zur Szene gefunden. Zudem treten in der Reichsbürger-Szene häufig Personen mit Verhaltensmustern psychisch Erkrankter auf. Die Protestveranstaltungen gegen Corona-Schutzmaßnahmen waren in den Jahren 2020/21 ein weiteres Handlungsfeld für Reichsbürger und Selbstverwalter. Reichsbürger und Selbstverwalter haben ein erhebliches Gewaltpotenzial. Wiederkehrend sind Gewaltdelikte und ein teilweise umfangreicher Waffenbesitz in dieser Szene festzustellen. Gerichte, Polizei und Behörden werden in ihrer Arbeitsweise behindert und deren Mitarbeiter eingeschüchtert und bedroht. rechtsextremIsmus 129 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Finanzierung Bei den Gruppierungen durch Mitgliedsbeiträge, Veranstaltungen, Seminare Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Reichsbürger und Selbstverwalter sind verfassungsfeindlich, da sie die freiheitliche demokratische Grundordnung offensiv ablehnen. Dies zeigt sich unter anderem im Verweigern von Steuerzahlungen und dem Nichtanerkennen von behördlichen Bescheiden sowie im Errichten vermeintlich eigener "Staaten". Gerichten und Behörden gegenüber wird mitunter offen aggressiv aufgetreten. Die fundamentale Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Gesetze und Institutionen bietet hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Ausrichtung, auch wenn diese Bestrebungen nur zum Teil einen eindeutig rechtsextremistischen Hintergrund, wie zum Beispiel ein gebietsund geschichtsrevisionistisches Weltbild, haben. Die Reichsbürger und Selbstverwalter unterliegen deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Aktivitäten von Gruppierungen Die Gruppierung S.H.A.E.F. Regierungsinstitution Deutschland gewann ab 2021 innerhalb der Reichsbürgerszene an Bedeutung. Die Abkürzung S.H.A.E.F. steht für "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces", das Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Nordwestund Mitteleuropa am Ende des Zweiten Weltkrieges. In Tradition an die Namensgebung behauptet die Gruppierung, dass die Bundesrepublik Deutschland bis heute kein souveräner Staat mit legitimer Staatsgewalt ist, sondern sich noch immer unter der Besatzung der Alliierten befindet. Allein deren S.H.A.E.F.Gesetze werden als weiterhin gültig anerkannt. Aufgrund dessen wird staatliches Handeln von etlichen Anhängern als feindliche Bedrohung wahrgenommen. An Behörden und deren Mitarbeiter gerichtete Drohschreiben erscheinen der Anhängerschaft als probates Mittel des Widerstandes gegen die vermeintlichen Unterdrücker. Weiterhin verbreiten sie im virtuellen Raum offensiv reichsbürgertypische Behauptungen. Am 18. März 2023 verstarb die Führungsperson während eines Klinikaufenthaltes. Seitdem sind die Aktivitäten von Reichsbürgern, die sich auf S.H.A.E.F. beziehen, merklich zurückgegangen. 130 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Logo von "S.H.A.E.F." Der Verein Erbengemeinschaft Jakob e.V./Nation Ephraim ist nach eigener Aussage seit 2017 in NRW aktiv. Die Mitglieder stellen sich als Nachfolger der Stämme Israels aus biblischer Vorzeit dar und haben sich angeblich zum Ziel gesetzt, einen neuen Staat nach dem Vorbild des Königreichs David in Israel zu errichten. Der Verein spricht damit dem Staat Israel seine Legitimation ab. Angehörige der jüdischen Glaubensgemeinschaft gelten in den Augen des Vereins als "Zionisten". In der Öffentlichkeit treten die Mitglieder als vorgebliche Fürsprecher jüdischer Interessen und Gegner des Antisemitismus auf. Dieses vermeintliche Engagement dient dem Verein jedoch lediglich als Fassade. Nach dem Angriff der HAMAS auf Israel instrumentalisierte der Verein den Nahost-Konflikt, um durch vermeintliche Spendenaktionen für die israelischen Streitkräfte weitere finanzielle Zuwendungen zu erhalten. Gestützt wird dies durch eine "Vor-Ort-Berichterstattung" mit Videos aus Israel über den YouTube-Kanal des Vereins. Ob die Berichte tatsächlich aus Israel stammen, lässt sich nicht überprüfen. Die Bundesrepublik Deutschland ist in der Wahrnehmung der Verfassunggebenden Versammlung (VV) kein legitimer Staat, sondern ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Deswegen arbeitete die VV jahrelang namensgetreu an einer neuen Verfassung, die einem neu zu konzipierenden deutschen Staat zugrunde liegen sollte. Seit Ende 2022 wird dieses Vorhaben aber nicht mehr weiterverfolgt. Stattdessen setzt man stärker darauf, angebliche Parallelstrukturen zur Bundesrepublik Deutschland unter der Bezeichnung Vereinte Nation wenea zu entwickeln. Das sogenannte "Manifest" bildet die Rechtsgrundlage. Eine "Verwaltung" regelt in den jeweiligen Bereichen die administrativen Angelegenheiten, während die wenea Akademie Wissen verrechtsextremIsmus 131 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 mitteln und schon die Kinder im Sinne der Gruppierung unterweisen soll. Das weneaGesundheitshaus will das körperliche Wohlbefinden der Mitglieder garantieren und künftig entsprechende Listen von medizinisch geschulten Fachleuten bereitstellen. Treffen der Mitglieder sollen künftig innerhalb der jeweiligen wenea-Gemeinde vor Ort eigenständig organisiert werden. Für NRW sind aktuell 33 dieser "Gemeinden" gelistet. Tatsächlich handelt es sich bei wenea um mehr Schein als Sein. Kaum eines der angekündigten Vorhaben konnte bislang ansatzweise realisiert werden. Handlungsfähig und wirksam ist die VV allein bei ihren Propaganda-Aktivitäten. Dazu fungiert das ddbradio, ein von der gruppierungseigenen Deutsche Depeschen Bildund Tonagentur/ddb betriebenes Webradio, als Sprachrohr für eigene Inhalte. Neben der Verbreitung von gängigen Verschwörungserzählungen wie der "New World Order" wird darüber hinaus in reichsbürgertypischem Duktus zu aktuellen Themen berichtet. Der Fantasiestaat Königreich Deutschland (KRD) versucht weiterhin neue Mitglieder und vor allem Geldgeber zu gewinnen, um sogenannte autarke "Gemeinwohldörfer" aufzubauen. Im Jahr 2023 gab das KRD an, dass es in Nordrhein-Westfalen neue KRD-Betriebe gäbe. Die Internetseite wirbt unter der Überschrift "Freies Unternehmertum im Königreich Deutschland" unter anderem damit, dass Unternehmen, die ihren Firmenhauptsitz in das Königreich Deutschland verlegen, so in ein steuerfreies Wirtschaftssystem gelangen würden. Hier geht es den Gewerbebetreibenden in erster Linie darum, sich der Steuerpflicht zu entziehen. Das KRD wiederum will neue Mitglieder gewinnen und damit weitere Einnahmen generieren. Die Voraussetzung, um den Firmensitz in das KRD zu verlegen, ist die Teilnahme an einem zweitägigen kostenpflichtigen Seminar zu den Themen "Grundlagen des freiheitlichen Unternehmertums" und "Gestaltung des eigenen KRD-Unternehmens". Durch die Seminare nimmt das KRD wiederum Geld ein. So gibt es seit Anfang 2023 eine neue Internetpräsenz namens LEUCHT-TURM. Über diese werden vermehrt "Vor-Ort-Veranstaltungen" - mit dem Schwerpunkt im Raum Köln - angeboten. Zum sogenannten LEUCHT-TURM-Team gehören vier sogenannte "Vortragsredner", die vom KRD zu "lizensierten KRD-Partnern" ausgebildet wurden, um selbständig KRD-Vorträge und Ankündigung eines Seminars des "Leucht-Turm"Teams auf Telegram Systemausstiegs-Seminare halten zu können. 132 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Aus der 2018 gegründeten Reichsbürgergruppierung Bismarcks Erben entstanden 2019 die Substrukturen Ewiger Bund und Vaterländischer Hilfsdienst (VHD). Gegründet wurde der VHD mit der Zielsetzung, das "Deutsche Kaiserreich" wieder neu aufzubauen und handlungsfähig zu machen. Der VHD organisierte auch im Jahr 2023 in Nordrhein-Westfalen wieder Zusammenkünfte, zu denen auch Kinder mitgebracht werden konnten. Diese fanden unter anderem in Unna und im Raum Geldern statt. Seit Beginn dieses Jahres ist ein starker Anstieg von vorgefertigten Fax-Schreiben der Organisation Indigenes Volk der Germaniten (IGV) auch an nordrhein-westfälische Behörden zu verzeichnen, in denen sich Personen als Angehörige der genannten Organisation bezeichnen. Ebenso wurden Musterformulare bekannt, mit denen man bewegliches und unbewegliches Eigentum, an die nach Eigenangabe im Jahr 2010 gegründete Gruppierung, übertragen können soll. Vereinzelt wurde festgestellt, dass Personen, die bis zum Verbot im Jahr 2020 bei der Vereinigung Geeinte Deutsche Völker und Stämme aktiv waren, nun zum IGV gewechselt sind. Das IGV reklamiert für sich, nicht dem Recht der Bundesrepublik Deutschland zu unterliegen. Lediglich die entsprechenden Resolutionen der UN-Generalversammlung und völkerrechtlichen Verträge, die für andere Indigene geschlossen wurden, dürften angewandt werden. Das Bundesverwaltungsgericht hatte 2017 entschieden, "Indigene Germaniten" nicht als Volk anzuerkennen. Einschüchterung und Gewalt Reichsbürger und Selbstverwalter versuchen teilweise, Amtshandlungen der Beschäftigten von Kommunen, Justiz und Polizei digital zu dokumentieren. Auf diese Weise entstandene Videos und Audios werden unerlaubt im Internet verbreitet. Dabei wird das Material oft so zurechtgeschnitten, dass die Behördenmitarbeiter inkompetent oder überfordert wirken. Diese Strategie zielt darauf ab, die Bediensteten einzuschüchtern und sie künftig von ihrem Handeln abzuhalten. Einige Reichsbürger und Selbstverwalter gehen darüber hinaus und bedrohen Behördenmitarbeiter und begehen sogar Körperverletzungsdelikte. Reichsbürger und Selbstverwalter verüben aber nicht nur situativ Gewalt, sondern ein kleiner Teil der Szene ist zudem bereit, Gewalt zur Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung einzusetzen. Das Landgericht Stuttgart verurteilte im November 2023 die Gruppe S. wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Darunter waren zwei Reichsbürger aus Nordrhein-Westfalen. Der eine wurde wegen der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie vorsätzrechtsextremIsmus 133 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 licher Zuwiderhandlung gegen ein Waffenbesitzverbot zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, der andere wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von jeweils zwei Jahren und sechs Monaten. Die Reichsbürger-Gruppierung um Heinrich XIII Prinz R. hatte einen Staatsstreich beabsichtigt. Gegen 27 Personen erfolgen dazu im Frühjahr 2024 Verfahren vor den Oberlandesgerichten Stuttgart, Frankfurt und München. Es ist zu erwarten, dass weitere Anklagen gegen die bisher noch nicht angeklagten Beschuldigten im Jahr 2024 erfolgen werden. Zu den Beschuldigten zählt auch eine Polizistin aus NordrheinWestfalen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Reichsbürger und Selbstverwalter versuchen durch ihre Aktivitäten eine sachgerechte Arbeit der Behörden zu behindern. Davon sind insbesondere die Kommunen betroffen. Dies schließt auch Einschüchterungsversuche und Gewalttaten gegen Beschäftigte von Behörden ein. Häufiges Feindbild sind dabei der demokratische Rechtsstaat und seine Repräsentanten. Wiederkehrend sind bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern gewaltbefürwortende Kommentare, Widerstandshandlungen und der Fund illegaler Waffen festzustellen. Deswegen bewertet der Verfassungsschutz diese extremistische Szene weiterhin als Bestrebung mit erheblichem Gewaltund Gefährdungspotenzial. 134 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 rechtsextremIsmus 135 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Rechtsextremistische Zeitschriften Im Rechtsextremismus dienen Zeitschriften als Meinungsund Informationssystem. Die Szene braucht sie, um gemeinsam aktionsund strategiefähig zu bleiben. Zudem schaffen sie die Möglichkeit der ideologischen Selbstvergewisserung. Diese Funktionen sind umso wichtiger, je mehr sich der Rechtsextremismus ausdifferenziert und von informellen Strukturen geprägt ist. Auch wenn Webseiten und vor allem die sozialen Medien den Printmedien weitgehend den Rang abgelaufen haben, ist es auffallend, dass Rechtsextremisten aus NRW seit 2016 mit dem Magazin N.S. Heute ein neueres Ideologieorgan und 2021 die rechtsextremistische Musikzeitschrift Rock Hate gründeten. Weiterhin stammt die rechtsextremistische Zeitschrift Unabhängige Nachrichten ebenfalls aus NRW und findet auf Grund ihrer jahrzehntelangen Geschichte Beachtung in der rechtsextremistischen Szene. N.S. Heute Die rechtsextremistische Zeitschrift N.S. Heute (Nationaler Sozialismus Heute) erscheint ungefähr im zweimonatlichen Rhythmus. Laut ihrer Webseite hat sie folgendes Selbstverständnis: "Die N.S. Heute ist eine Zeitschrift von Nationalisten für Nationalisten!" Als Autoren und Interviewpartner werden immer wieder Rechtsextremisten aus verschiedenen Organisationen und Szenen gewonnen. Die Finanzierung der Zeitschrift, die in einer Auflagenhöhe von rund 1.300 Exemplaren erscheint, erfolgt vor allem über Abonnements. Das Landgericht Dortmund hat im Februar 2023 den Herausgeber Sascha Krolzig zu einer einjährigen HaftTitelblatt der "N.S. Heute" Mai Juni strafe wegen Volksverhetzung und Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt ist. Krolzig schilderte in der Augustausgabe 2023 auf die Frage, ob es ein politisches oder persönliches prägendes Ereignis gibt, "dass man nicht irgendwann Nationalist wird, sondern dass man früher oder 136 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 später erkennt, dass man schon immer einer gewesen ist." Als prägendes Ereignis in seiner Jugend nannte er eine Begegnung mit der Polizei, bei der ihm aus seiner Sicht ein unbegründeter Platzverweis ausgesprochen wurde. "Mir wurde in der Folgezeit immer mehr bewusst: Ein Regime, in dem so etwas möglich ist, ist volksfeindlich und antideutsch bis ins Mark und muss unter allen Umständen überwunden werden, wenn unser Volk eine lebenswerte Zukunft haben soll." Der herausgebende Sturmzeichen Verlag hat neben der Zeitschrift in den vergangenen Jahren sein Angebot um die Herausgabe von Szeneliteratur erweitert. Dazu zählt beispielsweise ein 2023 erschienener Sammelband zum 2021 verstorbenen Neonazi Siegfried Borchardt, in dem unter anderem zahlreiche Rechtsextremisten ihre Erinnerungen an Borchardt schildern. Rock Hate Das rechtsextremistische Musikmagazin Rock Hate aus NRW erscheint seit April 2021 und ist auf semi-professionellem Niveau gestaltet. Das Magazin versteht sich als "Stützpunkt der nationalistischen Gegenkultur". 2023 erschienen die Ausgaben sechs und sieben. Interviews dominieren die Zeitschrift. Neben rechtsextremistischen Musikern werden auch der Herausgeber der NS Heute, Sascha Krolzig, sowie der Bundesvorsitzende der Partei Die Rechte interviewt. Ferner werden neue rechtsextremistische Musik-CDs vorgestellt. Neben Musik spielen aber auch andere Themen aus dem rechtsextremistischen Interessenspektrum in der Zeitschrift eine Rolle. In Ausgabe sechs gibt eine Anwältin Hinweise, welche Rechte ein BeTitelblatt der "Rock Hate" Nr. 6 schuldigter oder Zeuge bei einer Vorladung durch die Polizei oder Staatsanwaltschaft hat. Eine andere Autorin greift das in der Prepper-Szene beliebte Thema auf, wie man sich auf einen Blackout vorbereiten sollte. In seinem Telegram-Kanal greift Rock Hate auch tagesaktuelle Themen auf und verbreitet Postings von anderen rechtsextremistischen Telegram-Kanälen. Insbesondere nutzen die Herausgeber den Kanal, um mit ihren Nutzern zu interagieren und beispielsweise das Album des Jahres wählen zu lassen. rechtsextremIsmus 137 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Unabhängige Nachrichten Seit 1969 erscheint bundesweit die Monatszeitschrift Unabhängige Nachrichten (UN), die vom Oberhausener Freundeskreis UN e.V. herausgegeben wird. Dass die deutsche Presselandschaft gleichgeschaltet sei und einseitig berichte, unterstellen die Herausgeber. Die UN versuchen, rechtsextremistischen Positionen Öffentlichkeit zu verschaffen, wobei Reichweite und Öffentlichkeitswirksamkeit auf Grund des multimedial zielgruppenorientierteren Angebotes alternativer rechtextremistischer Plattformen begrenzt sind. Im Stil und Layout des Boulevards werden in Kurzartikeln rechtsextremistische Verschwörungsmythen aufgegriffen und verbreitet. In der Mai-Ausgabe 2023 findet sich das einschlägige Narrativ der angeblich elitengesteuerten Gesellschaftstransformation: "Es tobt ein soziokultureller Generalangriff auf alles, was einmal war: Volkstum, Geschichte, Familie, Moral, Kultur, Sprache und Bildung. [...] Das Volk [...] dumm zu halten, ist offenbar das Ziel der heutigen Schulund Bildungspolitik." Ferner nehmen revisionistische Aussagen in der UN breiten Raum ein. So wird in derselben Ausgabe unter dem Titel "Totengedenken nicht mehr zeitgemäß!" von der "[...] gelungenen Umerziehung und der perfekten Gehirnwäsche durch die Alliierten und ihrer deutschen Handlanger [...]" gesprochen. Das in der rechtsextremistischen Szene zentrale Thema der Migration spielt ebenfalls in der UN eine Rolle. Beispielsweise beziehen sich in der Juni-Ausgabe die Autoren auf den völkisch-nationalistischen Verschwörungsmythos vom sogenannten "Großen Austausch": "Die Wahrheit ist: Der Volksaustausch nimmt noch mehr Fahrt auf!" In entsprechendem Duktus werden Flüchtlinge Titelblatt der "Unabhängigen Nachrichten" Nr. 9 abwertend als "Asylfordernde" bezeichnet. 138 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 rechtsextremIsmus 139 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Rechtsterrorismus Im Jahr 2023 blieb die Bekämpfung des Rechtsterrorismus eine zentrale Aufgabe der Sicherheitsbehörden. Beim Rechtsterrorismus handelt es sich im strafrechtlichen Sinne um schwerwiegende rechtsextremistisch motivierte Gewaltdelikte, die im Rahmen eines nachhaltig geführten Kampfes durch arbeitsteilig organisierte und verdeckt operierende Gruppen planmäßig begangen werden. Auch wenn es sich bei Taten von allein handelnden Tätern nach der strafrechtlichen Definition nicht um Terrorismus handelt, werden diese hier mit in den Blick genommen. Denn diese Taten zielen wie Terrorismus darauf, Teile der Bevölkerung oder das demokratische Gemeinwesen in Gänze zu bedrohen. In den vergangenen Jahren verbreiteten Rechtsextremisten anlässlich verschiedener gesellschaftlicher und politischer Krisen fortwährend Widerstandsund Bürgerkriegsrhetorik und trugen damit zu einer Radikalisierung von einem Teil der Szene bei, was sich auch in der Planung und Ausführung von schweren Gewalttaten niederschlägt. Mordanschläge und schwere Straftaten Der 16-jährige Schüler Jeremy R. plante im Mai 2022, einen rechtsextremistisch motivierten Anschlag auf seine Schule zu begehen. Durch den Hinweis eines Mitschülers konnte die Polizei den Anschlag verhindern und ihn einen Tag vor der geplanten Tat festnehmen. Im Februar 2023 verurteilte das Gericht den Jugendlichen zu einer zweijährigen Haftstrafe auf Bewährung wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Außerdem musste er sich in eine psychiatrische Behandlung begeben. Terrorismus Die Sicherheitsbehörden orientieren sich bei der Verwendung des Begriffs "Terrorismus" am Straftatbestand der Bildung einer terroristischen Vereinigung gemäß Paragraph 129a Strafgesetzbuch. Gegen die Gruppe S. lief seit dem 13. April 2021 ein Strafprozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart, der mit der Urteilsverkündung am 30. November 2023 beendet wurde. Das OLG Stuttgart verurteilte die Gruppe wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Die Gruppe hatte vor, Anschläge auf Moscheen durchzuführen, um Gegenreaktionen von Muslimen auszulösen und letztlich bürgerkriegsähnliche 140 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zustände herbeizuführen. Eine Besonderheit der Gruppe S. bestand darin, dass in dieser sowohl Rechtsextremisten als auch Reichsbürger zusammenwirkten. Von den zehn Verurteilten stammen drei aus Nordrhein-Westfalen. Das Gericht verurteilte den Angeklagten Thomas N. wegen der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie vorsätzlicher Zuwiderhandlung gegen ein Waffenbesitzverbot zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Die Angeklagten Markus K. und Thorsten W. erhielten wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung Freiheitsstrafen von jeweils zwei Jahren und sechs Monaten beziehungsweise zwei Jahren und neun Monaten. Der Generalbundesanwalt wirft der Gruppierung Vereinte Patrioten vor, eine terroristische Vereinigung gegründet zu haben. Im Mai 2023 begann der Strafprozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz gegen die fünf mutmaßlichen Rädelsführer. Während die ideologische Führungsperson der Reichsbürgerszene zuzurechnen ist, stammen die anderen Beschuldigten weitgehend aus dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates. Die Gruppierung plante Einrichtungen der Stromversorgung zu zerstören, den Bundesminister für Gesundheit zu entführen und eine neue Verfassung nach dem Vorbild des deutschen Kaiserreichs einzuführen. Die Ermittlungen führten zu weiteren Verdächtigen, so dass die Polizei am 10. Oktober 2023 fünf weitere mutmaßliche Mitglieder beziehungsweise Unterstützter festnahm, darunter eine Person aus Nordrhein-Westfalen. Im Dezember 2022 fanden Exekutivmaßnahmen gegen die Reichsbürger-Gruppierung um Heinrich XIII Prinz R. statt. Die Bundesanwaltschaft veranlasste bei über 50 Beschuldigten Durchsuchungen. Davon wurden 25 Personen festgenommen. Im Juli 2023 bestätigte der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes, dass die Untersuchungshaft bei 22 Beschuldigten weiter andauert. Die Bei der Razzia gegen Reichsbürger führen Polizisten Gruppierung hatte einen Staatsstreich Heinrich XIII Prinz R. zu einem Polizeifahrzeug. beabsichtigt. Das Vorhaben sollte mit dem Einsatz militärischer Mittel und Gewalt gegen staatliche Repräsentanten verwirklicht werden. Hierzu zählte auch die Begehung von Tötungsdelikten. Der Strafvorwurf lautet "Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens" (Paragraph 83 Strafgesetzbuch) und "Bildung einer terroristischen Vereinigung" (Paragraph 129a StrafrechtsextremIsmus 141 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 gesetzbuch). Zu den Beschuldigten zählt auch eine Polizistin aus Nordrhein-Westfalen. Am 12. Dezember erhob der Generalbundesanwalt Anklage gegen 27 Personen. Nach bisherigem Stand erfolgen dazu Verfahren vor den Oberlandesgerichten Stuttgart, Frankfurt und München. Es ist zu erwarten, dass weitere Anklagen gegen die bisher noch nicht angeklagten Beschuldigten im Jahr 2024 erfolgen werden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die begangenen oder geplanten schweren Straftaten verdeutlichen die Gefahr rechtsterroristischer Potenziale. Dabei hat sich die Bandbreite der Tätertypen vergrößert. Rechtsterroristische Ansätze lassen sich immer weniger einem bestimmten rechtsextremistischen Akteur oder einer Szene zuordnen. Ein Teil der identifizierten Tatverdächtigen ist zuvor kaum oder überhaupt nicht durch rechtsextremistische Aktivitäten und Straftaten aufgefallen. Fremdenfeindlichkeit bleibt zwar für schwere Straftaten bis hin zum Rechtsterrorismus das wichtigste Tatmotiv, allerdings verfügen die Täter eher selten über ein gefestigtes umfassendes rechtsextremistisches Weltbild. Stattdessen dominieren diffuse Feindbilder, die die Täter mithilfe von rechtsextremistischen Onlinediskursen individuell entwickeln und dabei verschiedene Diskursstränge kombinieren. Das Zusammenwirken von Rechtextremisten, Reichsbürgern und Delegitimierern in terroristischen Gruppierungen zeigt, dass sich Teile der verschiedenen extremistischen Szenen gleichsam im Widerstand sehen und deshalb schwere Gewalttaten als notwendig und gerechtfertigt erachten. Zumindest in diesen terroristischen Gruppen verlieren die ideologischen Differenzen an Bedeutung. Wie die Fälle Jeremy R., Gruppe S. und die Reichsbürger-Gruppierung um Heinrich XIII Prinz R. zeigen, ist nicht auszuschließen, dass auch in Nordrhein-Westfalen extremistische Akteure schwerste Straftaten planen. Deswegen bleibt der Verfassungsschutz in dieser Hinsicht besonders wachsam und arbeitet eng mit anderen Sicherheitsbehörden zusammen. 142 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 rechtsextremIsmus 143 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Rechtsextremismus im Internet Der virtuelle Raum mit seinen vielfältigen Möglichkeiten steht im Zentrum der rechtsextremistischen Propaganda und des gegenseitigen Austausches. Seine Nutzung hat die rechtsextremistische Szene in den vergangenen Jahren erheblich verändert. Durch immer neue Plattformen und Funktionen ist die Entwicklung hoch dynamisch. Virale Verbreitung von Kurzvideos In den vergangenen Jahren hat die Bedeutung von kurzen Videos, je nach Plattform auch "Shorts" und "Reels" genannt, zugenommen. Seit 2022 nutzen Rechtsextremisten zunehmend TikTok, um ihre Inhalte in kurzen Videos zu verbreiten. Der neurechte Vordenker Erk A. hielt auf der"Sommerakademie" 2023 des rechtsextremistischen Instituts für Staatspolitik einen Vortrag, in dem er die Spezifik dieses Videoportals und den Nutzen für die rechtsextremistische Szene erläuterte: "Mit den richtigen Zusammenschnitten, einfach aus ein paar Bildern, bisschen Text und einer Musik kann man eben auch ein rechtes Projekt, was die Reichweite angeht, extrem stark boosten und zwar von heute auf morgen." Insbesondere betonte er die Zielgruppe von TikTok: "Dann konsumiert über die Hälfte der 14 bis 19-jährigen in Deutschland TikTok, durchschnittlich übrigens 90 Minuten am Tag. Das heißt, man hat eigentlich 90 Minuten am Tag ein Fenster in deren Gehirn, wo man darein senden kann." Dabei sei wichtig, dass man die "eigene Botschaft in eigenen Worten über die eigene Blase hinaus" verbreiten könne. Einen viralen Erfolg stellte für die rechtsextremistische Szene die große Verbreitung des Popsongs "L'amour Toujours" dar, den sie mit dem fremdenfeindlichen Slogan "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" umtexteten. Dieser fand sich als "Meme-Song" in zahlreichen rechtsextremistischen Kurzvideos auf Instagram-Stories oder TikTok wieder. Auffallend an der viralen Verbreitung war, dass er auch von Profilen verbreitet wurde, die ansonsten keine rechtsextremistischen Inhalte aufwiesen. Ein weiteres Beispiel betraf eine antisemitische Aktion von Heimat Dortmund nach dem Angriff der HAMAS auf Israel. Der Kreisverband hisste am 10. Oktober 2023 am Szeneobjekt in Dortmund-Dorstfeld die palästinensische Flagge sowie ein Banner mit der Aufschrift "Israel ist unser Unglück". Dieser Aufschrift war in kleiner Schrift vorangestellt "Der Staat". Mit dem Slogan spielten die Rechtsextremisten auf den antisemitischen Spruch "Die Juden sind unser Unglück" an. Die Polizei leitete ein 144 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ermittlungsverfahren gemäß Paragraph 130 Absatz 6 Strafgesetzbuch ein und beschlagnahmte die Fahnen. Ein Anhänger von Heimat Dortmund filmte dies. In dem auf TikTok veröffentlichten Video wurde aber ausschließlich gezeigt, wie die Polizei die palästinensische Fahne abnahm. Dazu stand der Text "Polizei stiehlt #palestine Fahne!". In fünf Tagen wurde das Video 720.000-mal aufgerufen und 3.800-mal kommentiert. Die Kommentare verdeutlichten, dass das Video auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene wahrgenommen wurde. Zahlreiche Kommentatoren unterstellten der Polizei rechtswidriges Handeln und eine unzulässige Parteinahme. Mit dem geschnittenen Video versuchte der Ersteller einen falschen Eindruck zu erwecken, um damit die Nutzer gegen Juden und Polizisten aufzustacheln. Influencer Einzelnen Rechtsextremisten gelingt es durch ansprechend gestaltete Internetangebote ein hohes Maß an Verbreitung zu erreichen. Ein prägnantes Beispiel ist der in OWL lebende Tim Kellner. Als Social Media-Aktivist erzielt er seit Jahren eine sehr hohe virtuelle Reichweite von mehreren 100.000 Abonnenten. Das markanteste rhetorische Stilmittel von Kellner ist Ironie, womit er einerseits unterhalten, und andererseits seine menschenrechtsund demokratiefeindlichen Äußerungen verbrämen möchte. Damit tragen diese Aktivitäten zu einer Entgrenzung des Extremismus bei, indem er versucht, Anschlussfähigkeit in der Gesellschaft für extremistische Positionen zu erzielen. In der vergangenen beiden Jahre avancierte er zu einem der bedeutendsten Influencer innerhalb der Delegitimierungsszene. Dabei hetzte er seine Anhänger in einzelnen Fällen gegen politische Entscheidungsträger auf. Zudem griff er öffentliche Diskussionen um Flüchtlinge auf und verbreitete fremdenfeindliche Botschaften, indem er Migranten pauschal negativ und damit als Feindbild darstellte. Die Inhalte seiner Beiträge liegen in der Regel unterhalb der Strafbarkeitsschwelle. Jedoch finden sich unter den Kommentaren seiner Beiträge wiederkehrend beleidigende und bedrohende Äußerungen gegenüber Minderheiten und Politikern. Der Dortmunder Steven F. betreibt einen TikTok-Kanal und erzielt mit einzelnen Videos über 100.000 Aufrufe. Zu größerer Bekanntheit außerhalb der rechtsextremistischen Szene gelangte er im Januar und Februar 2023 als drei nicht-extremistische YouTuber nacheinander Interviews mit ihm führten und auf ihren jeweiligen Kanälen veröffentlichten. Eines der Videos wurde bis Ende 2023 rund 1,5 Millionen mal aufgerufen. In den Interviews boten die Influencer dem Neonazi eine Bühne, rechtsextremistische Narrative zu verbreiten und damit auch Nutzer außerhalb der rechtsextremistischen Szene zu erreichen. rechtsextremIsmus 145 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Videopodcasts Videoplattformen stellen für die rechtsextremistische Szene ein attraktives Propagandainstrument dar. So betreibt Alexander Deptolla, bis Anfang Januar 2023 Landesvorsitzender der Partei Die Rechte, seit Februar 2022 den Videopodcast "Wie gesagt". Darin bespricht er mit Angehörigen unterschiedlicher rechtsextremistischer Organisationen Themen, die für die Szeneöffentlichkeit interessant sind. In einer Abstimmung zum Jahresende 2023, welches Interview am interessantesten war, gewann der Bundesvorsitzende der rechtsextremistischen Partei Der III. Weg. Da sich der Podcast mit seinen Inhalten und Protagonisten auf das rechtsextremistische Spektrum beschränkt, ist seine Reichweite begrenzt. Die Videos erzielen eine vierstellige Zahl an Abrufen. Künstliche Intelligenz Die Verbreitung von Computeranwendungen, die auf künstlicher Intelligenz (KI) basieren, hat 2023 zunehmend die rechtsextremistische Szene interessiert. Insbesondere griff sie auf Anwendungen zur Erstellung von Bildern zurück, um eigene Internetpräsenzen ansprechender zu gestalten und rechtsextremistische Botschaften besser zu visualisieren. Dass die Anwendungen teilweise kostenlos und einfach zu nutzen sind, hat zur Ihrer Popularität in der Szene beigetragen. Mittlerweile haben sich einige Rechtsextremisten als besonders versierte Mediengestalter herausgestellt, deren Bilder vielfach auf den Profilen und in den Kanälen der Szene geteilt werden. Der vermutlich am meisten geteilte Bilderproduzent der Szene fungiert unter dem Pseudonym "Wilhelm Kachel" in mehreren sozialen Medien. 146 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kachel mit fremdenfeindlicher Botschaft, die auf Facebook vermeintlich humoristisch präsentiert wird Kachel mit Werbung für den "Rechtsruck" auf Facebook rechtsextremIsmus 147 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Terrorgram In manchen virtuellen Gruppen auf Telegram findet eine ausgeprägte Befürwortung von rechtsextremistischer Gewalt statt. Dies zeigt sich zum einen in der Verherrlichung von rechtsextremistischen Attentätern. Zum anderen kursiert in solchen Gruppen oftmals die sogenannte Siege-Ideologie. Diese geht zurück auf eine Textsammlung des US-amerikanischen Rechtsextremisten James Nolan Mason aus den 1980er Jahren. Neben der rechtsextremistischen Ideologie, wie zum Beispiel der Überlegenheit einer vermeintlichen "weißen Rasse", enthalten die Texte Anschlagsszenarien, mit denen ein Bürgerkrieg ausgelöst werden soll. Auf die Siege-Ideologie beziehen sich unter anderem die sogenannte Atomwaffen Division (AWD) und weitere Internetgruppierungen wie die Feuerkriegsdivision. Charakteristisch für diese Gruppierungen ist neben der enormen Gewaltbefürwortung das niedrige Alter der Mitglieder, die Jüngsten sind 12 oder 13 Jahre alt, und die oftmals internationale Zusammensetzung. So chatten die Mitglieder häufig in englischer Sprache miteinander. Bei diesen Gruppen besteht die Gefahr, dass sie einzelne Mitglieder online radikalisieren, welche dann realweltlich Gewalttaten begehen wollen. Bei einem 13-Jährigen aus Köln hatten sich 2023 entsprechende Hinweise verdichtet, so dass die Polizei zur Gefahrenabwehr dessen Wohnung durchsuchte und Kontakt mit dem Jugendamt aufnahm. Hasskriminalität und Strafverfolgung Eine besondere Bedeutung kommt dem Internet im Bereich der Hasskriminalität zu. Die Palette von strafrechtlich relevanten Inhalten erstreckt sich dabei von Volksverhetzung, Beleidigungen bis hin zu Bedrohungen und dem Aufruf zu Straftaten. Dies geschieht beispielsweise über die Veröffentlichung sogenannter "schwarzer Listen" im Internet, dem Verschicken von Drohmails oder dem Veröffentlichen entsprechender Posts in Social Media-Gruppen. Auch wenn die Strafverfolgung bei Straftaten im Internet schwierig ist und Täter mit Anonymisierungstools versuchen ihre Identität verschleiern, konnten die Sicherheitsbehörden einige Erfolge verzeichnen. Die Polizei führte im Sommer 2023 einen bundesweiten "Aktionstag Hasspostings" durch, bei dem man in einer konzertierten Aktion entsprechende Tatverdächtige aufsuchte. In Nordrhein-Westfalen vollstreckte die Polizei in diesem Zusammenhang sieben Durchsuchungsbeschlüsse. Darüber hinaus fand auf Initiative Spaniens im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft im Dezember 2023 ein Joint-Action-Day (JAD) zur Bekämpfung von "Hatespeech" statt. Am 14. Dezember 2023 wurden mittels Unterstützung von Europol zeitgleich in allen teilnehmenden Staaten Exekutivmaßnahmen in Ermittlungsverfahren in Zusammenhang mit Hasskriminalität durchgeführt. In NRW wurden in diesem Kontext 148 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 zwei Durchsuchungsmaßnahmen umgesetzt. In beiden Fällen wurden IT-Asservate sichergestellt. Um im Netz keinen rechtsfreien Raum zuzulassen, haben sich in Nordrhein-Westfalen die Landesanstalt für Medien, das Landeskriminalamt (LKA), die Zentralund Ansprechstelle Cybercrime der Staatsanwaltschaft NRW (ZAC NRW) sowie einzelne Medienhäuser zusammengeschlossen. Unter dem Motto "Verfolgen statt nur Löschen" wollen sie ein Zeichen gegen Rechtlosigkeit und Rücksichtslosigkeit im Netz setzen. Seit Projektbeginn 2018 wurden im Rahmen der Initiative bis Ende 2023 951 Ermittlungsverfahren eingeleitet und 430 Beschuldigte ermittelt. rechtsextremIsmus 149 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 150 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Demokratiefeindliche und/oder Sonderkategorie sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates demoKratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates 151 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zusammenfassung Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates Sitz/Verbreitung Landesweite Verteilung mit regionalen Schwerpunkten Gründung/Bestehen seit 2020 im Zuge der Corona-Pandemie Struktur/ Repräsentanz Überwiegend lose strukturierte lokale Gruppen; teilweise Akteure, die alleine oder in Kleingruppen agieren; zunehmende Verlagerung in die sozialen Medien Mitglieder/Anhänger/ Circa 300 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Soziale Medien, insbesondere Telegram-Kanäle Kurzporträt/Ziele Aufgrund der Corona-Pandemie seit Anfang 2020 mussten die Regierungen in Bund und Ländern zahlreiche Schutzmaßnahmen beschließen, die auch Einschränkungen für 152 demoKratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 die Bürgerinnen und Bürger beinhalteten. Gegen den politischen Umgang mit der Pandemie hat sich ein Protestgeschehen entwickelt, das von Heterogenität und Fluktuation geprägt ist. Die Proteste schlagen sich vor allem in Versammlungen und in sozialen Medien nieder. Mittlerweile hat sich ein Wandel von den anfänglichen Themen der CoronaPandemie hin zu allgemeinen gesellschaftspolitischen Themen vollzogen. Teile dieser Bewegung gehen über legitimen Protest gegen das Regierungshandeln hinaus und verfolgen eine systemfeindliche Agenda. Dabei geht es darum, die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zu delegitimieren und Gewalt zur Durchsetzung der eigenen politischen Auffassungen zu propagieren. Dieser Teil der Protestbewegung wird vom Verfassungsschutz als demokratiefeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebung beobachtet. Finanzierung Schenkungen, Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen hat im Frühjahr 2021 den Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates eingerichtet. Mit der weltweiten Corona-Pandemie seit März 2020 hat sich seit nunmehr vier Jahren ein Protestgeschehen etabliert, das von Heterogenität und Fluktuation geprägt ist. Politischer Protest gegen die Regierungspolitik gehört zum Wesen der freiheitlichen Demokratie. In Teilen gehen diese Proteste jedoch über legitimen Protest gegen Regierungshandeln hinaus. Dies äußert sich in der systematischen Verbreitung von Verschwörungserzählungen und Desinformation, der Diffamierung rechtsstaatlicher und demokratischer Prozesse sowie Aufrufen zu Straftaten beziehungsweise der Legitimation von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen politischen Auffassungen. Nur dieser Teil der Protestbewegung, der eine Delegitimierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland betreibt, unterliegt deshalb als Beobachtungsobjekt Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der demoKratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates 153 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 nachrichtendienstlichen Beobachtung. Das bedeutet zugleich, dass der Großteil der Protestbewegung nicht beobachtet wird. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Der Phänomenbereich Verfassungschutzrelevante Delegitimierung des Staates ist im stetigen Wandel. Konnten die unterschiedlichen Gruppierungen im Jahreswechsel 2021/2022 noch mehrere tausend Menschen auf die Straße bringen, so hat sich dies mit der Aufhebung der Maßnahmen der Landesregierung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie stark reduziert. Darauffolgende Themenschwerpunkte wie der Ukraine-Krieg, die Energiekrise, die Inflation und der Nahost-Konflikt konnten mit Angstkampagnen bei weitem nicht so viele Teilnehmer mobilisieren. Nach und nach hat sich die Szene der Delegitimierer stark dezimiert und ist bis auf einen "harten Kern" zusammengeschrumpft. Dieser "harte Kern" hat sich zunehmend in einer staatsfeindlichen Ideologie radikalisiert, in der ein tief verankertes, grundsätzliches Misstrauen gegenüber Regierung, staatlichen Institutionen und Strukturen zu einer Systemfeindschaft geführt hat. Versammlungen Unter dem Titel NRW erwacht versuchen mehrere Gruppierungen der Protestszene ihre Demonstrationen zu bündeln und dem abflachenden Zulauf an Demonstrationsteilnehmern entgegen zu wirken. Gegründet wurde dieser Zusammenschluss am 29. Juli 2022 mit den Eingangsworten: "Dieser Kanal dient der Vernetzung unter den Städten, da unserer Überzeugung der einzige Weg aus dieser Krise und aus diesem System nur gemeinsam zu bewältigen ist!". Dementsprechend sind auf den Demonstrationen eine Vielzahl von Gruppierungen vertreten, darunter der Demokratische Widerstand Dortmund, die Freiheitstrommeln, die Gruppe Freie Düsseldorfer, die Corona Rebellen Bergisches Land, Bielefeld steht auf (BSA) und die Corona Rebellen Düsseldorf. Maßgeblichen Einfluss haben die Freien Düsseldorfer. Sie stellen sowohl den Anmelder als auch einen Großteil der Ordner bei den Demonstrationen. Bisher fanden die selbsternannten "Groß-Demonstrationen" in mehreren großen Städten, darunter Wuppertal, Oberhausen, Essen, Düsseldorf, Solingen, Köln und Bochum statt. An den Veranstaltungen nahmen durchschnittlich 300 Teilnehmer teil, darunter auch Personen die der Reichsbürgerund rechtsextremistischen Szene zuzurechnen sind. 154 demoKratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Multiplikatoren Multiplikatoren spielen für die Szene der Delegitimierer eine wichtige Rolle. Sie dienen zum einen als Sprachrohr der Szene und zum anderen als Anheizer. Ein relevanter Multiplikator der Szene in Nordrhein-Westfalen ist Tim Kellner. Er erreicht als Social Media-Aktivist seit Jahren eine sehr hohe virtuelle Reichweite und machte während der Corona-Pandemie fortwährend in seinen Beiträgen demokratische Entscheidungsprozesse und die entsprechenden Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative verächtlich und trägt damit zur Delegitimierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bei. Dabei greift er zuweilen auch auf Verschwörungsmythen zurück. Bemerkenswert ist ein Video von Kellner vom 9. Oktober 2023, wo er Folgendes äußert: "Der Wind dreht sich in Deutschland - noch hat das System seine Medien im Griff, noch haben sie ihre Richter, ihre weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften. Aber die Zeiten werden sich ändern und dann wird eine Zeit kommen, in der wir uns dann liebevoll um all die rechtsstaatlich kümmern müssen, die Bewährungsstrafen für Vergewaltiger ausgesprochen haben, die gegen Deutschland agiert haben, die dieses Land zerstört haben [...]. Es wird eine Zeit kommen, in der Deutschland auch wieder aufblühen wird, wenn eben diese SED 2.0 nicht mehr an den Schalthebeln der Macht sitzen wird". Rechtsextremisisierung Bei dem "harten Kern" verschwimmt zunehmend die Grenze zum Rechtsextremismus. Der Verfassungsschutz NRW stellt insbesondere bei Demonstrationen des Bündnisses NRW erwacht eine zunehmende Einflussnahme von Rechtsextremisten fest. So werden einige bekannte Rechtsextremisten als Ordner und oder Redner eingesetzt und geduldet. Verschwörungsmythen haben auch in diesem Bündnis einen hohen Stellenwert. So werden wiederkehrend der "Great Reset", die "New World Order", eine "Unterjochung der Menschheit" unter Leitung des Weltwirtschaftsforums und dessen Gründer Klaus Schwab, "Chemtrails" und die "Flacherde" thematisiert. Zuletzt waren die Waffenlieferungen an die Ukraine und damit verbundene Friedensforderungen zentrales Thema der Veranstaltungen, ohne Russland als Aggressor zu benennen. Insgesamt versucht das Bündnis NRW erwacht den sogenannten "harten Kern" der Corona-Protestszene untereinander zu vernetzen und mit aktuellen Themen wie die Energiekrise oder den Ukraine-Krieg wieder größere Teile der Gesellschaft zu erreichen. Rechtsextremisten und Reichsbürger nutzen die Versammlungen vereinzelt, um ihre Positionen zu verbreiten. So gibt es Kennverhältnisse des Anmelders der demoKratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates 155 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Dortmunder Corona-Demos zu Mitgliedern der Dortmunder Neonazi-Szene. Letztere sind daraufhin mehrfach bei sogenannten "Friedensdemonstrationen" in Dortmund mitgelaufen. Bei einer "Friedensdemonstration", die im März 2023 in Köln stattfinden sollte, wurde vorab im Internet mit dem Slogan "Schütze deine Rasse" geworben. Die Organisatoren sagten die Veranstaltung kurz vor Beginn ab. Der Prozess der Rechtsextremisierung zeigte sich ebenso bei der Gruppierung Freie Nordrhein-Westfalen. Diese gründete sich im Zuge der Corona-Pandemie im Dezember 2021, um Demonstrationstermine nach dem Vorbild Sachsens und Thüringens zu koordinieren. Eine Namensanlehnung an die rechtsextreme Kleinstpartei Freie Sachsen Umfrage, die den Holocaust in Frage stellt auf Telegam war auffällig, inhaltliche Unterschiede jedoch zunächst offensichtlich. Im Laufe der Pandemie wurden die Inhalte in dem Telegram-Kanal radikaler. Hinzu kam durch Rücknahme der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung eine abflachende Protestbereitschaft, wodurch sich gemäßigte Mitglieder aus der Gruppierung zurückzogen. Zurückgeblieben sind Mitglieder, die offen den Holocaust leugnen und antisemitische Narrative verbreiten. Sie lehnen die freiheitliche demokratische Grundordnung ab und bekennen sich zu den Ideen des Nationalsozialismus. Einschüchterung und Straftaten In der Anonymität des Internet fanden zahlreiche Einschüchterungsversuche und Straftaten statt. Für aktuelle Krisen und Missstände werden Personen des öffentlichen Lebens, insbesondere Politiker verantwortlich gemacht. Dabei zeigt sich das in der Delegitimierer-Szene ausgeprägte Freund-Feind-Denken. Dies führt vor allem innerhalb von Telegram-Kanälen zu einer aggressiven, zum Teil menschenverachtenden Rhetorik. So forderte in der Telegram-Gruppe "Siegen steht auf" im September 2023 ein Teilnehmer, den Virologen Christian Drosten "am nächsten Baum aufzuhängen". Neben den kontinuierlichen Feinddarstellungen von Politikern und Wissenschaftlern, dem öffentlichen Bloßstellen, der zustimmenden Haltung zu Gewaltund Tötungsszenarien und den wiederholten Forderungen nach einem Volkstribunal im Sinne 156 demoKratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 eines "Nürnberg 2.0" findet immer häufiger das Veröffentlichen von E-Mail-Adressen, Telefonnummern und weiteren Daten von Personen des öffentlichen Lebens, das sogenannte Doxxing, statt. Die ernsthaften Folgen von Doxxing wie Gewaltandrohungen, finanzielle Verluste, berufliche Probleme bis hin zu körperlicher Gewalt werden bewusst in Kauf genommen. Beispielsweise veröffentlichte Timm Kellner im Rahmen seiner Streitigkeiten mit der Stadt Blomberg die Telefonnummer und E-Mail-Adresse des Bürgermeisters von Blomberg, was diverse Drohmails und Hassanrufe zur Folge hatte. Die Schwelle, die Delegitimierer bereit sind für ihre ideologischen Ansichten zu überschreiten, scheint weiter zu sinken. So kam es auch zu realweltlichen Straftaten. Bei Versammlungen der Delegitimierer-Szene kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, wie beispielsweise im September 2023 in Wuppertal. Bei einer Versammlung im September in Köln kam es zu Tritten aus der Menge der Delegitimierer gegen Gegendemonstranten. Bei einzelnen Anhängern der Szene in Nordrhein-Westfalen führt die Systemfeindschaft sogar zu Umsturzplänen. Beispielhaft ist hier die Gruppierung um Thomas O. aus Rheinland-Pfalz zu nennen. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens des Generalbundesanwalts in Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden aus Rheinland-Pfalz konnten Personen aus Nordrhein-Westfalen ermittelt werden, die entweder Kontakt zu Hauptbeschuldigten hatten, an Treffen der Gruppierung teilnahmen oder sich sogar organisatorisch in die Tatplanung eingebracht haben. Das zeigt, welche grundsätzliche Gewaltbereitschaft bei Teilen der zusammengeschrumpften Delegitimierer-Szene vorhanden ist. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Ein Großteil der Delegitimierer-Szene agiert nur noch virtuell, insbesondere auf Telegram. Ein radikalisierter "harter Kern" gibt mittlerweile die Richtung vor und sorgt dafür, dass Grenzen zwischen der Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates, den Reichsbürgern und Selbstverwaltern und dem Rechtsextremismus verschwimmen. Mitunter tragen einzelne Personen ihre Radikalisierung bis in den realen Raum, wodurch es zu Straftaten und Einschüchterungen kommen kann. Der Phänomenbereich ist geprägt durch virtuelle Kommunikation, in der sich Echokammern bilden und die Teilnehmer sich in ihren Feindbildern und ihrer Gewaltbefürwortung bestätigen und anstacheln. Insofern geht von der Szene der Delegitimierer eine abstrakte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit aus, die sich insbesondere bei allein handelnden Tätern konkretisieren kann. demoKratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates 157 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 158 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Linksextremismus lInKsextremIsmus 159 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zusammenfassung Autonome: Zwischen autonomem Anspruch und Organisationsrealität Auch im Jahr 2023 setzten sich die Spaltungstendenzen des Vorjahres fort. Insgesamt scheint die Interventionistische Linke (IL) dem ursprünglichen postautonomen Anspruch nach klaren politischen Zielen und Strategien zunehmend weniger gerecht zu werden. Im Ergebnis schlossen sich etwa ehemalige IL-Anhänger mit Hinweis auf die aktionistische und zu wenig theoretisch hinterlegte Praxis der IL in neuen Gruppen zusammen. Extremisten in der Klimabewegung: Entgrenzung und Gewalt Im Januar 2023 wurde der Weiler Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier geräumt. Während ein großer Teil der Besetzer den polizeilichen Aufforderungen zum freiwilligen Verlassen der Gebäude nachkam, weigerten sich andere Besetzer, beschossen die Einsatzkräfte der Polizei mit Pyrotechnik, bewarfen sie mit Steinen oder schleuderten Brandsätze in ihre Richtung. Im Rahmen einer bereits Monate zuvor angekündigten Versammlung solidarisierten sich am 14. Januar 2023 über 1.000 Menschen, auch aus dem zivildemokratischen Bereich, mit den Extremisten, durchbrachen polizeiliche Absperrungen und begaben sich an den Rand des Tagebaus Garzweiler II. Immer wieder kam es an dem Tag zu gewaltsamen Versuchen einer bürgerlich-extremistischen Mischszene, auch die polizeilichen Absperrungen um die Ortslage Lützerath zu durchbrechen. Eine der an der Besetzung beteiligten Gruppen, die Guerilla Activists Fighting For Anarchy (GAFFA) machte vor, während und nach der Räumung insbesondere durch die Veröffentlichung von Selbstbezichtigungsschreiben im Nachgang zu Brandstiftungen und sonstigen Sachbeschädigungen auf sich aufmerksam. So bekannten sich GAFFA auch zu einer Sabotage an einem Hochspannungsmast im Bereich des Tagebaus Garzweiler. Antirepression: Gefangenensolidarität und Abolitionismusforderung Im Verfahren gegen vier Mitglieder der "Antifa Ost" wurden die Angeklagten am 31. Mai 2023 vor dem Oberlandesgericht Dresden wegen der Mitgliedschaft in beziehungsweise der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Angeklagten sollen mit anderen Tätern in den Jahren 2018 bis 2020 Angriffe auf tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten begangen und diese 160 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 dabei teils lebensgefährlich verletzt haben. Am Tag der Urteilsverkündung und am Samstag danach kam es im gesamten Bundesgebiet, auch in NRW, zu Solidaritätskundgebungen. Bei einigen dieser Kundgebungen wurden Einsatzkräfte der Polizei angegriffen und verletzt. Dogmatischer Linksextremismus: Mitgliederschulungen und Öffentlichkeitsarbeit Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) versuchten durch Ausrichtung von und Teilnahme an öffentlichen Versammlungen weiterhin, eine stärkere Wahrnehmbarkeit in der Öffentlichkeit zu erreichen. Ideologische Grenzen unter dem Brennglas: Positionierung im Nahost-Konflikt Das Jahr 2023 war über die verschiedenen Spektren des Linksextremismus hinweg geeignet, ideologische Grenzen sichtbar werden zu lassen. Besonders die Positionierung im aktuellen Nahost-Konflikt führte zu Brüchen, die lange überwunden zu sein schienen. Während sich im traditionskommunistischen Bereich die DKP an die Seite der Palästinenser und sogar der HAMAS stellt, verurteilt die MLPD den terroristischen Angriff der von ihr als faschistisch bezeichneten HAMAS auf Israel, nicht jedoch ohne die israelische Siedlungspolitik als "imperialistisch" zu kritisieren. Teile des autonomen Spektrums versuchen demgegenüber, eindeutige Parteinahmen in dem Konflikt zu vermeiden, um nicht über antiimperialistische Ansätze latentem Antisemitismus Raum zu schaffen. Andere Teile der Autonomen schließen Teilnahmen, Unterstützungen und auch Kooperationen mit Akteuren, die sich an palästinasolidarischen Versammlungen beteiligen, aktuell und für die Zukunft aus. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y lInKsextremIsmus 161 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Fokus: Dogmatische Kleingruppen Neben den kommunistischen Parteien existieren im Linksextremismus mehrere kleine Organisationen, die ideologisch dem Marxismus-Leninismus beziehungsweise dessen Strömungen wie etwa dem Maoismus anhängen. Im Gegensatz zur autonomen Szene streben diese Gruppierungen eine einheitliche politische Ausrichtung an, die vermeintlich klare Strategien zur Lösung komplexer Probleme anbietet. Der Verfassungsschutz des Landes Nordrhein-Westfalen rechnet diesem Spektrum die überregional agierenden Zusammenschlüsse Kommunistischer Aufbau, Kommunistische Organisation, Perspektive Kommunismus sowie die Föderation klassenkämpferischer Organisationen zu. Typisch für diese sind zudem Vorfeldorganisationen, die sich zum Beispiel speziell an Frauen oder Jugendliche richten. Neben diesen Organisationen existieren überregional lose verbundene Kleingruppen in Großstädten, die sich zum Beispiel Kommunistische Linke, Revolutionäre Linke oder Rote Jugend nennen. "Rote" Jugendkultur Insgesamt bewegt sich die Anzahl der in diesem Spektrum in NRW aktiven Personen bisher im unteren dreistelligen Bereich. Eine Größenordnung, wie es sie etwa in den 1970er Jahren in den ideologisch ähnlich ausgerichteten sogenannten K-Gruppen mit mehreren tausend Anhängern im Bundesgebiet gab, wird somit nicht erreicht. Im Sinne der Frühwarnfunktion des Verfassungsschutzes ist jedoch zu konstatieren, dass sich in den letzten Jahren besonders Jugendliche und junge Erwachsene in diesen Zusammenhängen vermehrt engagieren. Es zeigt sich hier eine Vermischung von klassischer kommunistischer Ästhetik mit einer modernen erlebnisorientierten Jugendkultur, nicht zuletzt unterfüttert durch ideologisch nahestehende Musiker. Auf Demonstrationen treten diese Gruppen oft als geschlossene Blöcke mit der typischen kommunistischen Symbolik wie roten Fahnen mit Hammer und Sichel in Erscheinung. Stilistisch fallen die Angehörigen dieser Szene auch durch einen einheitlichen Kleidungsstil oder die Verwendung von szenetypischen Accessoires wie roten Halstüchern oder ähnlichem auf. Gemeinsame Ideologie: Marxismus-Leninismus Die Gruppen interpretieren die Welt beziehungsweise die Gesellschaft nach Karl Marx als vom Antagonismus zweier Klassen geprägt, der Arbeiterklasse (Proletariat) und den Kapitalisten (Bourgeoisie). Letztere verfügten, so die marxistische Terminologie, über die Produktionsmittel, also beispielsweise Industrie, Maschinen und Rohstoffe. 162 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Demgegenüber könne der Theorie zufolge die Arbeiterklasse nur die eigene Arbeitskraft an die Kapitalisten verkaufen. Lenin entwickelte daran anschließend die Theorie von der Avantgarde des Proletariats, einer von ideologisch geschulten Kadern geleiteten Partei, die die Arbeiterklasse im revolutionären Kampf leiten solle. In seiner im Jahr 2023 verabschiedeten Resolution "Die Bolschewisierung als notwendige Grundlage des Parteiaufbaus" bezieht sich der Kommunistische Aufbau strategisch auf dieses historische Vorbild einer kommunistischen Partei (die "Bolschewiki"), die zunächst im russischen Zarenreich und dann in der Sowjetunion bestand. Ganz im Sinne Lenins will man eine "Kampfpartei neuen Typus," geführt von "professionellen Kader:innen, welche die revolutionäre Arbeit als ihre Lebensaufgabe sehen" aufbauen. In der Programmatik des Kommunistischen Aufbaus werden dementsprechend die Gründung der Kommunistischen Partei, die Beseitigung des "deutschen Imperialismus" und die Errichtung einer Diktatur des Proletariats mit einer zentralen Planung der Ökonomie als Schritte zum Kommunismus genannt. Erklärtes Ziel ist außerdem die Vernichtung der kapitalistischen Klasse durch einen von der kommunistischen Partei geführten "revolutionären Bürgerkrieg". Dass nach der angestrebten Revolution Gewalt gegen die Angehörigen der Kapitalistenklasse folgt, ist offenkundig auch Handlungsoption bei der Perspektive Kommunismus. Bei ihr soll "an die Stelle des bürgerlichen Staates eine rätedemokratische Staatsform treten", welche "den Wiederaufstieg der alten Ausbeuterklasse" und andere reaktionäre Entwicklungen verhindere, ansonsten aber in erster Linie verwalte und im Interesse des Proletariats die notwendigen Aufgaben organisiere. Das Ziel ist der Aufbau des Sozialismus hin zu einer von der Gruppe so bezeichneten "befreiten, einer kommunistischen klassenlosen Gesellschaft." Auch die Föderation klassenkämpferischer Organisationen meint, die Alternative zum "kapitalistisch-patriarchale[n] Wirtschaftsund Gesellschaftssystem" könne "nur der Sozialismus und später die klassenlose Gesellschaft, der Kommunismus sein." Die Propagierung der Schaffung einer revolutionären kommunistischen Partei, welche die parlamentarische Demokratie revolutionär stürzen soll und die Zielsetzung der Errichtung und Verteidigung einer kommunistischen Gesellschaft unter Anwendung von Gewalt belegen deutlich die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Unterstrichen wird die potenzielle Gewaltbereitschaft über den positiven Bezug auf die Rolle der Bolschewiki in der Russischen Revolution von 1917 hinaus durch eine deutlInKsextremIsmus 163 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 liche Selbstverortung in den Traditionen der sozialistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Eine Distanzierung von den Verbrechen dieser Regime findet nicht statt, im Gegenteil, diese werden als legitime Versuche, die kommunistische Gesellschaft aufzubauen, verklärt, aus denen man lernen und an denen man sich orientieren könne. So wie Antiimperialismus in der Sowjetunion, der DDR und anderen sozialistischen Regimen Staatsräson war beziehungsweise ist, sind auch die kommunistischen Kleingruppen strikt antiimperialistisch ausgerichtet. Dies bedeutet häufig eine Solidarisierung mit kommunistischen oder allgemeiner mit linksgerichteten Aufstandsbewegungen in den sogenannten Entwicklungsoder Schwellenländern. Auf der anderen Seite identifizieren diese Gruppen als ihren Hauptfeind den von ihnen so bezeichneten (westlichen) Imperialismus, insbesondere die USA, die Bundesrepublik Deutschland, Israel, die EU und die NATO. Aktuelle Entwicklungen Trotz in Teilen auch ideologischer Gegensätze sind diese Gruppierungen häufig auf denselben Versammlungen und Kundgebungen anzutreffen und beteiligen sich auch an Veranstaltungen anderer Linksextremisten, etwa der autonomen Szene oder Gruppierungen des auslandsbezogenen Extremismus. Außerdem werden eigene Veranstaltungen organisiert. So findet seit mehreren Jahren jeweils Anfang August in Wuppertal die Friedrich-Engels-Gedenkdemonstration statt. Im Jahr 2023 beteiligten sich an dieser Veranstaltung etwa 150 Personen. Friedrich-Engels-Gedenkdemonstration im August 2023 in Wuppertal 164 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Wichtige jährlich wiederkehrende Veranstaltungen für diese Szene sind die Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar in Berlin, der 1. Mai und der Antikriegstag am Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, dem 1. September. Die kommunistischen Kleingruppen verknüpften diese Kundgebungen gegen Krieg mit ihrem Kampf für eine sozialistische beziehungsweise kommunistische Gesellschaft. In NordrheinWestfalen fanden Veranstaltungen in Köln, Essen, Wuppertal und Hagen statt. Bezüge in den auslandsbezogenen Extremismus sind ebenfalls erkennbar. So gedachte man auf der Veranstaltung in Köln einer im Jahr 2015 in Nordsyrien im Kampf getöteten Person aus Duisburg, die im türkisch linken Spektrum beheimatet war. In Folge der Terrorangriffe der HAMAS auf den Staat Israel am 7. Oktober 2023 war erwartungsgemäß eine Beteiligung des antiimperialistischen Spektrums an den pro-palästinensischen Veranstaltungen festzustellen. Im Instagram-Post der "Philippines-Germany-Solidarity Tour" Sinne dieser ideologischen Ausrichtung bemerkenswert war im Jahr 2023 außerdem die bundesweit veranstaltete "Philippines-Germany-Solidarity Tour", bei der Unterstützer der maoistischen Guerilla New Peoples Army (NPA) auch durch Nordrhein-Westfalen tourten. Die NPA, die sich seit dem Jahr 1969 in einem bewaffneten Konflikt mit dem philippinischen Staat befindet, wird unter anderem von der EU und den USA als terroristische Organisation gelistet. lInKsextremIsmus 165 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Linksjugend ['solid] Nordrhein-Westfalen Sitz/Verbreitung Berlin (Bundesgeschäftsstelle)/Düsseldorf (Landesgeschäftsstelle) NRW; Verbreitung deutschlandweit Gründung/Bestehen seit 2007 Struktur/ Repräsentanz Bundesverband, Landesverbände, Basisgruppen, Hochschulgruppen (Die Linke/SDS) Mitglieder/Anhänger/ circa 1.200 (Stand 2019) Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Web-Angebote und Auftritte in den sozialen Medien ' Kurzporträt/Ziele Die Linksjugend [ solid] ist der parteinahe Jugendverband der Partei DIE LINKE. Der Landesverband Nordrhein-Westfalen schreibt in seinem "Jugendprogramm", man sage dem Kapitalismus den Kampf an und trete für eine "sozialistische Demokratie" ein. Gefordert wird unter anderem eine Verstaatlichung von Banken und Konzernen und eine "demokratisch geplante Wirtschaft." Als Fernziele werden eine sozialistische Föderation europäischer Staaten und letztendlich eine sozialistische Welt angestrebt. Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Mittel der Partei DIE LINKE, Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Partei DIE LINKE unterliegt in ihrer Gesamtheit nicht der Beobachtung durch den Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen. Alle Mitglieder der Partei DIE LINKE unter ' 35 Jahren werden automatisch zugleich passives Mitglied der Linksjugend [ solid], sofern sie einer Mitgliedschaft in der Jugendorganisation nicht aktiv widersprechen. ' Die Mitgliedschaft in der Linksjugend [ solid] ist folglich nicht zwangsläufig mit einer 166 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 bewussten Entscheidung für eine extremistische Organisation verbunden. Daher wer- ' den die Mitglieder der Linksjugend [ solid] nicht in das Personenpotenzial Linksextremismus eingerechnet. ' Aus Sicht der Linksjugend [ solid] ist die Kernursache aller gegenwärtigen gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Probleme das "kapitalistische System", dessen immanenter "Wachstumszwang" immer neue Krisen erzeuge. Von ' diesem System profitiere letztendlich die von der Linksjugend [ solid] so bezeichnete "herrschende Klasse", welche sowohl von der Ausbeutung der Lohnabhängigen und der Umwelt, als auch der Menschen in ärmeren Ländern und der überwiegend von ' Frauen geleisteten, unbezahlten Hausarbeit profitiere. Die Linksjugend [ solid] verfolgt, so ist auf der Website des Bundesverbandes zu lesen, dagegen "die kommunistische Vision einer klassenlosen Gesellschaft" nach marxistischer Tradition. Wesentliche Elemente dieser Ideologie sind die revolutionäre Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung und die Errichtung der Diktatur des Proletariats. ' Die Ziele der Linksjugend [ solid] NRW richten sich daher gegen wesentliche Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, weshalb der Verband nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW durch den Verfassungsschutz NRW beobachtet wird. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Januar 2023 beteiligte sich der Landesverband an den Protesten gegen die Räumung des Weilers Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier. Im Nachgang wurde unter anderem mit der Aussage "Bullengewalt im Dienste von RWE" behauptet, der Staat sei Handlanger der Großkonzerne und habe daher in Lützerath die Interessen des Kapitals gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt. Außerdem besetzte die ' Linksjugend [ solid] NRW wie gewohnt die Themenfelder soziale ' Auf Instagram unterstellt die Linksjugend [ solid] der NRW-Polizei Gerechtigkeit, Tarifunberechtigte Gewalt. verhandlungen, AntilInKsextremIsmus 167 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 gentrifizierung, Antifaschismus und Antimilitarismus. Insgesamt war jedoch im Jahr 2023 ein deutlicher Rückgang der nach außen gerichteten Aktivitäten festzustellen. Wesentliche Ursache dafür dürfte die Abspaltung der Jugend für Sozialismus (JfS) ' Ende Januar sein, der sich zahlreiche Basisgruppen der Linksjugend [ solid] NRW angeschlossen haben, die in den letzten Jahren von der trotzkistischen Sozialistischen Organisation Solidarität (SOL) dominiert wurden. Begründet wird die Abspaltung mit einer mangelnden revolutionären Orientierung zugunsten identitätspolitischer Themen in der Links- ' jugend [ solid], insbesondere durch den Bundesverband. Weitere Kritikpunkte der Jugend für Sozialismus (JfS) Auf Instagram wird zur Teilnahme am sozialistischen Pfingstcamp aufgerufen. sind die Solidarisierung des Bundesverbandes mit der Ukraine vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges seit Januar 2022 sowie angebliche Versuche, kritische Stimmen innerhalb des Verbandes zu unterdrücken. Letzteres dürfte seinen Hintergrund auch in dem 2021 gescheiterten Versuch haben, Mitglieder der Sozialistischen Organisation Solidarität (SOL) aus dem Verband auszuschließen. Die neue Gruppierung hat offenkundig auch organisatorische ' Strukturen der Linksjugend [ solid] übernommen. Deutliches Beispiel dafür war die Übernahme des seit Jahren von der Linksjugend ' [ solid] NRW in Essen durchgeführten sogenannten sozialistischen Pfingstcamps. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Mit der Gründung der Jugend für Sozialismus (JfS) haben die Trotzkisten innerhalb ' der Linksjugend [ solid] NRW ihr entristisches Engagement, sich also mit dem Ziel einer trotzkistischen Unterwanderung der Linksjugend in der Organisation zu engagieren, offenkundig beendet. Im neu gewählten "Landessprecher*innenrat" sind keine Mitglieder der Sozialistischen Organisation Solidarität (SOL) mehr vertreten. Ob damit eine Abkehr des Verbandes von extremistischen Positionen einhergeht, bleibt 168 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 abzuwarten. Eine konkrete Stellungnahme zum Umgang mit der Abspaltung sind Bun- ' desund Landesverband der Linksjugend [ solid] bisher schuldig geblieben. Auf der anderen Seite ist mit der Jugend für Sozialismus (JfS) eine klar linksextremistische Organisation entstanden, die zumindest im Jahr 2023 noch Ressourcen ' der Linksjugend [ solid] nutzen konnte. Wichtig ist auch die Positionierung der Jugend für Sozialismus (JfS) zur Partei DIE LINKE. Trotz ähnlicher Kritikpunkte wie bei ' der Linksjugend [ solid] möchte man ausdrücklich weiter innerhalb von DIE LINKE für eine revolutionäre Politik kämpfen. Dies ist mutmaßlich taktischen Überlegungen geschuldet, bietet DIE LINKE doch immerhin noch eine gewisse Öffentlichkeitswirkung, während die als "sektiererisch" wahrgenommenen trotzkistischen Kleingruppen nur ein Schattendasein am äußeren linken Rand des politischen Spektrums fristen. lInKsextremIsmus 169 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Sitz/Verbreitung Essen Gründung/Bestehen seit 1968 Struktur/ Repräsentanz Bezirke: Ruhr Westfalen und Rheinland Westfalen Vorsitz: Patrick Köbele Unterstützte Jugendorganisation: Sozialistische deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Mitglieder/Anhänger/ circa 800 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Eigene Webseite, sozialistische Wochenzeitung unsere Zeit Kurzporträt/Ziele Die DKP versteht sich als politische Nachfolgerin der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Sie bekennt sich als "revolutionäre Partei der Arbeiterklasse" zum MarxismusLeninismus und strebt die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft an. Finanzierung Überwiegend durch Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Nach Vorstellung der DKP soll die Arbeiterklasse als maßgebende gesellschaftsverändernde Kraft durch einen klassenkämpferisch-revolutionären Akt die kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnisse, den Parlamentarismus und den politischgesellschaftlichen Pluralismus überwinden. Über die Zwischenstufe des Sozialismus wird eine klassenlose kommunistische Gesellschaft angestrebt, in der alle wesent170 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 lichen gesellschaftlichen Gegensätze, insbesondere der zwischen Kapital und Arbeit, aufgehoben sein sollen. Individualgrundrechte haben in diesem Konzept nur noch eine stark eingeschränkte Bedeutung. Damit richtet sich die DKP gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gemäß SS 3 Absatz 1 Nr. 1 des Verfassungsschutzgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Berichtszeitraum hielt die Partei im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine an ihren friedenspolitischen Forderungen "Raus aus der NATO, Frieden mit Russland und China" fest. Zusammen mit der Kampagne "Heizung, Brot und Frieden" machte sie auf soziale Belange und auf die Rüstungskosten aufmerksam. In breiten systemkritischen Bündnissen, in ihrer betrieblichen und gewerkschaftlichen Arbeit warb sie für ihre revolutionäre Ausrichtung. Dabei spielt die Größe dieser Bündnisse aufgrund des Anspruchs der Partei, Avantgarde der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus zu sein, keine Rolle. Traditionell versteht sich die DKP selbst als Verteidigerin demokratischer Rechte und als Speerspitze der Arbeiterklasse im Klassenkampf, etwa gegen vermeintliche staatliche Repression sowie Einschränkung der Meinungsfreiheit und des Versammlungsrechts. Nach dem Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine und dem terroristischen Angriff der HAMAS gegen Israel am 7. Oktober 2023 nahm die DKP behördliche Auflagen, Fahnen-, Vereinsund Versammlungsverbote verstärkt zum Anlass, Kritik an dem vermeintlich "repressiven Staat" zu üben. SDAJ Festival der Jugend "Zeit für Widerstand" vom 26. bis 29. Mai 2023 in Köln Das dreitägige Festival hat nach Berichterstattung der Jugendorganisation nach der Corona-Pandemie einen Besucherrekord von 3.000 Besuchern erzielt. Betont wurde, dass neben den musikalischen Darbietungen rund 60 auch politisch orientierte Workshops stattgefunden haben und dreißig Organisationen für "kommende Klassenkämpfe" beteiligt waren. Die als "größtes linkes Festival" einer nicht kommerziellen Gegenkultur im Land" bezeichnete Veranstaltung wurde durch eine CrowdfundingKampagne und Spenden finanziert, selbstständig organisiert und bestärkt nach eigener Einschätzung der SDAJ ihre politische Aussage "Zeit für Widerstand". Im Rahmen des Festivals wies die SDAJ besonders auf die Beziehungen mit dem sozialistischen Inselstaat Kuba hin und kündigte an, im Sommer zwei "Solidaritätsbrigaden" mit jeweils 30 Teilnehmern zu entsenden. Die Umsetzung erfolgte schließlich unter lInKsextremIsmus 171 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Austausch und Berichterstattungen über digitale Medien, etwa in der Online-Ausgabe des Parteimediums unsere Zeit. Berichterstattung über die "Solidaritätsbrigaden" in der Online-Ausgabe der "unsere Zeit". Terroristischer Angriff der HAMAS gegen Israel 7. Oktober 2023 Die DKP erklärt sich solidarisch mit dem palästinensischen Volk. Der Angriff der HAMAS aus dem Gazastreifen gegen Israel wird als Konsequenz Jahrzehntelanger aggressiver Unterdrückung der Palästinenser durch den Staat Israel interpretiert. Die DKP verweist darauf, dass ihre Stellungnahmen zum Nahost-Konflikt, in denen das palästinensische Volk in einem notwendigen Befreiungskampf gesehen wird, den kommunistischen Parteien grundsätzlich als Beleg für eine antizionistische bis hin zu einer antisemitischen Einstellung vorgehalten werden würden. Die Partei bezeichnet das Handeln Israels als "kolonialistisch" und setzt die militärische Verteidigung des israelischen Staates mit den Terroraktionen der HAMAS gleich. Sie spricht sich für eine politische Lösung durch die "Beendigung der Besatzung palästinensischer Gebiete durch Israel" aus. 172 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Offiziell riefen die Parteispitze und die SDAJ ihre Mitglieder dazu auf, an "Pro Palästina"-Demonstrationen teilzunehmen und mit Palästinafahnen ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Wahl zum 10. Europäischen Parlament am 9. Juni 2024 Die DKP will sich zum fünften Mal in Folge seit 2004 an der Europawahl beteiligen. Die Vorsitzenden der DKP und der SDAJ stehen an der Spitze einer 43 Personen umfassenden Wahlliste. Seit Ende November 2023 wird um 4.000 erforderliche Unterstützerunterschriften zur Wahlteilnahme geworben. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die DKP verfolgt weiterhin die Strategie einer Bündnispartnerschaft mit allen Akteuren, bei denen kleinste Schnittmengen, die mit der sozialistischen Ausrichtung der Partei vereinbar sind, für eine Beteiligung ihrer Mitglieder ausreichen. Dies erhöht den Aktionsradius der Partei und soll die Akzeptanz der von ihr propagierten politischen Alternativen bis ins bürgerliche Spektrum tragen. Erkennbar ist, dass die DKP sich in der Jugendarbeit durch die SDAJ perspektivisch gut vertreten sieht. Zur Europawahl will die DKP ihre Friedenspolitik - im Kern für Abrüstung und sozialen Ausgleich - konsequent in den Mittelpunkt ihrer Wahlpropaganda stellen und hebt dies als Alleinstellungsmerkmal innerhalb der Parteienlandschaft in Deutschland hervor. Die Wahlen und die durch den Parteitag beschlossene Neuausgabe der Parteibücher sollten in 2024 zu einer parteiinternen Standortbestimmung führen. Die wahlpolitische Unbedeutsamkeit der DKP wird nach Überzeugung einer klassischen Kaderpartei langfristig durch außerparlamentarischen themenorientierten Kampf für die Arbeiterklasse kompensiert. lInKsextremIsmus 173 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) Sitz/Verbreitung Gelsenkirchen Gründung/Bestehen seit 1982 Struktur/ Repräsentanz Neun Landesverbände (unter anderem in NRW), zahlreiche Gruppierungen mit nomineller Eigenständigkeit, darunter der Jugendverband Rebell mit der Kinderorganisation Rotfüchse, und kommunale Wahlbündnisse wie alternativ, unabhängig, fortschrittlich (AUF) Vorsitz: Gabi Fechtner Mitglieder 2023 Circa 750 Veröffentlichungen Publikation: Rote Fahne Magazin, Webangebote Kurzporträt/Ziele Die 1982 aus dem Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands (KABD) hervorgegangene Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) versteht sich als politische Vorhutorganisation der Arbeiterklasse in Deutschland. Ihr grundlegendes Ziel ist der revolutionäre Sturz des als Diktatur des Monopolkapitals bezeichneten politischen Status quo Deutschlands und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. Finanzierung Überwiegend durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Einnahmen aus Vermögen 174 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die MLPD bekennt sich nach wie vor zu den Lehren von Marx, Engels, Stalin und Mao Tse-Tung und verbindet nach eigener Aussage "den Kampf um die Forderungen der Arbeiterund Volksbewegungen mit dem Ziel der internationalen sozialistischen Revolution". Die Zielsetzungen der MLPD sind durch verfassungsfeindliche Aussagen geprägt und lassen sich in den drei Kernpunkten Revolution, Diktatur des Proletariats und Kommunismus zusammenfassen. Die Ziele der MLPD richten sich somit gegen wesentliche Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, weshalb die Partei nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW durch den Verfassungsschutz NRW beobachtet wird. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Jahr 2023 setzte die Partei ab Februar ihre ideologische Schulung für den Sozialismus mit dem dritten Band "Die Krise der bürgerlichen Ideologie und die Lehre von der Denkweise - Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft" in der Buchreihe des theoretischen Organs der Partei "Revolutionärer Weg (RW)" fort. Im Oktober ergänzte das Buch "Die globale Umweltkatastrophe hat begonnen!" die programmatischen Bemühungen der MLPD, die Arbeiterbewegung mit der Umweltbewegung im Sozialismus zu vereinen. Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 15. Januar 2023 in Berlin und Gelsenkirchen Das internationalistische Bündnis, mit dem die MLPD als internationalistische Liste/ MLPD seit 2016 an Landtags-, Bundestagsund Europawahlen teilgenommen hat, hat im Jahr 2023 sowohl zur Teilnahme an der Hauptdemonstration in Berlin aufgerufen, als auch erstmalig zur Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Demonstration nach Gelsenkirchen-Horst mobilisiert. Das Online-Magazin der MLPD berichtete im Nachgang von über 1.000 Personen im Block des internationalistischen Bündnisses in Berlin. Lokalen Internetportalen für das Ruhrgebiet war zu entnehmen, dass zu der Versammlung in Gelsenkirchen rund 120 Teilnehmer mobilisiert werden konnten. Im Ergebnis zog die Partei eine positive Bilanz der Aktion für ihre Ziele. lInKsextremIsmus 175 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Terroristischer Angriff der HAMAS gegen Israel am 7. Oktober 2023 Die MLPD distanziert sich deutlich von der HAMAS, die sie als "faschistisch" einstuft. Kritisiert wird gleichwohl traditionell die als imperialistisch erachtete Politik des Staates Israel. Den Vorwurf antisemitischer Einstellungen im Linksextremismus weist die MLPD gleichzeitig vehement zurück. Die MLPD sieht sich als solidarisch mit dem von ihr so bezeichneten Befreiungskampf des palästinensischen Volkes im Sinne einer internationalen sozialistischen Revolution und fordert eine durch die Arbeiterklasse gestützte übernationale "revolutionäre Intifada". Auf Instagram wirft die MLPD Israel einen "imperialistischen Krieg" vor. Die militärische Gegenreaktion Israels wird in Hinblick auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen kritisiert und mit der Forderung nach humanitären Maßnahmen verbunden. Dieser Forderung verlieh die MLPD mit einem Spendenaufruf durch die "United Front" Nachdruck und berichtete Ende November 2023, dass bereits 20.000 Euro gesammelt und weitergeleitet worden seien. 176 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die MLPD sucht in allen von ihr bearbeiteten Themenfeldern einen gesellschaftlichen Zusammenschluss für den von ihr so bezeichneten "echten Sozialismus": In der antikapitalistischen und antifaschistischen Wirtschaftsund Umweltpolitik, in der antirassistischen Flüchtlingspolitik und in der antiimperialistischen Friedenspolitik treten die Parteimitglieder innerhalb und außerhalb von Bündnissen erkennbar geschlossen für ihre politische Alternative ein. Auf diese Weise sollen linksextremistische Positionen über das Vehikel anschlussfähiger Themenfelder in die Zivilgesellschaft transportiert werden. Die MLPD bezeichnet diese Entgrenzungsstrategie nach Aussage der Vorsitzenden Gabi Fechtner als "taktische Offensive für ein neues Ansehen des echten Sozialismus", mit der der Zugang zu den Massen verfolgt wird. Die Wahlergebnisse der MLPD der letzten Jahre belegen jedoch, dass die Strategie bislang keine relevanten Erfolge im demokratischen Spektrum zeitigte. Die Europawahl am 9. Juni 2024 bietet der Partei die Möglichkeit, im öffentlichen Raum erkennbarer zu sein. Es ist folglich damit zu rechnen, dass die MLPD anstreben wird, an den Wahlen teilzunehmen. In diesem Kontext kritisiert sie regelmäßig die Zulassungshürde von 4.000 Unterstützerunterschriften als undemokratisch. lInKsextremIsmus 177 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Autonome Linksextremisten Sitz/Verbreitung Landesweite Verteilung mit lokalen Schwerpunkten in Ballungszentren Gründung/Bestehen seit Ende der 1970erbeziehungsweise Anfang der 1980erJahre aus der Studentenbewegung der 1968er-Jahre, der "Sponti"-Szene der 1970er-Jahre und der Punk-Subkultur entstanden Struktur/ Repräsentanz Weitgehend hierarchiefreie Netzwerke mit themenoder aktionsbezogener Ausrichtung; überregionale Treffen, Chatoder Telefonkonferenzen mit Delegierten örtlicher oder thematisch gebundener Zusammenhänge; Internet als offenes Kontaktmedium Mitglieder/Anhänger/ circa 1.150/ Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Hauptsächlich Veröffentlichungen in szenebezogenen Internetportalen, Internetblogs und sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Die linksautonome Szene als bekannteste Subkultur im Linksextremismus definiert ihre Ziele vorrangig durch Gegenproteste, wohingegen eine gemeinsame Zielsetzung - abgesehen von der Eroberung sogenannter Freiräume - kaum festzustellen ist. Staatliche Strukturen, insbesondere Hierarchien und das staatliche Gewaltmonopol, werden zugunsten eines "selbstbestimmten Lebens" abgelehnt. Gleichzeitig wenden Autonome zur Durchsetzung ihrer Auffassung auch enthemmte Gewalt gegen Meinungsgegner an und versuchen damit, diese einzuschüchtern und gesellschaftliche Diskurse nach ihren Vorstellungen zu steuern. 178 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Finanzierung Ereignisoder anlassbezogene Finanzierung von Kampagnen durch Solidaritätskonzerte und -partys oder Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Insbesondere die Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols und der rechtsstaatlichen Ordnung durch die linksautonome Szene bei gleichzeitiger Befürwortung von Gewalt zur Erreichung der eigenen politischen Ziele ist nicht vereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Autonomen werden daher nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW durch den Verfassungsschutz NRW beobachtet. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Autonome und Anarchisten gründen neue Gruppen als Folge von Neuorientierungen In der linksautonomen Szene haben sich die Spaltungstendenzen des Vorjahres fortgesetzt. Offizielle Auflösungen waren zwar nicht zu verzeichnen, allerdings sind bei einigen Gruppierungen keine Aktivitäten mehr festzustellen. Klassenkämpferische und eher dogmatisch geprägte Kleingruppen, die einen an das autonome Spektrum angelehnten Habitus aufweisen, hatten ein gleichbleibend starkes Mobilisierungsund Aktionspotenzial. Hier konnte auf lokaler Ebene ein leichter Zuwachs beobachtet werden. Vermutlich als Konsequenz aus szeneinternen Streitigkeiten im Zusammenhang mit einem Sexismusvorwurf gegen ein Mitglied der Interventionistischen Linken (IL) in Köln gründete sich im August 2023 die Gruppe Revolutionäre Organisation für einen Sozialistischen Aufbruch (R.O.S.A.) in Düsseldorf. Symptomatisch für die Stagnation der IL erklärt die R.O.S.A., sie habe sich "zu oft [...] in autonomen Organisierungsprinzipien wiedergefunden, was eine diffuse, aktionistische politische Praxis zur Folge hatte, die von unzureichender Theoriearbeit geprägt war." Diese Kritik an der autonomen Praxis war im übrigen Anfang der 2000er-Jahre Anlass für die Gründung postautonomer Strukturen wie der IL und des Bündnisses ...ums Ganze!. Mit der Ende 2023 neu gegründeten Anarchokommunistischen Initiative Münster existiert nun neben der schon seit Jahrzehnten bestehenden Freien Arbeiter*innenUnion in Münster und Umgebung (FAU Münster) eine weitere anarchistische Gruppe in Münster. lInKsextremIsmus 179 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Neugründungen zeigen auf, dass es weiterhin aktionsorientierte Akteure innerhalb der Szene gibt, die eine Stagnation abwenden möchten. Das Aktionspotenzial der Gruppen fällt in Quantität und Relevanz jedoch hinter das der Vorjahre zurück. Themenfeld Antirepression Ein in Leipzig anhängiges Gerichtsverfahren (Szenejargon "Lina E.-Verfahren") gegen die Antifa Ost wegen mehrerer Überfälle auf tatsächliche und vermeintliche Angehörige des rechtsextremistischen Spektrums endete vorerst am 31. Mai 2023 mit einem Schuldspruch gegen und mehrjährigen Haftstrafen für die vier Angeklagten. Vor diesem Hintergrund versammelte sich am gleichen Tag die linksautonome Szene an mehreren Orten in Deutschland zu Solidaritätskundgebungen für die Angeklagten. Bei einigen dieser unangemeldeten Demonstrationen wurden Einsatzkräfte der Polizei angegriffen und verletzt. Am darauffolgenden Wochenende fanden lange im Vorfeld organisierte Solidaritätsdemonstrationen in Leipzig mit Beteiligung von angereisten Personen des autonomen Spektrums aus dem gesamten Bundesgebiet statt, in deren Verlauf es ebenfalls zu Ausschreitungen kam. Abolitionismus als verbindendes Element unterschiedlicher Ideologien Das bereits in Vorjahren festgestellte Narrativ einer angeblich strukturell von der Polizei ausgehenden, überbordenden und unrechtmäßigen Gewalt entwickelte im Jahr 2023 innerhalb der autonomen Szene Nordrhein-Westfalens eine noch stärkere Zugkraft. Kernthese dieses Narratives ist, dass staatliche Vollzugskräfte bei Polizei, Justiz und Verwaltung zwangsläufig einen prinzipiellen Hang zum Machtmissbrauch besäßen, der mit einer institutionell bedingten Tendenz zu rassistischen Vorverurteilungen (Racial Profilings) einhergehe. Als Beleg für die Richtigkeit der These führen deren Vertreter lokale Einzelereignisse an, bei denen Betroffene polizeilicher Maßnahmen mit Migrationshintergrund unter vermeintlich ungeklärten Umständen von der Polizei schwer oder sogar tödlich verletzt wurden. Die linksextremistische Szene propagiert als Konsequenz dieses gedanklichen Ansatzes die rigorose Beschränkung von polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten, mitunter auch die radikale Abschaffung der Polizei und des Justizvollzugs. Im Berichtszeitraum fanden in dem Themenzusammenhang entsprechende Demonstrationen in Dortmund, Essen, Herford und Wuppertal sowie flankierende Vortragsveranstaltungen unter Verwendung des Begriffs Abolitionismus in weiteren Städten in Nordrhein-Westfalen statt. Während der Ursprung des Begriffs auf eine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei zurückgeht, bezeichnet er im hier verwendeten Kontext 180 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 die Abschaffung von Polizei und Justiz. Der ideologische Schwerpunkt der Aktivitäten wurde jeweils von den unterschiedlichen politischen Zielvorstellungen der veranstaltenden Personenzusammenhänge bestimmt. Im Januar 2023 gründete sich die Gruppe "Defund the Police Dortmund" mit dem Anspruch: "Wir kämpfen für abolitionistische Forderungen, wie die Abschaffung der Wache Dortmund Nord, den Aufbau eines mobilen, multiprofessionellen Kriseninterventionsteams und selbstermächtigenden und selbstorganisierten Strukturen in der Dortmunder Nordstadt für alle Bewohner:innen." Zur Durchsetzung wurde "[...] eine Debatte über Alternativen zur Polizei und emanzipatorische Formen sozialer Sicherheit" gefordert. Aufruf zur Demonstration der Gruppe "Defund the Police Dortmund" auf Instagram Im Ruhrgebiet wurde zu diesem Thema bereits im Vorjahr ein Fußballturnier auf lokaler Ebene ins Leben gerufen, das künftig jährlich stattfinden soll. Bei dem Turnier in 2023 wurde dazu aufgerufen, gegen "[...] die Spaltung der Arbeiterklasse in unterschiedliche Nationalitäten und Herkünfte [...]" organisiert zu kämpfen: "Wir dürfen uns nicht spalten lassen in Deutsche und Migranten, in Türken und Kurden oder in Rumänen und Roma. Denn das ist genau das, was der Staat und seine Polizei erreichen wollen. Wir alle haben ähnliche Probleme, wir alle leiden darunter, dass die Preise teurer werden, die Mieten höher, die Löhne nicht steigen, die Polizei uns schikaniert und der Rassismus und deutsche Chauvinismus in diesem Land immer stärker dazu genutzt wird, uns zu spalten." lInKsextremIsmus 181 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 In der im Internet veröffentlichten Darstellung zu einer Demonstration in Wuppertal am 1. November 2023 wurde hingegen vertreten, dass man auf die "[...] dynamische Rolle der Jugend im Kampf gegen Rassismus und Polizeigewalt" aufmerksam gemacht habe, und der "[...] Kampf gegen Polizeigewalt immer auch ein Kampf gegen Kapitalismus sein muss". Mit den Forderungen des Abolitionismus wird letztlich die Abkehr vom staatlichen Gewaltmonopol zugunsten einer Gesellschaft verlangt, die lediglich die Ursachen von Strafund insbesondere Gewalttaten einhegt statt nicht gesetzeskonformes Verhalten durch Polizeiund Justizkräfte zu verfolgen und zu bestrafen. Gleichzeitig versucht man, die klassischen Themenbereiche linksextremistischer Politik, Antirassismus, Antikapitalismus, Antifaschismus und Antirepression, inhaltlich stärker miteinander zu verbinden. Auf diese Weise wirken der Begriff Antirepression und die sich daran knüpfenden Aktionen als Klammer für unterschiedliche Strömungen innerhalb der autonomen Szene, die ansonsten stark voneinander abweichende Positionen vertreten. Aufspaltung angesichts der Auseinandersetzungen in Israel und im Gazastreifen Die Terrorangriffe der HAMAS auf den Staat Israel und der anschließende Konflikt in Gaza erzeugte im linksautonomen Spektrum unterschiedliche Reaktionen. Große Teile der linksextremistischen Szene positionierten sich sowohl in der Vergangenheit als auch im aktuellen Konflikt klar gegen Antisemitismus. Sie lehnten jedoch das staatliche Agieren Israels - insbesondere die Siedlungspolitik und Behandlung der palästinensischen Bevölkerung in den von Israel besetzten Gebieten - ab. Viele Gruppen der autonomen Szene vermieden bisher dennoch eine eindeutige Parteinahme für eine der beiden Konfliktparteien und blendeten den Konflikt in ihrer Agitation aus. Eher dogmatisch orientierte Gruppen aus Nordrhein-Westfalen verfolgen jedoch seit mehreren Jahren eine internationalistische und antiimperialistische Agenda. Sie interpretieren die israelische Siedlungspolitik als eine "Besetzung des Gazastreifens" und als Beispiel für Aktionen des "westlichen Kapitalismus gegen revolutionäre Volksgruppen in aller Welt", die im Nahen Osten nach antiimperialistischer Auffassung vor allem durch das palästinensische Volk repräsentiert werden. Besonders problematisch erscheinen in diesem Zusammenhang die positive Bezugnahme und die Zusammenarbeit antiimperialistischer Gruppen mit dem Netzwerk Samidoun, das als Vorfeldorganisation der terroristischen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) in Deutschland im November 2023 durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat verboten wurde. In Düsseldorf, Duisburg, Köln und Münster traten dogmatische 182 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kleingruppen und Einzelakteure des linksextremistischen Spektrums bei pro-palästinensischen Demonstrationen in dieser Weise in Erscheinung. Die Internationale Jugend Rheinland ruft auf Instagram zur Demo auf. Ein kleiner Teil der autonomen Szene in Nordrhein-Westfalen gehört dagegen dem Spektrum der Antideutschen an, die sich aus einer gleichermaßen antifaschistischen und antinationalen Grundhaltung heraus uneingeschränkt israelsolidarisch positionieren. Die Parteinahme für die Belange Israels durch antideutsche Gruppen in NordrheinWestfalen schlug sich in der Beteiligung an einzelnen israel-solidarischen Demonstrationen und Informationsveranstaltungen nieder. Bei diesen Gelegenheiten stand weniger der Konflikt selbst, als die Sorge um das Aufkeimen antijüdischer Tendenzen innerhalb der deutschen Bevölkerung im Fokus. Insbesondere wurden in diesem Zusammenhang pro-palästinensische Strömungen innerhalb der gesamten politischen Linken thematisiert. Unklare Perspektive für das Autonome Zentrum in Wuppertal Die Auseinandersetzung um den zukünftigen Standort des Autonomen Zentrums in Wuppertal (AZ Wuppertal) setzte sich auch im Jahr 2023 weiter fort. Hintergrund des Konflikts ist der Plan von Rat und Verwaltung, am derzeitigen Standort des AZ den Bau eines neuen Quartiers nebst einer repräsentativen DITIB-Moschee zu realisieren. Der Ratsbeschluss zur Neubebauung und die damit verbundene Verdrängung des AZ Wuppertal emotionalisierte die linksautonome Szene in der gesamten lInKsextremIsmus 183 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Region und schlug sich in themenbezogenen Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen nieder. Demonstration für den erhalt des AZ Wuppertal im März 2023 in Wuppertal. Ein von der linksautonomen Szene mitinitiiertes Bürgerbegehren gegen die mögliche Verdrängung des AZ Wuppertal scheiterte aufgrund von ungültigen Stimmabgaben. Die Absicht, ein weiteres Bürgerbegehren mit geändertem Titel und anderer Begründung zu beantragen, besteht seitens des lokalen autonomen Spektrums allerdings weiter. Es bleibt abzuwarten, ob sich auch Teile der zivildemokratischen Anwohner mit Blick auf die in die Kritik geratene DITIB an der Auseinandersetzung beteiligen. Räumung des besetzten Weilers Lützerath Der Protest gegen den Kohleabbau unter dem Weiler Erkelenz-Lützerath hatte am Jahresanfang 2023 mehrere hundert Personen dorthin und in ein Ausweichcamp in der nahe gelegenen Ortschaft Keyenberg gezogen. Bereits zuvor hatten autonome Kohlekraftgegner die von ihren ursprünglichen Bewohnern verlassenen Gebäude und Nutzflächen besetzt gehalten und Konstruktionen errichtet, die eine Räumung erschweren oder verhindern sollten. 184 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Nach dem 20. Dezember 2022 galt jedoch ein Betretungsund Aufenthaltsverbot für die im Eigentum des Tagebaubetreibers stehenden Grundstücke in der Gemarkung Lützerath, für dessen Durchsetzung ab dem 10. Januar 2023 unmittelbarer Verwaltungszwang zur Räumung des Geländes eingesetzt werden durfte. Als die Räumung des besetzten Weilers Lützerath am 11. Januar 2023 vollzogen wurde, verließen die meisten der sich vor Ort aufhaltenden Personen das Gelände weitgehend freiwillig. Dennoch wurde der Polizeieinsatz - wie auch Brennnende Barrikaden bei der Räumung des Weilers Lützerath. schon in den Wochen und Monaten zuvor - durch eine Vielzahl von Straftaten begleitet. Polizeikräfte wurden im Umkreis der besetzten Häuser mit Steinen, Feuerwerk und vereinzelt mit Molotowcocktails angegriffen. Ferner kam es in und um Lützerath immer wieder zu Widerstandshandlungen und erheblichen Sachbeschädigungen, bei denen neben etlichen Hindernissen zur Blockade der Zufahrtswege auch ein Polizeifahrzeug in Brand gesetzt wurden. Hervorzuheben ist die Demonstration gegen die Räumung vom 14. Januar 2023, die auch in den Medien große Beachtung fand. Dazu mobilisierte neben der gesamten Bandbreite der nicht extremistischen Klimaschutzbewegung auch das neugegründete Bündnis "Lützerath Unräumbar". In diesem Bündnis wirkten neben zivildemokratischen Akteuren auch die Interventionistische Linke, das Bündnis ...ums Ganze!, Ende Gelände und die anarchistisch geprägte Kleingruppe "Zucker im Tank" mit. Mehr als 15.000 Teilnehmer bewegten sich entlang des Tagebaus Garzweiler II, als eine vierstellige Anzahl an Personen den abgesprochenen Aufzugsweg verließ, um in den Tagebau und das ehemalige Protestcamp einzudringen. An verschiedenen Sperrstellen der Polizei kam es zu gewaltsamen Durchbruchsversuchen und Durchbrüchen seitens der Störer. Hierbei wurden Einsatzkräfte der Polizei unter anderem gezielt mit Pyrotechnik beschossen. Die Störer unmittelbar an der Tagebauabbruchkante brachten sich selbst und die Einsatzkräfte in zum Teil lebensgefährliche Situationen. lInKsextremIsmus 185 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 An diesem Tag gelang es extremistischen Gruppen der linksautonomen Szene, ihre Strategie der Entgrenzung und Radikalisierung in das bürgerliche Spektrum der Klimabewegung zu tragen. Ausübung von Gewalt durch Extremisten im Namen der Klimabewegung Am 11. September 2023 kam es zu einer Brandstiftung in einem Autohaus in Düsseldorf, bei der insgesamt zehn Fahrzeuge ausbrannten. In einem mit "Gruppe Switch Off (Auto-)Kapitalismus" unterzeichneten Selbstbezichtigungsschreiben wurde die Tat in einen Zusammenhang mit der zu diesem Zeitpunkt gerade beendeten Internationalen Automobilausstellung in München gestellt und gefordert: "Ein ganz tiefgreifender Bruch mit unserer Art des Produzierens, Konsumierens, der Art, wie wir leben ist jetzt notwendig. [...] Da die bloße Erkenntnis, dass der (Auto-)Kapitalismus Wahnsinn ist, nicht dazu führt, dass der Wahnsinn aufhört, sollten wir dafür sorgen, dass das Kaufen, Verkaufen und Fahren von Autos nervig wird. Und das, so oft es geht." Ein weiteres Beispiel für Gewalt durch Extremisten im Namen der Klimabewegung lieferte die Gruppe Guerilla Activists Fighting For Anarchy (GAFFA) im rheinischen Braunkohlerevier. Dort traten GAFFA, die "kämpfenden Guerilla-Aktivisten für Anarchie" zum ersten Mal im Dezember 2022 mit Selbstbezichtigungsschreiben im Nachgang einer Brandstiftung am Tagebau Garzweiler in Erscheinung. Weitere Sachbeschädigungen ähnlicher Art folgten im Jahr 2023 am Tagebau Inden beziehungsweise an der Hambachbahn, zu denen GAFFA jeweils entsprechende Bekennerschreiben verfasste. Im November 2023 veröffentlichte GAFFA eine Handlungsanleitung für das Inbrandsetzen von Pkw. Ziel sei es dabei nach eigenen Angaben, "ein todbringendes System mit Gewalt zu stoppen (...) denn Klimagerechtigkeit wird es in einem System wie diesem -einem hierarchischen, kapitalistischen, kolonialen Systemnicht geben (...) (sondern ist) nur in der Anarchie zu verwirklichen" [sic!]. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Insbesondere der aktuelle Nahost-Konflikt lässt vollkommen gegensätzliche Positionen im linksextremistischen Spektrum - antideutsche Tendenzen auf der einen und pro-palästinensische Positionen auf der anderen Seite - deutlich werden. Hierdurch verstärken die sich bereits in den letzten Jahren wieder aufgekommenen Spaltungsprozesse innerhalb der linksautonomen Szene. Daneben scheint der Erfolg der Vernetzungsbemühungen aus den letzten Jahren hinter den daran geknüpften Erwartungen zurückzubleiben. Offenbar ergibt sich 186 lInKsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 aus der Kommunikation innerhalb der Szene nicht zwingend die Entwicklung gemeinsamer Zielvorstellungen, sondern oft eher ein Klärungsbedarf hinsichtlich richtungsweisender Abläufe und Strukturen. Die mit konkreten Vorhaben verbundenen Organisationsfragen werden mitunter als belastend und von einigen Gruppen sogar als zermürbend wahrgenommen, womit eine Schwächung des Aktionspotenzials einhergeht. Weiterhin scheinen in Nordrhein-Westfalen szeneinterne Debatten großen Raum einzunehmen, Personenpotenziale zu binden und die rückläufigen Aktivitäten zu begründen. Die offensichtlichsten Themen sind hierbei der Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt innerhalb der Gruppen und die Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen bei rechtswidrigem Handeln. Sowohl die im Verfahren gegen Mitglieder der Antifa Ost verhängten Strafen als auch Entscheidungen in anderen Verfahren lähmen die autonome Szene. Es fällt auf, dass in diesem Zusammenhang keine - sonst übliche - akribische Aufarbeitung der staatlichen Maßnahmen innerhalb der autonomen Szene erfolgt. Offenbar werden weder Art noch Umfang der Strafen infrage gestellt, sondern die mit der Strafverfolgung verbundenen Sanktionen und deren Konsequenzen für den persönlichen Lebensentwurf in das eigene Kalkül einbezogen. Der Protest gegen den Kohleabbau im Rheinischen Braunkohlerevier fand im Jahr 2023 seinen Höhepunkt mit der Räumung des besetzten Weilers Lützerath. Durch die Räumung wurde gewaltbereiten Kohlekraftgegnern der linksautonomen Szene gleichzeitig ein wesentlicher Anziehungspunkt, Versammlungsort und Aktionsraum entzogen, mit dem diese bis dahin maßgeblichen Einfluss auf zivildemokratische Umweltschützer ausgeübt hatten. Von der verbleibenden Waldbesetzung im Hambacher Forst gehen zwar weiterhin Störungen und Straftaten aus; die Anzahl der Waldbesetzer und deren Aktionsniveau haben jedoch nachgelassen. Ein neues Gewicht scheint stattdessen das Thema Antirepression zu erlangen. Unter dem Begriff Abolitionismus ist ein schon länger im Spektrum staatskritischer Theorien diskutiertes Thema ein neuer Modebegriff in der autonomen Szene geworden. Die ernsthaft gestellte Forderung nach einer Abschaffung der Polizei eint die autonome Szene über ideologische Differenzen hinweg und lässt unterschiedliche Positionen wieder in den Hintergrund treten. lInKsextremIsmus 187 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 188 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Auslandsbezogener Extremismus auslandsbezogener extremIsmus 189 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zusammenfassung Im nicht islamistischen auslandsbezogenen Extremismus werden Organisationen beobachtet, bei denen sich sowohl Ideologieelemente aus dem Rechtsals auch aus dem Linksextremismus finden lassen. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt dabei bei Beobachtungsobjekten mit Bezügen zur Türkei. Im Linksextremismus sind dies die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Revolutionäre Volksbefreiungspartei/Front (DHKP-C). Im rechtsextremistischen Spektrum umfasst dies die Ülkücü-Bewegung, deren Anhänger auch als Graue Wölfe bezeichnet werden. Neben den drei Dachverbänden Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V. (ADÜTDF), Union der Türkisch Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB) und der Föderation der Weltordnung in Europa (ANF) gehört hierzu auch die sogenannte freie Szene der Ülkücü-Bewegung. Bemühungen der PKK um Streichung von der EU-Terrorliste Bereits seit einigen Jahren versucht die PKK durch politische und kulturelle Lobbyarbeit, eine Streichung der Organisation von der Europäischen Liste der Terrororganisationen (sogenannte EU-Terrorliste) zu erreichen. Mit Einflussnahmen aller Art, wie beispielsweise Petitionen oder Kontakten zu gesellschaftlichen und politischen Akteuren, versucht die Organisation, sich vom Makel der Einstufung als Terrororganisation zu befreien. Gleichzeitig hält sie jedoch an der kämpferischen Haltung gegenüber dem türkischen Staat fest. Nach außen möchte die PKK einen möglichst legalistischen Eindruck vermitteln. Mit dem Ziel, von der EU-Terrorliste gestrichen zu werden, strebt die PKK unter anderem. an, dass ihre Mitglieder nicht mehr der Strafbarkeit wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu unterliegen. Der Selbstmordanschlag am 1. Oktober 2023 vor dem türkischen Innenministerium in Ankara, zeigt deutlich die von der PKK ausgehende Gewaltbereitschaft und deren Möglichkeit Anschläge und Attentate auszuführen. 190 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Aktivitäten der DHKP-C Solidarität mit inhaftierten Mitgliedern der DHKP-C war schon immer ein klassisches Thema der DHKP-C. Solidaritätskundgebungen für inhaftierte Führungskader der Organisation fanden auch im Jahr 2023 im Bundesgebiet und in Nordrhein-Westfalen statt. Anlässlich der Verhandlungen vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf gegen drei hochrangige Funktionäre der DHKP-C wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (Paragraphen 129 a/b Strafgesetzbuch), fanden dort Protestaktionen statt. Entschlossenes Vorgehen der Sicherheitsund Strafverfolgungsbehörden gegen die Führungsebene der Organisation werden als empfindliche Eingriffe empfunden. Aktivitäten der Grauen Wölfe (Ülkücü-Bewegung) In Deutschland und in Nordrhein-Westfalen manifestiert sich der türkische Rechtsextremismus in drei Dachverbänden sowie einer verbandsunabhängigen freien Szene der Ülkücü-Bewegung. Die Ülkücü-Ideologie bildet ihre gemeinsame Weltanschauung, die von einem übersteigerten Nationalismus geprägt ist. Nach wie vor stellt die Wiedervereinigung aller Turkvölker in einem Großreich "Turan" ein zentrales Element in der Ülkücü-Bewegung dar. Dies impliziert eine deutliche Überhöhung der türkischen Ethnie unter Herabwürdigung anderer Ethnien durch das Pflegen von Feindbildern wie unter anderem Kurden und Juden. Aktuelle Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland, in der Türkei oder den türkischen Staat betreffend werden in der freien Ülkücü-Szene in den sozialen Medien thematisiert und in rassistischer, antisemitischer Art und Weise kommentiert. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y auslandsbezogener extremIsmus 191 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Fokus: Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in der Türkei - Auswirkungen in der Ülkücü-Bewegung Seit der Wahlrechtsreform im Jahr 2012 können Personen, die die türkische und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, in Deutschland an den Wahlen der Türkei teilnehmen. Die Bundesrepublik Deutschland stellt hierbei den größten Auslandswahlkreis der Türken mit etwa 1,5 Millionen Wahlberechtigten. Am 14. Mai 2023 fanden die Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. In der Stichwahl am 28. Mai 2023 wurde der amtierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mit knapp 52,2 Prozent im Amt bestätigt. Nordrhein-Westfalen verfügt über eine sehr große türkische und türkeistämmige Community, so dass gesellschaftliche und politische Entwicklungen in der Türkei grundsätzlich dazu geeignet sind, Stimmungen, Diskurse und Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen zu beeinflussen. Des Weiteren verfügen einzelne türkische Parteien über entsprechende ideologische und politische Stellvertretergruppen in NordrheinWestfalen. Folgerichtig betreffen die Wahlen in der Türkei nicht nur einen sehr großen Bevölkerungsanteil in NRW, sie sind darüber hinaus dazu geeignet, Dynamiken und Gefährdungslagen auch innerhalb Deutschlands auszulösen. In Nordrhein-Westfalen war insbesondere der auslandsbezogene Extremismus betroffen - im Folgenden konkret die Ülkücü-Bewegung. Die Ülkücü-Bewegung ist in NRW in einer vereinsgebundenen und einer sogenannten freien Szene organisiert. Die drei großen Dachverbände ADÜTDF, ATIB und ANF sind der Ülkücü-Bewegung zuzuordnen. Im Gegensatz zur ATIB sind die ADÜTDFund ANF-Vereine strukturell an politische und staatliche Institutionen der Türkei gebunden. Die ADÜTDF ist die Deutschland-Organisation der türkischen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetci Haraket Partisi - MHP). Diese Partei koaliert aktuell noch mit der Partei Recep Tayyip Erdogans - "Adalet ve Kalkinma Partisi" (AKP). Hingegen ist die ANF die Europaorganisation der extrem nationalistischen türkischen "Partei der Großen Einheit" (BBP). Bei dieser handelt es sich um eine stärker islamisch ausgerichtete Abspaltung der MHP. Obgleich sich die beiden Dachverbände um ein gesetzeskonformes Verhalten bemühen, vermögen die ideologische Ausrichtung und die Strategie einzelner Vereine, die Anhänger im Sinne der nationalistischen politischen Agenda zu mobilisieren und den Diskurs zu beeinflussen. 192 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Vorfeld der Wahlen erlangte insbesondere die Rede eines türkischen AKP-Abgeordneten in der Neusser Yunus Emre Moschee im Januar 2023, welche der ADÜTDF zugeordnet ist, große mediale Aufmerksamkeit. In seiner Rede bezog sich der AKPAbgeordnete auf die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und die Gülen-Bewegung. Letztere gilt in der Türkei wie auch die PKK als Terrororganisation. In seiner Ansprache warnte der Abgeordnete seine Zuhörer vor beiden Organisationen und kündigte an, dass beide kein Existenzrecht in der Türkei hätten. Gleiches gelte für Deutschland. Nach Verbreitung erregte der Video-Auszug der Rede in den sozialen Medien sehr großes Aufsehen. Kurden gehören zu den in der Ülkücü-Ideologie gepflegten Feindbildern. Im Hinblick auf die (damals) bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in der Türkei war die AKP-MHP-Koalition um Stimmen bemüht. Die Aussagen des türkischen Politikers reihen sich in die bekannte Propaganda der AKPund MHP-Politiker und auch der Anhängerschaft der Ülkücü-Bewegung ein. Der türkischen Nation wird eine kulturelle und religiöse Überlegenheit zugesprochen. Dies zeigt sich auch in der Überhöhung der eigenen türkischen Identität, indem andere Volksgruppen herabgewürdigt und zu Feinden des Türkentums deklariert werden. Mit seiner Rede versuchte der AKP-Politiker diese Ideologie zu unterstreichen, um folgerichtig positiv auf das Wahlverhalten der Zuhörer einwirken zu können. Der Inhalt der Rede wurde sowohl in der kurdischen Community in Deutschland als auch in der deutschen Politik heftig kritisiert. Durch ADÜTDF-Vereine wurden auch einige Kulturund Konzertveranstaltungen organisiert, so unter anderem das musikalische Kulturfest Werbung auf Facebook für ein durch den ADÜTDF organisiertes musikalisches Kulturfest vom 22. Januar 2023 in Köln am 22. Januar 2023 in Köln. Im Nachgang belegten Fotos dieser Veranstaltung, dass neben der türkischen Flagge der sogenannte Wolfsgruß (Erkennungszeichen der rechtsextremen Grauen Wölfe) häufig gezeigt wurde. Solche Veranstaltungen tragen dazu bei, den Zusammenhalt innerhalb der Community zu stärken und das Wahlverhalten zu beeinflussen. auslandsbezogener extremIsmus 193 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Neben den ADÜTDF-Vereinen waren auch einige ANF-Vereine in den sozialen Medien aktiv. Die Aufforderung zur Wahlteilnahme beschränkte sich hier jedoch auf Wahlplakate von Kandidaten der "Großen Einheitspartei" (Büyük Birlik Partisi - BBP). Am 28. Mai 2023 kam es nach Bekanntwerden des Wahlsieges durch den amtierenden Staatspräsidenten in mehreren Städten NRWs zu Spontanversammlungen und Autokorsos, die erhebliche Beeinträchtigungen des Verkehrs und massive Ruhestörungen zur Folge hatten. Das Wahlergebnis wirkte sich insofern auf die Sicherheitslage in Nordrhein-Westfalen aus. Einige Teilnehmer zeigten dabei auch den bekannten Wolfsgruß und es kam punktuell zum Einsatz von Pyrotechnik. Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan fahren in einem Autokorso durch den Duisburger Norden, der "Wolfsgruß" wird gezeigt. Aus dem gesamten Wahlverhalten der türkeistämmigen Bevölkerung in NordrheinWestfalen ist zu erkennen, dass nach wie vor Entwicklungen und Ereignisse in der Türkei Auswirkungen auf NRW haben und damit zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen können. Der knappe Ausgang der Wahl manifestiert eine deutliche Spaltung und Lagerbildung innerhalb der Türkei mit der Folge, dass den Stimmen der wahlberechtigten Bevölkerung hier eine hohe Bedeutung zukommt. 194 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Wahlzettel für die Präsidentschaftswahl für wahlberechtigte Türken in Deutschland. auslandsbezogener extremIsmus 195 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe) Sitz/Verbreitung Landesweit mit Schwerpunkten in Ballungszentren Gründung/Bestehen seit 1978 Gründung der Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereinen in Europa e.V. (Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu - ADÜTDF) 1987 Abspaltung und Gründung der Union der Türkisch-islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (Avrupa Islam Kültür Dernekleri Birligi - ATIB) von der heutigen ADÜTDF 1994 Gründung der Föderation der Weltordnung in Europa (Avrupa Nizam-iAlem Federasyonu - ANF) Struktur/ Repräsentanz 70 ADÜTDF Vereine in NRW Sieben ATIB-Vereine in NRW und der Dachverband mit Sitz in Köln Vier ANF-Vereine in NRW Mitglieder/Anhänger/ Freie Szene der Ülkücü-Bewegung: 800 Unterstützer 2023 Vereinsgebundene ADÜTDF-Mitglieder: 2.000 Vereinsgebundene ATIB-Mitglieder: 600 Vereinsgebundene ANF-Mitglieder: 300 196 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Veröffentlichungen ADÜTDF: Zeitschriften (zum Beispiel "Bülten"), Webseiten, Facebook-, Instagram-, Twitter-, und TikTok-Profile und -Gruppen, YouTube ATIB: Zeitschrift "Referans", Webseiten, Facebook-, Instagram-, X- und TikTok-Profile und -Gruppen, YouTube ANF: Zeitschrift "Alperen", Webseiten, Facebook-, Instagram-, X- und TikTok-Profile und -Gruppen, YouTube Kurzporträt/Ziele In NRW sind drei Dachverbände der Ülkücü-Bewegung zuzuordnen: die ADÜTDF, die ATIB und die ANF Die heterogene türkisch-rechtsextremistische Ülkücü-Bewegung zeichnet sich durch ihr turanistisches Weltbild aus. Die politische und geschichtliche Bedeutung des Osmanischen Reiches dient als narrative Grundlage für die Überlegenheit der türkischen Nation. Zentrales Merkmal der Bewegung ist somit die Idealisierung der eigenen türkischen Identität bei gleichzeitiger Herabwürdigung anderer Volksgruppen und politischer Gegner. Ziel ist die Vereinigung aller Turkvölker in einem Staat "Turan". Finanzierung ADÜTDF: Mitgliedsbeiträge und Spenden ATIB: Mitgliedsbeiträge und Spenden ANF: Mitgliedsbeiträge, Spenden, Verkauf von beispielsweise Kalendern Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Wegen ihres extremistischen-nationalistischen Gedankengutes handelt es sich bei der Ülkücü-Bewegung um eine Gruppierung, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung beziehungsweise gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richtet und zugleich gegen den im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgrundsatz verstößt. Somit erfüllt diese Bewegung mit ihren Gruppierungen die Voraussetzungen zur Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörde (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 VSG NRW) auslandsbezogener extremIsmus 197 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Vereinsgebundene Anhängerschaft Ereignisse und Entwicklungen in der Türkei werden wie in den Jahren zuvor in der Ülkücü-Bewegung thematisiert. So waren im Berichtsjahr 2023 das große Erdbeben im Südosten der Türkei, die Parlamentsund Präsidentschaftswahlen und das 100-jährige Jubiläum des Bestehens der Türkei wesentliche Themen. Auch im Berichtsjahr 2023 haben die drei Dachverbände ihre realweltlichen Vereinsaktivitäten fortgeführt. Hierzu gehören Veranstaltungen wie Sportund Spielfeste, Bildungsund Kulturveranstaltungen und Wohltätigkeitsbasare. Diese klassischen Vereinsaktivitäten kaschieren nach außen die tatsächlich in den Dachverbänden gepflegte turanistische Ideologie. Turanismus basiert auf der Idee eines gemeinsamen ethnischen Ursprungs aller Turkvölker, verbunden mit dem Bestreben, diese Völker in einer gemeinsamen Heimat unter Führung der Türken zu vereinigen. Nach wie vor werden Vordenker des Turanismus in der Ülkücü-Bewegung hoch verehrt. Am 6. Februar 2023 erschütterten mehrere Erdbeben den Südosten der Türkei. Im Zuge der Naturkatastrophe konnten in den sozialen Medien viele Spendenaufrufe und Spendensammelaktionen festgestellt werden. Die Dachverbände nutzten damit die Möglichkeit, sich nach außen als für ihre Anhänger und das türkische Volk fürsorgliche Organisationen darzustellen. Die Anhänger vereinzelter ADÜTDF-Vereine in NRW bringen ihre ideologische Ausrichtung unverkennbar zum Ausdruck. Neben der öffentlich wahrnehmbaren Verwendung der Bezeichnung Ülkücü und einschlägiger Symbolik (wie zum Beispiel das Zeigen des Wolfsgrußes), wird in den sozialen Medien stets an den Todestag verstorbener Anhänger erinnert. Beispielsweise wird der 27. Mai alljährlich als Heldengedenktag für alle verstorbenen Ülkücü-"Märtyrer" begangen. Es werden diejenigen Anhänger geehrt, die "im Kampf" um den Halbmond und für die Ülkücü-Ideologie "gefallen" sind. Allen voran wird hier der Vordenker der Ülkücü-Bewegung - Alparslan Türkes geehrt. Zum Gedenken an die Rassismus-Turanismus Prozesse des Jahres 1944 in der Türkei hat zudem der 3. Mai als "Tag des Türkentums" nach wie vor eine wichtige Bedeutung. Am 3. Mai 1944 kam es in Ankara zu Protesten gegen die damals laufenden Strafverfahren gegen Persönlichkeiten des Turkismus und Turanismus, unter anderem gegen Alparslan Türkes und Nihal Atsiz. 198 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Das Feiern dieser Gedenktage belegt, dass die Vordenker des Turkismus und Turanismus in der Ülkücü-Bewegung nach wie vor verehrt werden. Eine Distanzierung von dieser Ideologie, die eine deutliche Überhöhung der türkischen Ethnie gegenüber anderen Ethnien beinhaltet, findet nicht statt. Der Dachverband ATIB hat sich im Jahr 1987 von der ADÜTDF abgespalten, allerdings hat auch dieser sich niemals von der Ülkücü-Ideologie distanziert. Die ATIB orientiert sich dabei an der Türkisch-Islamischen Synthese und ist bemüht, den Bezug zum türkischen Rechtsextremismus - insbesondere in den sozialen Medien - nicht offen darzulegen. In der Öffentlichkeit inszeniert sie sich vorwiegend mit integrativen, religiösen und bildungszentrierten Inhalten, um in der Außenwirkung den Eindruck einer professionellen und legalistischen Organisation zu erwecken. Durch die Nähe zu deutschen und türkischen Verbänden und Einrichtungen strebt sie gesellschaftliche Akzeptanz an, um so Einfluss auf den politischen Diskurs ausüben zu können. So ist die ATIB Gründungsmitglied des Zentralrats der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD) und zudem mit einem Mitglied im Vorstand der ZMD vertreten. Engagement in politischen Gremien und kommunalen Verbänden steht ebenfalls auf der Agenda, um so einen Zugang zu politischen Parteien zu erlangen. Auch die ANF-Vereine verhalten sich in der Außenwirkung rechtskonform. Offene extremistische Äußerungen werden vermieden. Die Besonderheit der ANF-Vereine zeigt sich in der starken Führerund Märtyrerverehrung. Um die Person des Muhsin Yazicioglu wird in den ANF-Vereinen nach wie vor ein großer Führerkult betrieben. Muhsin Yazicioglu > geboren am 31. Dezember 1954 und gestorben am 25. März 2009 > Ehemaliges Mitglied und Funktionär der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP - Milliyetci Haraket Partisi) > 1993 Trennung von der MHP und Gründung der Partei der Großen Einheit (BBP - Büyük Birlik Partisi) Muhsin Yazicioglu und seine Lehre werden weiterhin gewürdigt. In den sozialen Medien wird insbesondere an seinem Todestag seiner gedacht, seine Zitate und Fotos werden in diesem Rahmen vermehrt gepostet. Auch hier zeigt sich, dass Vordenker des Turkismus und Turanismus weiterhin als Person verehrt werden und ihre Lehren ideologieprägend sind. Weder findet eine Distanzierung, noch eine kritische Ausauslandsbezogener extremIsmus 199 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 einandersetzung mit diesem tradierten Weltbild statt, das mit dem Gedanken der Völkerverständigung nicht vereinbar ist. Die freie Szene des türkischen Rechtsextremismus Die Anhänger der sogenannten freien Szene der Ülkücü-Bewegung sind im Gegensatz zur vereinsgebundenen Anhängerschaft kaum organisiert und überwiegend im digitalen Raum aktiv. Dabei pflegt die freie Szene der Ülkücü-Bewegung ihre Feindbilder und agiert gegen ihre politischen Gegner. Vorbehaltlose Solidarität gegenüber der Türkei und der aktuellen Staatsführung ist kennzeichnend für die Anhänger. Meist werden aktuelle Ereignisse und Entwicklungen mit Türkeibezug aufgegriffen und in den sozialen Medien in entsprechender Färbung diskutiert und kommentiert. Emotionale Themen wie der Konflikt der türkischen Regierung mit der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und die aus Sicht der freien Szene vorherrschende Islamund Türkenfeindlichkeit in Deutschland und in der EU werden genutzt, um Feindbilder zu schüren. Im Berichtszeitraum 2023 spielte insbesondere der Nahost-Konflikt eine große Rolle. Antisemitismus ist ein grundlegender Bestandteil der ideologischen Ausrichtung der Ülkücü-Bewegung. Juden gehören zu den in der Ülkücü-Ideologie gepflegten Feindbildern. Im Zuge der Terroranschläge gegen den Staat Israel am 7. Oktober 2023 und der daraus folgenden Bodenoffensive israelischer Truppen im Gaza-Streifen, konnten in den sozialen Medien Solidaritätsbekundungen seitens Ülkücü-Anhängern mit Palästina verzeichnet werden. In den Kommentaren wird eine deutlich antiisraelische und zum Teil antisemitische Haltung eingenommen und die Terroranschläge gegen den Staat Israel als ein begründetes und folgerichtiges Vorgehen bewertet. Hingegen wird das Verhalten des Westens, im speziellen der Vereinigten Staaten, als heuchlerisch kritisiert. Der Umgang mit dem palästinensischen Volk wird als Menschenrechtsverletzung und Kriegsverbrechen bewertet. Die uneingeschränkte Solidarität mit Israel sei kennzeichnend für die herrschende Islamfeindlichkeit. Teilweise war erkennbar, dass zur Teilnahme an pro-palästinensischen Demonstrationen und zum Boykott israelischer und US-amerikanischer Produkte aufgerufen wurde. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die rechtsextremistische türkische Ülkücü-Bewegung basiert auf einer extrem nationalistischen bis rechtsextremistischen Ideologie. Das Ziel der Bewegung ist die Verteidigung und Stärkung des Türkentums, indem alle Turkvölker in einem fiktiven Staat - ("Turan") unter der Führung der Türken vereint sind. Der türkischen Nation wird eine kulturelle und religiöse Überlegenheit zugesprochen. Dies zeigt sich auch in der 200 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Übererhöhung der eigenen türkischen Identität, indem andere Volksgruppen herabgewürdigt und zu Feinden des Türkentums deklariert werden. Die Aktivitäten und Themen der Anhänger der Ülkücü-Bewegung orientieren sich nach wie vor stark an aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in der Türkei. So bestimmten diese die Vereinsaktivitäten der drei großen Dachverbände der Ülkücü-Bewegung ADÜTDF, ATIB und der ANF. Obwohl die Verbände in der Außendarstellung um ein gemäßigtes Auftreten bemüht sind, tragen sie ihre rechtsextremistische Ideologie innerhalb der Vereinsstrukturen offen zur Schau. Die einzelnen Ortsvereine der Ülkücü-Bewegung sind im kommunalen Bereich fest verankert. Dies dient der Umsetzung ihrer ideologischen Zielrichtung in NRW. Immer wieder kommt es zu "Kennbeziehungen" und gemeinsamen Auftritten im Rahmen von Feierlichkeiten mit Vertretern aus dem politischen Raum. Die Einbindung in kommunale Strukturen dient letztlich auch dazu, den legalistischen Anstrich der Dachverbände zu stärken. Während die vereinsgebundene Anhängerschaft sich in der Öffentlichkeit eher zurückhaltend verhält, äußern sich Akteure der freien Szene im digitalen Raum offen zu tagesaktuellen innenund außenpolitischen Ereignissen und kommentieren diese im Lichte der Ülkücü-Ideologie. Aufgrund der hohen digitalen Reichweite vereinzelter Akteure gelingt es, diese Ideologie an die Öffentlichkeit heranzutragen. Obgleich nicht immer die extremistische Ideologie sofort deutlich wird, können im Internet Selbstinszenierungen festgestellt werden, die die Überlegenheit der türkischen Nation suggerieren. Die Verbreitung türkisch-nationalistischer Narrative und Kommentare in ideologischer Färbung können im Ergebnis zu einer Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Die gesamte Ülkücü-Bewegung versucht so, das gesellschaftliche und politische System zugunsten ihrer Grundund Werteordnung mitzugestalten und ihre Agenda im Interesse ihrer Anhängerschaft gesellschaftspolitisch zu etablieren. auslandsbezogener extremIsmus 201 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKP-C) Sitz/Verbreitung Türkei, europaweite Verbreitung mit Schwerpunkt Südund Westeuropa. Gründung/Bestehen seit 1994, hervorgegangen aus der 1978 gegründeten revolutionären Linken (Devrimci Sol - Dev-Sol) Struktur/ Repräsentanz Generalsekretär, Zentralkomitee sowie länderund gebietsverantwortliche Funktionäre. Nach dem Tod von Dursun Karatas im Jahr 2008 wurde offiziell noch kein Nachfolger für das Amt des Generalsekretärs bestimmt. Mitglieder/Anhänger/ circa 200 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Publikationen "Devrimci Sol" (unregelmäßiges Erscheinen) und "Halk Okulu" (bis 2019 "Yürüyüs") Web-Angebot: Eigener Internetauftritt, Nutzung von sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Die in der Türkei und in Deutschland verbotene Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKP-C) verfolgt das Ziel, das bestehende türkische Staatssystem durch eine bewaffnete Revolution zu zerschlagen, um ein sozialistisches System zu errichten. Auf der ideologischen Grundlage des Marxismus-Leninismus propagiert die DHKP-C einen bewaffneten Volkskampf unter ihrer Führung. 202 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Organisation tritt damit für eine revolutionäre Überwindung der türkischen Staatsund Gesellschaftsordnung ein. Hierzu führt sie in der Türkei auch terroristische Aktionen durch. In Deutschland kann die DHKP-C aufgrund ihres Verbotes im Jahr 2000 nicht offen agieren. Sie handelt daher über Vereine, deren Satzungen keinen Rückschluss auf die Zugehörigkeit zur Organisation zulassen oder deren Verbindungen zur DHKP-C nur schwer nachweisbar sind. Finanzierung Spenden und Erlöse aus dem Verkauf von Publikationen sowie Eintrittsgelder von Veranstaltungen. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Mit ihrem Bestreben gefährdet die DHKP-C sowohl die innere Sicherheit als auch die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 VSG NRW). Die DHKP-C ist eine Nachfolgeorganisation der in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Jahr 1983 verbotenen Devrimci Sol. Seit dem Verbot im Jahr 1983 werden politische Aktivitäten konspirativ fortgesetzt. Die DHKP-C selbst ist in Deutschland seit dem 1. Februar 2000 rechtskräftig verboten. Im Mai 2002 hat der Rat der Europäischen Union die DHKP-C auf die europäische Liste der Terrororganisationen gesetzt. Der politische Flügel der DHKP-C gibt sich selbst den Namen Revolutionäre Volksbefreiungspartei (Devrimci Halk Kurtulus Partisi - DHKP), während sich der militärische Arm der DHKP-C als Revolutionäre Volksbefreiungsfront (Devrimci Halk Kurtulus Cephesi - DHKC) bezeichnet. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Das Aktionsverhalten der linksextremistischen DHKP-C in Nordrhein-Westfalen bewegte sich im Berichtszeitraum thematisch erneut stark im Kontext staatlicher Exekutivmaßnahmen gegen Aktivisten der DHKP-C und der Situation von inhaftierten Führungskadern der Organisation. Wie bereits in den vergangenen Jahren führten Aktivisten und Sympathisanten aus dem Umfeld der DHKP-C in verschiedenen Städten im Bundesgebiet Solidaritätskundgebungen durch. Auch in NRW fanden in diesem Rahmen verschiedene Versammlungen und Kundgebungen statt. auslandsbezogener extremIsmus 203 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Darüber hinaus kündigte die Organisation im Januar 2023 im Internet einen so genannten "Langen Marsch" an. In verschiedenen Städten im Bundesgebiet fanden kleinere Protestaktionen statt. In NRW wurden in diesem Rahmen unter anderem in Köln, Düsseldorf und Duisburg Kundgebungen angekündigt und durchgeführt. Die Aktionsform "Langer Marsch" wurde von der Organisation in den vergangenen Jahren wiederholt genutzt, um auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Eine erwähnenswerte Außenwirkung konnte durch die Kundgebungen jedoch nicht erzielt werden. Prozess gegen Funktionäre vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf Im Juni 2023 wurde vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf der Strafprozess gegen drei im Jahr 2022 verhaftete und sich seitdem in Untersuchungshaft befindliche hochrangige Funktionäre der DHKP-C eröffnet. Den Angeklagten wird seitens der Bundesanwaltschaft die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gemäß Paragraph 129b Absatz 1 in Verbindung mit Paragraph 129a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. Zum Prozessauftakt versammelten sich etwa 80 mutmaßliche DHKP-C Sympathisanten in unmittelbarer Nähe zum Gebäude des Oberlandesgerichts zu einer Protestaktion. In der Folge kam es an einigen Verhandlungstagen zu kleineren angemeldeten Kundgebungen vor dem Gerichtsgebäude. Eine Hauptforderung der Protestierenden war neben der Freilassung der Angeklagten die Abschaffung der Paragraphen 129 a/b des Strafgesetzbuches, welche aus Sicht der DHKP-C als "antidemokratisch" empfunden werden. Konzertveranstaltung in Duisburg Im März 2023 fand in einem Veranstaltungssaal in Duisburg ein Konzert der DHKP-Cnahen Musikgruppe Grup Yorum und weiteren Musikern statt. Das Konzert wurde über verschiedene einschlägige Internetplattformen als "2. Internationales Kunstfront Konzert" öffentlich beworben. Da sich im Vorfeld Hinweise verdichteten, dass die Musikveranstaltung zu Propagandazwecken im Sinne der DHKP-C genutzt werden könnte, wurden seitens der zuständigen Versammlungsbehörde ordnungsrechtliche Auflagen erlassen. Die Auflagen umfassten das Verbot des Spielens bestimmter Lieder sowie die Untersagung von Propaganda im Sinne der DHKP-C. Letztlich wurde das Konzert mit etwa 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern auflagenkonform durchgeführt. Verhindertes "Märtyrergedenken" in Köln Eine weitere Veranstaltung mit Bezug zur DHKP-C wurde im Internet für den April 2023 in Köln angekündigt. Unter der dem Motto "Schluss mit dem Staatsterror in 204 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 der Türkei" versammelten sich etwa 60 mutmaßliche Aktivisten der DHKP-C zu einer Demonstration. Erfahrungswerte ähnlich gelagerter vergangener Veranstaltungen ließen den Schluss zu, dass es sich bei der Demonstration um das jährlich veranstaltete so genannte "Märtyrer-Gedenken" der Organisation handeln könnte. Aufgrund mitgeführter Transparente mit erkennbarer DHKP-C-Symbolik wurde der geplante Aufzug polizeilich untersagt. Den Aktivisten wurde lediglich eine stationäre Standkundgebung ohne nennenswerte Außenwirkung erlaubt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Nach wie vor sind Solidaritätskundgebungen für inhaftierte Kader sowie Gedenken an getötete und seitens der Organisation als "Märtyrer" bezeichnete Aktivisten zentraler Bestandteil der Agitation und Propaganda der DHKP-C. In diesem Kontext finden auch in NRW immer wieder Aktionen statt. Darüber hinaus sind öffentliche Solidaritäts-kundgebungen für die aus dem direkten Umfeld der DHKP-C stammende Musikgruppe Grup Yorum ein wichtiger Aspekt im Aktionsverhalten der Organisation. Veranstaltungen der Musiker wurden und werden von der Organisation genutzt, um einen Personenkreis anzusprechen, der weit über die eigene Anhängerschaft hinausgeht. Aufgrund des konstant hohen Ermittlungsdrucks der deutschen Sicherheitsund Ordnungsbehörden sowie Sensibilisierung von Veranstaltern und Hallenbesitzern, gelingt es der Gruppierung jedoch kaum noch, größere Konzerte anzumelden und durchzuführen. Die umgesetzten staatlichen Maßnahmen tragen somit maßgeblich zur Verhinderung von illegalen Aktivitäten und zur Verunsicherung des Unterstützerumfeldes der Organisation bei. Die in der Vergangenheit betriebene Praxis, Auftritte der Musikgruppe für Spendenaktionen, Mobilisierung von Mitgliedern sowie Rekrutierung neuer Anhänger zu nutzen, fällt somit weg. Dennoch dient Deutschland der Organisation auch weiterhin als wichtiger Rückzugsund Sammlungsraum sowie Rekrutierungsbasis für neue Aktivisten. Auch wenn aktuell nicht mit einer Aufkündigung des im Jahr 1999 seitens der DHKP-C für Westeuropa erklärten Gewaltverzichtes zu rechnen ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass von hier aus terroristische Aktivitäten geplant und vorbereitet werden. Eine nachrichtendienstliche Beobachtung der Organisation und von deren Unterstützerumfeld ist somit auch zukünftig angebracht und notwendig. auslandsbezogener extremIsmus 205 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) und unterstützende Organisationen Sitz/Verbreitung Nordirak, in Europa Vertretung durch wenige weisungsberechtigte Funktionäre mit wechselnden Aufenthaltsorten durch den Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa (KCDK-E) Gründung/Bestehen seit November 1978 Struktur/ Repräsentanz Höchste Entscheidungsgremien: Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Präsident: Abdullah Öcalan, Co-Vorsitzende: Bese Hozat und Cemil Bayik und die Generalversammlung Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) Europa: autoritäre Führung mittels Kaderprinzip Deutschland: neun Regionen (Eyalet), 31 Gebiete (Bölge). Nordrhein-Westfalen: zwei Regionen (Nordrhein und Westfalen), acht Gebiete mit je einem leitenden Führungsfunktionär, örtliche kurdische Vereine für die Umsetzung von Vorgaben der europäischen Führungsebene sowie als Treffpunkt und Anlaufstelle für Anhänger der Organisation. Dachverband: Seit Ende Januar 2020 (Konfederasyona Civaken Kurdistaniyen li Almanya - KON-MED) als neuer Dachverband (bereits im Jahr 2019 gegründet): fünf regionale Föderationen im Bundesgebiet, die den örtlichen Vereinen übergeordnet sind (NRW: Föderation der freiheitlichen Gesellschaft Mesopotamiens in NRW (Federasyona Civaken Azad yen Mezopotamy li NRW - FED-MED e.V.). 206 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 KON-MED bemüht sich, wie bereits sein Vorgänger NAVDEM e.V., mit aktiver Öffentlichkeitsund Kampagnenarbeit und durch einen Kontaktaufbau zu politischen Entscheidungsträgern um Unterstützung der PKK und ihrer Anliegen. Aktuell werden in NRW rund 50 örtliche Vereine als PKKnah eingeschätzt. Neben den lokalen Vereinsstrukturen versucht die PKK, ihre Politik mithilfe sogenannter Massenorganisationen zu popularisieren und umzusetzen. Darin organisiert sie ihre Anhänger nach sozialen Kriterien oder nach Berufsund Interessengruppen: Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK) mit Sitz in Köln Islamische Gemeinde Kurdistans (CIK) Zentralverband der Ezidischen Vereine e.V. (NAV-YEK) mit Sitz in Löhne Föderation der demokratischen Aleviten e.V. (FEDA) mit Sitz in Dortmund. Diese Organisationen vertreten kurdische Interessen ohne integraler Bestandteil der PKK zu sein. Gleichwohl ist deutlich erkennbar, dass auch in diesen Organisationen der PKK nahestehendes Personenpotential aktiv ist. Weitere Organisationen: Kurdische Frauenbewegung in Europa (AKKH / TJKE) Europäischer Jugend-Dachverband Bewegung der revolutionären Jugend (Tevgera Ciwanen Soresger - TCS, in Deutschland maßgeblich für Rekrutierungsaktivitäten zum bewaffneten Kampf in der Türkei, Syrien oder dem Irak verantwortlich). auslandsbezogener extremIsmus 207 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Mitglieder/Anhänger/ 2.200 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Publikationen: Serxwebun (Unabhängigkeit), monatlich Sterka Ciwan (Stern der Jugend), monatlich Newaya Jin (Erlebnisse der Frauen), monatlich Kurdistan-Report, zweimonatlich Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik), täglich Fernsehen: Sterk TV Gerila TV Internet: Zahlreiche Internetauftritte verschiedener regionaler Organisationen und Gruppierungen sowie mediale Präsenz in unterschiedlichen sozialen Netzwerken mit guten Verknüpfungen untereinander. Kurzporträt/Ziele Die PKK, die heute unter der Bezeichnung KONGRA-GEL agiert, strebte ursprünglich einen eigenen kurdischen Nationalstaat an, der die Gebiete Südostanatoliens (Türkei), den Nordirak, Teile des westlichen Iran und Gebiete im Norden Syriens umfassen sollte. Im Jahr 1993 hat das Bundesministerium des Innern ein Betätigungsverbot für die PKK und ihre Nebenorganisationen erlassen. 208 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Obwohl seitens der PKK immer wieder betont wird, man habe die früheren separatistischen Ziele aufgegeben, bemüht sie sich weiterhin um einen länderübergreifenden Verbund aller Kurden im Nahen Osten. Darüber hinaus sind die Freilassung ihres seit dem Jahr 1999 inhaftierten Führers Abdullah Öcalan und die Aufhebung des Betätigungsverbots zentrale Ziele. Finanzierung Das Generieren von Geld ist ein wesentlicher Schwerpunkt der Aktivitäten der PKK in Deutschland: Jährliche Spendensammlungen bei den Anhängern, Erlöse aus Zeitschriftenund Devotionalienverkäufen, Eintrittsgelder bei Großveranstaltungen dienen der logistischen und finanziellen Unterstützung der Organisation. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die PKK ist mit der Verbotsverfügung nach SS 18 Satz 2 Vereinsgesetz vom 22. November 1993 durch das Bundesministerium des Innern mit einem Betätigungsverbot belegt. Das Betätigungsverbot erstreckt sich sowohl auf sämtliche späteren Umbenennungen der Organisation als auch auf alle seit dem Jahr 1993 benutzten Symbole sowie auf neu hinzugekommene Kennzeichnungen der PKK. Mittels Umbenennung verfolgte die PKK das Ziel, den Eindruck einer politischen Neuausrichtung zu vermitteln und sich des Makels einer Terrororganisation zu entledigen. Die PKK ist zudem seit dem Jahr 2002 von der Europäischen Union auf der Liste von Personen, Vereinigungen und Körperschaften verzeichnet, die an Terrorhandlungen beteiligt waren und restriktiven Maßnahmen unterliegen sollen (sogenannte EUTerrorliste). In Westeuropa ist seit Ende März des Jahres 1996 ein weitgehender Verzicht auf gewalttätige Aktionen feststellbar. Insbesondere beim Aufeinandertreffen mit politischen Gegnern kommt es situativ aber auch zu gewalttätigem Verhalten von einzelnen Personen oder Kleinstgruppen. Die PKK stellt zudem aufgrund ihrer fortwährenden Bereitschaft, zu aktionsorientiertem und gewaltbereitem Verhalten zurückzukehren, nach wie vor eine Bedrohung für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Dies begründet ihre Beobachtung gemäß SS 3 Abs. 1 Nr. 1 Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalen. auslandsbezogener extremIsmus 209 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ihre Ziele verfolgt die PKK in den Kampfgebieten weiterhin mit Waffengewalt. Damit gefährdet die Organisation die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland, so dass auch aus diesem Grund eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz nach SS 3 Abs. 1 Nr. 3 Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalen erforderlich ist. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Angriffe türkischer Truppen auf kurdische Siedlungsgebiete außerhalb der Türkei Anfang Oktober führten im Bundesgebiet und auch in NRW zu einem erhöhten Demonstrationsaufkommen. Auch wenn die Stimmung angespannt und gereizt war, verliefen die Demonstrationen in diesem Zusammenhang weitestgehend störungsfrei. Reaktionen auf politische Ereignisse im Ausland mit PKK Bezug Weiterhin gilt, dass neben dem Gesundheitszustand und den Haftbedingungen Abdullah Öcalans insbesondere die Situation in den Kurdischen Siedlungsgebieten maßgeblich dafür verantwortlich ist, wie die PKK-nahen Organisationen taktieren und reagieren. Speziell die Ereignisse in Nordsyrien, im Nordirak und in der geographischen Region Kurdistan im Oktober lösten Reaktionen aus, die im Bundesgebiet und somit auch in NRW erkennbar sind. Im Frühjahr 2023 war das Hauptthema in der PKK-Community der Wahlkampf in der Türkei. Entgegen aller Erwartungen kam es trotz einer Vielzahl von Veranstaltungen, die im Zusammenhang mit den Wahlen standen, zu keinen größeren Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen türkischen politischen Lagern. Obwohl der Auftritt eines türkischen Regierungsmitglieds in einer Moschee in Neuss für viel Unruhe und Aufsehen in der PKK-nahen Szene gesorgt hat, blieben die Veranstaltungen im Umfeld der Wahlen friedlich und verliefen überwiegend störungsfrei. Ursächlich hierfür scheint auch das Ziel der zu PKK zu sein, von der EU-Terrorliste gestrichen zu werden. Klare Vorgabe der Führungsebene ist ein friedliches und kooperatives Auftreten, auch in der Zusammenarbeit mit den zuständigen Sicherheitsbehörden. Ein gutes Beispiel hierfür ist der "Lange Marsch der kurdischen Jugend", der jedes Jahr unmittelbar vor dem internationalen kurdischen Kulturfestival stattfindet. Im Jahr 2022 war dieser Marsch noch von heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekennzeichnet. Hingegen verlief der Marsch im Jahr 2023, bis auf kleine Ausnahmen, durchweg friedlich und ohne nennenswerte Störungen. Dieses Verhalten soll210 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 te mutmaßlich die Eigendarstellung der PKKnahen Gruppierungen unterstreichen, dass es sich nicht um eine terroristische Organisation, sondern vielmehr um eine politische Partei handele, die lediglich die Rechte und Interessen der kurdischen Bevölkerung vertrete. Dazu im Widerspruch stehen Aktionen der PKK in der Türkei. Am 1. Oktober 2023 kam es vor dem türkischen Innenministerium in Ankara zu einem Selbstmordanschlag, zu dem sich die PKK bekannte. Einer der beiden Angreifer sprengte sich unmittelbar an der Zufahrt zum Ministerium in die Luft. Der andere Angreifer, der ebenfalls einen Sprengsatz am Körper trug, wurde von türkischen Polizisten erschossen, noch bevor er seinen Sprengsatz zünden konnte. Noch am selben Tag wurde in der PKK-nahen Nachrichtenagentur "Firat News Agency" (ANF) ein Statement der PKK veröffentlicht, in dem sich die Organisation dazu bekannte, dass der Anschlag durch Mitglieder eines sogenannten Fedai-Teams durchgeführt zu haben (als Fedai werden Personen bezeichnet, die ihr Leben für ein ideelles Ziel zu opfern bereit sind, also Selbstmordattentäter) Als Reaktion auf den Anschlag wurden von der türkischen Luftwaffe noch in der Nacht zum 2. Oktober 2023 Angriffe gegen Stellungen und die Infrastruktur der PKK im Irak geflogen. Als Gegenreaktion auf die türkischen Luftangriffe kam es zu europaweiten Demonstrationen, die eben diese Luftangriffe thematisierten, der Anschlag in Ankara wurde hierbei jedoch nicht erwähnt. Alle Demonstrationen in diesem Zusammenhang verliefen im Wesentlichen störungsfrei, die Teilnehmerzahlen waren in einem niedrigen dreistelligen Bereich. Gerichtsentscheidungen im Berichtszeitraum mit Bezügen zur PKK Ende Mai 2023 wurde ein 71-jähriger deutscher Staatsangehöriger aus Leverkusen durch das Oberlandesgericht Stuttgart wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Es wurde festgestellt, dass der 71-Jährige seit September 2011 mit Unterbrechungen als hauptamtlicher Kader der ausländischen terroristischen Vereinigung Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) an wechselnden Orten in Deutschland tätig war. auslandsbezogener extremIsmus 211 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im April 2023 wurde vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main gegen einen 55-jährigen türkischen Staatsangehörigen aus dem Kreis Wesel wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung im Ausland der Prozess eröffnet. Der 55-Jährige wird beschuldigt, seit Mitte Juli 2019 als Kader für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) tätig gewesen zu sein. Ende der Corona-Einschränkungen Die Aktivitäten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) waren durch die Corona-Schutzmaßnahmen bis Anfang 2022 stark eingeschränkt. Neben der Möglichkeit, wieder ohne Beschränkungen Demonstrationen durchführen zu können, hatte die Organisation im Jahr 2023 auch wieder die Möglichkeit, ihre vier traditionellen großen Veranstaltungen im Jahreszyklus stattfinden zu lassen. Im Jahreskalender der PKK zählen insbesondere die folgenden vier Großveranstaltungen zu den tradierten Ereignissen und Festen: > März: Traditionelles kurdisches Neujahrsfest Newroz > Mai: Internationales Jugendfestival/Kulturfest Mazlum Dogan in dezentraler Form > Juni: Zilan Frauenfestival > September: Internationales kurdisches Kulturfestival Von diesen vier Traditionsveranstaltungen fand lediglich das Zilan Frauenfestival in NRW statt. Veranstaltungsort des Zilan-Frauenfestivals im Berichtsjahr war das Amphitheater in Gelsenkirchen unmittelbar am Rhein-Herne-Kanal. Bei den circa 10.000 überwiegend weiblichen Teilnehmerinnen ging es traditionell und vorrangig um die Rechte der Frauen und deren Interessen. Gleichwohl handelte es sich um eine Veranstaltung, die aus den PKK-nahen Strukturen der Frauenverbände organisiert und durchgeführt wurde. Neben verschiedenen kleineren Newroz-Feierlichkeiten in NRW gab es eine zentrale Großveranstaltung in Frankfurt am Main, an der 35.000 Personen teilnahmen. 212 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Auch das Internationale kurdische Kulturfestival fand im Jahr 2023 wieder in Frankfurt am Main statt. Anders als beim Newroz-Fest, konnte eine vergleichbar hohe Teilnehmerzahl nicht erreicht werden. Beim Kulturfestival waren lediglich 12.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor Ort. Im Vorfeld dieser Veranstaltung kam es wie oben bereits erwähnt zum traditionellen "Langen Marsch der kurdischen Jugend". Dieser Marsch verlief im September über eine Woche quer durch NRW und endete in Köln. Auch in diesem Jahr waren bei der Aktion der Kurdischen Jugend strukturelle Abweichungen von früheren Märschen erkennbar. Damit setzte sich ein schon bei der Veranstaltung im Jahr 2022 zu beobachtender Trend weiter fort. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer repräsentierten eine heterogene Mischung von PKK-Anhängern und Personen, die sich mit den Zielen der PKK solidarisierten. Die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die nicht dem klassischen kurdischen PKK-nahen Klientel zu zuordnen waren, war auch in diesem Jahr deutlich erkennbar, allerdings merklich kleiner als im vergangenen Jahr. Hier handelte es sich um Personen aus dem Spektrum des Linksextremismus. Insgesamt war erkennbar, dass bis zu ein Viertel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des "Langen Marsches" anderen als kurdischen Gruppierungen angehörten. Neben der heterogenen Zusammensetzung der Teilnehmer war in diesem Jahr erneut eine Veränderung des Aktionsverhaltens festzustellen. Der Marsch war friedlich und störungsfrei. Auf Auseinandersetzungen mit der Polizei wurde verzichtet, Provokationen von außen wurden weitestgehend ignoriert und nicht mit Gegenreaktionen bedacht. Reaktionen auf Gerüchte über die Gesundheit oder den Tod Abdullah Öcalans Nach wie vor ist Abdullah Öcalan die zentrale ideologieprägende Person für die Anhänger der PKK. Gerüchte über die Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder sogar über den Tod Abdullah Öcalans tauchen immer wieder in der kurdischen Community auf. Im Ergebnis führt dies dann bundesweit und auch in NRW dazu, dass die Anhänger der PKK verstärkt auf die Straße gehen, um in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit für das Schicksal von Abdullah Öcalan zu erlangen. Weitestgehend verliefen die Demonstrationen, die durch derartige Gerüchte ausgelöst waren, störungsfrei und ohne nennenswerte Zwischenfälle. Gleichwohl belegen die Demonstrationen, dass allein schon Spekulationen über eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder den Tod Öcalans sehr kurzfristig die PKKAnhängerschaft mobilisieren können. Die Sorge um den Gesundheitszustand auslandsbezogener extremIsmus 213 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 und die Haftbedingungen Öcalans löst eine hohe Emotionalisierung aus und zeigt zugleich das Potenzial der Organisation, ihre Anhänger in Aktionen zu steuern. Verschärfung des Kennzeichnungsverbotes Auch im Jahr 2023 war das durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) verschärfte Verbot des Zeigens von Symbolen aus dem Bereich der PKK und deren nahestehenden Organisationen ein andauerndes Thema. Das BMI konkretisierte zunächst im März 2017 und erneut im Januar 2018 das PKKKennzeichnungsverbot. Grundlage dieser Konkretisierung ist das bereits seit dem Jahr 1993 geltende Betätigungsverbot. Inhaltlich umfasst das Betätigungsverbot auch das öffentliche Zeigen von Symbolen der PKK sowie ihrer Unterund Teilorganisationen. Inzwischen gibt es auch in NRW verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die den Anwendungsbereich des BMI-Erlasses in Bezug auf einige Symbole weiter verdeutlichen. Gestiegene Bedeutung digitaler Medien Die PKK nutzt einen aufwändigen Medienapparat, in dem digitale Medien (Facebook, X, Instagram, Facebook-Messenger, WhatsApp) weiter an Bedeutung gewinnen. Sie dienen der Kommunikation und weltweiten Verbreitung von Nachrichten und Informationen. Daneben erhöhen sie die kurzfristige Mobilisierungsfähigkeit der PKK-nahen Gruppierungen, indem sie zur Rekrutierung Jugendlicher für den bewaffneten Kampf, für kurzfristige und flächendeckende Veranstaltungsaufrufe sowie für die Verbreitung von Stimmungsbildern instrumentalisiert werden. Auffällig im Berichtszeitraum war auch hier die Aneignung dieser Inhalte durch die linksextremistische Szene. Viele Veranstaltungen, die im Ursprung einen PKK-Bezug hatten, wurden durch Accounts der linksextremistischen Szene oder dieser Szene nahestehende Gruppierungen geteilt und verbreitet. Ebenfalls auffällig war, dass die in den sozialen Netzwerken benutzten Aufrufe oftmals identisch waren. Es scheint, dass Aufrufe kreiert werden, die dann von allen angeschlossenen Gruppierungen genutzt wird. Das garantiert der Organisation nicht nur inhaltlich gleiche Aufrufe, sondern dokumentiert zugleich die Geschlossenheit der einzelnen beteiligten Gruppierungen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Hinblick auf das künftige Aktionsverhalten muss weiterhin aufmerksam beobachtet werden, welche Wechselwirkungen zwischen PKK-Anhängern und nationalistischen/ rechtsextremistischen Türken innerhalb Deutschlands durch politische Ereignisse er214 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 zeugt werden. Das Aktionsverhalten der PKK-Anhänger in Nordrhein-Westfalen wird weiterhin im Wesentlichen von den Entwicklungen in den Krisengebieten Syrien und Nordirak abhängen. Die fortdauernden Angriffe der türkischen Truppen auf kurdische Siedlungsgebiete außerhalb der Türkei entfalten ihre Auswirkungen in der kurdischen Gemeinschaft bis in die Städte Nordrhein-Westfalens. Die jüngsten Militäroffensiven in den kurdischen Siedlungsgebieten im Nordirak intensivieren den historisch gewachsenen und andauernden Konflikt und sind in der Gesamtschau dazu geeignet, die Sicherheitslage in Deutschland nachhaltig zu beeinflussen. Nicht zuletzt ist die Frage um den gesundheitlichen Zustand Abdullah Öcalans und dessen Haftbedingungen ebenfalls ein wiederkehrendes Thema innerhalb der kurdischen Gemeinschaft. Der Selbstmordanschlag am 1. Oktober 2023 in Ankara zeigt deutlich die von der PKK ausgehende Gewaltbereitschaft und deren Möglichkeit, Anschläge und Attentate auszuführen. Auch wenn die Aktionen in Europa und auch im Bundesgebiet eher friedlich Absperrung vor dem Innenministerium in Ankara, Türkei oder zumindest nur am unteren Ende der strafrechtlich relevanten Skala liegen, begründen eben solche Anschläge wie in Ankara den Verbleib der PKK auf der EU-Terrorliste und deren Beobachtung durch deutsche Sicherheitsbehörden. Es muss damit gerechnet werden, dass die PKK wieder auf medienwirksame Aktionsformen wie zum Beispiel die Besetzung oder Blockade von Fernsehanstalten, Flughäfen, Parteibüros oder Schiffen zurückgreift. Auch die anlassbezogene, direkte gewaltsame Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner ist in Betracht zu ziehen. Bei ihren Handlungsformen wird sich die PKK-Führung hier aber aller Voraussicht nach weiterhin davon leiten lassen, Deutschland als Rückzugsraum nicht zu gefährden. Auch politische Einflussnahme beziehungsweise Lobbyarbeit ist ein Aktionsschwerpunkt der PKK in Deutschland mit dem Ziel, die Einstufung als Terrororganisation zu beenden. auslandsbezogener extremIsmus 215 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Samidoun - Palestinian Solidarity Network Sitz/Verbreitung Verbreitung: weltweit, mit Schwerpunkten in Nordamerika und Europa, insbesondere Berlin Gründung/Bestehen seit 2011 gegründet, in Deutschland seit dem 2. November 2023 verboten und aufgelöst Struktur/ Repräsentanz Internationales Netzwerk mit sogenannten "Chaptern" in einzelnen Ländern mit gebietsverantwortlichen Funktionären. Ein Gründungsmitglied und Führungsfunktionär hielt sich von 2015 bis 2019 in Deutschland auf. Strukturen in Deutschland: Samidoun Deutschland mit eigenem "Deutschland-Koordinator", die Jugendorganisation HIRAK - Palestinian Youth Mobilization Jugendbewegung (Germany) und Hirak e.V. Mitglieder/Anhänger/ bundesweit circa 50, NRW: circa 5 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Eigener Internetauftritt und Nutzung von sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Samidoun wurde im Jahr 2011 durch im Ausland lebende Mitglieder der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) gegründet. Die PFLP ist seit 2002 von der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet. Israel hat Samidoun im Jahr 2021 als Auslandsnetzwerk der PFLP ebenfalls als Terrororganisation eingestuft. Samidoun verfolgt nach eigenen Angaben das Ziel der Unterstützung von "palästinensischen Gefangenen". 216 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Tatsächlich besteht der Zweck von Samidoun daneben in der grundsätzlichen und globalen Unterstützung eines sogenannten "Widerstandsoder Befreiungskampfes" gegen eine vermeintliche "Besatzung" durch den Staat Israel. Samidoun fordert die Errichtung eines palästinensischen Staates vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer, welcher das ganze Staatsgebiet Israels umfasst (Parole: "From the river to the sea, Palestine will be free"). Dadurch wird das Existenzrecht des Staates Israel negiert. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Der Zweck und die Tätigkeit des Vereins Samidoun - Palestinian Solidarity Network einschließlich seiner Teilorganisationen verstoßen gegen den Gedanken der Völkerverständigung und richten sich gegen das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern und von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet, die öffentliche Ordnung sowie sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Die Vereinigung befürwortet Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung politischer Belange. Sie ruft diese durch eigene Agitation hervor. Samidoun unterstützt Vereinigungen wie unter anderem die Terrororganisation Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), die Anschläge gegen Personen oder Sachen veranlassen, befürworten und androhen. Meist erfolgt die Unterstützung t propagandistisch, aber auch durch die Beschaffung von Mitteln und die Rekrutierung neuer Anhänger. Von dem Betätigungsund Vereinsverbot sind neben Kennzeichen und Symbolen des Netzwerks auch die bisherige Website sowie zahlreiche mit dem Verein assoziierte Präsenzen und Konten auf verschiedenen sozialen Netzwerken erfasst. Rechtliche Grundlage für die Beobachtung von Samidoun in Nordrhein-Westfalen ist SS 3 Abs. 1 Nr. 4 VSG NRW. Samidoun selbst wurde einschließlich seiner Teilorganisationen mit Verfügung vom 2. November 2023 durch das zuständige Bundesministerium des Inneren und für Heimat verboten und aufgelöst. Gegen die Verbotsverfügung hat Samidoun Klage vor dem BVerwG erhoben. auslandsbezogener extremIsmus 217 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Berichtszeitraum sind diverse Aktivitäten von Samidoun in Nordrhein-Westfalen bekannt geworden, darunter die Anmeldung, Teilnahme oder Bewerbung von Versammlungen. So gab es auch bereits im Frühjahr des Jahres 2023 Kundgebungen und Demonstrationen, für die auch Samidoun mobilisiert und diese in Kooperation mit anderen Organisationen oder Vereinen zum Teil durchgeführt hat. Öffentlichkeitswirksames Auftreten von Samidoun wird insbesondere durch das Präsentieren der eigenen Flagge und Symbole ergänzt, so beispielsweise beim "Tag der palästinensischen Gefangenen" am 15. April 2023 in Köln. Neben dem realtweltlichen Auftreten agierte Samidoun vermehrt über soziale Medien und warb dort für diverse Veranstaltungen in ganz Nordrhein-Westfalen. Ferner stand in Deutschland eine Solidaritätskampagne für den in Berlin ansässigen DeutschlandKoordinator von Samidoun im Vordergrund, welchem aufgrund seiner Aktivität für die Vereinigung nach eigener Angabe eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme Einladung zur Demonstration drohen sollte. An dieser Solidaritätskampagne bezum Tag der palästinensischen teiligten sich auch andere propalästinensische Akteure Gefangenen am 15. April 2023 in Köln auf der Samidoun-Website - Einzelpersonen sowie Gruppierungen - aus Nordrhein-Westfalen. Als Reaktion auf die terroristischen Angriffe der HAMAS vom 7. Oktober 2023 trat Samidoun am 9. Oktober 2023 mit dem Deutschland-Koordinator bei einer Versammlung in Duisburg-Hochfeld auf. Dabei bezeichnete dieser sich und die Teilnehmer der Versammlung als Nachfolger von Izz ad-Din al-Qassam, dem Namensgeber der alQassam-Brigaden, dem paramilitärischen Arm der HAMAS. Bei von Samidoun unterstützten pro-palästinensischen Demonstrationen ist es nach den Terroranschlägen auf den Staat Israel zu antisemitischen, israelfeindlichen Sprechchören und Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen. Samidoun lud darüber hinaus regelmäßig zu Diskussionsrunden ein, die online oder in Präsenz durchgeführt wurden. 218 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Nach dem Verbot von Samidoun nahm das öffentlichkeitswirksame Auftreten stark ab, was auch durch die erfolgte Sperrung der Konten in den sozialen Medien bedingt ist. Bei Versammlungen sind die Fahnen und Symbole von Samidoun nicht mehr aufgefallen. Anfang Dezember 2023 wurde das Auftreten des nunmehr ehemaligen Deutschland-Koordinators bei einer Diskussionsveranstaltung in Duisburg-Marxloh bekannt. Die Einstellung der Tätigkeiten in Gänze ist jedoch nicht zu erwarten. Vielmehr kann mit einer überwiegend konspirativen Fortführung von Aktivitäten durch Samidoun gerechnet werden. Pro-Palästina-Demonstration in Köln am 15. April 2023 auslandsbezogener extremIsmus 219 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 220 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Islamismus IslamIsmus 221 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zusammenfassung Reaktionen des islamistischen Spektrums in Nordrhein-Westfalen auf die aktuelle Lage in Nahost Trotz der Unterschiede innerhalb der islamistischen Szenen zeigt sich eine aggressive Ablehnung des Staates Israel ebenso wie ein in unterschiedlicher Stärke ausgeprägter Antisemitismus. Gemessen daran fallen die Reaktionen aus dem islamistischen Spektrum auf die Terroranschläge gegen den Staat Israel am 7. Oktober 2023 in Nordrhein-Westfalen bisher zurückhaltend aus. Zwar löst die aktuelle Lage in Nahost auf der individuellen Ebene eine teils hohe Emotionalisierung aus, im Rahmen derer zur Solidarität mit Palästina aufgerufen und die Angriffe der HAMAS relativiert werden. Dabei sind jedoch wenige offene Sympathiebekundungen für die HAMAS erkennbar. Emotionalisierende Ereignisse als Motor jihadistischer Mobilisierung Die jihadistische Ideologie ist nach wie vor ein Nährboden für terroristische Gewalt. Es besteht weiterhin eine hohe abstrakte Gefahr für terroristische Anschläge von islamistisch motivierten Extremisten in Deutschland. Trotz unterschiedlicher Bewertungen der HAMAS im jihadistischen Spektrum wird jede Gewalt gegen Israel und Juden gutgeheißen. Es besteht aktuell die Gefahr, dass das Konfliktgeschehen in Nahost Einzelpersonen radikalisiert und zu Übersprunghandlungen in Form von jihadistisch motivierten Anschlagsplanungen beziehungsweise -handlungen führen kann. Zwar ist der sogenannte Islamische Staat (IS) weiterhin weltweit aktiv, allerdings verfügt die Gruppierung über kein größeres quasi-staatliches Gebiet, das für Ausreisewillige attraktiv wäre. Dies gilt sowohl für den Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISPK) als auch den Islamischen Staat in der Provinz Westafrika (ISWAP). Der überwiegende Fokus jihadistischer Gruppierungen liegt damit momentan weiterhin darauf, Einzeltäter und (Kleinst-)Gruppen zu Anschlägen mit leicht zu beschaffenden Tatmitteln wie Messern oder Kraftfahrzeugen anzustiften. 222 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zunehmend leichter Zugang zum extremistischen Salafismus Der extremistische Salafismus ist weiterhin eine attraktive Ideologie für Jugendliche und junge Erwachsene, teils aus schwierigen persönlichen Verhältnissen. Extremistische Inhalte sind online leicht und rund um die Uhr verfügbar und können von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch in einen nicht konsequent religiös ausgerichteten Alltag integriert werden. Ein überwiegend sehr junges Publikum wird dadurch angesprochen, dass extremistische Salafisten sich im Auftreten an populären "Influencern" orientieren: Anstelle anspruchsvoller theologischer Diskurse treten schlichte lebensnahe Themen mit salafistischen Positionen, die in einfacher Sprache, teilweise in Mundart, kommuniziert und durch ein betont lockeres Auftreten, das häufig von Vorbildern aus Gangster-Rap, Kampfsport und kriminellem Milieu beeinflusst ist, vermittelt werden. Mobilisierung durch "identitäre Islamisten" Eine wachsende gesellschaftliche Herausforderung stellen "identitäre Islamisten" dar, wie sie insbesondere im Umfeld der verbotenen Hizb ut-Tahrir (HuT) festzustellen sind. Sie verstehen es geschickt, kontrovers geführte gesellschaftliche Debatten aufzugreifen und sich als vermeintliche Vertreter muslimischer Interessen zu gerieren. Dieser Teil des extremistischen Spektrums fällt vorwiegend durch seine massive Präsenz im Internet auf, während realweltliche Aktivitäten nur sporadisch an die Öffentlichkeit gelangen. Die Demonstration in Essen am 3. November 2023 hat verdeutlicht, dass die langjährige Internetpropaganda auf diversen Kanälen ihre Wirkung entfalten konnte und die HuT mittlerweile dazu in der Lage ist, auch in Nordrhein-Westfalen eine größere Zahl an Unterstützern zu mobilisieren. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y IslamIsmus 223 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Fokus: Salafismus als Lifestyle Die extremistisch-salafistische Szene hat sich im Laufe der Zeit gewandelt und stellt immer weniger das theologische Wissen und dessen Aneignung in den Vordergrund. Diese Entwicklung ist bereits seit einigen Jahren zu beobachten und wird durch das Auftreten von neuen Predigern noch weiter verstärkt. Ebenso wie theologische Kenntnisse für einen Einstieg in die Szene zurücktreten, wird auch die konsequente Befolgung eines frommen islamischen Lebenswandels nicht als erforderliche Voraussetzung erachtet. Häufig hat extremistischer Salafismus, oder haben Versatzstücke und bestimmte Symbole desselben - wie der sogenannte "Tauhid-Finger" für Jugendliche und junge Erwachsene den Stellenwert eines Lifestyles, der für eine Rebellion steht. Eine Rebellion sowohl gegen die säkulare, deutsche Gesellschaft, von der man sich - in Teilen - nicht anerkannt fühlt, als auch gegen die alten etablierten Vertreter des traditionellen Islam, wie ihn die muslimischen Migranten der 1960erbis 1990er-Jahre in Deutschland geprägt haben. Gegen das Etablierte zu rebellieren ist ein Privileg der Jugend. Hier besteht jedoch die konkrete Gefahr, dass junge Menschen über einen als angesagt geltenden Lifestyle nicht nur Stück für Stück in eine fundamentalistische Ausrichtung des Islam, sondern in eine extremistische, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Ideologie, hineingezogen werden. In eine islamistische Ideologie, die ihnen jede Gesellschaft und jeden Staat, der nicht dieser Ideologie entspricht, als Feindbild darstellt. In letzter Konsequenz kann so die Grundlage für eine weitere, jihadistische Radikalisierung gelegt werden, die nicht nur eine gesellschaftliche, sondern eine terroristische Gefahr für die Menschen in Deutschland und Nordrhein-Westfalen darstellt. Wandel im Auftreten und Werben extremistischer Prediger Die Vorstellung, dass traditionell gekleidete Gelehrte mit langen Bärten vor einer ähnlich aussehenden Zuhörerschaft stehen und monologisieren, ist in Zeiten sozialer Medien und Gewohnheitsänderungen der jungen Generation nur noch bedingt zutreffend. Das Auftreten und Werben extremistischer Prediger, die sich bemühen, ein junges Publikum, darunter auch Kinder, zu gewinnen, hat sich über eine längere Zeitspanne gewandelt. Reichweitenstarke Akteure des extremistisch-salafistischen Spektrums füh224 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 ren keine anspruchsvollen, hochideologisierten Diskurse, pflegen keinen ausschließlich frommen Lebenswandel und treten häufig nicht in traditionellem Erscheinungsbild auf. Einige populäre extremistische Salafisten inszenieren sich als Influencer in den sozialen Medien. Sie nutzen eine einfache Sprache, kokettieren mit einem Gangster-Image, das in Sprache und Erscheinungsbild der Gangster-Rap-Kultur ähnelt. Extremistische Salafisten prahlen mit Kampfsporterfahrung sowie Kontakten zur organisierten Kriminalität beziehungsweise ins Clan-Milieu und pflegen einen konsumorientierten, materialistischen Lebenswandel, den sie in sozialen Medien demonstrativ zur Schau stellen. Salafistische Akteure versuchen auf Instagram durch ihr Auftreten und ihre Kleidung gezielt Jugendliche anzusprechen. Insbesondere jüngere Menschen sind in Teilen von den propagierten Rollenbildern fasziniert und können hierüber Zugang zum extremistischen Salafismus finden. Dieser stellt immer weniger Ansprüche, wird immer stärker vereinfacht und wurde damit einem breiteren Publikum zugänglich. Diese Entwicklung hat schon mit dem Prediger Pierre Vogel begonnen, wurde durch Jihad-Propaganda des sogenannten Islamischen Staates weitergeführt und setzt sich über Prediger wie Dehran Asanov und Ibrahim El Azzazi fort. Zielgerichtete Nutzung sozialer Medien Extremistische Prediger setzen auf soziale Medien und nutzen beispielsweise LiveVideoschalten mit Influencern, um ihre Reichweite zu steigern. Wenn Gespräche in verbale Auseinandersetzungen münden, dann profitieren beide Seiten durch steigenIslamIsmus 225 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 de Follower-Zahlen. Auf diese Weise gelingt es spielerisch, bei Menschen ohne Bezüge zum extremistischen Salafismus Aufmerksamkeit zu generieren und diese für extremistisch-salafistische Inhalte zu gewinnen. Einige extremistisch-salafistische Aktivisten lassen sich bei der Ausübung sportlicher Aktivitäten wie Hallenfußball filmen und streamen ihren Auftritt in sozialen Netzwerken. Religion und beliebte Freizeitaktivitäten schließen sich nicht aus und der Zugang zur Szene sei spielerisch leicht, so die Botschaft. Bezüge zur Organisierten Kriminalität und Clan-Strukturen Bezüge zur Organisierten Kriminalität beziehungsweise zu Clan-Strukturen werden durch einige extremistisch-salafistische Aktivisten in sozialen Netzwerken offen und positiv zur Schau gestellt. Dies gilt heute insbesondere für Prediger wie beispielsweise Dehran Asanov und Ibrahim El Azzazi, die - neben anderen - Kontakt zu einschlägigen Szenegrößen pflegen. Einige Akteure üben selbst eine Kampfsportdisziplin aus und verfügen über gute Kontakte in die Kampfsportszene. Die Vernetzung extremistisch-salafistischer Akteure mit Personen aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität stellt eine Entwicklung dar, welche die SicherSzene aus einem YouTube-Video, die Ibrahim El-Azzazi beim Kampfsport zeigt. 226 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 heitsbehörden im Blick behalten. Denn hieraus könnten sich neue Dynamiken und Radikalisierungsmomente ergeben. Extremistische Prediger vermitteln religiös legitimierte, patriarchalisch-chauvinistische Wertvorstellungen, mit denen sich auch Personen aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität mit muslimischem Migrationshintergrund, unter anderem auch aus dem Clanund Rocker-Milieu, in vielen Fällen identifizieren können. Umgekehrt scheint das martialische Auftreten von Szenegrößen aus dem Bereich der organisierten Kriminalität eine Faszination auf einige extremistische Salafisten auszuüben, die sich diesem in Sprache und Erscheinungsbild annähern. Extremistische Salafisten nutzen die Bezüge in die Organisierte Kriminalität gezielt, um Propagandainhalte zu verbreiten und neue Anhänger und Follower in den sozialen Medien zu gewinnen, indem sie Glaubwürdigkeit "auf der Straße" erlangen. Szenegrößen der Organisierten Kriminalität scheinen durch den Kontakt zum extremistischen Salafismus eine religiös unterlegte Legitimation zu suchen. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die noch keine Bezüge zum extremistischen Salafismus aufweisen, besteht die Gefahr, dass sie sich islamistischen Denkweisen und Einstellungen annähern, wenn diese von populären extremistisch-salafistischen Akteuren in sozialen Netzwerken offen propagiert oder subtil verbreitet werden. Dehran Asanov Dehran Asanov, der im Jahr 2023 zahlreiche Vortragsveranstaltungen vor großem Publikum durchführte, nutzt eine einfache Sprache. Seine Glaubwürdigkeit speist sich aus der Behauptung, selbst Teil "der Straße" gewesen zu sein und zeitweise "den falschen Weg" beschritten zu haben. Asanov geriert sich bewusst nicht als Gelehrter mit dem Anspruch, komplexe religiöse Fragestellungen beantworten zu wollen. Vielmehr wirbt er in einer leicht zugänglichen Weise für ein extremistisch-salafistisches Islamverständnis, wobei er insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene anspricht. Neben der Durchführung von Präsenzveranstaltungen veröffentlicht Asanov zahlreiche Videobeiträge. Er ist mit offiziellen Accounts auf einer Vielzahl von Plattformen wie TikTok, YouTube, Instagram oder Spotify aktiv. Im Gegensatz zu seinen Vortragsveranstaltungen kleidet sich Asanov bei Internetauftritten oft nicht traditionell, sondern trägt Sportshirts, zum Beispiel Basketballtrikots, IslamIsmus 227 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 und stellt auf diese Weise eine Nähe zu dem vielfach jungen Publikum her. Bei Fragen zu komplexeren religiösen Themengebieten verweist er in der Regel auf Gelehrte aus dem extremistisch-salafistischen Spektrum. Trotz der zur Schau gestellten Lockerheit propagiert Asanov extremistisch-salafistische Inhalte. Zumeist handelt es sich um chauvinistisch-patriarchalische Werte und Moralvorstellungen, die mit extremistisch-salafistischen Begründungsmustern unterlegt werden. Seine eingängige, schlichte Wortwahl, die lebensnahen Inhalte ohne komplexe theologische Fragen und ein betont lockeres Erscheinungsbild ermöglichen Asanov einen Zugang zu einem breiten, insgesamt jungen Publikum, das sich mit ihm identifizieren kann. Der Prediger propagiert ein Rollenverständnis, das mit dem Gleichheitsgrundsatz unvereinbar ist. Demzufolge sind Frauen Männern nicht gleichgestellt, sondern ihnen untergeordnet, dürfen ihnen nicht widersprechen und haben sich vollständig zu bedecken. Die Aufgabe der Frauen beschränkt sich seiner Vorstellung nach auf die häusliche Fürsorge für die Familie. Asanov degradiert die Frau unweigerlich zur Verfügungsmasse des Mannes. Ibrahim El Azzazi Auch Ibrahim El Azzazi, der sich im Gegensatz zu Asanov allerdings durchaus als Gelehrter inszeniert, verwendet ähnliche Formate und eine einfache Sprache, die insbesondere ein jüngeres Publikum anspricht. El Azzazi ist in den sozialen Medien ebenfalls stark präsent. Ein von ihm genutzter, mittlerweile gesperrter, TikTok-Auftritt, wies hohe Followerund Klickzahlen auf. El Azzazi nutzte dieses Medium, um überspitzte, manchmal satirisch anmutende Fragen im Kurzvideoformat im Stil eines islamischen Rechtsgutachtens (Fatwa) zu beantworten. Auf diese Weise wird auch religiös wenig bis gar nicht interessierten Menschen ein Zugang zu den propagierten Themen ermöglicht. Um seinen Bekanntheitsgrad zu steigern, nutzt El Azzazi Interviews und wirkt an Reportagen mit, die in sozialen Netzwerken verbreitet werden. Zu diesem Zweck sucht er die Nähe von Influencern, die bereits über eine größere Reichweite verfügen. Um seine Reichweite zu erhöhen, kalkuliert El Azzazi negative Kommentare ein und zeigt sich auch mit Personen, die ihn öffentlich deutlich kritisieren. 228 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Er wendet sich bei öffentlichen Auftritten gegen den deutschen Staat und fordert eine Abgrenzung von Muslimen gegenüber den "Kuffar" (Ungläubigen), also der deutschen Gesellschaft einschließlich der Muslime, die in diese integriert sind. Auf die Frage, ob ein Muslim als Polizist arbeiten dürfe, erklärt er beispielsweise, dass es aus islamischer Sicht nicht erlaubt sei, für einen Staat, der nicht die Interessen des Islam vertritt, tätig zu werden. Symbole oder Namen von "Kuffar", zum Beispiel auf Fußballtrikots, dürften Muslime nicht tragen, da Ungläubige nicht nachzuahmen seien. In einem Staat, in dem die Scharia eingeführt sei, müsse einem Dieb, wenn das Diebesgut einen bestimmten Wert übersteigt, die Hand abgehackt werden. Bewertung Die Positionen, Werte und Feindbilder, die von Predigern wie Asanov und El Azzazi eingenommen werden, sind nicht nur religiös fundamentalistisch, sondern beinhalten einen klaren politischen Herrschaftsanspruch und richten sich direkt gegen Staat und Gesellschaft, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und den säkularen Rechtstaat. Sie legen das Fundament für eine islamistische und jihadistische Radikalisierung und Rekrutierung durch Terrororganisationen wie al-Qaida oder den sogenannten Islamischen Staat. IslamIsmus 229 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Extremistischer Salafismus Sitz/Verbreitung Alle Regionen Nordrhein-Westfalens, Schwerpunkte sind das Ruhrgebiet, das Rheinland und Ostwestfalen-Lippe Gründung/Bestehen seit Ursprung extremistisch-salafistischer Bestrebungen: Historische islamisch-sunnitische Strömungen vor allem Saudi-Arabiens und Ägyptens. Die ideologischen Grundlagen basieren in großen Teilen auf dem sogenannten Wahhabismus. Ursprung jihadistischer Bestrebungen: Mujahidin-Bewegung der 1980er-Jahre in Afghanistan In Nordrhein-Westfalen: Ab etwa 2003 erste gezielte deutschsprachige Aktivitäten Struktur/ Repräsentanz Extremistisch-salafistisch ausgerichtete Moscheevereine hat der NRW-Verfassungsschutz fest im Blick. Beim Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen werden Verbotsverfahren gegen diese angestrengt. Die Szene jedoch reicht über die bekannten Moscheevereine hinaus und Aktivitäten manifestieren sich insbesondere im Internet. Extremistische Salafisten sind vielfach überregional vernetzt. So haben Strukturen aus diesem Bereich in Aachen und Düren in der Vergangenheit Verbindungen in das salafistische Spektrum Belgiens und den Niederlanden erkennen lassen. In lokalen beziehungsweise bestimmten extremistisch-salafistischen Strukturen dominieren zahlenmäßig häufig Personen mit einem bestimmten Migrationshintergrund - beispielsweise aus Tschetschenien oder Tadschikistan. 230 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Mit dem Ende der Corona-Pandemie ab 2022 sind extremistische Missionierungsaktivitäten (Da'wa-Aktivitäten) im öffentlichen Raum wieder verstärkt feststellbar. Regelmäßig wurden Informationsstände aufgebaut, über die salafistisch-extremistische Bücher und Flyer verteilt wurden. In diesem Rahmen durchgeführte Konversionen wurden zusätzlich über die sozialen Medien propagandistisch verbreitet. Mitglieder/Anhänger/ Bekannte extremistische Salafisten in NRW: 2.700\ Unterstützer 2023 politisch: 2.100\ gewaltorientiert: 600 Veröffentlichungen Die Verbreitung der Ideologie erfolgt über Web-Angebote und soziale Netzwerke. Seit dem Ende der Corona-Pandemie werden auch wieder verstärkt Vortragsveranstaltungen durchgeführt. Populäre Prediger mit großer Reichweite sind deutschlandweit aktiv und füllen Moscheen und Eventhallen. Kurzporträt/Ziele Der extremistische Salafismus teilt sich ideologisch in eine politische und eine gewaltorientierte/jihadistische Strömung auf. Salafisten vertreten eine anti-demokratische und damit verfassungsfeindliche Ideologie. Diese basiert auf religiösen Versatzstücken, die der islamischen Religion entlehnt sind. Salafisten streben die Errichtung eines vermeintlich "authentisch-islamischen" Staatssystems an. Politische Salafisten versuchen diese Ziele durch Missionierungsarbeit und den Aufbau von gesellschaftlichen Strukturen zu erreichen, die die Bildung einer Parallelgesellschaft fördern. Gewaltorientierte Salafisten, die auch als Jihadisten bezeichnet werden, stellen den Jihad im Sinne eines bewaffneten militärischen Kampfes in den Mittelpunkt ihrer IslamIsmus 231 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ideologie. Sie wollen ihre Vision eines islamischen Staatswesens mit Waffengewalt umsetzen. Der Übergang zwischen politischen und gewaltorientierten Salafisten ist fließend. Finanzierung Spenden aus dem Inund Ausland, wirtschaftliche Betätigung durch den Verkauf von szenetypischen Produkten, Kriminalität Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Anhänger der extremistischen salafistischen Szene verstehen die islamische Religion als Ideologie und die Scharia als gottgegebenes Ordnungsund Herrschaftssystem. Die Demokratie wird als "falsche Religion" und die Teilnahme an Wahlen als "Götzendienst" angesehen. Extremistische Salafisten folgen damit dem Prinzip der "göttlichen Souveränität". Die Gesetzgebung kann demnach nur von Gott ausgehen und niemals von einem von Menschen gewählten Gesetzgeber gemacht werden. Der extremistische Salafismus widerspricht aus diesem Grund dem Prinzip der "Volkssouveränität" und dadurch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die ablehnende und offen feindselige Haltung gegenüber der Gesellschaft und die teilweise hohe Gewaltaffinität führen zu einem großen Konfliktpotenzial, das das friedliche Zusammenleben gefährdet. Von gewaltorientierten Salafisten geht eine tatsächliche Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland aus, denn sie sind bereit, schwerste Gewalttaten und Anschläge zu verüben und schrecken auch vor vielfachem Mord nicht zurück. Extremistisch-salafistische Bestrebungen unterliegen deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Der extremistische Salafismus übt auf Jugendliche und junge Erwachsene eine hohe Anziehungskraft aus. Gerade extremistische Missionierungsaktivitäten (Da'waAktivitäten) verzeichnen weiter einen starken Zulauf. So gibt es wieder vermehrt Informationsstände, über die extremistisch-salafistische Ideologie verbreitet wird, 232 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Street-Da'wa, Plakataktionen, die Verteilung von Flugblättern mit religiös-moralisierenden Inhalten sowie Pilgerreisen, die von extremistischen Predigern durchgeführt werden. Aktuell wirbt der Prediger Pierre Vogel verstärkt für das Projekt "Was danach?". Im Rahmen dieses Projekts soll eine möglichst große Zahl an Flugblättern mit religiös-moralisierenden Inhalten in Deutschland, Österreich und der Schweiz verteilt werden. Während bei Muslimen eine "Stärkung des Glaubens" und Hinwendung zum salafistischen Islamverständnis erreicht werden soll, sollen Nichtmuslime zur Konversion bewegt werden. Pierre Vogel selbst vergleicht das Projekt mit der verbotenen Koranverteilkampagne LIES!/DWR (Die Wahre Religion). Neben diesen Aktivitäten finden seit dem Ende der Corona-Pandemie wieder vermehrt VorAktivitäten des Da'wa-Projekts "Was danach" in tragsveranstaltungen statt. Populäre Prediger NRW auf Instagram mit großer Reichweite sind deutschlandweit aktiv und füllen Moscheen und Eventhallen. So erreicht beispielsweise der extremistische Prediger Ibrahim El-Azzazi, der seine Aktivitäten zunehmend in Nordrhein-Westfalen entfaltet, über seine Auftritte regelmäßig ein breites Publikum. Häufig tritt er in der Deutschsprachigen Muslimischen Gemeinschaft (DMG) Braunschweig auf. In Nordrhein-Westfalen war er unter anderem als Prediger in Düsseldorf, Hagen, Essen oder Dortmund aktiv. Beachtenswert ist der nach der pandemiebedingten Auszeit erneute Anstieg von Pilgerreisen, die unter anderem auch von den vorangehend genannten reichweitenstarken extremistischen Predigern angeboten und öffentlich beworben werden. Diese begleiten die bis zu 60 Personen umfassenden Gruppen als Reiseführer nach SaudiArabien. Pilgerreisen dieser Art dienen der Generierung von Einnahmen, der Vernetzung innerhalb der Szene und der Verbreitung extremistisch-salafistischen Gedankenguts. IslamIsmus 233 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Pierre Vogel kündigt auf seinem Instagram-Profil eine Pilgerreise mit salafistischen Akteuren an Diese Entwicklungen im extremistisch-salafistischen Spektrum bereiten den Boden für Radikalisierungsprozesse und bieten Rekrutierungspotential für deutlich radikalere jihadistische Gruppen. Rolle sozialer Medien innerhalb der extremistisch-salafistischen Szene Seit der Corona-Pandemie fokussieren sich extremistische Salafisten verstärkt auf Online-Propaganda. Extremistische Prediger betreiben offizielle Accounts etwa auf Facebook, Instagram, TikTok oder YouTube. Auf den Plattformen werden Botschaften, Ermahnungen, Vorträge und Antworten auf Fragen im Stil islamischer Rechtsgutachten, sogenannter Fatwas, veröffentlicht. Insbesondere über TikTok, das überwiegend junge Menschen nutzen, erzielen die extremistischen Prediger eine hohe Reichweite. Videobeiträge populärer extremistisch-salafistischer Prediger lassen sich neben diesen offiziellen Accounts auch auf diversen weiteren Plattformen und Accounts finden, wo diese unregelmäßig veröffentlicht werden. 234 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Auf diese Weise werden neue Anhänger für die Szene gewonnen und zugleich die Fremdund Selbstradikalisierung gefördert. Dadurch radikalisieren sich weiterhin Einzelpersonen und Personengruppen auch in Richtung des jihadistischen Spektrums. Die abstrakte Gefahr von Anschlägen ist weiter hoch. Gefangenenhilfe Vor allem im Zusammenhang mit Rückkehrern aus ehemaligen Gebieten des sogenannten Islamischen Staates (IS) und im Zuge zahlreicher Verbotsmaßnahmen hat die Gefangenenhilfe in den vergangenen Jahren entscheidend an Bedeutung gewonnen. Diese umfasst neben Besuchen von Gerichtsprozessen und der Vermittlung von Anwälten Aktivitäten in den sozialen Medien, etwa Solidaritätsaufrufe und Spendensammlungen für inhaftierte Szeneangehörige in Nordrhein-Westfalen, Deutschland und im Ausland. Im Bereich der Unterstützung vor allem weiblicher Jihadistinnen in den nord-syrischen Lagern Roj und al-Hol findet eine Solidarisierung mit internationalen Aktivisten in den sozialen Medien statt. Eine besondere Relevanz kommt ehemals ausgereisten Personen zu, die bereits zurückgekehrt sind oder zukünftig aus den Lagern im Irak oder in Nord-Syrien zurückkehren werden. Die Unterstützung dieser Rückkehrenden durch die Netzwerke der Gefangenenhilfe verstärkt die Bedeutung dieser Netzwerke innerhalb des extremistischsalafistischen Spektrums in erheblichem Maße. Die Gefangenenhilfe Bernhard Falks wird seit 2014 im Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalens erwähnt. Falk ist ein zum Islam konvertierter ehemaliger Linksterrorist. Als selbsternannter Prozessbeobachter nimmt er bundesweit an Gerichtsverhandlungen teil. In seinen im Internet veröffentlichten Beiträgen äußert er sich geringschätzig über den Rechtsstaat, seine Ermittlungsbehörden und deren Vertreter. Zum Teil nennt er auch Namen der mit einem Fall befassten Staatsanwälte, Richter, Pflichtverteidiger und Ermittlungsbehörden, oder den im Fall geladenen Zeugen. Mit seinen Aktivitäten zielt er darauf, Abhängigkeitsverhältnisse aufzubauen und die durch ihn betreuten Personen in der extremistischen Ideologie zu verankern, insbesondere aber die eigene Popularität im extremistisch-salafistischen, aber auch im linken und linksextremistischen Spektrum zu steigern. Für die Ende August 2023 IslamIsmus 235 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 neu gegründete pro-russische Partei "Aufbruch Frieden-Souveränität-Gerechtigkeit" ist Falk als Schatzmeister tätig und arbeitet dort mit Personen zusammen, die als Islam-Gegner aufgetreten sind. Damit entfernt er sich weiter vom extremistischen Salafismus und dessen Szene. Die von ihm behaupteten gemeinsamen Interessen salafistischer und linksextremistischer antiimperialistischer Ideologie findet im extremistisch-salafistischen Spektrum so gut wie keinen Anklang. Die Aktivitäten der Organisation Free our Sisters haben zuletzt stark zugenommen. Free our Sisters verfolgt das Ziel, einer Resozialisierung von Inhaftierten in den Justizvollzugsanstalten entgegenzuwirken und eine Bindung an die extremistisch-salafistische Szene zu festigen. Durch den Verkauf beziehungsweise die Versteigerung von gespendeten Büchern, Kleidung und Alltagsgegenständen werden Gelder gesammelt. Diese sollen Inhaftierten und ihren Angehörigen in Form von juristischer Unterstützung, Finanzund Sachspenden zugutekommen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Grund der Inhaftierung findet nicht statt. Free our Sisters beteuert, dass keine Gelder ins Ausland oder gar an Terrororganisationen fließen würden. Dem steht entgegen, dass in der Vergangenheit häufiger Briefe aus den Gefangenenlagern al-Hol oder Roj in den sozialen Medien gepostet wurden, in denen man sich für die Unterstützung durch Free our Sisters bedankt. Manche Fotos zeigen auch höhere Bargeldspenden, die in den Camps ankamen. Eine Unterstützung von IS-Anhängern in nord-syrischen Gefangenenlagern ist damit belegt. Die Vereinigung Al Asraa (deutsch: Die Gefangenen) hat sich auf die Betreuung von inhaftierten Muslimen und deren Angehörigen spezialisiert. Bei dieser Vereinigung handelt es sich um eine Organisation, die bei der Themensetzung und im Erscheinungsbild stark der Gefangenenhilfe Ansarul Aseer ähnelt, die im Zuge des Vereinsverbotsverfahrens zu Tauhid Germany im Jahr 2015 verboten wurde. Die Aktivitäten von Al Asraa sind zuletzt merklich zurückgegangen, sodass die Vereinigung nur noch eine nachgeordnete Rolle in der Gefangenenhilfe spielt. Hilfsorganisationen Salafistische Hilfsorganisationen mischen karitatives Engagement geschickt mit extremistischen Inhalten. Die Organisationen sind fester Bestandteil des extremistisch-salafistischen Spektrums mit strukturellen und personellen Schnittmengen zu anderen Akteuren der Szene in Nordrhein-Westfalen und bundesweit. 236 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Nicht alle Spendensammler und Spender sind dem extremistisch-salafistischen Spektrum zuzuordnen. Durch die Besetzung humanitärer Themen, die in der breiten Gesellschaft Zustimmung erfahren, werden auch nicht-extremistische muslimisch geprägte Teile der Gesellschaft erreicht. Diese Anschlussfähigkeit ermöglicht es den extremistischen Salafisten, über die Grenzen ihres Milieus hinaus in die demokratische Gesellschaft hinein zu wirken. Die Kombination aus humanitärer Hilfe, professioneller Werbung und der Werbeunterstützung durch Influencer sorgt für eine hohe Attraktivität und Reichweite bei potenziellen Geldgebern. Neben der klassischen Geldspende per Überweisung werden Gelder mittlerweile auch über digitale Spendenpools sowie über prozentuale Verkaufserlöse bei muslimischen Bekleidungs-, Dekorationsund Pflegeprodukten generiert. Ein zentraler Schwerpunkt der Aktivitäten ist der Kryptowährungshandel. So nehmen salafistisch beeinflusste Hilfsorganisationen auch Spenden via Bitcoin entgegen. Transaktionen über Kryptowährungen sind für das salafistische Spektrum lukrativ, da eine etwaige Zweckentfremdung und Verschleierung der Geldströme durch die scheinbare Anonymität vereinfacht wird. Ansaar International Der Verein Ansaar International e.V., nachfolgend Ansaar genannt, wurde im Jahr 2012 als Ansaar Düsseldorf e.V. gegründet. Nach seiner Umbenennung im Jahr 2014 in Ansaar International e.V. bis zu seinem Verbot am 22. März 2021 entwickelte sich der Verein zur größten Hilfsorganisation im extremistisch-salafistischen Spektrum Deutschlands. Mit der Erwähnung im Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen, erstmals im Jahr 2013, bemühte sich Ansaar in der Folge um ein moderateres äußeres Bild. Die Verknüpfungen in das extremistisch-salafistische Spektrum blieben davon jedoch unberührt. Ansaar nahm für sich in Anspruch, weltweit für Muslime humanitäre Hilfe zu leisten. In der Spitze will der Verein nach eigenen Angaben mehr als 100 Projekte in über 50 Ländern betreut haben. Faktisch wurden jedoch beträchtliche Summen für Tätigkeiten verwendet, um extremistische Ideologie zu verbreiten und terroristische Vereinigungen zu unterstützen. So IslamIsmus 237 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 bot Ansaar unter anderem Predigern des politischen und jihadistischen Salafismus im Rahmen von Benefizveranstaltungen die Möglichkeit, extremistisches Gedankengut zu verbreiten. Außerdem übermittelte Ansaar Geldzahlungen und Hilfsgüter an Terrororganisationen, darunter die Jabhat al-Nusra (JaN) beziehungsweise Hai'at Tahrir al-Sham (HTS) in Syrien, die HAMAS im Gazastreifen und die Al-Shabab in Somalia und unterstützte die JaN beziehungsweise HTS mit der Lieferung militärischer Ausrüstungsgegenstände und Geld für Waffenkäufe. Zudem identifizierte sich Ansaar mit Zielen der in Krisengebieten herrschenden Terrororganisationen. Gegen das im März 2021 durch das Bundesministerium des Innern ausgesprochene Verbot reichte der Verein Klage beim Bundesverwaltungsgericht ein. Am 21. August 2023 wurde die Klage in allen Punkten abgewiesen und das Verbot als rechtmäßig anerkannt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Populäre extremistisch-salafistische Akteure haben ihre Präsenz in den sozialen Medien verstärkt. Kurzweilige, eingängige und leicht zugängliche Medien wie TikTok erlauben es extremistischen Salafisten, ihre Inhalte einem größeren Adressatenkreis zugänglich zu machen. Vor allem Formate wie TikTok machen es dabei wahrscheinlicher, dass insbesondere junge Menschen mit extremistisch-salafistischer Ideologie in Berührung kommen und sich dafür begeistern. Ein niedrigschwelliger Zugang zum Salafismus wird dadurch begünstigt, dass extremistisch-salafistische Versatzstücke online leicht zugänglich sind und durch jüngere Menschen auch in ein nicht konsequent islamisch ausgerichtetes Leben integriert werden können. Extremistische Salafisten präsentieren sich online vermehrt als Influencer. Es gelingt ihnen, ein überwiegend junges Publikum anzusprechen, da sie keine anspruchsvollen theologischen Diskurse führen, sondern schlichte lebensnahe Themen mit salafistischen Positionen besetzen. Sie nutzen einfache Umgangssprache und kultivieren ein betont lockeres Auftreten, das häufig von Vorbildern aus Gangster-Rap, Kampfsport und dem kriminellen Milieu beeinflusst ist. Schlichte, chauvinistisch-patriarchalische Wertvorstellungen, die von populären extremistisch-salafistischen Akteuren vertreten werden, stoßen auch im muslimisch-migrantischen Clan-Milieu auf Zustimmung. 238 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Gefangenenhilfe hatte in den vergangenen Jahren innerhalb der Szene an Bedeutung gewonnen. Im Berichtszeitraum ist jedoch die Zahl der Rückkehrer und Rückkehrerinnen aus den ehemaligen IS-Gebieten nach Deutschland weiter zurückgegangen, was im Bereich der Gefangenenhilfe zu einer Konsolidierung geführt hat. Mit dem Verbot von Ansaar International verschwindet die reichweitenstärkste und profilierteste Hilfsorganisation des extremistischen Salafismus. Dies ist ein unverkennbar wichtiges Warnsignal für bestehende und künftige derartige Vorhaben, humanitäre Hilfe mit extremistischem Aktivismus zu verbinden. IslamIsmus 239 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 HAMAS Sitz/Verbreitung Hauptsitz der Vereinsstrukturen in Berlin, Aktivitäten auch in Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländern Gründung/Bestehen seit 1987 Struktur/ Repräsentanz Wichtigste Organisation für die Anhänger der HAMAS in Deutschland waren bis zur Selbstauflösung die Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (PGD) sowie in Nordrhein-Westfalen der Spendenverein "Die Barmherzigen Hände e.V.". Die meisten Unterstützer der HAMAS in Nordrhein-Westfalen sind Sympathisanten der Terrororganisation und haben keine unmittelbaren Verbindungen zu HAMAS-Strukturen im Gaza-Streifen. Mitglieder/Anhänger/ 175/ Unterstützer 2023 (Teilmenge der MB) Veröffentlichungen Englischund arabischsprachiges Web-Angebot der HAMAS-Kernorganisation; arabischund teilweise deutschsprachige Veröffentlichungen der PGD in sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Die sunnitische HAMAS (arabisches Akronym für "Bewegung des islamischen Widerstandes") hat sich aus dem palästinensischen Teil der Muslimbruderschaft entwickelt und ist seit Beginn der ersten Intifada im Jahr 1987 aktiv. Das vorrangige politische Ziel der HAMAS ist die von ihr so genannte "Befreiung Gesamtpalästinas" und damit die Auflösung Israels als eigenständiger Staat. Im Jahr 2017 veröffentlichte die HAMAS ein neues Grundsatzdokument. Es stellt jedoch keine wesentliche Abweichung gegenüber der ursprünglichen HAMAS-Charta von 1987 dar. 240 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Organisation zeigt in dem neu verfassten Dokument die grundsätzliche Bereitschaft, einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 zu akzeptieren. Ihr Widerstand richte sich nicht gegen die jüdische Religion, sondern ausschließlich gegen den Staat Israel. Gleichzeitig wird jedoch an einer vollkommenen Befreiung Palästinas vom "Jordan bis zum Mittelmeer" und am bewaffneten Widerstand festgehalten, wobei der "zionistischen Entität" jegliche Anerkennung zu verweigern sei. Das Existenzrecht Israels wird damit nach wie vor negiert, auch wenn moderate HAMAS-Politiker dies in der Vergangenheit unter bestimmten Bedingungen bei Verhandlungen in Aussicht stellten. Die HAMAS befindet sich mitsamt ihrer militärischen Suborganisation, den Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden, auf der durch den Rat der Europäischen Union erstellten EU-Terrorliste und unterliegt damit entsprechenden Sanktionen. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die HAMAS ist eine terroristische Organisation. Neben ihrem paramilitärischen Arm, den Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden, verfügt sie über eine Partei-Organisation, ein soziales Hilfswerk sowie religiöse und karitative Organisationen. Sie ist für zahlreiche Selbstmordattentate und Raketenangriffe auf israelisches Gebiet verantwortlich. Die Feindschaft gegenüber Israel wird begleitet von einem virulenten Antisemitismus, der auch in der Charta der HAMAS deutlich zum Ausdruck kommt. Als weiteres Ziel verfolgt die HAMAS die Errichtung eines "islamischen Staates", der auf der extremistischen Ideologie der Muslimbruderschaft beruht. Diese Ideologie steht im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die terroristischen Aktivitäten gegen Israel gefährden auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und die antisemitische Einstellung richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung und das friedliche Zusammenleben der Völker. Die HAMAS IslamIsmus 241 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Betätigungsverbot für die HAMAS in Deutschland Am 7. Oktober 2023 startete die HAMAS unter der Bezeichnung "al-Aqsa-Flut" eine von ihr so genannte "Militäroperation" gegen den Staat Israel. An dieser Stelle sei auf das Sonderkapitel verwiesen. Als Reaktion auf die Terroranschläge gegen den Staat Israel verkündete das Bundesinnenministerium am 2. November 2023 ein Betätigungsverbot für die HAMAS in Deutschland. In diesem Zusammenhang fanden drei Wochen später bundesweit Durchsuchungsmaßnahmen bei Unterstützern der Terrororganisation statt. Von diesen war auch Nordrhein-Westfalen betroffen, da hier Objekte in Münster und Bochum durchsucht wurden. Auflösung HAMAS-naher Vereinsstrukturen Ende August 2023 löste sich der Verein "Die Barmherzigen Hände e.V." auf. Der Spendenverein wies Bezüge zur HAMAS auf. Im Berichtszeitraum entfaltete der Verein deshalb kaum noch öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. Ende November 2023 wurde bekannt, dass auch die für die HAMAS-Anhänger in Deutschland wichtigste Organisation, die Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland e.V., die Selbstauflösung eingeleitet hat. Auch dieser Verein war zuletzt kaum öffentlich aktiv. Behördliches Vorgehen gegen HAMAS-Unterstützer Die Verhaftung eines mutmaßlichen HAMAS-Unterstützers in den Niederlanden erregte im Juni 2023 die öffentliche Aufmerksamkeit der hiesigen HAMAS-Anhänger. Der Verhaftete steht seit geraumer Zeit im Verdacht, die HAMAS durch Spendenzahlungen in Millionenhöhe unterstützt zu haben. Die Verhaftung führte auch hier zu Solidaritätsbekundungen in Sympathisantenkreisen; international wurde beispielsweise in sozialen Medien eine Kampagne für seine Freilassung initiiert. 242 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Am 14. Dezember 2023 hat die Bundesanwaltschaft vier Personen in Berlin aufgrund des dringenden Tatverdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung - der HAMAS - festnehmen lassen. Die Personen sollen sich an Auslandsoperationen der HAMAS beteiligt haben. Konkret sollen die Beschuldigten versucht haben, im Auftrag der Terrororganisation ein Erddepot mit Waffen in Europa ausfindig zu machen. Die Waffen sollten nach Berlin verbracht und für mögliche Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Europa bereitgehalten werden. Auch in Dänemark und den Niederlanden kam es am 14. Dezember 2023 zu Verhaftungen von mutmaßlichen HAMAS-Terroristen. Die inhaftierten Personen hätten im Auftrag der HAMAS gehandelt, mit dem Ziel, Anschläge in Europa zu verüben, so der dänische Nachrichtendienst PET. Konferenz in Malmö Im Mai 2023 fand unter dem Motto "75 Years On...We Will Return" im schwedischen Malmö die "20. European Palestinians Conference" statt, bei der sich alljährlich HAMAS-Unterstützer aus ganz Europa zusammenfinden. Auch aus Nordrhein-Westfalen reisten Personen zu der Veranstaltung an. In diesem Jahr erhielt diese besondere Aufmerksamkeit, da seitens der PLO auf die HAMAS-Bezüge der Konferenz hingewiesen und ihr Boykott gefordert wurde. Die PLO versteht sich als einzig legitime Repräsentanz des palästinensischen Volkes und betrachtet die Aktivitäten hiesiger HAMAS-Anhänger als Versuch, ihr diesen Status streitig zu machen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der terroristische Angriff vom 7. Oktober 2023 stellt sowohl für die HAMAS-Mutterorganisation im Gaza-Streifen als auch für die Szene der HAMAS-Unterstützer im Bundesgebiet eine Zeitenwende dar. Die HAMAS hat der Weltöffentlichkeit in drastischer Weise vor Augen geführt, dass sie keine pragmatische paramilitärische Organisation ist, sondern als Terrororganisation agiert, die sich in irrationaler Art wahllos gegen Zivilisten wendet und ihre Ziele durch brutale Gewalt und Einschüchterung erreichen will. Die Abscheu über diese Aktionen ist aus globaler Sicht nicht überall in gleichem Maß verbreitet. In vielen Ländern gilt die HAMAS aus unterschiedlichen Gründen trotz ihrer Verbrechen als "Befreiungsorganisation", die die legitimen Ziele des palästinensischen "Widerstands" vertrete und sich intensiver für die palästinensische Sache engagiere als die kompromissbereitere Fatah, die im Westjordanland regiert. In einigen arabischen und muslimischen Ländern gibt es erhebliche Sympathien für die HAMAS und IslamIsmus 243 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 deren Vertreter. Aus diesem Grund ist der Angriff auf Israel aus Sicht der HAMAS nicht nur als ein militärischer, sondern auch als ein propagandistischer Erfolg zu werten. Sollten sich die Hinweise auf Anschlagsplanungen der HAMAS in Europa bestätigen, wäre dies eine vollständige Abkehr von ihrer bisherigen Strategie. Bislang wurde die Diaspora immer als Rückzugsraum betrachtet, das militante Handeln konzentrierte sich auf Israel. Im Hinblick auf die Selbstauflösung der beiden zuvor genannten Vereine ist davon auszugehen, dass sich die hier bekannten Akteure langfristig neu organisieren und ihren propagandistischen und/oder finanziellen Unterstützungshandlungen weiterhin nachgehen werden. Die Auflösung des PGD ist als Reaktion auf die aus dem HAMAS-Betätigungsverbot resultierenden Durchsuchungsmaßnahmen zu werten. In jedem Fall stellt die Auflösung der beiden Vereine einen herben Rückschlag für die hiesigen HAMAS-Anhänger dar, die damit ihre zentralen Instrumente zur Vernetzung und zur Verbreitung ihrer Propaganda verloren haben. Diese Instrumente für Spendensammlung sowie Organisation und Propaganda dürften kurzfristig nicht zu ersetzen sein. 244 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 IslamIsmus 245 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Hizb Allah (Partei Gottes) und schiitischer Islamismus Sitz/Verbreitung Mutterorganisation im Libanon, sympathisierende religiöse Vereine in der libanesischen Diaspora, darunter auch im Bundesgebiet Gründung/Bestehen seit 1982 Struktur/ Repräsentanz Die Anhänger in Deutschland treffen sich in den örtlichen Moscheevereinen. Deren Satzungen und Aktivitäten lassen nach außen keinen Hizb Allah-Bezug erkennen. Es gibt keinen Dachverband. Bezüge zur Hizb Allah sind unter anderem für die Gemeinschaft libanesischer Emigranten e.V. in Dortmund (Ahl al-Bait-Zentrum), die Gemeinschaft Libanesischer Emigranten e.V. in Bottrop (Imam Rida-Zentrum) sowie den Al Mahdi Kulturverein Bad Oeynhausen e.V. nachweisbar. Mitglieder/Anhänger/ 400/ Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Mehrsprachiges Web-Angebot Kurzporträt/Ziele Die schiitische islamistische Organisation Hizb Allah bildete sich 1982 als Reaktion auf den Einmarsch israelischer Truppen im Libanon. Die Organisation profitierte dabei vor allem von der iranischen Intervention während des libanesischen Bürgerkriegs. Sie verfügt über einen (para-)militärischen, einen karitativen und einen politischen Zweig. An ihrer Spitze steht der Generalsekretär und Oberbefehlshaber Hassan Nasrallah, der als zentrale Identifikationsfigur gilt. 246 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Hizb Allah ist seit Anfang der 1990er-Jahre im libanesischen Parlament und der Politik vertreten und immer wieder auch an Regierungen beteiligt. In einigen Teilen des Libanon (Nordosten und Südlibanon) beherrscht sie das gesamte öffentliche Leben und verfügt über staatsähnliche Strukturen. Mit ihren wohltätigen Einrichtungen sowie ihren legalen und illegalen Strukturen ist sie ein wichtiger Faktor in der Wirtschaft des Libanon. Militärisch verfügt die Hizb Allah über eine schlagkräftige Truppe, die zu Kampfeinsätzen fähig ist. Der militärische Zweig kooperiert dabei eng mit einer für Auslandseinsätze zuständigen Einheit der iranischen Revolutionsgarde, der sogenannten Quds Force. Die Organisation bestreitet offen das Existenzrecht des Staates Israel. Sie wird für Anschläge oder entsprechende Vorbereitungsaktivitäten, insbesondere gegen israelische und jüdische Ziele, verantwortlich gemacht (unter anderem 1992 und 1994 in Buenos Aires, 1992 im Berliner Restaurant Mykonos, 2012 in Burgas). Für Israel ist die Hizb Allah mit ihren militärischen und terroristischen Möglichkeiten eine permanente Bedrohung, die sich immer wieder in gewaltsamen Angriffen manifestiert. Deutschland stellt für die Organisation einen Rückzugsraum dar, der für logistische Unterstützungsleistungen genutzt wird. Finanzierung Spenden der Anhänger, mutmaßlich Erlöse aus kriminellen Aktivitäten, im Libanon finanzielle Zuwendungen aus Iran. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Das Eintreten der Hizb Allah für die Ideologie der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" (wilayat al-faqih) widerspricht dem Prinzip der Volkssouveränität. Sie ist demnach eine Bestrebung, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet. Ihre Agitation gegen den Staat Israel und die damit einhergehenden antisemitischen Positionen laufen dem Gedanken der Völkerverständigung zuwider. IslamIsmus 247 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Bei der Hizb Allah handelt sich darüber hinaus um eine international agierende terroristische Organisation, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Rechtsgrundlage für die Bearbeitung der Hizb Allah durch den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz sind demnach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 4 VSG NRW. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Reaktionen der Hizb Allah auf den Angriff der HAMAS auf Israel Die Hizb Allah im Libanon reagierte zurückhaltend auf die Aktionen der HAMAS. Der Generalsekretär der Hizb Allah, Hassan Nasrallah, hatte in seiner ersten Stellungnahme seit Beginn des Konflikts am 3. November 2023 den Angriff der HAMAS als "zu 100 Prozent palästinensisch organisiert" bezeichnet. Die Hizb Allah versuchte auf diese Weise offensichtlich ihre öffentliche Zurückhaltung gegenüber den arabischen Ländern zu entschuldigen. In seiner zweiten Rede binnen einer Woche anlässlich des "Tag des Märtyrers" am 11. November 2023 verkündete Nasrallah erneut keine Ausweitung der Kampfhandlungen und Unterstützung der HAMAS, die über den Beschuss grenznaher israelischer Gebiete hinausgeht. Zuvor hatte die Hizb Allah mehrfach angekündigt, bei einer israelischen Bodenoffensive in Gaza nicht tatenlos zusehen zu wollen. Insgesamt wurden diese Aussagen als Mangel an Solidarität mit der HAMAS gewertet und die Aktivitäten der schiitischen "Achse des Widerstands" gelten insgesamt eher als symbolisch. In Nordrhein-Westfalen sind im schiitisch-extremistischen Spektrum bisher kaum Reaktionen auf die aktuelle Nahost-Krise feststellbar. Zwar ist erkennbar, dass das Thema eine große Betroffenheit verursacht und schiitische Islamisten sehr bewegt; dennoch gibt es keine Hinweise darauf, dass sich schiitische Islamisten in nennenswerter Form an pro-palästinensischen Demonstrationen beteiligen oder diese sogar selbst organisieren. Nur sehr vereinzelt wurden Stimmen von schiitisch-islamistischen Funktionären laut, die eine Unterdrückung der Palästinenser anprangern und eine diesbezügliche Zensur der öffentlichen Meinung in Deutschland beklagen. Die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands e.V. (IGS), die eine Nähe zum schiitischen Islamismus aufweist, hat bislang nicht öffentlich 248 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 auf die Terrorangriffe der HAMAS gegen den Staat Israel reagiert. In der Vergangenheit trat der Verein sehr meinungsstark auf und orientierte sich erkennbar an den ideologischen Richtlinien aus Teheran. Umso auffälliger ist die aktuell starke Zurückhaltung der IGS. In der Vergangenheit fielen verschiedene Akteure des schiitischen Islamismus durch eine besonders ausgeprägte Israelfeindschaft auf. Höhepunkt war der jährliche alQuds-Tag, der bis zum Jahr 2019 mit einer Demonstration in Berlin begangen wurde. Das Schweigen des schiitischen Islamismus zur aktuellen Situation dürfte insbesondere auf die Vereinsverbote und strafrechtliche Verfolgung der letzten Jahre zurückzuführen sein. al-Quds-Tag 2023 Zum jährlichen al-Quds-Tag, einem schiitischen Gedenktag, der an die von Ayatollah Khomeini im Jahr 1979 geforderte "Befreiung Jerusalems" erinnert, fanden in Deutschland seit Mitte der 1990er-Jahre Demonstrationen in Berlin statt, an denen sich auch Hizb Allah-Anhänger und andere islamistische Schiiten beteiligten. Nach dem Wegfall der Corona-Schutzmaßnahmen wäre im Jahr 2023 erstmals wieder die Organisation des al-Quds-Tages als Großveranstaltung möglich gewesen. Das entsprechende Ereignis in Berlin wurde allerdings aus organisatorischen Gründen abgesagt. Stattdessen gab es eine Veranstaltung in Frankfurt am Main, die inhaltlich erkennbar am al-QudsTag ausgerichtet war. Diese wurde überwiegend von türkischsprachigen Schiiten besucht, erreichte aber bei Weitem nicht jene Besucherzahlen wie in den Vorjahren in Berlin. Dies ist ein Beleg dafür, dass es der schiitisch-islamistischen Szene immer schwerer fällt, eine entsprechende Veranstaltung aus Anlass des al-Quds-Tages zu organisieren und ihre Anhänger zu mobilisieren. Ermittlungsmaßnahmen gegen das "Islamische Zentrum Hamburg" und dessen mögliche Teilorganisationen Das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) führt gegen den Verein Islamisches Zentrum Hamburg e.V. (IZH) und fünf weitere Vereinigungen ein vereinsrechtliches Ermittlungsverfahren. Das IZH steht im Verdacht, sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung zu richten und damit die Verbotsgründe nach Artikel 9 Absatz 2 des Grundgesetzes und SS 3 Absatz 1 des Vereinsgesetzes zu erfüllen. Zudem gehen die Sicherheitsbehörden dem Verdacht nach, dass das IZH die in Deutschland verbotenen Aktivitäten der libanesiIslamIsmus 249 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 schen Terrororganisation Hizb Allah unterstützt. Bei den weiteren Vereinigungen besteht der Verdacht, dass sie Teilorganisationen des IZH sind. Durchsuchung im Islamischen Zentrum Hamburg Zur weiteren Aufklärung dieses Verdachts und zur Sicherung von Beweismitteln wurden auf Anordnung der zuständigen Verwaltungsgerichte am 16. November 2023, in sieben Bundesländern insgesamt 54 Objekte durchsucht. Die Durchsuchungsmaßnahmen erfolgten in Hamburg, Niedersachsen, Hessen, Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen. Das im Rahmen der Durchsuchung beschlagnahmte Material wird derzeit durch die Sicherheitsbehörden des Bundes ausgewertet. Festnahme zweier mutmaßlicher Mitglieder der Hizb Allah Im Mai 2023 gab es Festnahmen von zwei mutmaßlichen Hizb Allah-Mitgliedern in Niedersachsen. Bei einem der beiden handelte es sich um einen Funktionär eines im Jahr 2022 verbotenen Vereins in Bremen. Der zweite Festgenommene soll als Angehöriger der Abteilung für Außenbeziehungen für die Betreuung libanesischer Vereine in Nordwestdeutschland zuständig gewesen sein und pflegte auch Beziehungen zu Vereinen in Nordrhein-Westfalen. Die Beschuldigten sind der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland (SS 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB, SS 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB) dringend verdächtig. 250 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Festnahme zweier mutmaßlicher Hizb Allah-Mitglieder und die Exekutivmaßnahmen gegen das IZH beeinträchtigen das Wirken der Anhänger der Hizb Allah stark. Diese werden zur Folge haben, dass eine noch stärkere Verschleierung der Bezüge zur Mutterorganisation im Libanon erfolgt und zunehmend konspirativer agiert wird. Vor diesem Hintergrund ist auch nachvollziehbar, dass die hiesigen Hizb AllahUnterstützer sich kaum an den pro-palästinensischen Protesten beteiligten, obwohl sie in der Vergangenheit besonders durch ihre deutlichen israelfeindlichen und antisemitischen Positionierungen aufgefallen waren. IslamIsmus 251 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Hizb ut-Tahrir (Islamische Befreiungspartei - HuT) Sitz/Verbreitung Keine offizielle Vertretung in Deutschland, regionale Schwerpunkte der Anhänger in Nordrhein-Westfalen sind Duisburg, Essen, Dortmund und Münster. Gründung/Bestehen seit 1953 Struktur/ Repräsentanz In der Bundesrepublik Deutschland bestehen aufgrund des Verbots keine offiziellen Anlaufstellen der Hizb ut-Tahrir. Die Anhänger treffen sich in abgeschotteten Kleingruppen (Zellen), die sich durch ein äußerst konspiratives Verhalten auszeichnen. Darüber hinaus verbreiten auch mehrere Internet-Kanäle von Realität Islam (RI), Generation Islam (GI) und Muslim Interaktiv (MI) das Gedankengut der HuT. Mitglieder/Anhänger/ 130/ Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Mehrsprachiges Web-Angebot, insbesondere über die Kanäle von Realität Islam, Generation Islam und Muslim Interaktiv. Kurzporträt/Ziele Die Hizb ut-Tahrir (HuT) wurde 1953 von dem Rechtsgelehrten Scheich Taqi al-Din al-Nabhani, einem ehemaligen Mitglied der ägyptischen und palästinensischen Muslimbruderschaft, gegründet. Es handelt sich um eine pan-islamistische Bewegung, die sich an alle Muslime richtet. Vorrangige Ziele der Organisation sind die Wiedereinführung des 1924 durch die Republik Türkei abgeschafften Kalifats und die Errichtung eines islamischen Staats unter Führung eines Kalifen. 252 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Dieser soll die Scharia als Grundlage und Maßstab staatlichen Handels im Kalifat durchsetzen. Säkulare Staatsformen stehen hierzu im Widerspruch und werden bekämpft. Islam und Demokratie sind für die HuT nicht miteinander vereinbar. Zur Durchsetzung ihrer Ziele versucht die HuT vor allem einflussreiche Persönlichkeiten und Akademiker zu rekrutieren, die ihre herausgehobene gesellschaftliche Position zur gezielten Einflussnahme im Sinne der HuT nutzen sollen. In den meisten muslimisch geprägten Ländern ist die HuT verboten. Seit dem 15. Januar 2003 unterliegt die HuT auch in Deutschland einem Betätigungsverbot. Im Gegensatz zu anderen islamistischen Organisationen agiert die HuT überwiegend politisch und bietet keine religiösen Dienstleitungen an. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Das vom Bundesminister des Innern ausgesprochene Betätigungsverbot wurde am 25. Januar 2006 vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 19. Juni 2012 die Klage der HuT gegen das Betätigungsverbot für unzulässig erklärt. Der EGMR sah es als erwiesen an, dass die HuT dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht. Sie habe ferner den Sturz von Regierungen in muslimisch geprägten Staaten gefordert. Diese sollten nach Vorstellung der HuT durch ein auf den Regeln der Scharia basierendes Kalifat ersetzt werden, das man allerdings nicht mit Gewalt erkämpfen will. Die HuT kennzeichnet zudem ein besonders stark ausgeprägter Antisemitismus. Juden, aber auch Christen, gelten - entgegen der mehrheitlich von islamischen Gelehrten vertretenen Meinung - als Ungläubige. Ihre Lebensform sei abzulehnen. Mit ihnen solle möglichst kein Kontakt gehalten werden, da sie untereinander ein Bündnis eingegangen seien, um den Islam zu zerstören. Aufgrund der gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ideologie sowie des Antisemitismus der HuT unterliegt diese nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 VSG NRW der Beobachtung durch den Verfassungsschutz. IslamIsmus 253 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Fortführung der Aktivitäten in den HuT-Strukturen und auf den Internetplattformen Nach wie vor treffen sich Anhänger der HuT in konspirativen Kleingruppen, die als entsprechende Schulungszirkel fungieren. Diese agieren allerdings im privaten Umfeld jenseits der öffentlichen Wahrnehmung. Im Vergleich zu den Vorjahren setzen die Organisationen Realität Islam, Generation Islam und Muslim Interaktiv ihre Online-Aktivitäten auf einem hohen Niveau fort und greifen weiterhin alltägliche gesellschaftliche Themen auf, welche die junge muslimische Gemeinschaft umtreiben. Diese werden auf zahlreichen verschiedenen Kanälen wie Instagram, Facebook und TikTok verbreitet und diskutiert. Thematisch standen hier im Berichtszeitraum insbesondere die allgemeine gesellschaftliche Erniedrigung der Muslime in Deutschland, die Beeinflussung muslimischer Schüler in den Schulen und der herrschende Assimilationszwang im Vordergrund. Ziel der HuT ist es, durch das stetige Hinweisen auf solche Probleme, die Muslime hierzulande von der westlichen Gesellschaft und dem demokratischen Rechtsstaat abzuspalten und ihre eigene Erzählung von der Notwendigkeit einer politischen Vereinigung aller Muslime plausibel erscheinen zu lassen. Der Ideologie der HuT zufolge würden diese Probleme vorrangig durch die Wiedereinführung des Kalifats gelöst werden. Aktivitäten im Zusammenhang mit der Eskalation des Nahostkonflikts Als Reaktion auf die terroristischen Angriffe der HAMAS gegen den Staat Israel am 7. Oktober 2023 fand am 3. November 2023 eine pro-palästinensische Demonstration mit 3.000 Teilnehmern in Essen statt, welche im Nachhinein ideologisch der HuT zugeordnet werden kann. So wurde während der gesamten Veranstaltung die strikte Trennung der Geschlechter berücksichtigt. Des Weiteren wurde erstmals in Deutschland offen auf der Straße die Einführung des Kalifats gefordert. Im Nachgang zu der Demonstration wurde von einem bekannten GI-Funktionär aus Berlin eine Rede gehalten. Vieles GI propagiert das Kalifat als die Lösung. spricht dafür, dass HuT-nahe Gruppen ins254 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 besondere im Ruhrgebiet und in weiteren Städten in NRW mobilisiert haben. Woher die Demonstrationsteilnehmer angereist sind, lässt sich jedoch im Nachhinein nicht feststellen. Auch über die Demonstration hinaus haben sich die Organisationen GI, RI und MI vermehrt zum Nahost-Konflikt geäußert und zahlreiche Kanäle im Internet genutzt, um regelmäßig die deutsche Solidarität zu Israel zu kritisieren. Screenshot aus einem YouTube-Video von Generation Islam zur Demonstration in Essen am 3. November 2023. Aktivisten der HuT versuchen, die starke Emotionalisierung durch den Nahostkonflikt dafür zu instrumentalisieren, ihre islamistische Weltanschauung zu verbreiten. Wie bereits vor fünf Jahren, als sich HuT-Anhänger gegen ein Kopftuchverbot einsetzten, gab es auch im Kontext der Eskalation des Nahostkonflikts in mehreren Städten Nordrhein-Westfalens Flyer-Verteilungen. So wurden beispielsweise Flyer mit der Überschrift "Wärst du bereit für 'Israel' zu sterben" sowie "Der Befreiungskampf des palästinensischen Volkes ist gerecht - Freiheit für Palästina" verteilt. IslamIsmus 255 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Demonstration in Essen am 3. November 2023 stellt sowohl quantitativ als auch qualitativ eine neue Dimension der HuT-Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen dar. Vergleichbare Veranstaltungen hatte es zuvor bisher nur in Hamburg gegeben. Die aggressive Formulierung ihrer Botschaften, inklusive der Forderung nach einem Kalifat, stellt für die HuT zudem bundesweit eine Neuerung dar. Bis dahin wurden solche Positionen online propagiert, aber nicht bei öffentlichen Veranstaltungen vertreten. Bei der Demonstration in Essen hat sich GI erstmals öffentlich aktiv beteiligt. Dass es gelang, 3.000 Personen für die Veranstaltung zu mobilisieren verdeutlicht, dass die jahrelange Online-Propaganda HuT-naher Medienplattformen Wirkung zeigt und die HuT-Szene in Nordrhein-Westfalen mittlerweile über ein beachtliches Mobilisierungspotenzial verfügt. Im Berichtszeitraum tritt die HuT erneut in zwei verschiedenen Erscheinungsformen auf. So finden die Treffen der Hauptakteure weiterhin im bekannten Format der Kleingruppen statt, in denen die Ideologie verbreitet und gelehrt wird. Deutlich passiver wird die ideologische Ausrichtung auf den zahlreichen Online-Kanälen der Organisation verbreitet. Hier wird insbesondere durch das Aufgreifen aktueller gesellschaftlicher Themen versucht, neue Anhänger zu gewinnen und diese von der islamistischen Weltanschauung der HuT zu überzeugen. Die Ideologie wird hierbei nur unterschwellig in die Videos integriert, sodass die Personen häufig über das Interesse an gesellschaftlichen Themen angesprochen und so niederschwellig an die ideologische Ausrichtung herangeführt werden. Das Ziel dieser Kanäle ist die stetige Rekrutierung weiterer Mitglieder. Die gesamten Online-Aktivitäten der HuT erfolgen ausschließlich in deutscher Sprache und richten sich an die Gesamtheit der Muslime in Deutschland. Sie weisen keinen Bezug zu bestimmten Ländern der muslimischen Welt auf und sprechen demnach eine Vielzahl insbesondere junger Menschen an, die zwar häufig in Deutschland sozialisiert sind, jedoch mit vielen gesellschaftlichen Entscheidungen hadern und den Umgang mit den Muslimen im Allgemeinen kritisch betrachten. Die Online-Aktivitäten der HuT bieten hierfür oftmals eine Anlaufstelle, um eine Meinung zu den aktuellen Ereignissen in Deutschland und dem europäischen Ausland aus vermeintlich islamischer Sicht zu erhalten. Es ist davon auszugehen, dass aufgrund der gesteigerten Online-Aktivitäten der HuT das Personenpotenzial weiter zunehmen wird. Diese Zunahme zeichnete sich bereits in den Vorjahren ab und setze sich ebenfalls im Berichtszeitraum fort. 256 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 IslamIsmus 257 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) Sitz/Verbreitung Vereinsstrukturen seit Dezember 2001 verboten, früherer Hauptsitz in Köln Gründung/Bestehen seit 1984 Struktur/ Repräsentanz Keine offen erkennbaren Strukturen, aber mehrere islamische Gemeinden, die sich in unterschiedlicher Intensität weiterhin der Ideologie des Kalifatsstaats verpflichtet fühlen Mitglieder/Anhänger/ 100\ Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Rudimentäre Webangebote Kurzporträt/Ziele Im Jahr 1984 gründete in Köln der türkische Prediger Cemaleddin Kaplan (1926 bis 1995) nach Loslösung von der Milli Görüs-Bewegung den Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (Ädegslami cemiyet ve cemaatleri birligi -- ICCB), auch Kaplan-Verband genannt. Nachdem viele Gemeinden im Laufe der Zeit den ICCB wieder verlassen hatten, proklamierte er im März 1994 den so bezeichneten Kalifatsstaat und ließ sich als Kalifen huldigen. Sein Kalifatsstaat war eine am Führerprinzip orientierte und streng hierarchisch gegliederte Organisation. Ziel Kaplans und seines Verbandes war die Erringung der Herrschaft in der Türkei und in letzter Konsequenz die Weltherrschaft für sein Kalifat. Nach dem Tod Cemaleddin Kaplans folgte ihm sein Sohn Metin Kaplan als Kalif nach. Intern kam es jedoch zu Nachfolgestreitigkeiten, in deren Verlauf Metin Kaplans Widersacher 1997 ermordet wurde. m Jahr 2000 wurde Metin 258 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kaplan wegen Anstiftung zum Mord zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und nach Verbüßung der Haftstrafe im Oktober 2004 in die Türkei abgeschoben. Dort wurde er wegen Gründung und Leitung einer terroristischen Vereinigung verurteilt und inhaftiert. Aus gesundheitlichen Gründen kam er Ende 2016 vorzeitig aus der Haft frei. Die Anhänger des Kalifatsstaats in Deutschland konnten sich unterdessen nicht auf eine Führung einigen, so dass sich mehrere Fraktionen bildeten. Diese entwickelten unterschiedliche Vorstellungen über ihre Ausrichtung und die Person des Kalifen. Seitdem bildet der Kalifatsstaat keine zusammenhängende Struktur mehr, sondern besteht nur noch aus mehreren bundesweit verteilten Moscheegemeinden. Diese sind in unterschiedlichem Grad miteinander vernetzt, gehören aber jeweils verschiedenen Fraktionen an. Einigender Faktor ist einzig das ideologische Vermächtnis des Cemaleddin Kaplan, auf dass sich sämtliche Flügel des Kalifatsstaats berufen. Durch diese Zersplitterung hat der Kalifatsstaat stark an Reputation verloren, so dass sich insbesondere viele jüngere Anhänger dem Salafismus zuwandten. Der Salafismus ist für diese besonders attraktiv, da dessen Inhalte ansatzweise bereits in den Lehren Cemaleddin Kaplans zu finden sind. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die islamistische Ideologie des Kalifatsstaats zeichnet sich durch eine rigorose Ablehnung der Demokratie und des Säkularismus aus. Darüber hinaus zeigt der Kalifatsstaat eine ausgeprägte Judenfeindlichkeit und eine große Affinität zum bewaffneten Jihad. Die Ziele des Kalifatsstaats richten sich demnach gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gegen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Diese Bestrebung IslamIsmus 259 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Nachdem im Jahr 2022 zahlreiche Durchsuchungsund Ermittlungsverfahren in mehreren Bundesländern stattfanden, wurden im Anschluss die eingeleiteten Strafverfahren gegen Leitungspersonen im Frühjahr 2023 abgeschlossen. Insgesamt wurden drei Personen vom Landgericht Koblenz - davon eine Person aus NRW - zu Bewährungsstrafen von einem Jahr und acht Monaten beziehungsweise einem Jahr und sechs Monaten wegen Fortführens einer verbotenen Vereinigung verurteilt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die in der jüngsten Vergangenheit durchgeführten staatlichen Maßnahmen haben zu einer weiteren Schwächung der Organisation geführt. Insbesondere die Verurteilung der loyal zu Metin Kaplan stehenden Personen verstärkten diesen Trend. Die entzweiten Fraktionen haben sich weiterhin in Ermangelung einer gemeinsamen Führungsperson nicht aufeinander zubewegt. Durch die von den Maßnahmen verunsicherten Mitglieder geht keine Initiative zu einer Vereinigung aus, sodass derzeit kein Impuls erkennbar ist, der dem organisatorischen Zerfall entgegenwirken könnte. Metin Kaplan verbreitet seine Botschaften auch über das Internet, hier auf Facebook. 260 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Aufgrund des Verbots der Organisation sind die propagandistischen Möglichkeiten stark reduziert. Eine Verbreitung der eigenen Ideologie durch öffentlich wirksame Aktionen wie Demonstrationen oder Straßenstände kann nur in sehr eingeschränkter Form stattfinden. Die klassischen Strukturen des Kalifatsstaats sind im Internet kaum noch präsent, sodass auch dieses Medium zur Rekrutierung neuer Anhänger entfällt. Online-Aktivitäten sind lediglich von Seiten jüngerer Personen zu verzeichnen, die zwar noch im Kalifatsstaat sozialisiert wurden, aber jetzt vielfach auch salafistische Inhalte rezipieren, sodass ihr Bezug zur Organisation zunehmend fraglich ist. Ob sich jüngere Anhänger des Kalifatsstaats weiter in der Organisation halten lassen oder ob es zu Abwanderungen in andere islamistische Organisationen kommt, wird weiter zu beobachten sein. Eine grundsätzliche Offenheit gegenüber extremistischsalafistischem Gedankengut ist jedenfalls weiterhin feststellbar, und eine Annäherung von weiteren jüngeren Anhängern an die salafistische Szene eher wahrscheinlich. IslamIsmus 261 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Muslimbruderschaft (unter anderem Deutsche Muslimische Gemeinschaft, DMG) Sitz/Verbreitung Bundesweite Strukturen, Hauptsitz der DMG in Berlin Gründung/Bestehen seit 1928 in Ägypten, in Deutschland seit den 1960erJahren aktiv Struktur/ Repräsentanz Die Muslimbruderschaft (MB) ist eine weltweit agierende Bewegung, zu der eine Vielzahl von Organisationen gehört. In Deutschland stellt die Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG) die wichtigste Organisation von Anhängern der Muslimbruderschaft dar. Daneben existieren MB-nahe Verbandsstrukturen auf europäischer Ebene. Neben der DMG existieren zahlreiche weitere Institutionen und Vereine. Diese stehen der Ideologie der Muslimbruderschaft zumindest nahe, obwohl sie keine oder nur eine sehr lose Anbindung an die DMG-Strukturen aufweisen. In NRW sind Einflüsse der Muslimbruderschaft unter anderem in der ar-Rahman-Moschee in Münster feststellbar, die durch das Islamische Kulturzentrum in Münster e.V. betrieben wird. Mitglieder/Anhänger/ 320 (einschließlich HAMAS)/ Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Verschiedene Internetseiten und Auftritte, auch deutschsprachig, in sozialen Medien 262 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kurzporträt/Ziele Die im Jahr 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft (MB) ist die älteste und einflussreichste islamistische Bewegung. Als pan-islamisch ausgerichtete Organisation ist sie nicht nur in allen arabischen Staaten, sondern in nahezu allen muslimisch geprägten Ländern vertreten. Nach eigenen Angaben sind dies insgesamt 70 Länder weltweit. Die Ideologie der MB ist die Basis aller späteren islamistischen Bestrebungen. Das taktische und strategische Vorgehen der verschiedenen regionalen Zweige der MB unterscheidet sich vor allem im Hinblick auf die Frage, ob Gewalt zur Erreichung des politischen Ziels angewandt werden soll. Bis heute nimmt die ägyptische MB gegenüber allen anderen regionalen Zweigen eine führende Rolle ein. Nach der Abspaltung militanter Gruppierungen verzichtet die (ägyptische) MB seit Ende der 1970er-Jahre grundsätzlich auf die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Dieser Gewaltverzicht gilt jedoch nicht für die von ihr propagierte Befreiung Palästinas und somit im Kampf gegen Israel. Dieser wird insbesondere von der HAMAS, dem palästinensischen Zweig der MB, geführt. In Nordrhein-Westfalen ist das Ziel der hiesigen Vertreter der MB zunächst, die Bestrebungen der Organisation in den islamisch geprägten Ländern zu unterstützen. Darüber hinaus wird die Deutungshoheit über den Islam in Deutschland angestrebt. Um diese Ziele zu erreichen, geht die MB entsprechend moderat vor. Erkenntnisse über das organisierte Zusammenwirken öffentlicher und nicht öffentlicher MB-naher Strukturen zeigen zudem, dass die MB in Nordrhein-Westfalen vor allem durch die DMG repräsentiert wird. Finanzierung Spenden sowie wirtschaftliche Betätigung IslamIsmus 263 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die MB ist der Ursprung des modernen politischen Islam, einer extremistischen Ideologie, die auch als Islamismus bezeichnet wird. Kernaussage und -forderung des Islamismus ist, dass die politische Herrschaft nur Gott zustehe und der Mensch diese nur als sein Stellvertreter oder Sachwalter auszuüben habe. Dabei müsse der Mensch sich an die von Gott herabgesandten Offenbarungen und die darin gegebenen Bestimmungen halten. Diese finde man im Koran und der Sunna, dem Brauch des Propheten Muhammad. Die MB verfolgt das Ziel, in islamisch geprägten Staaten ein Regierungssystem auf der Grundlage der Scharia einzuführen. Eine säkulare demokratische Verfassungsordnung wird allenfalls als Möglichkeit angenommen, den Übergang zu einer islamischen Ordnung gewaltlos zu gestalten. Dazu wird eine Strategie der "Islamisierung von unten" verfolgt, die zunächst das Individuum anspricht und auf einen Bewusstseinswandel hin zu einem durch die Religion geprägten Leben abzielt. Die derart geschulten Einzelpersonen sollen dann in die Gesellschaft hineinwirken und dafür Sorge tragen, dass sich diese auf lange Sicht dem Gedankengut der MB annähert oder zumindest gewisse Freiräume für die Ideologie der Bewegung entstehen. Nach Auffassung der MB sind die staatliche Ordnung und die Rechtsprechung gemäß der islamischen Rechtsund Lebensordnung, der Scharia, aufzubauen. Diese gründet sich auf Koran und Sunna. In dieser Ordnung kann das Volk zwar am politischen Meinungsbildungsprozess teilhaben, was demokratische Elemente innerhalb der islamischen Ordnung möglich machen würde, aber der Rahmen des politisch Möglichen wäre zwingend durch die Offenbarung Gottes und der daraus entwickelten Scharia gesetzt. In dieser von der MB so bezeichneten "islamischen Ordnung" wäre also Gott der Souverän, nicht das Volk. Dies widerspricht im Grundsatz dem Gedanken der Volkssouveränität und der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Hiesige Vertreter der MB äußern sich in der Regel nicht eindeutig extremistisch. Stattdessen stellen sich die MB-nahen Vereine als religiöse islamische Organisationen dar, die für das Recht der Muslime auf Teilhabe in der Gesellschaft eintreten. Dabei vertritt die MB nach eigenem Verständnis einen "Islam der Mitte". Dieser grenzt sich einerseits vom religiösen Fundamentalismus und andererseits von einem liberalen, westlichen Islam ab. In ideologischer Hinsicht steht er zwischen einem militanten salafistischen Jihadismus und einem säkularen Islamverständnis. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass sich auch dieser "Mittelweg" eindeutig am klassischen Konzept von Scharia orientiert, damit Widersprüche zur freiheitlichen demokratischen Grund264 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 ordnung aufweist und somit selbst als extremistisch zu bewerten ist. Die MB fühlt sich nach wie vor einem ganzheitlichen Religionsverständnis verpflichtet. Demzufolge sollte der Glaube alle Lebensbereiche regeln, wozu auch die politische und gesellschaftliche Ordnung zählen. Deshalb unterliegt sie nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW als extremistische Bestrebung der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Das Jahr 2023 war für die MB in Nordrhein-Westfalen und vor allem auf internationaler Ebene ein schwieriges Jahr. So wurde der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wiedergewählt und intensivierte seine Annäherungsbemühungen an die arabischen Länder. Im Mai 2023 einigten sich Erdogan und der ägyptische Präsident Abdel Fattah el-Sisi auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Zuvor galt das Verhältnis zwischen der Türkei und Ägypten als angespannt, da die Türkei unterstützend an der Seite der MB stand. Im Juni 2023 verweigerte die Türkei außerdem einem prominenten ägyptischen Prediger und Muslimbruder die türkische Staatsbürgerschaft. Der zu dem Zeitpunkt seit neun Jahren in der Türkei lebende Muslimbruder veröffentlichte daraufhin ein Video, in dem er die Suche nach einem neuen Land, das ihn beherbergen könnte, bekannt gab. Auch Katar distanzierte sich von der MB. Das Land forderte ebenfalls im Juni 2023 etwa einhundert ägyptische Staatsangehörige, die in Katar leben und Anhänger der MB sind auf, den Staat zu verlassen. Diese Aufforderung folgte der diplomatischen Annäherung zwischen Doha und Kairo. Die Beziehung zwischen den beiden Ländern war seit dem Jahr 2013 angespannt, da in diesem Jahr der MB-nahe ägyptische Präsident gestürzt wurde, woraufhin Katar zahlreichen ägyptischen Muslimbrüdern ein Exil bot. Darüber hinaus konnte der Machtkampf innerhalb der MB im Jahr 2023 nicht beigelegt werden. Der innere Disput entstand nach der Inhaftierung des formalen Führers der MB, Muhammad Badie, durch die ägyptischen Sicherheitskräfte im August 2013. Seitdem rivalisieren zwei Fraktionen der MB, von denen eine in London, die andere in Istanbul, ansässig ist. Im August 2023 griff der in Haft befindliche oberste MB-Führer Badie in den Konflikt ein und ließ verlautbaren, dass er nach wie vor Führer der MB sei und dies bis zu seinem Tode oder einer Abberufung durch die Organisation bleiben werde, der Führer des Flügels in London aber sein aktueller Vertreter sei. IslamIsmus 265 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Auch in Deutschland gab es Rückschläge für die MB. Aufgrund der Berichterstattung des Verfassungsschutzes und wachsender öffentlicher Kritik im Jahr 2019 wurde seitens des Zentralrats der Muslime (ZMD) die Mitgliedschaft der DMG ruhend gestellt und eine juristische Klärung der Vorwürfe durch die DMG gefordert. Aufgrund der Nennung im Verfassungsschutzbericht reichte die DMG eine Klage gegen das Bundesinnenministerium ein, zog diese aber im Jahr 2021 wegen mangelnder Erfolgsaussichten zurück. Im Januar 2022 schloss der ZMD daraufhin die DMG aus. Auch bei den Vorstandswahlen im September 2022 verloren Personen mit entsprechenden Bezügen zur MB ihr Amt. Auf Landesebene wird sich diese Entwicklung wahrscheinlich verzögert abbilden. Der ZMD-Landesverband Nordrhein-Westfalen klagte gegen das Schulministerium, weil dieses ihm aufgrund seiner Verbindungen zu islamischen Organisationen mit verfassungsfeindlichen Tendenzen die Mitwirkung an der Kommission für den islamischen Religionsunterricht verweigert hatte. Die Klage zog der Verband kurz vor Beginn der mündlichen Verhandlung im Mai 2023 zurück und kündigte eine inhaltliche und personelle Neuausrichtung an. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die MB sieht sich aktuell mit großen Herausforderungen konfrontiert, auf die sie noch keine adäquaten Antworten gefunden hat. Während sie intern weiterhin mit Differenzen und Führungsstreitigkeiten zu kämpfen hat, sieht sie sich zugleich starkem Druck von außen ausgesetzt. Im Inland wird dieser Druck durch die Berichterstattung des Verfassungsschutzes ausgeübt, der zu einem zunehmenden gesellschaftlichen Bewusstsein bezüglich der Problematik der Organisation führt. Die internationale MB ist insbesondere mit internen Differenzen befasst. Seit dem Jahr 2021 ringen führende Funktionäre der MB in der Türkei mit jenen, die in Großbritannien ansässig sind, um die Leitung der Organisation. Der Ausgang dieses Konflikts ist noch nicht entschieden, allerdings scheint sich gegenwärtig die in London ansässige Gruppe in der besseren Position zu befinden und auch den Rückhalt der in Ägypten inhaftierten Führung zu genießen. Es bleibt abzuwarten, ob die sich andeutende geographische Schwerpunktverlagerung der MB auch inhaltlich auswirkt. Die MB stellt aber weiterhin eine ernstzunehmende Herausforderung für die muslimische Gemeinschaft in Deutschland dar, weil sie über erhebliche ökonomische und intellektuelle Kapazitäten verfügt, die es ihr ermöglichen, ihr Gedankengut unter hiesigen Muslimen zu verbreiten. 266 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 An der Basis ist zudem erkennbar, dass die MB von den äußeren Widrigkeiten und den Spannungen in der Führungsebene der Organisation weitgehend unbeeindruckt ist und weiter nach den bekannten Mustern agiert. IslamIsmus 267 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Milli Görüs-Bewegung Sitz/Verbreitung Türkei/Deutschland Gründung/Bestehen seit Entstehung 1969, Gründung als Milli Nizam Partei (MNP) 1970 Struktur/ Repräsentanz Parteistrukturen der Saadet Partisi (SP) mit Europazentrale in Duisburg. Darüber hinaus weitere Organisationen, die im Rahmen der Milli Görüs-Bewegung extremistisch in Erscheinung treten: Erbakan Vakfi (Erbakan Stiftung - EV) mit ihrem politischen Ableger Yeni Refah Partisi (YRP), Sultan-Fatih-Jugend Bielefeld (Sultan Fatih Genclik Bielefeld - BSFG), Ismail Aga Cemaati (IAC) Mitglieder/Anhänger/ 250 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Mehrere Web-Angebote, Tageszeitung Milli Gazete Kurzporträt/Ziele Die ideologischen Wurzeln der Milli Görüs-Bewegung (MGB) gehen zurück auf den am 27. Februar 2011 verstorbenen türkischen Politiker und ehemaligen Ministerpräsidenten der Türkei Prof. Dr. Necmettin Erbakan. Die Kern-Gedanken dieser Ideologie sind die Schlüsselbegriffe Milli Görüs (Nationale Sicht) und Adil Düzen (Gerechte Ordnung). Sowohl in der Türkei als auch in Deutschland besteht die MGB aus mehreren Komponenten, die von einer gemeinsamen ideologisch-religiösen Ausrichtung und der ideellen Bindung an den türkischen Politiker Necmettin Erbakan zusammengehalten werden. 268 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Obgleich alle Vereinigungen der MGB für sich gesehen selbstständig und unabhängig voneinander agieren, ist die verfassungsfeindliche Milli Görüs-Ideologie, wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung, das sie alle einigende Band. Ab 2013 etablierten sich in Deutschland neue Strukturen der Milli Görüs-Bewegung in Form von Organisationen, die einen Schwerpunkt auf die politischen Aspekte der Ideologie legen und damit im Gegensatz zu eher religiös ausgerichteten Strukturen stehen. Dies sind insbesondere die Saadet Partisi (SP), die Erbakan-Stiftung sowie die Ismail Aga Cemaati (IAC). Seit den Parlamentswahlen 2018 ist die SP durch eine Bündnisliste mit zwei Abgeordneten im türkischen Parlament vertreten. Finanzierung Spenden und Mitgliedsbeiträge Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit In seinen ideologischen Vorstellungen ging Erbakan von zwei politischen Ordnungen aus, einer von Menschen geschaffenen "nichtigen Ordnung" (Batil Düzen) und einer von Gott geoffenbarten "gerechten Ordnung" (Adil Düzen). Das erste Ziel der Mission von Milli Görüs ist die Durchsetzung der "gerechten Ordnung" in der Türkei. Die "islamische Zivilisation" solle die "westliche Zivilisation" in der Vorherrschaft ablösen, um anschließend die Mission in die Welt hinauszutragen. Trotz eines zum Teil martialischen Vokabulars hat die Milli Görüs-Bewegung innerhalb und außerhalb der Türkei ihre Ziele stets ausschließlich mit politischen Mitteln verfolgt und vollkommen auf Gewalt verzichtet. Die Umsetzung des Adil Düzen-Konzepts als Ziel der politischen Bewegung Milli Görüs ist mit den Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar, da eben diese überwunden werden soll. Darüber hinaus treten antisemitische Einstellungen sowohl in der Schrift Adil Düzen als auch bei Äußerungen Necmettin Erbakans und einiger Milli Görüs-Funktionäre deutlich zu Tage. IslamIsmus 269 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Milli Görüs-Bewegung unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Nachdem die SP ihre neue "Europazentrale" in Duisburg eröffnet hat, fanden dort regelmäßige Versammlungen statt. Die Online-Veranstaltungen aus den Jahren der Pandemie haben hingegen abgenommen, bleiben jedoch Bestandteil der Kooperation der Mitglieder aus dem Bundesgebiet. Nach den vermehrten Aktivitäten im Rahmen von Wahlkampfvorbereitungen Ende 2022 traten die "Partei der Glückseligkeit" SP und die "Neue Wohlfahrtspartei" Yeniden Refah Partisi (YRP) in verschiedenen Wahlbündnissen bei den ParlaTreffen von Wahlhelfern, dokumentiert auf Facebook mentswahlen im Mai 2023 in der Türkei an. Während sich die YRP der "Volksallianz" um die regierende AKP anschloss, war die SP Teil des oppositionellen und programmatisch vornehmlich säkular zu verortenden "Bündnisses der Nation". Hinsichtlich der Positionierung der SP nach dem Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 hat der Präsident der SP in Europa geäußert, dass Israel sich an die Entscheidung der Vereinten Nationen halten und sich aus dem besetzten Land zurückziehen sollte. Die Beiträge der SP und von deren Parteivorsitzenden zeigen eine deutlich pro-palästinische Haltung. Ebenso werden Deutschland und die übrigen westlichen Länder für die Unterstützung Israels kritisiert und aufgrund dessen Sanktionen gefordert. Eine differenzierte Betrachtung des Nahost-Konfliktes beziehungsweise eine Auseinandersetzung mit den Angriffen der HAMAS findet nicht statt. 270 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die SP befindet sich trotz der gemeinsamen Wurzeln in der Milli Görüs-Bewegung nach der türkischen Parlamentswahl 2023 wie auch schon in den Jahren zuvor in Opposition zur türkischen Regierungspartei und vertritt damit nur noch eine Minderheit der Milli Görüs-Anhänger in politischer Hinsicht. Auch wenn die SP sich in Deutschland mittlerweile auf niedrigem Niveau etabliert hat, wird sich die Organisation in Zukunft stärker dem Generationswechsel und somit ihrem Mitgliedererhalt widmen müssen. Die Aktivitäten in ihren Regionalund Ortsverbänden variieren stark. Einige organisieren ein vielfältiges Programm und richten kontinuierlich Veranstaltungen aus, andere sind nur sporadisch aktiv. Angesichts einer sich abzeichnenden Überalterung ist derzeit offen, ob einem drohenden Mitgliederschwund entgegengesteuert werden kann. Seitens der YRP wurde bisher keine Betätigung im Bundesgebiet bekannt. Für die Zukunft wäre denkbar, dass auch diese Partei sich um das potenzielle Wählerpotenzial in Deutschland bemüht und dementsprechend Strukturen aufbaut. Die Aktivitäten der Mitglieder der Ismail Aga Cemaati finden üblicherweise nicht öffentlich statt. Diese dienen der Vermittlung einer extremistischen Religionsauslegung. IslamIsmus 271 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Türkische Hizbullah (TH) Sitz/Verbreitung Türkei Gründung/Bestehen seit 1979 in Diyarbakir Struktur/ Repräsentanz Mehrere Gemeinden in NRW, die sich jedoch nicht offen zur TH bekennen. In der Türkei steht die Hür Dava Partisi der TH nahe. Mitglieder/Anhänger/ 30\ Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Publikationen: Inzar Dergisi (Warnung), Dogru Haber (Richtige Nachricht), mehrere Web-Angebote Kurzporträt/Ziele Anfang der 1980er-Jahre bildeten sich unter sunnitischen Kurden in der Türkei Gruppierungen heraus, die für die Errichtung einer auf strikter Befolgung von Koran und Scharia gegründeten, von ihnen so bezeichneten "islamischen Herrschaft" eintraten und sich gegen den säkularen türkischen Staat wandten. Aus einer dieser Gruppierungen entwickelte sich die Hizbullah (Partei Gottes). Diese wendete vor allem seit Beginn der 1990er-Jahre Gewalt gegen interne Abweichler, gegen die kurdische Separatistenorganisation Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), gegen liberale Journalisten und gegen Vertreter des türkischen Staates an, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Im Januar 2000 wurde Hüseyin Velioglu, der Anführer der sogenannten Türkischen Hizbullah (TH), in Istanbul bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet. 272 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Dieser Vorfall und weitere Exekutivmaßnahmen der türkischen Strafverfolgungsbehörden führten zu einer empfindlichen Schwächung der Hizbullah. Dabei wurden mehrere Funktionäre der Organisation und zahlreiche Mitglieder festgenommen und inhaftiert. Zugleich wurde aus Papieren und Videoaufzeichnungen deutlich, in welch großem Ausmaß die Organisation Entführungen, Morde und andere Gewalttaten verübt hatte. Zahlreiche Aktivisten der TH setzten sich daraufhin nach Europa und insbesondere nach Deutschland ab. Im Januar 2012 veröffentlichten TH-nahe Internetseiten ein Manifest, das die Gruppe auf eine neue ideologische Grundlage stellte. Darin wird unter anderem klargestellt, dass man die anvisierten Ziele nur noch gewaltfrei und auf legalem Wege erreichen wolle. Diese sind aber immer noch eindeutig islamistisch und richten sich gegen eine säkulare Ordnung. Im Mai 2022 wurden auf einer TH-nahen Website Erklärungen zu diesem Manifest veröffentlicht, die verdeutlichen, dass dieses nach wie vor für die Bewegung von Relevanz ist. In ihrer Zielsetzung verbindet die Türkische Hizbullah eine islamistische mit einer kurdisch-nationalen Agenda Seit den Parlamentswahlen 2018 ist die SP durch eine Bündnisliste mit zwei Abgeordneten im türkischen Parlament vertreten. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Aus dem Manifest der TH geht hervor, dass das zentrale Ziel der TH nach wie vor die Errichtung einer auf Koran und Sunna sowie der Scharia basierenden islamischen Ordnung ist. Diese Ideologie steht im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und ist damit gegen dieselbe gerichtet. Regierungen und Staaten, die IslamIsmus 273 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 dem Islam nicht im - aus Sicht der TH - gebotenen Umfang Geltung verschaffen, gehören zum Feindbild. Die TH unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bei den Präsidents-und Parlamentswahlen im Mai 2023 in der Türkei gelang der kurdisch-geprägten islamistischen "Partei der freien Sache" (Hür Dava Partisi) als Teil des Wahlbündnisses der "Volksallianz", dem auch die Regierungspartei AKP angehört, der Einzug ins Parlament. Die der TH nahestehende Partei erlangte über die Listen der AKP drei Abgeordnetensitze. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass nach der Erklärung zur Unterstützung der Regierungspartei AKP nach und nach verurteilte Mitglieder der TH aus der Haft entlassen wurden. Als Kurzform von Hür Dava Partisi wird im Logo der Partei und anderen Zusammenhängen gern die Bezeichnung Hüda Par verwendet. Hüda ist im Türkischen/Persischen auch eine Bezeichnung für Gott, so dass Hüda Par als "Gottespartei" zu verstehen ist. Dies wiederum entspricht der arabischen Bezeichnung "Hizbullah", wodurch der Bezug von Partei zur Türkischen Hizbullah hergestellt wird. Beim jährlich wiederkehrenden Gedenken an das "Martyrium" ihres Gründers Hüseyin Velioglu wurde im Januar 2023 insbesondere die Bedeutung der al-Aqsa Moschee thematisiert und auf die Notwendigkeit des Gebets für die palästinensisch-muslimischen Brüder hingewiesen. Darüber hinaus wurde die Notwendigkeit zur Bereitschaft zur Solidarität und Hilfe betont, da diese unabdingbar sei, um die Beendigung der Besetzung palästinensischer Gebiete durch das "zionistische Regime" herbeizuführen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick In Nordrhein-Westfalen konzentriert sich die TH vorwiegend auf Spendensammelkampagnen und religiöse Veranstaltungen. Die Anhängerinnen und Anhänger der TH in Deutschland organisieren sich in lokalen Vereinen und Moscheen. Ein direkter Bezug zur Organisation wird sowohl von den hiesigen Anhängerinnen und Anhängern als auch von TH-nahen Moscheen und Vereinen vermieden. Eine ideologische Nähe lässt sich allerdings durch entsprechende Veranstaltungen feststellen. 274 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Eine Motivation zur Abkehr von ihrer politischen Zielsetzung oder von ihrem konspirativen Verhalten ist nach wie vor nicht zu erkennen. IslamIsmus 275 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Furkan-Gemeinschaft Sitz/Verbreitung Zentrale: Adana (Türkei) Deutschland: Zentren in Dortmund, Hamburg, Berlin, Frankfurt und München Gründung/Bestehen seit 1994 Gründung der Furkan Vakfi (Furkan Stiftung) in der Türkei, in Nordrhein-Westfalen seit 2011 vertreten, 2015 Gründung des Furkan Kulturund Bildungszentrums e.V. in Dortmund Struktur/ Repräsentanz Regionale Vertretungen in Deutschland, hierarchische Gliederung mit Alparslan Kuytul als Gründer an der Spitze Mitglieder/Anhänger/ 70\ Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Zeitschrift Furkan Nesli Dergisi (Magazin der Generation Furkan), Verbreitung von Inhalten über die eigene Internetpräsenz, über Videoplattformen und in sozialen Netzwerken (FurkanTV) Kurzporträt/Ziele Die Furkan Stiftung für Bildung und Dienst (Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) - auch als Furkan-Gemeinschaft bezeichnet - wurde durch Alparslan Kuytul gegründet, der bis heute als charismatische Führungsfigur agiert. Die Organisation verfolgt das Ziel, die "Islamische Zivilisation" - hier ein Synonym für Staatsund Gesellschaftsordnungen - durchzusetzen. Zur Umsetzung bemüht sich die Bewegung um eine Stärkung der Ummah (Gemeinschaft der Muslime) sowie um die Ausbildung und Schulung einer Vorreiter-Generation (Öncü Nesil). Sie soll als gesellschaftliche Avantgarde auf dieses Ziel hinwirken. 276 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zentrum der Furkan-Gemeinschaft ist Adana (Türkei), der Wohnort Kuytuls. Die Furkan-Gemeinschaft hat Ableger in zahlreichen Städten der Türkei und in Europa, darunter auch Deutschland. Bei der in Nordrhein-Westfalen befindlichen Furkan-Gemeinschaft handelt es sich um einen Verein mit Sitz in Dortmund und Kleingruppen im Umland. Die Anhänger finden sich regelmäßig zu religiösen Unterrichtsveranstaltungen zusammen. Diese gibt es auch für Kinder und Jugendliche. Männer und Frauen werden hierbei getrennt unterrichtet. Die Furkan-Gemeinschaft stellt hohe Anforderungen an ihre einzelnen Mitglieder und bindet diese sehr stark ein. Dadurch weist sie einen beinahe sektenartigen Charakter auf. Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden, Eintrittsgelder, Erlöse aus Veranstaltungen Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Anhänger der Furkan-Gemeinschaft orientieren sich auch in Deutschland vor allem an den Lehren Kuytuls. Ein zentrales Anliegen ist für ihn die Rückkehr zu einer "Islamischen Zivilisation". Diese soll sich ausschließlich an Koran und Sunna (prophetische Tradition) orientieren und Gott das ihm zustehende Recht zur Herrschaft einräumen. Die Furkan-Gemeinschaft geht davon aus, dass die Demokratie die Rechte Gottes vereinnahme und die Teilhabe am politischen Prozess zu Kompromissen zwinge, die im Widerspruch zu Gottes Gesetzen stünden. Solche Kompromisse dürften nach Kuytuls Verständnis jedoch keinesfalls eingegangen werden. Aus dieser Auffassung resultiert eine prinzipielle Ablehnung der Demokratie, die sich auch im Verbot der Teilnahme an Wahlen widerspiegelt. Dieses politische Religionsverständnis lehnt demnach die Herrschaft des Volkes, also die Demokratie, ab und strebt eine Herrschaft Gottes an, die auf der Scharia basieren soll. Somit stellt die Furkan-Gemeinschaft eine islamistische Bestrebung gegen die IslamIsmus 277 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 freiheitliche demokratische Grundordnung dar und unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Furkan-Gemeinschaft hat im Jahr 2023 ihre Aktivitäten intensiviert. Die bereits im Jahr 2022 nach der Verhaftung einiger Furkan-Mitglieder in der Türkei und ihres Anführers Alparslan Kuytul durchgeführten Demonstrationen wurden in diesem Jahr fortgesetzt. Ende Januar 2023 wurde Kuytul vom Strafgericht in Adana/Türkei freigesprochen. Er blieb jedoch noch bis Juni 2023 in Haft. Nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien im Februar 2023 war die Furkan-Gemeinschaft in Deutschland und in der Türkei sehr aktiv, zumal auch die Stadt Adana betroffen war, wo sich der Hauptsitz der Organisation befindet. Es wurden Spenden gesammelt und Hilfslieferungen wurden durchgeführt. Anfang April 2023 fand die jährliche Großveranstaltung der Furkan-Gemeinschaft während des Ramadan in Dortmund und somit erneut in Nordrhein-Westfalen statt. Die Besucher kamen aus dem gesamten Bundesgebiet und dem angrenzenden Ausland. Die mehrstündige Veranstaltung wurde geschlechtergetrennt in einer Veranstaltungshalle ausgerichtet. Die Organisation nutzt weiterhin intensiv soziale Medien, um ihre Inhalte zu verbreiten und ihre Mitglieder an sich zu binden. Über Werbung in den sozialen Medien versucht die Gemeinschaft neue Mitglieder, insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene, zu gewinnen. Dies geschieht zum Beispiel durch Koranunterricht, Bücherclubs, Arabischsprachkurse, Veranstaltungen für Studenten sowie Jugendcamps mit religiösem Unterricht und gemeinsamen Freizeitaktivitäten. Zuletzt konnte beobachtet werden, dass die Furkan-nahe Organisation Muslimstudents zu Beginn des Wintersemesters im Oktober 2023 Neuankömmlinge durch Informationsstände in ihre Veranstaltungen lockte. Eine Zugehörigkeit zur Furkan-Gemeinschaft ist für Außenstehende mangels Logo oder Auskunft der Anwerber nicht direkt erkennbar. Die zunächst unverfänglichen Unterrichte dienen jedoch nach einer Zeit des Kennenlernens und der Einführung dazu, neue Mitglieder für die Furkan-Gemeinschaft zu rekrutieren. 278 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Nach den Terroranschlägen gegen den Staat Israel am 7. Oktober 2023 verstärkte die Furkan-Gemeinschaft unmittelbar ihre Demonstrationsaktivitäten und die Präsenz auf den Social-Media-Kanälen. Dort motivieren sie die Mitglieder dazu, kritische Informationen zu "Zionisten und deren Verbündeten" - USA, Europa, der Bundesregierung und den hiesigen Medien - zu verbreiten und sich dadurch an der Propaganda-Kampagne der Organisation zu beteiligen. Eine Auseinandersetzung mit den terroristischen Handlungen der HAMAS findet dabei nicht statt. Stattdessen wird das übliche Opfernarrativ bedient und der Angriffe als Akt der Selbstverteidigung umgedeutet. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die weiterhin intensive Vernetzung mit anderen Furkan-Gruppen im Bundesgebiet und in der Türkei verfestigte sich. Veranstaltungen der verschiedenen Gruppierungen, ein reger Austausch in sozialen Medien untereinander und gegenseitige persönliche Besuche sind fester Bestandteil der hiesigen Aktivitäten der Organisation. Gemeinsame Reisen zur Furkan-Zentrale nach Adana/Türkei zählen zu den Höhepunkten der Aktivitäten der Gemeinschaft in Deutschland. Nach der Freilassung von Alparsan Kuytul ist der seit Jahren herrschende Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der Furkan-Gemeinschaft etwas befriedet. Diese Situation kann sich jedoch bei Kritik seitens Kuytuls am Handeln der türkischen Regierung wieder ändern und könnte erneute Repressalien durch den türkischen Staat nach sich ziehen. Dies würde auch die Anhänger in Deutschland wieder stärker emotionalisieren. Die nahezu sektenartige strukturierte Furkan-Gemeinschaft bietet ihren Mitgliedern tägliche Angebote in Nordrhein-Westfalen bei realen Gruppentreffen oder auch online. Die Furkan-Gemeinschaft zielt darauf, Personen nahezu vollständig zu vereinnahmen. Dies entspricht dem Selbstverständnis als "Vorreiter-Generation", die auf die Realisierung der "islamischen Zivilisation" hinwirkt. Die Zahl der Anhänger der Furkan-Gemeinschaft blieb im Berichtszeitraum weitgehend konstant, es war lediglich ein minimaler Rückgang zu verzeichnen. Die sektenartige Struktur und die hohen Ansprüche an die Mitglieder wirken offensichtlich auf einige Interessenten abschreckend. Allerdings war erkennbar, dass die Furkan-Gemeinschaft durch ihr Engagement im Rahmen der pro-palästinensischen Demonstrationen neue Kontakte knüpfen konnte. Hier bleibt abzuwarten, ob es der Gruppierung gelingt, aus diesem Personenpool neue Mitglieder zu rekrutieren. IslamIsmus 279 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 280 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Scientology Organisation (SO) scIentology organIsatIon (so) 281 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Scientology Organisation (SO) Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y Sitz/Verbreitung Zentrale in Los Angeles (USA), Repräsentanzen in Deutschland unter anderem in Berlin, Hamburg, München, Hannover, Frankfurt am Main, Stuttgart und Düsseldorf (Niederlassung des Scientology Kirche Düsseldorf e.V. und Repräsentanz des Celebrity Centre Rheinland Scientology Kirche e.V.) Gründung/Bestehen seit Gründung der Church of Scientology im Jahr 1953 durch Lafayette Ronald Hubbard (auch L. Ron Hubbard oder LRH) in den USA, Niederlassungen in Deutschland seit den 1970er Jahren Struktur/ Repräsentanz Die SO ist streng hierarchisch organisiert. Nachfolger des 1986 verstorbenen Gründers L. Ron Hubbard ist David Miscavige, der die Organisation bis heute als Vorsitzender des Religious Technology Centers (RTC) steuert. 282 scIentology organIsatIon (so) Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Repräsentanzen in Deutschland gliedern sich in sieben sogenannte Kirchen (Orgs), mehrere kleinere Missionen und zwei Celebrity Centres in München und Düsseldorf. Letztere sollen insbesondere prominente Persönlichkeiten für die SO gewinnen. Missionen unterscheiden sich von den Orgs im Wesentlichen darin, dass hier nur grundlegende Dienstleistungen angeboten werden. Große, repräsentative Orgs mit überregionaler Bedeutung werden als Ideale Orgs bezeichnet. Sie sollen möglichst alle Dienstleistungen unter einem Dach anbieten. In Deutschland befinden sich Ideale Orgs in Berlin, Hamburg und Stuttgart. Die SO bezeichnet sich selbst als Kirche. In Deutschland ist sie jedoch als solche nicht anerkannt. Die Orgs sind daher als eingetragene Vereine (e.V.) organisiert, auch wenn sie den rechtlich nicht geschützten Begriff Kirche zum Bestandteil ihrer Vereinsnamen gemacht haben Mitglieder/Anhänger/ Etwa 350 Unterstützer 2023 Veröffentlichungen Internationale Zeitschriften: Impact, Scientology News, Celebrity, Source, Freewinds, OT-Universe, The Auditor und Advance Deutschsprachige Zeitschriften: Freiheit und Kompetenz Diverse durch New Era Publications verlegte Sachbücher und Romane von L. Ron Hubbard Broschüre "Der Weg zum Glücklichsein" scIentology organIsatIon (so) 283 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kurzporträt/Ziele Die Ziele der SO basieren auf den bis heute verbindlichen Lehren ihres Gründers L. Ron Hubbard, insbesondere auf seinem 1950 veröffentlichten Grundlagenwerk Dianetik. Sie strebt eine scientologische Gesellschaft an, in der an die Stelle des Demokratieprinzips und der Grundrechte ein auf der bedingungslosen Unterordnung des Einzelnen beruhendes, totalitäres Herrschaftssystem unter scientologischer Führung tritt. Die SO agiert häufig verborgen unter dem Deckmantel einer ihrer zahlreichen Nebenund Tarnorganisationen oder Kampagnen, deren Zugehörigkeit zur SO auf den ersten Blick meist nicht erkennbar ist. Beispiele hierfür sind: > Der Weg zum Glücklichsein (The Way To Happiness), > Sag NEIN zu Drogen, sag JA zum Leben (deutscher Ableger der Foundation for a drug-free world), > Jugend für Menschenrechte (Youth for Human Rights), > Foundation for a drug-free world (Kampagne gegen Drogenmissbrauch), > Narconon (Organisation zur Rehabilitation von Suchtkranken), > Criminon (Verein zur Resozialisierung von Strafgefangenen), > Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM), auf internationaler Ebene: Citizens Commission On Human Rights (CCHR). 284 scIentology organIsatIon (so) Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Weiterhin versucht die SO, ihre Einflussmöglichkeiten durch Unterwanderung der Wirtschaft zu vergrößern. Hierzu nutzt sie den eigenen Wirtschaftsverband World Institute of Scientology Enterprises (WISE). Der SO zugehörige Wirtschaftsunternehmen sind häufig dem Immobiliensektor oder der Beratungsbranche zuzurechnen. Bekannt sind aber auch Einrichtungen, die Dienstleistungen auf dem Nachhilfemarkt anbieten und sich damit gezielt an junge Menschen richten. Diese sind oft daran zu erkennen, dass sie Lerntechniken von Applied Scholastics anwenden. Applied Scholastics ist Teil der Association for Better Living and Education (ABLE), einer Nebenorganisation der SO. Finanzierung Kostenpflichtige Kurse und Vertrieb entsprechender Kursmaterialien; daneben wird regelmäßig Druck auf die Mitglieder ausgeübt, teils erhebliche Geldbeträge an die SO zu spenden. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die SO als gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebung ist seit 1997 Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. In Nordrhein-Westfalen erfolgt die Beobachtung auf der Grundlage des SS 3 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen. Die SO teilt die Gesellschaft in Nichtabberierte und Abberierte (Nicht-Scientologen) auf. Letztere sind nach ihren Vorstellungen in einzelnen Rechten einzuschränken. Diese Einschränkungen betreffen wesentliche Grundund Menschenrechte wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung, zudem wird eine Gesellschaft ohne allgemeine und gleiche Wahlen angestrebt. Zur Erreichung ihrer Ziele versucht die Organisation, Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu nehmen. Mit der Entscheidung des OVG Münster vom 12. Februar 2008 ist die Rechtmäßigkeit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz festgestellt worden. Das Gericht bestätigte die Auffassung des Verfassungsschutzes, dass die Lehre der Scientology scIentology organIsatIon (so) 285 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kirche Deutschland e.V. (SKD) und der Scientology Kirche Berlin e.V. (SKB) eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellt. Nach wie vor bilden die Schriften des Gründers L. Ron Hubbard die Grundlage für die SO zur Schaffung einer Gesellschaft nach scientologischen Vorstellungen. Sie werden von der SO in Deutschland auch weiterhin in großem Umfang verbreitet. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Zahl der Mitglieder in Nordrhein-Westfalen stagniert seit einigen Jahren auf einem im Vergleich zu früheren Zeiten überschaubaren Niveau. Die SO ist jedoch bemüht, ihr Image aufzubessern, sich insbesondere in den sozialen Medien nahbarer zu präsentieren und neue Mitglieder zu gewinnen. Wie in den Vorjahren wurden auch im Jahr 2023 zahlreiche Fälle bekannt, in denen Druckerzeugnisse der oben genannten SO-Tarnorganisationen in Briefkästen nordrhein-westfälischer Bürgerinnen und Bürger eingeworfen wurden, um Erstkontakte mit potenziellen Neumitgliedern herzustellen. Dass es sich bei den Materialien um Erzeugnisse der SO handelt, ist oftmals nicht oder nur schwer erkennbar. Beispielsweise wurden im Frühjahr Flyer des Düsseldorfer Stadtbüros der SO-Tarnorganisation KVPM verteilt, die keinerlei Hinweise auf eine SO-Urheberschaft beinhalten. Ebenso wirbt die SO in nordrhein-westfälischen Innenstädten an Infoständen oder ihrem "Dianetik-Mobil" unmittelbar um neue Mitglieder. Unter anderem werden Stresstests mit dem "E-Meter" und ein Persönlichkeitstest angeboten. Bei diesem handelt es sich um die "Oxford Capacity Analysis (OCA)", ein von ScientologyDie SO-Tarnorganisation "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" verteile im Frühjahr 2023 Flyer in Düsseldorf, die nicht Funktionären entwickeltes auf eine Urheberschaft Scientologys schließen lassen. Zu sehen sind die Vorderund Rückseite. Testformat ohne wissenschaftlichen Hintergrund, 286 scIentology organIsatIon (so) Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 welches, anders als es der Name suggeriert, keine Bezüge zur Stadt oder der Universität Oxford besitzt. Beide Angebote sind in der Regel kostenlos und dienen ebenfalls in erster Linie dem Zweck, mit Passanten erstmalig ins Gespräch zu kommen. Parallel dazu haben sich einige der während der Corona-Pandemie aus der Not heraus entstandenen digitalen Agitationsformen dauerhaft etabliert. Diese richten sich vornehmlich an eine junge Zielgruppe. Unter anderem werden soziale Medien wie TikTok offensiv durch junge Scientology-Akteure bespielt, was den Aktionsradius der SO erheblich vergrößert. Auch über diesen Aktivitäten steht das Ziel der Rekrutierung neuer Mitglieder. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die 2008 durch das OVG Münster formulierte Gefahreneinschätzung zur SO hat unverändert Bestand. Die SO wendet zur Erreichung ihrer Ziele einerseits altbewährte realweltliche Methoden an, ergänzt diese aber zunehmend auch in nennenswertem Umfang durch digitale Aktivitäten und vergrößert damit ihren Radius beträchtlich. Es wird davon ausgegangen, dass die SO in Nordrhein-Westfalen auch zukünftig alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel nutzen wird, um neue Mitglieder zu gewinnen und zu expandieren. scIentology organIsatIon (so) 287 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 288 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Spionageabwehr und Wirtschaftsschutz spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 289 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zusammenfassung Im Berichtsjahr haben internationale Konflikte erneut die Arbeit der Spionageund Cyberabwehr sowie des Wirtschaftsschutzes maßgeblich geprägt. Der andauernde völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine sowie die fortgesetzte deutliche Positionierung der NATO-Staaten gegen diese Aggression sorgen dafür, dass die von Russland ausgehende Spionagegefahr auf allen Angriffsvektoren auf einem herausgehoben hohen Niveau verbleibt. Neben der klassischen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Spionage betrifft dies unter anderem die von Cyberund Sabotageangriffen ausgehenden Risiken, die Versuche der Einflussnahme auf allen Ebenen sowie zunehmende Proliferationsaktivitäten zur Umgehung der gegen Russland verhängten Sanktionen. Zudem besteht weiterhin das Risiko, dass Russland eigene Interessen im Ausland mit staatsterroristischen Mitteln verfolgt. Zu einer erhöhten nachrichtendienstlichen Bedrohungslage hat darüber hinaus der terroristische Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 geführt. Eskalationen im Rahmen des Nahostkonflikts haben das Potenzial, sich auf die Sicherheitslage in Deutschland und Nordrhein-Westfalen unmittelbar auszuwirken. Für die Spionageund Cyberabwehr ist diesbezüglich vor allem Iran von hoher Bedeutung. Iranische Nachrichtenund Sicherheitsdienste klären bereits seit einigen Jahren (pro-)israelische und (pro-)jüdische Einrichtungen in Deutschland und NRW nachrichtendienstlich auf. Gleichzeitig hat Iran in der jüngeren Vergangenheit in Europa mehrfach unter Beweis gestellt, den Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung der eigenen sicherheitspolitischen Agenda zu betrachten. Aufgrund dieser Bereitschaft, der erklärten Feindschaft zu Israel sowie der Eskalation im Nahostkonflikt besteht für Deutschland und NRW nach Einschätzung der Spionageabwehr ein nochmals erhöhtes Risiko staatsterroristischer Aktivitäten Irans. Über Russland und Iran hinaus verbleibt die sonstige nachrichtendienstliche Bedrohungslage durch ausländische Nachrichtendienste und sonstige geheimdienstlich oder sicherheitsrelevant agierende Strukturen in Nordrhein-Westfalen weiterhin auf einem sehr hohen Niveau. 290 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Bereich der klassischen Spionage interessieren sich ausländische Nachrichtendienste für Haltungen, Verhandlungspositionen und Zielsetzungen politischer Akteure auf Landesund Kommunalebene. Aber auch Behördenmitarbeiter, ihre Zuständigkeiten und ihr Agieren werden in Nordrhein-Westfalen durch nachrichtendienstliche Strukturen in den Blick genommen. Solche Aktivitäten folgen stets dem Interesse, Personen oder Organisationen für die eigene politische Agenda zu vereinnahmen, sie zu beeinflussen oder gar nachrichtendienstlich nutzbare Zugänge zu schaffen. Darüber hinaus sieht sich die nordrhein-westfälische Wirtschaft und Wissenschaft weiterhin einem erheblichen Spionagerisiko ausgesetzt. Die illegitime Einflussnahme ist in den letzten Jahren zu einem wesentlichen Mittel im Kampf um Einfluss und Vorherrschaft im globalen Gefüge geworden. Übergeordnete Ziele solcher Aktivitäten sind die Destabilisierung des jeweiligen Zielstaats und seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen sowie die Schaffung günstiger Voraussetzungen für die Umsetzung der eigenen politischen Ziele. Die Spionageabwehr hat 2023 umfassende Einflussnahmeversuche diverser Staaten auf unterschiedlichsten Feldern in Nordrhein-Westfalen festgestellt. Cyberangriffe sind bei ausländischen Nachrichtendiensten nach wie vor fester Bestandteil ihrer Einsatzmittel. Insbesondere autokratische Staaten verfügen über hochqualifizierte Hackergruppierungen, die nachrichtendienstliche Operationen im Cyberraum durchführen. Zu den Operationszielen der staatlichen Angreifer gehören in Nordrhein-Westfalen wirtschaftliche und politische Spionage, Versuche der Einflussnahme sowie die mutmaßliche Vorbereitung von Sabotage. Der fortlaufende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat in Deutschland die potenzielle Gefährdung im Cyberraum erhöht. Zu den besonderen Gefahren gehören die mögliche Ausbreitung von Schadsoftware über die Ukraine, Aktionen sogenannter Hacktivisten und gezielte Sabotageangriffe. Angesichts der angespannten Bedrohungslage durch Wirtschaftsspionage und Cyberattacken kommt dem präventiven Wirtschaftsschutz weiterhin eine hohe Bedeutung zu. Dazu gehören Sicherheitsberatungen von Unternehmen der geheimschutzbetreuten Wirtschaft. Insbesondere Kritische Infrastrukturen (KRITIS), KRITIS-nahe Unternehmen und Kommunalverwaltungen haben einen hohen Beratungsund Austauschbedarf. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz und die Detektion und Abwehr von Drohnen stellen die Unternehmenssicherheit vor neue Herausforderungen. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 291 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Fokus: Das Gefährdungspotenzial iranischer Nachrichtendienste in Deutschland und NRW Durch den terroristischen Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 sowie die nachfolgende Eskalation im Nahostkonflikt ist auch die Islamische Republik Iran verstärkt in den politischen und medialen Fokus geraten. Allerdings ist der Nahostkonflikt nur ein Beispiel für die vielfältigen, die internationale Sicherheit bedrohenden Aktivitäten iranischer Stellen. Die in Deutschland von iranischen Nachrichtenund Sicherheitsdiensten ausgehende nachrichtendienstliche Bedrohung ist anhaltend hoch und reicht bis zum möglichen Einsatz staatsterroristischer Mittel. Internationale Krisen mit Bezug zu Iran können dabei unmittelbare Auswirkungen auf die hiesige Sicherheitslage haben. Bereits unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 begrüßten Vertreter des iranischen Staates den Terrorangriff der HAMAS mehrfach ausdrücklich in öffentlichen Stellungnahmen. Gleichzeitig wiesen sie eine aktive Beteiligung Irans zurück und bezeichneten die Attacke als "das Werk der Palästinenser selbst". "Wir küssen die Stirn und die Arme der einfallsreichen und intelligenten Designer und der mutigen palästinensischen Jugend, wir sind stolz auf sie" - Reaktion des iranischen Revolutionsführer Ali Chamenei nach dem terroristischen Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 292 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Wenngleich sich eine abschließende Klärung der iranischen Beteiligung an dem Terrorangriff der HAMAS schwierig gestaltet, die zentrale Rolle Teherans im Nahostkonflikt und in der Region insgesamt ist unstrittig. Iran unterstützt Organisationen wie die HAMAS, die libanesische Hisbollah oder die schiitischen Huthi-Rebellen seit vielen Jahren finanziell, logistisch und mit Know-how. Proxy-Strategie zur Ausübung von Druck Einendes Band der von Iran unterstützten Akteure, die Iran als "Achse des Widerstands" bezeichnet, ist zu einem nicht unwesentlichen Teil die Feindschaft zu Israel. Iran wendet dabei eine sogenannte Proxy-Strategie an; die von Iran protegierten Organisationen ermöglichen es Teheran, Druck auf Israel, die USA oder Saudi-Arabien auszuüben und eigene außenund sicherheitspolitische Interessen zu verfolgen, ohne selbst direkt in Konflikte eingreifen zu müssen. Die massive iranische Unterstützung versetzt dabei viele Proxies erst in die Lage, umfangreiche Aktionen umzusetzen und erhöht damit die von diesen Akteuren ausgehende Bedrohung substantiell. Im Zusammenhang mit dem terroristischen Angriff der HAMAS auf Israel teilte Bundeskanzler Scholz in einer Regierungserklärung mit: "Wir haben bisher zwar keine handfesten Belege dafür, dass Iran diesen feigen Angriff der HAMAS konkret und operativ unterstützt hat. Aber uns allen ist klar: Ohne iranische Unterstützung über die letzten Jahre wäre die HAMAS zu diesen [...] Angriffen [...] nicht fähig gewesen." Mindestens ebenso groß ist der Einfluss Teherans auf die Huthi-Rebellen im Jemen und insbesondere die Hisbollah im Libanon. Beide Organisationen tragen durch ihre permanenten Angriffe gegen Israel und aus dortiger Bewertung mit Israel assoziierte Stellen seit dem 7. Oktober 2023 zu einer deutlichen Eskalation des Nahostkonflikts bei. So kommt es insbesondere an der israelisch-libanesischen Grenze immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee. Schwerpunkt der Huthi-Aktivitäten sind ständige Angriffe gegen die internationale Schifffahrt im Roten Meer. Diese wurden so massiv, dass viele Reedereien Ende 2023 das Gebiet sowie die Passage durch den Suez-Kanal unter Inkaufnahme deutlich längerer Seewege mieden. Inzwischen hat sich unter Führung der USA die internationale Militärkoalition "Operation Prosperity Guardian" gebildet, um die Schifffahrt vor Ort zu schützen. In der Folge kam es im Dezember 2023 wiederholt zu Kämpfen zwischen den Huthis und Einheiten dieser Koalition. Grundsätzlich sind in der Islamischen Republik Iran Antisemitismus und die explizite Feindschaft mit den USA, Israel sowie dessen Repräsentanten und exponierten Unterstützern Teil der offiziellen Staatsräson. Aktivitäten Irans gegen Israel manifestieren spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 293 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 sich nicht nur im Nahostkonflikt und in der Region selbst, sondern sind weltweit zu beobachten. Hauptträger solcher Aktivitäten sind die Quds Force, eine auch geheimdienstlich agierende und für Auslandseinsätze zuständige Spezialeinheit der iranischen Revolutionsgarde. Diese ist auch in Deutschland tätig. Konkrete Vorfälle in Deutschland und Nordrhein-Westfalen Nach der iranischen regierungsnahen Nachrichtenagentur Tasnim News Agency hatte bereits im Oktober 2016 ein hochrangiger Offizier der Revolutionsgarde erklärt, die Welt könne sich sicher sein, dass die Revolutionsgarden "bald auch in Amerika und Europa Gestalt annehmen" werden. Im März 2017 verurteilte das Kammergericht Berlin einen 31-jährigen pakistanischen Staatsangehörigen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit. Der Täter hatte mindestens seit Juli 2015 für die Quds Force gearbeitet und unter anderem den damaligen Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) in Berlin gegen Zahlung eines Agentenlohns ausgeforscht. Das spätestens seit diesem Zeitpunkt gestiegene Informationsaufkommen des Spionageabwehrverbunds über Aktivitäten iranischer Dienste gegen entsprechende Ziele befindet sich inzwischen auf einem konstant hohen Niveau. Es könnte aufgrund des aktuellen Nahostkonflikts zudem weiter steigen. Im Zuge des Verfahrens gegen einen Deutsch-Iraner wegen des versuchten Brandanschlags auf die Synagoge in Bochum stellte das OLG Düsseldorf fest, dass die Anschlagsplanung auf eine staatlich iranische Stelle zurückgehe. 294 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Kontinuität derartiger iranischer Aktivitäten verdeutlicht ein Urteil des Oberlandesgericht Düsseldorf vom 19. Dezember 2023. Das OLG verurteilte einen 36-jährigen Deutsch-Iraner wegen Verabredens einer schweren Brandstiftung und versuchter Brandstiftung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten. Nach Feststellungen des Senats verabredete der Angeklagte mit einem Hintermann im Iran einen Brandanschlag auf eine Synagoge in Bochum. Am 19. November 2022 warf er einen Molotow-Cocktail, der eine unmittelbar neben der Synagoge gelegene Schule traf. Zum Hintergrund der Tat stellte der Senat fest, dass die Anschlagsplanung auf eine staatliche iranische Stelle zurückgeht. Zudem berücksichtigte der Senat , dass die Tat geeignet war, Angst und Verunsicherung bei in Deutschland lebenden Juden zu erzeugen. Das Urteil war Ende 2023 noch nicht rechtskräftig. Ein weiterer Fall mit zeitlicher Nähe war nicht Teil des Verfahrens: In der Nacht vom 17. auf den 18. November 2022 wurden durch bisher nicht angeklagte Täter Schüsse auf das Rabbinerhaus der Alten Synagoge in Essen abgegeben. Vor dem Hintergrund der umfassenden iranischen Aktivitäten gegen Israel sowie aus dortiger Sicht mit Israel assoziierte Akteure sind das iranische Nuklearprogramm und das Risiko einer iranischen Atomwaffe zu bewerten. Eine Entspannung oder gar Einigung im Nuklearkonflikt ist derzeit nicht zu erwarten, da Iran wiederholt und stetig gegen Vorgaben des "Joint Comprehensive Plan of Action" (JCPoA) verstößt. Insoweit ist weiterhin mit dem Versuch illegaler Technologiebeschaffungen auch in Deutschland zu rechnen. Die Arbeit der Proliferationsabwehr ist somit ein weiterer wichtiger Baustein bei den Bemühungen zur Eindämmung der von Iran ausgehenden Bedrohung. Resolutes Vorgehen gegen Oppositionelle und Dissidenten Iranische Nachrichtendienste und hier insbesondere der iranische Inund Auslandsnachrichtendienst "Ministry of Information and Security" (MOIS) gehen mit dem gesamten zur Verfügung stehenden Maßnahmenportfolio in Deutschland und Europa gegen Oppositionelle und Dissidenten vor. Die Aktivitäten reichen von klassischen Mitteln der Ausforschung, Unterwanderung und Zersetzung von oppositionellen Strukturen über gezielte Cyberangriffe bis hin zum Einsatz von Gewalt gegen hochrangige und als Staatsfeinde definierte Personen. In den Jahren 2015 und 2017 wurden zwei in den Niederlanden lebende iranische Oppositionelle erschossen. Iran hatte ihnen die Begehung terroristischer Anschläge vorgeworfen. Im Jahr 2019 machte die niederländische Regierung den Iran offiziell für beide Taten verantwortlich. Spätestens seit 2019 führten iranische Nachrichtendienste zudem mehrere Entführungen durch, um Zielpersonen aus dem Ausland in den Iran zu verbringen. Der in Frankreich lebende Oppositionelle Ruhollah Z. wurde durch iranische spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 295 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Sicherheitskräfte unter einem Vorwand in den Irak gelockt und unter maßgeblicher Beteiligung der Revolutionsgarden am 14. Oktober 2019 in den Iran entführt. Dort wurde er am 12. Dezember 2020 hingerichtet. Im Sommer 2020 wurde der deutsch-iranische Staatsangehörige Jamshid S. während einer Geschäftsreise in Dubai entführt und im Iran wegen angeblicher Beteiligung an terroristischen Aktivitäten zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde im April 2023 vom Obersten Gerichtshof in Teheran bestätigt. Das MOIS reklamiert die Operation als großen nachrichtendienstlichen Erfolg für sich. S. wurde dabei im Staatsfernsehen präsentiert und gestand ein, die angeblichen Taten in Iran begangen zu haben. Am 6. Mai 2023 wurde der schwedisch-iranische Staatsbürger Habib C. in Iran hingerichtet, nachdem er im Oktober 2020 während eines Aufenthalts in der Türkei entführt worden war. Auch C. warfen die iranischen Behörden Terrorismus vor. Solche nachrichtendienstlich gesteuerten Entführungen beziehungsweise willkürlichen Festnahmen werden verstärkt durch iranische Stellen eingesetzt, um hochrangiger Zielpersonen habhaft zu werden. Am 4. Februar 2021 verurteilte ein belgisches Gericht einen vormals an der Iranischen Botschaft in Wien als Diplomaten akkreditierten hauptamtlichen MOIS-Mitarbeiter zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren. Er war 2018 auf Basis eines europäischen Haftbefehls in Deutschland festgenommen worden. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte Drahtzieher der Planung eines Sprengstoffanschlags auf den Jahreskongress der oppositionellen Volksmodjahedin Iran-Organisation (MEK) am 30. Juni 2018 in Villepinte bei Paris (Frankreich) war. Hierzu hatte er ein belgisch-iranisches Ehepaar als Agenten geführt und mit der Umsetzung des Anschlags beauftragt. Die Agenten erhielten eine Freiheitsstrafe von 15 beziehungsweise 17 Jahren. Nach dem Prozess sprach die Staatsanwaltschaft von einem historischen Urteil. Es war das erste Mal seit der Islamischen Revolution in Iran im Jahr 1979, dass ein Regierungsmitarbeiter Irans in der EU wegen Planungen eines staatsterroristischen Anschlags vor Gericht stand und verurteilt wurde. Bereits im Mai 2023 wurde der verurteilte iranische Diplomat jedoch gegen einen in Iran inhaftierten belgischen NGO-Mitarbeiter ausgetauscht. 296 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Aufklärung durch iranische Dienste und Cybergruppierungen Die Aktivitäten iranischer Nachrichtenund Sicherheitsdienste gegen Zielpersonen im Ausland sind umfangreich und komplex. Auch unterhalb der Schwelle staatsterroristischer Aktionen finden sehr intensive Aufklärungsaktivitäten insbesondere gegen oppositionelle Akteure statt. Iran nutzt hierbei unter anderem Kontaktaufnahmen und Befragungen bei Reisen von Personen nach Iran. Sie haben das Ziel, diese zu Aufklärungsbereichen abzuschöpfen oder als menschliche Quellen zur Ausspähung und Zersetzung oppositioneller Strukturen zu gewinnen. Vielfach werden jedoch auch Cyberangriffe genutzt. So bildet die Ausforschung und Bekämpfung oppositioneller Organisationen und Personen mutmaßlich einen der Schwerpunkte iranischer Cyber-Akteure. Die durch den Tod einer jungen Iranerin nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei ausgelösten Proteste seit dem 18. September 2022 in Teheran und vielen weiteren Landesteilen haben die Situation weiter verschärft. Verschiedene IT-Sicherheitsdienstleister weisen darauf hin, dass Exil-Oppositionelle weltweit bereits seit mindestens 2022 von mutmaßlich iranischen Cybergruppierungen angegriffen werden. In Iran selbst muss darüber hinaus von staatlichen Maßnahmen zur Informationskontrolle sowie staatlichen Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung ausgegangen werden. Der Verfassungsschutz geht aufgrund seiner Erkenntnisse davon aus, dass eine unter dem Namen Charming Kitten bekannte Gruppierung im Jahr 2023 konkrete Ausspähversuche gegen iranische Personen und Organisationen in Deutschland durchgeführt hat. Eine Aussage zu der genauen physischen Lokation der Gruppierung kann nicht getroffen werden. Zahlreiche und vielfältige Fälschungsund Verschleierungsmöglichkeiten im Internet erschweren die Ermittlung der genauen Ursprungsorte von Cyberangriffen erheblich. Bei der Kampagne geraten zumeist oppositionelle Einzelpersonen in den Fokus der Akteure. Die Täter stimmen ihre Angriffsmethoden gezielt auf die Personen ab und nutzen Methoden der Manipulation, die als Social-Engineering bezeichnet werden. Sie versuchen das Opfer beispielsweise dazu zu verleiten, eine bestimmte Handlung auszuführen, etwa die Zugangsdaten auf einer bestimmten Internetseite einzugeben oder ein Dokument mit Schadsoftware zu öffnen. In einigen Fällen erlangten die Angreifer Zugang zu den E-Mails, Cloud-Speicherlaufwerken, Kontakten und Kalendern der Opfer. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 297 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Schritte der Ausspähung durch iranische Cyber-Akteure Die Angreifenden gehen beispielsweise bei oppositionellen Zielpersonen häufig in den folgenden Schritten vor: > Schritt 1: Recherche im Internet und in den sozialen Medien zu Interessen der Zielperson, zum beruflichen Umfeld und zu Kontaktmöglichkeiten > Schritt 2: Vorbereitung der Kontaktaufnahme beispielsweise durch Einrichtung eines fingierten Online-Profils oder durch Nutzung des Namens einer bekannten Person und Eröffnung von Online-Konten unter falscher Identität (Wahl einer Scheinidentität, bei der der Zielperson eine Kontaktaufnahme nicht ungewöhnlich vorkommen soll) > Schritt 3: Anschreiben der Zielperson mit der Scheinidentität über Messenger oder E- Mail, beispielsweise als Anfrage für einen wissenschaftlichen oder beruflichen Austausch, Versuch im Laufe der weiteren Kommunikation, das Vertrauen der Zielperson zu gewinnen > Schritt 4: Versuch der Ausnutzung des Vertrauens für einen technischen Angriff, beispielsweise Übersendung eines Links für eine fingierte Videokonferenz, Link auf eine scheinbar legitime Webseite, tatsächlich aber Versuch des Abgreifens von Login-Daten des Opfers über die gefälschte Webseite, oder Übermittlung eines Dokuments mit versteckter Schadsoftware, die beim Öffnen der Datei unbemerkt Spionagesoftware installiert > Schritt 5: Zugriff auf vertrauliche Daten der Zielperson, beispielsweise nicht öffentliche Beiträge in sozialen Medien oder Kontakte weiterer Zielpersonen, Aufklärung und Unterwanderung vertraulicher Netzwerke Personen im Visier von Angreifenden sollten gegenüber neuen Kontakten zunächst vorsichtig agieren und versuchen, die fremde Identität zu verifizieren. In einigen Fällen kann ein wirksamer Schutz darin bestehen, den vermeintlichen Gesprächspartner auf einem anderen Kommunikationskanal zu kontaktieren. Im August 2023 warnte das Bundesamt für Verfassungsschutz im Rahmen eines Cyber-Briefs Kritiker des iranischen Regimes vor Cyberangriffen der Gruppierung Charming Kitten. Der Cyber-Brief 01/2023 mit weiteren Empfehlungen ist unter der Überschrift "Schutz von Onlinediensten" auf der Website des Bundesamtes zu finden. 298 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ausblick auf das weitere Gefährdungspotenzial (Pro-)israelische und (pro-)jüdische Akteure sowie iranische Dissidenten und Oppositionelle werden in Deutschland auch weiterhin Ziel iranischer Nachrichtenund Sicherheitsdienste sein. Das entsprechende Gefährdungspotenzial ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen und hat nun ein konstant hohes Niveau erreicht. Im Zuge der Eskalation des Nahostkonflikts kann es noch weiter ansteigen. Iranische Nachrichtendienste nutzen das gesamte Portfolio nachrichtendienstlicher Maßnahmen inklusive gezielter Cyberangriffe zur Aufklärung und Bekämpfung ihrer Zielpersonen. Mitunter können diese Maßnahmen der Vorbereitung staatsterroristischer Aktionen gegen besonders exponierte Akteure dienen. Insbesondere für Personen mit iranischer und deutscher Staatsangehörigkeit sowie deutsche Staatsangehörige besteht bei Reisen in den Iran zudem das erhöhte Risiko, Opfer willkürlicher Festnahmen zu werden. Solche Maßnahmen dienen der Durchsetzung politischer Ziele, um beispielsweise den Austausch gegen im Ausland inhaftierte iranische Staatsbürger zu erreichen. Daneben müssen Personen, die über Zugang zu für iranische Nachrichtendienste möglicherweise interessanten Informationen verfügen, damit rechnen, im Iran umfangreich überwacht, kontaktiert und gegebenenfalls zu einer nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit genötigt zu werden. Schließlich ist auch weiterhin von proliferationsrelevanten Aktivitäten Irans zur Umgehung bestehender Sanktionen zugunsten der iranischen Nuklearund Raketenprogramme auszugehen. Eine weitere Professionalisierung iranischer Cyber-Akteure dürfte die Art und den Umfang gezielter Cyberangriffe in allen Aufklärungsbereichen iranischer Nachrichtendienste weiter erhöhen. Zur frühzeitigen Aufklärung und Verhinderung nachrichtendienstlicher, proliferationsrelevanter und insbesondere staatsterroristischer Aktivitäten Irans tauschen sich Bund und Länder im Spionageund Cyberabwehrverbund eng mit nationalen und internationalen Partnern aus. Entsprechende Gefahrensachverhalte werden mit hoher Priorität und in engem Austausch mit den Polizeibehörden bearbeitet. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 299 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Spionage, Proliferation und sicherheitsgefährdende Aktivitäten für fremde Mächte Internationale Entwicklungen und Ereignisse haben oftmals einen spürbaren Einfluss auf die Sicherheitslage in der Bundesrepublik Deutschland und in Nordrhein-Westfalen. Dabei kann es sich um Kriege, Systemrivalitäten, politisch-gesellschaftliche Krisen oder Instabilitäten handeln. Regierungen, die militärische Eskalationen forcieren oder sich daran beteiligen, sowie Staaten, die sich innenpolitisch zunehmend zu autoritären Regimen entwickeln, haben häufig eine gesteigerte Bereitschaft, ihre Nachrichtendienste auch im Ausland umfassend zur Verfolgung nationaler Interessen und zur Sicherung der eigenen Machtposition einzusetzen. Dies bezieht das gesamte Zielspektrum von Spionage, Versuche illegitimer Einflussnahme auf politische und gesellschaftliche Prozesse im Zielstaat sowie die Überwachung und Bekämpfung oppositioneller Strukturen auf seinem Boden ein. Mit der Eskalation internationaler Konflikte sinkt häufig auch die Hemmschwelle für staatsterroristische Aktivitäten oder Sabotage, was die nachrichtendienstliche Bedrohungslage merklich erhöht. Die Hauptakteure gegen Deutschland und Nordrhein-Westfalen gerichteter Spionage sind weiterhin die Russische Föderation, die Volksrepublik China, die Islamische Republik Iran und die Republik Türkei. Die Spionageabwehr geht jedoch mit einem sogenannten 360-Grad-Blick allen anderen Hinweisen auf illegale oder statuswidrige 11. Januar Verurteilung eines deutsch-iranischen Staatsangehörigen wegen Verstoßes gegen das Iran-Embargo 2023 [?] 19. Januar Verurteilung zweier Agenten des russischen Militärnachrichtendienstes GRU in Schweden 300 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 nachrichtendienstliche Aktivitäten sonstiger Staaten konsequent nach. Dabei hat sie auch im Berichtsjahr umfangreiche Maßnahmen zur Aufklärung und Abwehr solcher Aktivitäten umgesetzt. Zunehmender Einsatz von Gewalt - Staatsterrorismus und Sabotage Besondere Sorge bereitet der Spionageabwehr die zunehmende Bereitschaft ausländischer Staaten, Gewalt zur Verfolgung eigener außenund sicherheitspolitischer Interessen einzusetzen. Belege dafür in den letzten Jahren sind mehrere Gerichtsurteile in Europa, unter anderem auch in Deutschland, in denen Staatsterrorismus beziehungsweise staatlich in Auftrag gegebene oder gesteuerte Gewaltanwendung explizit festgestellt wurden. Als Drahtzieher wurden staatliche russische sowie iranische Stellen ausgemacht. Das Oberlandesgericht Düsseldorf stellte beispielsweise mit Urteil vom 19. Dezember 2023 zu einem versuchten Anschlag auf eine Synagoge in Nordrhein-Westfalen zum Hintergrund der Tat fest, dass die Anschlagsplanung auf eine staatliche iranische Stelle zurückgeht. Doch auch über Iran und Russland hinaus bearbeitet die Spionageabwehr in Zusammenarbeit mit Polizeibehörden immer wieder Gefährdungssachverhalte, bei denen eine staatliche Urheberschaft oder Steuerung zu prüfen ist. Maßgebliche Ziele staatsterroristischer Aktivitäten sind die Einschüchterung und Neutralisierung von Opposition sowie von als Staatsfeinde oder Verräter angesehenen Akteuren. Dabei werden zumeist schwere Straftaten wie Mord, Totschlag oder Ent4. Februar 31. Mai Abschuss eines chinesischen Aufforderung Russlands Spionage-Ballons durch die USzur Schließung von vier der Luftwaffe vor der Ostküste der fünf Generalkonsulaten im Vereinigten Staaten Bundesgebiet 28. Mai Wiederwahl des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zum 13. Präsidenten der Türkei spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 301 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 führungen begangen. Häufig gehen staatsterroristischen Aktivitäten umfangreiche Maßnahmen zur Aufklärung der potenziellen Zielbereiche voraus. Dies können klassische Spionage oder Cyberangriffe sein. Die verschiedenen Einsatzmittel ausländischer Nachrichtendienste greifen ineinander, was zur Analyse der Gesamtlage stets eine ganzheitliche Betrachtung sämtlicher nachrichtendienstlicher Aktivitäten eines Staates erforderlich macht. Staatsterroristische Aktivitäten stellen eine besonders ernstzunehmende Bedrohung für die Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland dar. Die Spionageabwehr beobachtet genau, ob ausländische Regierungen ihre Nachrichtendienste oder sonstige staatsnahe Strukturen und Netzwerke nutzen, um Dissidenten und als Staatsfeinde definierte Akteure in Nordrhein-Westfalen aufzuklären, zu bedrohen oder mit gewalttätigen Mitteln zu attackieren. Neben Aktivitäten gegen Personen ist das Sabotagerisiko in Deutschland gestiegen. Dazu hat auch der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine beigetragen. Sabotageakte können militärische und politische Prozesse sowie Produktionsund Betriebsabläufe beeinträchtigen. Im schlimmsten Fall werden die Verteidigungsfähigkeit oder die Fähigkeit eines Landes, mit Krisen umzugehen, eingeschränkt. Ziele können das Beschädigen oder Zerstören wichtiger Anlagen und Einrichtungen im KRITIS-Bereich sein, beispielsweise Kraftwerke, Verkehrsverbindungen oder Kommunikationsanlagen. Cyberangriffe können zur Vorbereitung und Durchführung von Sabotagehandlungen dienen. 13. Juli 9. August Verabschiedung einer Festnahme eines Beschäftigten des Bundesamts für AusChina-Strategie durch die rüstung, Informationstechnik und Nutzung der BundesBundesregierung wehr wegen des Verdachts geheimdienstlicher Agententätigkeit für einen russischen Nachrichtendienst 2023 [?] August Festnahme mutmaßlicher russischer Spione in Großbritannien 302 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Politische Einflussnahme Bei illegitimer ausländischer Einflussnahme, die von fremden Nachrichtendiensten oder sonstigen Stellen ausländischer Staaten ausgeht, handelt es sich um eine der bedeutsamsten Bedrohungen für das westliche Demokratieund Werteverständnis. Richtet sich die Einflussnahme direkt gegen die Bundesrepublik Deutschland oder ihre Institutionen, sind übergeordnete Ziele häufig das Unterminieren oder Zerstören des Vertrauens in die Stabilität und Integrität des Staates. Rechtsstaatliche Institutionen und Repräsentanten sowie die demokratischen Prozesse sollen geschwächt und das Vertrauen in eine unabhängige mediale Berichterstattung beschädigt werden. Die Spionageabwehr konnte im Berichtsjahr wiederholt illegitime Einflussnahmeversuche ausländischer Staaten beobachten, die sich gegen die Souveränität staatlicher und politischer Institutionen in Deutschland richteten. Ziel war es, auch mit Blick auf internationale Konflikte oder Ereignisse sowie im Zuge der Austragung von Konflikten ausländischer Regierungen mit oppositioneller Diaspora auf deutschem Boden in Entscheidungsund Willensbildungsprozesse einzugreifen. Im Fokus standen unter anderem nordrhein-westfälische Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung. Unter Zuhilfenahme scheinbar neutraler Mittelsleute versuchten ausländische Akteure, auf lokalsowie landespolitischer Ebene außenoder sicherheitspolitische Interessen ihrer Heimatregierungen durchzusetzen. Dabei sollte die Bewertung deutscher staatlicher und politischer Stellen zu bestimmten Themen, Konflikten, Gruppen oder Personen im eigenen Sinne beeinflusst werden. 24. August 31. August Anklageerhebung des Verteilung von Mohamed Generalbundesanwalts A. durch das OLG Düsselgegen den leitenden BNDdorf wegen geheimdienstMitarbeiter Carsten L. und licher Agententätigkeit Arthur E. für Marokko 29. August Haftbefehl gegen Waldemar W. wegen des Verdachts von Verstößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 303 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Aktivitäten der Einflussnahme werden oftmals politisch und gesellschaftlich umfassend und langfristig angelegt. Sie richten sich gegen alle politischen Ebenen und können sich potenziell aller denkbaren Themenbereiche bedienen, sofern diese zur Verbreitung eigener Narrative und zur Durchsetzung von Interessen geeignet sind. Illegitime Einflussnahme wird als hybride Bedrohung bezeichnet, weil ausländische Staaten sich eines breiten Instrumentenkastens zur Umsetzung ihrer Ziele bei gleichzeitiger Verschleierung der Urheberschaft ihrer Aktivitäten bedienen. Derartige Aktivitäten sind als sicherheitsgefährdende beziehungsweise geheimdienstliche Tätigkeiten im Sinne des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetzes anzusehen, weil sie sich gegen den demokratischen Verfassungsstaat oder - bei verdeckter und damit illegitimer Einflussnahme auf politische und behördliche Willensbildungsund Entscheidungsprozesse - gegen die Souveränität der Bundesrepublik und ihrer Institutionen richten. 12. September Beginn des Prozesses beim OLG Düsseldorf gegen Babak J. wegen des Versuchs eines Brandanschlags auf eine Synagoge in NRW 2023 [?] 7. Oktober Terroristischer Angriff der HAMAS auf den Staat Israel 304 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Grundlegende Handlungsfelder hybrider Einflussakteure Die folgenden Handlungsfelder lassen sich nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen, greifen oftmals ineinander und bedingen sich teilweise wechselseitig: > Informationsraum und gesellschaftlicher Raum: Einflussakteure nutzen unter anderem eigene staatliche beziehungsweise staatsnahe Medien, Thinktanks, soziale Netzwerke sowie staatsnahe (religiöse) Verbände zur Verbreitung ihrer Narrative. Die öffentliche Meinung sowie Haltungen in Diaspora-Gruppen sollen beeinflusst werden. Mittel sind Propaganda, einseitige und tendenziöse Berichterstattung und Desinformation. > Cyberraum: Die Einflussnahmeversuche reichen von Vorbereitungsund Unterstützungsmaßnahmen einzelner Aktivitäten über sogenannte "Hack-and-Leak"-Operationen zur Erbeutung und teilweise verfälschten Veröffentlichung vertraulicher Daten bis hin zu gezielten Cyberangriffen auf KRITIS-Bereiche. > Politischer Raum: Es stehen vor allem Parlamente, Parteien und politische Stiftungen im Fokus. Favorisierte Parteien und Politiker werden beispielsweise unterstützt, missliebige diskreditiert oder gar eingeschüchtert. Daneben wird unter anderem durch diplomatische Vertretungen oder über vermeintlich neutrale Mittelsleute versucht, Entscheidungsträger zu vereinnahmen. > Wirtschafts-, Wissenschafts-, Bildungsund Kulturraum: Einflussakteure arbeiten oftmals mit nichtöffentlichen (Druck-)Mitteln. Unter Verweis auf Absatzmärkte oder wissenschaftliche Kooperationen wird konformes Verhalten erwartet. 10. Oktober 24. Oktober Anklageerhebung gegen Verdacht belgischer Sicherheitsbehörden Ulli S. wegen mutmaßgegen den russischen Diplomaten Kirill licher Verstöße gegen das Logwinow wegen geheimdienstlicher TätigAußenwirtschaftsgesetz keit für den russischen Auslandsnachrichtendienst SWR 17. Oktober "Seidenstraßen-Gipfel" in Peking mit Teilnahme des russischen Präsidenten Putin spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 305 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Operatives Vorgehen der Nachrichtendienste Bei einer Vielzahl ausländischer Nachrichtendienste konnte im Berichtsjahr erneut eine Kombination aus zentral gesteuerten Operationen und einem Agieren aus sogenannten Legalresidenturen festgestellt werden. Informationsbeschaffungen der Legalresidenturen gehen häufig mit zentralen Operationen aus den Heimatländern Hand in Hand. Zielpersonen werden bei Geschäftsoder Urlaubsreisen angeworben und langfristig aus dem jeweiligen Ausland gesteuert. Das Führen von Agenten über ihre Reisen in das staatliche Hoheitsgebiet des entsprechenden Nachrichtendienstes birgt ein geringeres Entdeckungsrisiko als ein Agieren im Zielstaat. Es wird in vielen Fällen durch Kommunikationskanäle im Internet und Treffs in Drittstaaten ergänzt. Die meisten Staaten bedienen sich einer Kombination aller Möglichkeiten. 30. Oktober Entdeckung eines Ransomware-Angriffs auf die Südwestfalen-IT, der zu erheblichen Einschränkungen des IT-Betriebes von über 100 Kommunen führte 2023 [?] 26. Oktober Festnahme eines mutmaßlichen marokkanischen Innentäters in einer niederländischen Terrorismusabwehrbehörde 306 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Aktivitäten aus Legalresidenturen heraus Sogenannte Legalresidenturen sind getarnte Stützpunkte ausländischer Nachrichtendienste in diplomatischen, konsularischen oder halbamtlichen Vertretungen wie Botschaften, Konsulaten, aber auch Presseagenturen oder Fluggesellschaften. Agiert wird oftmals unter diplomatischem oder journalistischem Schutz. Es werden statuswidrig beziehungsweise illegal Informationen beschafft und es wird bei nachrichtendienstlichen Operationen unterstützt. Potenziell relevant sind alle gesellschaftlichen und politischen Ebenen und Themenfelder. Durch die Abtarnung ist den Angehörigen von Legalresidenturen eine unverfänglich erscheinende Kontaktaufnahme zu Zielpersonen möglich. Diese sind häufig arglos und gehen zunächst von regulären beruflichen Kontakten aus. 19. Dezember Verurteilung von Babak J. durch das OLG Düsseldorf wegen Verabredens einer schweren Brandstiftung und versuchter Brandstiftung sowie Feststellung durch den Senat, dass die Anschlagsplanung auf eine staatliche iranische Stelle zurückgeht 13. Dezember Prozessauftakt im Verfahren gegen Carsten L. und Arthur E. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 307 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Methoden fremder Nachrichtendienste > Passgenaue Vorbereitung der Reisen möglicher Zielpersonen durch weitreichenden Zugriff auf Daten wie Visa-Unterlagen im jeweiligen Staat > offene oder halboffene Informationsbeschaffung zu Zielpersonen (Soziale Medien, Internetrecherchen, offene Datenbanken, Kontakte bei Empfängen, dienstlichen Veranstaltungen oder Meetings) zur Vorbereitung einer möglichen nachrichtendienstlichen Anbahnung > Aufnahme des direkten Kontakts zu Zielpersonen unter dem Vorwand internationaler Kooperationen oder unverfänglicher politischer "Hintergrundgespräche" > Kultivierung zunächst beruflicher Kontakte und Überführung in den scheinbar privat-freundschaftlichen Bereich (Mitarbeitende der ausländischen Nachrichtendienste befinden sich in Deutschland im Auslandseinsatz, ihre Kontakte sind daher stets dienstlich und meldepflichtig) > Einsatz von Anreizen und Druckmitteln bei den Zielpersonen (beispielsweise finanzielle Vergütungen, attraktive Reisen, dienstliche Vorteile, Wertschätzung, Kompromate, Druck auf Angehörige im jeweiligen Herkunftsland) Nachrichtendienste der Russischen Föderation Russische Nachrichtendienste haben im Berichtsjahr auch in Nordrhein-Westfalen versucht, umfangreich Informationen zu ihren Aufklärungsgebieten Politik, Militär, Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft sowie zu russischen Oppositionellen beziehungsweise als Staatsfeinde definierten Akteuren zu sammeln. Die Bearbeitung von Aktivitäten russischer Nachrichtendienste durch die Spionageabwehr war dabei weiterhin durch die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 gekennzeichnet. Bereits 2022 waren die Aktionsradien russischer Nachrichtendienste in Westeuropa durch verschiedene Abwehrmaßnahmen eingeschränkt worden. Demgegenüber steht die russische Seite jedoch gleichzeitig unverändert unter erheblichem nachrichtendienstlichem Aufklärungsdruck. Auch in Anbetracht der anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen steht Deutschland aufgrund seiner vielfältigen Unterstützung der Ukraine sowie seines geopolitischen Gewichts weiterhin im besonderen Aufklärungsfokus. Dies gilt insbesondere für Nordrhein-Westfalen, das beispielsweise Standort einflussreicher politischer Stiftungen und Parteien, zahlreicher hervorragend vernetzter Universitäten sowie wichtiger Unternehmen der Rüstungsindustrie ist. 308 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die Nachrichtendienste der Russischen Föderation Nachrichtendienstlich stützt sich die Russische Föderation im Wesentlichen auf > den für die Tätigkeitsfelder Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung und organisierte Kriminalität zuständigen Inlandsnachrichtendienst "Federalnaja Slushba Besopasnosti" (FSB), > den zivilen Auslandsnachrichtendienst "Slushba Wneschnej Raswedki" (SWR), vorrangig konzentriert auf die Themen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, sowie > den "Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije" (GRU) als militärischen Auslandsnachrichtendienst. Nachrichtendienste sind ein traditionell fester Bestandteil der russischen Sicherheitsarchitektur. Sie sind für die Vorbereitung und Umsetzung von Entscheidungen der Staatsführung von essenzieller Bedeutung. Beispielsweise gehören die Direktoren von SWR und FSB dem Sicherheitsrat der Russischen Föderation an. Die GRU ist dort über den Verteidigungsminister vertreten. In Folge der im April 2023 vorgenommenen Reduktion des nachrichtendienstlichen Personals an den russischen diplomatischen Vertretungen im Bundesgebiet ist die Tätigkeit russischer Nachrichtendienste nochmals erschwert worden. Darüber hinaus war die Russische Föderation Ende Mai durch das Auswärtige Amt aufgefordert worden, vier der fünf russischen Generalkonsulate im Bundesgebiet bis zum Jahresende zu schließen. Die Entscheidung des russischen Außenministeriums zur Aufrechterhaltung des Standorts in Bonn als einziger verbleibender diplomatischer Vertretung neben der Botschaft in Berlin verdeutlicht die Bedeutung Nordrhein-Westfalens für die russische Seite. Die gilt auch in nachrichtendienstlicher Hinsicht. Nicht zuletzt aufgrund dieser Einschränkungen geht die Spionageabwehr von einer fortgesetzten Verlagerung auf zentralgesteuerte Operationen aus. Russische Nachrichtendienste können dabei auf über Jahrzehnte erprobte Mittel zurückgreifen. Dies sind beispielsweise für nachrichtendienstliche Geschäfte eigens einreisende Nachrichtendienstoffiziere (Reisekader) oder das sogenannte "Illegalenprogramm". Bei "Illegalen" handelt es sich um Angehörige russischer Nachrichtendienste, die mit einer um mit Falschidentität ausgestattet sind. Sie werden, zumeist unter Vorgabe falscher Staatsangehörigkeiten und ohne erkennbaren Bezug zur Russischen Föderation, für langfristige Operationen aller Art ins Zielland entsandt. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 309 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Gefahr der Sabotage und Infiltration durch Russland Vor dem Hintergrund der intensiven Unterstützung der Ukraine insbesondere durch die NATO-Staaten sieht die Spionageabwehr zudem ein gestiegenes Risiko für russische Sabotageakte. Beispielhaft hierfür steht im Berichtsjahr die Aufdeckung eines russischen Agentenrings in Polen. Dieser hatte mutmaßlich kritische Infrastrukturen wie beispielsweise Bahnstrecken im Visier, um so gegebenenfalls Rüstungslieferungen in die Ukraine aufklären oder gar sabotieren zu können. Auch aufgrund dieser gestiegenen Bedrohungslage arbeiten die Länder und der Bund derzeit an verschiedenen gesetzlichen Anpassungen zur Erhöhung des Sabotageschutzes und der Resilienz Kritischer Infrastrukturen (KRITIS). Seit jeher gehört die Infiltration westlicher Sicherheitsbehörden zum Aufgabenportfolio russischer Nachrichtendienste. Dies gilt verstärkt in der aktuellen geopolitischen Lage. Drei Fälle ragen in diesem Zusammenhang im Berichtsjahr heraus: Am 19. Januar wurden zwei Agenten des russischen Militärnachrichtendienstes GRU von einem schwedischen Gericht zu lebenslanger beziehungsweise zehnjähriger Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht war überzeugt, dass der vormalige Mitarbeiter des schwedischen Nachrichtendienstes und des Militärs über einen als Kurier tätigen Mittäter hochsensible Informationen an Russland verraten hatte. Die besondere Schwere des Falls wird dabei an dem Strafmaß deutlich. In diesem Kontext ist zudem die Festnahme eines Beschäftigten des Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr am 9. August zu nennen. Nach Mitteilung des Generalbundesanwalts (GBA) habe sich der Beschuldigte ab Mai mehrfach und aus eigenem Antrieb heraus an das russische Generalkonsulat in Bonn sowie die russische Botschaft in Berlin gewandt und eine Zusammenarbeit angeboten. Dabei habe er auch dienstlich erlangte Informationen zur Weiterleitung an einen russischen Nachrichtendienst übermittelt. Darüber hinaus erhob der Generalbundesanwalt am 24. August Anklage wegen mutmaßlichen Landesverrats gegen den ehemaligen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) Carsten L. und den Geschäftsmann Arthur E.. Nach Erkenntnissen des GBA stand E. in Verbindung zu einer Person in Russland, die wiederum ihrerseits über Kontakte zum FSB verfügte. Bei einer Zusammenkunft Mitte September 2022 seien die drei vorgenannten Personen übereingekommen, dem FSB sensible Informationen aus dem Bestand des BND zu beschaffen. Im weiteren Verlauf habe Carsten L. interne Dokumente aus der technischen Aufklärung des BND mit Hilfe von 310 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Arthur E. an den FSB übermittelt. Dazu habe sich E. im September und Oktober 2022 mit einem FSB-Angehörigen in Moskau getroffen. E. habe darüber hinaus auch an den L. gerichtete Fragen des FSB entgegengenommen und die entsprechenden Antworten des L. dann an den FSB weitergegeben. Den Ermittlungen der Bundesanwaltschaft zufolge sollen Carsten L. 450.000 Euro und Arthur E. 400.000 Euro Agentenlohn erhalten haben. Diese außergewöhnlich hohen Summen würden nicht nur die immensen Ressourcen russischer Nachrichtendienste belegen, sondern auch die Bedeutung des Falls für die russische Auslandsaufklärung. Ein Bezug nach Nordrhein-Westfalen ergibt sich aus dem Umstand, dass E. ein Unternehmen mit Sitz in Frechen betrieben hatte. Am 13. Dezember begann der Prozess gegen L. und E. vor dem Kammergericht Berlin. Mögliche Zielpersonen für eine Anbahnung Die beschriebenen Fälle in Schweden und beim BND haben gemeinsam, dass es russischen Nachrichtendiensten mutmaßlich gelungen ist, Zielpersonen zu rekrutieren, die bereits Zugang zu äußerst sensiblen Informationen hatten. Oftmals zeichnen sich Operationen russischer Nachrichtendienste durch eine besondere Langfristigkeit aus. Damit geht einher, dass auch sogenannte Perspektivagenten angeworben werden. Diese verfügen zum Zeitpunkt der Anbahnung (noch) nicht über direkte Zugänge zu den für russische Nachrichtendienste zentralen Aufklärungsfeldern. Die russische Seite setzt jedoch darauf, dass von ihr ins Visier genommene Zielpersonen zunächst empfänglich für Kontaktkultivierungen, Vereinnahmungen und schlussendlich gegebenenfalls auch für nachrichtendienstliche Angebote sind. Mittelfristig sollten sie entweder von sich aus oder unter Anleitung Zugang zu sensiblen Informationen und Einrichtungen gewinnen können. Außerdem interessieren sich russische Nachrichtendienste keinesfalls ausschließlich für Zielpersonen etwa von Nachrichtendiensten und Polizeibehörden, die ständig mit eingestuften Informationen oder Staatsgeheimnissen im Sinne des SS 93 StGB arbeiten, sondern auch für Zielpersonen in Behörden mit vordergründig weniger sensiblen Zugängen. Dies können beispielsweise Beschäftigte in Ausländerbehörden oder Einwohnermeldeämtern sein. Sie können den russischen Auftraggebern wichtige Strukturerkenntnisse und Einzelinformationen beschaffen, die beispielsweise für die Ausforschung von Dissidenten oder zur Etablierung nachrichtendienstlicher Infrastruktur im Zielland benötigt werden. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 311 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Russische Nachrichtendienste haben im Ausland neben Spionage und Sabotage in der jüngsten Vergangenheit immer wieder auch gewalttätige Mittel zur Erreichung ihrer Ziele eingesetzt. Betrachtet man die massive Eskalation zwischen der Russischen Föderation und der westlichen Staatengemeinschaft im Zuge des Krieges in der Ukraine sowie ausgeführte, staatlichen russischen Stellen zugeordnete Mordanschläge wie den sogenannten Tiergartenmord in Berlin sind staatsterroristische russische Aktivitäten auf deutschem Boden weiterhin als realistische Möglichkeit russischer Interessenverfolgung einzukalkulieren. Einflussnahmeversuche Russlands In Ergänzung zu den beschriebenen Aktivitäten versucht Russland weiterhin, Einfluss auf die öffentliche Meinung in Deutschland zu nehmen und damit auf den politischen Diskurs einzuwirken. Im Berichtsjahr waren in Nordrhein-Westfalen weiterhin Versuche illegitimer, also verdeckter Einflussnahme auf gleichbleibend hohem Niveau festzustellen. Institutionen und Einzelpersonen, die aufgrund dienstlicher Notwendigkeiten oder durch ein ehrenamtliches Engagement Bezüge zur Russischen Föderation aufweisen, bleiben ein beliebtes Ziel russischer Aktivitäten zur Einflussnahme. Die russische Seite versucht, bekannte Narrative der eigenen Rhetorik an geeigneter Stelle zu platzieren und diesen zu möglichst hoher Verbreitung zu verhelfen. Gesprächspartner werden dabei beispielsweise gezielt hofiert oder massiv bedrängt. Es ist deutlich erkennbar, dass sich die Einflussakteure sehr gezielt auf Gespräche mit entsprechenden Institutionen vorbereiten. Im Berichtsjahr fanden zudem erneut offiziell als "Friedensdemonstrationen" angemeldete Veranstaltungen statt, bei denen gezielt russische Narrative und Propaganda verbreitet worden sind. Eine Diskreditierung westlicher Staaten und eine damit einhergehende Diffamierung westlicher Bündnisse wie EU und NATO sollten dazu beitragen, das russische Weltbild als überlegen erscheinen zu lassen. Seit dem Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine machen sich auch Extremisten diese Themen zu eigen und kooperieren vor allem bei Demonstrationen und Kundgebungen mit prorussisch eingestellten Akteuren. Die Vernetzung entsprechender Akteure stellt dabei eine neue herausfordernde Entwicklung für die deutschen Sicherheitsbehörden dar. Seit dem Überfall auf die Ukraine hat Russland seine Desinformationskampagnen intensiviert und zugleich stark geändert. Das Vorgehen ist insgesamt deutlich konfrontativer und aggressiver. Die gezielte Desinformation soll neben der Beeinflussung der öffentlichen Meinung der Legitimation und dem Machterhalt des russischen Präsi312 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 denten dienen. Dabei wird in Deutschland die Strategie verfolgt, das Vertrauen der Bevölkerung in Politik, Verwaltung und die freien Medien zu untergraben. Da russische Staatsmedien in der EU mit Sanktionen belegt und damit in ihrer Betätigung eingeschränkt sind, werden verstärkt soziale Medien von staatlichen oder staatsnahen Akteuren genutzt. Dort sollen Inhalte und Narrative an einen möglichst großen Personenkreis verbreitet werden. Als bedeutende Alternative zu gängigen sozialen Netzwerken ist insbesondere Telegram zu nennen. Neben staatlichen Akteuren spielen weiterhin Influencerinnen und Influencer sowie Aktivistinnen und Aktivisten eine gesteigerte Rolle als Multiplikatoren russischer Propaganda und Desinformation. Bei diesen ist in einigen Fällen eine Unterstützung durch staatliche russische Stellen klar erkennbar. Als Beispiel für russische Desinformationskampagnen können sogenannte "Pranks" genannt werden. Dabei handelt es sich um Telefonstreiche oder Videoanrufe russischer Aktivisten unter Vorgabe einer falschen Identität bei Politikerinnen und Politikern sowie Personen des öffentlichen Lebens. Sie verfolgen das Ziel, den Getäuschten Aussagen zu entlocken, die im Anschluss aus dem Kontext gelöst und zur Diskreditierung der Personen selbst oder westlicher Politik im Allgemeinen genutzt werden. Zu den prominentesten Opfern gehörten neben der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel auch die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Polens Präsident Andrzej Duda. Bedrohungen durch russische Cyber-Akteure Den Nachrichtendiensten der russischen Föderation werden neben den Mitteln der klassischen Spionage darüber hinaus exzellente Cyberfähigkeiten zugerechnet. Diese werden vermutlich bereits seit dem Jahr 2007 fortwährend aufgebaut. Russland gilt nach wie vor als einer der aktivsten Cyber-Akteure weltweit. Inzwischen haben verschiedene Staaten, darunter auch Deutschland, zahlreiche Cybervorfälle nahezu sicher Russland zugeordnet. Die Beispiele zeigen, dass Russland seine Cyberfähigkeiten sowohl zum Zwecke der Spionage, der Sabotage als auch für Operationen der Einflussnahme einsetzt und zunehmend ausbaut. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine spiegelt sich auch im Cyberraum wieder: Wie IT-Sicherheitsdienstleister und das ukrainische CERT berichten, setzen sich bis heute Cyberangriffe mutmaßlich russischer Akteure in der Ukraine fort. Die Berichterstattung aus dem Kriegsgebiet deutet jedoch darauf hin, dass sich trotz vorübergehender Einschränkungen die IT-Infrastruktur in der Ukraine bisher als erstaunlich robust gegenüber der hohen Anzahl von Cyberangriffen erwiesen hat. Als spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 313 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 wichtiger Baustein der Cyberabwehr hat sich in diesem Zusammenhang wohl auch der schnelle und koordinierte internationale Austausch von Informationen und Warnungen sowie die Zusammenarbeit mit Sicherheitsdienstleistern erwiesen. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine lassen sich vermehrt sogenannte Distributed Denial of Service (DDOS) Angriffe feststellen. Der mehrmonatige Ausfall des KA-SAT-Netzes nach einem Angriff im Februar 2022 wird als mutmaßlicher Kollateralschaden für Deutschland in Folge eines Cyberangriffs in der Ukraine bewertet. In Nordrhein-Westfalen sind darüber hinaus bisher keine gravierenden Schadensvorfälle bekannt geworden, die in direktem Zusammenhang zum Ukraine-Krieg stehen. Nach wie vor besteht jedoch die Gefahr, dass die hohe Zahl von Cyberangriffen in der Ukraine zu Nebeneffekten in Deutschland führen. Bei einer weiteren Eskalation des Konfliktes könnte Deutschland zudem zum Ziel von Sabotage auch mit Hilfe von Cyberangriffen werden. Eine anhaltend hohe Bedrohung durch russische Cyberakteure wurde im Jahr 2023 in Nordrhein-Westfalen insbesondere im Bereich der Cyberspionage wahrgenommen. Hierbei waren vor allem Personen, Regierungsstellen, Unternehmen und Forschungseinrichtungen gefährdet, die in Zusammenhang mit Russland, der Ukraine oder der militärischen Forschung standen. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass insbesondere die Produktion, die Logistik sowie der Transport von Rüstungsgütern zur Unterstützung der Ukraine im besonderen Aufklärungsinteresse des russischen Militärgeheimdienstes GRU liegen. Unternehmen in den entsprechenden Industriesektoren wurden daher vor möglichen Angriffen der Hackergruppierung APT28 gewarnt. Diese steht unter dem dringenden Verdacht, durch den GRU gesteuert zu werden. Zu den mutmaßlichen Angriffstechniken der Gruppierung gehört eine besonders perfide Angriffsmethode, die im März 2023 bekannt wurde. Bei den entdeckten Angriffen nutzten die Akteure eine bis dahin unbekannte Sicherheitslücke in Microsoft Outlook aus, die vollkommen ohne Nutzerinteraktion möglich war. Betroffene Ziele waren nahezu schutzlos. Die Sicherheitslücke ermöglicht es, unberechtigten Zugriff auf Benutzerkonten in Exchange-Servern zu erlangen. Obwohl die Schwachstelle durch Microsoft inzwischen behoben wurde, besteht die Gefahr, dass Systeme bereits vor dem Einspielen des entsprechenden Patches unbemerkt kompromittiert wurden. Insbesondere gefährdete Unternehmen sollten, sofern noch nicht geschehen, ihre Systeme aktualisieren und auf mögliche Spuren einer Kompromittierung untersuchen. Eine weitere Gefahr droht in Deutschland und Nordrhein-Westfalen durch Cyberakteure, die von IT-Sicherheitsexperten dem russischen Inlandsnachrichtendienst FSB zugeordnet werden. Es treten immer wieder zwei Akteure in den Vordergrund, die von 314 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Sicherheitsforschern zwei unterschiedlichen Einheiten des FSB zugeordnet werden. Sie werden unter anderem als Snake und Callisto Group bezeichnet. Weltweit nehmen sie gezielt Personen oder Gruppen ins Visier, die den Bereichen der Forschung und Verteidigung zuzuordnen oder bei Regierungsorganisationen, NGOs und Think Tanks beschäftigt sind. Vermutlich werden auch Politiker durch die verdächtigen Gruppierungen angegriffen. Die Akteure nutzen häufig Spear-Phishing-Kampagnen und greifen die spezifischen Personen direkt an. Entsprechende E-Mails enthalten Informationen, die für die Zielpersonen von Interesse sind. Zur Täuschung setzen die Angreifer gefälschte EMail-Konten und Profile in den sozialen Netzwerken ein. Sie bevorzugen persönliche E-Mail-Adressen, um Sicherheitsmaßnahmen in den Zielnetzwerken zu umgehen. Interessenlage der Volksrepublik China Auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Oktober 2022 wurden Beschlüsse zur Erreichung des Ziels gefasst, bis spätestens zum 100. Jahrestag der Volksrepublik China im Jahr 2049 sowohl in technologischer als auch in militärischer Hinsicht Weltmachtstatus zu erlangen. Der Nationale Volkskongress (NVK) brachte im März 2023 hierzu konkrete Schritte auf den Weg. So wurden beispielsweise die Zuständigkeiten verschiedener Ministerien neu zugeschnitten, um die Abkoppelung Chinas von westlichen Staaten weiter voranzutreiben. Während China einerseits bestrebt ist, die Abhängigkeit anderer Staaten vom chinesischen Markt zu erhöhen, versucht es selbst, eigene Abhängigkeiten zu reduzieren und so weit wie möglich zu diversifizieren. Zur Erlangung des Status einer Weltmacht nutzt China weiterhin Mittel, die unter dem Begriff "Soft Power" zusammengefasst werden. Damit werden Einflusspotenziale bezeichnet, mit denen Dritte für sich eingenommen oder zu einer im eigenen Interesse stehenden Entscheidung bewegt werden sollen, ohne dabei Zwangsmaßnahmen anwenden zu müssen. Gleichzeitig werden jedoch auch Mittel der sogenannten "Hard Power" eingesetzt. Hierzu zählen Formen der wirtschaftlichen oder militärischen Macht, mit deren Hilfe Druck auf Dritte ausgeübt werden kann. Aber auch staatliche Cyberstrukturen und klassische nachrichtendienstliche Aktivitäten werden bewusst zur Beschaffung relevanter Informationen genutzt und dienen damit den eigenen ehrgeizigen Leitstrategien. Ein Zeichen militärischer Macht setzte China bei einer großen Übung im April 2023, bei der ein Angriff auf Taiwan simuliert wurde. Zudem beobachten Sicherheitsdienstleister eine Zunahme von Cyberangriffen auf Taiwan, die staatlich motiviert erscheinen. Taiwan ist nach wie vor von herausragender außenund sicherheitspolitischer Bedeutung spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 315 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 für China. Eine weitere, gegebenenfalls auch militärische Eskalation kann nicht ausgeschlossen werden. Für den Fall eines militärischen Konflikts um Taiwan haben die USA dem Land militärische Unterstützung zugesagt. Eine solche Entwicklung hätte massive Folgen für die Weltwirtschaft und somit auch für China selbst. Daher ist für China eine möglichst große Unabhängigkeit von westlichen Handelspartnern auch aus diesem Grund von großer Bedeutung. Wichtigste Grundlage auf dem Weg der Etablierung Chinas als führende Weltmacht ist eine langfristig angelegte und auf Expansion ausgerichtete, strategische Außenund Außenwirtschaftspolitik. Dazu gehören unter anderem verschiedene wirtschaftliche und außenpolitische Initiativen und Pläne, wie beispielsweise "Made in China 2025" (MIC25) oder die "Belt-and-Road-Initiative" (BRI), auch "Neue Seidenstraße" genannt. Gerade in strukturschwachen Städten und Regionen kann das intensive wirtschaftliche Engagement Chinas im Wege solcher Initiativen ein Einfallstor zur Schaffung langfristiger Abhängigkeiten sein. Im Rahmen einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit erwartet China von seinen Kooperationspartnern, dass diese sich nicht in die "inneren Angelegenheiten" Chinas einmischen, sich also in der Öffentlichkeit nicht kritisch äußern. Solche Aktivitäten der Einflussnahme sind dazu geeignet, politische und wirtschaftliche Akteure in Deutschland als "Lobbyisten" für chinesische Interessen zu vereinnahmen und präventive Selbstzensur zu befördern. Besonderer Fokus Chinas auf den Forschungsbereich Im Forschungsbereich ist China vor allem an Schlüsseltechnologien wie beispielsweise Künstlicher Intelligenz (KI) interessiert. Es bemüht sich in diesen Bereichen intensiv um Forschungskooperationen mit Deutschland. Die Bündelung aller Maßnahmen der Wissensbeschaffung zum Zwecke des Machtzuwachses lässt sich besonders deutlich am Konzept der "zivil-militärischen Fusion" erkennen. Dieses erstmals 2015 formulierte Konzept wurde im Jahr 2017 mit der Gründung der "Zentralkommission für integrierte militärische und zivile Entwicklung" offiziell zur nationalen Strategie. Es steht der im deutschen Grundgesetz verankerten Freiheit von Forschung und Lehre diametral gegenüber. Jede Art von Forschung muss sich an den Staatszielen orientieren, die die KPCh formuliert hat. Forschungskooperationen und -stipendien werden insbesondere dann unterstützt, wenn sie explizit den Staatszielen dienen. Gleichzeitig werden sämtliche im Inund Ausland erlangten Forschungsergebnisse auf ihre militärische Nutzbarkeit hin überprüft ("Dual-Use"). Dies birgt beispielsweise mit Blick auf deutsch-chinesische Forschungskooperationen die Gefahr eines illegitimen, über das akzeptable Maß hinausgehenden Wissensund 316 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Technologietransfers. Hinzu kommt, dass viele Universitäten in China Bezüge zum Militär aufweisen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die National University of Defence Technology (NUDT) sowie die sogenannten Seven Sons of National Defence zu nennen. Das sind sieben Hochschulen, die als zivil deklariert werden, jedoch mit dem Militär und der Rüstungsindustrie eng verbunden sind. China-Scholarship-Council Chinesische Doktoranden und post-graduierte Gastwissenschaftler erhalten häufig umfangreiche staatliche chinesische Stipendien, beispielsweise durch das China-Scholarship-Council (CSC). Solche CSC-Stipendiaten sind vertraglich verpflichtet, über Studienfortschritte und -inhalte sowie zu ihrem Lebensund Forschungsumfeld im engen Kontakt zu den diplomatischen Vertretungen Bericht zu erstatten. Nach Abschluss ihres Forschungsaufenthaltes müssen sie nach China zurückzukehren und verbindlich für eine festgelegte Zeitspanne in staatlichen Strukturen dienen. Weitere Voraussetzung für den Erhalt eines CSC-Stipendiums ist die Benennung zweier in China lebender Bürgen. Diese haften im Zusammenhang mit unterschiedlichen "Vergehen" finanziell für die Stipendiaten. Ein solches "Vergehen" liegt beispielsweise vor, wenn sich geförderte Wissenschaftler im Ausland an Aktivitäten beteiligen, die nach Bewertung der chinesischen Regierung die Ehre, Interessen oder Sicherheit Chinas verletzen. Dies kann beispielsweise die Unterstützung oppositioneller oder regierungskritischer Aktivitäten oder das Nichtbefolgen von Anweisungen der Botschaft oder der Konsulate sein. CSCStipendiaten unterliegen damit einem hohen Druck, sich im Sinne der KPCh konform zu verhalten. Stipendien dürften primär an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben werden, die als linientreu gelten. Die Stipendien selbst zielen insbesondere auf Forschungsbereiche ab, die für die nationale Strategie Chinas von Relevanz sind und in denen China bislang bestehende Defizite ausgleichen möchte, beispielsweise in den Bereichen Kryptotechnologie oder Additive Fertigung. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 317 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Chinesische Nachrichtendienste Zur Durchsetzung der beschriebenen Regierungsziele sowie zum Machterhalt der Staatsführung im Allgemeinen sind die chinesischen Nachrichtendienste (Ministry of State Security - MSS, das Military Intelligence Directorate - MID als militärischer Nachrichtendienst, der polizeiliche Nachrichtendienst Ministry of Public Security - MPS sowie das International Department of the Central Committee of the Communist Party of China - IDCPC als Nachrichtendienst der KPCh) von essentieller Bedeutung. Auf chinesischem Territorium profitieren sie von umfangreichen Befugnissen, Datenzugriffsmöglichkeiten und dem "Nationalen Geheimdienstgesetz". Dieses ermöglicht ihnen vielfältige Sonderrechte und ein rechtlich nahezu unbeschränktes Tätigwerden im Inund Ausland. Das "Nationale Geheimdienstgesetz" verpflichtet beispielsweise alle aus China stammenden Einzelpersonen - ungeachtet ihrer tatsächlichen Staatsangehörigkeit - sowie chinesische Firmen, staatliche Strukturen und sonstige Organisationen (beispielsweise Vereine) im Inund Ausland zur Zusammenarbeit mit chinesischen Sicherheitsbehörden und somit auch zur Informationsweitergabe an diese. In Deutschland agieren chinesische Nachrichtendienste oftmals aus Legalresidenturen heraus, die an diplomatischen Vertretungen angegliedert sind. Es dienen aber auch andere Berufsgruppen sowie nicht hauptamtlich für die Dienste tätige Mittelsleute der Legendierung und Abtarnung. Das Internet, vor allem soziale Medien, und Reisen potenzieller Zielpersonen nach China werden intensiv für nachrichtendienstliche Ansprachen genutzt. Angehörige chinesischer Nachrichtendienste können damit Gegenmaßnahmen der Spionageabwehrbehörden leichter umgehen. Neben den Nachrichtendiensten MSS, MID und MPS trat im Berichtsjahr verstärkt das "International Department of the Central Committee of the Communist Party of China" (IDCPC) in Erscheinung. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Beschaffung politischer Informationen und der Erweiterung chinesischer Einflussnahmenetzwerke. Das IDCPC ist dem Zentralkomittee der KPCh untergeordnet. Es hat die Aufgabe, die Positionen der KPCh im Ausland zu vertreten und hierzu weltweit Kontakte zu Politikerinnen und Politikern sowie Parteien und parteinahen Organisationen des gesamten politischen Spektrums zu knüpfen. Aktuelle und ehemalige Parlamentarier werden vom IDCPC nach China eingeladen, um deren China-Bild im Sinne der KPCh zu "korrigieren" und um Verständnis für "chinesische Werte" zu werben. Darüber hinaus versteht sich das IDCPC als politische Forschungseinrichtung, die im Austausch mit akademischen Institutionen im Inund Ausland Studien zur globalen politischen Lage, zu Parteien, sozialistischen Bewegungen und zu wichtigen internationalen Fragen erstellt. Das IDCPC unterhält zahlreiche Tarnposten innerhalb des Regierungsapparates und 318 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 entsendet Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an diplomatische Vertretungen im Ausland. Sie sind üblicherweise offen als Vertretende des IDCPC tätig und der politischen Abteilung der jeweiligen Vertretung zugeordnet. IDCPC-Angehörige agieren jedoch auch verdeckt. Zur Gewinnung von Informationen für die regelmäßig anzufertigenden Berichte schöpfen sie die Kontakte ihres Netzwerks über persönliche Gespräche ab. Aufgrund historisch gewachsener Beziehungen gilt das IDCPC bei vielen politischen Akteuren in Deutschland nach wie vor als vertrauensvoller und wichtiger Kooperationspartner. Dies ermöglicht es dem IDCPC, Personen zu identifizieren, welche abgeschöpft, beeinflusst oder gar vereinnahmt und gesteuert werden können. Dabei hat das IDCPC einen Funktionswandel in Richtung Informationsbeschaffung und illegitime Einflussnahme vollzogen. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesamt für Verfassungsschutz im Juli 2023 einen Warnhinweis zum IDCPC veröffentlicht und darin Kontakte der Organisation in Bezug auf mögliche Risiken einer nachrichtendienstlichen Verstrickung nach SS 99 StGB (geheimdienstliche Agententätigkeit) sensibilisiert. Aufklärung und Bekämpfung Oppositioneller durch China Die Aufklärung und Bekämpfung oppositioneller Organisationen und Einzelpersonen in Nordrhein-Westfalen bildet einen weiteren Arbeitsschwerpunkt chinesischer Nachrichtenund Sicherheitsdienste. Dabei gilt bereits als oppositionell, wer aus Sicht des chinesischen Staates das Machtmonopol der KPCh in Frage stellt und somit die "nationale Einheit" bedroht. Dazu zählt für die chinesische Führung insbesondere jegliche Unterstützung der Protestbewegung in Hongkong sowie der durch China als "Fünf Gifte" bezeichneten Gruppen. Dies sind die ethnischen Minderheiten der Tibeter und Uiguren, die Befürwortenden der Eigenstaatlichkeit Taiwans, die Demokratiebewegung sowie die Anhängerschaft der Falun-Gong-Bewegung. Zur Bekämpfung der Opposition nutzen chinesische Sicherheitsbehörden in Deutschland sowohl offene als auch verdeckte Methoden. Sie bedienen sich unterschiedlicher Möglichkeiten, Personen beispielsweise unter Verweis auf Angehörige in China unter Druck zu setzen, einzuschüchtern, auszuspähen, zu diskreditieren und gegeneinander auszuspielen. Ergänzend werden häufig finanzielle Anreize, Unterstützung von Angehörigen in China oder lukrative berufliche Perspektiven angeboten. Betroffene Personen sollen zu einer nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit bewegt oder zumindest davon überzeugt werden, ihre politischen Aktivitäten einzustellen. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 319 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Chinesische Cyber-Aktivitäten Für alle Bereiche, in denen China mit klassischer Spionage Informationen sammelt, spielen chinesische Cyber-Akteure ebenfalls eine wichtige Rolle. Spuren mutmaßlich chinesischer APT-Gruppierungen (Advanced Persistent Threat) können bis in das Jahr 2006 zurückverfolgt werden. Damit sind sie die ältesten, fähigsten und aktivsten Gruppierungen dieser Art weltweit. Sie sind bekannt für Cyberangriffe auf Unternehmen, Institutionen und Regierungsbehörden. Aber auch Dissidenten und china-kritische Organisationen geraten in ihr Visier. APT-Gruppierungen, die China zugeordnet werden, legen oftmals großen Wert darauf, unsichtbar möglichst lange im Netz ihrer Opfer zu verbleiben. Zwischen verschiedenen Akteuren lässt sich häufig ein koordiniertes Vorgehen beobachten. Dies ist ein Indiz für eine zentrale staatliche Steuerung. Sicherheitsforscher vermuten, dass die Akteure Angriffswerkzeuge und Verschleierungsinfrastruktur untereinander austauschen. Ebenso besteht der Verdacht, dass das seit September 2021 in China geltende Gesetz zur Datensicherheit (Data Security Law, DSL) sowie Regulierungen zu Sicherheitslücken zur Stärkung der offensiven Fähigkeiten Chinas beitragen. Die Bestimmungen ordnen sich in Chinas Strategie ein, Aspekte der Cybersicherheit und des Datenmanagements stärker zu regulieren. Derartige Regelungen können sich jedoch auch auf Unternehmen und Personen außerhalb Chinas erstrecken. Dies gilt etwa dann, wenn grenzüberschreitende Datenaktivitäten die nationale Sicherheit, das öffentliche Interesse oder andere rechtliche Interessen chinesischer Bürger oder Organisationen betreffen. Die Regelungen verpflichten betroffene Unternehmen unter anderem, entdeckte Sicherheitslücken innerhalb von zwei Tagen an das Ministerium für Industrie und Informationstechnologie (Ministry of Industry and Information Technology - MIIT) in China zu melden. Die Meldungen werden in einer Datenbank des MIIT gesammelt. Sicherheitsforscher kritisieren, dass die Vorgaben den Unternehmen oft nicht genug Zeit lassen, die Schwachstelle vor einer Meldung zu beheben. Damit entwickelt sich die MIIT-Datenbank zu einer Wissensbasis für sogenannte Zero-Day-Exploits. Die Datenbank kann staatlichen chinesischen Cyberakteuren potenziell einen systematischen strategischen Vorteil bei der Erreichung ihrer Ziele verschaffen. Ein Teil der mutmaßlich chinesischen Cyberaktivitäten könnte zum Aufbau von Verschleierungsnetzwerken dienen. Kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) sowie Privathaushalte können in diesem Zusammenhang von Cyberangriffen betroffen sein. Die Gruppierungen APT 15 und APT 31 nutzen für ihre Angriffe zunehmend Geräte, die für den Gebrauch in Kleinbüros und Privathaushalten vorgesehen sind. Geräte dieser Klasse werden auch als SOHO-Geräte (Small-Office und Home-Office) be320 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 zeichnet. Betroffen sind unter anderem Router, Netzwerkspeicher sowie Firewallund Smart Home-Systeme, die über bekannte Schwachstellen kompromittiert werden können. Nach Übernahme der Geräte durch die Angreifer werden diese in Verschleierungsnetzwerke eingebunden und für Angriffe auf die eigentlichen Operationsziele genutzt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat in diesem Zusammenhang im August 2023 einen Cyber-Brief veröffentlicht. In diesem ruft der Verfassungsschutz die Nutzer der Geräte dazu auf, diese abzusichern. Veraltete Geräte ohne aktuelle Schutzmöglichkeiten sollten dringend vom Internet getrennt werden. Im Mai 2023 warnten die Vereinigten Staaten und weitere internationale Cybersicherheitsbehörden vor Aktivitäten, die sie einem staatlichen Akteur der Volksrepublik China zuordnen. Insbesondere Netzwerke verschiedener kritischer Infrastruktursektoren der USA seien von Angriffen betroffen. Hierbei werde eine besonders unauffällige Angriffstaktik eingesetzt, die auch als "Living off the Land" bezeichnet wird. Um eine Entdeckung zu vermeiden, nutzen die Angreifenden im Netz eines Opfers die dort vorhandene Software. Sie vermischen ihre Aktivitäten mit Aktivitäten regulärer Nutzer. Dies erschwert eine Entdeckung erheblich. Die Washington Post berichtete im Dezember 2023 über Cyberangriffe auf wichtige Infrastrukturen in den USA wie Häfen und Versorgungsbetriebe. Die Operationen könnten darauf abzielen, im Falle eines Konflikts zwischen den USA und China logistische Abläufe zu stören. Bislang sind jedoch keine kritischen Beeinträchtigungen oder Störungen der betroffenen Einrichtungen bekannt geworden. Islamische Republik Iran Die Islamische Republik Iran versteht sich als Regionalmacht mit ausgeprägtem Gestaltungswillen im Nahen und Mittleren Osten. Dies gilt nicht nur für den die Region prägenden Nahostkonflikt, sondern für die Region insgesamt. Dabei verfolgen iranische Aktivitäten eine explizit antiwestliche und antiisraelische Stoßrichtung. Daneben konzentrieren sich iranische Nachrichtendienste auf das Demonstrationsund Protestgeschehen im Iran sowie die Existenz oppositioneller Akteure im Ausland. Oppositionelle Aktivitäten werden vom iranischen Regime als existenzielle Bedrohung betrachtet und daher mit besonderer Härte verfolgt. Dies zeigt sich unter anderem am Vorgehen des Staates gegen Protestbewegungen im Iran sowie an staatsterroristischen Aktionen gegen herausgehobene Zielpersonen im Ausland. Die intensivsten nachrichtendienstlichen Aktivitäten Irans gehen in Nordrhein-Westfalen vom zivilen Inund Auslandsnachrichtendienst, dem Ministry of Information and Security (MOIS), aus. Dieser agiert sowohl von der Zentrale in Teheran aus, beispielsspIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 321 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 weise durch die Organisation von Mitarbeitertreffs in Drittländern, als auch über örtliche Legalresidenturen. Daneben sind Angehörige und Unterstützer der sogenannten Quds Force (QF), der Iranischen Revolutionsgarde, mit klassisch geheimdienstlichen Methoden in Nordrhein-Westfalen tätig. Zudem geht von iranischen Cyber-Gruppierungen, die vermutlich im staatlichen Auftrag Irans handeln, eine nachrichtendienstliche Bedrohung für Ziele in Deutschland und NRW aus. Solche Cyber-Gruppierungen werden seit mindestens 2013 beobachtet. Ihnen werden eine wachsende Expertise und die zunehmende Logo der Iranischen Revolutionsgarde Bereitschaft zugerechnet, aggressive Angriffe durchzuführen. Schwerpunkte der Aktivitäten iranischer Nachrichtendienste und insbesondere des MOIS in NRW sind die Ausforschung und Bekämpfung oppositioneller Organisationen und Personen. Das nachrichtendienstliche Vorgehen ist dabei teilweise unabhängig von Organisationsgröße, Reichweite oder tatsächlichen Einflussmöglichkeiten der betroffenen Akteure auf politische oder gesellschaftliche Entwicklungen im Iran. Einzelpersonen, die sich beispielsweise negativ und offen im Internet über die iranische Regierung äußern, die an regierungskritischen Demonstrationen im Ausland teilnehmen oder sich in oppositionellen Organisationen engagieren, können so in den Fokus geraten. Hauptaufklärungsziel der Quds Force sind (pro-)israelische und (pro-)jüdische Akteure. Dazu können beispielsweise Vertreter jüdischer Gemeinden oder Organisationen in der hiesigen Diaspora gehören. Die Nachrichtendienste des Iran sind zudem grundsätzlich immer auch an Informationen aus den Bereichen Politik, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft interessiert. Informationsbeschaffung kann sowohl mit klassisch nachrichtendienstlichen Mitteln als auch unter Zuhilfenahme von Cyberangriffen erfolgen; oftmals werden mehrere Instrumente kombiniert. Insbesondere bei iranischen Cybergruppierungen können Aktivitäten besonders weitgehend sein und sich zusätzlich zu den üblichen Aufklärungsbereichen auf Sabotage, Einflussnahme und manchmal sogar direkte finanzielle Gewinnerzielung richten. Derartige Angriffe zielen oftmals auf kritische Infrastrukturen, Wirtschaftsunternehmen, Universitäten oder Finanzinstitutionen. Iranische Nachrichtendienste nutzen die Rekrutierung und Steuerung menschlicher Quellen zur Unterwanderung und Zersetzung oppositioneller Strukturen sowie zur 322 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ausforschung oder Lokalisierung von Einzelpersonen. Reisen entsprechender Personen in den Iran führen regelmäßig zu nachrichtendienstlichen Ansprachen. Kontaktaufnahmen in Deutschland, beispielsweise auf elektronischen oder telefonischen Wegen, sind ebenfalls ein gängiges Mittel. In solchen Fällen nutzt der iranische Nachrichtendienst häufig familiäre Verbindungen als Druckmittel, um Zielpersonen zu einer Kooperation zu bewegen. Cyberangriffe gegen alle Aufklärungsbereiche iranischer Nachrichtendienste nehmen kontinuierlich zu. Alle genannten Methoden wurden nach Feststellung der Spionageabwehr im Berichtszeitraum weiterhin intensiv von den iranischen Nachrichtendiensten angewendet. Das entsprechende Informationsaufkommen, das sich in der Vergangenheit bereits auf einem hohen Niveau bewegte, ist im Berichtsjahr merklich angestiegen. Der Beitrag "Im Fokus: Das Gefährdungspotenzial iranischer Nachrichtendienste in Deutschland und NRW" des vorliegenden Berichts beleuchtet die nachrichtendienstliche Bedrohungslage bis hin zu möglichen staatsterroristischen Aktionen durch Iran vertiefter. Einflussnahmeversuche zugunsten der Republik Türkei Im Mai 2023 fanden in der Türkei zeitgleich die Präsidentschaftsund Parlamentswahlen statt, aus denen die Regierungspartei Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP - Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und der Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan nach der Stichwahl am 28. Mai 2023 gegen Kemal Kilicdaroglu als Sieger hervorgingen. Die Wahlen selbst und der von fast allen politischen Parteien der Türkei in NRW und Deutschland geführte Wahlkampf stellten für die türkeistämmige Diaspora und insbesondere im Wahlkampf engagierte türkische und türkeinahe Organisationen das Hauptereignis im Berichtsjahr dar. Aus Sicht der Spionageabwehr sind Aktivitäten und Entwicklungen im Zusammenhang mit bedeutenden Wahlen oder Abstimmungen in der Türkei grundsätzlich dazu geeignet, die Sicherheitslage in Deutschland und NRW zu beeinträchtigen. Der Wahlkampf der türkischen Regierung (und der Opposition) richtet sich teilweise explizit an in Deutschland lebende türkeistämmige Personen, die für Wahlen und Abstimmungen in der Türkei wahlberechtigt sind. Darüber hinaus bieten sie für den türkischen Staat ein erhebliches Mobilisierungsund Einflussnahmepotenzial. NRW ist aufgrund der hier lebenden großen Zahl türkischer und türkeistämmiger Menschen für die türkische Regierung von herausgehobenem Interesse. Diese betreibt eine aktive und oftmals desintegrative Diasporapolitik. In die Aktivitäten sind unterschiedliche Akteure wie offizielle Vertreter des türkischen Staates, Vereine, Verbände oder spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 323 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Medien eingebunden. Es wird das Ziel verfolgt, türkische und türkeistämmige Menschen entlang vielfach identitätspolitischer Narrative an die Türkei zu binden. Konkret werden unterschiedliche Kanäle genutzt, um zum Beispiel in oft überzeichneter Form auf vermeintliche oder tatsächliche Fälle von Rassismus, Islamophobie und TürkeiFeindlichkeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft und des deutschen Staates aufmerksam zu machen. Parallel dazu wird die Bedeutung der in Deutschland lebenden türkischen und türkeistämmigen Community übermäßig betont. Es werden unter anderem Freund-Feind-Narrative akzentuiert und die Differenzen zwischen Deutschland und der Türkei plakativ herausgestellt. Im Berichtsjahr ließen sich zudem vermehrte Einflussnahmeaktivitäten auch im politischen Bereich feststellen. Solche Einflussnahme wird insbesondere dann als illegitim betrachtet, wenn sie verdeckt und intransparent erfolgt. Die potenziell beeinflusste Stelle kann in einem solchen Fall Hintergründe und externe Interessen nicht erkennen. Ein in diesem Zusammenhang genutztes Mittel sind sogenannte Einflussakteure. Dabei handelt es sich um Personen, die aufgrund ihrer Stellung gezielt Einfluss auf Entscheidungen oder die öffentliche Meinung nehmen können. Sie werden vom ausländischen Staat verdeckt vereinnahmt und gesteuert. In den letzten Jahren hat die Spionageabwehr eine Reihe von Einflussakteuren identifizieren können, die in illegitimer Art und Weise versucht haben, zum Beispiel Einfluss auf lokaloder landespolitisch relevante Personen zu nehmen. Als scheinbar neutrale Vermittler platzierten sie die Agenda staatlicher türkischer Stellen in politischen Gremien oder Behörden. Der Ursprung solcher Vorstöße und die dahinterstehenden tatsächlich vertretenen Interessen blieben zumeist im Dunkeln. Im Berichtsjahr wurden zum Beispiel Kontakte auf privat-freundschaftlicher Ebene zur Vereinnahmung von Entscheidungsträgern geknüpft, um (öffentliche) Kritik an der türkischen Regierung zu unterbinden oder abzuschwächen. Die Spionageabwehr klärt entsprechende Einflussnahmeversuche systematisch auf und konnte diese vielfach durch die Sensibilisierung von Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit vereiteln. Die Möglichkeiten für die Türkei, in NRW illegitime Einflussnahmeaktivitäten zu entfalten, sind aufgrund der ihr hier zur Verfügung stehenden Infrastruktur vielfältig. Der türkische Staat unterhält vier Generalkonsulate in Hürth, Düsseldorf, Essen und Münster. Zudem haben zahlreiche staatliche und der türkischen Regierung nahestehende Organisationen ihren Sitz in NRW. Hierzu zählt zum Beispiel die Union Internationaler Demokraten (UID), eine Vorfeldund Lobbyorganisation der türkischen Regierungspartei AKP. 2004 wurde der Dachverband in Köln gegründet. Die Organisation verfügt über Regionalund eine Vielzahl von Ortsvereinen in ganz Deutschland. Die Wahlen im Mai 2023 belegten einmal mehr, dass die UID die zentrale Einflussnahmeorganisa324 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 tion der AKP in NRW und damit integraler Bestandteil türkischer Diasporapolitik ist. Sie unterstützte die AKP zum Beispiel mit Hilfe von Wahlwerbung auf ihren SocialMedia-Plattformen, durch die Organisation von Wahlkampfaktivitäten oder bei der logistischen Durchführung der Wahlen in den jeweiligen Generalkonsulaten. Für Veranstaltungen wurde auch organisationsfremde Infrastruktur wie beispielsweise Moscheeund Vereinsräumlichkeiten anderer türkeinaher Institutionen genutzt. Ebenso verfügen insbesondere regierungsnahe türkische Medien über ein nicht zu unterschätzendes Einflussnahmepotenzial. Mediale Berichterstattung ist ein zentrales Instrument, Narrative der türkischen Regierungspartei AKP in Deutschland zu platzieren und zu verfolgen. Im Rahmen der Wahl 2023 wurde unter anderem versucht, die konservativ-islamische und nationalistische Wählerschaft hinter der AKP zu vereinen. Gleichzeitig sollte die Opposition durch Diffamierung und (Terror-)Stigmatisierung für die Mitte der Gesellschaft und die Unentschlossenen unwählbar gemacht werden. Obgleich es tatsächlich nur vereinzelt zu Konfrontationen zwischen Anhängern unterschiedlicher politischer Lager in Deutschland kam, macht eine solche medial lancierte Diasporapolitik Nordrhein-Westfalen auch außerhalb von Wahlkampfzeiten zum Projektionsfeld innertürkischer gesellschaftlicher und politischer Konfliktlinien. Ziele und Aktivitäten türkischer Nachrichtendienste Über die beschriebenen Einflussnahmeaktivitäten hinaus zählt Deutschland weiterhin zu den zentralen Operationsgebieten türkischer Nachrichtendienste. Die kurdische Terrororganisation PKK und die Gülen-Bewegung sind dabei die primären Aufklärungsziele, aber auch Oppositionelle und Kritiker der türkischen Regierung geraten immer wieder in den Fokus. Die Türkei wirft Deutschland sowie anderen europäischen Staaten vor, zu wenig gegen Organisationen wie zum Beispiel die PKK zu unternehmen. Mit Hilfe dieses Vorwurfs kann der türkische Staat eigene statusoder rechtswidrige nachrichtendienstliche Aktivitäten zur Aufklärung entsprechender Organisationen in Deutschland scheinbar legitimieren. Diese Position wird bei der Gülen-Bewegung besonders deutlich. Die türkische Regierung macht die Gülen-Bewegung für den Putschversuch am 15. Juli 2016 in der Türkei verantwortlich. Anders als die PKK ist die Bewegung in Europa nicht als Terrororganisation gelistet. Vor diesem Hintergrund unterscheiden sich die sicherheitspolitischen Bewertungen der Türkei und Deutschlands in Bezug auf die Bewegung. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 325 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Der türkische Nachrichtendienst Milli Istihbarat Teskilati (MIT) Der türkische Inund Auslandsnachrichtendienst Milli Istihbarat Teskilati (MIT) ist als größter und wichtigster Nachrichtendienst zentrales Element der türkischen Sicherheitsarchitektur und verfügt über weitreichende Befugnisse. Er ist direkt dem türkischen Staatspräsidenten unterstellt, dient der türkischen Regierung unter anderem zur Durchsetzung der Regierungspolitik und zur Vorbereitung politischer Entscheidungen durch Informationsbeschaffung. Der MIT ist auch in Nordrhein-Westfalen tätig. So unterhält er in Deutschland und auch in NRW Legalresidenturen. Von diesen Stützpunkten aus kann der MIT zum Beispiel Aufklärungsmaßnahmen gegen relevante Beobachtungsbereiche durchführen. Die Beschaffungslage für den MIT in Deutschland kann als günstig bewertet werden: Aufgrund der großen Anzahl türkischer staatlicher und staatsnaher Organisationen gerade in Nordrhein-Westfalen sowie hier lebender staatsloyaler oder nationalistischer türkischer oder türkeistämmiger Personen verfügt der MIT über ein potenziell sehr hohes Informationsaufkommen. Darüber hinaus profitiert er davon, dass andere türkische staatliche Stellen nach Artikel 5 des MIT-Gesetzes dazu verpflichtet sind, Erkenntnisse, die die nationale Sicherheit betreffen, unverzüglich an den Dienst zu übermitteln. So gelangen nicht ursprünglich im Auftrag des beziehungsweise für den MIT gesammelte Informationen mit potenziell nachrichtendienstlichem Wert in dessen Verfügungsbereich. Über den MIT hinaus sind weitere Stellen und Akteure bei der Informationsbeschaffung in Deutschland und NRW von Bedeutung. Aktivitäten anderer türkischer Nachrichtendienste in Nordrhein-Westfalen sind teilweise durch Gerichtsurteil bestätigt. Zudem können Personen ohne Verbindungen zum MIT durch ihre Denunziationen Verdachtsmomente der türkischen Sicherheitsbehörden gegen Dritte begründen. Sie sammeln beispielsweise Hinweise über (vermeintliche) Gülen-Anhänger aus ihrem sozialen Umfeld und übermitteln diese an staatliche Stellen der Türkei. Solche Meldungen erfolgen teilweise direkt an türkische Behörden in der Türkei oder gegenüber hiesigen türkischen staatlichen oder staatsnahen Stellen. Von dort können sie an die türkische Polizei und die türkischen Nachrichtendienste gesteuert werden. Im Berichtsjahr konnte festgestellt werden, dass türkische Polizeibehörden auf Basis von Denunziationen aus Deutschland offizielle Ermittlungsverfahren gegen hier lebende Personen eingeleitet haben. 326 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Aus Sicht der Spionageabwehr muss damit gerechnet werden, dass in NRW gewonnene Erkenntnisse türkischer Sicherheitsbehörden gegen entsprechende Zielpersonen eingesetzt werden. Bei solchen Informationen kann es sich um geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste Sachverhalte handeln. In der Folge kann es insbesondere bei Einreise in die Türkei zu sicherheitsbehördlichen Maßnahmen kommen. Mögliche Festnahmen sowie Einoder Ausreisesperren erfolgen oftmals auf Basis eines aus Sicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte rechtsstaatswidrig weit gefassten Terrorismusbegriffs. Anlässe können unter anderem eine Teilnahme an Demonstrationen in Deutschland oder eine Mitgliedschaft in einem durch die türkische Regierung kritisch bewerteten Verein sein. Neben diesen Vorwürfen können schon ablehnende Äußerungen über die türkische Regierungspartei, den Staatspräsidenten oder über politische Entscheidungen in sozialen Medien, beispielsweise bei Facebook, ausreichen, um in den Fokus zu geraten. Zudem besteht die Möglichkeit, dass Hinweise auf Konsequenzen für in der Türkei lebende Verwandte als Druckmittel genutzt werden, um in Nordrhein-Westfalen lebende Zielpersonen einzuschüchtern oder zu einer Kooperation zu bewegen. Die teilweise aggressive Rhetorik der türkischen Regierung und einzelner türkischer Medien zu dort als Staatsfeinden kategorisierten Menschen kann zudem Personen aus besonders nationalistischen oder staatsloyalen Milieus aufstacheln. In der Folge können sich Gefährdungen auch ohne staatlichen Auftrag durch emotionalisierte, aus eigener Initiative handelnde Täter ergeben. Vor diesem Hintergrund lässt sich selbst in Deutschland eine Gefährdung von Dissidenten nicht gänzlich ausschließen. Nach wie vor existieren öffentlich-zugängliche Webseiten mit Personenlisten, auf denen tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur türkischen Regierung stehende Personen als Terroristen denunziert werden. Regelmäßig informiert und sensibilisiert die Spionageabwehr in solchen Fällen die Betroffenen. Nachrichtendienstliche Aktivitäten sonstiger Staaten Mit einem sogenannten 360-Grad-Blick geht die Spionageabwehr allen tatsächlichen Anhaltspunkten für unzulässige nachrichtendienstliche Aktivitäten nach. Das ist unabhängig davon, von welchem Staat sie ausgehen. Neben den dargestellten Hauptakteuren ist die Zahl von Nachrichtendiensten, die in einem Spionagekontext gegen Deutschland und NRW aktiv sind, weiterhin hoch. Die Aufklärungsinteressen der Staaten gestalten sich vielfältig und ihre Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen haben zugenommen. Dies spiegelt sich in den Maßnahmen der Spionageabwehr zur Aufklärung und Abwehr im Berichtsjahr wider. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 327 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zum Sicherheitsapparat des Königreichs Marokko zählen unter anderem der Inlandsnachrichtendienst Direction Generale de la Surveillance du Territoire (DGST) und der Auslandsnachrichtendienst Direction Generale des Etudes et de la Documentation (DGED). Außerhalb Marokkos klären marokkanische Nachrichtendienste insbesondere oppositionelle beziehungsweise separatistische Bewegungen auf. Dazu zählt unter anderem die sogenannte Hirak-Bewegung, eine 2016 entstandene Bewegung aus der marokkanischen Rif-Region. Diese beklagt eine strukturelle Benachteiligung der Region und ruft zu entsprechenden Protesten auf. Im August 2023 verurteilte das Oberlandesgericht Düsseldorf einen marokkanischen Staatsbürger wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten, weil er in Deutschland lebende Hirak-Anhänger im Auftrag marokkanischer Nachrichtendienste ausgespäht hatte. Europäische Medien berichteten darüber hinaus Ende 2023 über Festnahmen in den Niederlanden. Dort steht insbesondere ein langjähriger Mitarbeiter einer Sicherheitsbehörde im Verdacht, Staatsgeheimnisse an die marokkanische Regierung weitergegeben zu haben. Bereits Anfang 2023 war medial berichtet worden, dass ursprünglich in erster Linie gegen Katar gerichtete Ermittlungen zu Bestechungsvorwürfen im EU-Parlament inzwischen auch umfangreich auf marokkanische Aktivitäten ausgeweitet wurden. Nach dem Ermittlungsstand habe Marokko entsprechenden Presseberichten zufolge seit Jahren insbesondere illegitim Einfluss auf aus marokkanischer Sicht besonders relevante Entscheidungen der EU-Abgeordneten ausgeübt, beispielsweise im Zusammenhang mit einem umstrittenen Fischereiabkommen oder dem Status der Westsahara. Der DGED soll dabei auf höchster Ebene involviert gewesen sein und in direktem Kontakt zu mehreren der später festgenommenen EU-Parlamentarier gestanden haben. Nordkorea hat sich im Bereich der Cyberkapazitäten seit den 2010er Jahren trotz internationaler Sanktionen kontinuierlich zu einer beachtlichen Macht entwickelt. Indizien deuten darauf hin, dass der Staat mit Cyberangriffen wirtschaftliche und politische Ziele verfolgt. Die zugeordneten Cyberangriffe sind oft global ausgerichtet und umfassen weltweit Aktivitäten wie das Hacken von Banken, Erpressung, Sabotage sowie die Durchführung von Cyber-Spionage. Schätzungen zufolge werden Nordkorea in den vergangenen Jahren Einnahmen aus Cyberkriminalität in Milliardenhöhe zugerechnet. Diese Einnahmen könnten möglicherweise auch zur Finanzierung des Atomund Raketenprogramms des Landes verwendet werden. Sicherheitsbehörden in den USA gehen davon aus, dass Nordkorea längst über die Expertise verfügt, zeitweilige und begrenzte Störungen einiger kritischer Infrastrukturnetzwerke in den USA zu verursachen sowie Geschäftsnetzwerke zu stören. 328 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Nordkoreanischen Hackern werden Fähigkeiten zugeschrieben, sich in hochsichere Netzwerke einzuschleusen. Sie nutzen dabei fortschrittliche Techniken, um unentdeckt zu bleiben. Für Angriffe werden oftmals ausgefeilte Techniken des Social-Engineerings eingesetzt, bei denen die Angreifer mit ihren Opfern auch telefonisch oder per Videoanruf in Kontakt treten. Indizien deuten darauf hin, dass Verbindungen zwischen den Hackern und der nordkoreanischen Regierung bestehen. Die Cyberaktivitäten des Landes scheinen tief in seine militärische und politische Strategie integriert zu sein. Sie spiegeln das Bestreben Nordkoreas wider, auf der Weltbühne als bedeutende Macht anerkannt zu werden. Es besteht der Verdacht, dass immer wieder auch Unternehmen in Nordrhein-Westfalen zum Ziel nordkoreanischer Spionageangriffe werden. Im Fokus der Angreifer könnte hierbei deutsches Know-how zu Produktionstechniken, Materialien und Produkten stehen. Die erbeuteten Daten könnten für den eigenen Gebrauch, aber auch für einen lukrativen Weiterverkauf genutzt werden. In Erscheinung tritt hier eine Hackergruppierung, die von Sicherheitsforschern als Lazarus bezeichnet wird. Die Cyberabwehr des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes informierte und sensibilisierte die potenziellen Opfer. Deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden damit in die Lage versetzt, Angriffe zu erkennen und eine Abwehr zu ermöglichen. Eine Beschreibung von technischen Erkennungsmerkmalen der Angriffe hilft den verantwortlichen Systemadministratoren. Im März 2023 warnten das Bundesamt für Verfassungsschutz und der südkoreanische Inlandsgeheimdienst NIS gemeinsam vor Cyberangriffen der mutmaßlich nordkoreanischen Hackergruppe Kimsuky. Beide Behörden gehen davon aus, dass in den vergangenen Jahren koreanische und deutsche Einrichtungen bereits mit Spear-Phishing-E-Mails angegriffen worden sind. Dabei standen in Südkorea und in Deutschland insbesondere Forschende im Fokus, die sich mit dem innerkoreanischen Konflikt beschäftigen. Ziele und Methoden der Proliferation Unter Proliferation wird die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie entsprechender Trägertechnologien (Raketen und Drohnen) beziehungsweise der zu ihrer Herstellung verwendeten Güter einschließlich des dazu notwendigen Know-hows verstanden. Bei proliferationsrelevanten Staaten ist zu befürchten, dass sie Massenvernichtungswaffen als Drohkulisse zur Durchsetzung politischer Ziele nutzen oder in militärischen Konflikten einsetzen. Als Risikoländer bewertet der Verfassungsschutzverbund vor allem Iran, Russland, China, Pakistan, Nordkorea und Syrien. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 329 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Trotz des teils erheblichen technologischen Fortschritts sind proliferationsrelevante Staaten in vielen Bereichen zum Aufund Ausbau ihrer Programme nach wie vor auf den Erwerb von Produkten und Know-how aus dem Ausland angewiesen. Unter Umgehung von Exportkontrollbestimmungen versuchen sie intensiv, benötigte Produkte auch in Deutschland und Nordrhein-Westfalen zu beschaffen. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um klar erkennbar rüstungsrelevante Produkte, sondern oftmals um sogenannte Dual-use-Güter. Diese haben sowohl einen militärischen, als auch einen zivilen Nutzen. Proliferationsrelevante Forschungskooperationen oder Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage stellen zudem mögliche Risiken der Weiterverbreitung von proliferationsrelevantem Wissen dar. Zur Verschleierung entsprechender Exportgeschäfte und dazugehöriger Finanztransaktionen werden verzweigte Netzwerke von Tarnund Beschaffungsfirmen sowie Finanzinstituten genutzt. Gegenüber den Exportkontrollbehörden werden außerdem regelmäßig falsche Angaben zur Endverwendung oder zum Endverwender gemacht. Es werden beispielsweise Dokumentationen wie sogenannte Endverbleibszertifikate gefälscht. Weitere Methoden sind die Abwicklung umfangreicher Geschäfte in zunächst unverdächtig wirkenden Einzellieferungen oder über jeweils verschiedene Lieferwege und Unternehmen. Neben der Beschaffung von Gütern und Wissen im Bereich atomarer, chemischer und biologischer Massenvernichtungswaffen inklusive Raketentechnik beobachtet die Proliferationsabwehr seit einiger Zeit weitere zunehmende Beschaffungsbemühungen. Diese erstrecken sich auf technologische Felder, die bei militärischer Nutzung beziehungsweise beim Einsatz im Krisenfall einen mit Massenvernichtungswaffen vergleichbaren Effekt hätten. Insbesondere China ist im Bereich von ABC-Waffen und Raketentechnik technologisch weit fortgeschritten und fällt in Deutschland daher primär durch sein Interesse an sogenannten Emerging and Disruptive Technologies (EMT) auf. Dies ist ein Hochtechnologiesektor, der bei möglichen Konflikten aufgrund seines Dual-use-Charakters hohe militärische Relevanz haben dürfte. EMT sind regelmäßig nicht exportbeschränkt, was eine Beschaffung in Deutschland über Forschungskooperationen oder Investitionen in Unternehmen für China besonders interessant macht. Daneben ist der Bereich militärisch nutzbarer Raumfahrtprogramme (Space/ Counter-Space) Ziel illegaler Beschaffungsversuche insbesondere der Länder China und Russland. Solche Programme können im Krisenfall zur massiven Beeinträchtigung satellitengestützter Kommunikation oder für Cyberangriffe genutzt werden. 330 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Umgehungslieferungen in die Russische Föderation Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine besteht für Russland aufgrund umfassender Sanktionen weiterhin eine hohe Notwendigkeit, vielfältige rüstungsrelevante und sonstige Technologien unter Umgehung hiesiger Exportbestimmungen einzukaufen. Sanktionen der EU gegen Russland Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Europäische Union weitreichende Sanktionen gegen Russland beschlossen. Diese gehen über die klassischen Proliferationsbereiche von ABC-Waffen und Trägertechnologien hinaus. Von den Sanktionen sind unter anderem die russische Finanzwirtschaft, der Energie-, Verkehrsund Verteidigungssektor oder der Dienstleistungsbereich betroffen. Zudem wurden Sanktionen gegen eine Vielzahl von Einzelpersonen und Organisationen erlassen. Es sind insbesondere Güter mit doppeltem Verwendungszweck (Dual-use), diverse Hochtechnologie-Produkte und Funkund Telekommunikationstechnologie von den Sanktionen umfasst. Die Proliferationsabwehr konnte mit Blick auf die umfassenden Maßnahmen auf europäischer Ebene eine weitere Intensivierung russischer Beschaffungsversuche zur Sanktionsumgehung feststellen. Insbesondere Exporte in die umliegenden Nachbarstaaten Russlands haben teilweise drastisch zugenommen und sprechen für fortschreitende Umgehungsgeschäfte. Mit einem anhaltend hohen Niveau illegaler Einkaufsbemühungen russischer Stellen ist zu rechnen. Diverse Einzelfälle im Berichtsjahr indizieren dies auch für das kommende Jahr. So befindet sich ein saarländischer Unternehmer seit März 2023 wegen des Verdachts des gewerbsmäßigen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) in Untersuchungshaft. Dem Inhaber einer Handelsfirma für Elektronikbauteile werden seitens der Generalbundesanwaltschaft illegale Lieferungen an einen militärischen Endkunden in Russland vorgeworfen. Möglicherweise wurden dabei gelieferte Bauteile beim nach der Russland-Embargo-Verordnung (EU) Nr. 833/2014 sanktionierten und in der Ukraine eingesetzten russischen Drohnetyp "Orlan 10" eingesetzt. Am 10. Oktober 2023 erhob die Generalbundesanwaltschaft Anklage gegen den Geschäftsführer eines baden-württembergischen Herstellers für Werkzeugmaschinen. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 331 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Dieser soll unter Verstoß gegen das AWG exportbeschränkte Werkzeugmaschinen an einen russischen Waffenproduzenten verkauft und die Lieferungen teilweise durch Transporte über Drittstaaten wie die Schweiz und Litauen getarnt haben. Vor dem Hintergrund bestehender Finanzsanktionen gegen Russland hat die Generalbundesanwaltschaft zudem am 7. Juli 2023 eine Vermögensabschöpfung von mehr als 720 Millionen Euro wegen eines versuchten Verstoßes gegen das AWG beantragt. Diese soll sich gegen das Guthaben eines russischen Finanzinstituts bei einer Bank in Frankfurt am Main richten. Das russische Finanzinstitut wurde am 3. Juni 2022 vom Rat der Europäischen Union in Anhang I der Russland-Embargo-Verordnung aufgenommen. Kurz nach der Listung soll versucht worden sein, das Guthaben von dem Konto bei der Frankfurter Bank abzuziehen. Iranische Proliferationsbemühungen Die nach wie vor intensiven Beschaffungsbemühungen der Islamischen Republik Iran in Deutschland zielen weiterhin primär auf das dortige Nuklearund Raketenprogramm. Im Januar 2023 verurteilte das Oberlandesgericht Hamburg einen deutsch-iranischen Staatsangehörigen zu zweieinhalb Jahren Haft. Er hatte gegen das Iran-Embargo verstoßen. Der Unternehmer hatte nach Überzeugung des Gerichts mit seiner Firma technische Geräte wie Spektrometer und eine Vakuumpumpe ohne die erforderliche Exportgenehmigung nach Iran geliefert. Derzeit erscheint eine Reduzierung oder gar Aufhebung von Iran-Sanktionen beispielsweise im Rahmen einer Wiederherstellung des "Joint Comprehensive Plan of Action" (JCPoA) kurzbis mittelfristig unrealistisch. Der Rat der Europäischen Union hat beispielsweise den im JCPoA für den sogenannten "Übergangstag" (18. Oktober 2023) angestrebten Wegfall von Sanktionen ausgesetzt. Grund sind fortgesetzte Verstöße Irans gegen den JCPoA. Insofern ist auch weiterhin von illegalen iranischen Beschaffungsversuchen in Deutschland auszugehen. Zur Aufklärung und Abwehr proliferationsrelevanter Aktivitäten arbeitet der Verfassungsschutz NRW eng mit den Sicherheitsund Kontrollbehörden des Bundes zusammen. Hinweisen auf mögliche illegale Lieferungen aus NRW geht die Proliferationsabwehr mit nachrichtendienstlicher Verdachtsfallbearbeitung nach. Durch umfangreiche Sensibilisierungen bei Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Multiplikatoren wird zudem präventiv den Risiken von Proliferationsgeschäften begegnet. Die Spionageabwehr steht Unternehmen für eine individuelle und bedarfs332 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 gerechte Beratung zur Verfügung. Im vertraulichen Austausch wird hierbei unter anderem auf Beschaffungsmethoden und Anzeichen für sensible Geschäfte hingewiesen. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 333 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Cyberangriffe ausländischer Staaten Ausländische Staaten unterhalten hochspezialisierte Teams, die gezielte und fortgeschrittene Cyberangriffe durchführen. Zu den Operationszielen der Akteure zählen politische und wirtschaftliche Spionage, Einflussnahme, Desinformation sowie Sabotage. Insbesondere autokratische Staaten nutzen digitale Möglichkeiten, um etwa Dissidenten auszuspionieren und einzuschüchtern. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz ist im Jahr 2023 insbesondere Hinweisen auf mutmaßliche Cyberaktivitäten der Staaten Russland, China, Nordkorea und Iran nachgegangen. Hierbei informiert und sensibilisiert die Cyberabwehr des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes potenzielle Opfer. Beschreibungen technischer Erkennungsmerkmale helfen den verantwortlichen Systemadministratoren, Spuren der Angreifenden zu erkennen. APT: Professionelles Vorgehen und umfassende Ressourcen In einer Zeit, in der die digitale Vernetzung stetig zunimmt, steigt auch die Bedrohung durch Cyberangriffe. Eine besondere Gefahr stellen staatliche Akteure dar. Diese werden staatlich finanziert und haben Zugang zu erheblichen Ressourcen und Informationen. In der Regel versuchen die Gruppierungen, unbemerkt in Netzwerke einzudringen und dort zu verbleiben. Ihre Ziele sind das Sammeln von Informationen oder die Störung von Betriebsabläufen. Dabei nutzen sie fortgeschrittene Angriffsmethoden. Angriffe staatlich gesteuerter Hackergruppierungen werden deshalb oft als Advanced Persistent Threat (APT) bezeichnet. Charakteristisch für diese Angriffskampagnen sind eine ausgeprägte Geduld und Beharrlichkeit der Ausführenden. Sicherheitsmaßnahmen der Opfer werden mit maßgeschneiderten Angriffsstrategien und innovativen Methoden umgangen. Hierzu zählen unter anderem Schadsoftware, bisher unbekannte Sicherheitslücken und ausgeklügelte Social Engineering Methoden. Die Angreifenden stellen im Voraus gründliche Nachforschungen zu ihren Opfern an. Oftmals gelingt es ihnen, legitime Anmeldeinformationen zu entwenden und ihren Angriff als unauffällige Benutzeraktivität zu tarnen. Nach einem erfolgreichen Eindringen in ein Netzwerk bewegen sich APT-Akteure seitlich (lateral), um Zugriff auf weitere Systeme und Ressourcen zu erlangen. Dies geschieht oft unbemerkt, da sie bereits innerhalb der Sicherheitsperimeter agieren. Aktivitäten von APT-Gruppierungen können sich über Monate oder sogar Jahre erstrecken. Um eine Entdeckung zu vermeiden und auf Änderungen in der Sicherheits334 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 umgebung des Zielnetzwerkes zu reagieren, passen sich APT-Gruppierungen stetig an. Im Gegensatz zu Cyberoperationen, die auf schnellen Gewinn abzielen, bemerken die Opfer die Angriffe in vielen Fällen nicht. Einmal etablierte Zugänge zu den Netzen der Opfer werden von den Angreifenden immer wieder genutzt. APT-Akteure vermeiden große, auffällige Bewegungen, die von Sicherheitssystemen erkannt werden könnten. Vorrangige Angriffsmethoden staatlicher Akteure im Jahr 2023 > Zero-Day-Schwachstellen: Heimlich entdeckte und bisher unbekannte Softwarefehler werden genutzt, um Schutzmaßnahmen zu umgehen. > Social Engeneering und Spear-Phishing: Angreifende setzen auf Ausforschen, Täuschen und Manipulieren von Zielpersonen, damit sie Schadsoftware installieren. > Brute Force und Password Spraying: Mit Hilfe allgemein häufig verwendeter Passwörter wird versucht, Zugang zu Benutzerkonten zu erlangen. > Supply Chain Angriffe: Softwarehersteller oder Dienstleister werden kompromittiert, um Zugang zu Systemen der Zielorganisation zu erlangen. > Geräte unbeteiligter Dritter: Um Angriffe zu verschleiern, werden sogenannte Smart-Home-Geräte gehackt und als Angriffsplattform verwendet. Schwierigkeit der Zuordnung von Cyberangriffen Eine genaue Attribution (Zuschreibung) von APT-Angriffen ist oftmals schwierig. APTGruppen nutzen ausgefeilte Methoden, um ihre Spuren zu verwischen. Dazu gehören die Verwendung von Proxy-Servern, das Kapern von legitimen Netzwerken und die Verwendung von Schadsoftware, die schwer zu identifizieren oder zu verfolgen ist. Verschiedene APT-Gruppen können ähnliche Vorgehensweisen (Tactics, Techniques and Procedures - TTPs) verwenden. Angriffe können daher fälschlicherweise einer bestimmten Gruppe zugeschrieben werden, obwohl tatsächlich ein anderer Angreifer verantwortlich ist. Angreifende können zudem absichtlich Hinweise hinterlassen, die auf andere Gruppen oder Länder hindeuten. Dies soll eine Analyse erschweren. Solche sogenannten "False Flag"-Operationen erschweren die genaue Bestimmung des wahren Urhebers. Die Untersuchung von Cyberangriffen erfordert daher eine detaillierte Analyse. Dennoch kann eine Zuordnung des Angriffs in der Regel nicht zweifelsfrei erfolgen. Angreifende Staaten nutzen dies, um jegliche Involvierung vehement abzustreiten. Die Mehrdeutigkeit wird von manchen Staaten zudem dazu genutzt, eine Atmosphäre der spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 335 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Unsicherheit zu schaffen. Ohne direkt ein eigenes aggressives Handeln zuzugeben, können Cyberangriffe der Abschreckung dienen. Eine öffentliche Zuschreibung eines Cyberangriffs muss mit äußerster Sorgfalt und Vorsicht vorgenommen werden, da sie diplomatische Auswirkungen haben kann. Eine entsprechende Zuordnung wird häufig von politischen, wirtschaftlichen oder diplomatischen Maßnahmen begleitet. Politische und wirtschaftliche Cyberspionage In Anbetracht zunehmender geopolitischer Konflikte und Rivalitäten haben ausländische Nachrichtendienste ein verstärktes Interesse daran, ausländische Staaten durch Spionage aufzuklären. Diese Entwicklung war auch in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2023 spürbar. So ging die Cyberabwehr des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz verstärkt Hinweisen zu politischer und wirtschaftlicher Spionage nach. Durch politische Spionage können Angreifende Einblick in geplante politische Strategien und Entscheidungen konkurrierender Staaten gewinnen. Dies kann politischen Entscheidern ermöglichen, eigene Strategien anzupassen, um Interessen besser durchzusetzen. Wirtschaftliche Spionage kann dagegen dazu dienen, im Vorfeld einer Übernahme Informationen über ein Unternehmen zu gewinnen oder Kenntnisse über fortschrittliche Produktionsmethoden zu erlangen. Besonders beunruhigend sind Konstellationen, bei denen das Wissen beispielsweise für die Entwicklung von Militärtechnologien genutzt werden kann. Insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen ist die Gefahr von Spionageangriffen oftmals nicht unmittelbar bewusst. Sie setzen selbst elementare Sicherheitsmaßnahmen bisweilen nur ungenügend um. Angreifende haben dann ein leichtes Spiel. Ein hohes IT-Schutzniveau kann dagegen das Eindringen in Unternehmensnetze deutlich erschweren. Für den Fall, dass sich ein erfolgreicher Angriff trotz aller Vorkehrungen nicht verhindern lässt, sollte, wie im beschriebenen Fallbeispiel erfolgt, zumindest ein Umdenken im Unternehmen eingeleitet werden. Die regelmäßige Prüfung und Optimierung des eigenen Sicherheitskonzepts wird dringend empfohlen. Verbunden damit sind häufig umfangreiche Maßnahmen, um die IT-Sicherheit grundlegend zu modernisieren und zu stärken. Dies können die Implementierung neuer Sicherheitsprotokolle sein und die Schärfung des Bewusstseins für Cybersicherheit im gesamten Unternehmen durch entsprechende Sensibilisierungsmaßnahmen. 336 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Beispiel: Angriff über einen veralteten Server Bei einem Vorfall im Jahr 2023 konnte ein APT-Akteur erfolgreich einen Cyberangriff auf ein nordrhein-westfälisches Unternehmen durchführen. Dies wurde vom Unternehmen erst nach einem Hinweis der nordrhein-westfälischen Cyberabwehr bemerkt. Die dargelegten Anhaltspunkte für den Angriff wurden dabei zuerst mit ungläubigem Misstrauen aufgenommen. Bei dem Angriff wurde eine bekannte Sicherheitslücke eines Servers ausgenutzt. Dieser Server war bereits zur Ausmusterung vorgesehen. Anhaltende Lieferengpässe zwangen das Unternehmen jedoch, den Betrieb fortzusetzen. Durch einen unglücklichen Zufall war der Server bereits aus dem Schwachstellenmanagement des Unternehmens entfernt worden. Es existierte zwar ein Patch für die Schwachstelle, doch dieser wurde nie implementiert. Ein geschickter staatlicher APT-Akteur nutzte diese Lücke aus, um unbemerkt in das Netzwerk einzudringen. Von dem Server gelang es dem Akteur, sich über längere Zeit im Unternehmensnetzwerk fortzubewegen. Er bewegte sich für das Opfer unsichtbar durch das Netzwerk, sammelte Informationen und hinterließ kaum Spuren. Die Untersuchung zeigte später, dass sich der Angreifende insbesondere für bestimmte Produktionstechniken interessierte. Er kehrte zu bestimmten Unternehmensbereichen regelmäßig zurück, um weitere Daten zu sammeln. Hierbei hatte er freien Zugang zu Unternehmensgeheimnissen, Produktionsmethoden und sensiblen Daten. Typisch für solche Fälle ist, dass das Unternehmen durch einen Hinweis von außen auf das Eindringen aufmerksam gemacht wurde. Bei der Untersuchung eines Hackerangriffs in einem anderen Fall fiel auf, dass Verbindungen zu IP-Adressen des Unternehmens hergestellt worden sind. Zahlreiche weitere Indizien, darunter unbekannte Nutzerkennungen und ungewöhnliche Netzwerkaktivitäten, bestätigten schließlich das Angriffsszenario. Die folgende forensische Untersuchung erforderte die Einbeziehung von externen Spezialisten und erstreckte sich über mehrere Wochen. Nach abschließender Bewertung der Unternehmensleitung handelte es sich um den schwersten Sicherheitsvorfall seit der eigenen Gründung. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 337 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Cyberoperationen zur Einflussnahme und Desinformation Staatlich gesteuerte Cyberakteure nutzen Cyberangriffe, um Desinformationskampagnen durchzuführen. Die Aktivitäten der Gruppierungen zielen darauf ab, politische Prozesse zu beeinflussen und das Vertrauen in Institutionen zu untergraben. Die öffentliche Meinung soll hierbei in die Richtung eigener Interessen und Positionen gelenkt werden. Durch die Förderung demokratiefeindlicher Kandidatinnen und Kandidaten können Demokratien nachhaltig geschädigt und die Außenpolitik eines Landes verändert werden. Insbesondere autokratische Akteure versuchen, das Vertrauen in demokratische Institutionen und Medien zu untergraben. Durch das Säen von Zweifeln an der Glaubwürdigkeit von Nachrichtenquellen und das Vertiefen gesellschaftlicher Spaltungen zielen sie darauf ab, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Vertrauen in demokratische Prozesse zu schwächen. Eine Methode besteht darin, E-Mail-Konten oder -Server zu hacken, um an vertrauliche Informationen zu gelangen. Die gestohlenen Daten werden in der Folge selektiv veröffentlicht oder manipuliert, um politische Gegner zu diskreditieren oder Debatten zu beeinflussen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Hack der E-Mail-Konten des Democratic National Committee (DNC) in den USA im Jahr 2016. Hacker drangen in die Computersysteme des DNC ein und entwendeten E-Mails und Dokumente. Verschiedene gestohlene Informationen wurden später online veröffentlicht und wurden zum Gegenstand einer politischen Skandalisierung. Dies beeinflusste die öffentliche Meinung und schädigte insbesondere die Demokratische Partei und ihre damalige Präsidentschaftskandidatin. In Europa ist die pro-russische Hackergruppe Ghostwriter im Zusammenhang mit Desinformationskampagnen, insbesondere in Osteuropa, bekannt geworden. Vor der Bundestagswahl 2021 griff die Gruppe unter anderem Personen im politischen Umfeld Deutschlands an. Hierbei versuchte sie, sich durch Phishing-E-Mails den Zugang zu E-Mail-Konten zu verschaffen. Über die Kontrolle dieser E-Mail-Konten hätten die Angreifer Zugriff auf Social-Media-Konten erlangen können. Über diese wäre es den Angreifern mutmaßlich gelungen, Desinformationen zu verbreiten. Im September 2021 verurteilte die Bundesregierung die Aktivitäten als Vorbereitung von Desinformationskampagnen Russlands. Indizien deuten darauf hin, dass die Gruppierung nach wie vor in Europa und Deutschland aktiv ist. Staatlich gesteuerte Akteure nutzen soziale Medien und andere digitale Plattformen, um Falschnachrichten zu verbreiten. Dabei kommen beispielsweise sogenannte Social338 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Media-Bots und bezahlte "Trolle" (Personen, die dies als ihre Hauptaufgabe verstehen) zum Einsatz. Ziele sind, Verwirrung und Misstrauen zu verbreiten, Konflikte zu schüren und politische Extreme zu verstärken. Im Zuge der Weiterentwicklung von Technologien der Künstlichen Intelligenz (KI) ist zu befürchten, dass die Zahl gefälschter Bilder und Videos deutlich zunehmen wird. Bereits heute werden zum Beispiel Videosequenzen aus Computerspielen manipuliert und in den sozialen Medien als echte Ereignisse dargestellt, um zum Beispiel eine bestimmte Erzählung oder Falschmeldung zu unterstützen beziehungsweise um Aufmerksamkeit zu erhalten. InsIn seinem Entwickler-Blog informiert der besondere Szenen aus Computerspielen können Hersteller von Arma 3 über den Missbrauch realistisch wirken und im Kontext einer vervon Sequenzen des Videospiels für Falschmeldungen. meintlichen Berichterstattung nicht unmittelbar als Fälschung erkannt werden. Um Desinformationskampagnen entgegenzuwirken, ist ein mehrschichtiger Ansatz erforderlich. Hierzu zählen Bildungsprogramme, die das Bewusstsein für Desinformation und ihre Auswirkungen schärfen und zu einer gesteigerten Medienkompetenz führen. In seinen Veranstaltungen sensibilisiert der Verfassungsschutz regelmäßig vor den Gefahren der Einflussnahme. Faktenprüfer und unabhängige Medienorganisationen, die Desinformation aktiv identifizieren und richtigstellen, sind ebenfalls ein wichtiger Bestandteil gegen Einflussnahme. Klare und zugängliche Faktenchecks können dazu beitragen, falsche Narrative zu entlarven. Faktenprüfer berichten jedoch, dass es mit Blick auf zunehmende Fehlinformationen in den sozialen Medien immer schwieriger wird, mit der Flut an Falschmeldungen mitzuhalten. Dies gilt beispielsweise im Kontext der Terroranschläge der HAMAS gegen den Staat Israel. Eine wichtige Rolle im Kampf gegen Desinformationskampagnen spielen die Betreiber von Online-Plattformen. Algorithmen, die bestimmen, welche Inhalte den Nutzern angezeigt werden, sollten transparent sein. Ebenso können Technologien, die automatisch Desinformation erkennen und kennzeichnen, bei der Bekämpfung von Desinformationskampagnen helfen. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 339 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Beispiel: Quartalsbericht über koordiniertes unechtes Verhalten Der META Threat Report ist ein Bericht, der von Meta Plattforms, Inc., dem Unternehmen hinter Facebook, Instagram und WhatsApp, veröffentlicht wird. Er bietet Einblicke in die Maßnahmen, die das Unternehmen gegen koordiniertes unechtes Verhalten (Coordinated Inauthentic behavoir - CIB) und andere Bedrohungen auf seinen Plattformen unternimmt. Der Bericht basiert auf der Arbeit von METAs Sicherheitsteams, die Bedrohungen identifizieren und analysieren. Er enthält Details zu bestimmten Kampagnen und Taktiken, die nach Angaben von META von verschiedenen Akteuren weltweit eingesetzt werden. Diese Analysen sollen dabei helfen, das Verständnis für die Art und Weise zu verbessern, wie Akteure versuchen, die Plattformen von META für manipulative Zwecke zu missbrauchen. Der Threat Report für das dritte Quartal 2023 hebt in Bezug auf Einflussnahme unter anderem folgende Erkenntnisse hervor: > Die produktivsten geographischen Ursprünge verdeckter Operationen zur Einflussnahme auf den Plattformen befinden sich in Russland, Iran und China. > Trotz der Unterbrechung durch einzelne Plattformen bleiben viele Kampagnen zur Einflussnahme im Internet aktiv. > Die Netzwerke haben Schwierigkeiten, ein größeres Publikum anzuziehen und verlagern sich auf kleinere Plattformen. > Der Bericht warnt vor sich entwickelnden Taktiken und Zielsetzungen ausländischer Bedrohungsakteure mit Hinblick auf die in 2024 anstehenden Wahlen (unter anderem in den USA und Europa). > Insbesondere generative KI stellt Herausforderungen für die Abwehr von Einflussnahme dar. Bisher konnte KI jedoch die Bekämpfung verdeckter Einflussoperationen nicht untergraben. Denn KI hilft auch dabei, potenziell schädliche Inhalte zu erkennen und zu stoppen. Hacktivismus und Denial of Service Angriffe Hacktivismus ist eine Form des Aktivismus, die sich der Computertechnologie bedient, um politische oder soziale Ziele zu propagieren. Hacktivisten nutzen häufig illegale Methoden wie das Hacken von Webseiten, das Durchführen von sogenannten Distributed Denial of Service (DDoS) Angriffen oder das Veröffentlichen vertraulicher Daten. Immer wieder besteht der Verdacht, dass ausländische Staaten den Deckmantel des Hacktivismus nutzen, um eigene Cyberangriffe und Hack and Leak-Operationen unter falscher Flagge durchzuführen. 340 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Der Überfall Russlands auf die Ukraine und der terroristische Angriff der HAMAS auf Israel haben zu einer Verstärkung hacktivistischer Aktivitäten geführt. So wurden im November 2023 Sabotageangriffe der Hacktivistengruppe "Cyber Av3engers" auf kritische Infrastrukturen bekannt. Hierbei griff die Gruppierung weltweit speicherprogrammierbare Steuerungen (PLC) des israelischen Herstellers "Unitronics" an. Betroffen waren insbesondere Einrichtungen Bildschirmanzeige nach einem Sabotageangriff der der Wasserund Abwasserwirtschaft. Bei Gruppierung "Cyber Av3engers" den bisher erfolgten Angriffen hinterließen die Angreifer ein Defacement, welches sich gegen den Staat Israel richtete. US-Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass die Gruppierung der iranischen Revolutionsgarde nahesteht. Eine weitere Reaktionsform bilden sogenannte DDoS-Angriffe. Diese können zeitweise zu einer Herabsetzung der Verfügbarkeiten von Web-Angeboten betroffener Unternehmen und Institutionen führen. Zwar werden in der Regel keine lang anhaltenden Schäden durch die Angriffe verursacht, jedoch kann der Ausfall des normalen Betriebs eines Dienstes oder einer Webseite gravierende Seiteneffekte haben. Der Ausfall von Online-Diensten wie Bankgeschäften, Verkaufsplattformen oder sozialen Medien kann zu einem Verlust der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens von Kunden und einer Beeinträchtigung der Markenwahrnehmung führen. Die Ausfallzeiten durch DDoSAngriffe können zudem zu direkten finanziellen Verlusten führen. Dies gilt insbesondere für Unternehmen, die stark von Online-Transaktionen abhängig sind. Zusätzlich können die Kosten für die Stärkung Englischsprachiger Telegram-Eintrag von "NoName057(16)" mit der Infrastruktur gegen zuBezug zur deutschen Ukraine-Politik und zur vermeintlichen Beeinträchtigung des Zugangs zur Website des Bundesministeriums künftige Angriffe für Unternehmen erheblich sein. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 341 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Jahr 2023 wurden in Deutschland und Nordrhein-Westfalen erneut DDoS Angriffe festgestellt, die in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine standen und mutmaßlich von pro-russische Akteuren durchgeführt wurden. Während im Jahr 2022 noch vermehrt Angriffe der Gruppierung KILLNET zugeordnet wurden, trat im Jahr 2023 die Gruppierung NoName057(16) zunehmend in Erscheinung. Auf ihren TelegramKanälen reagiert die Gruppierung auf Meldungen der internationalen Presse, die Unterstützungsleistungen verschiedener Staaten für die Ukraine thematisieren. So führte beispielsweise der unangekündigte Besuch der Ukraine durch Wirtschaftsminister Robert Habeck am 3. April 2023 zur Ankündigung von DDoS-Angriffen gegen deutsche Webseiten. Die Kommunikation der Gruppierung erfolgt über mehrere TelegramKanäle in russischer und englischer Sprache. Auf ihrem englischsprachigen TelegramKanal nennt die Gruppierung bestimmte Länder mit einer auffälligen Häufigkeit. Mazedonien Rumänien USA Australien Belgien Österreich Slowakei Bulgarien Schweiz Norwegen Vereinigtes Königreich Niederlande Dänemark Finnland Frankreich Estland Lettland Schweden Spanien Deutschland Italien Tschechien Litauen Polen Ukraine 0 100 200 300 400 500 600 700 Anzahl der überwiegend negativen Nennungen von Staaten im Jahr 2023 auf dem englischen Telegram-Kanal von NoName057(16) Um ein Angriffsnetz aufzubauen, hatte NoName057(16) bereits im September 2022 das DDoSia-Projekt ins Leben gerufen. DDoSia bezeichnet eine von der Gruppe bereitgestellte und stetig weiterentwickelte Software, die von Sympathisanten heruntergeladen und für Angriffe verwendet werden kann. Die Software ist jedoch nur für verifizierte oder eingeladene Nutzer in einer halbgeschlossenen Telegram-Gruppe verfügbar. NoName057(16) stellt den Mitgliedern der DDoSia-Gruppe für Angriffe eine Belohnung in Kryptowährung in Aussicht. Die Schlagkraft der Gruppierung wird zunehmend als hoch bewertet. Anfang Dezember 2023 verfügte der DDoSia-Telegram342 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kanal über rund 16.000 Mitglieder. Der russischsprachige offene Telegram-Kanal von NoName057(16) verfügte zu diesem Zeitpunkt über rund 60.000 Abonnenten. Telegrambeitrag zum Erreichen von 16.000 Mitgliedern beim DDosSia-Projekt Cyber-Sabotage und Ransomware Eine Vielzahl von Staaten haben die zerstörerische Wirkung von Cyberangriffen erkannt und diese in ihre Kriegsführungstaktiken integriert. Der Überfall Russlands auf die Ukraine zeigt, dass gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Ländern inzwischen auch Cyberattacken auf essentielle Infrastrukturen beinhalten können. So wurden beispielsweise Mitte Dezember 2023 Berichte zu Störungen im Mobilfunknetz der Ukraine bekannt, die mutmaßlich durch Cyberangriffe auf die Netzinfrastruktur verursacht wurden. Besonders schwerwiegende Cyberangriffe werden in der NATO wie ein militärischer Angriff bewertet. Dies trifft zum Beispiel bei massiven Störungen der kritischen Infrastruktur in Verbindung mit dem Verlust von Menschenleben zu. In bestimmen Fällen können Cyberangriffe den Verteidigungsfall auslösen. Seit 2016 gilt der Cyberraum in der NATO neben Land, Meer und Luft als vierter militärischer Operationsraum. Um in Krisensituationen Cyberangriffe als Waffe einsetzen zu können, müssen diese bereits in Friedenszeiten vorbereitet werden. Tatsächlich werden von Sicherheitsunternehmen in regelmäßigen Abständen immer wieder Cyberangriffe detektiert, die mutmaßlich spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 343 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zugangsmöglichkeiten zu technischen Systemen der kritischen Infrastruktur sicherstellen sollen. Bei diesen Fällen sprechen Indizien oftmals für staatliche APT-Akteure. In Zusammenhang mit Cybersabotage werden auch häufig Cyberangriffe zur Erpressung, sogenannte Ransomware-Angriffe, genannt. Nach wie vor stellen diese eine der größten IT-Bedrohungen weltweit und damit auch in Nordrhein-Westfalen dar. Für das Jahr 2023 wird erneut von einem immensen wirtschaftlichen Schaden ausgegangen. Durch die Veröffentlichung vertraulicher Daten im Zuge von RansomwareAngriffen werden personenbezogene Daten von Millionen von Nutzern ins Internet eingestellt und bieten Ansatzpunkte für weitere Angriffe durch Cyberkriminelle und Nachrichtendienste. Cyberangriffe mit Ransomware werden in Deutschland jedoch bisher überwiegend kriminellen Akteuren und nur in seltenen Fällen Nachrichtendiensten zugeschrieben. 344 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 345 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Wirtschaftsschutz und Geheimschutz in der Wirtschaft Wenn Bahnen stillstehen, Stadtverwaltungen keine Anträge bearbeiten können oder Krankenhäuser Operationen verschieben müssen, ist dies in der Regel mit großen persönlichen, teils kritischen Einschränkungen für Wirtschaft und Bevölkerung verbunden. Während die Täter bei Hacking-Angriffen, die mit Lösegeldforderungen verbunden sind, aus einer wirtschaftlich-kriminellen Motivation heraus handeln, verfolgen ausländische Nachrichtendienste und Extremisten bei ihren Angriffen andere Ziele. Die Schädigung von Unternehmen und Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) liegt beispielsweise im besonderen Interesse bestimmter Staaten, um die Wirtschaft zu beeinträchtigen, das politische System des angegriffenen Staates zu schwächen oder die Gesellschaft zu verunsichern. Motivationen können zudem sein, eigene politische Ziele durchzusetzen oder den öffentlichen Fokus von außenpolitischen Konfliktfeldern abzulenken. Für manche Akteure ist das Herbeiführen einer nationalen Krisensituation Bestandteil von extremistischen Umsturzplänen und "Tag X"-Fantasien. Kritische Infrastrukturen und Kommunen als Angriffsziele Wegen der hohen Bedeutung für das Funktionieren von Gesellschaft und Staat stellen die sogenannten Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) und KRITIS-nahen Unternehmen eine besondere Zielkategorie dar. Unter die KRITIS-Kategorie fallen insbesondere Unternehmen und Betriebe aus den Bereichen Energie, Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser, Ernährung sowie Finanzund Versicherungswesen. Um sich über das Schutzniveau und die Bedarfe der Infrastrukturbetreiber in Nordrhein-Westfalen auszutauschen, hat das Ministerium des Innern im Mai 2023 KRITIS-Vertreter zu einem Austausch über Problemstellungen, Erwartungshaltungen und entsprechende Maßnahmenangebote eingeladen. Aufgrund des erfolgreichen Auftakts wurde vereinbart, das Gesprächsformat auch in Zukunft weiter zu nutzen. Auf kommunaler Ebene bündeln sich viele Bedarfe des täglichen Lebens, so dass Kommunalverwaltungen mit Blick auf ihre Bürgerbüros und Behörden sowie auf die kommunalen Krisenund Notfallkonzepte eine besondere Angriffsfläche bieten. Der Wirtschaftsschutz führte daher zusammen mit dem für den Geheimschutz zuständigen Referat des Innenministeriums im ersten Quartal 2023 eine Sensibilisierungskampagne mit dem Titel "Kommunale Notfallplanung und Geheim346 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 schutz in der Kommunalverwaltung" durch. Zu fünf regionalen Veranstaltungen waren Vertreterinnen und Vertreter aller Kommunen in NRW eingeladen. Das gesteigerte Bewusstsein gegenüber unternehmerischen Gefahren von Angriffen und Sabotageakten spiegelt sich in der Nachfrage nach Vorträgen und Beratungsgesprächen wider. Der Wirtschaftsschutz hat mit Sensibilisierungsvorträgen in Onlineund Präsenzformaten im Berichtsjahr insgesamt über 2.700 Personen bei rund 60 Veranstaltungen informiert und sensibilisiert. Die Vortragsund Sensibilisierungsangebote sind auf die Bedarfe unterschiedlicher Zielgruppen wie Entscheidungsträger, IT-Verantwortliche, Auslandsreisende, Auszubildende und im Personalbereich Beschäftigte angepasst. Ein interaktives Vortragsmodul ermöglicht es den Teilnehmenden beispielsInformationen zu den Beratungsund weise, das eigene Schutzniveau selbst einzuSensibilisierungsangeboten des Wirtschätzen und damit Erkenntnisse zu individuellen schaftsschutzes gibt es unter www.im.nrw/wirtschaftsschutz Stärken und Schutzdefiziten zu erhalten. Sicherheitspartnerschaft NRW Die Sicherheitspartnerschaft gegen Wirtschaftsspionage und Wirtschaftskriminalität Nordrhein-Westfalen verbindet die Wirtschaft auf der einen Seite mit Sicherheitsbehörden auf der anderen. Mitglieder sind das Ministerium des Innern mit den Bereichen Polizei und Verfassungsschutz, das Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie, die Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft West e.V., die Industrieund Handelskammern in Nordrhein-Westfalen e. V. sowie der Verband der Wirtschaftsförderungsund Entwicklungsgesellschaften in NRW e.V. Die Sicherheitspartner verpflichten sich zu einer engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit, um den Schutz der Wirtschaft zu stärken, über Wirtschaftsspionage, Wirtschaftskriminalität und Sabotage aufzuklären und zu sensibilisieren, Schäden zu reduzieren und kooperative Netzwerke zu stärken. Die Partner setzen auf den kontinuierlichen Austausch von Informationen, die Beratung und Unterstützung von Unternehmen sowie auf gemeinsame Projekte und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. Die Sicherheitspartnerschaft profitiert dabei von der Expertise der einzelnen Partner. Das Ministerium des Innern bringt spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 347 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 sowohl das spezifische Wissen des Verfassungsschutzes zur Wirtschaftsspionage als auch das der Polizei zur Wirtschaftskriminalität ein. Die Zusammenarbeit in 2023 war von Arbeitstreffen und gegenseitiger Unterstützung von Veranstaltungsformaten geprägt. Wirtschaftsschutztag "Künstliche Intelligenz" Im November 2023 veranstaltete der Verfassungsschutz den Wirtschaftsschutztag NRW unter dem Titel "Künstliche Intelligenz - Chancen und Herausforderungen für die Unternehmenssicherheit" im Ministerium des Innern. Neben einer allgemeinen Einführung in die Thematik vermittelten Beiträge der Kompetenzplattform KI.NRW, des Lamarr-Instituts für Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz und des Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) einen Überblick über unternehmerische Chancen und Risiken beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI). Mit einem besonderen Fokus darauf, was der Einsatz von KI für die Unternehmenssicherheit bedeutet und wie sich Wirtschaftsunternehmen entsprechend wappnen können, diskutierten Vertreter des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und Unternehmen gemeinsam mit dem Publikum. So wurden beispielsweise die Möglichkeiten des Einsatzes von KI in Cyber-Angriffserkennungssystemen beleuchtet. Zudem wurde an einem Beispiel gezeigt, wie mittelständische Unternehmen von gezielt für die eigenen Bedürfnisse entwickelter KI profitieren können. Insgesamt wurde deutlich, dass KI kein Thema ausschließlich für große Unternehmen und Konzerne ist, sondern auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) unterstützen kann. Der Wirtschaftsschutztag NRW bot einen Tag lang einen spannenden und intensiven Austausch zum Zukunftsthema KI 348 spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Geheimschutzbetreute Wirtschaft Die Betreuung und Beratung der sogenannten "geheimschutzbetreuten Wirtschaft" ist ein wichtiger Aufgabenbereich des Wirtschaftsschutzes. Es handelt sich hierbei um Unternehmen, die mit sicherheitsempfindlichen Aufträgen und Projekten betraut werden oder schon betraut sind. Sie müssen die speziellen Anforderungen und Verfahren des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (SÜG) durchlaufen und fortlaufend erfüllen. Bei der individuellen Betreuung der Unternehmen arbeitet der Verfassungsschutz eng mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und dem nordrhein-westfälischen Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie zusammen. Neben zahlreichen Einzelfallberatungen und Sensibilisierungsgesprächen vor Ort führte der Verfassungsschutz in 2023 einen Geheimschutztag zum Thema "Gefahren durch Drohnen - wie können Detektion und Abwehr gelingen" im nordrhein-westfälischen Innenministerium durch. Ziele sind, das Schutzniveau weiterhin hochzuhalten, zu verbessern und auf neue Gefahrenszenarien einzugehen. Der Fokus liegt auf der Sensibilisierung von Sicherheitsbevollmächtigten und in kritischen Bereichen tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Kontakt zum Wirtschaftsschutz Bei Interesse an den kostenlosen Angeboten des Verfassungsschutzes zur Sensibilisierung und Initialberatung oder beim Verdacht auf Spionageoder Sabotageaktivitäten können Unternehmen telefonisch unter 0211 8712821 und per E-Mail an wirtschaftsschutz@im1.nrw.de Kontakt zum Wirtschaftsschutz aufnehmen. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen kann ein Maximum an Vertraulichkeit zusichern. spIonageabwehr und wIrtschaftsschutz 349 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 350 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Präventionsarbeit und Aussteigerprogramme präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 351 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zusammenfassung Der Start der Online-Komponente des Landespräventionsprogramms "Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus" war ein Meilenstein in der Präventionsarbeit des NRW-Verfassungsschutzes im Jahr 2023. Darüber hinaus hat die Umsetzung der Empfehlungen zweier wissenschaftlicher Evaluationen die Arbeit in diesem Jahr ganz besonders vorangebracht. Die Vernetzung mit bereits bewährten und neuen Akteuren blieb weiter wichtig. Online-Prävention gestärkt Am 15. November 2023 ging die Online-Komponente des Programms "Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus" an den Start. Das Ziel: so niedrigschwellig wie möglich, anonym, vertraulich und kostenlos Beratung anzubieten. Im Chat sind Beratungskräfte des Programms per Mausklick erreichbar, auch in den Abendstunden und am Wochenende. Gerade an Jugendliche und ihr Umfeld richtet sich das Angebot. Jugendliche werden in sozialen Medien besonders intensiv von Extremisten umworben. Wegweiser ist weiterhin auch über ein flächendeckendes Netzwerk von Beratungsstellen ansprechbar. Sie bieten, insbesondere für Schulen, auch Workshops an, um Medienkompetenz zu stärken. Wissenschaftliche Evaluationen setzen Impulse Zwei Präventionsprogramme des NRW-Verfassungsschutzes haben sich einer externen, wissenschaftlichen Evaluation gestellt: das Programm "Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus" und das Aussteigerprogramm Islamismus (API). Beide Programme wurden qualitativ und quantitativ untersucht, die wissenschaftlichen Teams nahmen Strukturen, Prozesse und Methoden in den Blick und legten 2022 ihre Berichte vor. Sie bescheinigen beiden Programmen eine gute Arbeit und gaben ihnen Empfehlungen für die weitere Entwicklung an die Hand. Die Programme nahmen sich im Jahr 2023 der Umsetzung dieser Empfehlungen an. In beiden Fällen waren die wissenschaftlichen Teams in den Prozess eingebunden, sodass alle Schritte der Umsetzung unmittelbar mit den Forschenden rückgekoppelt werden konnten. 352 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Auch die Beratungskräfte vor Ort im Präventionsprogramm Wegweiser waren in die Umsetzung der Handlungsempfehlungen intensiv eingebunden. Die Ergebnisse der API-Evaluation und Erfahrungen der Umsetzung kommen auch den beiden anderen Aussteigerprogrammen im NRW-Verfassungsschutz zugute: Spurwechsel für den Bereich Rechtsextremismus und Left für Linksextremismus und auslandsbezogenen Extremismus. Fachworkshops für Kommunen und E-Sport-Community Das Projekt "Kommunen gegen Extremismus" hat im Jahr 2023 mit fortentwickelter Konzeption einen neuen Start genommen. In diesem Zuge kamen Vertreterinnen und Vertreter der beteiligten Kreise, Städte und Gemeinden im November im Ministerium des Innern zusammen, informierten und vernetzten sich, tauschten Informationen und Erfahrungen aus. Im Projekt "Kommunen gegen Extremismus" arbeiten der NRW-Verfassungsschutz, der Polizeiliche Staatsschutz und die beteiligten Kommunen zusammen. Im Jahr 2023 haben der Verfassungsschutz NRW und der Landesverband für E-Sport Nordrhein-Westfalen zum Thema Rechtsextremismus im Bereich E-Sport und Gaming die Zusammenarbeit aufgenommen. An einem Fachworkshop in Köln im August 2023 nahmen Vertreterinnen und Vertreter unter anderem aus E-Sport und Gaming, politischer Bildung und Sicherheitsbehörden teil und entwickelten gemeinsam Ideen für Präventionsmaßnahmen. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 353 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Fokus: Wegweiser im Internet - Niederschwelliger Beratungszugang per Live-Chat Das etablierte Präventionsprogramm des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes "Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus" bietet jetzt auch online Beratung und Unterstützung an. Das Angebot ist anonym, vertraulich und kostenlos und ermöglicht per Mausklick einen einfachen und direkten Kontakt zu Beraterinnen und Beratern der 24 lokalen Wegweiser-Standorte. Islamistische Online-Propaganda richtet sich gezielt an junge Menschen. In den vor allem bei ihnen populären sozialen Medien wie TikTok, YouTube und Instagram haben Videos, Bilder und Textbeiträge eine enorme Reichweite. Gerade für Jugendliche ist es schwierig, die unterliegenden ideologischen Absichten zu erkennen. Dies stellt auch Angehörige und Fachkräfte im Umgang mit sozialen Medien vor große Herausforderungen. Nicht immer geht es bei der Propaganda um die Darstellung von Gewalt oder die Verbreitung von Hass und Hetze, oft sind es subtile Botschaften. Zu scheinbar harmlosen Alltagsthemen werden Antworten auf Fragen gegeben, die sich vor allem Jugendliche und junge Erwachsene stellen. Das macht es den jungen Menschen besonders schwer, die damit verbundenen ideologischen Absichten zu erkennen. Umso größer ist die Gefahr, dass diese Themen als Einstieg zu extremistischem Gedankengut benutzt werden und so Radikalisierungsprozesse ihren Anfang nehmen. Junge Menschen hiervor zu schützen erfordert unter anderem, sie widerstandsfähig gegen diese Botschaften zu machen. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist, ihre Medienkompetenz zu stärken. Zugleich gilt es, ihr Umfeld, ihre Angehörigen, aber auch diejenigen, die sie beruflich oder ehrenamtlich begleiten, zu informieren und darin zu unterstützen, im Austausch mit den jungen Menschen das Gesehene und Gehörte einzuordnen und alternative, also demokratische und humane, Narrative anzubieten. 354 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Start der Online-Komponente Das vom Ministerium des Innern koordinierte Landespräventionsprogramm "Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus" mit seinem flächendeckenden Netzwerk von Beratungsstellen in ganz Nordrhein-Westfalen unterstützt junge Menschen und deren Umfeld schon seit 2014 darin, auf Anzeichen für eine mögliche Hinwendung zum Islamismus zu reagieren und so Radikalisierungsprozessen frühzeitig zu begegnen. Mit dem Ziel, sich auch den besonderen Herausforderungen digitaler Medien zu stellen, wurde das Programm im Sinn einer ganzheitlichen Präventionsstrategie um eine OnlineKomponente erweitert. Der Leitgedanke ist, ein niedrigschwelliges Angebot bereitzustellen, das auch diejenigen erreicht, die den Kontakt mit einer Wegweiser-Beratungsstelle bisher gescheut haben. Zeitund ortsunabhängig soll eine Möglichkeit eröffnet werden, sich zunächst aus der Distanz im eigenen Tempo dem Präventionsangebot zuzuwenden und zwar im selben Medium, in dem auch das extremistische Gedankengut verbreitet wird. Um dieses Ziel zu erreichen, ist am 15. November 2023 die Online-Komponente von Wegweiser an den Start gegangen. NRW-Innenminister Herbert Reul und Jürgen Kayser, Leiter des NRW-Verfassungsschutzes, bei der Vorstellung der neuen Online-Komponente am 15. November 2023 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 355 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kernstück: Chat als Web-Anwendung Das Kernstück der Online-Komponente bildet die erneuerte Wegweiser-Internetseite mit einem anonymen, vertraulichen und kostenlosen Chat-Angebot. Die vorrangig auf die junge Zielgruppe ausgerichtete Internetseite hält zahlreiche Informationen bereit. Dies sind unter anderem Antworten auf Fragen zu Alltagsthemen, denen junge Menschen im Internet begegnen. Eigene Informationsangebote gibt es darüber hinaus für Angehörige sowie für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, zum Beispiel pädagogische Fachkräfte. Der Chat bietet die Möglichkeit zum individuellen Austausch, es können Fragen gestellt und Rat eingeholt werden. Dabei werden von den Ratsuchenden keine personenbezogenen Daten erfragt, weder ihre Telefonnummern noch E-Mailoder IP-Adressen werden in der Anwendung gespeichert. Interessierte können zwischen zwei Varianten der Chatberatung wählen. Zum einen kann zu bestimmten Zeiten live gechattet werden. Zum anderen können nach einem kurzen Registrierungsprozess, bei dem ebenfalls keine persönlichen Daten angegeben werden müssen, sogar rund um die Uhr Anfragen gestellt werden. Auf diese gibt es dann zu den üblichen Bürozeiten eine Rückmeldung. Zugang zum neuen Wegweiser-Chat Der Live-Chat ist unter www.wegweiser.nrw.de montags bis freitags von 10 Uhr bis 22 Uhr und am Wochenende von 14 Uhr bis 20 Uhr erreichbar. Zudem besteht auch außerhalb dieser Zeiten jederzeit die Möglichkeit, sich zu registrieren und eine Anfrage zu stellen. Wie in den Beratungsstellen bedarf es für Ratsuchende auch online im Chat eines geschützten Raumes, in dem sie sich den Wegweiser-Beratungskräften anvertrauen können. Bei der Konzeption von Website und Chat-Modul wurden dementsprechend an die Sicherheit der Informationen, die Ratsuchende im Chat mit den Wegweiser-Beratungskräften austauschen, hohe Anforderungen gestellt. Dabei dienten die Vorgaben und Empfehlungen des Bundesamts für die Sicherheit in der Informationstechnik für die Entwicklung sicherer Webanwendungen als Maßgabe. 356 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Geleistet wird die Chat-Beratung von den Beraterinnen und Beratern des WegweiserProgramms. Für ihre Onlinetätigkeit sind die Wegweiser-Beratungskräfte im Rahmen eines eigens entwickelten Schulungskonzepts umfassend fortgebildet worden. Gegenstand waren neben einer Auseinandersetzung mit den Chancen und Grenzen der Online-Beratung die Sensibilisierung für die besonderen Anforderungen an Datenschutz und Vertraulichkeit im Internet. Die Beraterinnen und Berater haben sich intensiv mit den digitalen Lebenswelten von jungen Menschen und der Bedeutung der sozialen Medien in Radikalisierungsprozessen befasst. Medienkompetenz-Workshops für Schulen Medienbildung und -kompetenz waren weitere wesentliche Bestandteile des Schulungskonzepts. Auf dieser Grundlage bieten die Wegweiser-Beratungsstellen Medienkompetenz-Workshops an, die von Schulen angefragt werden können. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrkräften wird darin die Meinungsbildung im Internet reflektiert und hinterfragt, Manipulationen und Falschinformationen ("Fake News") werden bewusstgemacht und der Umgang mit Verschwörungsmythen und "hate speech" wird thematisiert. Kontakt zu Wegweiser Die Kontaktdaten der Wegweiser-Beratungsstellen sind über den Beratungsstellenfinder unter www.wegweiser.nrw.de verfügbar. Die zentrale Wegweiser-Hotline ist montags bis freitags von 8 Uhr bis 18 Uhr unter 0211 871-2728 oder per Mail unter info@wegweiser.nrw.de erreichbar. Sie vermittelt auf Wunsch Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner vor Ort. Die neue Website und das Chat-Angebot werden von einer medienübergreifenden Kampagne der Öffentlichkeitsarbeit des NRW-Verfassungsschutzes begleitet. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 357 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Übergreifende Konzepte und Vernetzung Der NRW-Verfassungsschutz arbeitet im Bereich der Extremismusprävention mit zahlreichen Akteuren auf kommunaler, Landesund Bundesebene zusammen. Er beteiligt sich an Arbeitsgruppen und Netzwerken und bringt dort seine Expertise ein. Ziel ist vor allem der regelmäßige Austausch über aktuelle Entwicklungen und Fragestellungen im Themenbereich, um damit eine erfolgreiche Arbeit und Weiterentwicklung der Maßnahmen des Verfassungsschutzes zu ermöglichen. Integriertes Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus und Rassismus Rechtsextremistische und rassistische Einstellungen sind in vielfältigen Weisen in der Gesellschaft präsent und treten in allen Milieus auf. Um demokratische Kräfte zu unterstützen sowie undemokratischen und rassistischen Entwicklungen entgegenzuwirken, entwickelte die Landesregierung NRW 2016 unter dem Leitziel "NordrheinWestfalen handelt geschlossen für ein respektvolles gesellschaftliches Miteinander - gegen Rechtsextremismus und Rassismus" das Integrierte Handlungskonzept zu diesen Themenfeldern. Ziel des Handlungskonzeptes ist es, die Aktivitäten der Landesregierung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus durch eine nachhaltige Strategie besser aufeinander abzustimmen. 22 Maßnahmen gehören zum allgemeinen Verantwortungsund Arbeitsbereich des Verfassungsschutzes. Basierend auf den Ergebnissen der Evaluation im Jahr 2022 erfolgte im Jahr 2023 eine kritische Reflexion zur Weiterentwicklung des Handlungskonzeptes. Mit der Steuerung des Handlungskonzepts ist eine Interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG) beauftragt. Ziel der IMAG ist die Abstimmung, Unterstützung und Begleitung der Prozesse zur Umsetzung des Handlungskonzepts und dessen Zielsetzungen, die Bewertung der Umsetzung der Maßnahmen sowie die Sicherstellung des Informationsaustauschs zwischen den Ministerien. Auch der Verfassungsschutz ist Teil der IMAG. Im Landesnetzwerk gegen Rechtsextremismus findet zudem ein inhaltlicher Austausch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren statt. 358 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Interministerielle Arbeitsgruppe "Islamismusprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe" Die Mitglieder der IMAG "Islamismusprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe" fanden sich am 6. Juni 2023 zum ersten Mal seit Juni 2022 auf Einladung der federführenden Ressorts (Abteilung Verfassungsschutz im Ministerium des Innern NRW und Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration NRW) wieder in Präsenz zusammen, um Erfahrungen des Wissenschaftlichen Beirats sowie dessen Handlungsempfehlungen zu erörtern. Er setzt sich aus renommierten Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen zusammen und soll die IMAG bei der Weiterentwicklung der bestehenden Präventionsinfrastruktur beraten. Der im Juni 2023 vorgelegte dritte Zwischenbericht befasst sich unter anderem mit den Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirates zu einer inhaltlichen und konzeptionellen Weiterentwicklung der IMAG und des ganzheitlichen Handlungskonzeptes. Auf inhaltlicher Ebene hat eine weitere Ausdifferenzierung von Maßnahmen im Hinblick auf Zielgruppen und Formate stattgefunden, auch unter Berücksichtigung neuer digitaler Entwicklungen. Auch die noch stärkere ressortübergreifende Vernetzung wird betrachtet. Durch die Mitglieder wurde eine Namensänderung in IMAG "Islamismusprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe" statt "Salafismusprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe" vorgeschlagen, mit dem Wissenschaftlichen Beirat beraten und von der Landesregierung (Kabinettsbeschluss vom 21. Juni 2023) beschlossen. Bei der neuen Bezeichnung handelt es sich um eine begriffliche Anpassung an die Entwicklungen im Phänomenbereich. Zukunftsaufgabe der IMAG ist es, bedarfsorientierte Ansätze der Islamismusprävention weiterzuentwickeln, indem Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis zur Fortentwicklung des ressortübergreifenden, ganzheitlichen Handlungskonzepts genutzt werden. CoRE NRW - Connecting Research on Extremism in North Rhine-Westphalia Um evidenzbasiert Extremismus zu bekämpfen, ist eine stetige Förderung des Austauschs zwischen Wissenschaft, Praxis und Zivilgesellschaft erforderlich. Hierfür wurde 2016 das Wissenschaftsnetzwerk Connecting Research on Extremism in North Rhine-Westphalia, kurz CoRE NRW, begründet. Es erforscht Bedingungen und Formen extremistischer Radikalisierung sowie Präventionsmaßnahmen und bringt alle wichtigen Akteure der Extremismusprävention und Forschende zu Fragen des Extremismus zusammen. In den ersten Jahren lag der Schwerpunkt auf der Erforschung des präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 359 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 gewaltbereiten Salafismus. Seit 2020 beschäftigt sich das Wissenschaftsnetzwerk auch mit weiteren Formen des Extremismus, beispielsweise des Rechtsextremismus. Die Federführung für CoRE NRW obliegt dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, das durch eine Koordinierungsstelle unterstützt wird, die beim Friedensund Konfliktforschungsinstitut BICC in Bonn liegt. Der NRWVerfassungsschutz steht im regelmäßigen Austausch mit CoRE NRW, bringt sich mit seinen Erkenntnissen im Wissenschaftsnetzwerk aktiv ein und kann seine Arbeit durch aktuellste wissenschaftliche Erkenntnisse ergänzen. Bei der CoRE-Tagung 2023 mit dem Titel "Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder - Analyse und Präventionsmöglichkeiten" lag der Schwerpunkt auf Rechtsextremismus und Prävention in der Polizei NRW sowie Extremismusprävention und politischer Bildung bei der Feuerwehr NRW. Aufmerksamkeit verdienen hier nicht nur Justiz und Sicherheitsbehörden, sondern sämtliche Behörden sowie der Schulund Erziehungssektor. Die Frage für Forschung und Praxis ist, woher solche Einstellungen kommen, wie Gruppendynamiken entstehen und wie diesen Entwicklungen präventiv begegnet werden kann. Polizei und Feuerwehr NRW zeigten zahlreiche Maßnahmen auf, mit denen sie das Thema Extremismus aufgreifen und Prävention stärken. Projekt "Kommunen gegen Extremismus" Das Programm Kommunen gegen Extremismus ist 2014 als Pilot im Kreis Mettmann mit dem Ziel ins Leben gerufen worden, Kreise, kreisfreie Städte sowie kreisangehörige Städte und Gemeinden bei der Auseinandersetzung mit sämtlichen Formen von Extremismus zu unterstützen und ihnen bei Unsicherheiten und Fragen unterstützend zur Seite zu stehen. Hierbei arbeiten der Polizeiliche Staatsschutz, der NRW-Verfassungsschutz und die beteiligten Kommunen eng zusammen. Im Jahr 2023 kam es zu einer Neuausrichtung des Programmes, um Struktur und Nachhaltigkeit in der Zusammenarbeit zu stärken. Hierzu fand am 6. November 2023 ein fachlicher Austausch mit den teilnehmenden Kommunen, Kreisen und kreisfreien Städten und den zuständigen polizeilichen Staatsschutzstellen statt. Im ersten Teil des Austausches erhielten die Teilnehmenden einen fachlichen Input über die aktuelle Sicherheitslage aus Sicht des Verfassungsschutzes und die politisch motivierte Kriminalität und Extremismus in den einzelnen Regionen. Anschließend fand ein Austausch zwischen den zuständigen Leiterinnen und Leitern der polizeilichen Staatsschutzstellen und den Mitarbeitenden der Kommunen statt. Zum Schluss hatten die Teilnehmenden noch die Gelegenheit, verschiedene Präventionsangebote in Nordrhein-Westfalen kennenzulernen. Bis heute gab es über 380 Hinweise und Anfragen der Teilnehmenden. Auch künftig wird eine Erweiterung des Programmes auf weitere Kommunen angestrebt. 360 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Europäische Zusammenarbeit am Beispiel Belgien Im Nachgang zur gemeinsamen Kabinettssitzung am 29. März 2022 wurde zur Umsetzung des Vorhabens "Prävention von gewalttätigem Extremismus" eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Agency for Home Affairs der flämischen Regierung und der Abteilung Verfassungsschutz des Ministeriums des Innern des Landes NordrheinWestfalen gebildet. Die Arbeitsgruppe hat in virtuellenTreffen, zuletzt im September 2022 und März 2023, Themenfelder für einen Austausch identifiziert und einen Rahmen für die weitere Zusammenarbeit erarbeitet. So soll ein persönlicher Austausch während eines Besuchs in Brüssel stattfinden, an den sich ein weiterer virtueller Austausch anschließen soll. Hierbei soll der Fokus insbesondere auf den lokalen Sicherheitsbehörden liegen, die mit der Bekämpfung von radikalen, extremistischen und terroristischen Strukturen in Flandern befasst sind. Weitere Themen des Austausches sollen Initiativen sein, die die Problematik von "hate speech" ins öffentliche Bewusstsein rücken sowie Initiativen, die lokale und regionale Behörden darin unterstützen, sich untereinander und mit anderen Akteuren zu vernetzen und Wissen auszutauschen. Ebenso ist ein Austausch zu den Themen Verschwörungsmythen sowie Online-Radikalisierung und -Prävention geplant. Projekt Rückkehrkoordination Seit Herbst 2019 besteht im NRW-Verfassungsschutz die durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderte Rückkehrkoordination (RKK). Mittlerweile gilt dieses Konzept europaweit als Vorbild im Kontext des Umgangs mit zurückgekehrten und zurückkehrenden Personen aus den (ehemaligen) jihadistischen Kriegsgebieten. Die Rückkehrkoordination sorgt für die Vernetzung und Abstimmung der staatlichen Stellen und zivilgesellschaftlichen Akteure, die betroffen sind, wenn Personen, die in die Kampfgebiete des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Syrien und dem Irak ausgereist waren, nach Nordrhein-Westfalen zurückkehren. Ziel ist es, durch die Einbindung aller Institutionen eine Deradikalisierung, gesellschaftliche Reintegration und dauerhafte Stabilisierung der Rückkehrenden zu erreichen. Dabei kooperiert die Rückkehrkoordination mit dem beim NRW-Verfassungsschutz angesiedelten Aussteigerprogramm Islamismus (API) und auch mit in Nordrhein-Westfalen aktiven zivilgesellschaftlichen Stellen wie den Beratungsnetzwerken Grenzgänger und Grüner Vogel e.V.. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 361 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Die frühzeitige Information durch die Rückkehrkoordination ermöglich es den Kommunen, sich auf Rückkehrfälle einzustellen, die Mitarbeitenden mit zusätzlichem Fachwissen auszustatten und sich erforderlichenfalls mit weiteren Akteuren zu vernetzen. Im Jahr 2023 hat die Rückkehrkoordination besonders die Anerkennung von Geburten der in Syrien geborenen Kinder unterstützt. Auf Grund der Kriegssituation vor Ort liegen keinerlei Dokumente vor, die die Abstammung der Kinder belegen könnten. Vor diesem Hintergrund ist die Ausstellung von Geburtsurkunden durch deutsche Standesämter besonders erschwert. Die Urkunden sind für die Integration der Kinder jedoch, zum Beispiel im Hinblick auf den Kindergartenoder Schulbesuch, sehr wichtig. Es liegen Erkenntnisse zu 1.150 deutschen Islamistinnen und Islamisten vor, die seit 2011 Richtung Syrien und Irak ausgereist sind und sich mit hoher Wahrscheinlichkeit momentan dort aufhalten oder aufgehalten haben. Ende 2023 war davon auszugehen, dass sich etwa 36 Prozent der gereisten Personen noch im Ausland aufhalten und somit potenzielle Rückkehrerinnen und Rückkehrer sind. Daher kommt der Rückkehrkoordination weiterhin eine hohe Bedeutung als Schnittstelle zwischen den sicherheitspolitischen und den zivilgesellschaftlichen Akteuren zu. Verbindungsbeamter Justizvollzug Der Verbindungsbeamte Justizvollzug ist seit 2018 zentraler Ansprechpartner des NRW-Verfassungsschutzes für die Justizvollzugsanstalten des Landes. Er dient als Schnittstelle für einen phänomenübergreifenden und gegenseitigen Informationsaustausch und sorgt zudem für Aufklärung und Sensibilisierung der Bediensteten im Justizvollzug bezüglich der Aufgaben des Verfassungsschutzes und der Entwicklungen in den Phänomenbereichen des Extremismus. Ansprechpartner sind vorrangig die Fachreferate des Verfassungsschutzes, das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, die Abteilungen Sicherheit und Ordnung (Extremismusbeauftragte) und die Sozialdienste (Integration und Prävention) der Justizvollzugsanstalten sowie der Fachbereich Radikalisierungsprävention des Justizvollzugs NRW. Regelmäßig, aber auch anlassbezogen findet ein Austausch über extremistische Inhaftierte, deren Entwicklung und mögliches Gefährdungsund Radikalisierungspotenzial statt. Bei erkennbarem Gefahrenüberhang werden entsprechend zuständige Polizeidienststellen beteiligt. Des Weiteren werden zentrale und dezentrale Fortbildungsund Sensibilisierungsveranstaltungen für die Bediensteten der Justizvollzugsanstalten durchgeführt. 362 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Inhaftierte, die den Willen haben, aus dem Extremismus auszusteigen, kann der Verbindungsbeamte an die Aussteigerprogramme Spurwechsel, API und Left des Verfassungsschutzes vermitteln. Kooperation mit politischen Stiftungen Der NRW-Verfassungsschutz initiierte vor drei Jahren das Programm "Akteure politische Bildung NRW" mit dem Ziel, ein Dialogformat zwischen dem Verfassungsschutz und den Landesbüros der verschiedenen politischen Stiftungen in NRW zu etablieren. Durch den Dialog können Prävention und politische Bildung voneinander profitieren und gemeinsam gegen Extremismus agieren. Denn um Gefährdungen für die Demokratie einzudämmen, sind Prävention und politische Bildung unabdingbar. In den vergangenen Jahren konnten durch das Programm schon erste kooperative Veranstaltungen realisiert werden. Beispielsweise hat sich der NRW-Verfassungsschutz an Vorträgen, Workshops und Veranstaltungen zu den Themen Erlebniswelt Rechtsextremismus, Verschwörungsmythen, institutioneller und struktureller Rassismus und allgemeine Extremismusprävention beteiligt. Der Schwerpunkt lag 2023 in der Konsolidierung bestehender Kooperationsformate. Ziel des Programmes ist es, auch weitere mögliche Kooperationsprojekte zu entwickeln. Arbeitsgremien auf Bundesebene Im Bereich der Islamismusprävention ist der Verfassungsschutz NRW in ein breites Netzwerk aller Landesprogramme sowie der Behörden von Bund und Ländern eingebunden. Das Präventionsreferat ist zum Beispiel Teil der seit 2009 bestehenden Arbeitsgruppe "Deradikalisierung" im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ). In der seit 2009 bestehenden AG werden unter der Federführung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Ziele einer länderübergreifenden Abstimmung und Klärung von Grundsatzfragen verfolgt. Aktuelle Bedarfe der Prävention und Deradikalisierung werden im Rahmen von Unterarbeitsgruppen und Schnittstellen zu weiteren Arbeitsbereichen und Behörden aufgegriffen und bearbeitet. Ein weiteres Ziel der Arbeitsgruppe ist zudem die Erstellung praxisorientierter Standards für die Deradikalisierungsarbeit. Insbesondere das Aussteigerprogramm Islamismus (API) gibt hierzu aufgrund seiner langjährigen Praxiserfahrung fruchtbare Impulse - speziell in der vom API geleiteten und mit Praktikerinnen und Praktikern aus dem Bereich der Ausstiegsbegleitung besetzten Unterarbeitsgruppe Fallarbeit. Das BAMF koordiniert zudem einen bundesweiten Austausch aller Landespräventionsprogramme und ihrer zivilgesellschaftlichen Partner, an dem der Verfassungsschutz teilnimmt. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 363 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Auch das Bundesministerium des Innern und für Heimat organisiert einmal jährlich einen Bund-Länder-Austausch zum Thema Deradikalisierung im Phänomenbereich Islamismus. In der Sitzung im Juni 2023 in Berlin wurden die aktuellen Herausforderungen, der künftige Handlungsbedarf sowie die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Online-Radikalisierung besprochen. Im Bereich der Rechtsextremismusprävention bringt das Aussteigerprogramm Spurwechsel seine langjährige Expertise in die Arbeitsgruppe Deradikalisierung im Gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) als länderübergreifende Kooperationsplattform des Bundesamtes für Verfassungsschutz ein. Die Arbeitsgruppe Deradikalisierung wurde im Jahr 2023 neu eingerichtet. Prävention auf drei Ebenen > In Wissenschaft und Praxis wird die Präventionsarbeit nach den Zielgruppen eingeteilt, an die sich die jeweilige Präventionsmaßnahme richtet. So wird zwischen universeller (oder primärer), selektiver (sekundärer) und indizierter (tertiärer) Prävention unterschieden. Universelle Prävention zielt auf die demokratische Öffentlichkeit ab ("Verfassungsschutz durch Aufklärung"). > Selektive Prävention nimmt Personengruppen in den Blick, die eine Nähe zum extremistischen Denken und Handeln haben. Sie befinden sich meist in einer Annäherungsphase an extremistische Szenen. > Indizierte Prävention richtet sich an Personen, die fest in einer extremistischen Szene verankert und in ihr aktiv sind. Maßnahmen der tertiären Prävention sind insbesondere Aussteigerprogramme. Die Übergänge zwischen diesen drei Präventionsbereichen sind fließend, die Unterscheidung ist aber wichtig, weil wirksame Präventionsmaßnahmen passgenau auf die jeweilige Zielgruppe ausgerichtet sein müssen. 364 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 365 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Präventionsprogramm Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus Das vom Ministerium des Innern koordinierte Landespräventionsprogramm "Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus" richtet sich an vorwiegend junge Menschen und deren Umfeld, wie Familie, Freundinnen und Freunde oder Lehrkräfte. Stellen diese eine Hinwendung zum Islamismus fest, stehen 80 Beratungskräfte in 24 zivilgesellschaftlichen oder kommunalen Wegweiser-Beratungsstellen vor Ort in ganz NRW zur Beratung zur Verfügung. Auch über das Umfeld von Jugendlichen hinaus steht Wegweiser allen Ratsuchenden offen. Das Programm klärt außerdem über Islamismus und Radikalisierung auf. Sensibilisierungsveranstaltungen und Workshops sind für Gruppen, insbesondere Schülerinnen und Schüler sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren (zum Beispiel Lehrkräfte, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Erzieherinnen und Erzieher) sinnvoll, wenn es eine Konfliktsituation zu klären gilt. Gerade im schulischen Bereich werden dabei auch weiterführende Themen wie Medienkompetenz aufgegriffen und Werte vermittelt, die das Demokratieverständnis fördern. Wegweiser und aktuelle Lage Die terroristischen Angriffe der islamistischen Terrororganisation HAMAS auf den Staat Israel und die militärische Reaktion der israelischen Streitkräfte wirkten sich zum Ende des Berichtsjahrs auf die Präventionsarbeit von Wegweiser durch vermehrte Anfragen aus. Mit Wegweiser steht der Landesregierung ein flächendeckendes Präventionsprogramm gegen Islamismus zur Verfügung. Die Wegweiser-Beratungsstellen arbeiten bereits eng mit lokalen Netzwerkpartnern, etwa Schulen, Sozialverbänden, Moscheeverbänden und Polizei, zusammen. Sowohl im Rahmen der Beratung als auch in Vorträgen und Workshops sprechen die Beratungskräfte als einen ideologischen Aspekt des Islamismus das Thema Antisemitismus an. Das Wegweiser-Programm ermöglicht dabei eine breite Streuung von Informationen. Gleichzeitig können die Wegweiser-Beratungskräfte punktuell bei individuellen Problemstellungen wirken und betroffene Schulen direkt ansprechen. In Schulen wurde das Angebot von Sprechstunden sehr gut angenommen. Mit und ohne Anmeldung konnten dort alle Fragen zum Thema Islamismus, gerade auch im aktuellen Kontext, angesprochen und geklärt werden. 366 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Wegweiser jetzt auch per Chat erreichbar Seit November 2023 ist die neue Website des Programms online. Über ein integriertes Chatmodul können Ratsuchende per Mausklick Kontakt mit den WegweiserBeratungskräften aufnehmen. Das Beratungsangebot ist anonym, vertraulich und kostenlos. Propaganda und Falschinformationen sind im Internet an der Tagesordnung. Auch islamistische Akteure verbreiten dort ihre Ideologie und erreichen damit vor allem junge Menschen. Dem stellt sich Wegweiser nun noch breiter entgegen. Das Angebot richtet sich an den Bedarfen einer digitalen Gesellschaft aus und bietet insbesondere der jungen Zielgruppe eine niedrigschwellige Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Betroffene und Interessierte können sich über die Chatfunktion beraten lassen und bedarfsgerecht informieren. Darüber hinaus wird die digitale Programmerweiterung mit einer crossmedialen Kampagne online und offline beworben. Der Live-Chat auf der Wegweiser-Website Wegweiser-Evaluation Im November 2022 wurde der endgültige Evaluationsbericht eines externen wissenschaftlichen Instituts vorgelegt. Er bescheinigt dem Programm eine funktionale Struktur und eine zweckmäßige Prozessqualität. Im Jahr 2023 haben das Ministerium des Innern und die Beratungsstellen intensiv an der Umsetzung der ausgesprochenen Handlungsempfehlungen gearbeitet. In einer gemeinsamen Arbeitsgemeinschaft wurden zum Beispiel in drei ganztägigen Workshops die Wirkungslogik des Programms weiter ausgeschärft und das Monitoring-System fortentwickelt. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 367 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Im Zuge des Starts der neuen Online-Komponente ist die Außendarstellung von Wegweiser modernisiert worden, und ein neuer Claim wurde offiziell eingeführt. Wegweiser heißt nunmehr "Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus". Ferner wurde das Fortbildungsangebot durch aktuelle, passgenaue Angebote für die Wegweiser-Beratungskräfte erweitert und der kontinuierliche Austausch des Ministeriums des Innern mit den Wegweiser-Trägern und den Beratungskräften weiter intensiviert. Wegweiser - Erfolge in der Prävention Das Programm verzeichnete im Jahr 2023 steigende Zahlen. Seit Start 2014 wurden über 1.200 direkt Betroffene beraten (ein Viertel Frauen/Mädchen). In 56 Prozent aller Beratungen waren Jugendliche in einem Alter von 14 bis 17 Jahren und in 14 Prozent aller Beratungen Kinder bis 14 Jahre betroffen. Die Wegweiser-Standorte haben zudem über 30.000 allgemeine Anfragen (zum Beispiel mit Einzelfallbezug und nach Infomaterialien, Vorträgen, Infos zum Thema Islamismus, Presseanfragen) und 6.000 Sensibilisierungsmaßnahmen (zum Beispiel Veranstaltungen, Vorträge, Workshops für Schülerinnen und Schüler) bearbeitet. Ausweitung auf den Bereich Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe) Das Pilotprojekt zur Ausweitung der Wegweiser-Arbeit auf die Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe) wurde im Jahr 2023 erfolgreich fortgeführt. Die Präsidentschaftsund Parlamentswahlen in der Türkei im Mai 2023 sowie deren Auswirkungen in NordrheinWestfalen zählten zu den Ereignissen, die sich besonders auf die Arbeit der sechs Pilotstandorte ausgewirkt haben. In diesem Zusammenhang sind vermehrt Anfragen für Informationen und Veranstaltungen eingegangen. Auch die Debatten um ein mögliches Verbotsverfahren der Gruppierung in Deutschland sowie Medienberichte über Kontakte von deutschen Politikern zu Personen aus dem Spektrum der Grauen Wölfe zeigen, wie wichtig Prävention, Aufklärung und Sensibilisierung zu diesem Thema sind. 368 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kontakt zu Wegweiser Informationen zu den Wegweiser-Beratungsstellen sind über den Beratungsstellenfinder unter www.wegweiser.nrw.de verfügbar. Die zentrale Wegweiser-Hotline ist montags bis freitags von 8 Uhr bis 18 Uhr unter 0211 871-2728 oder per Mail unter info@wegweiser.nrw.de erreichbar und vermittelt auf Wunsch Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner vor Ort. Der Live-Chat ist montags bis freitags von 10 Uhr bis 22 Uhr und am Wochenende von 14 Uhr bis 20 Uhr erreichbar. Außerhalb dieser Zeiten besteht jederzeit die Möglichkeit, sich anonym zu registrieren und eine Anfrage zu stellen beziehungsweise um eine Kontaktaufnahme zu bitten. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 369 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 VIR - Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen VIR (Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen) ist ein praxisnahes Qualifizierungskonzept für Personen, die beruflich oder ehrenamtlich mit rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kontakt sind, also mit jungen Menschen in einer Annäherungsphase an den Rechtsextremismus. Die elfte Trainerinnenund Trainer-Ausbildung und ein neu konzipierter, erstmalig durchgeführter Aufbaulehrgang zur VIR-Trainerin und zum VIR-Trainer standen 2023 im Fokus des Projekts. Nach dem VIR-Aufbaulehrgang vom 26. und 27. Januar 2023 in Werl und der Trainerinnenund TrainerAusbildung vom 8. bis 11. Mai im Katholisch-Sozialen Institut in Siegburg stehen nun rund 190 VIR-Trainerinnen und -Trainer in NRW und zwölf weiteren Bundesländern zur Verfügung. Das VIR-Projekt basiert auf einem Train-the-Trainer-Ansatz: Die ausgebildeten Fachkräfte sind lizenziert, in Zweierteams eigene Fortbildungen nach dem VIR-Konzept zu leiten. Darüber hinaus bot der VIR-Steuerungskreis vom 14. bis 16. August eine VIR-Fortbildung im Arbeitnehmer-Zentrum Königswinter an - das Format "Fortbildung" enthält alle VIR-Inhalte und -Übungen, endet aber nicht mit der Trainerlizenz. VIR im Überblick Das Qualifizierungskonzept VIR umfasst zehn Bausteine, darunter Übungen zur motivierenden Gesprächsführung, ein Modell, das Veränderungsphasen aufzeigt (Transtheoretisches Modell der Veränderung), und Grundlagen zum Thema Rechtsextremismus (Rechtslage, "Erlebniswelt Rechtsextremismus", Einund Ausstiegsprozesse). Weitere Informationen zum VIR-Projekt und Kontaktmöglichkeiten zu Trainerinnen und Trainern sind unter www.vir.nrw.de abrufbar. 370 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Erster VIR-Aufbaulehrgang erfolgreich abgeschlossen Das VIR-Projekt hat 2023 ein neues Format erfolgreich getestet und etabliert. In einem zweitägigen Aufbaulehrgang wurden pädagogische Fachkräfte, die zuvor eine VIR-Fortbildung besucht hatten, zu VIR-Trainerinnen und -Trainern weiterqualifiziert. Kern des Aufbaulehrgangs sind neben der fachlichen Vertiefung der VIR-Fortbildung auch didaktische Aspekte, die benötigt werden, um eigenständig Fortbildungen durchzuführen. Viele Schulungselemente wurden in diesem Kurs erprobt und in der Gruppe reflektiert. Es ist geplant, den VIR-Aufbaulehrgang auch künftig anzubieten und als drittes Format der VIR-Qualifizierungen zu etablieren. Präventionsansatz und Akteure Bei VIR-Qualifizierungen geht es um die Kommunikation mit Zielgruppen, bei denen man in Alltagssituationen Impulse setzt, die zur Veränderung motivieren und den Veränderungsprozess fördern. VIR setzt auf Kurzinterventionen wie "Tür und Angel"-Gespräche oder Kurzberatungen mit einer Dauer von zehn Minuten bis zu einer Stunde. Typische Situationen sind Pausengespräche in der Schule, Gespräche im Jugendzentrum oder zwischen Strafgefangenen und Beschäftigten in einer Justizvollzugsanstalt. Im VIR-Projekt arbeiten staatliche und zivilgesellschaftliche Stellen eng zusammen: Es wird gemeinsam getragen vom Arbeitskreis der Ruhrgebietsstädte gegen rechtsextreme Tendenzen bei Jugendlichen (AK-Ruhr), von der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinderund Jugendschutz NRW und dem Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (Aussteigerprogramm Spurwechsel). VIR wird fachlich begleitet durch das LWLLandesjugendamt Westfalen. Die ginko Stiftung für Prävention in Mülheim/Ruhr, an deren Fortbildungskonzept MOVE (Motivierende Kurzintervention) sich VIR anlehnt, hat das Projekt unterstützt. Vernetzungstagung: Online-Radikalisierung Die jährliche Vernetzungstagung für VIR-Trainerinnen und -Trainer fand am 23. Oktober 2023 im Heinrich-Schmitz-Bildungszentrum in Dortmund statt. Fachlicher Schwerpunkt war "Online-Radikalisierung und Online-Prävention". Ein Vortrag aus dem NRWVerfassungsschutz skizzierte den Forschungsstand: Demnach ist das Internet nicht die Ursache für Radikalisierung, es erhöht aber die Reichweite von Rechtsextremisten und erleichtert den Erstkontakt. Auch durch Echokammerund Filterblasen-Effekte kann es Radikalisierung beschleunigen. VIR-Trainerinnen und -Trainer erläuterten Beispiele aus ihrer Praxis und Ansätze von Prävention im Netz. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 371 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Aussteigerprogramme Die drei staatlichen Aussteigerprogramme Spurwechsel (Rechtsextremismus), API (Islamismus) und Left (Linksund auslandsbezogener Extremismus) sind Kernelemente der indizierten (tertiären) Extremismusprävention. Da es hier im engeren Sinne nicht mehr um eine Maßnahme zur Verhütung von Extremismus geht, kann die Arbeit auch als intervenierende Prävention bezeichnet werden. Der Verfassungsschutz NRW befasst sich in seinen Aussteigerprogrammen mit Personen, deren Radikalisierung in rechtsextremistischen, islamistischen oder linksbeziehungsweise auslandsbezogenen extremistischen Denkund Aktionsstrukturen bereits fortgeschritten ist. Szeneangehörigen sowie Selbstradikalisierten, die den Willen haben, sich aus ihrem extremistischen Umfeld zu lösen, bieten die Aussteigerprogramme Unterstützung an. Auch Personen, die sich schon selbstständig in einen Ausstiegsprozess begeben haben, bieten die Programme den Raum, diesen Prozess zu festigen. Bei der Gestaltung des Ausstiegs unterstützen die Programme professionell, insbesondere bei der Wiedereingliederung in die demokratische Gesellschaft. Die Aussteigerprogramme leisten landesweit einen wichtigen Beitrag zur inneren Sicherheit, indem sie zielgerichtete Maßnahmen der Deradikalisierung umsetzen und damit Straftaten verhindern können. Kontaktangebote und proaktive Ansprache Jede ausstiegswillige Person kann einfach und unbürokratisch Kontakt zu den Aussteigerprogrammen aufnehmen: über die Telefonhotline, die jeweilige E-Mail-Adresse oder über die allgemeine Erreichbarkeit des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes. Die Programme agieren allerdings nicht ausschließlich reaktiv. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit der Ausstiegsbegleitenden ist das proaktive Zugehen auf Extremistinnen und Extremisten. Dabei erweist sich die Verortung der Aussteigerprogramme beim Verfassungsschutz als großer Vorteil. Sie sind über Entwicklungen in den extremistischen Szenen unter anderem durch einen intensiven Kontakt zur Polizei stets auf dem aktuellen Stand und treten bei ersten Hinweisen auf Distanzierungsanzeichen an die jeweiligen Szeneangehörigen heran. Die Grundlagen für erfolgreiche Ausstiegsarbeit sind die langjährige praktische Erfahrung und stetig wachsende Expertise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Begleitung im Ausstiegsprozess ist vielschichtig und bedingt breit gefächertes Fachwissen im Team der Ausstiegsbegleitung. Die Aus372 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 steigerprogramme werden sowohl bei der Suche nach potenziell Ausstiegswilligen als auch bei der Begleitung im konkreten Ausstiegsprozess durch ein weitreichendes Netzwerk von Sicherheitsbehörden sowie relevanten Präventionsakteuren und Hilfesystemen auf kommunaler Ebene, Landesund Bundesebene unterstützt. Personenakquise im Justizvollzug Mögliche Ausstiegswillige werden regelmäßig in den nordrhein-westfälischen Haftanstalten angesprochen. Das Hilfsangebot der Aussteigerprogramme richtet sich dabei an inhaftierte Personen mit Bezügen zu extremistischen Milieus sowie an Personen, die ihren Radikalisierungsprozess individuell beziehungsweise ohne (direkten) Milieubezug durchlaufen haben. Das Angebot umfasst die Begleitung während der Haftzeit, die intensive Vorbereitung auf eine anstehende Haftentlassung sowie die engmaschige Begleitung danach. Die Aussteigerprogramme profitieren dabei als Teil der behördlichen Sicherheitsstruktur insbesondere von der guten Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz. Die Aussteigerprogramme unterstützen dabei, den Haftalltag zu regeln und Perspektiven für die Zeit nach der Entlassung zu erarbeiten. Bei der Begleitung in der Haft kommunizieren die Ausstiegsbegleitenden stets transparent gegenüber den Ausstiegswilligen, dass das jeweilige Programm grundsätzlich keinen Einfluss auf laufende Ermittlungsund Gerichtsverfahren nimmt. Deradikalisierungsarbeit der Aussteigerprogramme Ausstiegsprozesse sind langwierig. Die beiden Kernelemente der Ausstiegsarbeit sind die psychosoziale Stabilisierung und die systematische Aufarbeitung der extremistischen Ideologie. Beides soll den Ausstiegswilligen zu einem selbstbestimmten Leben in der demokratischen Gesellschaft verhelfen. Voraussetzungen für eine nachhaltige Distanzierung der am Programm teilnehmenden Personen sind der eigene Ausstiegswille und eine grundsätzliche Gesprächsbereitschaft. Die Ausstiegsbegleitung übernehmen multiprofessionell aufgestellte Teams. Sie bieten den Aussteigenden in regelmäßigen persönlichen Gesprächen die Möglichkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen extremistischen Vergangenheit und geben individuelle Hilfestellung zur eigenständigen Bewältigung des Alltags und bestehender Problemlagen. Die Ausstiegsbegleitung regt dabei lediglich zu einer Veränderung an oder zeigt andere Wege auf. Die Veränderung des Verhaltens und der Einstellungen verbleibt jedoch in der Verantwortung der Aussteigenden. Ausstiegsarbeit ist primär Beziehungsarbeit auf Grundlage unmittelbarer persönlicher Kontakte zwischen Ausstiegsbegleitung und Ausstiegswilligen. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 373 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Web-Angebote der Aussteigerprogramme Spurwechsel: www.spurwechsel.nrw.de API: www.api.nrw.de Left: www.left.nrw.de Spurwechsel - Aussteigerprogramm Rechtsextremismus Bereits seit 2001 hilft das Aussteigerprogramm Spurwechsel Personen bei der Distanzierung von deren rechtsextremistischen Umfeld und bei der Reintegration in die demokratische Gesellschaft. Das Programm begleitet Frauen und Männer in einer Altersspanne von der Strafmündigkeit bis ins hohe Erwachsenenalter. Auch wenn Frauen und Mädchen im Rechtsextremismus an Bedeutung gewinnen, bleibt diese Szene männlich dominiert. Dies entspricht den ideologisch fundierten Rollenbildern im Rechtsextremismus. Dies zeigt auch der Geschlechteranteil der Teilnehmenden von Spurwechsel: Über 90 Prozent der Personen sind männlich und lediglich knapp zehn Prozent weiblich. Spurwechsel gewinnt seine Stärken als staatliches Aussteigerprogramm vor allem aus seiner Expertise aus den Bereichen Soziale Arbeit, Nachrichtendienst und Polizei. In seiner Strukturqualität 2015 durch eine wissenschaftliche Evaluation bestätigt, zeichnen ein guter Zugang zu anderen Behörden und Institutionen sowie die gute Ressourcenund Personalausstattung Spurwechsel aus und machen das Programm damit zu einem verlässlichen Partner. In den vergangenen Jahren hat sich das Team von Spurwechsel insgesamt mit über 460 Personen aus der rechtsextremistischen Szene beschäftigt. In über 200 Fällen konnte nach einem Zeitraum von durchschnittlich drei Jahren die Begleitung erfolgreich abgeschlossen werden. Weitere 31 Personen wurden an andere Beratungsstellen vermittelt, weil der Schwerpunkt des Hilfebedarfs nicht auf der Deradikalisierung lag. Es wurden im Jahr 2023 bis zu 37 Personen gleichzeitig durch Spurwechsel begleitet. Spurwechsel hat mit seinem seit 2022 angebotenen zertifizierten Einzel-AntiAggressivitätstraining (AAT) im Rahmen der Ausstiegsbegleitung bundesweit eine Vorreiterrolle innerhalb aller staatlichen Aussteigerprogramme eingenommen. Die 374 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Wirksamkeit des AAT wurde bereits in zahlreichen Evaluationen bestätigt. Das AAT wird als ergänzende Maßnahme zur Ausstiegsbegleitung angeboten. Ende 2023 wurde das Angebot einer Teilnahme am AAT auf alle drei Aussteigerprogramme im NRWVerfassungsschutz ausgeweitet. Damit wird eine Bedarfslücke geschlossen und das inhaltliche Angebot der Programme um ein bedeutendes Modul erweitert. Im Jahr 2023 hat Spurwechsel eine intensive Netzwerkarbeit und länderübergreifenden Austausch, unter anderem durch die Teilnahme an der Projektmesse im Rahmen der Landesdemokratiekonferenz in Düsseldorf und die Bund-LänderArbeitstagung Rechtsextremismus für staatliche Aussteigerprogramme, erfolgreich fortgesetzt. Hervorzuheben ist die Beteiligung an der länderübergreifenden Kooperationsplattform des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ). Kontakt zu Spurwechsel E-Mail: kontakt@spurwechsel.nrw.de Telefon: 0211 837 1906 Website mit Kontaktformular: www.spurwechsel.nrw.de API - Aussteigerprogramm Islamismus Das Aussteigerprogramm Islamismus (API) besteht seit 2014 und verfolgt das Ziel, ausstiegswillige Personen bei der Distanzierung von der islamistischen Szene und der Rückkehr in die demokratische Gesellschaft zu unterstützen. Mit dem Angebot des API besteht die Chance, eine weitere ideologische Verfestigung oder eine Rückkehr in die Szene zu verhindern. Ein großer Teil der durch das API begleiteten Personen weist eine tendenziell hohe Sicherheitsrelevanz auf, die auf eine fortgeschrittene Radikalisierung und einen terroristischen Hintergrund zurückgehen kann. Dies sind beispielsweise gewaltbereite Personen, die der islamistischen Szene in Deutschland entweder anhängen oder mit ihr sympathisieren, sowie Personen, die wegen terroristischer Straftaten eine Haftstrafe verbüßen beziehungsweise verbüßt haben oder die aus jihadistischen Kriegsgebieten zurückgekehrt sind. Mit einem Anteil von rund 87 Prozent ist die überwiegende Zahl der im API betreuten Personen im polizeilichen Kontext als "relevante Person" oder "Gefährder" eingestuft. Das API hat sich seit 2014 bereits mit knapp 260 Personen aus der islamistischen präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 375 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Szene befasst. Das multiprofessionell besetzte Team hat im Jahr 2023 bis zu 47 Hilfesuchende gleichzeitig intensiv in ihrem Ausstiegsprozess begleitet. Seit 2014 konnten knapp 20 Personen mit einem anders gelagerten Unterstützungsbedarf nach Kontaktaufnahme mit dem API an bestehende Hilfesysteme weitervermittelt werden. In knapp 45 Fällen ist ein positiver Fallabschluss bereits gelungen. Das API wurde im Jahr 2022 von der Hochschule Esslingen wissenschaftlich evaluiert. Damit gehört das Programm zu den ersten Islamismus-Aussteigerprogrammen, die sich einer unabhängigen wissenschaftlichen Evaluation gestellt haben. Im Rahmen der Evaluation wurde der Gesamtprozess des API untersucht und bewertet. Dies geschah mit dem Ziel, Optimierungspotenziale zu identifizieren und konkrete Handlungsempfehlungen für die weitere Gestaltung des Aussteigerprogramms zu erarbeiten. Die Ergebnisse sind sehr positiv. Dem API wird angesichts der herausfordernden Rahmenbedingungen "eine qualitativ hochwertig und perspektivisch ertragreich erscheinende Arbeit" bescheinigt. Das API wird als ein gut aufgestelltes und fachlichen Standards entsprechendes Aussteigerprogramm bewertet. Im Ergebnis trage der Rückzug von ausgestiegenen Extremisten aus dem Islamismus zur allmählichen Ausdünnung der Szene bei. Er bestärke weitere an ihrer Szenezugehörigkeit zweifelnde extremistische Personen in ihren Abkehrüberlegungen. Im Laufe des Jahres 2023 wurde mit der Umsetzung der im Evaluationsbericht formulierten Handlungsempfehlungen begonnen. Soweit sie übertragbar sind, werden die Empfehlungen auch für die beiden Aussteigerprogramme Spurwechsel und Left übernommen. Der Evaluationsbericht ist auf der Website des NRW-Landtags abrufbar.2023 hat das API seine Arbeit auch im länderübergreifenden Austausch wie zum Beispiel in der Arbeitsgruppe "Deradikalisierung" im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) erfolgreich fortgesetzt. Kontakt zum API E-Mail: kontakt@api.nrw.de Telefon: 0211 837 1926 Website mit Kontaktformular: www.api.nrw.de 376 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Left - Aussteigerprogramm Linksund auslandsbezogener Extremismus Um Personen aus dem Linksextremismus und dem auslandbezogenen Extremismus einen nachhaltigen Ausstieg aus der extremistischen Szene zu ermöglichen, startete im Jahr 2018 das Aussteigerprogramm Left. Left nimmt weiterhin im Bund-Länder-Vergleich eine Vorreiterrolle in der tertiären Prävention im Bereich Linksextremismus ein. Das Programm bietet Ausstiegshilfe für Linksextremistinnen und Linksextremisten beispielsweise aus den gewaltbereiten autonomen Szenen sowie für Szeneangehörige des auslandsbezogenen Extremismus, beispielsweise im Umfeld von PKK oder DHKP-C. Bis Ende 2023 hat sich Left mit knapp 65 Personen befasst, bei denen Hinweise auf einen möglichen Distanzierungswillen vorlagen. In bislang zwölf Fällen konnte die Begleitung erfolgreich abgeschlossen werden. Left begleitet bis zu 20 Personen parallel in ihrem Ausstiegsprozess. Die im Jahr 2021 durch Left initiierte deutschlandweit erste Bund-Länder-Arbeitstagung staatlicher Aussteigerprogramme Linksextremismus in Bergisch-Gladbach ist auf Grund ihres großen Erfolgs auf arbeitspraktischer Ebene als Format für den länderübergreifenden Austausch etabliert. Left hat den länderübergreifenden Austausch im Jahr 2023 in Leipzig erfolgreich mit dem Schwerpunktthema "Leitfaden zur ideologischen Aufarbeitung" fortgesetzt und seine Netzwerktätigkeit insbesondere in Richtung Justiz intensiviert. Kontakt zu Left E-Mail: kontakt@left.nrw.de Telefon: 0211 837 1931 Website mit Kontaktformular: www.left.nrw.de präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 377 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Veranstaltungen, Vorträge und Fortbildungen Um die Öffentlichkeit über neue Erkenntnisse zu informieren, bietet der NRW-Verfassungsschutz Workshops, Vorträge und Fortbildungen zu den Themen Rechtsextremismus, Islamismus, Linksextremismus, auslandsbezogener Extremismus sowie Spionageabwehr und Wirtschaftsschutz an. Auch im Jahr 2023 lag der Schwerpunkt auf den Phänomenbereichen Rechtsextremismus und Islamismus. Diese Informationsveranstaltungen sprechen eine große Bandbreite an Aspekten an, die mit Entwicklungen und Hintergründen des Extremismus zusammenhängen. Dazu gehören Erlebniswelten des Rechtsextremismus, also die gezielte Ansprache von Jugendlichen. Außerdem geht es um die Entgrenzung extremistischer Diskurse, somit um Fragen der Anschlussfähigkeit entsprechender Positionen an demokratische Bereiche der Gesellschaft. Hierbei steht aktuell vor allem die Agitation extremistischer Gruppierungen in Social Media im Blickpunkt, die der Demokratiefeindschaft häufig ein modernes, jugendgerechtes Gewand verleiht. Stärker als zuvor griffen Veranstaltungen im Jahr 2023 das Thema Gaming auf. Dabei war eine differenzierte Auseinandersetzung wichtig, die ohne zu pauschalisieren auf extremistische Inhalte in diesem Kontext aufmerksam macht. Angebote für Schulen und Lehrkräfteausbildung Ein Schwerpunkt der primären Rechtsextremismusprävention sind Angebote für Schulen in allen Landesteilen Nordrhein-Westfalens. Diese umfassen sowohl Vorträge und Workshops für Schülerinnen und Schüler als auch für Lehrkräfte. Diese Veranstaltungen setzen sich zum Beispiel mit modernisierten Erscheinungsbildern des Rechtsextremismus auseinander, die häufig den Inhalt verschleiern. Es geht um Ideologieelemente wie Rassismus und Antisemitismus, die mit Feindbildern und Diskriminierung verbunden sind. Ein wichtiger Aspekt sind die Formen einer rechtsextremistischen Erlebniswelt, insbesondere in sozialen Netzwerken. In umfangreicheren Workshops werten die Teilnehmenden in Kleingruppen rechtsextremistische Angebote wie Zeitschriften, Internetauftritte und Musikvideos aus und nehmen Stilistik, Selbstinszenierungen und demokratiefeindliche Inhalte im Detail kritisch in den Blick. Darüber hinaus ist der NRW-Verfassungsschutz regelmäßig an Informationsveranstaltungen zum Thema Rechtsextremismus an Zentren für schulpraktische Lehrer378 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 ausbildung (ZfsL) beteiligt. 2023 fanden diese - etwa in Bochum, Krefeld und Münster - vielfach im Rahmen von Modultagen oder als Angebot auf einem "Markt der Möglichkeiten" statt. Die Lehramtsanwärterinnen und -anwärter konnten aus einer Reihe von Workshops auswählen - zum Beispiel zu Aspekten der Demokratieförderung, des Antisemitismus und des Rechtsextremismus und zu Ansätzen, um diese Themen in Schule und Unterricht aufzugreifen. In solchen Veranstaltungen spiegelt die Bandbreite der Workshop-Leitenden auch das Spektrum der Akteure der Extremismusprävention in Nordrhein-Westfalen wider, zu dem neben dem Verfassungsschutz etwa die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus und die Systemberatung Extremismusprävention und Demokratieförderung (SystEx) an den Schulberatungsstellen zählen. An verschiedenen ZfsL fanden ganztägige Fortbildungen des Verfassungsschutzes zum Thema Rechtsextremismus statt, zum Beispiel in Dortmund, Duisburg und Siegen. In einen Studientag am ZfsL Dortmund für das Lehramt an Berufskollegs war auch das BVB-Lernzentrum des Fanprojekts Dortmund mit einem Beitrag zum Thema "Gemeinsam gegen Diskriminierung - welchen Beitrag kann der Fußball leisten?" eingebunden. Fachworkshop "Game Over Extremism - Gemeinsam gegen Rechtsextremismus im E-Sport" Um über rechtsextremistische Strategien in der Gaming-Welt aufzuklären, entstand Ende 2022 eine Kooperation zwischen dem Verfassungsschutz NRW und dem Landesverband für E-Sport Nordrhein-Westfalen. Zum Auftakt fand am 7. August 2023 der gemeinsame Fachworkshop "Game Over Extremism - Gemeinsam gegen Rechtsextremismus im E-Sport " in Köln statt. Daran nahmen sowohl Vertreterinnen und Vertreter aus den Bereichen E-Sport und Gaming als auch Akteure aus der politischen Bildung und den Sicherheitsbehörden teil. Die Fachtagung zielte darauf, gemeinsam mit den Teilnehmenden Ideen für Aufklärungsmöglichkeiten im Feld "Gaming und Rechtsextremismus" zu entwickeln. Zu Beginn führte Dr. Felix Zimmermann (Bundeszentrale für politische Bildung) die Teilnehmenden in die Welt der toxischen Kommunikation innerhalb von Gaming-Szenen ein. Anschließend fand eine Podiumsdiskussion statt, auf der Personen aus dem Gamingund Medienkulturbereich über den Umgang mit rechtsextremistischen Akteurinnen und Akteuren sowie menschenfeindlichen Äußerungen im Gaming und E-Sport sprachen. In Workshops wurden anschließend Vorschläge für Aufklärungsmöglichkeiten zur Thematik gesammelt. Außerdem wurden Ideen für Module zum Thema Rechtsextremismus in der Trainerinnenund Trainerausbildung im E-Sport entworfen. Die Ergebnisse der Workshops sollen als Grundlage für weitere präventive Maßnahmen im Bereich Gaming und E-Sport dienen. Eine weitere Zusammenarbeit zwischen dem Landesverband E-Sport und dem Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen ist geplant. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 379 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Seit Jahren besteht im Bereich der Prävention von Rechtsextremismus und Islamismus eine Kooperation zwischen dem Verfassungsschutz und der Landeszentrale für politische Bildung in Nordrhein-Westfalen. Die Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag wurden im Jahr 2023 zum Anlass genommen, den bisherigen Austausch im Rahmen eines Projekts zu intensivieren, zu systematisieren und gemeinsam nach Verbesserungsmöglichkeiten und ungenutztem Potenzial zu suchen. Neben der Fortführung bestehender und bewährter Formate sollen zukünftig weitere Themen, Trends und Zielgruppen auf ihre Relevanz für gezielte Angebote in den Blick genommen werden. Das gemeinsame Ziel ist es, frühzeitig demokratiegefährdende Entwicklungen zu identifizieren und rechtzeitig passgenaue Präventionsformate anzubieten. Fachtagung "Grenzen des Sagbaren" Die gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung veranstaltete Tagung fand am 29. September 2023 in Düsseldorf statt. Unter dem Titel "Die Grenzen des Sagbaren" ging sie der Frage "Wo sind rote Linien und warum?" insbesondere aus philosophischer Sicht nach und rückte die Bedeutung von Moral und Verantwortung als Grundsätze des Zusammenlebens in den Mittelpunkt. Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis kamen bei dieser Tagung mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren politischer Bildung, Akteuren aus dem Verfassungsschutz und anderen an der Fragestellung Interessierten zusammen. Prof. Dr. Christoph Horn (Universität Bonn) beleuchtete in seiner Keynote einen möglichen Rahmen des Sagbaren aus Sicht der Rechtsphilosophie Immanuel Kants. In Workshops zum Beutelsbacher Konsens mit Prof. Dr. Monika Oberle (GeorgAugust-Universität Göttingen), zum Verhältnis der Neuen Rechte zu den Menschenrechten mit Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber (Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung) und zu den Grenzen des Sagbaren als Selbstverpflichtung mit Prof. Dr. Hans-Ulrich Baumgarten (Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW, HeinrichHeine-Universität Düsseldorf) wurden konkrete Aspekte kritisch thematisiert. Die Bedeutung von Grenzen des Sagbaren für die Wahrung der Demokratie nahm in der abschließenden Podiumsdiskussion auch der Leiter des NRW-Verfassungsschutzes, Jürgen Kayser, in den Blick. 380 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Tagungsreihe "Extremismus-Prävention" Das Institut der Feuerwehr Nordrhein-Westfalen (IdF NRW), die Landeszentrale für politische Bildung und der NRW-Verfassungsschutz bieten seit 2021 gemeinsam landesweite Informationsveranstaltungen zur Extremismusprävention für Führungskräfte der Feuerwehr an. Fünf dieser Tagungen haben 2023 am Hauptsitz des IdF NRW in Münster und erstmals an der neuen Außenstelle Düren stattgefunden. Sie greifen aktuelle Entwicklungen auf, informieren beispielsweise über rechtsextremistische Aktivitäten in Social Media und über Verschwörungsmythen, die häufig antisemitisch unterlegt sind. Alle Veranstaltungen nehmen auch ausgrenzende Sprüche im Alltag (Stammtischparolen) in den Blick und erörtern mit den Teilnehmenden Möglichkeiten, ihnen entgegenzutreten. Den Abschluss bildet das Gespräch mit einem Aussteiger aus dem Rechtsextremismus, der Radikalisierungsprozesse aus eigenem Erleben schildert. Solche Gespräche werden durch das Prisma-Projekt im NRW-Verfassungsschutz ermöglicht. Darüber hinaus beteiligte sich der Verfassungsschutz 2023 an zwei Fortbildungen für Einheitsleiterinnen und -leiter der Freiwilligen Feuerwehr sowie an drei IdF-Seminaren zum Thema "Umgang mit Stammtischparolen und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit", die am NS-Erinnerungsort Vogelsang in der Eifel stattfanden. Zudem luden mehrere kommunale Feuerwehren den Verfassungsschutz zu Vorträgen ein. Künftig werden die Veranstaltungen des IdF NRW durch eine eigene Fachkraft mit langjähriger Erfahrung im Bereich der Extremismusprävention konzipiert, gemeinsam mit Partnern durchgeführt sowie eigenständig angeboten. Diese neu geschaffene Stelle konnte im November 2023 besetzt werden. Die gemeinsamen Maßnahmen von IdF NRW, Landeszentrale für politische Bildung und Verfassungsschutz in der Extremismusprävention wurden am 4. September 2023 auf der Jahrestagung des Netzwerks CoRE NRW erstmals einem breiten Fachpublikum vorgestellt und fanden eine sehr positive Resonanz. CoRE NRW (Connecting Research on Extremism in North Rhine-Westphalia) umfasst Akteure der Extremismusforschung und -prävention. Fachstelle Islamismusprävention In die Präventionsarbeit des NRW-Verfassungsschutzes fließen nicht nur eigene Erkenntnisse ein, sondern auch solche aus Wissenschaft und Praxis. Um über aktuelle Forschungserkenntnisse stets informiert zu sein, gibt es im Verfassungsschutz die Fachstelle Islamismusprävention (FIP), die eine Schnittstelle zur Wissenschaft darstellt. Sie recherchiert nach neuen Studienergebnissen, steht im Austausch mit präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 381 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 wissenschaftlichen Instituten und Netzwerken wie CoRE NRW und bringt sich aktiv mit Fachexpertise aus dem Verfassungsschutz ein. Ein stetiger Austausch zwischen Wissenschaft und Verfassungsschutz wird so gefördert. Forschungsanfragen werden von der Fachstelle koordiniert und an die jeweils inhaltlich zuständigen Programme Wegweiser und API herangetragen. Die FIP unterstützt Wegweiser und API fachlich und wirkt mit bei der Umsetzung der Handlungsempfehlungen, die sich 2022 und 2023 aus der Evaluation der beiden Programme ergeben haben. Die Ausstiegsbegleiterinnen und -begleiter des API werden in Gesprächen mit Klientinnen und Klienten, in denen vertiefte islamwissenschaftliche Expertise erforderlich ist, sowie bei der Einschätzung der ideologischen Tiefe beraten. Für die Beratungskräfte von Wegweiser werden Fortbildungen durchgeführt, um sie zu verschiedenen Themenbereichen im Islamismus zu schulen. 2023 wurde anlässlich des terroristischen Großangriffs der HAMAS auf den Staat Israel eine Handreichung zum Nahostkonflikt erstellt, in mehreren Fachvorträgen wurden wichtige Impulse zur Problematik gesetzt. Die Fachstelle bereitet zudem in einem Newsletter regelmäßig aktuelle Informationen aus dem NRW-Verfassungsschutz, aus den WegweiserBeratungsstellen sowie aus Wissenschaft und Forschung für die Beraterinnen und Berater auf. Prisma Biografien von Aussteigerinnen und Aussteigern aus extremistischen Szenen kritisch zu reflektieren und zu den unterschiedlichen Phänomenbereichen zu sensibilisieren sind die Kernelemente des Projekts Prisma. Seit 2014 bietet der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz moderierte Gespräche mit einem Fokus auf Extremismus an. In diesen berichten Aussteigerinnen und Aussteiger sehr persönlich über ihre Lebenswege, ihre Einstiegsmotivationen, die Erfahrungen in der Szene und andere einschneidende Erlebnisse und ermöglichen den Teilnehmenden, Fragen zu ihrer Biografie zu stellen. Ein besonderes Augenmerk wird auf eine wertschätzende Atmosphäre während der Veranstaltung gelegt, da die besprochenen Themen oft privat und intim sind. Die Gespräche finden im Rahmen von Bildungseinheiten statt, in denen sie vorund nachbereitet werden. In dieser Kombination ermöglichen sie Einblicke in die Innenwelten von Rechtsextremismus, dem Islamismus oder dem auslandsbezogenen Extremismus. Zielgruppen sind in erster Linie Schulen, Sicherheitsbehörden oder weitere Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Indem die Gespräche vor allem Einund Ausstiegsprozesse intensiv beleuchten, entstehen wertvolle Impulse sowohl für die 382 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Teilnehmenden als auch die Ausgestiegenen selbst, die ihre Vergangenheit erneut reflektieren. Im Jahr 2023 konnten 54 Veranstaltungen durchgeführt werden. Beteiligung an Fachmessen Der NRW-Verfassungsschutz hat auch im Jahr 2023 an verschiedenen Fachmessen teilgenommen und war unter anderem bei der Computerspielemesse Gamescom in Köln sowie dem Deutschen Präventionstag in Mannheim mit eigenen Ständen vertreten. Er konnte sein breites Angebot im Bereich der Extremismusprävention einem großen Publikum präsentieren und wertvolle Kontakte knüpfen. 28. Deutscher Präventionstag Am 12. und 13. Juni 2023 fand in Mannheim der 28. Deutsche Präventionstag (DPT) mit dem Schwerpunktthema "Krisen und Prävention" statt. Nach pandemiebedingten Einschränkungen in den vergangenen Jahren für die Fachmesse konnten sich die Präventionsakteure erstmals wieder auf einem großen und vielfältigen Präsenzkongress begegnen und austauschen Der Verfassungsschutz NRW stellte an einem eigenen Stand seine Präventionsund Öffentlichkeitsarbeit vor. Die Besucherinnen und Besucher interessierten sich dabei unter anderem für das Präventionsprogramm Wegweiser und das Computerspiel Leons Identität. Auf dem Deutschen Präventionstag 2023 in Mannheim stand das Präventionsprogramm Wegweiser im Mittelpunkt des Messestandes. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 383 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Gamescom Die Gamescom ist die weltweit größte Messe für Computerund Videospiele und Unterhaltungselektronik. Bereits zum fünften Mal war der Verfassungsschutz NRW mit einem eigenen Messestand in Köln vertreten und präsentierte sich in der sogenannten Entertainment Area den rund 320.000 Besuchern aus 100 Ländern. Neben einem Quiz zum Thema Extremismus wurde dort die mobile Version des Computerspiels "Leons Identität" das erste Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Besucherinnen und Besucher konnten auf iPads in die Welt eines Jugendlichen abtauchen, der droht, in die Szene der Neuen Rechten abzudriften. Außerdem standen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Standgästen zu allen Fragen rund um das Thema Extremismus Rede und Antwort. Die Gamescom ist für den Verfassungsschutz NRW jedes Jahr eine Möglichkeit, mit jungen, netzaffinen Menschen ins Gespräch zu kommen. Diese sind für Extremisten in Foren, Chats und Games eine Hauptzielgruppe. In Gesprächen auf Augenhöhe wird auf diese Gefahren aufmerksam gemacht. Außerdem sollen Berührungsängste zum Verfassungsschutz und seinen Präventionsangeboten abgebaut werden. Auf der Gamescom stellte der Verfassungsschutz NRW die mobile Version des Spiels "Leons Identität" vor. Tag der offenen Tür der Landesregierung Unter dem Motto "Hey, Demokratie!" fand am 26. und 27. August 2023 der Tag der offenen Tür der Landesregierung im Düsseldorfer Regierungsviertel am Rhein statt. Das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen stellte in diesem Rahmen an einem Stand seine verschiedenen Abteilungen vor. Der Verfassungsschutz informierte 384 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 zu aktuellen Entwicklungen im Extremismus sowie zu den Bereichen Prävention und Wirtschaftsschutz. Am Stand hatten die Besucherinnen und Besucher die Möglichkeit, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen und Fragen zu stellen. Landesdemokratiekonferenz Die Landeskoordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus und Rassismus im Ministerium für Kultur und Wissenschaft Nordrhein-Westfalen lud im November 2023 zu der Landesdemokratiekonferenz unter dem Thema "Rechtsextreme Dynamiken, Rassistische Kontinuitäten - Forschungsperspektiven und Gegenstrategien im Diskurs" ein. Ziel der Konferenz war es, auf Ausgrenzungen für Betroffene sowie aktuelle Bedrohungslagen und ihre Folgen aufmerksam zu machen und einen Raum zu schaffen, in dem unterschiedliche Akteure der Präventionsarbeit zusammenkommen und sich auszutauschen können. Die Landesdemokratiekonferenz umfasste eine Trägermesse, auf der die Teilnehmenden Präventionsangebote im Bereich Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen kennenlernen konnten. Auch der NRW-Verfassungsschutz war mit einem Stand vertreten und stellte seine Präventionsund Öffentlichkeitsarbeit vor. Die Vernetzung mit anderen Akteuren der Prävention stand dabei im Vordergrund. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 385 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Digitale Angebote und Veröffentlichungen Um unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen, greift der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen auf verschiedene Medien zurück. Neben gedruckten Publikationen sowie Aufsätzen in wissenschaftlichen Sammelbänden und Zeitschriften werden digitale Medien und Plattformen genutzt. Leons Identität Der Verfassungsschutz NRW will mit Hilfe des Videospiels Leons Identität Jugendliche und junge Erwachsene zum Thema Rechtsextremismus sensibilisieren. Es soll ihnen helfen, rechtsextremistische Ideologie zu erkennen und ihre politische Urteilsfähigkeit zu schulen. Zugleich fördert das Spiel die Medienkompetenz und festigt das Demokratieverständnis. Dabei soll Leons Identität auch Personen an das Thema heranführen, die bislang wenig Nähe zum Bereich der politischen Bildung hatten. Es ist niedrigschwellig und soll die Entwicklung der eigenen Medienkompetenz unterstützen. Im Jahr 2023 wurde Leons Identität um eine mobile Variante für das iPad erweitert und ist hier EIN EXPLORATIVES ABENTEUERSPIEL durch intuitive TouchSteuerung noch benutzerfreundlicher. Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen Um den Einsatz in SchuMinisterium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen len und Jugendarbeit zu Abteilung Videospielentwicklung der btf GmbH in Köln und Berlin ermöglichen, wurde zu Leons Identität pädagogisches Begleitmaterial entwickelt. Es ist neben der fachlichen Nutzung auch für die Verwendung im Bereich Medienkompetenz empfohlen. 386 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Möglichkeiten zum Download Leons Identität kann über die eigene Website leon.nrw.de für alle gängigen Betriebssysteme (Windows, MacOS, Linux) und die Spieleplattform Steam heruntergeladen werden. Außerdem ist das Spiel im Apple App Store für das iPad kostenlos erhältlich. Leons Identität hat eine offizielle Altersfreigabe ab 12 Jahren und eignet sich für den Einsatz im pädagogischen Kontext. Das pädagogische Begleitmaterial steht auf der Website leon.nrw.de und im Broschüren-Service des Ministeriums für Schule und Bildung zum Download bereit. Videound Social-Media-Kampagne "Jihadi fool" Die 75 Videos der Kampagne "Jihadi fool" erklären, woran man Extremismus erkennt, was genau am extremistischen Salafismus beziehungsweise Islamismus problematisch und warum die Demokratie schützenswert ist. Mit Humor und Satire soll dabei Aufmerksamkeit erzielt und mit Hintergrundvideos sensibilisiert werden. Das Angebot des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes richtet sich an ein breites Publikum mit einem Schwerpunkt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Videos und weitere Inhalte sind online abrufbar bei YouTube (www.youtube.com/c/jihadifool) und Instagram (www.instagram.com/jihadifool/). Aufsätze in Fachpublikationen "'Türöffner'-Themen für 'taktisch denkende Nationalisten'. Rechtsextremistische Diskursbrücken an den Beispielen der Islamfeindschaft und der Agitation gegen Corona-Schutzmaßnahmen" - so ist ein Aufsatz aus dem Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen überschrieben, der im wissenschaftlichen Sammelband "Identität, Diskriminierung und Gewalt" erschienen ist. Der Band wurde im Dezember 2023 von zwei Professoren der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen herausgegeben. Den Begriff "Türöffner-Thema" hatte im Februar 2010 ein Autor der Zeitung "Deutsche Stimme" geprägt, seinerzeit das Organ der rechtsextremistischen NPD, die sich im Juni 2023 in Die Heimat umbenannte. In diesem Text war auch die Rede von Themen mit "Eisbrecher-Funktion für taktisch denkende Nationalisten". Der Grundsatzartikel zur inhaltlichen und strategischen Ausrichtung der Partei forderte dazu auf, aktuelle Themen aufzugreifen, die in weiten Bevölkerungskreisen mit Emotionen, vor allem mit präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 387 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Ängsten besetzt sind, um so den Resonanzraum für Rechtsextremisten zu erweitern. Diese Themen sollten als Vehikel dienen, um Verbindung zu Personen am Rande des Rechtsextremismus herzustellen und perspektivisch Unterstützung für weitreichende demokratiefeindliche Ziele zu mobilisieren. Als "Türöffner-Thema" diente in dieser Zeit die kampagnenartige Agitation gegen eine angebliche "Islamisierung" Deutschlands, die bis heute anhält. Im Mittelpunkt stehen Bedrohungsszenarien, den Hintergrund bilden Verzerrungen und Pauschalisierungen: Eine Differenzierung zwischen dem Islam als Weltreligion und dem sehr kleinen Anteil der Musliminnen und Muslime in Deutschland, die Verbindungen zu demokratiefeindlichen, islamistischen Gruppierungen haben, kommt in der rechtsextremistischen Agitation nicht vor. Nordrheinwestfälische Gruppierungen zählten zu den Vorreitern islamfeindlicher Kampagnen im Rechtsextremismus, dies galt für die inzwischen aufgelösten Parteien Pro Köln und Pro NRW. Entgrenzungen des Rechtsextremismus sind heute noch klarer erkennbar. Ein neuralgisches Themenfeld, auf dem sich Rechtsextremisten, andere Extremisten (insbesondere aus dem Bereich der Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates) sowie Menschen am Rande oder außerhalb solcher Szenen mischten, war der Protest gegen Schutzmaßnahmen im Rahmen der Corona-Pandemie. Die Ablehnung war zum Teil mit einer vehementen Distanz zum demokratischen Rechtsstaat verbunden, mit Verschwörungsmythen, die um geheime Pläne der Mächtigen gegen "das Volk" kreisten. Exemplarisch geht der Beitrag aus dem NRW-Verfassungsschutz dieser und der islamfeindlichen Agitation im Rechtsextremismus nach. Beide sind auch Beispiele für Mainstreaming-Strategien im Rechtsextremismus, die den Brückenschlag zur gesellschaftlichen "Mitte" suchen und darauf zielen, die Grenze des Sagbaren und "Normalen" zu verschieben. Der Beitrag ist erschienen in: Marc Breuer und Martin Winands (Hrsg.): Identität, Diskriminierung und Gewalt. Abwertung von Minderheiten und Fremdgruppen - Perspektiven Sozialer Arbeit, Weinheim 2023. Darüber hinaus hat sich der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen mit dem Beitrag "Radikalisierungsprävention durch Verfassungsschutz?" an einem Band beteiligt, der verfassungsrechtliche Fragen im Hinblick auf Nachrichtendienste in den Mittelpunkt stellt. Er ist aus einem Symposium hervorgegangen, das das Bundesministerium des Innern und für Heimat sowie das Bundeskanzleramt im Juni 2022 veranstaltet hatten. Der NRW-Verfassungsschutz hatte dort seine Präventionsarbeit vorgestellt. Der Buchbeitrag zu diesem Thema geht von zwei Leitthesen aus: Einerseits, dass Verfassungsschutzbehörden auf dem Gebiet der Extremismusoder Radikalisierungsprävention 388 präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 nicht aktiv seien, obwohl sie Verfassungsschutzbehörden seien - sondern gerade weil sie es seien. Das heißt, dass ihr Handeln beständig Erkenntnisse hervorbringe, die in geeigneter Form und im Rahmen der rechtlichen Grenzen auch für die Prävention des Extremismus fruchtbar gemacht werden sollten. Und zweitens, dass innere Sicherheit und der Schutz der demokratischen Ordnung in einem nachhaltigen Sinne ohne zielgerichtete und passgenaue Akzente der Prävention nicht gedacht werden könnten. Der Autor stützt diese Thesen auf die Kerngedanken des Konzepts der wehrhaften Demokratie. Er weist auch darauf hin, dass Aufklärung der Öffentlichkeit, Aussteigerprogramme und andere Formen der Prävention in Nordrhein-Westfalen zu den gesetzlichen Aufgaben des Verfassungsschutzes zählen. Insofern sei der Verfassungsschutz in NRW zur Prävention verpflichtet, um dem Auftrag des Gesetzgebers gerecht zu werden. Der Aufsatz skizziert exemplarisch Konzeption und Praxis der Aussteigerprogramme des NRW-Verfassungsschutzes, der Präventionsprogramme "Wegweiser - Stark ohne islamistischen Extremismus" sowie VIR (VeränderungsImpulse setzen bei Rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen). Der Beitrag ist erschienen in: Jan-Hendrik Dietrich, Klaus Ferdinand Gärditz, Kurt Graulich, Christoph Gusy und Gunter Warg (Hrsg.): Radikalisierung und Extremismus. Aufgabenfelder und Herausforderungen der Nachrichtendienste (Beiträge zum Sicherheitsrecht und zur Sicherheitspolitik 11), Tübingen 2023. präventIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 389 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 390 KompaKt Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Über den Verfassungsschutz Über den verfassungsschutz 391 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Über den Verfassungsschutz Verfassungsschutz ist nach dem Grundgesetz eine Aufgabe der Länder und des Bundes. Verfassungsschutzbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen ist das Ministerium des Innern. Die für den Verfassungsschutz zuständige Abteilung innerhalb des Ministeriums nimmt ihre Aufgaben gesondert von der Polizeiorganisation wahr. Die Verfassungsschutzbehörden der einzelnen Bundesländer sind gesetzlich dazu verpflichtet, untereinander und mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu kooperieren, wobei das Bundesamt die Aufgaben einer Zentralstelle auf Bundesebene übernimmt. Der Verfassungsschutz NRW verfügte im Jahr 2023 über einen Haushalt von rund 19,8 Millionen Euro, das sind rund 1,86 Millionen Euro weniger als im Vorjahr. Davon waren rund 9,6 Millionen Euro für die Prävention vorgesehen. Zudem waren ihm für das Berichtsjahr 556 Stellen zugewiesen. Aufgaben Der Verfassungsschutz hat die Aufgabe, bereits im Vorfeld von konkreten Gefährdungslagen Informationen zu verfassungsfeindlichen Bestrebungen sowie zu sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Tätigkeiten für eine fremde Macht zu sammeln und auszuwerten. Dazu gehören insbesondere Verhaltensweisen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder darauf abzielen, die Amtsführung von Verfassungsorganen des Bundes oder eines Landes ungesetzlich zu beeinflussen. Des Weiteren betrifft dies Verhaltensweisen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind, oder sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht. Dabei verfolgt der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz mit den zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln eine Dreifachstrategie aus Früherkennung, Frühwarnung und Prävention. 392 Über den verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Als Frühwarnsystem hat der Verfassungsschutz die Aufgabe, mögliche verfassungsfeindliche Bestrebungen zu identifizieren, deren Ursachen zu analysieren, Entwicklungen zu prognostizieren und Politik, Verwaltung und Gesellschaft darüber zu informieren. Er wirkt ferner daran mit, drohenden politischen und wirtschaftlichen Schaden durch illegitime oder illegale Aktivitäten fremder Mächte in Deutschland zu verhindern. Als Früherkennungssystem unterstützt der Verfassungsschutz andere Behörden bei der rechtzeitigen Erkennung von Gefahren, die im Einzelfall aus derartigen Bestrebungen erwachsen; dazu gehört es auch, extremistische Personen zu erkennen, die potenziell Gewalt anwenden könnten. Im Rahmen der Prävention schafft der Verfassungsschutz einerseits durch Aufklärung der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Gefahren des Extremismus, um die Demokratie von innen heraus zu stärken (primäre Prävention). Andererseits bietet er durch gezielte Angebote Schutz vor dem Einstieg in extremistische Szenen (sekundäre Prävention) und unterstützt den Ausstieg aus ihnen (tertiäre Prävention). Diese personenbezogenen Präventionsmaßnahmen werden vor allem durch das WegweiserProgramm und die Aussteigerprogramme realisiert. Schließlich sensibilisiert der Verfassungsschutz auch die Wirtschaft vor den Gefahren durch Spionage und Sabotage, um so deren Eigenschutzmechanismen zu aktivieren. Kontrolle des Verfassungsschutzes Die Aufgaben und Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde sind im Verfassungsschutzgesetz NRW (VSG NRW) definiert. Zugleich ist dort geregelt, durch wen und wie ihr Handeln kontrolliert wird, denn eine rechtliche und politische Kontrolle der Verwaltung sind konstitutive Merkmale des Rechtsstaates. Dies gilt auch für den Verfassungsschutz. Da die Angelegenheiten des Verfassungsschutzes aufgrund ihrer besonderen Geheimhaltungsbedürftigkeit in der Regel nicht öffentlich im Parlament oder seinen Ausschüssen beraten werden können, gibt es für die Kontrolle besondere Stellen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG). Der Landtag Nordrhein-Westfalen bestimmt zu Beginn jeder Wahlperiode die Anzahl der Mitglieder des PKG und wählt diese aus seiner Mitte. Das PKG überwacht umfassend die Tätigkeit des Verfassungsschutzes. Für die Kontrolle der Telekommunikationsund Postüberwachungssowie Finanzermittlungsmaßnahmen des Verfassungsschutzes bestellt das PKG in jeder Legislaturperiode die sogenannte G 10-Kommission. Diese ist, anstelle eines Richters, auch für die Genehmigung dieser Maßnahmen zuständig. Über den verfassungsschutz 393 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Verarbeitung personenbezogener Daten Zur Erfüllung der übertragenen Aufgaben dürfen Verfassungsschutzbehörden unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen personenbezogene Daten erheben und verarbeiten. Die Verfassungsschutzbehörde Nordrhein-Westfalen nutzt dazu eigene Dateien sowie das "Nachrichtendienstliche Informationssystem und Wissensnetz" (NADIS WN), auf das die Verfassungsschutzbehörden der Länder und des Bundes gemeinsam Zugriff haben. Erfasst werden insbesondere Daten zu Personen, über die Erkenntnisse im Zusammenhang mit politischem Extremismus vorliegen. Getrennt davon werden Daten gespeichert zu Personen, die wegen ihres Umgangs mit Verschlusssachen oder ihrer Tätigkeit in einem sicherheitsempfindlichen Bereich einer Sicherheitsüberprüfung unterliegen oder zu denen durch andere Behörden Informationen zur Durchführung einer Zuverlässigkeitsüberprüfung angefragt werden, zum Beispiel im Luftsicherheitsoder Waffenrecht. Die Durchführung solcher Überprüfungen erfolgt mit Zustimmung der Betroffenen und macht rund 90 Prozent aller NADIS-Einträge aus NordrheinWestfalen aus. Öffentlichkeitsarbeit Eine informierte, aufgeklärte Öffentlichkeit ist eine Grundvoraussetzung, um die Gesellschaft vor einem unerkannten Einfluss durch extremistische Bestrebungen zu schützen. Daher versteht der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen den Leitspruch "Verfassungsschutz durch Aufklärung" als einen wesentlichen Arbeitsauftrag. Damit Bevölkerung, Politik und Medien Anzeichen für Extremismus frühzeitig erkennen können, leistet der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz intensive Aufklärungsarbeit und bietet eine breite Palette verschiedener Informationsmittel an. Dazu gehören Vorträge und Tagungen, Broschüren und verschiedene Online-Angebote. Einen umfassenden Aufklärungsbeitrag, der alle verfassungsschutzrelevanten Themen umfasst, liefert der jährliche Verfassungsschutzbericht. Die Jahresberichte dienen unter anderem dem Landtag, Behörden und anderen öffentlichen Stellen als Nachschlagewerke zum Extremismus in NRW. Sie werden zudem von der Öffentlichkeit stark nachgefragt. Der Verfassungsschutzbericht sowie weitere Informationen zu aktuellen Schwerpunktthemen finden sich über die Internetseite des Ministeriums des Innern unter www. im.nrw/verfassungsschutz und sind dort abrufbar sowie kostenfrei bestellbar. 394 Über den verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Über den verfassungsschutz 395 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Index al-Qaida 54, 227 Kennzeichnung al-Shabab 236 Alternative Kulturkongress Strukturen und Organisationen, deren Deutschland 92, 94 Verfassungsfeindlichkeit bereits eralternativ, unabhängig, fortschrittlich wiesen ist, werden im Folgenden im (AUF) 172 Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Anarchokommunistische Initiative Verfassungsfeindlichkeit zwar noch Münster 177 nicht erwiesen ist, aber hinreichend ANF 31, 190, 192, 194 f., 197, 199 gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte Ansaar Düsseldorf e.V. 235 f. einen Verdacht auf verfassungsfeindAnsaar International e.V. 235, 237 liche Bestrebungen begründen, werAnsarul Aseer 234 den die betroffenen Organisationen in Antideutsche 58 Kursivdruck gesetzt. Antifa Ost 178 Antiimperialismus 70 Beispiel: Partei X, Partei Y Antiimps (Antiimperialisten) 58 Antisemitismus 60 APF 86 API 350, 370, 373, 380 Symbole APT 332 APT-Gruppierungen 318 ...ums Ganze! 177, 183 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 188, 209 f., 270 A ar-Rahman-Moschee 260 Artgemeinschaft 78 f. Adil Düzen 266 f. ATIB 31, 190, 194 f., 197, 199 ADÜTDF 31, 190 ff., 194 ff., 199 Atomwaffen Division (AWD) 146 Advanced Persistent Threat 318, 332 Attribution 333 Ahl al-Bait-Zentrum 244 Aufbruch Frieden-SouveränitätAl Asraa 234 Gerechtigkeit 90 Alliance for Peace and FreeAufbruch Leverkusen 88 ff. dom (APF) 86 Aussteigerprogramme 72 Al Mahdi Kulturverein Bad Autonome 30, 70, 159, 176 f. Oeynhausen e.V. 244 396 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Autonomes Zentrum Wuppertal Defund the Police Dortmund 179 (AZ Wuppertal) 181 f. Delegitimierer 15, 30, 67, 77, 89, 143, 151 ff. B Demokratischer Widerstand Dortmund 152 Der III. Weg BDS 58 30, 66, 100 ff., 114, 119, 123, 144 Belt-and-Road-Initiative 314 Desinformationskampagnen 310 Bernhard Falk 233 Deutsche Depeschen Bildund B&H 121 Tonagentur/ddb 130 Bielefeld steht auf (BSA) 152 Deutsche Kommunistische Partei Bismarcks Erben 131 (DKP) 159 Blood and Honour (B&H) 121 Deutsche Muslimischen Gemeinschaft Blood and Honour-Division (DMG) 55, 231, 260 Deutschland 121 Deutsche Stimme 82 Boycott, Divestment and SanctionsDHKP-C 31, 189, 200 ff., 375 Bewegung (BDS) 58 Die Barmherzigen Hände e.V. Brothers of Honour 120, 122 55, 238, 240 Brute Force 333 Die Heimat (bis Mai 2023 NPD) 30, 52, 66, 68, 83 ff., 106, 114 f., 119, 385 C Die Heimat Dortmund 52 Die Rechte C18 121 30, 66, 80 ff., 87, 106 f., 114, 119, 135, 144 Celebrity Centre Rheinland Direction Generale de la Surveillance du Scientology Kirche e.V. 280 Territoire (DGST) 326 China 313, 327 Direction Generale des Etudes et de la DoChurch of Scientology 280 cumentation (DGED) 326 Combat 18 (C18) 79, 121 Distributed Denial of Service 338 COMPACT-Magazin 89 DITIB 181 f. CoRE NRW 357 Division Germania 123 Corona Rebellen Bergisches Land 152 DIYANET 61 Corona Rebellen Düsseldorf 152 DKP 30, 70, 159, 168 ff. Cyberangriffe DMG 260 f., 264 293, 295, 300, 311, 313, 321, 326 E D Ein Prozent 99 ddbradio 130 Emerging and Disruptive DDoS 312, 338 Technologies (EMT) 328 DDoSia-Projekt 340 Index 397 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Erbakan Vakfi (Erbakan Stiftung - Fünf Gifte 317 EV) 266 Furkan-Gemeinschaft 31, 56, 274 ff. Erbengemeinschaft Jakob e.V./ Furkan Kulturund BildungsNation Ephraim 68, 129 zentrum e.V. 274 Ethnopluralismus 111 Furkan Nesli Dergisi (Magazin der European Monitoring Center on Generation Furkan) 274 Racism and Xenophobia 65 Furkan Stiftung für Bildung und Dienst Ewiger Bund 131 (Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) 274 Extremistischer Salafismus FurkanTV 274 31, 222 f., 225, 228 ff. Furkan Vakfi (Furkan Stiftung) 274 F G Federasyona Civaken Azad yen GAFFA 158, 184 Mezopotamy li NRW - FED-MED e.V. 204 Gemeinschaft der Gesellschaften Feuerkrieg Division 67, 146 Kurdistans (KCK) 204 Flügel 92 ff. Gemeinschaft libanesischer Föderation der Türkisch-DemoEmigranten e.V. 244 kratischen Idealistenvereine in Generation Islam (GI) 56, 250, 252 Deutschland e.V. (Almanya Demokartik Ghostwriter 336 Ülkücü Türk Dernekleri Ferdasyonu - GI 57, 252 ff. ADÜTDF) 71, 188, 194 Graue Wölfe 16, 71, 188, 191, 366 Föderation der Weltordnung in Europa Gruppe S 131, 138 ff. (Avrupa Nizam-i Alem Federasyonu - Guerilla Activists Fighting For ANF) 71, 188, 194 Anarchy (GAFFA) 158, 184 Föderation klassenkämpferischer Gülen-Bewegung 323 Organisationen 161 Free our Sisters 234 H Freie Düsseldorfer 152 Freie Arbeiter*innen-Union in Münster Hackergruppierung 312, 327 und Umgebung (FAU Münster) 177 Hacktivismus 338 Freie Nordrhein Westfalen 68, 154 Hai'at Tahrir al-Sham (HTS) 236 freie Szene der Ülkücü-Bewegung HAMAS 14, 17 f., 31, 188 f., 194, 198 31, 41, 52 ff., 58 ff., 64, 68 f., 71, 76, 86, 90, Freie Sachsen 154 93, 104, 108, 129, 142, 159, 163, 169 f., 174, FreiVest 107 180, 216, 220, 236, 238 ff., 246 f., 252, 260 Freundeskreises Rhein-Sieg 115 f., 268, 277, 288, 290 f., 337, 364, 380 Freundeskreis UN e.V. 136 Hammerskin-Nation (HSN) 122 FSB 312 Hammerskins 120 ff. 398 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Hammerskins Deutschland 78 IS 234, 237 Hassan Nasrallah 246 Islamische Gemeinschaft der schiHeimat Dortmund 83 f., 86, 142 f. itischen Gemeinden Deutschlands Hier und Jetzt 124 e.V. (IGS) 246 HIRAK - Palestinian Youth Mobilization Islamisches Kulturzentrum Jugendbewegung (Germany) 214 Münster e.V. 260 Hizb Allah 31, 60, 244 ff. Islamischer Staat (IS) Hizbullah (Partei Gottes) 270 f. 16, 220, 227, 233, 359 Hizb ut-Tahrir (Islamische BefreiungsIslamischer Staat in der Provinz partei - HuT) 31, 56, 221, 250 Westafrika (ISWAP) 220 Hüseyin Velioglu 272 Islamischer Staat Provinz HuT 56, 221, 250 ff. Khorasan (ISPK) 16, 220 Huthi-Rebellen 60, 291 Islamische Republik Iran 298, 319 hybride Bedrohung 302 Islamisches Zentrum Hamburg e.V. (IZH) 17, 247 ff. I Ismail Aga Cemaati (IAC) 266, 267, 269 israelbezogener Antisemitismus 65, 70 IBD 110 ff. IZH 17, 247 ff. ICCB 256 Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden 239 IDCPC 316 Identitäre Bewegung Deutschland J e.V. (IBD) 76, 98 f., 110 IGV 131 JA 30, 96 ff. IHRA 64 Jabhat al-Nusra (JaN) 236 IL 158, 177 Jihadismus 54 Illegalenprogramm 307 Jugend für Sozialismus (JfS) 166 f. Imam Rida-Zentrum 244 Junge Alternative 30, 96 ff. Incel-Szene 67 Junge Alternative Landesverband Indigenes Volk der Germaniten (IGV) 131 Nordrhein-Westfalen (JA NRW) 76, 96 Institut für Staatspolitik 76 International Department of the Central K Committee of the Communist Party of China - IDCPC 316 Kalifatsstaat 31, 256 f., 259 International Holocaust Remembrance Kameradschaften 106 Alliance 64 Kampf der Nibelungen (KDN) 84, 117 Interventionistische Linke (IL) Kaplan-Verband 256 158, 177, 183 KDN 117 Iran 291, 299, 327 Kommunen gegen Extremismus 358 Iranische Revolutionsgarde 320 Kommunistischer Aufbau 161 Index 399 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Kommunistischen Partei Chinas MGB 266, 267 (KPCh) 313 Military Intelligence Directorate - MID 316 Konfederasyona Civaken Kurdistaniyen Milli Görüs-Bewegung li Almanya - KON-MED 204 31 , 69, 256, 266 f., 266 ff. KONGRA-GEL 31, 206 Mindener Jungs 122 Kongress der kurdisch-demokratischen Ministry of Information and Security Gesellschaft Kurdistans in Europa (MOIS) 293, 319 (KCDK-E) 204 Ministry of Public Security - MPS 316 Königreich Deutschland (KRD) 130 Ministry of State Security - MSS 316 Königreich Marokko 326 MLPD 30, 70, 159, 173 ff. KON-MED 205 MOIS 293, 319 KRD 130 Muslimbruderschaft (MB) KRITIS 300 31, 55, 69, 238 f., 250, 260 f. Kurdische Frauenbewegung in Muslim-Forum 69 Europa (AKKH / TJKE) 205 Muslim Interaktiv (MI) 250 Kurdistan-Report 206 Muslimstudents 276 Kuytul 274 ff. N L Nasrallah 244, 246 Lazarus 327 National University of Defence Left 351, 370, 375 Technology (NUDT) 315 Legalistischer Islamismus 69 Necmettin Erbakan 266 f. Legalresidentur 304, 316 Neonazis Leons Identität 381 66, 82, 84, 87, 106 f., 114 f., 118 f., 154 LEUCHT-TURM 130 Neue Freie Politik 206 LIES!/DWR (Die Wahre Religion) 231 Neue Rechte linksautonome Szene 176 ff., 182, 184 f. 14, 53, 76, 92, 94, 96, 99, 111 ff. ' Linksjugend [ solid] 70, 164 ff. Neue Seidenstraße 314 ' Linksjugend [ solid] NRW 165 f. Newaya Jin 206 Lukreta 112, 113 Nihal Atsiz 196 Nordkorea 326, 327 M NPD 52, 66, 82 ff., 87, 106 f., 119, 385 NRW erwacht 152 f. Makss Damage 123 NSDAP 83, 100, 107 Marxistisch-Leninistische Partei N.S. Heute (Nationaler Deutschlands (MLPD) 159, 172 Sozialismus Heute) MB 55, 238, 260 ff. 84, 115, 134 f. Metin Kaplan 258 400 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 O Revolutionäre Organisation für einen Sozialistischen Aufbruch (R.O.S.A.) 177 Oidoxie 122, 123 Revolutionäre Volksbefreiungspartei/Front (Devrimci Halk Kurtulus P Partisi-Cephesi - DHKP-C) 188, 200 Revolutionsgarde 245 Pakistan 327 RI 253 Palästina Solidarität Duisburg 59 f. Rock Hate 87, 122 f., 134 f. Palästinensische Gemeinschaft R.O.S.A 177 in Deutschland e.V. (PGD) 55, 238, 240 Rote Fahne Magazin 172 Password Spraying 333 Rotfüchse 172 Perspektive Kommunismus. 161 Russland 298, 299, 327 PFLP 58, 214 PGD 238 , 242 S PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) 31, 188, 191, 205 ff., 213, 323, 375 Saadet Partisi (SP) 69, 266, 267 Prisma 379 f. Sabotage 308 Proliferation 327 salafistischer Jihadismus 262 Pro NRW 88 Samidoun 31, 58 f., 180, 214 ff. Proto 123 Scientology Kirche Berlin e.V. (SKB) 284 Scientology Kirche Deutschland Q e.V. (SKD) 284 Scientology Kirche Düsseldorf e.V. 280 Quds Force (QF) 245, 292, 320 SDAJ 70, 169, 171 Serxwebun 206 R Seven Sons of National Defence 315 S.H.A.E.F. 128 Ransomware-Angriffe 342 SIEGE-Culture 67 Realität Islam (RI) 56 f., 250, 252 Skinhead-Szene 121 Rebell 172 Sleipnir 123 Rechtsextremistische Skinheads 120 Smart Violence 123 Reichsbürger und Selbstverwalter SO 280 ff. 15, 30, 66 f., 77, 89, 126 ff., 131 f., 139 f., Social Engeneering 333 152 f., 155 Sozialistische deutsche Reichsbürger-Gruppierung um Arbeiterjugend (SDAJ) 168 Heinrich XIII Prinz R. 132, 139 f. Sozialistische Organisation revisionistischen Szene 66 Solidarität (SOL) 166 Revolte Rheinland 112 f. SP 267 ff., 271 Spear-Phishing 313, 327, 333 Index 401 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Spurwechsel 351, 369 f., 372 Vereinigung Geeinte Deutsche Völker Staats-Simulation 67 und Stämme 131 Staatsterrorismus 299 Vereinsgebundene ADÜTDF 194 Stammtischparolen 379 Vereinte Nation wenea 129 Sterka Ciwan 206 Vereinte Patrioten 139 Sturmwehr 123 f. Verfassunggebenden VerSturmzeichen Verlag 135 sammlung (VV) subkultureller Rechtsextremis129 mus 120 ff. Verschwörungserzählungen 67 Sultan-Fatih-Jugend Bielefeld (Sultan VGN 116 Fatih Genclik Bielefeld - BSFG) 266 VHD 131 Supply Chain Angriffe 333 VIR 368 f., 387 Syrien 327 Völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss innerhalb derAlternative T für Deutschland (AfD), ehemals "Flügel" 30, 76, 92 ff. Tactics, Techniques and Procedures 333 Volksfront zur Befreiung Palästinas Tauhid Germany 234 (PFLP) 58, 180, 215 TH 270 ff. Volksgemeinschaft NiederTürkei 298, 321 rhein (VGN) 116 Türkischen Hizbullah (TH) 31, 270 ff Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) U 204 Volksrepublik China 298, 313 Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe) VV 129 f. 16, 71, 188 ff., 195 ff., 366 Unabhängige Nachrichten (UN) 134, 136 W Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (Avrupa Wegweiser - Stark ohne islamistischen Islam Kültür Dernekleri Birligi - ATIB) Extremismus 350, 352, 364 , 380 f., 387 71, 188, 194 wenea Akademie 129 f. Union Internationaler Demokraten (UID) Westfalens Eichensöhne 112 322 unsere Zeit 168, 170 V Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) 131 402 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Y Yeniden Refah Partisi (YRP) 268 Yeni Özgür Politika 206 Yeni Refah Partisi (YRP) 266 f. Young Struggle/Zora 58 YRP 268 f. Z Zero-Day-Schwachstelle 333 Index 403 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2023 Hinweis Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlbewerberinnen und Wahlbewerbern oder Wahlhelferinnen und Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für die Landtags-, Bundestagsund Kommunalwahlen sowie für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Eine Verwendung dieser Druckschrift durch Parteien oder sie unterstützende Organisationen ausschließlich zur Unterrichtung ihrer eigenen Mitglieder bleibt hiervon unberührt. Unabhängig davon, wann, auf welchem Weg und in welcher Anzahl diese Schrift dem Empfänger zugegangen ist, darf sie auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme des Ministeriums des Innern NordrheinWestfalen zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Der Inhalt dieser Broschüre wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen Friedrichstraße 62-80 40217 Düsseldorf Telefon: 0211 871-01 Telefax: 0211 871-3355 poststelle@im.nrw.de www.im.nrw