Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2022 www.im.nrw Vorwort Nach der Pandemie haben sich viele Menschen wieder mehr Normalität gewünscht. Stattdessen gibt es weitere Krisen, mehr Konflikte und damit immer neue Herausforderungen. Diese Unsicherheit ist "Wasser auf die Mühlen" derjenigen, die unseren Staat im Kern erschüttern und unsere freiheitliche demokratische Grundordnung angreifen wollen. Extremisten machen sich diese gesellschaftlichen Brennpunkte zu eigen und versprechen falsche Sicherheit. Egal, ob es der UkraineKrieg ist, die hohen Energiepreise, der Klimaschutz oder die Katastrophen in der Welt; 2022 hat hierfür ausreichend Angriffsfläche geboten. Genauso sind auch die Gefahren vielfältiger geworden. Die kommen aus allen Richtungen: von innen und außen, sind politisch oder religiös motiviert, finden sich auf den Straßen, im Cyberraum, und werden über ausländische Desinformationsund Destabilisierungskampagnen verbreitet. Der Rechtsextremismus hat den "Dauerkrisenmodus" für sich genutzt. Immer wieder versuchen Rechtsextremisten, das Protestgeschehen zu unterwandern und durch Verstetigung ihrer fremdenfeindlichen Argumente für breite Teile der Gesellschaft anschlussfähig zu werden. Im Dezember 2022 gab es die Reichsbürger-Razzia um den "Prinz Reuß". Reichsbürger und Selbstverwalter haben uns traurigen Einblick in ihren wahnwitzigen Traum eines eigenen Staates und deren krude Erzählung von einer "besetzten" Bundesrepublik Deutschland gegeben. Was vor einigen Jahren mit einzelnen Demokratiegegnern begann, festigte sich zu einer Szene mit erheblichem Gefahrenpotenzial für unsere freiheitlich demokratische Grundordnung. Linksextremisten haben ebenfalls versucht, das Protestgeschehen für sich zu kapern und nutzen zivildemokratische Bündnisse als Vehikel, um ihre Inhalte zu verbreiten. Wir erinnern uns alle noch an die Bilder aus Lützerath, wo neben Klimaschützern auch Linksextremisten mitliefen und teils schwere Gewaltstraftaten gegen Polizisten und Sicherheitskräfte begingen. 2 Vorwort Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Auch im Islamismus gibt es keine Entwarnung: Die jihadistische Ideologie ist nach wie vor Nährboden für terroristische Gewalt. Dadurch besteht weiterhin eine große Gefahr für terroristische Anschläge in Deutschland von islamistisch motivierten Extremisten. Das zeigte nicht zuletzt die Festnahme im Fall Castrop-Rauxel im Januar 2023. Der Islamische Staat (IS) wie auch al-Qaida setzen heute mehr auf Einzeltäter oder KleinstGruppen, die sie zu Angriffen mit ganz einfachen Tatmitteln anstiften wollen. Leider wird auch Antisemitismus in unserer Gesellschaft sichtbarer, wenn wir zum Beispiel auf den November 2022 schauen, wo auf die Alte Synagoge in Essen geschossen wurde. Im September 2021 konnten Anschlagspläne auf eine Synagoge in Hagen vereitelt werden. In Deutschland darf kein Platz für Antisemitismus sein. Wir setzen alles daran, dass es gar nicht erst zu Antisemitismus kommt. In diesem Verfassungsschutzbericht gibt es deshalb erstmalig ein eigenes Kapitel zum Thema Antisemitismus, das von nun an ein fester Bestandteil des Berichts ist. Mit dem Ukraine-Krieg hat auch die Bedrohung von außen für unsere Gesellschaft zugenommen. Das passiert subtil durch die Verbreitung von Desinformation und Propaganda oder durch Spionage und Cyberangriffe etwa auf unsere Kritische Infrastruktur. Mit Sorge schaut der Verfassungsschutz auch auf das Treiben von Extremisten und Verschwörungsideologen im Internet. Insbesondere, weil Kinder und Jugendliche mehr und mehr online sind, müssen wir ganz genau hinschauen, was dort zu lesen und zu sehen ist. Unsere Demokratie ist verwundbar. Der Verfassungsschutz sorgt dafür, innere Systemfeinde ausfindig zu machen und äußere Bedrohungen abzuwehren. Dafür braucht es genaue Beobachtungen und umfassende Analysen. Das geht nur mit einem starken Verfassungsschutz. Deshalb haben wir ihn in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren personell deutlich verstärkt. Es ist aber genauso wichtig, unseren Verfassungsschutz auch für die Zukunft leistungsfähig zu machen, ihm Spielraum zu geben und die gute Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden im Inund Ausland fortzusetzen. Denn diese Zusammenarbeit zeigt auch, dass unsere Demokratien gemeinsam gegen die Feinde vorgehen und ihre Kräfte vereinen. Herbert Reul Minister des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen Vorwort 3 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Inhaltsverzeichnis Vorwort 2 Vorbemerkung 8 Kompakt 12 Extremismus in Zahlen 19 Personenpotenziale in Nordrhein-Westfalen 28 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) 30 Sonderthema: Krisen und ihre Auswirkungen auf Extremismus 47 Antisemitismus 57 Rechtsextremismus 71 Zusammenfassung ......................................................................................................... 72 Im Fokus: Rechtsextremistische Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg 74 NPD 80 Aufbruch Leverkusen e.V. 84 Völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD), ehemals "Flügel" 88 Der III. Weg 92 Die Rechte 98 Identitäre Bewegung Deutschland e.V. (IBD) 106 Neonazis 110 Subkulturell geprägter Rechtsextremismus 114 Reichsbürger und Selbstverwalter 120 4 InhaltsVerzeIchnIs Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Rechtsextremistische Mischszene 128 Rechtsextremistische Zeitschriften 134 Rechtsterrorismus 136 Rechtsextremismus im Internet 140 Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates 147 Linksextremismus 157 Zusammenfassung ...................................................................................................... 158 Im Fokus: Spaltungstendenzen im Linksextremismus 160 Linksjugend ['solid] Nordrhein-Westfalen 164 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 168 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 174 Autonome Linksextremisten 180 Auslandsbezogener Extremismus 191 Zusammenfassung .................................................................................................. 192 Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe) 194 Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKP-C) 200 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) und unterstützende Organisationen 204 Islamismus 215 Zusammenfassung ........................................................................................................216 Im Fokus: Wiedererstarken der Da'wa-Aktivitäten in der salafistischen Szene 218 Extremistischer Salafismus 224 HAMAS 236 Hizb Allah (Partei Gottes) und schiitischer Islamismus 240 InhaltsVerzeIchnIs 5 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Hizb ut-Tahrir (Islamische Befreiungspartei - HuT) 248 Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 254 Muslimbruderschaft (unter anderem Deutsche Muslimische Gemeinschaft, DMG) 258 Milli Görüs-Bewegung 264 Türkische Hizbullah (TH) 268 Furkan-Gemeinschaft 272 Scientology Organisation (SO) 277 Spionageabwehr, Cyberabwehr und Wirtschaftsschutz 285 Zusammenfassung ...................................................................................................... 286 Im Fokus: Lagebild Wirtschaftsschutz 2021/22 288 Spionage, Proliferation und sicherheitsgefährdende Aktivitäten für fremde Mächte 294 Cyberangriffe ausländischer Staaten 320 Wirtschaftsschutz und Geheimschutz in der Wirtschaft 328 Präventionsarbeit und Aussteigerprogramme 335 Zusammenfassung ...................................................................................................... 336 Im Fokus: Jubiläum des VIR-Projekts 338 Übergreifende Konzepte und Vernetzung 342 Präventionsprogramm Wegweiser - Gemeinsam gegen Islamismus 350 VIR - Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen 356 Aussteigerprogramme 360 Fachtagungen, Vorträge und Fortbildungen 366 Digitale Angebote und Veröffentlichungen 376 6 InhaltsVerzeIchnIs Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Über den Verfassungsschutz 381 Index 386 InhaltsVerzeIchnIs 7 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Vorbemerkung Der vorliegende Verfassungsschutzbericht bezieht sich auf Ereignisse und Beobachtungen im Jahr 2022. Hinweise auf Geschehnisse außerhalb Nordrhein-Westfalens sind aufgenommen, soweit sie für das Verständnis des Berichts erforderlich sind. Ergänzende Informationen finden Sie im Internet unter: www.im.nrw/themen/verfassungsschutz. Grundlagen und Zielsetzung des Verfassungsschutzes Nach SS 3 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen (VSG NRW) hat der Verfassungsschutz die Aufgabe, bereits im Vorfeld von konkreten Gefährdungslagen Informationen zu sammeln und auszuwerten, die Bestrebungen oder Tätigkeiten betreffen, die > gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder > darauf abzielen, die Amtsführung von Verfassungsorganen des Bundes oder eines Landes ungesetzlich zu beeinträchtigen, oder > durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder > gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind oder > sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht darstellen. Der Verfassungsschutz sammelt die für ihn relevanten Informationen und wertet sie aus, sobald tatsächliche Anhaltspunkte den Verdacht einer verfassungsfeindlichen Bestrebung oder Tätigkeit im vorgenannten Sinne begründen. Dabei wird der Verfassungsschutz in seiner Eigenschaft als Frühwarnsystem des demokratischen Rechtsstaates schon im Vorfeld konkreter Gefahren oder Straftaten tätig. Bei der Wahrnehmung seines gesetzlichen Auftrags richtet er seinen Fokus 8 Vorbemerkung Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 schwerpunktmäßig auf Strukturen und Organisationen, insbesondere solche, die gewaltorientiert sind. Über seine Erkenntnisse und Einschätzungen informiert der Verfassungsschutz die Öffentlichkeit regelmäßig und gebündelt in seinem jährlichen Verfassungsschutzbericht und darüber hinaus bei bedeutsamen konkreten Anlässen. Eine Berichterstattung im Verfassungsschutzbericht setzt voraus, dass aufgrund hinreichend gewichtiger tatsächlicher Anhaltspunkte ein Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen besteht. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y Bei "Bestrebungen" handelt es sich gemäß SS 3 Abs. 5 VSG NRW um politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der gegen die in SS 3 Abs. 1 VSG NRW genannten Schutzgüter gerichtet ist. Ein "Personenzusammenschluss" besteht aus mehreren Personen, die gemeinsam handeln. Daneben können aber auch Einzelpersonen unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen. Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Im Zentrum steht der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie bildet den Kern des Grundgesetzes, der gemäß Art. 79 Abs. 3 GG gegen jede Veränderung geschützt ist. SS 3 Abs. 6 VSG NRW zählt hierzu im Einzelnen folgende Grundsätze: Vorbemerkung 9 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 > das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, > die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, > das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, > die Ablösbarkeit der Regierung und deren Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, > die Unabhängigkeit der Gerichte, > den Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft und > die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte. Auswärtige Belange der Bundesrepublik und Völkerverständigung Daneben beobachtet der Verfassungsschutz Bestrebungen, "die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden". Hier geht es beispielsweise um gewaltbereite extremistische Gruppen mit Auslandsbezug, die vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus Gewaltaktionen vorbereiten, um eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse im Ausland, insbesondere in ihren Heimatländern, herbeizuführen und die dadurch die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten beeinträchtigen (SS 3 Abs. 1 Nr. 3 VSG NRW). Auch Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, gerichtet sind, gehören zu den Beobachtungsobjekten des Verfassungsschutzes (SS 3 Abs. 1 Nr. 4 VSG NRW). Der Verfassungsschutz beobachtet international operierende Gruppierungen, die beispielsweise darauf abzielen, konfessionelle oder ethnische Gruppen im Ausland zu bekämpfen. In diesem Fall sind die Angriffe nicht auf die staatliche Ordnung oder die Grenzen eines einzelnen anderen Landes gerichtet, sondern gegen bestimmte (Volks-)Gruppen in den betreffenden Staaten. Gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind damit auch Gruppierungen, die die - notfalls gewaltsame - Rückgewinnung der ehemaligen deutschen Ostgebiete propagieren. 10 Vorbemerkung Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Arbeitsweise des Verfassungsschutzes Bei seiner Tätigkeit stützt sich der Verfassungsschutz in großem Umfang auf offenes Material wie Zeitungen, Radiound Fernsehberichte sowie Veröffentlichungen im Internet und den sozialen Medien. Quellen können dabei unter anderem wissenschaftliche Beiträge, Interviews und zum Beispiel Parteiprogramme sein. Typischerweise geben sich extremistische Organisationen in ihren Programmen und öffentlichen Auftritten jedoch gemäßigt, um ihre Akzeptanz und ihre Wahlchancen nicht zu beeinträchtigen. Klartext wird häufig nur in den inneren Zirkeln und unter Ausschluss der Öffentlichkeit gesprochen. Auch darüber muss der Verfassungsschutz verlässliche Informationen erlangen, um sich ein realistisches Bild von den Zielen und den Methoden derartiger Organisationen zu verschaffen und seinen Auftrag zur Beratung der Politik und Aufklärung der Öffentlichkeit zu erfüllen. Zur Aufklärung konspirativ arbeitender verfassungsfeindlicher Organisationen ist deshalb der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel notwendig. Dabei werden nach Maßgabe konkreter gesetzlicher Vorgaben insbesondere Vertrauenspersonen (V-Personen) eingesetzt und Zielpersonen observiert. In besonders gravierenden Einzelfällen erfolgt eine Überwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs. Die gesamte Tätigkeit des Verfassungsschutzes unterliegt der Kontrolle des Parlamentarischen Kontrollgremiums des nordrhein-westfälischen Landtags und bei bestimmten Maßnahmen zur Kommunikationsüberwachung oder Finanzermittlung dem Genehmigungsvorbehalt durch eine unabhängige Kommission (G 10-Kommission). Vorbemerkung 11 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Kompakt Rechtsextremismus > Hinsichtlich des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ist sich die rechtsextremistische Szene einig, dass die USA und NATO negativ zu sehen sind und die aus den Sanktionen gegen Russland resultierenden Folgen wie der Anstieg der Energiepreise und der Inflation als Protestthemen instrumentalisiert werden sollen, um das politische System zu diskreditieren. > In den vergangenen Jahren relevante Organisationen, wie Die Rechte und die Bruderschaft Deutschland, haben an Bedeutung verloren, ohne dass deren Mitglieder sich vom Rechtsextremismus distanziert hätten. Organisatorisch geht die Entwicklung in Richtung eines anlassbezogenen mobilisierbaren Netzwerkes. > Das Zusammenwirken von Rechtextremisten, Reichsbürgern und Delegitimierern in terroristischen Gruppierungen zeigt, dass sich Teile der verschiedenen extremistischen Szenen gleichsam im Widerstand sehen und deshalb schwere Gewalttaten als notwendig und gerechtfertigt erachten. Ereignisse im Berichtszeitraum 1. Februar 24. Februar Sendeverbot RT DeutschBeginn des russischen land wegen fehlender Angriffskrieges gegen Lizenz beschlossen die Ukraine 2022 [?] 3. Februar Tod des Anführers des sogenannten "Islamischen Staates" bei einer US-amerikanischen Militäroperation 12 kompakt Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Die Delegitimierer greifen statt der Corona-Pandemie neue Themen wie steigende Energiepreise, Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland auf und stellen die demokratisch gewählten politischen Eliten als bekämpfenswertes Feindbild dar. Linksextremismus Linksextremisten versuchten, ihre pandemiebedingten internen Kommunikationsund Mobilisierungsprobleme zu beheben und mit Entgrenzungsstrategien insbesondere in den Themenfeldern Klimaschutz und Antifaschismus linksextremistische Positionen in das demokratische Spektrum zu transportieren. Auslandsbezogener Extremismus Im säkularen auslandsbezogenen Extremismus hatten die politischen Entwicklungen in der Türkei generell Auswirkungen auf die Aktivitäten dieser Gruppierungen in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen. Insbesondere beim Aktionsverhalten der PKK haben die aktuellen Entwicklungen in der Türkei und auch die Kampfhandlungen in den kurdischen Siedlungsgebieten in Nordsyrien und im Nordirak zu einem Anstieg demonstrativer Aktivitäten geführt. 8. März Urteil des Verwaltungsgerichts Köln: Verfassungsschutz darf den AfD-Bundesverband und die Junge Alternative als Verdachtsfall beobachten 6. April Bundesweite Großrazzia gegen Neonazis der Gruppen Atomwaffen Division Deutschland, Combat18 und Knockout51 kompakt 13 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Islamismus > Die extremistisch-salafistische Szene hat sich trotz der Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie und den Verdrängungseffekten durch Verbotsmaßnahmen angepasst und ihre Aktivitäten weiter verstärkt: Der extremistische Salafismus bleibt eine langfristige Herausforderung für die Sicherheitsbehörden und die Gesellschaft. > Die jihadistische Szene ist nach wie vor virulent: die Verbreitung jihadistischer Propaganda und Ideologie bietet weiterhin einen Nährboden für terroristische Gewalt, so dass die Gefahr terroristischer Anschläge in Deutschland von islamistisch motivierten Extremisten weiterhin als sehr hoch einzuschätzen ist. > Das Verbot des Hizb Allah-nahen Imam Mahdi-Zentrums (IMZ) in Münster stellt eine erhebliche Beeinträchtigung für die Sympathisanten der Organisation in NRW dar und hatte mit dem zeitgleich erfolgten Verbot eines Vereins in Bremen eine bundesweite Signalwirkung für den schiitischen Islamismus. Spionageabwehr und Wirtschaftsschutz > Die mit dem Angriffskrieg Russlands einhergehende Eskalation setzt die russischen Nachrichtendienste unter erheblichen Informationsbeschaffungsdruck. Für Deutschland und NRW erhöht dies das Risiko für Cyberangriffe, Sabotageakte sowie staatsterroristische Aktivitäten und es lässt bereits jetzt eine Ausweitung russischer Desinformationsund Propagandakampagnen erkennen. 13. April Verhaftung mehrerer Personen aus dem Querdenker-Spektrum, die Anschläge und die Entführung des Bundesgesundheitsministers planten 2022 [?] 12. Mai Festnahme eines 16-jährigen Schülers wegen eines geplanten rassistisch-motivierten Anschlags an einer Essener Schule 14 kompakt Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 > Im Bereich der Proliferation führen die gegen Russland verhängten Sanktionen zu verdeckten, nachrichtendienstlich gesteuerten Umgehungsund Einkaufsbemühungen. Der Iran versucht ebenfalls weiterhin, Technologie für seine Programme zu beschaffen. > Diverse weitere Staaten versuchen auch über Operationen im Cyberraum in Nordrhein-Westfalen Zugang zu behördlichen und politischen Institutionen zu gewinnen, relevante Entscheidungsakteure zu kontaktieren, zu vereinnahmen und zu beeinflussen oder gar nachrichtendienstlich anzubahnen. > Der Wirtschaftsschutz konzentriert sich bei seinen Informationsund Sensibilisierungsangeboten auf die Kritische Infrastruktur (KRITIS) sowie systemrelevante Unternehmen und Einrichtungen. Präventionsarbeit und Aussteigerprogramme > Die Themen Entgrenzung des Extremismus und Ülkücü-Bewegung/Graue Wölfe standen 2022 im Blickpunkt von Fachtagungen, die der NRW-Verfassungsschutz gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung ausgerichtet hat. > Der präventiven Arbeit mit Zielgruppen, die sich im Rechtsextremismus radikalisieren, aber noch nicht fest in dieser Szene verankert sind, ging das VIR-Projekt in einem bundesweiten Fachworkshop nach. Er führte Wissenschaft und Praxis zusammen. 15. Mai 26.-28. Juni Landtagswahlen in Dreitägiger Nordrhein-Westfalen G7-Gipfel in Elmau 25. Juni Mutmaßlich Islamistischer und queerfeindlicher Anschlag in Oslo mit zwei Todesopfern kompakt 15 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 > Das Präventionsprogramm "Wegweiser - Gemeinsam gegen Islamismus" mit seinen passgenauen Workshop-Angeboten wurde mit Auslaufen der Pandemie insbesondere von Schulen noch verstärkter nachgefragt. Zudem liegt seit November 2022 der endgültige Evaluationsbericht vor. > Das Aussteigerprogramm Islamismus (API) durchlief 2022 eine wissenschaftliche Evaluation. Auch die Programme Spurwechsel (Rechtsextremismus) und Left (Linksextremismus/auslandsbezogener Extremismus) haben weiterhin ausstiegswillige Menschen erfolgreich bei der Distanzierung von extremistischen Szenen begleitet. > Der Rückkehrkoordinierende (RKK) hat sich als wichtiger Akteur in NRW etabliert. RKK unterstützte 2022 vor allem die Deradikalisierungsarbeit und die (Re-)Integration der Rückgekehrten in die Gesellschaft. 19. September Beginn landesweiter Proteste im Iran gegen das iranische Regime wegen des Mordes an einer 22-Jährigen durch die Sittenpolizei 2022 [?] 26. September Explosionen als mutmaßlicher gezielter Sabotageakt an Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 16 kompakt Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 8. Oktober 7. Dezember Sabotageakt gegen die Bundesweit größte Deutsche Bahn mit Razzia der Geschichte in der schweren Einschränkungen Bundesrepublik Deutschland in Norddeutschland gegen Anhänger der Reichsbürger-Szene 18. November Anschlag auf die Alte Synagoge in Essen kompakt 17 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 18 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Extremismus in Zahlen extremIsmus In zahlen 19 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Extremismus in Zahlen Bedrohungen für die Demokratie von innen und außen 20 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Politisch motivierte Kriminalität nach PMK-Phänomenbereichen Gewaltkriminalität nach PMK-Phänomenbereichen extremIsmus In zahlen 21 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Tatverdächtige PMK-rechts Tatverdächtige PMK-links Tatverdächtige PMK-ausländische Ideologie Tatverdächtige PMK-religiöse Ideologie 22 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Personenpotenzial im Rechtsextremismus Personenpotenzial im Linksextremismus extremIsmus In zahlen 23 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Personenpotenzial im auslandsbezogenen Extremismus Personenpotenzial im Islamismus (deutlicher Rückgang im Jahr 2014 durch andere Bewertung von Teilen der Bewegung Milli Görüs) 24 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Personenpotenzial im extremistischen Salafismus Präventionsprogramm Wegweiser im Überblick extremIsmus In zahlen 25 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Fallzahlen seit Einrichtung der Aussteigerprogramme Knapp zwei Drittel der Hinweise auf potenzielle Klienten stammen von Behörden und Netzwerkpartnern 26 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Das Aussteigerprogramm API befasst sich in rund einem Viertel der Fälle mit Frauen Achtzig Prozent der im API begleiteten Personen sind dem Verfassungsschutz als Gefährder oder zumindest relevante Person bekannt In sechzig Prozent der Fälle hat Left die in das Programm aufgenommenen Personen aktiv angesprochen extremIsmus In zahlen 27 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Personenpotenziale in Nordrhein-Westfalen Die Angaben zu den Parteien und Organisationen umfassen grundsätzlich das gesamte Personenpotenzial. Die Angaben sind gerundet. Rechtsextremismus 2021 2022 NPD 375 350 Die Rechte 290 270 Der III. Weg 40 40 Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien 950 950 (völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD), ehemals "Flügel") In parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen, 1.200 1.150 insbesondere neonazistischen Kameradschaften und Mischszene Unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial, 1.520 1.250 insbesondere die Skinhead-Szene abzüglich Doppelzurechnungen* -500 -465 Gesamt 3.875 3.545 davon gewaltorientierte Rechtsextremisten 2.000 1.900 Reichsbürger und Selbstverwalter 3.400 3.400 Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimie300 300 rung des Staates * Einzelne Personen können gleichzeitig zwei Organisationen oder Gruppierungen zugerechnet werden. Die Mitglieder der Partei Die Rechte werden weiterhin als Neonazis gezählt. Linksextremismus 2021 2022 Gewaltorientierte Linksextremisten einschl. Autonome und Anarchisten* 1.120 1.260 DKP 800 800 MLPD 750 750 Gesamt 2.670 2.810 *Gewaltorientierte Anarchisten sind erstmalig ausgewiesen. 28 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Auslandsbezogener Extremismus 2021 2022 ADÜTDF 2.000 2.000 ATIB 600 600 ANF 300 300 Freie Szene der Ülkücü-Bewegung 800 DHKP-C 200 200 KONGRA-GEL bzw. PKK 2.200 2.200 Gesamt 5.300 6.100 Islamismus 2021 2022 Extremistischer Salafismus 3.200 2.800 davon politisch 2.420 2.200 davon gewaltbereit 780 600 HAMAS 175 150 Hizb Allah 350 350 Hizb ut-Tahrir 100 120 Kalifatsstaat 220 150 Muslimbruderschaft (inkl. HAMAS) 350 270 Milli Görüs-Bewegung (extremistischer Teil) 250 250 Türkische Hizbullah 60 50 Furkan-Gemeinschaft 80 80 abzüglich Doppelzurechnungen* -175 -150 Gesamt 4.610 4.070 * Einzelne Personen können gleichzeitig zwei Organisationen oder Gruppierungen zugerechnet werden. extremIsmus In zahlen 29 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) Betrachtung der Gesamtentwicklung In Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2022 insgesamt 8.948 politisch motivierte Straftaten bekannt (2021: 6.399). Damit ist im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um 2.548 Delikte beziehungsweise um 39,8 Prozent zu verzeichnen. Die Aufklärungsquote im Bereich der PMK für das Jahr 2022 sinkt auf 31,0 Prozent (2021: 36,3 Prozent). Es wurden mit 2.775 Straftaten im Vergleich zum Vorjahr 454 Delikte mehr aufgeklärt (2021: 2.321). Gesamtentwicklung der Politisch motivierten Kriminalität im 10-Jahres-Vergleich Gewaltdelikte der Politisch motivierten Kriminalität (PMK-Gewalt) Die Zahl der bekannt gewordenen Gewaltdelikte mit politischer Motivation ist in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zum Jahr 2021 gestiegen. Es wurden insgesamt 396 Gewaltdelikte bekannt, das entspricht einer Steigerung um 9,1 Prozent (2021: 363). 260 30 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Gewaltdelikte konnten polizeilich geklärt werden (2021: 212). Die Aufklärungsquote liegt mit 65,7 Prozent höher als im Vorjahr (2021: 58,4 Prozent). Propagandadelikte Einen hohen Anteil der PMK macht jährlich wiederkehrend die Gruppe der Propagandadelikte, also Straftaten der SSSS 86 und 86a Strafgesetzbuch (StGB), aus. Im Vergleich zum Vorjahr sank mit 2.396 diesbezüglichen Straftaten beziehungsweise mit 26,8 Prozent der prozentuale Anteil der Propagandadelikte am Straftatenaufkommen der PMK (2021: 1.994 Straftaten beziehungsweise 31,2 Prozent). Bei den meisten Propagandadelikten handelt es sich um das Aufbringen von Hakenkreuzsymbolen im öffentlichen Raum, die nur wenige Ermittlungsansätze bieten und daher schwer aufzuklären sind. Mit 33,5 Prozent liegt die Aufklärungsquote der Propagandadelikte unter dem Niveau des Vorjahres (2021: 35,1 Prozent). Extremistische Straftaten Von den 8.948 im Jahr 2022 bekannt gewordenen Delikten der PMK sind 8.583 (95,9 Prozent) als extremistische Straftaten im Sinne des SS 3 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen (VSG NRW) eingestuft, weil sie sich beispielsweise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richteten. Die Anzahl der als extremistisch einzustufenden Straftaten ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum deutlich gestiegen (2021: 6.090). Beim Anteil am Gesamtaufkommen der PMK ist hingegen nur ein leichter Anstieg zu verzeichnen (2021: 95,2 Prozent). Entwicklung der Phänomenbereiche der Politisch motivierten Kriminalität Betrachtet man die Entwicklung der PMK differenziert nach den Phänomenbereichen, so ist lediglich im Phänomenbereich der PMK -linksein Rückgang der Fallzahlen festzustellen. In allen weiteren Phänomenbereichen sind die Fallzahlen entsprechend der Gesamtentwicklung gestiegen. Eine deutliche Steigerung der Fallzahlen ist erneut im Phänomenbereich der PMK -nicht zuzuordnenfestzustellen. Hier stiegen die Fallzahlen um 113,7 Prozent (2021: 1.787; 2022: 3.819). Der prozentual höchste Anstieg der Fallzahlen erfolgte im Phänomenbereich der PMK -ausländische Ideologie-. Dort stiegen die Fallzahlen um 275,4 Prozent (2021: 211; 2022: 792). extremIsmus In zahlen 31 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Politisch motivierte Kriminalität -rechtsDie Anzahl der Straftaten im Phänomenbereich PMK -rechtsist mit 3.453 Straftaten (2021: 3.135) im Vergleich zum Vorjahr um 318 Straftaten (10,1 Prozent) gestiegen. Propagandadelikte und Volksverhetzungen machen mit 75,3 Prozent (2.600 von 3.453 Straftaten), wie in den Vorjahren, den überwiegenden Anteil der Straftaten im Bereich PMK -rechtsaus (2021: 74,3 Prozent). Es konnten 1.390 Straftaten beziehungsweise 40,2 Prozent polizeilich geklärt werden. Damit sinkt die Aufklärungsquote um 0,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt wurden 1.293 Tatverdächtige ermittelt (2021: 1.257). Davon waren 1.086 Personen beziehungsweise 84,0 Prozent männlich und 207 beziehungsweise 16,0 Prozent weiblich. Die am höchsten belastete Altersgruppe war mit 248 Personen die der 30bis 39-Jährigen. Es folgte die Gruppe der 40bis 49-Jährige mit 247 Personen. 778 (60,2 Prozent) der Tatverdächtigen waren bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten (2021: 692 beziehungsweise 55,1 Prozent). Vorherrschende Themenfelder der PMK -rechtswaren Nationalsozialismus/Sozialdarwinismus (Anstieg von 2.078 auf 2.352 Straftaten) und Hasskriminalität (Anstieg von 1.209 auf 1.292 Straftaten). Dahinter folgt das Themenfeld Konfrontation/politische Einstellung (Rückgang von 1.042 auf 847 Straftaten). In der deliktischen Aufschlüsselung fällt besonders ein Anstieg an Propagandadelikten auf. Wurden 2021 1.778 Propagandadelikte polizeilich erfasst, so ist für 2022 mit 2.087 Strafanzeigen eine Zunahme um 309 Straftaten erkennbar (17,4 Prozent). Unter dem Begriff Propagandadelikte werden die in den SSSS 86, 86a StGB aufgeführten Straftaten (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) erfasst. Straftaten nach den SSSS 86 und 86a StGB werden zu einem großen Teil situationsbedingt und im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen oder anderweitig im Zusammenhang mit Begegnungen im öffentlichen Leben festgestellt. Aufgrund der Beschränkungen hinsichtlich der Corona-Pandemie seit März 2020 kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die Möglichkeiten zur Begehung vorgenannter Straftaten als auch gleichermaßen die Wahrnehmbarkeit potenzieller Propagandadelikte und damit verbunden ihrer Entdeckung im Jahr 2021 starken Einschränkungen unterlagen, und diese Fallzahlen somit nach Wegfall der Einschränkungen folgerichtig wieder eine aufsteigende Tendenz aufweisen. 32 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Gewaltkriminalität im Phänomenbereich PMK -rechtsDie Anzahl der Gewaltdelikte durch rechtsmotivierte Tatverdächtige ist mit 117 Straftaten gegenüber dem Vorjahr um 3,3 Prozent gefallen (2021: 121 Straftaten). Schwerpunktmäßig handelte es sich um Körperverletzungen (107 Straftaten beziehungsweise 91,5 Prozent). Die Aufklärungsquote der Gewaltdelikte im Bereich PMK -rechtsliegt mit 85 geklärten Taten bei 72,6 Prozent (2021: 85 Straftaten beziehungsweise 70,2 Prozent). PMK-rechts und PMK-rechts-Gewalt im 10-Jahres-Vergleich Hasskriminalität im Phänomenbereich PMK -rechtsDer Hasskriminalität werden Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen eine Person wegen ihrer Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, des sozialen Status, physischer und/oder psychischer Behinderung oder Beeinträchtigung, ihres Geschlechts/geschlechtlichen Identität, der sexuellen Orientierung oder aufgrund ihres äußerlichen Erscheinungsbildes gerichtet sind. Die Hasskriminalität im Phänomenbereich PMK -rechtsist mit 1.292 Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 6,9 Prozent angestiegen (2021: 1.209 Straftaten). extremIsmus In zahlen 33 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Deliktisch gesehen liegen die Schwerpunkte der Hasskriminalität bei Volksverhetzungen (498 Straftaten), Beleidigungen (334 Straftaten) und Straftaten gemäß SSSS 86, 86a StGB (150 Straftaten). Die Anzahl der Gewaltdelikte im Themenfeld Hasskriminalität ist auf 99 Straftaten gestiegen (2021: 91 Straftaten). Antisemitische Straftaten Die Anzahl der antisemitischen Straftaten (aller Phänomenbereiche) ist von 437 auf 331 Straftaten gesunken (24,3 Prozent). Bei den Deliktsgruppen machten - wie in den Vorjahren - Volksverhetzungen (195 Straftaten), Propagandadelikte (44 Straftaten) und Sachbeschädigungen (34 Straftaten) den überwiegenden Anteil der Fallzahlen aus (82,5 Prozent). Die Anzahl der antisemitischen Gewaltdelikte ist im Vergleich zum Vorjahr gleichbleibend bei acht Straftaten. Antisemitische Strafund Gewalttaten im 10-Jahres-Vergleich 287 Straftaten beziehungsweise 86,7 Prozent der antisemitischen Straftaten wurden im Jahr 2022 dem Phänomenbereich PMK -rechtszugeordnet. 34 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Reichsbürger/Selbstverwalter Die Anzahl der Gesamtstraftaten im Zusammenhang mit Reichsbürgern/Selbstverwaltern ist 2022 im Vergleich mit dem Vorjahr von 69 auf 77 Taten um 11,6 Prozent gestiegen. Unter diesen Taten sind zwölf Gewaltdelikte zu verzeichnen. Alle zwölf Gewaltdelikte wurden 2022 aufgeklärt (100 Prozent). Politisch motivierte Kriminalität -linksDie Anzahl der Straftaten im Phänomenbereich der PMK -linksist mit 824 Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 31,7 Prozent gesunken (2021: 1.207 Straftaten). Im Vergleich zum Jahr 2020 (1.430 Straftaten) fand ein weiterer Rückgang der Fallzahlen von nunmehr etwa einem Drittel statt. Dies entspricht einer Verdopplung der Rückgangsrate von 15,6 Prozent auf 31,7 Prozent. Im Jahr 2022 wurden insgesamt 308 (2021: 475) Tatverdächtige ermittelt. Davon waren 214 (69,5 Prozent) männlich und 94 (30,5 Prozent) weiblich. Die am höchsten belasteten Altersgruppen waren mit je 52 Personen die 25bis 29-Jährigen und die 30bis 39-Jährigen (2021: 98 Personen die der 25bis 29-Jährigen). Es folgte die Gruppe der 21-bis 24-Jährigen mit 50 Personen (2021: 97 Personen). 86 Tatverdächtige (27,9 Prozent) waren zuvor polizeilich in Erscheinung getreten (2021: 160 beziehungsweise 33,7 Prozent). Vorherrschende Themenfelder im Bereich der PMK -linkswaren in absteigender Reihenfolge Konfrontation/politische Einstellung (Rückgang von 989 auf 579 Erfassungen), Ökologie/Industrie/Wirtschaft (Anstieg von 224 auf 274 Erfassungen), Innenund Sicherheitspolitik (Rückgang von 588 auf 222 Erfassungen) und Antifaschismus (Rückgang von 149 auf 133 Erfassungen). Die Anzahl der Straftaten im Zusammenhang mit den Protesten im Rheinischen Braunkohlerevier ist gestiegen. In diesem Kontext wurden im Berichtszeitraum 153 Straftaten verübt, die dem Phänomenbereich PMK -linkszugerechnet werden (2020: 174 Straftaten; 2021: 123 Straftaten). Der Anstieg ist auf das Bekanntwerden des Zeitpunkts der Räumung des Weilers Lützerath im Januar 2023 und die seit Herbst 2022 zunehmenden Proteste gegen die Räumung zurückzuführen. Grundsätzlich konnte im Jahr 2022 eine sinkende Mobilisierungsfähigkeit linksextremistischer Akteure bezogen auf das Versammlungsgeschehen festgestellt werden. So wurden regelmäßig Versammlungen mit einer höheren erwarteten Teilnehmerzahl angemeldet, letztendlich jedoch mit einer geringeren Anzahl an Teilnehmern durchgeführt. Ferner gewannen mit Beginn des Ukraine-Konflikts unter anderem die Themenfelder Krisenherde/Bürgerkriege und Befreiungsbewegungen/Internationale Solidarität extremIsmus In zahlen 35 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 auch für Akteure der linksextremistischen Szene an Bedeutung und tangierte somit ihre Mobilisierungsfähigkeit in ihren Kernthemen. Im Jahr 2022 konnten mit 236 Straftaten insgesamt weniger Straftaten aufgeklärt werden als im Jahr zuvor (2021: 315 Straftaten). Die Aufklärungsquote stieg jedoch aufgrund der ebenfalls gesunkenen Fallzahl auf 28,6 Prozent (2021: 26,1 Prozent). Gewaltkriminalität im Phänomenbereich PMK -linksDie Anzahl der Gewaltdelikte durch linksmotivierte Tatverdächtige ist mit 71 Straftaten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (141 Straftaten) um 50,4 Prozent gesunken, nachdem es im Jahr 2020 zu einem leichten Anstieg von 4,4 Prozent gekommen war. In den vergangenen beiden Jahren 2021 und 2022 machten Körperverletzungsdelikte den überwiegenden Anteil der Gewaltdelikte im Bereich der PMK -linksmit 28 Delikten in 2022 und 56 Delikten in 2021 aus. Weiterhin bildeten die Widerstandsdelikte in beiden Jahren einen Schwerpunkt, wobei im Jahr 2022 insgesamt 14 und im Jahr 2021 insgesamt 40 Widerstandsdelikte erfasst wurden. Eine auffällige Häufung ist bei einem Vergleich der Jahre 2022 und 2021 bei den Branddelikten zu erkennen. PMK-links und PMK-links-Gewalt im 10-Jahres-Vergleich Waren von 141 Gewaltdelikten im Jahr 2021 lediglich neun als Branddelikte erfasst worden, so waren es im Jahr 2022 von 71 Gewaltdelikten schon 13 Branddelikte. Dies 36 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 entspricht einem prozentualen Anstieg im Bereich der Branddelikte von 6,4 Prozent im Jahr 2021 auf 18,3 Prozent im Jahr 2022. Im Jahr 2022 wurden 28 Gewaltdelikte aufgeklärt und somit 43 weniger als im Vorjahr (2021: 71 Straftaten). Die Aufklärungsquote sank von 50,4 Prozent (2021) auf 39,4 Prozent (2022) und glich sich so wieder dem Stand des Jahres 2020 mit seinerzeit 37,8 Prozent an. Politisch motivierte Kriminalität -ausländische IdeologieZu Beginn ein kurzer Rückblick: im Jahr 2020 halbierten sich nahezu die mittels des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes (KPMD) gemeldeten Fallzahlen von 267 Straftaten auf 138 Straftaten. Nach einem Anstieg um etwas über 50 Prozent (im Vergleich zu 2020) im Jahr 2021 auf 211, beläuft sich die Anzahl der Straftaten des Phänomenbereiches PMK -ausländische Ideologieim Jahr 2022 auf 792 Straftaten. Dies stellt einen Anstieg um den Faktor 3,75 (375,4 Prozent) dar. Der eklatante Anstieg muss im Lichte des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gesehen werden; denn allein 499 dieser gemeldeten 792 Straftaten wurden mit dem Themenfeld-Unterbegriff "Ukraine" erfasst. Demnach verbleiben 293 gemeldete Straftaten, für welche dieses Themenfeld nicht erfasst wurde. Damit wurde 2022 in etwa das Vor-Corona-Niveau erreicht. Entsprechend oft wurde als Themenfeld-Oberbegriff "Krisenherde/Bürgerkriege" (728 von 792) für die zu Grunde liegenden Sachverhalte gewählt. Zudem wurde in 442 von 792 Fällen der Themenfeld-Oberbegriff "Konfrontation/politische Einstellung" gewählt. Insgesamt wurden 233 Tatverdächtige ermittelt (2021: 122). Davon waren 174 (74,7 Prozent) männlich und 59 (25,3 Prozent) weiblich. Die am häufigsten vertretene Altersgruppe war mit 55 Personen (23,6 Prozent) jene zwischen 30 und 39 Jahren. Es folgt mit 45 Personen (19,3 Prozent) die Altersgruppe der 40-49-jährigen. 85 (36,5 Prozent) der ermittelten Tatverdächtigen war bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten. Das Jahr 2022 stand im Zeichen des Ukraine-Krieges. Knapp die Hälfte der oben genannten 499 gemeldeten Straftaten im Sachzusammenhang entfallen auf die Kategorie der "sonstigen Straftaten", wozu auch die Belohnung und Billigung von Straftaten gemäß SS140 StGB gehören. Bei etwas über einem Drittel der Taten handelt es sich um Sachbeschädigungen. Viele dieser Fälle resultierten aus Farbschmierereiund extremIsmus In zahlen 37 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Vandalismus-Sachverhalten - vornehmlich gegen ukrainisch assoziierte Objekte. Bei lediglich drei Prozent der Taten handelt es sich um Gewaltdelikte - hier fast ausschließlich um Körperverletzungen. Kennzeichnend für Sachverhalte in diesem Kontext sind zwei klar voneinander abgrenzbare, sich feindlich gegenüberstehende Lager, welche jeweils Unterstützer in der deutschen Gesellschaft haben. Zum einen ein klar pro-russisches Lager, welches sich vornehmlich aus der deutschen Bevölkerung mit russischer Migrationsgeschichte speist und Unterstützung durch Parteien deutlich rechts und links der Mitte erfährt. Zum anderen ein erkennbar pro-ukrainisches Lager, welches weite Teile der bürgerlichen Mitte inklusive karitativer Einrichtungen hinter sich vereint. Einrichtungen und sonstige Objekte, welche von außen erkennbar einem der beiden Lager zuzuordnen waren, waren im Jahr 2022 entsprechend einem gesteigerten Risiko ausgesetzt, zum Ziel einer Sachbeschädigung zu werden. In Anbetracht des naturgemäß hohen Emotionalisierungsgrades unter Berücksichtigung der verstörenden Kriegsbilder aus dem Osten und Süden der Ukraine ist der Anteil der Gewaltdelikte in Höhe von drei Prozent (15 Straftaten) als gering zu bewerten. Der Israel/Palästina-Konflikt, welcher im Jahr 2021 mit 84 Straftaten einen relativen Schwerpunkt ausmachte, spielte im Jahr 2022 kaum noch eine Rolle. Auch im Jahr 2022 waren Themen im Kontext des Konfliktes der Türkei mit Teilen der kurdischen Bevölkerung maßgeblich für die Veranstaltungslage und die Fallzahlen der PMK -ausländische Ideologie-. So wurden 174 (2021: 48) der 792 Meldungen mit dem Unterbegriff "Türkei" und 141 (2021: 32) mit dem Unterbegriff "Kurden" versehen (Mehrfachnennung möglich); bei 98 der Fälle war darüber hinaus ein PKK-Bezug erkennbar. Die Steigerung bedürfen der Einordnung: Angesichts der Maßnahmen zur Einschränkung des Corona-Virus in den Jahren 2020/ 2021 und der daraus resultierenden geringen Anzahl an Veranstaltungen in NRW unterschied sich die Veranstaltungslage im Jahr 2020 und 2021 deutlich von jenen der Vorjahre. Die Fallzahlen halbierten sich nahezu. Die pandemiebedingten Restriktionen führten nicht nur zu weniger Anmeldungen von Veranstaltungen und zu mehr Versammlungsverboten, sondern auch zu einer zunehmenden Digitalisierung öffentlicher Kundgebungen und sonstiger Veranstaltungen. Im Bereich der PMK -ausländische Ideologiewurden diese Restriktionen - im Gegensatz zu weiten Teilen der PMK -rechtsund -links- - nicht selbst zum Inhalt von Ver38 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 sammlungen und Kundgebungen gemacht. Die Personen, Gruppierungen und Inhalte der PMK -ausländische Ideologiewaren daher in der Öffentlichkeit weniger präsent und weniger wahrnehmbar. Folglich kam es zu weniger potentiell konfliktträchtigen Situationen, wie etwa das Aufeinandertreffen erkennbar verfeindeter politischer Lager. Im Jahr 2022 wurden diese Restriktionen wieder zurückgenommen, was zu einer "Normalisierung" der Verhältnisse; hier: der Fallzahlen der PMK -ausländische Ideologieim Kontext Türkei/Kurden führte. Im Zusammenhang Türkei/Kurden sind für den hier betrachteten Phänomenbereich folgende Zahlen herauszustellen, die nicht mit den Lockerungen der Restriktionen erklärt werden können: der Anteil der Gewaltdelikte mit dem Unterbegriff "Kurden" war im Jahr 2022 mit 41,1 Prozent (58 Straftaten) außerordentlich hoch. Ein Großteil dieser Straftaten entfiel auf Widerstandshandlungen im Zuge einer unfriedlich verlaufenden Versammlung in Köln ("Langer Marsch der kurdischen Jugend"). Die Versammlung wurde 2022 unter dem Motto "Haftbedingungen und Gesundheitszustand von Herrn Abdullah Öcalan" durchgeführt. Weitere relevante Themenfelder der PMK -ausländische Ideologiewaren im Jahr 2022 die Situation im Irak (25 Meldungen im Sachzusammenhang; fünf im Jahr 2021) und im Iran (36 Meldungen im Sachzusammenhang; vier im Jahr 2021). Die Ausführungen zur Verteilung der Delikte im Kontext des Ukraine-Krieges erklären die im Jahr 2022 niedrige Aufklärungsquote im Bereich der PMK -ausländische Ideologievon 29,2 Prozent. Gerade Sachbeschädigungsdelikte liefern oftmals wenig bis keine Ermittlungsansätze, was eine Identifizierung von Tatbeteiligten wesentlich erschwert. Gewaltkriminalität im Phänomenbereich PMK -ausländische IdeologieDer Anteil der Gewaltdelikte der PMK -ausländische Ideologielag mit 11,6 Prozent (92 Straftaten) leicht unter dem Anteil der Gewaltdelikte des Vorjahres 2021 (12,8 Prozent). Die Aufklärungsquote lag mit 77 geklärten Straftaten bei 83,7 Prozent und hebt sich damit deutlich von der Aufklärungsquote insgesamt ab. Politisch motivierte Kriminalität -religiöse IdeologieIm Bereich PMK -religiöse Ideologiewurden 48 der insgesamt 60 registrierten Straftaten (2021: 46 von 59 Straftaten) aufgeklärt; das entspricht einer Aufklärungsquote von 80,0 Prozent (2021: 78,0 Prozent). Es wurden neun Gewaltdelikte im Bereich PMK extremIsmus In zahlen 39 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 -religiöse Ideologieverzeichnet - darunter acht Körperverletzungsdelikte - die alle aufgeklärt werden konnten. Ausländische Ideologie und PMK-ausländische Ideologie-Gewalt im 10-Jahres-Vergleich Die Zahl der 2022 registrierten Straftaten im Themenfeld Islamismus/Fundamentalismus betrug 57 (2021: 55 Straftaten). Es konnten insgesamt 45 Tatverdächtige ermittelt werden (2021: 38): 40 Männer (88,9 Prozent) sowie fünf Frauen (11,1 Prozent); davon waren 22 Tatverdächtige (48,9 Prozent) bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten (2021: 24). Transnationale jihadistische Terrororganisationen, insbesondere al-Qaida und der sogenannte Islamische Staat (IS) befinden sich weltweit weiterhin im Prozess der Neuorganisation und des (regionalen) Wiedererstarkens. In Staaten des Nahen Osten wie in Syrien dominiert der IS kein eigenes Territorium mehr, gleichwohl muss er aber weiterhin als ein wesentlicher und schlagkräftiger Akteur in der Konfliktregion angesehen werden. Im Irak gelingt es dem IS aufgrund seines Zellennetzwerkes in den sunnitisch dominierten Landesteilen asymmetrische Angriffe und Anschläge durchzuführen. Im Lichte der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan entwickelte sich die sogenannte IS-Provinz Khorasan zu einem wichtigen Ableger des IS. 40 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Der IS wie auch al-Qaida haben einen Großteil ihrer Operationen aus ihren Kernländern nach Westund Ostafrika verlagert. Der afrikanische Kontinent und insbesondere die Subsahara-Region könnten in der nächsten Phase des islamistischjihadistischen Terrorismus zu einer zentralen Front werden. Somit ist ein Ende des islamistischen Aufschwungs in Subsahara-Afrika nicht in Sicht. Misswirtschaft, Korruption, Auswirkungen des Klimawandels und drohende Hungersnöte bieten den islamistisch-jihadistischen Terroristen ideale Bedingungen zur Ideologisierung, Radikalisierung aber auch Rekrutierung aufgrund materieller Beweggründe. Weltweit ist die Strahlkraft der jihadistischen Ideologie sowie der Propaganda des IS weiterhin groß und besitzt eine enorme Anziehungskraft. Auch al-Qaida baut ihren Propagandaapparat stetig aus. Zielgruppe der Propaganda beider Organisationen sind (selbst-) radikalisierte Einzeltäter oder autonom agierende Kleinstgruppen, die zu Anschlägen im Westen animiert werden sollen. Die anhaltend abstrakt hohe Gefahr jihadistisch motivierter Gewalttaten bestand im Jahr 2022 in der Bundesrepublik Deutschland fort. Insbesondere Angriffe durch Einzeltäter und (Kleinst-)Gruppen sowie die Verwendung von Hiebund Stichwaffen haben sich als eine Strategie etabliert, die für Terrororganisationen wie den IS erfolgsversprechend scheint. Unabhängig von einer verstärkten Fokussierung auf einfach zu beschaffende Tatmittel wie Stichwaffen oder Kraftfahrzeuge stellen Unkonventionelle Sprengund Brandvorrichtungen (USBV) oder Schusswaffen nach wie vor ein bedeutendes Mittel für jihadistische Attentäter dar. Ein Beispiel hierfür ist der islamistisch motivierte Anschlag eines Einzeltäters mittels Schusswaffe in Oslo vom 25. Juni 2022. PMK-religiöse Ideologie und PMK-religiöse Ideologie-Gewalt im 6-Jahres-Vergleich Von radikalisierten Personen, die in Konfliktgebieten in terroristischen Ausbildungslagern oder durch die Teilnahme an Kampfhandlungen geschult wurden und nach extremIsmus In zahlen 41 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Europa bzw. in das Bundesgebiet zurückkehren, kann eine besondere Gefährdung ausgehen. Auch Hintermänner des IS transferieren im Internet Expertise im Bereich der Anschlagsplanung sowie Propaganda zu jungen Männern, die eine Nähe zur Ideologie erkennen lassen. Westliche Staaten und somit auch die Bundesrepublik Deutschland stehen weiterhin im Fokus transnationaler Terrororganisationen. Politisch motivierte Kriminalität -nicht zuzuordnenIm Bereich der PMK -nicht zuzuordnenstieg die Zahl der Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 113,7 Prozent von 1.787 auf 3.819 Straftaten an. Bereits im letzten Jahresverlauf konnte eine Steigerung der Fallzahlen im Bereich der PMK -nicht zuzuordnenfestgestellt werden (von 1.552 Straftaten 2020 auf 1.787 Straftaten 2021). Ein Anstieg wie im Jahr 2022 ist für diesen Phänomenbereich bislang beispiellos. Mit 2.130 Straftaten wurden 55,8 Prozent aller Delikte als Verstöße im Phänomenbereich gegen das Versammlungsgesetz NRW erfasst. Hintergrund hierbei sind die sich ständig weiter verzweigenden Gruppierungen, welche sich als Reaktion auf die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung gebildet haben. Mitglieder dieser neueren Untergruppierungen radikalisieren sich zunehmend durch die gegenseitige Verstärkung ihrer teils verschwörungstheoretischen bis hin zu den Rechtsstaat ablehnenden Ansichten. Die Folge sind vermehrte Auftritte in der Öffentlichkeit, unter anderem auch mit Versammlungscharakter, welche mit Straftaten wie beispielsweise Verstößen gegen das Versammlungsgesetz NRW, aber auch Sachbeschädigungen (499 im Jahr 2022) einhergehen. Von den 3.819 im Jahr 2022 erfassten Straftaten konnten 870 aufgeklärt werden, was einer Aufklärungsquote von 22,8 Prozent entspricht. Im Vergleich zum Vorjahr 2021 sank die Aufklärungsquote im Bereich der PMK -nicht zuzuordnenvon 32,5 Prozent um 9,7 Prozent auf den im Dreijahresvergleich (2020: 28,0 Prozent; 2021: 32,5 Prozent; 2022: 22,8 Prozent) niedrigsten Stand. Vorherrschende Themenfelder waren neben Konfrontation/politische Einstellung (Anstieg von 1.463 auf 3.280 Erfassungen), COVID-19-Pandemie (erstmaliges Themenfeld - 2475-mal erfasst) und Innenund Sicherheitspolitik (Rückgang von 701 auf 581 Erfassungen) auch das Themenfeld Sozialpolitik mit einem Anstieg von 665 auf 2462 Erfassungen. Eine grundsätzliche Gleichsetzung der erfassten Themenfelder mit den registrierten Straftaten ist nicht möglich, da zu einem Zähldelikt auch mehrere Themenfelder vergeben werden können. Beispielsweise sind nahezu alle Delikte im Themenfeld COVID-19-Pandemie auch Delikte im Themenfeld Sozialpolitik. 42 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Entwicklung der Gewaltstraftaten im Bereich der PMK -nicht zuzuordnen - weist seit nunmehr zwei Jahren eine steigende Tendenz auf. So wurden im Jahr 2020 insgesamt 31 Gewaltstraftaten im Bereich PMK -nicht zuzuordnenverzeichnet. Im Jahr 2021 waren es bereits 69 Gewaltstraftaten und somit ergab sich eine Steigerung von 122,6 Prozent innerhalb eines Jahres. Im Jahr 2022 wurden 107 Gewaltstraftaten verzeichnet. Dies entspricht einer weiteren Steigerung von 55,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Aufklärungsquote im Bereich der Gewaltstraftaten der PMK -nicht zuzuordnensank im Vergleich zum Vorjahr leicht. Wurden von 69 Gewaltstraftaten im Jahr 2021 noch 60,9 Prozent (42 Taten) aufgeklärt, so waren es im Jahr 2022 von 107 Taten noch 57,0 Prozent (61 Taten). Im Jahr 2022 wurden insgesamt 812 Tatverdächtige ermittelt (2020: 465; 2021: 653). Davon waren 675 Männer (83,1 Prozent) und 137 Frauen (16,9 Prozent). 320 Tatverdächtige (39,4 Prozent) waren bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten (2020: 186 bzw. 40,0 Prozent; 2021: 236 bzw. 36,1 Prozent). Der Anstieg der Straftaten allgemein von 1.787 auf 3.819 Straftaten und insbesondere der Gewaltstraftaten von 69 auf 107 Straftaten lässt sich hauptsächlich auf die anhaltenden Corona-Proteste zurückführen. PMK-nicht zuzuordnen und PMK-nicht zuzuordnen-Gewalt im 5-Jahres-Vergleich extremIsmus In zahlen 43 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Strafund Gewalttaten der PMK-Phänomenbereiche nach Deliktsgruppen 44 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 extremIsmus In zahlen 45 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 46 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Sonderthema: Krisen und ihre Auswirkungen auf Extremismus sonderthema: krIsen und Ihre auswIrkungen auf extremIsmus 47 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Sonderthema: Krisen und ihre Auswirkungen auf Extremismus Krisen sind immer eine Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine Belastungsprobe für den Erhalt unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Nicht zuletzt, weil Extremisten versuchen, die gesellschaftliche Herausforderung für ihre Zwecke zu missbrauchen. Die Zuspitzung gesellschaftlicher Konflikte erfolgt dabei mit dem Ziel, eigene Themen und Thesen für die Mehrheitsbevölkerung anschlussfähig zu machen. Staatliche Akteure versuchen auf diese Weise, die Destabilisierung der Gesellschaft zu forcieren. Bereits im Zuge der Corona-Pandemie ließen sich entsprechende Versuche der Entgrenzung und illegitimer staatlicher Einflussnahme beobachten. Im Spätsommer 2022 richtete sich der Blick verstärkt auf mögliche vergleichbare Entwicklungen vor dem Hintergrund einer sich zuspitzenden Energiekrise, steigender Inflation und des Ukraine-Krieges. Auch wenn die Prognosen zum sogenannten "Wutwinter" in der drastischen Form, wie sie insbesondere in extremistischen Szenen vorausgesagt wurden, nicht eintraten, so 48 sonderthema: krIsen und Ihre auswIrkungen auf extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 wurden dennoch Versuche festgestellt, dass Extremisten die Krisensituation nutzen wollten, um ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu erreichen. Gleichzeitig versuchen Staaten wie beispielsweise die Russische Föderation, innere Konfliktund Krisensituationen zur Destabilisierung unserer Demokratie zu nutzen. Es zeigt sich, dass mit dem Verschwimmen von äußerer und innerer Sicherheit der Schutz unserer freiheitlichen Demokratie immer mehr als Querschnittsaufgabe verstanden werden muss. Mit der Erstellung ganzheitlicher Analysen und seinem vielfältigen Aufklärungsund Sensibilisierungsangebot leistet der NRW-Verfassungsschutz dazu einen wichtigen Beitrag als Frühwarnsystem. Rechtsextremismus Wie in fast allen Bundesländern, so auch in Nordrhein-Westfalen, vereinnahmte insbesondere die rechtsextremistische Szene die öffentliche Diskussion um den "Wutwinter" und den "Heißen Herbst". Sie setzte darauf, Energiepreise und Lebenshaltungskosten als "Türöffner"-Themen zu nutzen, um Stimmung gegen die demokratische Ordnung zu machen und für Versammlungen zu mobilisieren. Dabei war jedoch auffällig, dass rechtsextremistische Gruppierungen Versammlungen nicht selber anmeldeten. Stattdessen versuchten sie das Protestgeschehen zu nutzen, um Anschluss zu einem regierungskritischen Bürgerspektrum herzustellen. Der Verein Aufbruch Leverkusen e.V. verstand es als erste rechtsextremistische Gruppierung, die verschiedenen Protesthemen miteinander zu verbinden. In der Folgezeit griffen auch andere rechtsextremistischen Gruppierungen wie die Partei Die Rechte, die NPD, Der III. Weg sowie die Identitäre Bewegung und ihre Nachfolgebestrebungen die Gemengelage auf und riefen dazu auf, sich an entsprechenden Protestveranstaltungen zu beteiligen. Aufbruch Leverkusen e.V. besitzt jedoch ein Alleinstellungsmerkmal im Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen, weil es sich eindeutig als Sprachrohr der russischen Regierung bezüglich des Angriffskrieges positioniert und deren Narrative verbreitet. Die Reichsbürger und Selbstverwalter mit politischem Sendungsbewusstsein agitieren seit dem Jahr 2020 gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. Mit Beginn des russischen Angriffskrieges ist die verbreitete Übernahme russischer Regierungspropaganda auffällig. Außerdem wird aus dieser Szene heraus versucht, die oftmals bekundete Feindschaft gegenüber den USA auch mit antisemitischen Verschwörungsmythen zu begründen. sonderthema: krIsen und Ihre auswIrkungen auf extremIsmus 49 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zugehörige Akteure thematisierten nicht mehr bloß die staatlichen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie, sondern ebenso aktuelle protestgeeignete Themen wie die T-Shirt eines Teilnehmers einer Corona-Demo am 8. Januar 2022 in Wuppertal Inflation, die Sanktionen gegen Russland oder die Waffenlieferungen an die Ukraine. Auffällig ist, dass die Positionen der russischen Regierung dabei relativ häufig verbreitet werden beziehungsweise Zustimmung finden. Dagegen wird der Bundesregierung oftmals, teils auch mithilfe von antisemitischen Verschwörungsmythen, gezielte Bösartigkeit unterstellt. So findet beispielsweise der entsprechende Verschwörungsmythos vom "Great Reset" zunehmend Verbreitung. Es zeigen sich immer wieder Überschneidungen mit Aktivitäten und Propaganda der rechtsextremistischen Szene. Dabei ist auch eine Radikalisierung einzelner Teile der Bewegung nicht auszuschließen. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist die mutmaßlich terroristische Gruppierung um "Prinz Reuß" und deren geplanter Staatsstreich. Für die in vielen Kommunen regelmäßig stattfindenden Protestveranstaltungen könnten die Organisatoren oftmals nur eine niedrige zweistellige Zahl an Teilnehmern mobilisieren. Vielfach entwickelten sie sich in Richtung eines "Familienevents", bei dem man 50 sonderthema: krIsen und Ihre auswIrkungen auf extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bekannte zu einer gemeinschaftsstiftenden Aktion trifft. Das verbindende inhaltliche Element ist, dagegen zu sein und "denen da oben" Bösartigkeit und/oder Dummheit zu unterstellen, weil die Regierenden gegen das eigene Volk agieren würden. Bemerkenswert war, dass viele Veranstaltungen offen für die Teilnahme von Extremisten waren - seien es Rechtsextremisten oder Reichsbürger. Dass Extremisten Protestveranstaltungen dominierten, sind bisher Einzelfälle. In virtuellen Protestgruppen, die sich in der Regel bei Telegram gegründet haben, ist diese Entgrenzung jedoch weiter fortgeschritten. Linksextremismus In mehreren nordrhein-westfälischen Städten bildeten sich seit 2022 vereinzelt örtliche, ihrem Ursprung nach zivildemokratische Bündnisse, die gegen Preissteigerungen und Inflation protestierten. Linksextremistische Parteien wie die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), anarchistische Gruppen, Teile der autonomen Szene und verschiedene Kleinorganisationen wirkten bei den themenbezogenen Veranstaltungen im öffentlichen Raum mit. Das mitunter hohe Aktionsund Mobilisierungspotenzial linksextremistischer Gruppen befähigte diese in einigen Städten punktuell zu einer maßgeblichen Einflussnahme bei der Organisation und Mobilisierung einzelner Veranstaltungen. Mit dieser Entgrenzungstaktik versuchen Linksextremisten auch weiterhin, den gesellschaftlichen Diskurs in eine staatsfeindliche und fundamentalantikapitalistische Richtung zu lenken. Darüber hinaus soll die Gesellschaft an die jeweiligen ideologischen Botschaften und Perspektiven der verschiedenen linksextremistischen Akteure herangeführt werden. Die Resonanz auf die demonstrativen Veranstaltungen bleibt in Nordrhein-Westfalen bis jetzt verhalten. Im Diskurs zum russischen Angriff auf die Ukraine nahm die linksextremistische Szene eine zwiespältige Haltung ein. Weitgehende Einigkeit herrschte bei der Verurteilung des Angriffskriegs. Einzelne Gruppen behaupteten gleichzeitig, dass NATO, EU und Deutschland den Krieg im Vorfeld bewusst mitverursacht und die Folgen billigend in Kauf genommen hätten. Die Inanspruchnahme dieser Sichtweise bei Kundgebungen des rechtsextremistischen Spektrums löste jedoch umgehend den unter diesem Vorzeichen einigenden Reflex der Szene aus. Neben dem zivildemokratischen Protest versammelten sich die Akteure sämtlicher linksextremistischen Ideologien zu entsprechenden Gegendemonstrationen. sonderthema: krIsen und Ihre auswIrkungen auf extremIsmus 51 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Auslandsbezogener Extremismus Der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Herausforderungen stellten im Berichtszeitraum kein Schwerpunktthema für die verschiedenen Gruppierungen des auslandsbezogenen Extremismus dar. Das Thema wurde nur vereinzelt aufgegriffen. Einzelne Organisationen schlossen sich mit ihrer Agitation den Akteuren im deutschen Linksextremismus an, die den Angriff Russlands auf die Ukraine unter antiimperialistischen und internationalistischen Gesichtspunkten in eine Reihe mit den Angriffen der Türkei auf das von Kurden besiedelte Rojava stellten. Bei den Gruppierungen des türkischen Rechtsextremismus, insbesondere der freien Szene innerhalb der Ülkücü-Bewegung, wurde der russische Angriff auf die Ukraine uneinheitlich bewertet. Einerseits fanden sich Stellungnahmen, welche die NATO ablehnten und sich der Position Russlands annäherten. Andererseits waren Solidaritätsbekundungen gegenüber der Ukraine feststellbar. Letztlich wurde das Thema Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wie andere aktuelle politische Themen aufgegriffen und diskutiert, ohne dass es zu einer einheitlichen politischen Positionierung gekommen ist. Islamismus Der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Herausforderungen besitzen für islamistische Akteure keine herausgehobene Relevanz. Das Thema wird eher vereinzelt aufgegriffen und unter verschiedenen Aspekten diskutiert. Grundsätzlich neigen (sunnitische) Islamisten eher zu einer neutralen Haltung im Konflikt, da sie keine nennenswerte Betroffenheit von Muslimen erkennen können. Häufig findet sich aber Kritik an vermeintlichen westlichen Doppelstandards (USA in Irak und Afghanistan versus Russland in der Ukraine, Umgang mit Flüchtlingen aus muslimischen Ländern versus Flüchtlinge aus der Ukraine), vereinzelt sind antisemitische Verschwörungsmythen feststellbar. Aus einer antiamerikanischen Grundhaltung heraus wird eine Beeinträchtigung von geopolitischen Interessen der USA grundsätzlich begrüßt. Unter schiitischen Islamisten sind einseitige Parteinahmen für Russland häufiger feststellbar. Gründe dafür sind unter anderem die strategische Kooperation zwischen der schiitischen Führungsmacht Iran und Russland und eine prinzipielle Feindschaft gegenüber "dem Westen", der NATO und Israel, die als Gegner der sogenannten "Achse des Widerstands" (Iran und seine Vasallen in Syrien/Irak/Libanon/Jemen) gelten. 52 sonderthema: krIsen und Ihre auswIrkungen auf extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Spionageund Cyberabwehr Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die damit einhergehende Verschärfung der ohnehin hohen Bedrohungslage durch ausländische Spionage und Einflussnahme stellte auch die Spionageabwehr vor Herausforderungen. Dies schlug sich zunächst Anfang April 2022 in Form der Ausweisung von 40 russischen Diplomaten aus Deutschland nieder, denen Bezüge zu russischen Nachrichtendiensten vorgeworfen werden. Aus der Sicht russischer Nachrichtendienste dürfte - neben weiteren - insbesondere diese Ausweisung eine signifikante Anpassung des eigenen modus operandi erforderlich gemacht haben, weil dadurch die Aufklärungsarbeit aus klassischen Legalresidenturen, also nachrichtendienstlichen Stützpunkten, erschwert wurde. Russische Nachrichtendienste haben daraufhin den Grad ihres konspirativen Handelns weiter erhöht. Gleichzeitig dürfte der Aufklärungsdruck für russische Dienste, ebenfalls bedingt durch den Krieg sowie die damit einhergehenden westlichen Sanktionen, gewachsen sein. Vor diesem Hintergrund ist auch eine erhöhte Aggressivität zu befürchten, um die nachrichtendienstliche Ziele zu erreichen, sei es etwa in Form einer stärkeren Fokussierung auf das sogenannte "Illegalenprogramm", von Sabotageakten oder staatsterroristischen Aktivitäten. Ebenso besteht die Gefahr, dass russische Nachrichtendienste ihre Cyberfähigkeiten noch aggressiver gegen westliche Staaten einsetzen. Bereits vor dem Angriffskrieg wurden zahlreiche Cyberangriffe zum Zwecke der Spionage, Sabotage und Desinformation russischen Nachrichtendiensten zugeschrieben. Auch wenn bisher keine gravierenden Cybersicherheitsvorfälle in Nordrhein-Westfalen bekannt wurden, die in direktem Zusammenhang zum Ukraine-Krieg stehen, besteht nach wie vor eine erhöhte Alarmbereitschaft. Dies gilt insbesondere für staatliche Organisationen und Einrichtungen im Bereich der Kritischen Infrastrukturen. Die intensiven russischen Bemühungen, westliche Organisationen und politische sowie behördliche Akteure zu infiltrieren, dokumentieren mehrere zuletzt bekanntgewordene Festnahmen mutmaßlicher russischer "Illegaler" in den Niederlanden und in Norwegen sowie Verurteilungen und Festnahmen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit bzw. des Verdachts auf Landesverrat im Bundesgebiet. Auch häufen sich Verdachtsmeldungen auf mutmaßliche Sabotage-Akte russischer Stellen in Deutschland und Europa. Besonders intensiv wurde medial über die Anschläge gegen die Gaspipeline Nordstream und das Kommunikationsnetz der Deutschen Bahn im September bzw. Oktober 2022 berichtet. Eine konkrete Zuordnung von Sabotage-Akten zu einem staatlichen Akteur gestaltet sich in der Regel allerdings sehr schwierig. Es ist zudem feststellbar, dass seit dem Krieg in der Ukraine die Sensibilität bei Betroffenen steigt sonderthema: krIsen und Ihre auswIrkungen auf extremIsmus 53 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 und in der Folge mehr verdächtige Beobachtungen gemeldet werden als in der Vergangenheit. Neben Veränderungen des klassischen nachrichtendienstlichen Agierens Russlands sind seit Kriegsbeginn auch Modifikationen hinsichtlich russischer Einflussnahmeaktivitäten zu beobachten. So entstanden im Laufe des Berichtsjahres mehrere neue Einflussnahmekanäle neben den bekannten russischen, deutschsprachigen Staatssendern wie RT Deutsch und Sputnik. Zum einen war insbesondere im ersten Halbjahr ein vermehrtes öffentlichkeitswirksames Auftreten von Mitgliedern des kremlnahen Motorradclubs "Nachtwölfe" feststellbar. Diese traten überwiegend im Zusammenhang mit pro-russischen Autound Motorradkorsos in Erscheinung. Zum anderen verbreiteten mehrere reichweitenstarke Einzelpersonen pro-russische Narrative im Internet und den sozialen Medien. Insgesamt hat sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges die Zahl pro-russischer Aktivitäten sowohl in Social Media, insbesondere über Telegram-Chatgruppen, als auch im Rahmen pro-russischer Demonstrationen erhöht. Über diese Kanäle werden pro-russische Narrative verbreitet, welche regelmäßig den offiziellen Narrativen des Kremls und damit der russischen Staatspropaganda entsprechen. Auch wenn es für einen Großteil dieser öffentlichen oder halböffentlichen pro-russischen Aktivitäten keine Belege hinsichtlich einer direkten staatlichen Steuerung, Anleitung oder gar Initiierung gibt, so ist doch davon auszugehen, dass die genannten Aktivitäten seitens staatlicher russischer Stellen zumindest mit Wohlwollen betrachtet werden. Wie sich die Ankündigung von RT DE Productions GmbH, ihre produzierenden Tätigkeiten einzustellen, auf die Verbreitung pro-russischer Narrative auswirken wird, bleibt abzuwarten. Zusammenfassung In den vergangenen zwei Jahren beherrschten die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bewältigung den gesellschaftlichen Diskurs. Die sich in diesem Zuge herausgebildete Protestbewegung verlor mit abnehmender Relevanz an Mobilisierungsfähigkeit. Gleichwohl hat sich ein harter Szenekern erhalten, der versucht hat, den Krieg in der Ukraine und die aus ihm resultierenden politischen und ökonomischen Herausforderungen propagandistisch zu nutzen und für die eigene Ideologie und Ziele umzudeuten. Hierbei waren vergleichbare Muster wie bereits in den Vorjahren erkennbar. Der Versuch, gesellschaftliche Konfliktund Krisenmomente für die eigene politische Zielsetzung zu instrumentalisieren und damit Anschluss an Zielgruppen außerhalb der eigenen Szene zu gewinnen, war diesmal geprägt von einem stärkeren Willen einer Querfrontbildung. Deutlicher als zuvor zeigte sich zudem der Versuch einer Instrumentalisierung durch Russland. Allerdings kann festgestellt werden, dass die Strategien bislang nicht aufgegangen sind. Es ist davon auszugehen, 54 sonderthema: krIsen und Ihre auswIrkungen auf extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 dass auch im Jahr 2023 weitere Versuche unternommen werden, die freiheitlichdemokratische Grundordnung zu destabilisieren. Die Sicherheitsbehörden haben die Entwicklungen weiterhin sorgfältig im Blick und wirken diesen entgegen. sonderthema: krIsen und Ihre auswIrkungen auf extremIsmus 55 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 56 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Antisemitismus antIsemItIsmus 57 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Antisemitismus Von den etwa 100.000 Jüdinnen und Juden, die in Deutschland in jüdischen Gemeinden organisiert sind, leben rund 27.000 in Nordrhein-Westfalen. Damit ist das Bundesland Heimat der größten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Die jüdische Gemeinde in Köln beispielsweise wurde bereits im Jahr 321 in einem Dekret des römischen Kaisers Konstantin erwähnt und gilt damit als älteste nördlich der Alpen. Jüdisches Leben hat also eine lange Tradition in Nordrhein-Westfalen. Nichtsdestotrotz sehen sich Jüdinnen und Juden immer wieder Vorurteilen, Anfeindungen und teils offenen Drohungen ausgesetzt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig aufzuzeigen, wo legitime Meinungsäußerung oder Kritik aufhört und Antisemitismus beginnt. Die International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA), der auch Deutschland angehört, definiert diesen als "eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." In der von der Bundesregierung verabschiedeten Erweiterung wird zusätzlich festgelegt, dass auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein kann. Das American Jewish Committee (AJC) hat das Institut für Demoskopie Allensbach (IFD) mit der repräsentativen Umfrage "Antisemitismus in Deutschland" beauftragt, deren Ergebnisse im Mai 2022 vorgestellt wurden. Die Studienergebnisse zeigen, dass Antisemitismus von einem Großteil der Bevölkerung als Problem wahrgenommen wird. 60 Prozent der Befragten waren überzeugt, dass Antisemitismus ein weit verbreitetes Problem in Deutschland sei. Gleichzeitig belegen die Studienergebnisse aber auch, dass antijüdische Vorurteile und Stereotype von einem beachtlichen Teil der Gesellschaft unterstützt werden. So gaben 23 Prozent der Befragten an, dass Jüdinnen und Juden zu viel Macht in der Wirtschaft und im Finanzwesen hätten. Die Studie untersuchte zudem, wie verbreitet antisemitische Einstellungen unter der Wählerschaft aller im Bundestag vertretenen Parteien sind. Hier zeigte die Untersuchung, dass Antisemitismus auch in der Mitte der Gesellschaft verankert und damit nicht nur ein Problem der politischen Ränder ist. 58 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Zahl der antisemitischen Straftaten ist in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2022 zwar um rund 24 Prozent von 437 auf 331 Straftaten gesunken. Dies gibt aber keinen Anlass für Entwarnung. Dies zeigen etwa die Schüsse auf die Alte Synagoge in Essen im November 2022 oder die Anschlagspläne auf die Synagoge in Hagen im September 2021. Knapp 87 Prozent der antisemitischen Straftaten in Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2022 dem Phänomenbereich Rechtsextremismus zugeordnet. Aber auch im Islamismus ist der Antisemitismus ein fester ideologischer Bestandteil. Ebenso gibt es im Linksund auslandsbezogenen Islamismus immer wieder Anknüpfungspunkte für antisemitische Einstellungen. Nicht zuletzt nutzen Delegitimierer den Antisemitismus als Brückennarrativ bei Entgrenzungsund Querfrontstrategien, beispielsweise im Zuge der Corona-Proteste. Im Folgenden werden die Entwicklungen im Jahr 2022 zum Thema Antisemitismus in allen Phänomenbereichen des Verfassungsschutzes ausführlich dargestellt. Dies soll in den künftigen Verfassungsschutzberichten in Form eines ständigen Kapitels fortgeführt werden. Rechtsextremismus Offener Antisemitismus spielt im Rechtsextremismus, vor allem im Neonazismus, weiterhin eine bedeutende Rolle. Dieses Feindbild verbreiten neben der Neonazi-Szene in Nordrhein-Westfalen vor allem die Parteien NPD, Die Rechte und Der III. Weg. Beispielsweise äußerte sich die Partei Der III. Weg auf ihrer Website am 26. Januar 2021 gegen Jüdinnen und Juden, indem sie eine angebliche jüdische Fremdbestimmung Deutschlands behauptete: "Während man an bestimmten Tagen des Jahres glauben möchte, dass auch die Bundesrepublik Deutschland eine jüdische Regierung und mehrheitlich jüdische Abgeordnete im Bundestag hat, ist es doch fast ein Staatsgeheimnis wie viele Juden sich tatsächlich unter die Abgeordneten gemischt haben." Auch der Staat Israel diente der rechtsextremistischen Partei als Projektionsfläche für eine angebliche jüdische Weltverschwörung, den man deshalb bekämpfen möchte. So hieß es in einem Beitrag vom 9. April 2022: "Unser Kampf gegen das Netzwerk, das sich aus Israel entspringend über die westlichen Staaten gelegt hat und die Regierungen im Würgegriff falscher Interessen hält, geht weiter!" Der Antisemitismus schlägt sich aber nicht nur in Propagandaaktivitäten nieder, sondern zum Teil auch in Straftaten. So schändeten zwei Anhänger der Partei Die Rechte am 30. Dezember 2019 den jüdischen Friedhof in Geilenkirchen. Das Amtsgericht Geilenkirchen verurteilte sie am 23. Juni 2022 deswegen zu Haftstrafen auf antIsemItIsmus 59 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bewährung. Zudem verurteilte das Landgericht Dortmund im Mai 2022 fünf Anhänger der Partei zu Geldstrafen. Sie hatten bei einer Demonstration von Die Rechte im September 2018 in Dortmund die antisemitische Parole "Wer Deutschland liebt, ist Antisemit" skandiert. Im Zusammenhang mit den einschüchternden Begleitumständen wertete das Landgericht dies als Volksverhetzung. Vor allem die Leugnung des Holocausts spielt für die neonazistische Szene eine Rolle. Deshalb wird die in Ostwestfalen lebende, langjährige Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck-Wetzel von der Szene zur Ikone stilisiert. Das Landgericht Berlin verurteilte sie am 1. April 2022 zu einer einjährigen Freiheitsstrafe, weil sie in einem Video des rechtsextremistischen Social Media-Aktivisten "Der Volkslehrer" den Holocaust leugnete. Die Verurteilung führte zu Solidaritätsbekundungen aus der rechtsextremistischen Szene, beispielsweise durch den Kreisverband Rhein-Erft der Partei Die Rechte. Für die Verbreitung des den Nationalsozialismus prägenden rassistischen Antisemitismus sorgt unter anderem der Nischenverlag Der Schelm. Dieser gibt hauptsächlich antisemitische Abschriften aus der Weimarer Republik und insbesondere der NS-Zeit heraus. Der Generalbundesanwalt ermittelt gegen die Verantwortlichen wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Er wirft ihnen die Verbreitung von Volksverhetzung vor. Im Juni 2022 fanden deswegen bei vier Personen Durchsuchungen statt. Der mittlerweile in Moskau ansässige Inhaber des Verlags kündigte an, trotz der staatlichen Maßnahmen den Vertrieb fortführen zu wollen. Einen besonders aggressiven Antisemitismus vertrat die Goyim Partei Deutschland (GPD). Bei der GPD handelt es sich nicht um eine Partei, sondern um eine Gruppe auf der russischen Social Media-Plattform "vk.com". Die jüdische Religion an sich wurde abgelehnt, politischer Antisemitismus in Form von Verschwörungsmythen propagiert, Juden durch rassistische Karikaturen abgewertet und geschichtsrevisionistische Aussagen zur Historie des NS-Regimes getätigt. Auch Aufrufe zum Mord an Juden waren dabei keine Seltenheit, wie zum Beispiel "Rottet die Juden aus". Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte am 27. Mai 2022 die drei Rädelsführer wegen Gründung und Führung einer kriminellen Vereinigung sowie Volksverhetzung zu Freiheitsstrafen zwischen zwei und fünf Jahren. Rechtsextremistische Bands verbreiten mit ihrer Musik vielfach Antisemitismus. Oftmals wird dieser aber hinter Codes versteckt, um eine Indizierung zu erschweren und strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen. Trotzdem können die Zuhörer den eigentlichen Sinn der Aussage gut verstehen. Beispielsweise bezieht sich die aus dem Sauerland stammende Band Weisse Wölfe in ihrer 2022 erschienen CD in dem Lied "One 60 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Word Mafia" eindeutig auf antisemitische Verschwörungsmythen. Sie vermeidet den Begriff Jude, aber verwendet das jiddische Wort "koscher", um den "Feind" zu beschreiben. So heißt es in dem Text: "One World Mafia, die alles verschlingt / Die Freiheit suggeriert und Knechtschaft mit sich bringt. / Wer sind die selbsternannten Eliten, / Die Schlechtes erlauben und Gutes verbieten? / Wen interessiert nur die eigene Macht, / während übers Land fällt die dunkle Nacht? / Tausendjährige Geschichte/ machen sie in kurzer Zeit zunichte, / arrogant halten sie über uns Gericht, / doch koscher sind ihre Taten nicht." Antisemitische Verschwörungsmythen werden selbst dann verbreitet, wenn politische Ereignisse stattfinden, die Rechtsextremisten befürworten. Beispielsweise heißt es in einem Artikel der in Oberhausen erscheinenden rechtsextremistischen Zeitschrift Unabhängige Nachrichten in der November-Ausgabe 2022: "Die Wahlerfolge der patriotischen Kräfte in Italien und in Schweden wurden nicht durch weichgespülte Reden oder Programme erzielt. Jetzt kann man nur hoffen, dass wenigstens in diesen Ländern Taten folgen und nicht Sprechpuppen der Hintergrundmächte ihre Wähler getäuscht haben - die Geschichte hat uns leider schon oft anderes gelehrt." Der Begriff "Hintergrundmächte" wird von rechtsextremistisch geprägten Lesern als "die Juden" verstanden. Auch die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter verbreitete Antisemitismus. Die Verfassunggebende Versammlung (VV) beteiligte sich an einer Kundgebung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen am 29. Juni 2022 in Oberhausen. Dort hielt ein Vertreter der VV eine Rede, in der er Verschwörungsmythen aus der Reichsbürgerszene mit antisemitischen Inhalten vermischte. Er sagte: "Die BRD ist nicht Deutschland. Die BRD ist ein Konsortium aus weiteren 40.000 Firmen, die alle angemeldet sind in Amerika. Die BRD gehört den Machtjuden, dem Deep-State." In der Szene der Delegitimierer war es im Jahr 2021 verbreitet, ungeimpfte Menschen mit Jüdinnen und Juden zur Zeit des Nationalsozialismus zu vergleichen. Beispielsweise trugen Teilnehmer bei Versammlungen einen "Judenstern" mit der Aufschrift "Ungeimpft". Diese offensichtliche Verharmlosung des Holocaust hat im Jahr 2022 nachgelassen. Gleichwohl findet diese immer noch auf Versammlungen statt und wird durch Versammlungsleiter und andere Teilnehmer nicht unterbunden. So trug auf einer Protestversammlung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen am 8. Januar 2022 in Düsseldorf etwa ein Demonstrant ein Schild mit dem Text "Wollt ihr den totalen Impfholocaust?". antIsemItIsmus 61 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Ebenso finden antisemitische Narrative weiterhin in Telegram-Gruppen der Delegitimierer-Szene Verbreitung. Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wurde beispielsweise in der Telegram-Gruppe "BRENNPUNKT Deutschland - Infokanal" ein Beitrag veröffentlicht, der Jüdinnen und Juden zu "Sündenböcken" macht, indem er ihnen die Verantwortung für den Krieg zuschreibt: "Auch das was z.Zt. in der Ukraine geschieht ist letztlich wieder okkult und rituell zu verstehen... denn es waren wieder einmal die Juden (Zelensky, Nudelman, Poroschenkow, Soros - siehe Euromaidan), die weiße westukrainische Nationalisten dahin provoziert haben gegen ostukrainische Landsleute zu kämpfen." Post auf dem Telegram-Kanal "BRENNPUNKT Deutschland - Infokanal" vom 4. September 2022 Linksextremismus Antisemitismus ist kein bestimmendes Merkmal des Linksextremismus. Trotzdem gibt es auch im Linksextremismus in einigen Themenfeldern Argumentationslinien, die Raum für antizionistischen oder israelbezogenen Antisemitismus bieten. Antisemitische Anknüpfungspunkte ergeben sich im Themenfeld Antiimperialismus an der Stelle, an der dem Staat Israel als engem Verbündeten der USA eine imperialistische Rolle zugewiesen wird. Spätestens seit dem Sechstagekrieg von 1967 wird Israel in Teilen des deutschen Linksextremismus auf der Seite der Imperialisten verortet. Begründet wird diese Zuweisung damit, dass Israel als staatlicher Aggressor zum Zwecke der eigenen Herrschaftssicherung und -erhaltung die marginalisierte Gruppe der Palästinenser unterdrücke und bekämpfe. Antiimperialistische Linksextremisten werfen Israel hier Staatsterrorismus vor und verfallen dabei auch in antisemitische Stereotype: Israelische Außenund Sicherheitspolitik wird mit vermeintlich "jüdischen" Eigenschaften konnotiert. Tradierte Lügen mit dem Ziel der Diffamierung, wonach Jüdinnen und Juden zu rituellen Zwecken Kinder töteten, werden in eine Linie 62 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 mit heutigen militärischen Aktionen Israels gesetzt und auf die Formel "Kindermörder Israel" gebracht. Auch das Anlegen von Doppelstandards in diesem Zusammenhang bietet Ansatzpunkte für Antisemitismus. So werden Maßnahmen Israels gegen palästinensische Angriffe als Terror oder Kriegsverbrechen bezeichnet, während palästinensische Aktionen ausgeblendet oder mit Notwehr oder Selbstverteidigung gerechtfertigt werden. In Teilen gehen linksextremistische Argumentationen so weit, den Staat Israel als zionistisches, imperialistisches Produkt im Nahen Osten zu definieren und ihm das Existenzrecht abzusprechen. Hier ist die Grenze zum Antisemitismus offenkundig überschritten. Solidarisierungen mit der palästinensischen Seite führen in Einzelfällen zur Mitarbeit in oder Unterstützung von entsprechenden themenbezogenen Strukturen, wie beispielsweise der als antiisraelisch zu bezeichnenden Kampagne "Boycott, Divestment, Sanctions (BDS)". Entsprechend bestätigte etwa die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) mit Datum vom 14. Dezember 2022 ihre Position in einer Veröffentlichung unter der Überschrift "MLPD unterstützt BDS-Kampagne kritisch". Die BDS-Kampagne ruft zu einem politischen und wirtschaftlichen Boykott Israels auf und unterbindet damit einen möglichen Dialog zwischen der israelischen und palästinensischen Seite. Während die Kampagne von sich selbst behauptet, lediglich "israelkritisch", nicht jedoch antisemitisch ausgerichtet zu sein, hat der Deutsche Bundestag mit einem am 17. Mai 2019 angenommenen Antrag unter dem Titel "BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten - Antisemitismus bekämpfen" festgestellt, dass "[d]ie Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung [...] antisemitisch" sind. Als direkter Gegenpart antiimperialistischer und antizionistischer Strömungen innerhalb des deutschen Linksextremismus sind die sogenannten Antideutschen zu bezeichnen, die sich stark mit dem Staat Israel solidarisieren. Nach wie vor kommt es zwischen Antiimperialisten und Antideutschen zu Auseinandersetzungen über die richtige Positionierung in Themen mit Bezug zu Israel. Allein der Umstand, dass sich mit den Antideutschen eine unbedingt israel-solidarische Strömung innerhalb des deutschen Linksextremismus herausgebildet hat, deutet darauf hin, dass Teile der Szene antisemitische Positionen innerhalb dieses Phänomenbereichs wahrnehmen und sich hiervon distanzieren. Auch im Themenfeld Antikapitalismus finden sich vereinzelt Versatzstücke antisemitischer Argumentationsmuster. Ein Stereotyp, der sich vor Jahrhunderten entantIsemItIsmus 63 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 wickelt und bis in die Neuzeit gehalten hat, ist die der besonderen Affinität von Jüdinnen und Juden zu Finanzgeschäften. In einer Art personalisierender Kapitalismuskritik wird dieses Bild aufgegriffen und eine besondere Verbindung zwischen Juden und dem Kapitalismus konstruiert. Jüdinnen und Juden wird hiermit eine bestimmte, negativ konnotierte Eigenschaft zugeschrieben, was ein deutlich antisemitisches Handlungsmuster darstellt. Für kontroverse Diskussionen auch innerhalb des linken Spektrums sorgte in diesem Kontext etwa das Mitführen einer Krakenfigur im Rahmen einer von der linken Szene dominierten, kapitalismuskritischen Versammlung zum Thema "Grenzenlose Solidarität statt G20!" am 8. Juli 2017 in Hamburg. Die Krake ist in der dargestellten Form ein antisemitisches Symbol einer "jüdischen Weltverschwörung", das bereits 1938 in der antisemitischen Publikation "Der Stürmer" Verwendung fand. In Hamburg trug sie zudem ein Dollar-Zeichen auf dem Kopf und verband damit die antisemitischen Stereotype einer "jüdischen Weltverschwörung" mit einer nicht minder antisemitischen Projektion kapitalistischer Hab-/Geldgier auf Jüdinnen und Juden. Auslandsbezogener Extremismus Antisemitismus ist im auslandsbezogenen Extremismus vorrangig im türkischen Rechtsextremismus in der Ülkücü-Bewegung (sogenannte Graue Wölfe) ausgeprägt. Die Anhänger der Ülkücü-Bewegung setzen das in ihrer Ideologie verwurzelte turanistische Weltbild um, indem sie die politische und geschichtliche Bedeutung des Osmanischen Reiches zur Grundlage der Überlegenheit der türkischen Nation stilisieren. Ziel ist die Vereinigung aller Turkvölker in einem Staat in den Grenzen des ehemaligen Osmanischen Reiches. Die mit dieser Zielvorstellung einhergehende Überhöhung der türkischen Ethnie führt gleichzeitig zu einer Herabwürdigung anderer Volksgruppen und politischer Gegner. Zu diesen erklärten Gegnern gehören auch Jüdinnen und Juden. Die Ülkücü-Ideologie ist daher geprägt von einem Freund-Feind-Denken. Die identitätsstiftenden Feindbilder stützen sich auf rassistische, vornehmlich kurdenfeindliche und antisemitische Begründungszusammenhänge. Den Jüdinnen und Juden fällt als "heimlicher Feind aller Völker" eine negative Sonderstellung in der Ülkücü-Ideologie zu. So beschreibt zum Beispiel der ideologische Vordenker der Ülkücü-Bewegung Hüseyin Nihal Atsiz "die Kommunisten, die Juden und die Speichellecker" als die drei Feinde des türkischen Volkes. Atsiz ist nach wie vor eine in der Ülkücü-Bewegung hoch verehrte Person Der Antisemitismus der Ülkücü-Anhänger wird mit historisch geprägten religiösen Interpretationen, Verschwörungsmythen und biologisch hergeleiteten Minderwertigkeitszuschreibungen begründet. Mit Gründung des Staates Israel trat ein Antizionismus hinzu, der sich als einseitige Parteinahme für die Palästinenser manifestiert. 64 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Anhänger der Ülkücü-Bewegung tragen den Antisemitismus jedoch in unterschiedlich starker Weise nach außen. Während in der vereinsgebundenen Szene, also in den Dachverbänden Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu (ADÜTDF), Avrupa Türk Islam Kültür Dernekleri Birligi (ATIB) und Avrupa Nizam- i Alem Federasyonu (ANF), hinsichtlich offen antisemitischer Propaganda deutliche Zurückhaltung geübt wird, werden in der nicht vereinsgebundenen, sogenannten freien Ülkücü-Szene, rassistische oder antisemitische Feindbilder offen thematisiert. In den sozialen Netzwerken werden dabei von Anhängern der Ülkücü-Ideologie vielfach antisemitische Postings erstellt, geteilt und zustimmend kommentiert. Vielfach ist in diesen Internetaktivitäten auch eine zumindest latente Gewaltbereitschaft erkennbar. Beispielsweise werden israelkritische Äußerungen verbreitet, die Kampfhandlungen im Israel-Palästina-Konflikt aufgreifen und einseitig die Haltung Israels kritisieren. Im türkischen Linksextremismus spielt Antisemitismus keine Rolle. Bei linken türkischen Gruppierungen wie der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) widerspricht der Antisemitismus der angestrebten idealisierten, säkularen und egalitären Vorstellung einer Staatsund Gesellschaftsordnung. Lediglich bei der DHKP-C sind gelegentlich verbale Attacken auf den Staat Israel festzustellen. Da die DHKP-C sich mit den Palästinensern im Kampf gegen den von ihnen so benannten "Imperialismus" solidarisch fühlt, kritisiert sie insbesondere die israelische Palästinapolitik. Islamismus Antisemitismus ist bei sämtlichen islamistischen Bestrebungen fester Bestandteil ihrer Ideologie und stellt ein verbindendes Element dar. Sowohl extremistisch-salafistische Bestrebungen, die dem sogenannten Islamischen Staat oder al-Qaida nahestehen, als auch schiitische, wie die Hizb Allah und die Islamische Republik Iran, die sich in Syrien und im Irak militärisch bekämpfen und gegenseitig als Ketzer ansehen, stimmen ungeachtet ihrer erheblichen weltanschaulichen Differenzen bei antisemitischen Klischees völlig überein. Auch zwischen gewaltfreien, legalistischen und militanten, jihadistischen Strömungen bestehen in der antisemitischen Grundhaltung keine wesentlichen Unterschiede, auch wenn daraus natürlich unterschiedliche Konsequenzen abgeleitet werden. Judenfeindliche Einstellungen waren historisch gesehen in der islamischen Welt deutlich schwächer ausgeprägt als in Europa, wo der Antijudaismus immer wieder zu VerantIsemItIsmus 65 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 folgungen und Pogromen geführt hatte, vor denen Jüdinnen und Juden unter anderem im Osmanischen Reich Zuflucht suchten. Der Beginn des Nahostkonflikts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte jedoch in vielen arabisch Ländern zu einer immer kritischeren Sicht auf das Judentum, die nach der Gründung Israels zum Teil in offene Feindschaft umschlug. Anfangs stand dabei eher eine panarabische Argumentation im Vordergrund, wobei auch Vorstellungen und Narrative des europäischen Antisemitismus übernommen wurden. Mit dem Erstarken des Islamismus erfolgte aber eine zunehmende religiöse Prägung der antiisraelischen Rhetorik, die versucht, diesen auch aus den islamischen Quellen und der Geschichte des Islam zu begründen. Im Unterschied zum modernen europäischen Antisemitismus, der stark durch rassistisches Denken geprägt ist, lassen sich unter Islamisten aber kaum biologistische Argumentationsmuster finden. Jerusalem gilt nach Mekka und Medina als drittheiligste Stätte des Islam, deren politische Grafik zum antisemitischen Slogan "Chaibar Chaibar, oh ihr Kontrolle durch Nichtmuslime Juden! Die Armee Muhammads wird zurückkehren!", der auf Ereignisse aus der frühislamischen Geschichte anspielt insbesondere von Personen mit einem politisierten Islamverständnis häufig als Schmach empfunden wird. Ein Einsatz zur "Befreiung" Palästinas und damit Jerusalems wird von manchen Muslimen als religiös verdienstvoll oder gar als Pflicht verstanden. Von daher eignet sich dieses Thema dazu, dass islamistische Gruppierungen mit antizionistischen beziehungsweise antisemitischen Positionen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft auch jenseits ihrer extremistischen Kernklientel auf Widerhall stoßen. Damit können sie unter Umständen ihre Reichweite und ihren gesellschaftlichen Einfluss ausbauen. Als prominentes Beispiel für islamistischen Antisemitismus ist etwa die Schrift "Unser Kampf mit den Juden" des ägyptischen Muslimbruders Saiyid Qutb zu nennen, der darin postuliert, dass Juden seit der Zeit des Propheten Muhammad gegen den Islam intrigieren würden und auch für die Abschaffung des Kalifats im Jahr 1924 verantwortlich seien. Necmettin Erbakan, der Begründer der Milli Görüs-Bewegung behauptet hingegen in seinem programmatischen Werk "Gerechte Ordnung" (türkisch: Adil 66 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Düzen), dass "Zionisten" durch internationale Organisationen und Wirtschaftsunternehmen den Imperialismus steuern und andere Länder kontrollieren würden. Für viele Islamisten ist die Feindschaft gegenüber Israel ein hoch emotionales Thema, sodass sie nicht nur den Staat Israel, sondern häufig auch den jüdischen Glauben ablehnen und unter Umständen feindselig gegenüber Anhängern des Judentums auftreten. In ideologischer Hinsicht wird hingegen mittlerweile versucht, deutlicher zu differenzieren und vielfach darauf verwiesen, kein Problem mit der jüdischen Religion zu haben, sondern "nur" mit dem Staat Israel und dem Zionismus. Eine entsprechende Formulierung findet sich sogar in der Charta der HAMAS, die sich jedoch weiterhin dazu bekennt, dass sie an der "Befreiung" Palästinas "vom Fluss [Jordan] bis zum [Mittel-] Meer" festhält und zu diesem Zweck auch den Einsatz von Gewalt rechtfertigt. Wie viele andere Islamisten spricht die HAMAS dadurch dem Staat Israel jegliches Existenzrecht ab und agiert damit gegen den Gedanken der Völkerverständigung. In einigen muslimisch geprägten Ländern gehören antisemitische Positionen quasi zur Staatsräson. Diese sind manchmal religiös (zum Beispiel Iran), in anderen Fällen eher nationalistisch (zum Beispiel Syrien) begründet, wobei sich vielfach eine Mischung aus beiden Motivlagen findet. Israelfeindliche Äußerungen werden dabei in einigen Fällen von autokratischen Regierungen zur Legitimation ihrer Herrschaft instrumentalisiert, indem sie sich als Bewahrer muslimischer und/oder arabischer Interessen präsentieren. Teilweise lässt sich bei Personen, die in diesen Ländern sozialisiert wurden, empirisch eine deutlich erhöhte Zustimmungsrate zu antisemitischen Aussagen feststellen. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Islamische Republik Iran, die nicht nur die eigenen Bürger indoktriniert, sondern zusätzlich darum bemüht ist, weltweit antisemitische Strömungen zu stärken und entsprechende Propaganda zu verbreiten. So sprach der iranische Revolutionsführer Khamenei am 26. November 2022 - vor dem Hintergrund der anhaltenden Proteste im Land - vor Mitgliedern der Basidsch-Miliz über die Feinde der Islamischen Revolution. Diese Rede wurde international beachtet und auch ins Deutsche übersetzt. Diese enthält unter anderem folgende Passage: "Daher erlangten die westlichen Kolonisatoren, die so zu Reichtum gelangt waren, auch neue Fähigkeiten, indem sie die kolonisierten Länder in dieser Region ausplünderten. [...] Sie interessierten sich besonders für die west-asiatische Region, und deshalb schufen sie das unterdrückerische zionistische Regime in dieser Region. Sie errichteten dieses unterdrückerische Regime als Basis für den Westen in der Region - zuerst für Europa, dann auch für die USA -, um die Region zu beherrschen, um alles zu tun, was ihr Herz begehrt, um Länder zu zerstören, Kriege zu führen, andere Länder zu unterdrücken, antIsemItIsmus 67 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 sich auszubreiten und zu plündern. Genau aus diesem Grund haben sie das zionistische Regime geschaffen." Besonders deutlich wird die Auswirkung der antisemitischen Propaganda im Rahmen des alljährlich stattfindenden al-Quds-Tages, der auf einen Aufruf des früheren Revolutionsführer Khomeini zurückgeht. Auch in Deutschland wurden regelmäßig Menschen mobilisiert, sich an einer stark antisemitisch geprägten Veranstaltung zu beteiligen. Die in jüngster Zeit erfolgte Aufnahme von Kontakten oder diplomatischen Beziehungen verschiedener arabischer Staaten (Vereinigte Arabische Emirate, Bahrain, Marokko, Sudan) zu Israel (sogenannte "Abraham-Abkommen") werden von Islamisten aufs Schärfste verurteilt und als Verrat betrachtet. Aus ihrer Sicht sind diese Verträge als amerikanische Einflussnahme auf korrupte arabische Herrscher zu betrachten, die als willfährige Vasallen des Westens gelten und ihren persönlichen Vorteil den Interessen der islamischen Gemeinschaft unterordnen. Mit dem Thema Antisemitismus sind Islamisten unter Umständen auch anschlussfähig zu anderen Ideologien und Weltanschauungen. Teilweise sind unter ihnen Sympathien für die nationalsozialistische Judenverfolgung und den Holocaust feststellbar. Ein prominentes Beispiel ist der im Jahr 2022 verstorbene prominente Gelehrte Yusuf al-Qaradawi, der in einer Fernsehsendung den Holocaust als göttliche Strafe für die Juden bezeichnete. In Einzelfällen sind sogar Zweckallianzen zwischen Islamisten und Rechtsextremisten feststellbar. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums ergeben sich Ansätze zur Kooperation mit antiimperialistischen Kräften, die Israel als koloniales Projekt und als Apartheidsstaat begreifen. Mit dem auch unter Islamisten verbreiteten Glauben an Verschwörungsmythen gibt es partielle Überschneidungen zum Gedankengut in antikapitalistischen Strömungen. Auch die Israel-Boykott-Bewegung findet mit ihrer israelfeindlichen Grundhaltung Sympathie bei Islamisten, die jegliche Schädigung des israelischen Staates befürworten. Strukturelle Verbindungen sind dabei aber bisher nicht feststellbar. Aufklärung und Sensibilisierung Antisemitismus existiert in allen extremistischen Phänomenbereichen. Darum kommt der Aufklärung und Sensibilisierung über Erscheinungsformen des Antisemitismus in der Präventionsarbeit des NRW-Verfassungsschutzes eine wichtige Rolle zu. Aufgrund seiner ideologischen Bedeutung im Rechtsextremismus wird der Antisemitismus bei allen Informationsveranstaltungen im ganzen Land und für die relevan68 antIsemItIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 ten Zielgruppen und Multiplikatoren thematisiert. Zur Zielgruppe gehören beispielsweise Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Polizei und Justiz. In Veranstaltungen mit dem Schwerpunkt auf Verschwörungsmythen werden antisemitisch aufgeladene Narrative wie der QAnon-Mythos oder die Erzählung vom "Great Reset" intensiv aufgearbeitet. In Veranstaltungen für Lehrerinnen und Lehrer werden unter anderem Online-Videos und Musikbeispiele analysiert, die sich an junge Zielgruppen richten und zum Hass auf Juden anstacheln. Die Rolle des Antisemitismus als Brückennarrativ bei Entgrenzungsund Querfrontstrategien wird auch in Vorträgen über Verschwörungsmythen thematisiert. Die Prävention des Antisemitismus im Kontext islamistischer Ideologien leistet das Landespräventionsprogramm "Wegweiser - Gemeinsam gegen Islamismus". Das Programm richtet sich vorwiegend an Jugendliche und junge Erwachsene, die bereits mit der islamistischen Szene sympathisieren oder in diese abzurutschen drohen, sowie an deren Umfeld. Dazu gehören etwa Eltern, Lehrkräfte oder Freunde, denen im Einzelfall auch Hilfe angeboten wird. Zusätzlich betreiben die Wegweiser-Beraterinnen und - Berater allgemeine Aufklärungsarbeit zum Thema Islamismus. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz vernetzt sich außerdem in der Antisemitismusprävention in Nordrhein-Westfalen. Zu den Netzwerkpartnern gehören zum Beispiel die Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, die Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit - Beratung bei Rassismus und Antisemitismus (SABRA), mit der Wegweiser im Rahmen von Fortbildungen kooperiert, oder politische Stiftungen. Außerdem führt die Landesregierung Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Universität Passau eine Dunkelfeldstudie durch. Innenminister Herbert Reul hat dazu mit der Antisemitismusbeauftragten des Landes, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, am 11. Oktober 2022 die Kooperationsvereinbarung unterzeichnet. In Kooperation mit dem Zentrum für Interkulturelle Kompetenz (ZIK) der nordrheinwestfälischen Justiz und dem Institut der Feuerwehr Nordrhein-Westfalen (IdF) werden darüber hinaus neue zielgruppenspezifische Formate zur Aufklärung über Rechtsextremismus und Islamismus entwickelt und unterstützt, die das Thema Antisemitismus umfassen. antIsemItIsmus 69 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 70 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Rechtsextremismus rechtsextremIsmus 71 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Zusammenfassung Die aktuelle Krisensituation hatte im Berichtsjahr Auswirkungen auf die Aktivitäten im Rechtsextremismus. Genutzt wurden unter anderem die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine sowie eine stark steigende Inflation. Dabei versuchen Rechtsextremisten Einfluss auf das Protestgeschehen zu nehmen. Auch wenn sie es nicht dominieren, nimmt eine Abgrenzung zum Rechtsextremismus in Teilen der Protestszene ab. Russischer Angriffskrieg Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine löste eine Diskussion innerhalb der rechtsextremistischen Szene aus, wie man diese Aggression bewerten solle und wem die Solidarität gelte. Die Antworten der Szene in Nordrhein-Westfalen fielen uneinheitlich aus, so dass die Reaktionen zwischen Solidaritätsaktionen für die Ukraine und Propagandaaktivitäten im Sinne der russischen Regierung variierten. Quantitative Entwicklung In der längerfristigen Betrachtung ist ein Anstieg des rechtsextremistischen Personenpotenzials zu konstatieren. Seit 2015 stieg es von 3.470 auf 3.940, die Zahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten ist aber mit 2.000 gleichbleibend hoch geblieben. Entgrenzung Ein Teil des Rechtsextremismus, insbesondere die Neue Rechte, versucht fremdenfeindliche und autoritäre Argumente im politischen Diskurs zu "normalisieren" und somit anschlussfähig für breitere Teile der Gesellschaft werden. Diese Strategie ist insofern erfolgreich, als mit der Alternative für Deutschland (AfD) erstmals eine Partei im Bundestag und fast allen Landtagen vertreten ist, die mit dem völkisch-nationalistischen Personenzusammenschluss innerhalb der AfD, ehemals Flügel eine innerparteiliche rechtsextremistische Gruppierung mit nennenswertem Einfluss besitzt. Radikalisierung Ein anderer Teil der rechtsextremistischen Szene möchte die freiheitliche demokratische Grundordnung offensiv bekämpfen, auch unter Anwendung von Gewalt. In einem von Widerstandsund Bürgerkriegsrhetorik geprägten Umfeld haben sich in den 72 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 vergangenen Jahren mehrfach rechtsterroristische Strukturen oder allein handelnde Täter entwickelt. 2022 verhinderte die Polizei, dass ein 16-jähriger Jugendlicher einen rechtsextremistisch motivierten Amoklauf in Essen an einer Schule beging. Des Weiteren hob die Polizei zwei terroristische Gruppen aus, an denen Reichsbürger und Delegitimierer beteiligt waren. Eine Rolle bei der Radikalisierung spielten mutmaßlich rechtsextremistische Narrative, wie die Verschwörungserzählung QAnon. Das Zusammenwirken von Rechtextremisten, Reichsbürgern und Delegitimierern in terroristischen Gruppierungen zeigt, dass sich Teile der verschiedenen extremistischen Szenen gleichsam im Widerstand sehen und deshalb schwere Gewalttaten als notwendig und gerechtfertigt erachten. Virtualisierung Der Rechtsextremismus nutzt die virtuellen Möglichkeiten des Internets zur Verbreitung von Propaganda, zur Mobilisierung sowie zur Vernetzung und Organisation. Ein besonderes Problem dabei stellen die sogenannten "Echokammern" dar, in denen sich die Teilnehmer einseitig austauschen und damit gegenseitig in ihrem Hass bestätigen. Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürger und Selbstverwalter leugnen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und versuchen die Handlungsfähigkeit des Staates zu beeinträchtigen. An den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen haben Reichsbürger vielfältig mitgewirkt und intensiv Verschwörungsmythen verbreitet, die zu einer Verunsicherung der Bevölkerung beitragen sollen. Zudem verbreiten Reichsbürger und Selbstverwalter oftmals Narrative der russischen Regierung zum Angriffskrieg auf die Ukraine. Von einzelnen Reichsbürgern geht ein erhebliches Gefahrenpotenzial aus. Dies umfasst auch die Bildung terroristischer Vereinigungen. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y rechtsextremIsmus 73 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Im Fokus: Rechtsextremistische Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg Am 24. Februar 2022 begann Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Invasion beschränkt sich nicht nur auf die sogenannten "Separatistengebiete" im Osten der Ukraine, sondern zielt auf die gesamte Ukraine. Nach Angaben des russischen Präsidenten Putin intendiert die völkerrechtswidrige Invasion eine angebliche "Entmilitarisierung" und "Entnazifizierung" der Ukraine. Seit längerem sind beide Narrative Gegenstand der russischen Propaganda. Sie beschreiben nicht die Wirklichkeit, sondern sollen der russischen Regierung eine Legitimation für ihren Angriffskrieg geben. Tatsächlich dürften ein imperialistisches Selbstverständnis und innenpolitische Probleme den Invasionsplänen Vorschub gegeben haben. Die breite öffentliche Debatte über den russischen Angriffskrieg und die Reaktion der Bundesregierung in Form von Wirtschaftssanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine schlug sich auch innerhalb der rechtsextremistischen Szene Nordrhein-Westfalens nieder. Allerdings gibt es in der Szene Meinungen und Reaktionen zum Angriffskrieg, die sich zum Teil offen widersprechen. Rechtsextremistische Positionen Eine Position ist, den russischen Angriffskrieg als Krieg zwischen den Supermächten umzudeuten. Dabei wird zumindest in Teilen das vom russischen Präsidenten Putin aufgegriffene Narrativ verbreitet, wonach das Agieren der NATO - insbesondere die NATO-Osterweiterung - zu einer Eskalation beigetragen habe. In diesem Sinne äußert sich der Kreisverband Dortmund der Partei Die Rechte in einer Stellungnahme auf seinem Telegramkanal am 8. März: "Die europäischen Völker sind seit vielen Jahren Opfer des ausländischen Imperialismus. Die zwei Supermächte USA - und ihr Spielball namens NATO - sowie der russische Kreml sorgen für eine Lage in Europa, die bedrohlicher nicht sein kann. Aus diesem Grund ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt und findet heute auf dem Rücken des tapfer kämpfenden, ukrainischen Volkes statt. Ein Krieg, der jahrelang von beiden Seiten provoziert wurde ohne Aussicht auf Frieden." Die Partei Die Rechte hatte in den vergangenen Jahren Kontakt sowohl zu ukrainischen als auch zu russischen Rechtsextremisten. Beispielsweise hatte sie zu ihrem internationalen Kongress am 4. November 2017 die Organisation "Russian Imperial Movement" (RIM) eingeladen. Als sie jedoch am 30. April 2022 den "Fortress Europe Kongress" für ein Netzwerk von rechtsextremistischen Gruppierungen aus mehreren 74 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 europäischen Ländern veranstaltete, lud sie dazu weder ukrainische noch russische Rechtsextremisten ein. Auch in den Berichten zum Kongress wurde der russische Angriffskrieg nicht erwähnt. Angesichts unterschiedlicher Meinungen in der Anhängerschaft scheint es, als ob die Führungspersonen das Thema in den Hintergrund rücken wollen, um interne Konflikte zu vermeiden. Ähnlich wie die Partei Die Rechte argumentiert die NPD. So veröffentlichte das Präsidium der NPD am 24. Februar 2022 eine entsprechende Stellungnahme der Partei. Darin wird der Eindruck vermittelt, dass die NATO und die USA den Krieg hervorgerufen hätten. "Wieder einmal schießen Patrioten auf Patrioten und sterben für Interessen des Kapitals und der Rüstungsindustrie. Die Kriegshetze der NATO hat es nun geschafft, dass die Brudervölker Russen und Ukrainer aufeinander schießen und wieder einmal Mütter ihre gefallenen Söhne beweinen werden. Die NPD fordert den sofortigen Abzug amerikanischer Soldaten aus Europa und die Einstellung aller Kampfhandlungen." Mit der NATObzw. USA-Kritik greifen die Rechtsextremisten auf langjährige antiamerikanische Argumentationsmuster zurück. Eine der rechtsextremistischen Mischszene zuzurechnende Kleinstgruppierung organisierte beispielsweise am 4. Dezember 2022 eine Demonstration unter dem Motto "Ami go Home", die am USamerikanischen Konsulat in Düsseldorf vorbeiführte. Die Redner verbreiteten schlichten Antiamerikanismus. Die Verantwortung Russlands für die Invasion in die Ukraine wurde hingegen nicht thematisiert. Versammlung "Ami go home - Gemeinsam für das Völkerrecht" am 4. Dezember 2022 rechtsextremIsmus 75 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Zum Teil wird der Antiamerikanismus in der rechtsextremistischen Szene noch mit Antisemitismus verbunden. So verbreiten Kommentatoren in rechtsextremistischen Telegram-Gruppen die antisemitische Behauptung, dass die Juden die angeblichen "Brudervölker" aufeinandergehetzt hätten. Eine Sonderstellung in der rechtsextremistischen Szene in Nordrhein-Westfalen nimmt zu der Thematik der Der III. Weg ein. Die rechtsextremistische Partei positioniert sich eindeutig zugunsten der Ukraine. Sie lehnt den "russische[n] Imperialismus mit dem Ziel der Wiederherstellung einer Sowjetunion" ebenso ab, wie den "US-amerikanische[n] Globalismus". In Anlehnung an etablierte Nachrichtenportale schaltet die Partei Der III. Weg einen "Live-Ticker" auf ihrer Website über angeblich aktuelle Geschehnisse in der Ukraine. Insbesondere die Ankündigung Putins, die Ukraine "Entnazifizieren" zu wollen, veranlasste die Partei zur Solidaritätsaktion "Nationalisten helfen Nationalisten". Dabei sucht die rechtsextremistische Partei kostenlose Unterbringungsmöglichkeiten für ukrainische Nationalisten und ihre Familien. Dies dürfte auch auf den jahrelangen Beziehungen der Partei zu nationalistischen Gruppierungen in der Ukraine beruhen. So reisten Delegationen in den vergangenen Jahren mehrfach in die Ukraine, beteiligten sich in Kiew Post auf dem Telegram-Kanal der Partei - "Der III. Weg - Sauerland/Siegerland" vom am "Marsch der Na2. März 2022 tion" und besuchten 76 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 die politischen Strukturen der "Asow-Bewegung", wie die rechtsextremistische Partei "Nationales Korps". Im Gegensatz dazu hat sich der rechtsextremistische Verein Aufbruch Leverkusen e.V. eindeutig im Sinne der russischen Regierung positioniert. Seit Mai 2022 arbeitet der Verein intensiv mit dem Verein "Die Brücke zwischen Deutschland und Russland" zusammen und versucht Narrative der russischen Regierung in Bezug auf deren Angriffskrieg zu verbreiten. Dazu haben Akteure der beiden Vereine mehrfach gemeinsam Kundgebungen organisiert. Eine Kundgebung und Demonstration am 24. September 2022 in Opladen kündigte Aufbruch Leverkusen e.V. folgendermaßen an: "NEIN zu: Sanktionen, Waffenlieferungen, Corona-Wahnsinn - WIR FORDERN: Nordstream 2 statt Gasumlage - Eine bezahlbare Energiepolitik - Diplomatie statt Waffen". Es wird ausschließlich die Bundesregierung beziehungsweise "der Westen" für seine Haltung zum russischen Angriffskrieg kritisiert und Russland als Opfer dargestellt. Ferner fordert man "die Aufhebung aller Sanktionen gegen Russland und den Stopp aller Waffenlieferungen an die Ukraine! Der Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten Russland muss beendet werden." Eine weitere Versammlung organisierten die beiden Vereine am 4. Dezember 2022 unter dem Motto "Gegen Waffenlieferungen nach Ukraine. Gegen Krieg in der Ukraine. Gegen falsche Medien." Am 7. Juni 2022 besuchten die Führungspersonen der beiden Vereine gemeinsam den russischen Generalkonsul in Bonn. Laut der Führungsperson von Aufbruch Leverkusen e.V., Markus Beisicht, erfolgte der Besuch auf Einladung des russischen Generalkonsuls. Eine Kritik an dem russischen Angriffskrieg erfolgte nicht, stattdessen wurde eine vermeintliche "Aggressionspolitik der Nato" thematisiert. Aufbruch Leverkusen e.V. suchte auch die Zusammenarbeit mit anderen rechtsextremistischen Akteuren außerhalb Nordrhein-Westfalens, die die Narrative der russischen Regierung verbreiten. So nahm Beisicht am Sommerfest des rechtsextremistischen Compact-Magazins am 27. August 2022 im Burgenlandkreis (ST) teil. Daran beteiligten sich Politiker, die dem völkisch-nationalistischen Personenzusammenschluss in der AfD zuzurechnen sind, Führungspersonen der Identitären Bewegung und der Freien Sachsen. Außerdem trat ein szenebekannter rechtsextremistischer Liedermacher auf. Den inhaltlichen Konsens der Veranstaltung fasste Beisicht folgendermaßen zusammen: "Die aktuelle Politik der Altparteien mit einer verfehlten Energiewende, irrsinnigen Sanktionen, Waffenlieferungen und Corona-Wahnsinn muss gestoppt werden!" Ebenfalls nahm Beisicht am "politischen Oktoberfest" des Compact-Magazins mit dem Titel "Ami go home" am 21. und 22. Oktober 2022 in Sachsen-Anhalt teil. Beisicht hielt dort eine Rede, in der er behauptete, Deutschland solle rechtsextremIsmus 77 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 "als Kanonenfutter für die Amerikaner und Briten verbrannt werden, verheizt werden". Des Weiteren kritisiert er die deutschen "mörderischen" Waffenlieferungen an "ein fragwürdiges ukrainisches Regime". In Deutschland müsse die "gesamte atlantisch geprägte politische Klasse" abgewählt werden, damit es zu einer Verständigung zwischen Deutschen und Russen kommen könne. Auf Social Media-Kanälen haben Rechtsextremisten aus Nordrhein-Westfalen auch Statements und Aktionen von überregional bedeutsamen Rechtsextremisten zum russischen Angriffskrieg verbreitet. Dazu zählte eine Aktion der Identitären Bewegung Ende August. Mit ihrer Führungsperson Martin Sellner und weiteren Aktivisten inszenierte sie eine Protestaktion vor dem Gelände von Nordstream 2 in MecklenburgVorpommern. Die rechtsextremistische Gruppierung behauptete, die Gasleitung in Betrieb nehmen zu wollen. Mit diesem symbolischen Protest gegen die Sanktionspolitik versuchte sie den Eindruck zu erwecken, die Bundesregierung handele bewusst gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung. Dass die Sanktionen eine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg sind, verschwiegen die Rechtsextremisten, ebenso dass Russland den Betrieb anderer Gasleitungen nach Deutschland eingestellt hat. In den Netzwerken des völkischen-nationalistischen Personenzusammenschluss in der AfD, ehemals Flügel werden die Beiträge ihrer inoffiziellen Führungsperson Björn Höcke verbreitet. Diese äußerte sich unter anderem am 20. März 2022 verharmlosend zum russischen Angriffskrieg und versuchte -- im Sinne der russischen Regierung -- die USA als Verursacher der Invasion darzustellen: "Wir müssen die Vorgeschichte dieser Invasion sehen, die geostrategische Rolle, für die die Ukraine vor allem von der USA mißbraucht wurde und die Provokationen, die zu dieser Eskalation geführt haben. Es ist schwierig, sich vorbehaltlos auf eine Seite zu schlagen -- und ich frage mich auch: Müssen wir das denn überhaupt tun? Müssen wir jeden Konflikt in der Welt immer gleich bewerten? Putin verfolgt russische Interessen, Selenskyj ukrainische -- und wir sollten unsere deutschen Interessen vertreten." Ausreisen in die Ukraine Der Gründer der rechtsextremistischen Kampfsportmarke White Rex, Denis Kapustin, der fast 20 Jahre seinen Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen hatte, lebt seit 2019 in der Ukraine. Zu Beginn des russischen Angriffskrieges rief er auf seinem Telegram-Kanal in deutscher und englischer Sprache dazu auf, in die Ukraine zu kommen und an deren Seite zu kämpfen. Bemerkenswert daran ist, dass Kapustin gebürtiger Russe ist. Bislang ist aber nur eine Ausreise eines Rechtsextremisten aus Nordrhein-Westfalen bekannt, bei dem Anhaltspunkte vorliegen, dass er sich auf Seiten der Ukraine an 78 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Kampfhandlungen beteiligte. Der zuletzt in Solingen gemeldete Rechtsextremist reiste im September 2022 in die Ukraine aus. Kurz zuvor nahm er am 3. September am von der Partei Der III. Weg veranstalteten "Tag der Heimattreue" in Hilchenbach teil. Andere Reisen von Rechtsextremisten in die Ukraine hatten den Zweck, von dort auf den eigenen Social-Media-Kanälen zu berichten oder Hilfslieferungen dorthin zu transportieren. Der III. Weg hatte Spenden gesammelt, um unter anderem militärische Bekleidung an nationalistische Einheiten in der Ukraine zu liefern. Die Partei behauptet, mindestens zweimal in die Ukraine gereist zu sein, um das Material zu übergeben. Im Oktober 2022 veröffentlichte Aufbruch Leverkusen e.V. ein Interview, in dem Beisicht die beiden Führungspersonen des Vereins "Die Brücke zwischen Deutschland und Russland" zu deren wenige Tage zuvor beendeter Reise in die von Russland besetzte Donbass-Region interviewt. Auffällig ist, dass Beisicht bezüglich der Donbass-Region von Russland spricht und sich damit die völkerrechtswidrige Position der russischen Regierung zu eigen macht. Die Interviewten stellen die deutschen Waffenlieferungen als Bedrohung für die Zivilbevölkerung dar. Im Weiteren stellen sie die Ukraine als Aggressor dar. Die beiden Führungspersonen haben über ihre Reise im Oktober 2022 auch zwei Videos veröffentlicht. Diese wurden auf einem von Rechtsextremisten betriebenen YouTube-Profil veröffentlicht. Im zweiten Video interviewen sie einen mutmaßlichen Zivilisten, der in russischer Sprache einen erlebten Bombenangriff schildert. Allerdings werden dessen Aussagen nicht korrekt übersetzt. Es wird bewusst das pro-russische Narrativ hinzugefügt, wonach angeblich die Waffen für den beschriebenen Angriff aus Deutschland stammen würden. Ausblick Es ist nicht abzusehen, dass sich die rechtsextremistische Szene in NRW darauf einigen kann, ob ihre Solidarität Russland oder der Ukraine gelten soll. Infolgedessen ist auch eine Verschärfung von internen Konflikten möglich. Allerdings besteht weitgehender Konsens, dass die USA und NATO negativ zu sehen sind, ungeachtet ihrer konkreten Rolle beim russischen Angriffskrieg. Ebenso ist die Szene sich einig, dass die aus den Sanktionen gegen Russland resultierenden Folgen wie Anstieg der Energiepreise und der Inflation als Protestthemen instrumentalisiert werden sollen, um das politische System zu diskreditieren. Bislang stellt der russische Angriffskrieg keinen Radikalisierungsfaktor für die rechtsextremistische Szene dar. Die Ausreise zur mutmaßlichen Beteiligung an Kampfhandlungen findet bundesweit nur in wenigen Einzelfällen statt. rechtsextremIsmus 79 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 NPD Sitz/Verbreitung Bundesverband: Berlin; Landesverband: Essen Gründung/Bestehen seit 1964 (Bundesund Landesverband NRW) Struktur/ Repräsentanz Bundesvorsitzender: Frank Franz (seit 2014); Landesvorsitzender: Claus Cremer (seit Juni 2008); einstellige Zahl aktiver Kreisverbände Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 350\ Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Publikationen: Zeitschrift des Bundesverbandes Deutsche Stimme (monatlich) als Printversion Web-Angebote: fast alle aktiven Parteistrukturen sind in den sozialen Netzwerken vertreten; Blickpunkt TV als Social Media-Angebot der NPD in NRW Kurzporträt/Ziele Das Bundesverfassungsgericht stellte in seiner Entscheidung vom 17. Januar 2017 im NPD-Verbotsverfahren fest, dass es sich um eine verfassungsfeindliche Partei handele, der es aber an Potenzial fehle, ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu realisieren. Die Partei kooperiert mit anderen rechtsextremistischen Parteien und Neonazis. Der Landesverband hat zunehmend an Bedeutung verloren und verfügt nur noch über eine Handvoll aktiver Kreisverbände. Zudem gelingt es der NPD in NRW nicht, den rechtsextremistischen Nachwuchs für die Partei zu interessieren. Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden 80 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die NPD lehnt die freiheitliche Demokratie in Deutschland ab und will diese beseitigen. So negiert die Partei die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere, dass jeder Mensch als Individuum und ohne Vorbedingungen eine Würde besitzt. Die von der NPD verfolgten politischen Ziele laufen auf einen autoritären Staat hinaus. Die NPD verfolgt eine rechtsextremistische Ideologie, die auf das Prinzip der Volksgemeinschaft baut und sich vor allem durch Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus hervortut. Angesichts der vielfachen Bezüge auf die Ideologie der NSDAP gibt es eine inhaltliche Wesensverwandtschaft der NPD mit dem Nationalsozialismus. Die Partei verfolgt ihre verfassungsfeindlichen Ziele überdies in einer aggressiv-kämpferischen Weise. Die NPD unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Landtagswahl 2022 und Veranstaltungen Die NPD verzichtete auf einen Antritt zur Landtagswahl. Um nicht um das gleiche rechtsextremistische Wählerklientel zu konkurrieren, traf die NPD eine Absprache mit der Partei Die Rechte und ließ dieser den Vortritt. Wie im vorangegangenen Jahr veranstaltete die NPD auch 2022 gemeinsam mit der Partei Die Rechte eine Demonstration am 1. Mai. Der stellvertretende NPD-Parteivorsitzende Thorsten Heise hielt dort eine Rede, in der er an "die Antifa" gerichtet sagte: "wir warten schon auf Euch [...] ich würde mich freuen, wenn ich ein Linachen mal mit einem Teleskopschlagstock auf meinem Grundstück in Fretterode erwischen würde. [...] Eins verspreche ich Euch, Mutti erkennt sie abends nicht wieder". Mit Linachen ist die mutmaßliche linksextremistische Gewalttäterin Lina E. gemeint. Im November 2022 versuchte die Jugendorganisation der Partei, die Jungen Nationalisten (JN), mit einer Veranstaltung, die Nachwuchsstrukturen in Nordrhein-Westfalen wiederzubeleben. Landesparteitag am 3. Juli 2022 und Parteireform Auf dem Landesparteitag wurde der bisherige Parteivorsitzende Claus Cremer wiedergewählt. Der Bundesvorsitzende Frank Frantz besuchte den Parteitag. Angesichts der desolaten Lage der NPD und der vorerst gescheiterten Umbenennung der Partei beim vorangegangen Bundesparteitag im Mai 2022 warb er in der zweiten Jahreshälfte rechtsextremIsmus 81 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 2022 in vielen regionalen Parteistrukturen für seinen Reformkurs. Unter anderem beabsichtigt er, eine Regionalisierung und einen Wandel von der Partei zur Bewegungsorganisation voranzutreiben. Die NPD solle eine Vernetzung der "vielfältigen systemkritischen Strömungen" fördern und sich mit ihren bestehenden Strukturen "als erfahrener Dienstleister anbieten". In diesem Zusammenhang fanden am 10. September und 10. Dezember 2022 sogenannte Netzwerktage der Parteizeitung Deutsche Stimme in Eisenach statt, die parteiund strömungsübergreifend auf Resonanz in der rechtsextremistischen Szene stießen. Post auf dem Facebook-Kanal der Partei "NPD - NRW" zum bevorstehenden Netzwerktag am 10. September 2022 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die NPD ist eine verfassungsfeindliche Partei, die mit ihrer vor allem fremdenfeindlichen Politik kaum noch die Öffentlichkeit erreicht. Der Landesverband in NordrheinWestfalen verfügt nur noch über wenige handlungsfähige Kreisverbände und verliert weiter an Bedeutung. Der Landesvorstand steht hinter den Reformbestrebungen des Bundesvorstands, der unter anderem als wichtigste Aufgabe die "Unterstützung der Bürgerproteste gegen die verfehlte Politik der etablierten Parteien" sieht sowie eine stärkere Regionalisierung und Vernetzung anstrebt. 82 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Post auf dem Telegram-Kanal der Partei "NPD - NRW" vom 31. Oktober 2022 Im Januar 2023 erfolgte der Übertritt von bisherigen Mitgliedern der Partei Die Rechte in die NPD. Das bedeutet aber keinen Wandel der Inhalte oder der Aktivitäten, sondern nur der Organisationszugehörigkeit. Die NPD erhofft sich von dem Zuwachs eine Stärkung des Landesverbandes und auch eine größere Bedeutung im Bundesverband. rechtsextremIsmus 83 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Aufbruch Leverkusen e.V. Sitz/Verbreitung Leverkusen Gründung/Bestehen seit 2019 Struktur/ Repräsentanz Lokaler Verein in Leverkusen, ein Sitz im Leverkusener Stadtrat Mitglieder/Anhänger/ NRW: 30 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Internetpräsenzen, Infozeitung Kurzporträt/Ziele Bei der Gruppierung Aufbruch Leverkusen e.V. handelt es sich um eine lokal agierende Nachfolgeorganisation von Pro NRW, deren Akteure sich aus der aufgelösten Partei rekrutieren. Thematisch setzt man die fremdenund islamfeindlichen Kampagnen von Pro NRW fort. Weiterhin sucht Aufbruch Leverkusen e.V. die Zusammenarbeit mit anderen rechtsextremistischen Kleinstgruppierungen. Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Gruppierung Aufbruch Leverkusen e.V. missachtet mit ihren Aussagen und Forderungen die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, insbesondere die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot. Sie vermittelt ein negatives Menschenbild über bestimmte Minderheiten, welches ausschließlich an deren Nationalität oder Religionszugehörigkeit anknüpft. Dabei greifen sowohl Wortwahl als auch die Argumentationsmuster die Menschenwürde an und sind deshalb nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Aufbruch Leverkusen e.V. unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. 84 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Aufbruch Leverkusen e.V. bezeichnet sich selbst als "Fundamentalopposition". Wie im vorangegangenen Jahr nahm Aufbruch Leverkusen e.V. Einfluss auf die lokalen Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. Unter anderem beteiligte sich der Verein am 22. Januar 2022 zum wiederholten Mal an einer entsprechenden Kundgebung. Auf dieser sprachen der langjährige Rechtsextremist Markus Beisicht, Stadtrat für Aufbruch Leverkusen e.V., und ein Thüringer Rechtsextremist, der in den vergangenen Jahren mit Beisicht zusammenarbeitete. Aufbruch Leverkusen e.V. unterstellt den regierenden Parteien in seiner Agitation gegen die Corona-Schutzmaßnahmen pauschal unlautere Absichten und versucht die Maßnahmen durch irreführende Vergleiche mit rassistischer Diskriminierung zu delegitimieren. Ein weiterer Schwerpunkt war 2022 der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Der Verein versuchte insbesondere russischstämmige Menschen, die die Reaktion der deutschen Regierung auf den Angriffskrieg ablehnen, für sich zu gewinnen. So prangerte Aufbruch Leverkusen e.V. in einem am 24. März 2022 auf seiner Webseite veröffentlichten Aufruf mit dem Titel "Frieden mit Russland!" die angebliche "RussAufruf zum "Frieden mit Russland" auf der Internetseite des Aufbruch Leverkusen e.V. vom 24. März 2022 rechtsextremIsmus 85 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 landhetze" sowie die "Diskriminierung russischstämmiger Menschen in Deutschland" an, die sich zu einer "Russophobie" entwickelt habe. Der rechtsextremistische Verein unterstützte den deutsch-russischen Verein "Die Brücke zwischen Deutschland und Russland". Letzterer agitierte in Köln und Leverkusen im Sinne der russischen Regierung und sprach sich gegen eine Unterstützung der angegriffenen Ukraine aus. Am 27. August 2022 nahm Aufbruch Leverkusen e.V. am Sommerfest des rechtsextremistischen Compact-Magazins mit verschiedenen anderen rechtsextremistischen Organisationen und Akteuren teil. Deren gemeinsames Anliegen war es, den russischen Angriffskrieg zu rechtfertigen und mit anderen Protestthemen die Öffentlichkeit zu suchen. So schreibt Aufbruch Leverkusen e.V. auf seiner Webseite, dass sich die Redner auf der Veranstaltung in dem Punkt einig waren, dass "die Post auf dem Facebook-Kanal der Gruppierung "Aufbruch Leverkusen" vom 28. aktuelle Politik der AltAugust 2022 parteien mit einer verfehlten Energiewende, irrsinnigen Sanktionen, Waffenlieferungen und Corona-Wahnsinn gestoppt werden muss". 86 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Aufbruch Leverkusen e.V. stellt die lokale Fortsetzung der aufgelösten Partei Pro NRW dar. Der Verein verbreitete 2022 die Narrative der russischen Regierung zu deren Angriffskrieg auf die Ukraine. Mit dieser eindeutigen Positionierung verfügt er in der rechtsextremistischen Szene in Nordrhein-Westfalen über ein Alleinstellungsmerkmal. Überdies vernetzt sich Aufbruch Leverkusen e.V. bundesweit mit anderen rechtsextremistischen Gruppierungen, überwiegend aus den ostdeutschen Bundesländern, die ebenfalls Sprachrohre von Putins Propaganda sind. Trotzdem ist die öffentliche Wirkung des Vereins regional begrenzt. Der Verein besitzt lediglich die Bedeutung einer lokalen rechtsextremistischen Splittergruppe. rechtsextremIsmus 87 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Völkisch-nationalistischer Personenzusammenschluss innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD), ehemals "Flügel" Sitz/Verbreitung Seit der formalen Auflösung des "Flügels" am 30. April 2020 dezentrale Auffächerung; Aktivitäten auf lokaler Ebene Gründung/Bestehen seit 14. März 2015 (Veröffentlichung der "Erfurter Resolution") Struktur/ Repräsentanz Sammlungsbewegung; maßgebliche Leitund Identifikationsfigur: Björn Höcke Mitglieder/Anhänger/ NRW: Personenpotenzial von circa 950 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Verlagerung in geschlossene Gruppen der sozialen Netzwerke Kurzporträt/Ziele Der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss agiert nach der formellen Auflösung des "Flügel" weiterhin als Sammlungsbewegung innerhalb der Partei Alternative für Deutschland (AfD). Die ideologische Ausrichtung fokussiert sich im Wesentlichen auf das völkische Konzept des sogenannten Ethnopluralismus. Damit knüpft der völkischnationalistische Personenzusammenschluss unmittelbar an den Entwurf einer ethnisch homogenen Gemeinschaft an, den die rechtsextremistische Neue Rechte vertritt. Diese Zielsetzung versucht der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss zu verschleiern und stellt sich selbst als vermeintliches Sprachrohr einer bürgerlichen Mitte dar. Finanzierung Indirekt, in dem der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss entsprechend seiner Verankerung in den Parteistrukturen der AfD an den Mitgliedsbeiträgen partizipiert. 88 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die ideologische Ausrichtung des völkisch-nationalistischen Personenzusammenschlusses manifestiert sich in den Aussagen der führenden Funktionäre im Rahmen von Reden auf Veranstaltungen und in zentralen Positionspapieren. Es finden sich zahlreiche Stellungnahmen, die eine völkisch-nationalistische Ideologie propagieren, beziehungsweise fremdenund muslimfeindlich sind. Der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss propagiert ein in Teilen revisionistisches Geschichtsbild. Sein ethnisch homogener Volksbegriff und sein antiindividualistisches Menschenbild sind in der Gesamtschau nicht mit der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde und dem Demokratieund dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar. Der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Trotz der formellen Auflösung des "Flügels" versucht der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss als Sammlungsbewegung innerhalb der AfD Einfluss auf die personelle und inhaltliche Ausrichtung des Landesverbandes zu nehmen. Allerdings verfügt er bislang aufgrund der geringen Repräsentanz in den Spitzengremien des Landesverbandes über kein gewichtiges Sprachrohr. Am 16. September 2022 fand in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) das sogenannte "2. Preußenfest" statt. Redner und Teilnehmer zählen im Wesentlichen zum formal aufgelösten "Flügel". Neben zahlreichen Führungspersonen des formal aufgelösten "Flügels" trat auch Götz Kubitschek als Redner auf, der Führungsperson des rechtsextremistischen Instituts für Staatspolitik ist. Ein Redner bezog sich explizit auf die sogenannten "Kyffhäusertreffen", die die jährliche zentrale Veranstaltung des "Flügels" darstellten. Insofern handelt es um ein identitätsstiftendes Treffen des völkisch-nationalistischen Personenzusammenschlusses in der Tradition früherer "Flügel"-Treffen. Die führenden Protagonisten des ehemaligen "Flügels" aus Nordrhein-Westfalen nahmen an der Veranstaltung teil. Die Substruktur des völkisch-nationalistischen Personenzusammenschlusses in Nordrhein-Westfalen, der Alternative Kulturkongress, veranstaltete am 26. November 2022 in Borchem eine Diskussionsveranstaltung mit Björn Höcke und weiteren Protagonisten der rechtsextremistischen Bestrebung, die sie als Livestream übertrug. Inhaltlich ging es vor allem um den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. rechtsextremIsmus 89 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Post auf dem Facebook-Kanal "Alternativer Kulturkongress Deutschland" vom 26. November 2022 Unter anderem bei dieser Veranstaltung verdeutlichte der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss kontinuierlich seine Fundamentalopposition zu den von Bund und Ländern ergriffenen Corona-Schutzmaßnahmen sowie in großen Teilen eine prorussische und antiamerikanische Ausrichtung. Höcke legte am 1. April 2022 in dem Facebook-Beitrag "Otto von Bismarck zum 207. Geburtstag" die Position des völkischnationalistischen Personenzusammenschlusses dar, in dem er der historischen Figur Bismarck Worte in den Mund legte. Dabei stellte er Demokratie und Menschenrechte als nachrangige Prinzipien dar: "Die Bundesrepublik Deutschland würde er als von fremden Mächten unterwandertes und fremdbestimmtes Land charakterisieren. Seine in transatlantischen Netzwerken gegen die deutschen und europäischen Interessen sozialisierten politischen "Eliten" würde er scharf kritisieren. Für ihn wären Politiker vom Schlage eines Olaf Scholz, einer Annalena Baerbock oder eines Friedrich Merz einfach nur globalistische Sprechpuppen. Er würde die Einmischung der USA als raumfremde Macht in Europa als friedensgefährdend einordnen [...] Und er würde [...] daran erinnern, daß Staaten Interessen haben, die sie durchzusetzen trachten, unabhängig davon, ob sie das relativ unverfroren machen oder dabei Demokratie und Menschenrechte wie eine Monstranz vor sich hertragen." 90 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Ungeachtet der formellen Auflösung des "Flügels" agiert der völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss innerhalb der AfD in Nordrhein-Westfalen insbesondere auf der Ebene einiger Kreisverbände und in sozialen Netzwerken unvermindert weiter. Damit verstetigt er in Nordrhein-Westfalen seine Rolle als camoufliertes rechtsextremistisches Netzwerk. rechtsextremIsmus 91 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Der III. Weg Sitz/Verbreitung Bundesverband: Weidenthal (Rheinland-Pfalz); Verbreitung hauptsächlich in Südund in Ostdeutschland; zwei sogenannte Stützpunkte in NRW Gründung/Bestehen seit 28. September 2013 in Heidelberg Struktur/ Repräsentanz Vorsitzender Bundesverband: Matthias Fischer Vorsitzender Landesverband West (ehemals Gebietsverband West): Julian Bender Drei Landesverbände: Bayern, Sachsen und West; zwei sogenannte Stützpunkte in Nordrhein-Westfalen. Gründung des Stützpunkt Sauerland-Süd am 29. Dezember 2015, umfasst insbesondere Siegen und den Landkreis Olpe. Der Stützpunkt Rheinland, am 16. März 2019 gegründet, umfasst den Großraum Düsseldorf und Köln. Die Partei-Gründung erfolgte zunächst unter Beteiligung einzelner ehemaliger NPD-Mitglieder und Neonazis. Als sich 2014 in Bayern ein Verbot des Neonazi-Netzwerks Freies Netz Süd abzeichnete, trat ein Teil der betroffenen Neonazis in die Partei Der III. Weg ein und sah die Partei als Auffangstruktur, um staatlichen Verbotsmaßnahmen zu entgehen. Mitglieder/Anhänger/ NRW: rund 40 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Verschiedene Internetpräsenzen; Publikationen Kurzporträt/Ziele Die Partei Der III. Weg propagiert ein rechtsextremistisches Staatsund Gesellschaftsbild, insbesondere greift sie 92 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 völkisch-nationalistische Elemente des historischen Nationalsozialismus auf. So lehnt sie sich mit ihrem 10-Punkte-Programm ideologisch an das Gedankengut der NSDAP an und fordert einen "deutschen Sozialismus" ein. Zudem beteiligt sich die Partei an revisionistischen Kampagnen, die darauf abzielen, nationalsozialistische Verbrechen zu relativieren. Finanzierung Überwiegend durch Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Das Parteiprogramm der Partei Der III. Weg zeigt, dass die Rechtsextremisten eine ethnisch homogene Gesellschaft im Sinne des völkischen Nationalismus anstreben, die durch die rigide Ausgrenzung aller vermeintlich Fremden ohne Rücksicht auf die Menschenrechte verwirklicht werden soll. Diesem Verständnis folgend agitiert die Partei vor allem gegen Migranten und verletzt damit fortlaufend deren Menschenwürde. Zahlreiche Mitglieder waren zuvor in anderen rechtsextremistischen Organisationen aktiv. Zudem pflegt die Partei Kontakte zu verschiedenen rechtsextremistischen Organisationen in Europa. Der III. Weg unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Stützpunkt Sauerland-Süd Durch das 2020 in Siegen eröffnete Parteibüro in Nordrhein-Westfalen verfolgte Der III. Weg die Strategie, in eigenen Räumlichkeiten möglichst ungestört seinen Aktivitäten nachgehen zu können. Der Mietvertrag für das Parteibüro in Siegen lief jedoch Ende Juni 2022 aus. Bereits am 26. März 2022 eröffnete die Partei ihr neues Büro in Hilchenbach (Kreis Siegen-Wittgenstein). Mit Parteifahnen und einer schwarz-weiß-roten Fahne zeigte sie symbolisch, wofür die Räumlichkeiten genutzt werden sollen. Wie im vorigen Parteibüro versucht Der III. Weg sich mit vorgeblich sozialen Aktivitäten als eine "Kümmerer"-Partei darzustellen. Allerdings beschränken die Rechtsextremisten ihre Hilfsangebote auf Deutsche im völkisch-nationalistischen Sinne. rechtsextremIsmus 93 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Zum Jahresende 2022 gelang es der Stadt Hilchenbach, das Gebäude vom bisherigen Eigentümer zu erwerben. Seitdem bemüht sie sich, die Nutzung der durch die rechtsextremistische Partei gemieteten Immobilie zeitnah zu beenden. Der III. Weg versucht wiederum, durch Klagen den drohenden Auszug abzuwenden. Den bereits im fünften Jahr durchgeführten "Tag der Heimattreue" veranstaltete Der III. Weg am 3. September 2022 zum ersten Mal in Hilchenbach. Am Vortag hatten Mitglieder der Partei vor dem Rathaus einen Galgen aufgebaut, an welchem Schilder mit den Worten "Rechtsstaatlichkeit", "Grundrechte" und "Der Rechtsstaat in der Schlinge der BRD" befestigt waren. Die Kundgebung, bei der die Rechtsextremisten nach eigenen Angaben "ihre Grundrechte ausübten", war darauf angelegt, Aufmerksamkeit durch Provokation zu erzielen. Beim eigentlichen "Tag der Heimattreue" waren verschiedenen Stände aufgebaut, auf denen Parteipropaganda verteilt und rechtsextremistische Devotionalien angeboten wurden. Weiterhin gehörte zum Programm ein sogenannter "Selbstverteidigungskurs", den die parteieigene "Kampfsport AG" durchführte. An der Veranstaltung nahmen circa 60 bis 70 Rechtsextremisten teil. Abends fand auf dem Außengelände des Parteibüros ein rechtsextremistischer Liederabend statt, bei dem unter anderem Freilich Frei und der Windecker auftraten. Beitrag zum "Tag der Heimattreue" auf der Homepage der Partei Der III. Weg aus September 2022 94 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Wie im Jahr 2021 organisierte Der III. Weg auch 2022 im Dezember eine weihnachtsmarktähnliche Veranstaltung. Dieses Mal fand sie in Hilchenbach auf dem Grundstück des Parteibüros mit rund 30 Personen statt. Neben einzelnen Verkaufsständen gab es einschlägige Reden und den Auftritt eines rechtsextremistischen Liedermachers. Mit diesem Mix aus Freizeitaktivitäten, politischer Agitation und Unterhaltung versucht die Partei ihren Anhängern eine rechtsextremistische "Erlebniswelt" zu bieten. Der Stützpunkt Sauerland-Süd versucht eine regionale rechtsextremistische Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Neben seinem Telegram-Kanal gibt er eine eigene Zeitung, den "Wegweiser Hilchenbach" heraus, um seine rechtsextremistischen Positionen zu verbreiten. Diese verteilten seine Anhänger mehrfach in Hilchenbach. Bezüglich des russischen Angriffskriegs positionierte sich Der III. Weg als einzige rechtsextremistische Gruppierung in Nordrhein-Westfalen eindeutig auf Seiten der Ukraine, wobei die Solidarität maßgeblich den nationalistischen Gruppierungen in der Ukraine galt. So prangte auf dem Parteibüro in Hilchenbach der Slogan "Nationalisten helfen Nationalisten". Unter diesem Motto rief die Partei auch zu Geldspenden zwecks Materiallieferungen für das ukrainische Asow-Regiment und der Bereitstellung von Unterkünften für Angehörige ukrainischer Kämpfer auf. Wie in den vergangenen Jahren waren für den "Stützpunkt Sauerland-Süd" revisionistische Veranstaltungen von symbolischer Bedeutung, bei denen man in Bezug auf den Nationalsozialismus eine Täter-Opfer-Umkehr betrieb. So veranstalteten rund 15 Rechtsextremisten am 26. März 2022 in Olpe anlässlich der Bombardierung der Stadt am 28. März 1945 eine "Ehrende Gedenkkundgebung" mit Kranzniederlegung. Sie wollten damit den Eindruck erwecken, dass das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg das Opfer der Alliierten gewesen sei. Auch hier versuchte Der III. Weg, mit einer weitgehend einheitlichen Kleidung und Parteifahnen sowie dem Abbrennen von Rauchfackeln die Veranstaltung im Stil nationalsozialistischer Veranstaltungen der 1930er Jahre zu inszenieren. Gemeinsam mit der parteieigenen Gruppierung "AG Körper und Geist" rief der "Stützpunkt Sauerland-Süd" unter dem Motto "Hochsauerlandmarsch" im Dezember 2022 zu einer 60-Kilometer-Wanderung auf. Die "AG Körper und Geist" vertritt folgendes Selbstverständnis: "Wir sind bewusst keine einfache Sportgemeinschaft oder Freundeskreis, sondern Teil einer Bewegung zur völkischen Wiedergeburt. [...] Noch sind wir nicht in der Lage, die Kultur der Verweichlichung und des Pazifismus gesamtgesellschaftlich abzulösen, aber wir können bereits heute uns selber wehrhaft machen und damit dazu beitragen, einmal das ganze Volk wieder wehrhaft zu machen." InrechtsextremIsmus 95 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 sofern sind solche vermeintlich sportlichen Betätigungen wie der "Hochsauerlandmarsch" ideologisch motiviert und sollen Gemeinschaftserlebnisse für die Parteimitglieder schaffen. Aufruf auf dem Telegram-Kanal der Partei Der III. Weg - Sauerland/Siegerland am 16. Oktober 2022 Stützpunkt Rheinland Die öffentlichen Aktivitäten des zweiten nordrhein-westfälischen Stützpunktes ("Stützpunkt Rheinland"), der den Großraum Köln/Düsseldorf umfasst, konzentrierten sich 2022 auf die Verteilung von Flugblättern in Düsseldorf und den angrenzenden Städten. In einem Fall versuchten die Rechtsextremisten öffentliche Empörung zu instrumentalisieren, indem sie im Wohnumfeld eines verurteilten Sexualstraftäters im Rheinisch-Bergischen Kreis Flugblätter verteilten. Darin forderte sie "die Einführung der Zwangskastration sowie der Todesstrafe für Sexualstraftäter. [...] Schließlich haben Sexualverbrecher und andere Entartete in der liberalen Bundesrepublik kaum etwas zu befürchten [...]". Ferner begingen die Rechtsextremisten am 16. März 2022 den sogenannten "Heldengedenktag", der auf die Nationalsozialisten zurückgeht. Diese veränderten den ursprünglichen Charakter des Totengedenkens in ihrem ideologischen Sinne zu einer Heldenverehrung. 96 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Kampagnen Im August 2022 initiierte Der III. Weg die Kampagne "Die Wahre Krise ist das System!". Seitdem meldete die Partei bundesweit Versammlungen an, verteilte Flugblätter und veröffentlichte entsprechende Beiträge in den sozialen Medien. In einem Artikel auf der Webseite vom 19. August 2022 heißt es: "Denn die wahre Krise ist nicht ein Gasmangel und nicht die Inflation, die wahre Krise ist dieses System, das schon lange moralisch und nun auch zunehmend wirtschaftlich bankrott ist. Unsere Parole ist daher unmissverständlich: Das System ist am Ende - wir sind die Wende!" Auslandsreisen Der Leiter des "Gebietsverbandes West", Julian Bender, reiste mit weiteren Parteimitgliedern im November 2022 nach Helsinki (Finnland) zu einer rechtsextremistischen Tagung. Es nahmen Szeneangehörige aus Finnland, Schweden und Italien daran teil. Thematisch ging es um die Bedeutung von rechtsextremistischen Zentren in Form von eigenen Immobilien, wobei Bender auch das Parteibüro in Hilchenbach ansprach. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die maßgeblichen Aktivitäten der Partei gehen in Nordrhein-Westfalen vom "Stützpunkt Sauerland-Süd" aus. Inzwischen stagnieren die Mitgliederzahlen. Es gelingt der Partei Der III. Weg in Nordrhein-Westfalen nicht, eine Anschlussfähigkeit an breitere Kreise der Gesellschaft herzustellen. Weiterhin setzen die Rechtsextremisten darauf, Proteste zu radikalisieren. Bemerkenswert ist, dass die rechtsextremistische Partei in Nordrhein-Westfalen nicht mit anderen rechtsextremistischen Organisationen zusammenarbeitet. Das liegt an der grundsätzlichen Ausrichtung der Partei, die sich - fernab der Realität - als Avantgarde versteht. Der III. Weg stellt sich inhaltlich und stilistisch weitgehend in die Tradition der Nationalsozialisten. Mit den Provokationen und wenig subtilen Drohungen gegen demokratische Politiker und Parteien wollen die Rechtsextremisten ihre politischen Gegner einschüchtern und öffentliche Aufmerksamkeit erreichen. rechtsextremIsmus 97 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Rechte Sitz/Verbreitung Bundesgeschäftsstelle in Dortmund; fünf Landesverbände Gründung/Bestehen seit Bundesverband: 27. Mai 2012, Landesverband NordrheinWestfalen: 15. September 2012 Struktur/ Repräsentanz Bundesvorsitzender: Christian Worch; Landesvorsitzender: Alexander Deptolla; der Landesverband Nordrhein-Westfalen verfügt über neun Kreisverbände, deren regionaler Schwerpunkt im Ruhrgebiet liegt. Mitglieder/Anhänger/ NRW: 270\ Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Webangebote: Veröffentlichungen der Partei auf Bundesund Landesebene überwiegend über soziale Medien wie Telegram, Facebook oder Twitter sowie die eigene Website Kurzporträt/Ziele Der Landesverband Nordrhein-Westfalen der Partei Die Rechte ist vor allem ein Sammelbecken von Neonazis, die aus den 2012 verbotenen Kameradschaften in Dortmund, Hamm und Aachen kommen. Der Aufbau von neuen Kreisverbänden hat jedoch auch neues Personenpotenzial an die Partei herangeführt. Ziel des Landesverbandes ist es, neonazistische Aktivitäten unter dem Schutz des sogenannten Parteienprivilegs zu betreiben und neonazistische Propaganda zu verbreiten. Die meisten Mitglieder dürften ihre Organisation weiterhin nicht als Partei begreifen. Hauptsächlich geht es ihnen darum, ihre "Erlebniswelt Rechtsextremismus" vor staatlichen Repressionsmaßnahmen zu schützen. So richtet Die Rechte Demonstrationen, Mahnwachen, Geburtstagspartys, 98 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Rechtsrockkonzerte und Sonnenwendfeiern als Parteiveranstaltungen aus. Die Partei Die Rechte agitiert insbesondere fremdenfeindlich und antisemitisch. Des Weiteren stellte sich die Partei Die Rechte offen in eine nationalsozialistische Tradition. Finanzierung Mitgliedsbeiträge der Parteimitglieder und Einnahmen aus Spenden. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Partei Die Rechte ist ein Sammelbecken für Neonazis und ideologisch wesensverwandt mit dem Nationalsozialismus. Sie tritt in aggressiv-kämpferischer Weise auf. Dies trifft im Berichtsjahr insbesondere auf den Landesverband Nordrhein-Westfalen zu, der den Bundesverband dominiert. Die Partei Die Rechte versucht, die von ihnen ausgemachten Gegner der Partei einzuschüchtern. Zu diesen Gegnern zählen Politiker, Journalisten und Bürger, die sich kritisch mit der Partei Die Rechte auseinandersetzen, sowie Behördenmitarbeiter, die im Sinne der wehrhaften Demokratie repressive Maßnahmen gegen Rechtsextremisten veranlassen. Meistens formulieren die Parteiaktivisten ihre Bedrohungen jedoch unterhalb der Grenze der Strafbarkeit. Zugleich sind die Einschüchterungsversuche eindeutig genug, so dass die Adressierten wissen, wie es gemeint ist. Die Partei verfolgt die Strategie, Provokation und Einschüchterung zu maximieren und das strafrechtliche Risiko zu minimieren. Die Rechte unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bundesverband Auf Bundesebene gehen die Aktivitäten der Partei stark zurück. Im Jahr 2022 entfalteten lediglich noch Akteure in den Landesverbänden Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. rechtsextremIsmus 99 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Landesverband Nordrhein-Westfalen Der Landesverband nahm im Jahr 2022 eine unverändert führende Rolle innerhalb der Bundespartei Die Rechte ein. Der Vorsitzende des Kreisverbandes Rhein-Erft fungiert als stellvertretender Parteivorsitzender. Weiterhin sind im Berichtsjahr der frühere Bundesund Landesvorsitzende Sascha Krolzig als Beisitzer und der Landesvorsitzende Alexander Deptolla im Bundesvorstand vertreten. Allerdings verliert der Landesverband zunehmend an Handlungsfähigkeit, was unter anderem auf anhaltende Führungsprobleme zurückzuführen ist. Der Landesverband umfasste 2022 neun Kreisverbände und drei sogenannte Stützpunkte. Führend innerhalb des Landesverbandes ist im Berichtsjahr der Kreisverband Dortmund, dem rund 80 mobilisierbare Anhänger angehören. Außer im Kreisverband Dortmund waren lediglich noch öffentlichkeitswirksame Aktivitäten in den Kreisverbänden Duisburg und Rhein-Erft festzustellen. Der überwiegende Teil der Parteiaktivitäten beschränkte sich jedoch auf interne Veranstaltungen. Dazu zählte auch eine "Schulungsveranstaltung" am 20. November 2022 in Dortmund, bei der eine Strafverteidigerin, Krolzig und der bis Mitte 2021 als Parteivorsitzender fungierende Sven Skoda den Parteianhängern ideologische und rechtliche Kenntnisse vermittelten. Landtagswahl Nordrhein-Westfalen 2022 Entgegen vorheriger Ankündigungen trat der Landesverband Nordrhein-Westfalen nicht zur Landtagswahl 2022 an. Auf der Internetseite der Partei hieß es dazu, man habe zwar die erforderlichen Unterstützungsunterschriften gesammelt, jedoch keinen Wahlvorschlag eingereicht. Auch wenn seitens der Mitglieder nur ein geringes Interesse an parteipolitischen Aktivitäten besteht, ist der Nichtantritt der Partei Die Rechte zur Landtagswahl bemerkenswert. Um als Partei unter dem Schutz des sogenannten Parteienprivilegs agieren zu können, ist es erforderlich, parteitypische Aktivitäten zu entfalten. Hierzu zählt in erster Linie die Teilnahme an Wahlen. Dass man trotz der offensichtlich vorhandenen Unterstützungsunterschriften nicht zur Wahl angetreten ist, weist auf organisatorische Defizite hin. 100 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Versammlungen in Nordrhein-Westfalen Die Partei Die Rechte organisierte 2022 im Vergleich zu den Vorjahren nur wenige Kundgebungen und Demonstrationen. Dieser Umstand spiegelt die derzeitige Führungsschwäche innerhalb des Landesverbandes wider. Zum 1. Mai führte Die Rechte in Dortmund eine Demonstration unter dem Motto "Heraus zum nationalen Tag der Arbeit" mit rund 280 Teilnehmern durch. Die zunächst als Demonstration von Die Rechte beworbene Versammlung wurde später als überparteiliche Demonstration betitelt. Auf den Flyern und Plakaten der Demonstration waren später keine Symbole der Partei zu sehen. Hinter diesem Vorgehen steht der Versuch, auch Rechtsextremisten anzusprechen, die keine Anhänger der Partei Die Rechte sind. An der Demonstration beteiligten sich verschiedene Gruppierungen und Parteien der rechtsextremistischen Szene wie beispielweise die NPD und ihre Jugendorganisation Junge Nationalisten. Post auf dem Telegram-Kanal der Partei Die Rechte Dortmund vom 4. März 2022 rechtsextremIsmus 101 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Eine weitere Kundgebung fand am 23. August 2022 in Dortmund unter dem Motto "Auch 10 Jahre danach - Weg mit allen Vereinsverboten" statt. Es beteiligten sich rund 70 Szeneangehörige. Am 23. August 2012 hatte das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen die neonazistischen Kameradschaften Nationaler Widerstand Dortmund (NWDO), die Kameradschaft Aachener Land (KAL) und die Kameradschaft Hamm (KS Hamm) verboten. Mit dieser jährlich wiederkehrenden Veranstaltung zeigen die Rechtsextremisten, dass sie sich weiterhin mit dem verbotenen NWDO identifizieren. Versammlungen überregional Des Weiteren beteiligten sich Mitglieder von Die Rechte an deutschlandweiten revisionistischen Versammlungen. Dazu zählte die Gedenkveranstaltung am 13. Februar 2022 in Dresden (Sachsen) anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Deutsche und internationale Rechtsextremisten nehmen jährlich an der Veranstaltung teil. Mitglieder des Dortmunder Kreisverbandes zeigten im Rahmen der Demonstration ein Banner mit der Aufschrift "Bombenholocaust". Mit diesem Begriff relativieren Rechtsextremisten zum einen den Holocaust und betreiben zum anderen eine Opfer-Täter-Umkehr hinsichtlich des deutschen Angriffskrieges 1939. Das ist auch das Kernanliegen dieser revisionistischen Versammlung. Im Rahmen der Veranstaltung trat zudem Skoda als Redner auf. Im Februar 2022 reisten Angehörige des Dortmunder Kreisverbandes zum sogenannten "Lukov-Marsch" nach Sofia (Bulgarien). Bulgarische Rechtsextremisten nehmen mit der jährlichen Veranstaltung Bezug auf den verstorbenen bulgarischen General und Kriegsminister Hristo Lukov. Dieser arbeitete mit Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs zusammen und führte den "Bund der Bulgarischen Nationalen Legionen" an. Des Weiteren beteiligten sich Mitglieder von Die Rechte am 12.Februar 2022 am sogenannten "Tag der Ehre" in Budapest (Ungarn). Wie beim "Lukov-Marsch" handelt es sich um ein zentrales Event der neonazistischen Szene in Europa. Teilnahme an Protestversammlungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen/steigende Energiekosten Die Rechte positionierte sich 2022 durchgehend gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. In diesem Zusammenhang beteiligten sich vereinzelt Parteianhänger an entsprechenden Protestveranstaltungen. Gleichermaßen versuchte die Partei an das auf102 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 kommende Protestgeschehen in den Herbstund Wintermonaten 2022 anzuknüpfen. Eigeninitiativ führte man jedoch keine Versammlungen zu diesem Thema durch. Vernetzung Verschiedene Führungspersonen von Die Rechte betreiben in der rechtsextremistischen Szene aktiv Netzwerkarbeit. So ist Alexander Deptolla zugleich Führungsperson des rechtsextremistischen Kampfsportlabels Kampf der Nibelungen. Des Weiteren betreibt er seit Februar 2022 den Videopodcast "Wie gesagt", in dem er sich mit bundesweit agierenden Rechtsextremisten über Szenethemen austauscht. Krolzig fungierte im Berichtszeitraum neben seinem Parteiamt als Beisitzer im Bundesvorstand zugleich als Herausgeber der rechtsextremistischen Zeitschrift N.S. Heute. Am Vortag der 1. Mai-Demonstration führte der Dortmunder Kreisverband einen Kongress des rechtsextremistischen Bündnisses "Fortress Europe" in Dortmund durch. Anlässlich dieses Kongresses reisten Rechtsextremisten aus Ungarn, Bulgarien, Frankreich, der Schweiz, Tschechien und den Niederlanden an. Die Durchführung des Kongresses zeigt, dass Die Rechte weiterhin bestrebt ist, die bestehenden Verbindungen zu anderen neonazistischen Parteien im europäischen Ausland aufrechtzuhalten. Matthias Deyda ist Beisitzer im Landesvorstand und fungiert als Auslandsbeauftragter der Partei. Er nahm am 8. Mai 2022 an einer internationalen rechtsextremistischen Konferenz in Paris teil, an der sich zahlreiche rechtsextremistische Organisationen aus mehreren europäischen Ländern beteiligten. Post auf dem Facebook-Kanal "Forum de l'Europe" vom 16. Mai 2022 rechtsextremIsmus 103 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Im September und Dezember 2022 veranstaltete die NPD Tagungen mit Vertretern verschiedener rechtsextremistischer Organisationen, um eine Vernetzung der rechtsextremistischen Szene zu fördern. Bei der ersten Veranstaltung vertrat Krolzig und bei der zweiten Veranstaltung Skoda Die Rechte. Im November 2022 besuchte der stellvertretende Bundesvorsitzende der NPD, Thorsten Heise, sowie der NPD-Landesvorsitzende Claus Cremer den Dortmunder Kreisverband. Rechtsextremistische "Erinnerungspolitik" Darüber hinaus führten einzelne Kreisverbände revisionistische Gedenkveranstaltungen durch, bei denen die Trauer für die Opfer durch "Heldengedenken" ersetzt und damit die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes verklärt werden. Am 13. November 2022 ging der Kreisverband Rhein-Erft in einem Beitrag auf seiner Webseite auf den Volkstrauertag in geschichtsrevisionistischer Manier ein und betrieb Kriegsverherrlichung. In dem Beitrag hieß es: "Ohne das Streiten unserer Ahnen wäre unser Volk schon lange nur noch ein Relikt der Vergangenheit. Diesen immer wiederkehrenden Kampf um unsere Existenz müssen auch wir heutzutage austragen und wir sollten uns dazu ein Beispiel an der Stärke und an dem Heldenmut unserer Ahnen nehmen." Diese Aussage bezieht sich auf den durch das nationalsozialistische Regime begonnenen Angriffskrieg 1939, in dessen Folge Millionen Menschen starben. Gerichtsverhandlungen und Verurteilungen Das Landgericht Dortmund verurteilte im Mai 2022 fünf Anhänger der Partei zu Geldstrafen. Sie hatten bei einer Demonstration von Die Rechte im September 2018 in Dortmund die antisemitische Parole "Wer Deutschland liebt, ist Antisemit" skandiert. Im Zusammenhang mit den einschüchternden Begleitumständen wertete das Landgericht dies als Volksverhetzung. Einzelne Rechtsextremisten legten Rechtsmittel gegen das Urteil ein, weshalb es bei ihnen noch nicht rechtskräftig ist. Zwei weitere Anhänger der Partei Die Rechte begingen am 30. Dezember 2019 eine antisemitisch motivierte Straftat, indem sie den jüdischen Friedhof in Geilenkirchen schändeten. Das Amtsgericht Geilenkirchen verurteilte sie am 23. Juni 2022 deswegen zu Haftstrafen auf Bewährung. Nachdem im Dezember 2016 mehrere Parteianhänger die Dortmunder Reinoldikirche besetzt hatten, um auf dem Kirchturm Pyrotechnik zu zünden und ein islamfeindliches Banner zu zeigen, fanden dazu 2022 zwei Prozesse statt. Im April verurteilte das Amtsgericht vier Rechtsextremisten zu Geldstrafen wegen Nötigung und Hausfriedens104 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 bruch. Zum zweiten Prozess waren zwei der fünf Angeklagten nicht erschienen. Das Amtsgericht verurteilte den Landesvorsitzenden Deptolla und den ehemaligen Bundesvorsitzenden Skoda zu Geldstrafen wegen Nötigung und Hausfriedensbruch. Vor dem Landgericht Dortmund begann im November 2022 der Prozess gegen den Beisitzer im Bundesvorstand Krolzig. Ihm werden im Zusammenhang mit der vor ihm herausgegeben Zeitschrift N.S. Heute die Straftatbestände der Volksverhetzung und des Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen vorgeworfen. Das Strafverfahren war bei Redaktionsschluss noch nicht beendet. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Partei Die Rechte hat in den vergangenen Jahren aufgrund der Inhaftierung, des Wegzugs und des Todes relevanter Parteiaktivisten ein Führungsproblem. Auch nach Aufhebung der Corona-Schutzmaßnahmen fällt es der Partei schwer, ihre rechtsextremistische Erlebniswelt wie in den Vorjahren bei Konzerten und Versammlungen zu inszenieren. Dies schlägt sich insbesondere in den Teilnehmerzahlen zentraler Szeneveranstaltungen wie der 1. Mai-Demonstration nieder. In der Gesamtschau ist ein Bedeutungsverlust der Partei Die Rechte zu konstatieren. Trotzdem stellte die rechtsextremistische Partei weiterhin das Zentrum des Neonazismus in Nordrhein-Westfalen dar, allerdings auf einem deutlich schwächeren Niveau als in den Vorjahren. Im Januar 2023 erfolgte der Übertritt von bisherigen Mitgliedern der Partei Die Rechte in die NPD. Das bedeutet aber keinen Wandel der Inhalte oder der Aktivitäten, sondern nur der Organisationszugehörigkeit. Es mangelt der Partei Die Rechte in Nordrhein-Westfalen an Mitgliedern, die an Parteiarbeit Interesse haben. Der Wechsel dient dazu, weiterhin von dem Parteienprivileg, das Verbotsmaßnahmen erschwert, zu profitieren. rechtsextremIsmus 105 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Identitäre Bewegung Deutschland e.V. (IBD) Sitz/Verbreitung Ursprung in Frankreich; seit 2012 in Deutschland; Vereinssitz ist Paderborn Gründung/Bestehen seit Seit Mai 2014 ist die ursprünglich virtuelle Aktionsform als Identitäre Bewegung Deutschland e.V. (IBD) vereinsrechtlich registriert. Struktur/ Repräsentanz Kleinstgruppen auf lokaler Ebene, die vor Ort agieren und teilweise mit der Landesgruppe der Identitären Bewegung Nordrhein-Westfalen verbunden sind. Mitglieder/Anhänger/ NRW: Aktivistenkreis: rund 20\ Unterstützer 2022 aktionsorientierte Sympathisanten: rund 20\ Veröffentlichungen Zentraler Internetauftritt und Onlineshop, es bestehen Profile auf YouTube, vk.com, Telegram und diverse Blogs als Kanäle zur direkten, zielgruppenorientierten Ansprache im öffentlichen Raum. Abgespaltene Kleinstgruppen sind unter eigenem Namen zusätzlich auf Instagram, Facebook und Twitter aktiv. Kurzporträt/Ziele Die IBD ist eine rechtsextremistische Jugendorganisation. In der Außenwirkung verfolgt sie die Strategie, gemäßigt zu wirken und sich sprachlich und symbolisch von NS-orientierten Rechtsextremisten abzugrenzen, um eine öffentliche Stigmatisierung zu vermeiden. Durch mediengerecht inszenierte Aktionsformen an öffentlichen Orten mit anschließender Berichterstattung in den sozialen Medien möchte die IBD Reichweite erzeugen und neue Mitglieder werben. Ihre Zielgruppe setzt sich vorwiegend aus jungen Menschen mit gutem Bildungsniveau zusammen. 106 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden sowie Merchandising Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Ideologie der IBD als Teil der Neuen Rechten richtet sich gegen die Menschenrechte und eine pluralistische Demokratie. Sowohl die letztlich rassistische Doktrin des Ethnopluralismus als auch der kollektivistische Grundsatz, das Individuum mit seinen Menschenrechten der Nation unterzuordnen, sind unvereinbar mit den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Mit ihren öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten versucht die IBD Einfluss auf die politische Öffentlichkeit zu nehmen und ihre rechtsextremistischen Positionen zu verbreiten. Die IBD unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Ihre rechtsextremistische Ideologie brachte die IBD in den vergangenen Jahren in NRW noch durch ein breites Spektrum an Aktionsformen zum Ausdruck, 2022 trat sie fast ausschließlich im virtuellen Raum auf. So teilte die NRW-Gruppe über ihren TelegramKanal Beiträge der IBD, in denen sie ihre Identifikation mit dem rechtsextremistischen ethnokulturellen Volksbegriff bekräftigte. Des Weiteren übernahm sie Beiträge anderer regionaler Verbände und ihr nahestehender Gruppen, verbreitete Spendenaufrufe und warb für ihr Merchandising. Im Oktober 2022 wurde auf dem Telegram-Kanal der NRW-Gruppe zum Kauf eines "Solishirts" mit dem Schriftzug "Unser Volk zuerst" aufgerufen, den die NPD bereits 2016 auf Wahlplakaten in Köln zur Verbreitung fremdenfeindlicher Propaganda benutzte. Die Leitfigur der IBD im deutschsprachigen Raum, Martin Sellner, sprach sich im Januar 2022 in einem Video für einen Wandel des Aktivismus hin zu einem anonymeren, optisch nicht mit der IBD in Verbindung zu bringenden Auftreten aus. Dementsprechend agierten in Nordrhein-Westfalen ehemalige Akteure der IBD in Kleinstgruppierungen, die sich von der IBD abgespalten haben, wie zum Beispiel die Revolte Rheinland oder Lukreta, oder sind einer parteipolitischen Jugendorganisation beigetreten. Protagonisten der Revolte Rheinland haben 2022 wiederholt Aktionen im Raum Bonn gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen sowie gegen einen angeblichen bevorstehenden Bevölkerungsaustausch durchgeführt. Die Gruppe Lukreta versuchte, durch Veranstaltungen und Aktionen vor allem das Thema sexuelle Gewalt zu instrumentalisieren, um Migranten pauschal als Gewalttäter zu stigmatisieren. rechtsextremIsmus 107 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Post auf dem Facebook-Kanal "Lukreta" vom 31. Januar 2022 Post auf dem Telegram-Kanal "Revolte Rheinland" vom 8. November 2022 108 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Bundesvergleich ist Nordrhein-Westfalen weiterhin kein Schwerpunkt der IBD. Deren Neuausrichtung hat in Nordrhein-Westfalen dazu geführt, dass die IBD überwiegend virtuell sowie zum Einsammeln von Spenden in Erscheinung tritt. Realweltliche Aktionen hingegen werden vor allem durch die abgespaltenen Kleinstgruppierungen fortgeführt. rechtsextremIsmus 109 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Neonazis Sitz/Verbreitung Landesweite Verbreitung mit regionalen Schwerpunkten Gründung/Bestehen seit 1970er Jahre Struktur/ Repräsentanz Gruppierungen auf lokaler Ebene, die teilweise in vereinsähnlichen sogenannten Kameradschaften oder in Kreisverbänden der Partei Die Rechte organisiert sind; überregionale Vernetzung der Szene zur Koordinierung und Durchführung gemeinsamer Aktivitäten. Mit den Verboten der wichtigsten Kameradschaften hat in der NeonaziSzene in Nordrhein-Westfalen ein Strukturwandel stattgefunden: Die Partei Die Rechte stellt in Nordrhein-Westfalen nunmehr das Zentrum des Neonazismus dar. Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 650 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Internetpräsenzen und Facebook-Profile der Partei Die Rechte sowie einzelner Gruppen Kurzporträt/Ziele Der Neonazismus stellt sich in die ideologische Tradition des historischen Nationalsozialismus. Die Anhänger organisieren sich regional in Kleingruppen, sogenannten Kameradschaften. Diese werden oftmals von einer Person nach dem Führerprinzip geleitet. Die Szene ist überregional vernetzt und findet sich bei Veranstaltungen wie Demonstrationen, Rechtsrock-Konzerten oder rechtsextremistischen Kampfsportevents zusammen. Die Mehrzahl der Neonazis sind in Nordrhein-Westfalen in den Parteien Die Rechte und Der III. Weg organisiert. Der Rest der Szene in Nordrhein-Westfalen besteht aus kleineren, nur lose organisierten Gruppierungen und Einzelper110 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 sonen, die sich gelegentlich an Veranstaltungen der Partei Die Rechte beteiligen. Finanzierung Beiträge der Anhänger Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Neonazi-Szene ist durch ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus sowie durch ihre Gewaltbereitschaft gekennzeichnet. Ideologische Grundlage ist ein rassenbiologisch geprägtes, völkisches Menschenbild und die Vorstellung einer antipluralistischen Gesellschaft sowie eines autoritären Staates. Vermeintlich Fremde und auch politische Gegner gelten als Feinde, denen ein geringeres beziehungsweise gar kein Existenzrecht zuerkannt wird. Damit wird Gewalt gegen "Fremde" legitimiert. Die Szene der Neonazis unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bedeutungsverlust der Neonaziszene Die Neonazi-Szene in ihrer klassischen Organisationsform als Kameradschaft spielt in Nordrhein-Westfalen nur eine geringe Rolle. Die meisten Neonazis sind im Berichtszeitraum in den Parteien Die Rechte und Der III. Weg organisiert, weil das sogenannte Parteienprivileg staatliche Verbotsmaßnahmen erschwert. Zudem hat die Szene an Aktionsfähigkeit eingebüßt. Das zeigt sich unter anderem darin, dass eine der wenigen relevanten Szene-Veranstaltungen der vergangenen Jahre im Jahr 2022 abgesagt wurde - das sogenannte "Rheinwiesenlager"-Gedenken in Remagen (Rheinland-Pfalz). Das begründet der aus Nordrhein-Westfalen stammende Anmelder der letztjährigen Versammlungen mit den nachlassenden Teilnehmerzahlen und der damit ausbleibenden öffentlichen Wirkung. Volksgemeinschaft Niederrhein Die Führungsperson der Volksgemeinschaft Niederrhein (VGN), ein langjähriger Neonazi, verfügt in Kamp-Lintfort über ein Haus mit großem Grundstück, das der rechtsextremistischen Gruppierung als Anlaufstelle und Ort für Treffen dient. Ferner rechtsextremIsmus 111 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 organisierte die VGN am 7. Oktober 2022 eine Musikveranstaltung mit dem rechtsextremistischen Liedermacher Frank Rennicke. Post auf dem Telegram-Kanal "Volksgemeinschaft Niederrhein" vom 22. September 2022 Autonome Nationalisten Düsseldorf/Aktionsgruppe Düsseldorf Die seit 2020 auftretende Gruppierung Aktionsgruppe Düsseldorf agiert gemeinsam mit dem NPD-Kreisverband Düsseldorf/Mettmann. So veranstaltete man am 13. November 2022 ein revisionistisches "Heldengedenken" in Mönchengladbach, um Verbrechen des Nationalsozialismus zu verklären. Außerdem beteiligten sich die Neonazis an der Mobilisierung zur Kundgebung der Partei Die Rechte am 1. Mai und klebten entsprechende Plakate. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Neonazi-Szene in Nordrhein-Westfalen ist bislang überwiegend in den Parteien Die Rechte und Der III. Weg organisiert. Darüber hinaus existieren einige kleinere Gruppierungen, die allerdings 2022 kaum öffentlich in Erscheinung traten. In der Tendenz ist ein Rückgang der Aktionsfähigkeit der Szene zu konstatieren. Im Januar 2023 erfolgte der Übertritt von bisherigen Mitgliedern der Partei Die Rechte in die NPD. Das bedeutet aber keinen Wandel der Inhalte oder der Aktivitäten, 112 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 sondern nur der Organisationszugehörigkeit. Es mangelt der Partei Die Rechte in Nordrhein-Westfalen an Mitgliedern, die an Parteiarbeit Interesse haben. Der Wechsel dient den Neonazis dazu, weiterhin von dem Parteienprivileg, das Verbotsmaßnahmen erschwert, zu profitieren. rechtsextremIsmus 113 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Subkulturell geprägter Rechtsextremismus Sitz/Verbreitung Landesweite Verteilung mit regionalen Schwerpunkten Gründung/Bestehen seit Ende der 1960er Jahre in Großbritannien, seit circa Ende der 1970er Jahre in anderen europäischen Staaten Struktur/ Repräsentanz In der Regel keine festen Strukturen, eine Ausnahme bilden die Hammerskins mit einem festen hierarchischen Aufbau. Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 1.150 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Publikationen: sogenannte Fanzines mit Artikeln zur überwiegend subkulturell geprägten Skinhead-Musik-Szene, Interviews und Konzertberichten; CD-Veröffentlichungen Web-Angebote: Bekanntmachungen von Konzerten über bestimme Foren, Veröffentlichungen von Videos über soziale Medien Kurzporträt/Ziele Der subkulturell geprägte Rechtsextremismus definiert sich hauptsächlich über eine spezifische Musik und den damit zusammenhängenden Lebensstil. Es geht darum, eine rechtsextremistische Erlebniswelt mit gemeinsamen Freizeitaktivitäten wie Musikveranstaltungen zu schaffen. Subkulturell geprägte Rechtsextremisten vertreten rassistische, fremdenfeindliche, nationalistische und antisemitische Positionen. Zudem befürworten sie rassistische Gewalt. Rechtsextremistische Skinheads bilden immer noch die wichtigste Subkultur im Rechtsextremismus. Äußerlichkeiten wie Dresscode oder Haarschnitt lassen heutzutage allerdings kaum noch eine eindeutige Zuord114 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 nung zur rechtsextremistischen Skinhead-Szene zu. Einerseits gibt es weitgehend unpolitische Jugendliche, die ein vermeintlich Skinhead-typisches Aussehen zeigen, ohne dem rechtsextremistischen Teil der Szene anzugehören. Andererseits verlieren die altbekannten Erscheinungsbilder seit einigen Jahren immer mehr an Bedeutung. Insbesondere für den rechtsextremistischen Teil der Skinhead-Szene ist es im Alltag einfacher, nicht durch offensichtliches Tragen von einschlägig bekannten Zeichen oder Haarschnitten eine politische Zuordnung zu ermöglichen. Finanzierung Verkäufe von CDs und Merchandise-Artikeln, Organisation und Durchführung von Musikveranstaltungen, oftmals allenfalls kostendeckende Durchführung von Konzerten Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Subkulturell geprägte Rechtsextremisten vertreten rassistische, fremdenfeindliche, nationalistische und antisemitische Positionen gepaart mit einem hohen Gewaltpotenzial. Musik spielt hier eine herausragende Rolle zur Selbstvergewisserung, Politisierung und Rekrutierung der Szene. Bands, CDs und Konzerten gilt deshalb ein besonderes Interesse. Oftmals gehen gerade rechtsextremistische Musikveranstaltungen mit menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Liedtexten sowie gelegentlich mit offenen Bekenntnissen zum Nationalsozialismus, wie dem Zeigen des Hitler-Grußes, einher. Der subkulturell geprägte Rechtsextremismus unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Organisationen Blood and Honour (B&H) und Hammerskins sind die wichtigsten international tätigen rechtsextremistischen Skinhead-Organisationen, die Konzerte veranstalten. In Deutschland wurde bereits im September 2000 die Blood and Honour-Division Deutschland verboten. In anderen Ländern ist B&H eng mit Combat 18 (C18) verbunden. Der Name C18 steht als Chiffre für "Kampfgruppe Adolf Hitler". Die 1992 rechtsextremIsmus 115 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 gegründete Gruppierung fungierte ursprünglich als Saalschutztruppe der britischen rechtsextremistischen Partei British National Party und bildete dann in mehreren Ländern Ableger. Die deutsche C18-Gruppierung wurde 2020 vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat verboten. Eine weitere international agierende Organisation von besonderer Bedeutung sind die Hammerskins. Die sogenannte Hammerskin-Nation (HSN) wurde Ende der 1980er Jahre in den USA gegründet und ist seit Anfang der 1990er Jahre in Deutschland aktiv. Sie versteht sich als Elite der rechtsextremistischen Skinhead-Szene. Im Gegensatz zu anderen Organisationen im subkulturell geprägten Rechtsextremismus besteht bei den Hammerskins ein fester hierarchischer Aufbau. Die Vereinigung ist nach Ländern unterteilt. Eine Ebene darunter ist sie in mehreren Regionalgruppen, sogenannten Chaptern, organisiert, die unabhängig voneinander agieren. In Nordrhein-Westfalen sind bislang die "Chapter Westfalen" und "Chapter Rheinland" aktiv. Das Spektrum der Aktivitäten umfasst unter anderem interne Treffen und Feiern sowie Besuche von rechtsextremistischen Musikveranstaltungen. Abgesehen davon beteiligten sich die Hammerskins in den vergangenen Jahren mehrfach an der Organisation von rechtsextremistischen Musikund Kampfsportveranstaltungen. Weiterhin sind die Mindener Jungs als regionale subkulturelle Gruppierung seit vielen Jahren aktiv. Bei den Mitgliedern handelt es sich überwiegend um langjährige Szeneangehörige. Gegen eine Führungsperson wird derzeit strafrechtlich ermittelt, weil diese im November und Dezember 2022 eine in der Zivilgesellschaft engagierte Person bedroht haben soll. 2022 versuchte sich in Nordrhein-Westfalen die Skinhead-Gruppierung Voice of Anger (VoA) fester zu etablieren. Diese wurde bereits 2002 in Memmingen (Bayern) gegründet. In der Folgezeit entstanden in Bayern mehrere sogenannte Sektionen. Anlehnend an Rockerclubs ist die Gruppierung hierarchisch aufgebaut. In den vergangenen Jahren waren bereits mehrfach Bezüge nach Nordrhein-Westfalen aufgefallen. Seit 2022 tritt nun in Nordrhein-Westfalen die VoA-Sektion Preussen auf. Im Mai eröffnete die Gruppierung im Märkischen Kreis eine Veranstaltungsörtlichkeit, in der sie unter anderem Musikveranstaltungen durchführte. Die Räumlichkeiten wurden von der Polizei am 7. November 2022 wegen des Verdachts von Straftaten gegen das Waffengesetz durchsucht. Am gleichen Tag untersagte die Kommune deren weitere Nutzung als Vereinsund Veranstaltungsraum wegen fehlender baurechtlicher Genehmigung. Ob die VoA-Sektion Preussen nach diesen staatlichen Maßnahmen ihre Aktivitäten weiter fortsetzen wird, ist derzeit offen. 116 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bands und Konzerte Mit der im Jahr 2021 erstmals erschienen rechtsextremistischen Musikzeitschrift Rock Hate, die in Nordrhein-Westfalen herausgegeben wird, hat die Szene ein neues Medium zur Information, Werbung und internen Diskussion. Inzwischen sind vier Ausgaben des Magazins erschienen. Darüber hinaus betreibt Rock Hate einen Telegram-Kanal und einen Podcast. Im Telegram-Kanal werden aktuelle CD-Veröffentlichungen rechtsextremistischer Bands und Inhalte anderer rechtsextremistischer Gruppierungen geteilt und beworben. Überregional bekannt in der Szene sind aus Nordrhein-Westfalen unter anderem die Bands Oidoxie, Sleipnir, Division Germania, Sturmwehr und Smart Violence, die allesamt seit mehreren Jahren aktiv sind. Letztere veröffentlichte Post auf dem Telegram-Kanal "Rock Hate" zur Erscheinung der vierten Zeitschrift 2022 gemeinsam mit der englischen rechtsextremistischen Band Total Annihilation ein gemeinsames Album (Split-CD). Zum 25-jährigen Bestehen brachte 2022 die Band Weisse Wölfe ein neues Album mit dem Titel "Bruderbund" heraus. Im Booklet dankt die Band namentlich dem 1993 verstorbenen rechtsextremistischen Musiker Ian Stuart Donaldson, der Blood and Honour gründete. rechtsextremIsmus 117 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Gruppe N.O.B., an der der aus Nordrhein-Westfalen stammende rechtsextremistische Musiker Oberberger beteiligt ist, veröffentlichte 2021 das Album "Hier kommt die Antwort". Dies hat die Prüfstelle für jugendgefährdende Medien im Juli 2022 indiziert. Ausschlaggebend für die Entscheidung war, dass der Tonträger den Nationalsozialismus verherrlicht und verharmlost. Konzerte sind ein wichtiges Element der Erlebniswelt Rechtsextremismus, in der politische Agitation, Freizeitaktivitäten und Unterhaltung verbunden werden, um insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen. Die Attraktivität der Veranstaltungen macht neben der Musik das Treffen Gleichgesinnter, der Konsum von Alkohol und das Zeigen rechtsextremistischer Symbolik sowie Slogans aus. Im Unterschied zu den vorwiegend rocklastigen, größeren Konzerten dienen Balladenoder Liederabende dazu, einen eher kleineren Teilnehmerkreis anzusprechen. Dabei spielt meistens ein Sänger mit Gitarre überwiegend ruhige Stücke. Derartige Veranstaltungen werden oftmals von Parteiverbänden oder Freien Kameradschaften mit dem Ziel organisiert, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Im Jahr 2022 fanden in Nordrhein-Westfalen nach zwei Pandemiejahren wieder vermehrt Konzerte oder anderweitige Musikveranstaltungen statt. Auf musikalische Großveranstaltungen oder Festivals wurde allerdings weiterhin verzichtet. Insgesamt wurden im Berichtsjahr zwei Konzerte, dreizehn Liederbeziehungsweise Balladenabende und zehn sonstige rechtsextremistische Veranstaltungen mit Livemusik organisiert. Zu den sonstigen Veranstaltungen zählen zum Beispiel parteiinterne Feste oder Geburtstagsfeiern, bei denen Musik Teil der Veranstaltung ist. Dies soll zum einen den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken und zum anderen sollen Erlöse erwirtschaftet werden. Die Anzahl der festgestellten Musikveranstaltungen ist im Vergleich zum Vorjahr somit von neun auf 25 gestiegen. Soweit bekannt, nahmen maximal 100 Personen an den jeweiligen Veranstaltungen teil. Ihre neue Veranstaltungsörtlichkeit eröffnete die VoA-Sektion Preussen im Mai 2022 mit einem rechtsextremistischen Konzert, an dem rund 90 Personen teilnahmen. Ebenfalls im Mai 2022 veranstalteten die Mindener Jungs ein konspirativ organisiertes Konzert mit der Band Oidoxie in Porta Westfalica. Ein weiteres, im November 2022 geplantes Konzert, mit mindestens zwei rechtsextremistischen Liedermachern, sagten die Mindener Jungs mutmaßlich aufgrund des öffentlichen Drucks nach Bekanntwerden der Veranstaltung ab. Am 25. Juni 2022 trat in einer Kneipe in Moers ein rechtsextremistischer Musiker mit dem Künstlernamen Reichstrunkenbold auf. Dies ist der Spitzname des ehemaligen Reichsorganisationsleiters der NSDAP Robert Ley, dessen Alkoholsucht öffentlich bekannt war. Als aus der lokalen Zivilgesellschaft 118 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 eine Protestversammlung gegen die rechtsextremistische Musikveranstaltung angemeldet wurde, meldete wiederum Pegida NRW eine Versammlung an, um sich solidarisch mit den Veranstaltern des rechtsextremistischen Balladenabends zu zeigen. Der Kreisverband der Partei Die Rechte organisierte am 12. September 2022 eine Veranstaltung mit dem rechtsextremistischen Liedermacher Lunikoff. Dieser trat in den vergangenen Jahren regelmäßig bei Veranstaltungen auf, die die rechtsextremistische Partei organisiert hatte. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Rechtsextremistische Musik ist zum einen ein Ausdrucksmittel einer Subkultur, die sich für Menschenverachtung und Demokratiefeindschaft ausspricht. Zum anderen ist sie ein effektives Mittel rechtsextremistischer Strategen, ihre Propaganda Jugendlichen und jungen Erwachsenen nahezubringen. Zudem handelt es sich bei rechtsextremistischer Musik um ein kommerzielles Geschäft, an dem Bands, Konzertveranstalter und Vertriebe verdienen. Mit der Modernisierung der Erscheinungsformen des Rechtsextremismus hat sich auch deren Musik gewandelt. Die Vielfalt an Musikstilen hat zugenommen. Dies beinhaltete sogar ideologisch widersprüchlich erscheinende Entwicklungen wie Nationaler Rap. Durch die digitale Revolution der letzten 20 Jahre haben sich die Vertriebsbedingungen für rechtsextremistische Musik enorm verbessert. Nachdem die Corona-Pandemie mit den damit einhergehenden Beschränkungen zu einem Einbruch bei den Veranstaltungen geführt hatte, war 2022 durch die Versuche der subkulturellen Szene gekennzeichnet, wieder rechtsextremistische Musikveranstaltungen durchzuführen. Dies wird sich auch 2023 fortsetzen, wobei die Szene in Nordrhein-Westfalen weiterhin Schwierigkeiten hat, Veranstaltungsörtlichkeiten zu finden. rechtsextremIsmus 119 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter Sitz/Verbreitung NRW-weite Verbreitung Gründung/Bestehen seit 1985 (Gründung der ersten Reichsbürgergruppierung Kommissarische Reichsregierung (KRR) in Berlin) Struktur/ Repräsentanz Die heterogene Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter besteht aus einer Vielzahl von Einzelpersonen und Kleingruppen, die zum Teil miteinander kooperieren, sich zum Teil aber auch scharf voneinander abgrenzen. Neben kleinen, sektenartigen Gruppen mit hohem Organisationsgrad gibt es ebenso lose strukturierte Gruppierungen sowie Einzelpersonen, die nur im Internet aktiv sind oder sich an Behörden wenden. Bei der Mehrzahl der Reichsbürger und Selbstverwalter in Nordrhein-Westfalen ist keine feste Organisationsbindung erkennbar. Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 3.400 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Publikationen wie Flyer, Broschüren, Flugblätter, Postwurfsendungen Eigene Webseiten der einzelnen Gruppierungen sowie soziale Medien Offene Briefe, sogenannte "Anordnungen", "Amtsblätter" oder "Bekanntmachungen" an Behörden Kurzporträt/Ziele Inhaltlicher Konsens der Reichsbürgerszene sind Behauptungen, dass das Deutsche Reich in den Grenzen des Kaiserreichs von 1871 beziehungsweise der 1930er-Jahre weiterhin existiere und dass der Bundesrepublik Deutsch120 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 land die rechtliche Legitimation fehle. Die Bundesrepublik sei eine GmbH und die Behörden deshalb nur "Scheinbehörden". Teilweise behaupten Reichsbürger auch, dass eine von ihnen geführte kommissarische Reichsregierung die Staatsgewalt ausübe. Daraus leiten sie für sich hoheitliche Befugnisse ab. Selbstverwalter knüpfen dagegen in ihrer Argumentation nicht an eine staatliche Autorität an. Sie berufen sich auf ein selbst definiertes Naturrecht, wonach sie als Individuen eigene Hoheitsrechte besäßen. Reichsbürger und Selbstverwalter sprechen gleichermaßen demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation ab und begehen Verstöße gegen die Rechtsordnung. Die Anhänger sind überzeugt, nach einem von ihnen erklärten Austritt aus der angeblichen Bundesrepublik Deutschland GmbH in der Folge nicht weiter an bestehende Gesetze gebunden zu sein. Teile der Reichsbürgerszene überschneiden sich personell mit der rechtsextremistischen Szene und vertreten rechtsextremistische Argumentationsmuster. Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter lässt sich in drei Motivgruppen unterteilen: erstens Rechtsextremisten, zweitens Verschwörungsmystiker und drittens Personen, die sich finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Staat entziehen möchten. Im jeweiligen Einzelfall können sich die Motive unterschiedlich mischen. Oftmals haben Reichsbürger und Selbstverwalter durch eine Lebenskrise Zugang zur Szene gefunden. Zudem treten in der Reichsbürgerszene häufig Personen mit Verhaltensmustern psychisch Erkrankter auf. Die Protestveranstaltungen gegen Corona-Schutzmaßnahmen sind seit 2020 ein weiteres Handlungsfeld für Reichsbürger und Selbstverwalter. rechtsextremIsmus 121 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter haben ein erhebliches Gewaltpotenzial. Wiederkehrend sind Gewaltdelikte und ein teilweise umfangreicher Waffenbesitz in dieser Szene festzustellen. Gerichte, Polizei und Behörden werden in ihrer Arbeitsweise behindert und deren Mitarbeiter eingeschüchtert und bedroht. Finanzierung bei den Gruppierungen Mitgliedsbeiträge Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Reichsbürger und Selbstverwalter sind verfassungsfeindlich, da sie die freiheitliche demokratische Grundordnung offensiv ablehnen. Dies zeigt sich unter anderem im Verweigern von Steuerzahlungen und dem Nichtanerkennen von behördlichen Bescheiden sowie im Errichten vermeintlich eigener "Staaten". Gerichten und Behörden gegenüber wird mitunter offen aggressiv aufgetreten. Die fundamentale Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Gesetze und Institutionen bietet hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Ausrichtung, auch wenn diese Bestrebungen nur zum Teil einen eindeutig rechtsextremistischen Hintergrund, wie zum Beispiel ein gebietsund geschichtsrevisionistisches Weltbild, haben. Die Reichsbürger und Selbstverwalter unterliegen deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Aktivitäten von Gruppierungen Ab 2021 gewann in der Reichsbürgerszene die Gruppierung S.H.A.E.F. Regierungsinstitution Deutschland an Bedeutung. Sie behauptet, dass es sich bei der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor um einen besetzten Staat handelt und die S.H.A.E.F.-Gesetze noch Gültigkeit besitzen. S.H.A.E.F. steht für "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force" und war am Ende des zweiten Weltkriegs das Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Nordwestund Mitteleuropa. Die S.H.A.E.F.Anhängerschaft verbreitet im vermeintlich geschützten Raum der digitalen Welt ihre Ideologie. Ebenso treten sie realweltlich durch das Versenden von Drohschreiben und vermeintlichen Informationsschreiben wie zum Beispiel einen Aufruf zum Widerstand 122 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 gegen den Zensus 2022 auf. Des Weiteren veröffentlichte hauptsächlich der selbst ernannte "Commander Jansen" von ihm erstellte Todesurteile gegen Personen des öffentlichen Lebens. Das Landgericht Oldenburg sprach ihn am 1. September 2022 wegen Schuldunfähigkeit in den Anklagepunkten Aufforderung zu Straftaten, sowie Anordnung von Tötungsdelikten frei. Stattdessen wurde er in einer psychiatrischen Klinik auf Grund seiner Gefährlichkeit für die Allgemeinheit untergebracht. Die Reichsbürgergruppierung Die Erbengemeinschaft Jakob e.V. bezieht sich inzwischen ebenfalls auf Argumente der S.H.A.E.F. - Anhängerschaft, um die Existenz und das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland zu leugnen. Die Verfassunggebende Versammlung (VV) hat sich die Erarbeitung einer Verfassung und den Aufbau bzw. die Etablierung eines neuen deutschen Staates als Ziel gesetzt. Ein Schwerpunkt der VV liegt auf ihrer Online-Propaganda. Im Internet tritt die VV auch als Deutsche Depeschen Bildund Tonagentur/ddb auf. Unter diesem Namen betreibt sie ebenfalls ein eigenes Internetradio. Dieses Webradio nutzt die VV um Aktuelles zur Gruppierung zu erläutern und Fragen von VV-Mitgliedern zu beantworten. Auf ihrer virtuellen Nachrichtenseite verbreitet die Gruppierung unter anderem pro-russische Propaganda, teilt Beiträge von Corona-Leugnern und positionierte sich Anfang 2022 gegen die Impfpflicht. Darüber hinaus versucht die Gruppierung mit wenea ein neues Tätigkeitsfeld im Bildungsbereich zu etablieren, das sie selbst als Gemeinschaft von "Wissen und Weisheit" bezeichnet. Zu den Strukturen dieser "Gemeinschaft" zählt unter anderem die wenea-Akademie. Diese soll nach eigenen Aussagen die Schulpflicht in Deutschland nicht ersetzen. Jedoch wird angestrebt, die Akademie langfristig als eigenständige und unabhängige Ersatzschule zu etablieren. Zum 1. November 2022 kündigte die VV außerdem ein neues Referendum für Deutschland an. Inhalt des Referendums sind die Schaffung von Frieden durch Neutralität, Bildung nach den modernsten Kenntnissen, soziale Politik in Verbindung mit einem besseren Geldsystem, Energiesicherheit im ganzen Land, Mitbestimmung durch Volkswahlen sowie ein ganzheitliches Gesundheitssystem. Damit versucht sie für Personen aus der Protestszene anschlussfähig zu sein, die gegen Corona-Schutzmaßnahmen, Russland-Sanktionen und steigende Energiekosten protestieren. 2022 nahmen Anhänger der VV mehrfach an solchen Protestveranstaltungen teil, die ihren Ursprung in der Kritik an Corona-Schutzmaßnahmen hatten. So beteiligten sich beispielsweise am 29. Juni in Oberhausen, am 28. August in Wuppertal und am 4. Dezember 2022 in Düsseldorf Anhänger mit einem Transparent der VV. Bei der Versammlung in OberrechtsextremIsmus 123 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 hausen hielt ein VV-Mitglied eine Rede und stellte die Bundesrepublik Deutschland als existenzielle Bedrohung dar: "Weil die BRD nicht Deutschland ist. Die BRD hasst die Deutschen. Da müsst ihr euch nicht wundern, wie das jetzt hier gerade alles passiert. Die wollen uns ausrotten." Teilnehmende mit Banner der Verfassunggebenden Versammlung am 4. Dezember 2022 in Düsseldorf Das Königreich Deutschland (KRD) versucht unter anderem unternehmerisch tätig zu sein und sich dabei außerhalb der Rechtsordnung zu stellen. 2022 führt es in seinem selbst so bezeichneten "Betriebsregister" einige wenige neu eingetragene Betriebe in Nordrhein-Westfalen auf. Dort ist unter anderem eine Kung-Fu-Schule namens "CAMPUS CONCEPT" eingetragen, welche ihren Sitz in Düsseldorf hat. Ebenso ist dieser Betrieb auf dem KRD-"Gemeinwohl-Online-Supermarkt" KadaRi (Kauf das Richtige) zu finden. Auf diesem Marktplatz soll man angeblich sowohl privat als auch unternehmerisch tätig sein und steuerfrei Waren und Dienstleistungen austauschen können. Der Flyer der Kung-Fu-Schule behauptet, dass es sich um einen Betrieb im KRD handele und man für die Dauer der Geschäftsbeziehungen eine temporäre Zugehörigkeit zum KRD besäße. Beide Betreiber des "CAMPUS CONCEPT" sind ebenfalls sogenannte "Vortragsredner" des KRD und halten Info-Seminare, unter anderem in Nordrhein-Westfalen, ab. Aus der 2018 gegründeten Reichsbürgergruppierung Bismarcks Erben entstanden 2019 die Substrukturen Ewiger Bund und Vaterländischer Hilfsdienst (VHD). Der 124 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 VHD war auch im Jahr 2022 in Nordrhein-Westfalen weiterhin sehr aktiv. So fanden regelmäßige Treffen, zu denen auch des Öfteren Kinder mitgenommen wurden, statt. Am 21. August 2022 beispielsweise trafen sich 30 Personen im Bergischen Land. Ein weiteres Treffen mit 23 sogenannten Hilfsdienstkräften fand am 23. Oktober 2022 in der Region Bielefeld statt. Die Vereinigung Geeinte deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) war auch nach ihrem bundesweiten Verbot im Jahr 2020 in NRW, wenn auch in geringem Umfang, wahrnehmbar. So wurde in einem Instant-Messaging-Dienst über die "Erhebung" von drei Gemeinden als "Hoheitsgebiet" nach dem von den GdVuSt reklamierten Naturund Bodenrechten berichtet. Am 23. November 2022 verurteilte die 1. Strafkammer des Landgerichts Lüneburg die 61-jährige weibliche Führungsfigur der GdVuSt unter anderem wegen Verstoßes gegen das Vereinigungsverbot zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Gegen das Urteil wurde Revision seitens der Angeklagten eingelegt. Die Justizopferhilfe (JOH) hat ihren Sitz 2022 nach Porta-Westfalica verlegt. Weiterhin unterstützt sie Menschen, die Verwaltungsstreitigkeiten mit Behörden haben, indem sie sie mit Argumenten der Reichsbürgerideologie berät. Darüber hinaus verbreitet sie Geschichtsrevisionismus und Verschwörungsmythen. Vielschreiber und Versammlungsteilnehmer Der Großteil der Reichsbürger und Selbstverwalter organisiert sich nicht in Strukturen, sondern handelt allein. Das betrifft vor allem die Schreiben an Kommunalbehörden, in denen Reichsbürger und Selbstverwalter absurde Forderungen erheben, und das Zahlen von Steuern und Gebühren verweigern. Darüber hinaus ist die Leugnung der Pandemie und die Ablehnung der Corona-Schutzmaßnahmen in der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter hoch anschlussfähig. So werden auf ihren Internetpräsenzen entsprechende Verschwörungsmythen verbreitet. Sie beteiligen sich nach wie vor am Protestgeschehen gegen die CoronaSchutzmaßnahmen. Ebenso wird das Protestgeschehen im Hinblick auf die hohen Energiekosten und die gestiegene Inflation vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine als Forum zur Verbreitung ihrer Ideologie genutzt. Bemerkenswert ist, dass die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter fast ausschließlich Positionen der russischen Regierung vertritt. rechtsextremIsmus 125 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Einschüchterung und Gewalt Reichsbürger und Selbstverwalter versuchen teilweise, Amtshandlungen der Beschäftigten von Kommunen, Justiz und Polizei digital zu dokumentieren. Auf diese Weise entstandene Videos und Audios werden unerlaubt im Internet verbreitet. Dabei wird das Material oft so zurechtgeschnitten, dass die Behördenmitarbeiter inkompetent oder überfordert wirken. Diese Strategie zielt darauf ab, die Bediensteten einzuschüchtern und sie künftig von ihrem Handeln abzuhalten. Im April 2022 wurden zwei Polizisten, die einem Schornsteinfeger Amtshilfe leisteten, von einer dem Reichsbürgerspektrum angehörigen Person bei Widerstandshandlungen verletzt. In einer einschlägigen Telegram-Gruppe wiederholte ein Nutzer mehrfach gewaltbefürwortende Kommentare. Zudem prahlte er damit, eine Machete hinter der Tür für die aus seiner Sicht "falschen Polizisten" und "Militärs" als "Willkommensgeschenk" bereitstehen zu haben. Als die Polizei seine Wohnung durchsuchte, fand sie unter anderem einen mit sechs Patronen geladenen Kleinkaliberrevolver und eine Machete. Bei der anschließenden Vernehmung tätigte er reichsbürgertypische Aussagen. Reichsbürger und Selbstverwalter verüben aber nicht nur situativ Gewalt, sondern ein kleiner Teil der Szene ist zudem bereit, Gewalt zur Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung einzusetzen. Sowohl bei der Gruppe S. als auch bei der im Dezember 2022 verhafteten Gruppe um Heinrich XIII P. R. beteiligten sich Reichsbürger an mutmaßlich terroristischen Vereinigungen, die planvoll Gewalt bis hin zum Mord einsetzen wollten, um einen Sturz des politischen Systems zu erreichen. Aufgrund der in der Szene verbreiteten Waffenaffinität sowie der Bereitschaft, Gewaltdelikte zu begehen, prüfen die zuständigen Waffenbehörden deshalb bei jedem bekannt gewordenen Anhänger der Reichsbürgerszene in Nordrhein-Westfalen den Entzug etwaiger Waffenerlaubnisse. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Reichsbürger und Selbstverwalter versuchen durch ihre Aktivitäten, eine sachgerechte Arbeit der Behörden zu behindern. Davon sind insbesondere die Kommunen betroffen. Dies schließt auch Einschüchterungsversuche und Gewalttaten gegen Beschäftigte von Behörden ein. 126 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter nehmen an den Protesten und Demonstrationen gegen die rasant gestiegenen Energieund Lebenshaltungskosten teil. Häufiges Feindbild sind dabei der demokratische Rechtsstaat und seine Repräsentanten. Feststellbar ist eine erheblich gestiegene Emotionalisierung und verbale Radikalisierung. Gewaltbefürwortende Kommentare, Widerstandshandlungen und der Fund illegaler Waffen führen dazu, dass der Verfassungsschutz die Reichsbürger und Selbstverwalter auch weiterhin als Bestrebung mit erheblichem Gefährdungspotenzial bewertet. rechtsextremIsmus 127 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Rechtsextremistische Mischszene Sitz/Verbreitung Schwerpunkte in Düsseldorf, Essen und Mönchengladbach Gründung/Bestehen seit seit Mitte der 2010er Jahre Struktur/ Repräsentanz Die jeweiligen Gruppierungen der rechtsextremistischen Mischszene bilden ein Netzwerk und treten in der Öffentlichkeit oftmals mit einem einheitlichen Erscheinungsbild durch gleichartige Kleidung auf. Die wichtigsten Gruppierungen sind beziehungsweise waren First Class Crew - Steeler Jungs und die Bruderschaft Deutschland. Weiterhin zählen beziehungsweise zählten zu dem Netzwerk der rechtsextremistischen Mischszene Kleinstgruppierungen wie Mönchengladbach steht auf, Pegida NRW, NRW stellt sich quer und Hooligans Europe United. Mitglieder/Anhänger/ circa 400\ Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Internetpräsenzen, soziale Medien Kurzporträt/Ziele Ausgehend von HoGeSa und PEGIDA Mitte der 2010er Jahre haben sich in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen Jahren mehrere Gruppierungen herausgebildet, die sich aus organisierten Rechtsextremisten, Angehörigen der Hooliganund Rockerszene sowie sogenannten Wutbürgern zusammensetzen. Sie sind miteinander vernetzt, unterstützen sich gegenseitig und agieren gemeinsam im öffentlichen Raum. Diese Mischszene hat sich rechtsextremistisch politisiert. 128 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Das verbindende Element bilden dabei Fremdenund Islamfeindlichkeit sowie das behauptete Versagen des Staates gegenüber der vermeintlichen Kriminalität von Migranten. Die First Class Crew - Steeler Jungs sind eine bürgerwehrähnliche Gruppierung, die im Essener Stadtteil Steele seit 2018 sogenannte "Spaziergänge" durchführt. Ziel dabei ist es, Präsenz im öffentlichen Raum zu zeigen, um eine vermeintliche Dominanz im Stadtviertel zu suggerieren und mit einem uniformierten Auftritt einschüchternd auf politische Gegner zu wirken und zu provozieren. Zum Umfeld der First Class Crew - Steeler Jungs gehören auch die Huttroper Jungs. Die Gruppierungen treten gemeinsam auf und haben eine weitgehend einheitliche Bekleidung. Bei der Bruderschaft Deutschland handelte es sich um eine bürgerwehrähnliche Gruppierung, deren Mitglieder überwiegend aus Düsseldorf stammten. Die Gruppierung beteiligte sich sichtbar an Versammlungen der rechtsextremistischen Mischszene. Für Frauen wurde eine Unterorganisation gegründet. Im Sommer 2022 löste sich die Bruderschaft Deutschland auf. Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die rechtsextremistische Mischszene propagiert fremdenund islamfeindliche Vorstellungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen. Zudem behauptet sie, der Staat komme seiner Schutzfunktion gegenüber den Bürgern nicht nach, um damit ein bürgerwehrähnliches Auftreten zu rechtfertigen, mit dem sie das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellt. Darüber hinaus vernetzt die Szene sich mit anderen rechtsextremistischen Gruppierungen. Ein Teil der Szeneangehörigen ist überdies gewaltbereit gegenüber Menschen, die sie zu angeblich feindlichen Gruppen zählt. Dazu gehören vor allem Migranten und als politisch links wahrgenommene Personen. Die rechtsextremistische Mischszene unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. rechtsextremIsmus 129 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Mehrere führende Akteure der rechtsextremistischen Mischszene reduzierten 2022 ihre Aktivitäten deutlich. Dies hing maßgeblich mit Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden zusammen. Führungsmitglieder der Bruderschaft Deutschland waren im Zuge der Ermittlungen gegen die Gruppe S., die derzeit vor dem Oberlandesgericht Stuttgart wegen der Bildung einer rechtsterroristischen Gruppierung angeklagt ist, unter Druck geraten. Der ehemalige Vizechef der Gruppierung wird in der Anklageschrift zur Gruppe S. namentlich erwähnt, weil er telefonischen Kontakt zu Mitgliedern der mutmaßlich terroristischen Gruppierung hatte. Weitere Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen des Handels mit Betäubungsmitteln und anderer Straftaten, gegen Führungspersonen und Mitglieder führten dazu, dass die Bruderschaft Deutschland ihre Aktivitäten zunächst zu Beginn des Jahres 2022 merklich einschränkte und schließlich einstellte. Im Sommer 2022 löste sich die Gruppierung selbst auf. Sie schaltete ihre Social-Media-Präsenzen ab und trat mit der Vereinskleidung öffentlich nicht mehr auf. Die Auflösung ist vor allem der länger schwelenden Führungskrise geschuldet. Zusammen mit der Bruderschaft Deutschland hat sich ebenfalls die zugehörige Frauenorganisation, die sich zunächst Schwesternschaft Deutschland und später Die Ruhrpott Uschis nannte, aufgelöst. Einige ehemalige Mitglieder der Bruderschaft Deutschland nehmen mittlerweile an Demonstrationen der Corona-Protestler-Szene teil oder sind in andere Szenen des Rechtsextremismus abgewandert. Insgesamt besaß die Bruderschaft Deutschland zu ihrem Höhepunkt ein Personenpotential von etwa 60 Personen. Mönchengladbach steht auf ist 2022 öffentlich nicht in Erscheinung getreten. Nachdem die Führungsperson Dominik Roeseler 2021 wegen Anstiftung zur Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung und wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, hat die Gruppierung ihre Aktivitäten eingestellt. Auch die First Class Crew - Steeler Jungs scheint ihre Hochphase hinter sich zu haben. Zum einen haben die Corona-Schutzmaßnahmen in den vergangenen Jahren die Handlungsmöglichkeiten der Gruppierung eingeschränkt. Zum anderen wirkte sich das Verbotsverfahren des Bundesministeriums des Innern und für Heimat gegen die Rockergruppierung "Bandidos MC Federation West Central" im Sommer 2021 auch auf die First Class Crew - Steeler Jungs aus. Deren Führungsperson war gleichzeitig auch Präsident der Untergruppierung "Bandidos MC Essen-East". Im Zuge des Ver130 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 botes durchsuchte die Polizei eine Gaststätte, die zugleich als Treffpunkt der Essener Rockergruppierung und der First Class Crew - Steeler Jungs fungierte. Des Weiteren führten Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppierung dazu, dass sich einige Mitglieder abwandten. 2022 führte die First Class Crew - Steeler Jungs wieder einige "Spaziergänge" durch Essen-Steele durch. Allerdings hat sich Quantität und Qualität dieser Aktionsform im Vergleich zur Hochphase der Gruppierung 2019 geändert. So beteiligten sich daran kaum mehr als ein Dutzend Personen. Der überwiegende Teil trug keine T-Shirts der Gruppierung mehr. Zudem fanden die "Spaziergänge" nicht zu einem festen Termin statt, so dass diese eher den Charakter eines kleinen "Flashmobs" hatten. Wie in früheren Jahren wurden keine Plakate oder Banner gezeigt und keine Reden gehalten. Öffentlich bedeutsam war ein Vorfall im Juli 2022. In unmittelbarer Nähe der Stammkneipe der Gruppierung liegt ein Kulturzentrum, in dem ein Seminar zur politischen Bildung für Jugendliche stattfand. Rund 50 Personen aus dem Umfeld der First Class Crew - Steeler Jungs sollen die Jugendlichen in den Abendstunden mit rassistischen Parolen beleidigt und bedroht haben. Die Ermittlungen dazu dauern an. Pegida NRW führte zu Beginn des Jahres 2022 Standkundgebungen am Duisburger Hauptbahnhof durch, auf denen Verschwörungsmythen Facebook-Aufruf zum "Pegida NRW - Marsch" in Duisburg in Zusammengang mit am 22. Januar 2022 rechtsextremIsmus 131 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 der Corona-Pandemie und nationalistische Ideologien verbreitet wurden. Allerdings gelang es Pegida NRW nur, eine kleine, zweistellige Zahl an Teilnehmern zu mobilisieren. Unterstützt wurde Pegida NRW von Angehörigen der neonazistischen Volksgemeinschaft Niederrhein und einzelnen Mitgliedern der Partei Die Rechte. Zudem führte Pegida NRW am 30. Juli 2022 eine Kleinstkundgebung mit einer Handvoll Teilnehmern auf der Insel Sylt durch. Vergeblich erhofften die Rechtsextremisten damit, überregionale Aufmerksamkeit zu erlangen. Am 9. November 2022 beteiligte sich die rechtsextremistische Kleinstgruppierung an einer Versammlung, die die Reichsbürgergruppierung Staatenlos.info vor dem Reichstag in Berlin organisierte. Dabei hielt die Führungsperson von Pegida NRW eine Rede. Im Kern vertritt die Gruppierung fremdenund islamfeindliche Positionen. So schreibt sie auf ihrer Facebook-Seite am 17. Juni 2022: "Hier ist ein Ur-Problem hier in Deutschland: viele Ausländer, vor allem stolze Muslime, vor allem Türken, können die kulturelle und menschliche Überlegenheit der Deutschen einfach nicht ertragen. Mit dem Faustrecht und Bandenknüpfung versuchen sie seit jeher, ihre Unterlegenheit zu kaschieren. Doch der Ursprung bleibt natürlich immer bestehen, es ist ja auch nicht ihr Land." Die Führungsperson der Kleinstgruppierung Hooligans Europe United führte am 4. Dezember 2022 eine Demonstration unter dem Motto "Ami go Home" in Düsseldorf durch, die am US-amerikanischen Generalkonsulat vorbeiführte. Die in der Spitze rund 60 Teilnehmer stammten aus verschiedenen rechtsextremistischen Gruppierungen. Dazu zählten neben Anhängern von Hooligans Europe United einzelne Personen der aufgelösten Bruderschaft Deutschland, von der First Class Crew - Steeler Jungs und von NRW stellt sich quer. Ferner beteiligte sich daran die Reichsbürgergruppierung Verfassunggebende Versammlung und die Gruppierung Corona Rebellen Düsseldorf aus dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates. Die Redner kritisierten die NATO, verbreiteten Antiamerikanismus und Narrative der Reichsbürger, wonach die Bundesrepublik lediglich ein Verwaltungskonstrukt der Alliierten sei. Bereits während der Demonstration verließen einige Personen die Veranstaltung. Später im Dezember 2022 gaben Hooligans Europe United ihre Auflösung bekannt. 132 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die rechtsextremistisch geprägte Mischszene in Nordrhein-Westfalen hatte 2022 durch die Auflösung der Bruderschaft Deutschland und die offensichtliche Schwächung der First Class Crew - Steeler Jungs einen spürbaren Rückgang des Personenpotentials und der Handlungsfähigkeit zu verzeichnen. Es bleibt abzuwarten, ob es der Szene gelingt, sich in den kommenden Jahren zu konsolidieren und den Verlust an Personen auszugleichen. Einige ehemalige Angehörige sind bereits in andere rechtsextremistische Szenen abgewandert. rechtsextremIsmus 133 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Rechtsextremistische Zeitschriften Im Rechtsextremismus dienen Zeitschriften als Meinungsund Informationssystem. Die Szene braucht sie, um gemeinsam aktionsund strategiefähig zu bleiben. Zudem schaffen sie die Möglichkeit der ideologischen Selbstvergewisserung. Diese Funktionen sind umso wichtiger, je mehr sich der Rechtsextremismus ausdifferenziert und von informellen Strukturen geprägt ist. Auch wenn Webseiten und vor allem die sozialen Medien den Printmedien weitgehend den Rang abgelaufen haben, ist es auffallend, dass Rechtsextremisten aus NRW seit 2016 mit dem Magazin N.S. Heute ein neueres Ideologieorgan und 2021 die rechtsextremistische Musikzeitschrift Rock Hate gründeten. Weiterhin stammt die rechtsextremistische Zeitschrift Unabhängige Nachrichten ebenfalls aus NRW und findet aufgrund ihrer jahrzehntelangen Geschichte Beachtung in der rechtsextremistischen Szene. N.S. Heute Die rechtsextremistische Zeitschrift N.S. Heute (Nationaler Sozialismus Heute) erscheint ungefähr im zweimonatlichen Rhythmus. Laut ihrer Webseite hat sie folgendes Selbstverständnis: "Die N.S. Heute ist eine Zeitschrift von Nationalisten für Nationalisten!" Als Autoren und Interviewpartner werden immer wieder Rechtsextremisten aus verschiedenen Organisationen und Szenen gewonnen. So fand sich in der Ausgabe Juli/August ein umfangreiches Interview mit dem NPD-Bundesvorsitzenden Frank Franz zur Reform der rechtsextremistischen Partei. In der Ausgabe September/Oktober verbreitete der Vorsitzende der Partei Die Rechte, Christian Worch, seine Ansichten zum Rechtsstaat. Die Finanzierung der Zeitschrift, die in einer Auflagenhöhe von 1.350 Exemplaren erscheint, erfolgt vor allem über Abonnements. Der Herausgeber, Sascha Krolzig, war im Berichtszeitraum zugleich Beisitzer im Bundesvorstand der Partei Die Rechte. Im Zusammenhang mit der Zeitschrift begann im November 2022 vor dem Landgericht Dortmund ein Prozess gegen ihn. Die Staatsanwaltschaft Dortmund sieht in der Zeitschrift die Straftatbestände der Volksverhetzung und des Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen verwirklicht. Das Strafverfahren war bei Redaktionsschluss noch nicht beendet. Krolzig veröffentlichte in der September/Oktober-Ausgabe einen Text, der aus einem von ihm geschriebenen Buch stammt. Darin beschwört er auf der Grundlage völkisch134 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 nationalistischer Ideologie Endzeitvisionen: "Unser Volk ist bedroht. Wir Deutschen sind heute in einem Ausmaß bedroht wie noch nie zuvor in der gesamten Geschichte unseres Volkes [...] In dem politischen Kampf, den wir heute führen müssen, geht es um unser Überleben als deutsches Volk, um unsere blanke Existenz." Solche Bedrohungskonstruktionen dienen letztlich auch zur Rechtfertigung von Gewalttaten. Unabhängige Nachrichten Seit 1969 erscheint bundesweit die Monatszeitschrift Unabhängige Nachrichten (UN), die vom Oberhausener Freundeskreis UN e.V. herausgegeben wird. Dass die deutsche Presselandschaft gleichgeschaltet sei und einseitig berichte, unterstellen die Herausgeber. Die UN versuchen, rechtsextremistischen Positionen Öffentlichkeit zu verschaffen. In der Januar-Ausgabe 2022 griffen sie beispielsweise die Corona-Pandemie auf, um rechtsextremistische Verschwörungsmythen zu verbreiten. Es hieß: "Das haben sich die politischen Strategen der 'Schönen Neuen Welt' aber mal ganz anders vorgestellt. Die 'Corona-Pandemie' sollte, vor allem in Europa, als 'Brandbeschleuniger' für den 'Great Reset' dienen [...]." Zudem verbreitet die Zeitschrift fremdenfeindliche Propaganda, indem Migranten wiederkehrend als Sündenböcke für zahlreiche politische Probleme dienen. So hieß es anlässlich der Veröffentlichung von Heft Nr. 6 im Begleittext auf dem Facebook-Profil: "Spätestens hier stellt sich die Frage, ob es Unwilligkeit oder Unfähigkeit ist, was die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Medien antreibt, Entscheidungen zu treffen, die an die kulturelle und wirtschaftliche Substanz unseres Landes gehen. [...] Die ungesteuerte Einschleusung von Millionen kulturfremder Menschen, die nicht nur zu einer Überfremdung Deutschlands beiträgt, sondern auch der arbeitenden Bevölkerung immense finanzielle Lasten aufbürdet." Rock Hate Das rechtsextremistische Musikmagazin Rock Hate aus NRW erscheint seit April 2021 und ist auf semi-professionellem Niveau gestaltet. Die Ausgaben 4 und 5 erschienen 2022. Im Vorwort der Ausgabe 4 erläutert der Herausgeber, das Print-Medium stärker zu politisieren: "[...] so wollen wir das Magazin ab jetzt etwas politischer gestalten. Musik ist wichtig, und nach wie vor die beste Propagandawaffe die wir haben. Doch wir dürfen die Politik und den Widerstand nicht vernachlässigen. Denn was unser Land dringender braucht als alles andere, sind überzeugte, politische Soldaten." In diesem Sinne gibt es beispielsweise ein Interview mit einem langjährigen Rechtsextremisten aus Ostwestfalen, der Einblicke in seine politische Biografie und Erfahrungen gibt. Neu ist auch eine Art Debattenteil, in dem jeweils ein Autor eine Probeziehungsweise eine Contra-Position vertritt, ob man mit der "Neuen Rechten" zusammenarbeiten solle. rechtsextremIsmus 135 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Rechtsterrorismus Im Jahr 2022 blieb die Bekämpfung des Rechtsterrorismus eine zentrale Aufgabe der Sicherheitsbehörden. Beim Rechtsterrorismus handelt es sich im strafrechtlichen Sinne um schwerwiegende rechtsextremistisch motivierte Gewaltdelikte, die im Rahmen eines nachhaltig geführten Kampfes durch arbeitsteilig organisierte und verdeckt operierende Gruppen planmäßig begangen werden. Auch wenn es sich bei Taten von allein handelnden Tätern nach der strafrechtlichen Definition nicht um Terrorismus handelt, werden diese hier in den Blick genommen. Denn diese Taten zielen wie Terrorismus darauf, Teile der Bevölkerung oder das demokratische Gemeinwesen in Gänze zu bedrohen. Mordanschläge und schwere Straftaten Rechtsextremisten nutzten insbesondere die Diskussion über den Flüchtlingszuzug seit dem Jahr 2015 zur Verbreitung ihrer Ideologie. Ein Teil der Szene hat sich in diesem Zuge radikalisiert, was sich auch in schweren Gewalttaten niederschlägt. Der Generalbundesanwalt erhob am 4. Oktober 2022 vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf Anklage gegen einen 16-jährigen Schüler, der verdächtigt wird, eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet zu haben. Er plante, am 13. Mai 2022 einen rechtsextremistisch motivierten Anschlag auf seine Schule zu begehen und Lehrer und Schüler zu töten. Seine Radikalisierung erfolgte mutmaßlich über rechtsextremistische Internetforen. Zudem informierte er sich über den Bau von Rohrbomben und beschaffte sich dafür wesentliche Materialen. Außerdem verfügte er über Messer, Macheten und Armbrüste, die er bei dem Anschlag nutzen wollte. Durch den Hinweis eines Mitschülers konnte die Polizei den Anschlag verhindern und ihn einen Tag vor dem geplanten Anschlag festnehmen. Der Generalbundesanwalt hat die Ermittlungen am 16. Mai 2022 wegen der besonderen Bedeutung des Falles an sich gezogen. Am 9. Dezember 2022 begann der Prozess vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Wegen des jugendlichen Alters des Angeklagten schloss das Gericht die Öffentlichkeit aus. 136 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Terrorismus Die Sicherheitsbehörden orientieren sich bei der Verwendung des Begriffs Terrorismus am Straftatbestand der Bildung einer terroristischen Vereinigung gemäß SS 129a Strafgesetzbuch. Seit dem 13. April 2021 läuft der Strafprozess gegen die Gruppe S. vor dem Oberlandesgericht Stuttgart. Acht Angeklagten wird die Gründung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, dreien die Beteiligung und einem die Unterstützung daran. Von den zwölf Beschuldigten stammen drei aus Nordrhein-Westfalen. Die Gruppe wollte durch Angriffe auf Moscheen und die Tötung oder Verletzung einer möglichst großen Anzahl dort anwesender muslimischer Gläubiger bürgerkriegsähnliche Zustände herbeiführen. Zudem wurde erwogen, gewaltsam gegen politisch Andersdenkende vorzugehen. In der Gruppe S. wirkten sowohl Rechtsextremisten als auch Reichsbürger zusammen. In Teilen der rechtsextremistischen Szene kursiert die sogenannte Siege-Ideologie. Diese geht zurück auf eine Textsammlung des US-amerikanischen Rechtsextremisten James Nolan Mason aus den 1980er Jahren. Neben der rechtsextremistischen Ideologie, wie zum Beispiel der Überlegenheit einer vermeintlichen "weißen Rasse", enthalten die Texte Anschlagsszenarien, mit denen ein Bürgerkrieg ausgelöst werden soll. Durch diesen sollen alle Menschen, die nicht dem rechtsextremistischen Weltbild entsprechen, getötet werden. Dazu zählen unter anderem Juden und Muslime. Auf die Siege-Ideologie bezieht sich unter anderem die sogenannte Atomwaffen Division (AWD). Eine daran angelehnte Atomwaffen Division Hessen beabsichtigte Marvin E. ab Sommer 2021 zu gründen, die dann später Anschläge mit Sprengsätzen und Schusswaffen begehen sollte. Dazu traf er Vorbereitungshandlungen und wurde am 16. September 2021 festgenommen. Die Bundesanwaltschaft hat am 31. März 2022 vor dem Staatschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main Anklage gegen ihn erhoben. Die Polizei nahm am 13. April 2022 vier Personen in mehreren Bundesländern fest, die weitgehend dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzuordnen sind. Diese werden verdächtigt, eine terroristische Vereinigung gegründet, beziehungsweise sich als Mitglieder betätigt zu haben. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, in Deutschland bürgerkriegsähnliche Zustände auszulösen, um den Sturz der Bundesregierung und der parlamentarischen Demokratie herbeizuführen. Dazu plante die Gruppe, einen bundesweiten "Black Out" durch Beschädigung oder rechtsextremIsmus 137 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Zerstörung von Einrichtungen zur Stromversorgung auszulösen. Außerdem sollte der Bundesminister für Gesundheit entführt werden, die Tötung seiner Personenschützer kalkulierten die Beschuldigten dabei ein. Am 13. Oktober 2022 nahm die Polizei eine weitere Person in Sachsen in Haft. Die 75-jährige wird verdächtigt, sich als Rädelsführerin betätigt zu haben. Ideologisch ist sie der Reichsbürgerszene zuzurechnen. Am 7. Dezember 2022 ließ die Bundesanwaltschaft 22 mutmaßliche Mitglieder sowie drei mutmaßliche Unterstützter einer terroristischen Vereinigung festnehmen. Darüber hinaus fanden Durchsuchungen bei weiteren 27 Beschuldigten sowie nicht tatverdächtigen Personen statt. In Nordrhein-Westfalen gab es eine Durchsuchung bei einer Beschuldigten, einer Polizeibeamtin, sowie einer nicht tatverdächtigen Person. Die Beschuldigten sind dringend verdächtig, sich in einer inländischen terroristischen Vereinigung betätigt zu haben. Diese im Jahre 2021 gegründete terroristische Vereinigung habe sich laut Bundesanwaltschaft zum Ziel gesetzt, die bestehende staatliche Ordnung in Deutschland zu zerstören. Stattdessen wollte die Gruppierung eine eigene Staatsform schaffen, die in Grundzügen bereits ausgearbeitet war. Das Vorhaben sollte mit dem Einsatz militärischer Mittel und Gewalt gegen staatliche Repräsentanten verwirklicht werden. Hierzu zählte auch die Begehung von Tötungsdelikten. Seit Ende 2021 intensivierte die Gruppe entsprechende Vorbereitungshandlungen. Dazu zählt unter anderem die Beschaffung von Ausrüstung und die Durchführung von Schießtrainings. Zudem bemühte man sich um die Rekrutierung von Angehörigen der Bundeswehr und der Polizei. Innerhalb der Gruppe versuchte man sich organisatorisch auf den Systemsturz vorzubereiten. Zentrales Gremium war der "Rat" mit Heinrich XIII P. R. an der Spitze. Er war als zukünftiges Staatsoberhaupt vorgesehen. Des Weiteren entwickelte die Gruppierung eine regierungsähnliche Struktur mit verschiedenen Ressorts. Daneben hatte man als weitere Struktur einen "militärischen Arm" geschaffen. Diesem gehörten zum Teil Personen an, die in der Vergangenheit Dienst in der Bundeswehr geleistet hatten. Der "militärische Arm" sollte militärisch organisiert und bewaffnet Verbände aufbauen, die als "Heimatschutzkompanien" bezeichnet wurden. Ideologisch dominierten verschiedene Verschwörungsmythen in der Gruppierung. Insbesondere Narrative der Reichsbürger und von QAnon spielten eine relevante Rolle. In der Gruppe herrschte die Auffassung, dass Angehörige eines "Deep State" Deutschland regieren würden. Außerdem war man überzeugt, dass es eine "Allianz" geben würde. Diese sei ein Geheimbund, dem Regierungen, Nachrichtendienste und Militärs anderer Staaten, auch von Russland, angehören würden. Diese "Allianz" würde einen Angriff auf den "Deep State" vorbereiten. Die mutmaßlich terroristische Gruppierung beabsichtigte, in dem Fall des Angriffs der "Allianz" mit einem Netz von "Heimat138 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 schutzkompanien" die verbleibenden Institutionen zu bekämpfen und die Macht zu übernehmen. Die gewaltsamen Aktivitäten sollten durch den "militärischen Arm" der Gruppe durchgeführt werden. Für das Ziel des "Systemwechsels auf allen Ebenen" wurde die Tötung von Menschen in Kauf genommen. Ferner besteht der Verdacht, dass einzelne Mitglieder der Gruppierung konkrete Vorbereitungen getroffen haben, mit einer kleinen bewaffneten Gruppe gewaltsam in den Deutschen Bundestag einzudringen. Bei den Durchsuchungen fand die Polizei in 17 Objekten Waffen beziehungsweise Munition. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die begangenen oder geplanten schweren Straftaten verdeutlichen die Gefahr rechtsterroristischer Potenziale. Dabei hat sich die Bandbreite der Tätertypen vergrößert. Rechtsterroristische Ansätze lassen sich immer weniger einem bestimmten rechtsextremistischen Akteur oder einer Szene zuordnen. Ein Teil der identifizierten Tatverdächtigen ist zuvor kaum oder überhaupt nicht durch rechtsextremistische Aktivitäten und Straftaten aufgefallen. Fremdenfeindlichkeit bleibt zwar für schwere Straftaten bis hin zum Rechtsterrorismus das wichtigste Tatmotiv, allerdings verfügen die Täter eher selten über ein gefestigtes umfassendes rechtsextremistisches Weltbild. Stattdessen dominieren diffuse Feindbilder, die die Täter mithilfe von rechtsextremistischen Onlinediskursen individuell entwickeln und dabei verschiedene Diskursstränge kombinieren. Das Zusammenwirken von Rechtextremisten, Reichsbürgern und Delegitimierern in terroristischen Gruppierungen zeigt, dass sich Teile der verschiedenen extremistischen Szenen gleichsam im Widerstand sehen und deshalb schwere Gewalttaten als notwendig und gerechtfertigt erachten. Zumindest in diesen terroristischen Gruppen verlieren die ideologischen Differenzen an Bedeutung. Wie die Fälle Jeremy R., Gruppe S. und die Reichsbürger-Gruppierung um Heinrich XIII P. R. zeigen, ist nicht auszuschließen, dass auch in Nordrhein-Westfalen extremistische Akteure schwerste Straftaten planen. Deswegen bleibt der Verfassungsschutz in dieser Hinsicht besonders wachsam und arbeitet eng mit anderen Sicherheitsbehörden zusammen. rechtsextremIsmus 139 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Rechtsextremismus im Internet Der virtuelle Raum mit seinen Möglichkeiten steht mittlerweile im Zentrum der rechtsextremistischen Propaganda und des gegenseitigen Austausches. Seine Nutzung hat die rechtsextremistische Szene erheblich verändert. Die Einschränkungen während der Corona-Pandemie trieben diese Entwicklung weiter voran. Plattform Trends In den vergangenen Jahren hat sich Telegram zur beliebtesten Internet-Plattform für Extremisten entwickelt. Ausschlaggebend war neben der Funktionalität auch, dass die Betreiber Inhalte nicht gelöscht und zudem nicht mit Strafverfolgungsbehörden zusammengearbeitet haben. Im Laufe des Jahres 2022 haben die Verantwortlichen von Telegram ihre Politik geändert und in einigen wenigen Fällen auch Daten an deutsche Strafverfolgungsbehörden geliefert. Dies ist in der rechtsextremistischen Szene auf große Resonanz gestoßen. Auf ihrem Telegram-Kanal schreibt die Jugendorganisation der NPD, die Jungen Nationalisten: "Telegram ist auf demselben Weg wie Facebook. Kritische und vertrauliche Informationen sollten keineswegs über Kanäle geteilt werden, die mit den Behörden in diesem Ausmaß kooperieren." Ähnlich bewertete das zur Reichsbürgergruppierung Verfassunggebende Versammlung gehörende ddbradio die Änderung der Unternehmenspolitik von Telegram in einem Beitrag vom 26. Oktober 2022: "Auch das bislang noch vermeintlich unbedenkliche Telegram wird dank massiver staatlicher Bedrängung [...] zunehmend auf Linie gebracht und gerät zunehmend ins Visier der 'Gesinnungs-Gestapo' des Linksstaats." Trotz der vielstimmigen Kritik ist aber bislang kein Trend auszumachen, dass Rechtsextremisten und Reichsbürger nun verstärkt von Telegram zu einer anderen Plattform wechseln. Dass Elon Musk im Oktober 2022 den Kurznachrichtendienst Twitter übernahm und die Löschpolitik des Unternehmens stark zurücknahm, findet in der rechtsextremistischen Szene eine positive Resonanz. Hiermit verbinden Rechtsextremisten die Erwartung, nun ihre Botschaften wieder über eine reichweitenstarke Plattform ungehindert verbreiten zu können. So wurde am 5. Dezember 2022 der Telegram-Kanal "Twitterreconquista" erstellt, auf dem folgender Aufruf erschien: "Hier organisieren wir die Stärkung patriotischer Ideen und Konten auf Twitter. Da die Zensur auf der Plattform derzeit merklich nachgelassen hat gibt es wieder Möglichkeiten. Ziel ist: Ein Netz patriotischer Kanäle aufzubauen und zu stärken, die sich gegenseitig pushen und 140 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 somit Löschungen austarieren können. Dann bestimmte Tweets und Hashtags zu stärken und zu verbreiten, allen voran #remigration und #bevölkerungsaustausch." Unter anderem riefen rechtsextremistische Akteure verschiedentlich dazu auf, auch die 2021 neue gegründete Social-Media-Plattform Gettr zu nutzen. Diese richtet sich vor allem an diejenigen, die auf den etablierten Plattformen gelöscht oder gesperrt wurden. So äußerte sich Martin Sellner, Vordenker der Identitären Bewegung, auf seinem Telegram-Kanal zur von Elon Musk angekündigten Twitter-Amnestie folgendermaßen: "Sollte ich aber echt reaktiviert werden, werde ich Twitter intensiver nutzen. Vor ALLEM aber um Leute von dort auf Telegram und Gettr zur bringen. Denn ich traue dem Braten nicht." Jedoch hat diese Plattform weiterhin eine randständige Bedeutung für die rechtsextremistische Szene. Digitale Spiele und virtuelle "Bildung" Der rechtsextremistische Spieleentwickler Kvltgames brachte 2020 mit dem rechtsextremistischen Verein Ein Prozent e.V. das 2D-Jump 'n' Run Computerspiel "Heimat Defender Rebellion" heraus. Seitdem veranstaltet er für computerbzw. spieleaffine Rechtsextremisten sogenannte "Jams", auf denen einfache Spiele entwickelt werden. 2022 fanden zwei solcher "Jams" statt. Im Anschluss wurden die Spiele auf der Beitrag zur "Heimat Jam" auf der Homepage von Kvltgames vom 23. Oktober 2022 rechtsextremIsmus 141 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Webseite von Kvltgames kostenlos zum Download bereitgestellt. Mit den Spielen versucht man politische Botschaften über unterhaltende Inhalte zu transportieren und insbesondere rechtsextremistische Freund-Feind-Bilder zu verbreiten. So lautet beispielsweise die Beschreibung zu einem Spiel: "Stelle dich auf die Seite der missverstandenen reaktionären Mondmenschen und führe den Verteidigungskampf gegen die progressiven Erdlinge. Kannst du den woken Bessermenschen standhalten?" Seminarübersicht auf der Homepage von "Gegenuni" Seit Juli 2021 versuchen Akteure aus der rechtsextremistischen Strömung der "Neuen Rechten" mit dem Projekt Gegenuni eine Art virtuelle Bildungseinrichtung zu betreiben. Die Gegenuni versteht sich als Gegenentwurf zu regulären Universitäten, die angeblich fest in linker und liberaler Hand seien. Auf vermeintlich professioneller Ebene sollen online Lerninhalte und rechtsextremistische Ideologien vermittelt werden, die durch die "Studenten" auf lange Sicht in ihre Freundesund Bekanntenkreise weitergegeben werden sollen. Inzwischen hat sich das Projekt verstetigt und der Kanon der angebotenen Online-Seminare vergrößert. 142 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Videopodcasts Videoplattformen stellen für die rechtsextremistische Szene ein attraktives Propagandainstrument dar. So betreibt Alexander Deptolla, im Berichtszeitraum Landesvorsitzender der Partei Die Rechte, seit Februar 2022 den Videopodcast "Wie gesagt". Darin bespricht er mit Angehörigen unterschiedlicher rechtsextremistischer Organisationen Themen, die für die Szeneöffentlichkeit interessant sind. Beispielsweise interviewte er im Oktober 2022 den rechtsextremistischen Musiker Michael Regener zu seinen Szeneerfahrungen Ende der 1980er Jahre in der DDR und Anfang der 1990er Jahre in der wiedervereinigten Bundesrepublik. Da sich der Podcast mit seinen Inhalten und Protagonisten auf das rechtsextremistische Spektrum beschränkt, ist seine Reichweite begrenzt. So erzielen seine Videos eine vierstellige Zahl an Abrufen. Bereits seit einigen Jahren betreibt der rechtsextremistische Musiker und Publizist Frank Krämer einen Videopodcast, den er unter dem Namen "Der dritte Blickwinkel" sowie "Frank im Gespräch" auf YouTube und anderen Plattformen veröffentlicht. Beispielsweise führte er im Dezember 2022 ein Interview mit der ehemaligen Führungsperson der Identitären Bewegung in Nordrhein-Westfalen, der inzwischen unter dem Künstlernamen Proto als rechtsextremistischer Musiker auftritt. Letzterer beklagt sich, dass Spotify seine Musik nicht mehr verbreitet. Mit seinen Videos erreicht er meistens eine vierstellige Zahl an Aufrufen. Der Rechtsextremist Kevin G. ist mit seinem YouTube-Kanal ein Szenechronist des Demonstrationsgeschehens von Rechtsextremisten und Delegitimierern. Mit seinen mitunter stundenlangen Live-Streams dokumentiert er zahlreiche Szeneveranstaltungen und versucht damit, auch Online eine Öffentlichkeit herzustellen und dem extremistischen Anliegen eine größere Resonanz zu verschaffen. Aufgrund der schlichten Machart erfährt sein Kanal in der Regel nur eine geringe Resonanz. Nur in wenigen Fällen erzielen seine Videos mehr als eine dreistellige Zahl an Aufrufen. Protestkarte Auch im Internet bemühten sich Rechtsextremisten, Proteste gegen die Regierungspolitik zu unterstützen und zu radikalisieren. Ehemalige Aktivisten und Unterstützer der Identitären Bewegung gründeten das "Filmkunstkollektiv e. V." und veröffentlichten zu Beginn des Jahres 2022 eine Webseite mit einer sogenannten "Protestkarte", auf der Protestversammlungen mit Datum, Uhrzeit und Treffpunkt angekündigt werden. Neu an dieser Darstellung des Protestgeschehens ist die Möglichkeit der Verlinkung von Bildund Videomaterial im Nachgang zu einer entsprechenden VerrechtsextremIsmus 143 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 anstaltung - dargestellt mit einem Kamerasymbol auf der Karte. Davon erhofft man sich, eine größere Öffentlichkeit als über die lokale Präsenz zu erreichen. Hasskriminalität und Strafverfolgung Eine besondere Bedeutung kommt dem Internet im Bereich der Hasskriminalität zu. Die Palette von strafrechtlich relevanten Inhalten erstreckt sich dabei von Volksverhetzung, Beleidigungen bis hin zu Bedrohungen und dem Aufruf zu Straftaten. Dies geschieht beispielsweise über die Veröffentlichung sogenannter "schwarzer Listen" im Internet, dem Verschicken von Drohmails oder dem Veröffentlichen entsprechender Posts in Social-Media-Gruppen. Auch wenn die Strafverfolgung bei Straftaten im Internet schwierig ist und Täter mit Anonymisierungstools versuchen ihre Identität verschleiern, konnten die Sicherheitsbehörden einige Erfolge verzeichnen. Im Jahr 2020 erfolgten Exekutivmaßnahmen und die Inhaftierung der drei Rädelsführer der Goyim Partei Deutschland (GPD). Bei der GPD handelte es sich nicht um eine Partei, sondern um eine Gruppe auf der russischen Plattform "vk.com", die massive antisemitische Hetze verbreitete. Darunter befanden sich vielfach Aufrufe zur Tötung von Juden. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte am 27. Mai 2022 die drei Hauptverantwortlichen wegen Gründung und Führung einer kriminellen Vereinigung sowie Volksverhetzung zu Freiheitsstrafen zwischen zwei und fünf Jahren. In einigen Fällen konnten auch einzelne Nutzer ermittelt werden, die strafbare Inhalte verbreitet hatten. Beispielsweise verurteilte die Justiz im Juni 2022 eine Person aus Mehrhoog, die in einer Telegram-Gruppe mit dem Namen "Bananenrepublik BRD" 2019 den Holocaust geleugnet hatte, zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen. Die Polizei führte im Frühjahr und im Hernst 2022 jeweils einen bundesweiten "Aktionstag Hasspostings" durch, bei dem man in einer konzertierten Aktion, entsprechende Tatverdächtige aufsuchte. In Nordrhein-Westfalen vollstreckte die Polizei im März 15 und im November neun Durchsuchungsbeschlüsse, wobei sie eine Vielzahl an Smartphones und Laptops sicherstellte. Um im Netz keinen rechtsfreien Raum zuzulassen, haben sich in Nordrhein-Westfalen die Landesanstalt für Medien, das Landeskriminalamt (LKA), die Zentralund Ansprechstelle Cybercrime der Staatsanwaltschaft NRW (ZAC NRW) sowie einzelne Medienhäuser zusammengeschlossen. Unter dem Motto "Verfolgen statt nur Löschen" wollen sie ein Zeichen gegen Rechtlosigkeit und Rücksichtslosigkeit im Netz setzen. 144 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Seit Projektbeginn 2018 bis Ende 2022 wurden im Rahmen der Initiative 1.134 Ermittlungsverfahren eingeleitet und 419 Beschuldigte ermittelt. rechtsextremIsmus 145 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 146 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Demokratiefeindliche und/oder Sonderkategorie sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates demokratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates 147 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Demokratiefeindliche und/ oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates Sitz/Verbreitung Landesweite Verteilung mit regionalen Schwerpunkten Gründung/Bestehen seit 2020 im Zuge der Corona-Pandemie Struktur/ Repräsentanz Überwiegend lose strukturierte lokale Gruppen; teilweise Akteure, die alleine oder in Kleingruppen agieren; zunehmende Verlagerung in die sozialen Medien Mitglieder/Anhänger/ Circa 300 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Soziale Medien, insbesondere Telegram-Kanäle Kurzporträt/Ziele Aufgrund der Corona-Pandemie seit Anfang 2020 mussten die Regierungen in Bund und Ländern zahlreiche Schutzmaßnahmen beschließen, die auch Einschränkungen für die Bürgerinnen und Bürger beinhalteten. Gegen den politischen Umgang mit der Pandemie hat sich ein Protestgeschehen entwickelt, das von Heterogenität und Fluktuation geprägt ist. Die Proteste schlagen sich vor allem in Versammlungen und in sozialen Medien nieder. Mittlerweile hat sich ein Wandel von den anfänglichen Themen der Corona-Pandemie hin zu allgemeinen gesellschaftspolitischen Themen vollzogen. Teile dieser Bewegung gehen allerdings über legitimen Protest gegen das Regierungshandeln hinaus und verfolgen eine systemfeindliche Agenda. Dabei geht es darum, die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zu delegitimieren und Gewalt zur Durchsetzung der eigenen politischen Auffassungen 148 demokratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 zu propagieren. Dieser Teil der Protestbewegung wird vom Verfassungsschutz als demokratiefeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebung beobachtet. Finanzierung Schenkungen, Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen hat im Frühjahr 2021 den Phänomenbereich verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates eingerichtet. Mit der weltweiten Corona-Pandemie seit März 2020 hat sich seit nunmehr drei Jahren ein Protestgeschehen etabliert, das von Heterogenität und Fluktuation geprägt ist. Politischer Protest gegen die Regierungspolitik gehört zum Wesen der freiheitlichen Demokratie. In Teilen gehen diese Proteste jedoch über legitimen Protest gegen Regierungshandeln hinaus. Dies äußert sich in der systematischen Verbreitung von Verschwörungsmythen und Desinformation, der Diffamierung rechtsstaatlicher und demokratischer Prozesse und Akteure sowie Aufrufen zu Straftaten beziehungsweise der Legitimation von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen politischen Auffassungen. Dieser Teil der Protestbewegung, der eine Delegitimierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Ziel betreibt, diese letztlich abzuschaffen, unterliegt deshalb als Beobachtungsobjekt Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Das bedeutet zugleich, dass der Großteil der Protestbewegung nicht beobachtet wird. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Ursprünglich als Protest gegen die Corona-Schutzmaßnahmen der Regierung angefangen, hat sich der demokratiefeindliche Teil der Szene seit 2021 zunehmend in eine eigenständige Bewegung mit einem breiten Spektrum politischer Themen entwickelt. Statt des Protestes gegen einzelne politische Entscheidungen ging es zunehmend um ein generelles "Dagegen sein". Der Begriff "Corona-Protestszene" ist daher mittlerweile überholt. Mit der weitgehenden Abschaffung der Corona-Schutzmaßnahmen weitete sich die Themenpalette. Man protestierte nun unter anderem gegen die Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Klimawandel oder gegen gestiegene Energiekosten. Durch eine emotionalisierte Darstellung versuchte man, die breite Öffentlichkeit anzusprechen. Auch den am 24. Februar 2022 begonnenen russidemokratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates 149 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 schen Angriffskrieg gegen die Ukraine thematisierte diese Protestszene, wobei sie vor allem die Reaktion der deutschen Regierung darauf kritisierte. Die Struktur der Protestszene ist heterogen und in einem steten Wandel begriffen. Seit Mitte 2022 ist nur noch ein "harter Kern" der ursprünglichen Protestszene aktiv. Mit dieser Konzentration ging eine Radikalisierung einher, wodurch sich die Anschlussfähigkeit für Rechtsextremisten sowie Reichsbürger und Selbstverwalter erhöhte. Exemplarisch dafür steht die Demonstration der Gruppierung "NRW Erwacht" im November 2022 in Düsseldorf, an der mehr als ein Dutzend Rechtsextremisten teilnahmen. Auch in 2022 bildeten Verschwörungsmythen und Desinformationen weiterhin ein tragendes Element der Delegitimierer. Ideologisches Zugpferd waren dabei die wiederkehrenden Narrative eines "Great Reset" und einer "New World Order". In diesen Verschwörungsmythen wird behauptet, dass eine korrupte Elite sich heimlich abgesprochen habe, die Weltbevölkerung zu unterjochen, um die eigenen wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen durchzusetzen. WiederAuf einem Telegram-Channel der Delegitimierer-Szene werden Verschwörungsmythen mit Bezug zum Unternehmer Bill Gates verbreitet 150 demokratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 kehrend finden sich in diesen Erzählungen antisemitische Versatzstücke. Haupttäter sind in diesen Verschwörungsmythen größtenteils jüdische Politiker und Unternehmer. Mangelnde Abgrenzung gegenüber Rechtsextremisten und Reichsbürgern Das Protestgeschehen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen war weiterhin heterogen und unterschied sich von Ort zu Ort. Gelegentlich fand eine Abgrenzung von Rechtsextremisten statt. Oftmals war aber unklar, wie das Verhältnis der Organisatoren zu Rechtsextremisten ist. So gehörten teilweise Rechtsextremisten einzeln oder in Kleingruppen zur Teilnehmerschaft von Protestkundgebungen, ohne dass sie sichtbare Banner trugen und einen öffentlich wahrnehmbaren Einfluss ausübten. In anderen Fällen schien das offene Auftreten von Rechtsextremisten den Organisatoren und Teilnehmern von Protestkundgebungen dagegen eine willkommene Verstärkung zu sein. Beispielsweise nahmen in Remscheid wiederholt 20 bis 30 Rechtsextremisten an den Demonstrationen mit bis zu 300 Teilnehmern teil. In Oberhausen beteiligte sich mehrfach die Reichsbürgergruppierung Verfassunggebende Versammlung mit eigenem Banner an den Kundgebungen. Einen maßgeblichen steuernden Einfluss hatte, wie im Jahr 2021, die rechtsextremistische Gruppierung Aufbruch Leverkusen e.V., welche in Leverkusen Protest-Versammlungen gegen die CoronaSchutzmaßnahmen organisierte. In Ostwestfalen-Lippe meldete ein Angehöriger der dortigen völkischen Szene mehrfach Kleinstversammlungen an, um gegen die CoronaPolitik zu demonstrieren. Multiplikatoren Ein relevanter Multiplikator in der Szene der Delegitimierer ist der aus Ostwestfalen stammende Matthäus W., der sogenannte "Aktivist-Mann". Durch seine Live-Berichterstattung zur Besetzung der Reichstagstreppen am 29. August 2020 wurde er überregional bekannt. Während sein Schwerpunkt anfänglich darauf lag, die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen über Social-Media zu verbreiten, unterhält er mittlerweile Kontakte in weite Bereiche der Delegitimierungsund rechtsextremistischen Szene. Er arbeitete unter anderem mit dem rechtsextremistischen Social-Media-Aktivisten Der Volkslehrer zusammen und nahm mit dem Sänger der Rechtsrockband Kategorie C ein Musikvideo auf. Auf seinem Telegramkanal mit rund 32.000 Abonnenten veröffentlicht er fast täglich Beiträge und Videos. Im Februar 2022 veröffentlichte er ein Video, in dem er sich vor der privaten Wohnung des Bundesgesundheitsministers Prof. Dr. Karl Lauterbach filmte. demokratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates 151 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Darüber hinaus reiste er mehrfach im Zusammenhang mit dem Tod von Queen Elizabeth II. nach London und verbreitete in seinen Beiträgen aus London verschwörungsmythische sowie rassistische Narrative, teils auf ironische Art und Weise. Darüber hinaus hat sich der "Aktivist-Mann" 2022 international mit Aktivisten der Verschwörungsszene aus Großbritannien und Kanada vernetzt. An Matthäus W. zeigt sich beispielhaft die Entgrenzung zwischen den Narrativen von Verschwörungsmystikern, Reichsbürgern, Rechtsextremisten und Delegitimierern. Seine Bekanntheit und die Unterstützung, die er erfuhr, zeigen des Weiteren, dass die Akzeptanz von extremistischen Narrativen im Protestmilieu gestiegen ist, mindestens aber geduldet wird. Russischer Überfall auf die Ukraine 2022 Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 wurden auf Telegram-Kanälen aus der Delegitimierer-Szene Videos und Bilder von Gefechten und Angriffen der russischen Streitkräfte veröffentlicht und pro-russisch kommentiert. Im Zentrum stand dabei das Narrativ, dass die NATO Russland zu diesem Schritt über Jahre hinweg provoziert hätte. Russland hätte demnach keinen anderen Ausweg gehabt, um dieser Bedrohung durch "den Westen" zu entgegnen. Der russische Präsident Putin ist in der Vergangenheit innerhalb dieses Milieus immer als ein "wahrer Anführer" dargestellt worden, einer, der die Interessen seines Landes zu schützen vermag. In der Hochzeit der Corona-Pandemie war diese pro-russische Haltung deutlich auch bei der Entwicklung von Impfstoffen zu erkennen. Sogar unter expliziten Impfgegnern herrschte eine gewisse Offenheit gegenüber dem russischen Impfstoff "Sputnik-V". Kommentar im Telegram-Kanal der Corona Rebellen Düsseldorf kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 152 demokratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Einige Akteure der Delegitimierer-Szene gingen dabei noch weiter und verbreiteten Verschwörungsmythen, um das Verhalten Russlands zu rechtfertigen. So behaupteten einige Kommentatoren im Telegram-Kanal der Corona Rebellen Düsseldorf, dass der Krieg dazu diene, einen sogenannten "Great Reset" vorzubereiten. Einschüchterung und Straftaten Einhergehend mit einer Radikalisierung von Teilen der Protestszene entwickelte sich bei den betreffenden Akteuren ein Schwarz-Weiß-Denken, bei dem die Meinungsgegner als Feinde angesehen werden. Dies schlug sich darin nieder, dass Politiker, aber auch Wissenschaftler und Journalisten als Verbrecher dargestellt wurden. Beispielhaft sei auf einen Text einer Führungsperson der Gruppierung Freie Düsseldorfer vom 7. September 2022 verwiesen, in dem die Feinderklärung in Widerstandsrhetorik mündete: "Es können sich immer mehr Bürger des fatalen Eindrucks nicht erwehren: Der charakterliche, korrupte und kriminelle Abschaum unseres Landes akkumuliert sich primär in Politik und Medien. Wir lassen uns von den herrschenden kriminellen Delegitimierern unserer früheren freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung nicht weiter einschüchtern und bedrohen. Die letzte legale Stufe des gebotenen Widerstandes gegen die Versklavung des Volkes durch die außer Kontrolle geratene Verbrecherkaste ist Artikel 20 Absatz 4 unseres Grundgesetzes." Diese Entwicklung geschah sowohl in der Anonymität des Internets in zahlreichen Telegram-Gruppen als auch realweltlich. Beispielsweise wurden im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2022 Veranstaltungen wiederholt als Agitationsbühne für Störaktionen genutzt. Neben anhaltenden Zwischenrufen erfolgten vereinzelt auch tätliche Angriffe. So konnte ein Eier-Wurf sowie ein Faustschlag auf den SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert bei einer Wahlkampfveranstaltung im April 2022 in Detmold im letzten Moment verhindert werden. An der Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 1. Mai 2022 in Düsseldorf mit Bundeskanzler Olaf Scholz nahmen auch Personen aus der Delegitimierer-Szene teil, die auf Plakaten die Verhaftung des Bundeskanzlers forderten. Es konnte zudem eine zunehmende Aggressivität im gesprochenen oder im geschriebenen Wort festgestellt werden. Vermehrt wurden Umsturzgedanken formuliert und zu Gewalt aufgerufen. Im Rahmen eines Montagsspaziergangs in Lünen im März 2022, bei dem auch bekannte Rechtsextremisten anwesend waren, rief eine Person während ihrer Rede mehrfach zum Sturz der Regierung auf. In Bezug auf den UkrainedemokratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates 153 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Krieg und damit einhergehenden steigenden Energiekosten hieß es: "(...) bevor wir uns gegen Russland wenden, müssen wir unsere eigene Regierung erst einmal beenden". Auch mit Flyern oder Handzetteln wurde zum Kampf gegen führende Politiker, Einrichtungen und Staatsbedienstete aufgerufen. Ein Beispiel ist ein Flyer der zuerst im Telegram-Kanal der Gruppierung "Baunatal ist wach" am 30. Dezember 2021 gepostet wurde. Der ungenannte Autor des Flyers mit dem Titel "Kampfansage" sprach explizite Drohungen gegen die zuvor genannten Gruppen aus. In Nordrhein-Westfalen wurde der Flyer an Fenstern einer Schule in Langenfeld am 12. September 2022 angebracht. Außerdem mehrten sich die Bedrohungen von Amtsund Mandatsträgern. Die Anfeindungen richteten sich aber ebenfalls gegen Privatpersonen. So kursierten im Januar 2022 in Telegramkanälen Aufrufe, Kinderimpfaktionen in Arztpraxen zu stören. Dabei wurden konkrete Orte und Daten veröffentlicht. An verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen wurden vor Praxen Grablichter aufgestellt, um die Ärztinnen und Ärzte hinsichtlich der Corona-Schutzimpfungen einzuschüchtern. Nach wie vor war und ist vor allem der Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach vielfach Anfeindungen ausgesetzt. Das Spektrum der Einschüchterungsversuche umfasste Drohungen per E-Mail, eine Kundgebung vor seiner privaten Wohnung, eine Sachbeschädigung an seinem Auto und das Einwerfen einer Fensterscheibe seines Kölner Bundestagsbüros. Eine bundesweite Gruppe, die mehrheitlich den Delegitimierern zugerechnet wird, ließ der Generalbundesanwalt im April durch die Polizei festnehmen, weil sie verdächtigt wurde, eine terroristische Vereinigung gegründet zu haben. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, in Deutschland bürgerkriegsähnliche Zustände herbeizuführen, um den Sturz der Bundesregierung und der parlamentarischen Demokratie herbeizuführen. Außerdem sollte Prof. Dr. Karl Lauterbach entführt werden, wobei die Tötung seiner Personenschützer einkalkuliert wurde. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Das im Zuge der Corona-Pandemie entstandene Protestmilieu ist im stetigen Wandel. Mit dem Bedeutungsverlust der Pandemie ging ein enormer Rückgang der Teilnehmerzahlen am Protestgeschehen einher. Statt der Pandemie wurden neue Themen wie steigende Energiepreise, Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland aufgegriffen. Trotz der Dynamik und der Vielfältigkeit der Themen hat sich beim geschrumpften aber radikalisierten Protestmilieu ein gemeinsames Feindbild entwickelt: die Eliten im Staat. Dieses Feindbild wird mit Verschwörungsmythen gestützt, und darin denen "da oben" pauschal schlechte Absichten unterstellt. 154 demokratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Mit der fortwährenden Delegitimierung des Staates und seiner demokratischen Prozesse und Strukturen geht es den Delegitimierern nicht darum, einen demokratischen Wechsel der Regierung herbeizuführen, indem man Einfluss auf die Diskurse nimmt und durch Wahlen versucht, eine Regierung mit einer anderen politischen Agenda durchzusetzen. Vielmehr ist die Delegitimierung Ausdruck der Ablehnung der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Insofern wollen die Delegitmierer die Regierung nicht verändern, sondern das System überwinden. Dabei kann es auch zu Radikalisierungsprozessen kommen, die in Gewalt münden. demokratIefeIndlIche und/oder sIcherheItsgefährdende delegItImIerung des staates 155 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 156 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Linksextremismus lInksextremIsmus 157 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Zusammenfassung Das zweite Jahr der Corona-Pandemie war im linksextremistischen Spektrum in NRW geprägt von dem Bemühen, Kommunikation und Aktion aus dem digitalen Raum wieder stärker in die reale Welt zu verlagern. Autonome: Konflikte, Mobilisierungsschwäche und Massenaktion Insgesamt hielt im autonomen Linksextremismus eine Mobilisierungsschwäche, die seit geraumer Zeit erkennbar ist, weiter an. Insbesondere im Zusammenhang mit dem G7-Gipfel in Elmau, der von verschiedenen Vortreffen im gesamten Bundesgebiet begleitet wurde, blieben Mobilisierung, Teilnehmerzahlen an Aktionen und auch die Aktionen selbst weit hinter den Erwartungen und Ansprüchen der Szene zurück. Zu anderen Anlässen, zum Beispiel zu einer anarchistischen 1. Mai-Demonstration in Dortmund, aber auch im Zusammenhang mit der bevorstehenden Räumung des Weilers Lützerath, konnten demgegenüber große Teilnehmerzahlen erreicht werden. Ein Trend schien sich im Berichtszeitraum mit der Bildung von Strukturen abzuzeichnen, die über typisch autonome lose Vernetzungen hinausgehen. So gründete sich etwa im April 2022 aus verschiedenen linksextremistischen Gruppen die bundesweite "Föderation klassenkämpferischer Organisationen", im Mai schlossen sich Akteure aus dem autonomen Antifaschismus zum "Recherche Kollektiv NRW" zusammen. Demgegenüber führten interne Konflikte in Teilen zum Verlassen von Strukturen durch einzelne Akteure bis hin zur Auflösung ganzer Gruppen. Ein Ereignis mit bundesweiten Konsequenzen war ein Sexismusvorwurf gegen einen Angehörigen der Interventionistischen Linken (IL). Während dieser Vorwurf in einer Szene, die den Antisexismus als ein wesentliches Themenund Aktionsfeld begreift, an sich bereits für Unruhe und Verunsicherung gesorgt hatte, führte der Umgang der IL mit den Vorwürfen zu hochgradigen Spannungen. Durch ein Entscheidungsgremium innerhalb der IL wurde ein umfassendes Outing des vermeintlichen Täters einschließlich seiner persönlichen Lebensumstände verfügt. Im Zentrum der szeneinternen Kritik standen die intransparente Verfahrensführung, die Entscheidungsfindung auf Basis unzureichender Erkenntnislage und insgesamt die hierarchisch-undemokratische Vor158 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 gehensweise. In der Folge verließen zahlreiche Akteure die IL. Die Kölner Ortsgruppe, aus der der mutmaßliche Täter stammt, löste sich komplett auf. Dogmatischer Linksextremismus: Isolierte Position bei Wahlen, Ukraine-Konflikt und in der Szene Auch die dogmatischen Akteure Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) traten im Berichtszeitraum wieder verstärkt mit realweltlichen Aktionen in Erscheinung. Deutlich sichtbar wurden die Parteien im Rahmen des Landtagswahlkampfes, zu dem sie flächendeckend Wahlwerbung durch Plakatierungen, das Verteilen von Flyern und Infostände betrieben. Im Ergebnis der Wahlen verblieben sowohl die DKP als auch die MLPD mit Erstund Zweitstimmen im niedrigen vierstelligen Bereich in der parlamentarischen Bedeutungslosigkeit. Die DKP nutzte die Lockerungen der Pandemieregelungen unter anderem für die Ausrichtung des mehrfach verschobenen 21. Pressefestes. Nach Parteiangaben nahmen im Verlauf des Veranstaltungswochenendes im August rund 10.000 Personen teil. Die Veranstaltung war durch die DKP im Vorfeld in Anspielung auf den Ukraine-Konflikt als das "rote Friedensfest in Berlin gegen NATO-Aggression und deutsche Großmachtpläne" beworben worden. Während damit in der Partei offenbar Konsens über die Rolle der NATO für Ursache und Verlauf des Konfliktes herrscht, konnte parteiintern keine Einigkeit erzielt werden, ob der Angriff Russlands zu verurteilen ist oder nicht. Auch in der MLPD war der Krieg in der Ukraine Anlass für eine Positionsbestimmung. Anders als die DKP sieht die MLPD in Russland einen Mitverursacher; gleichwohl werden auch in der MLPD von ihr so bezeichnete "imperialistische Bestrebungen der NATO" als mitursächlich für den Krieg angesehen. Eine "Gesprächsrunde zum Ukrainekrieg war zudem Bestandteil des Programms für die Feierlichkeiten zum 40-jährigen Parteijubiläum, das vom 26. bis 28. August 2022 in Gelsenkirchen stattfand. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y lInksextremIsmus 159 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Im Fokus: Spaltungstendenzen im Linksextremismus Die Heterogenität der Erscheinungsformen von Bestrebungen, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, ist im Linksextremismus sehr hoch. Hierzu tragen schwerpunktmäßig strukturelle Faktoren bei. Diese umfassen Ideologie, Organisation und Zielsetzung. Hinzu kommen Aspekte wie Differenzierung aufgrund von Unkenntnis über grundsätzlich bestehende Gemeinsamkeiten verschiedener Gruppen und zwischenmenschliche Konflikte. Diese Faktoren und Aspekte führen in Summe zu einer strukturellen Zersplitterung des linksextremistischen Spektrums in eine Vielzahl von unterschiedlichen Erscheinungsformen. Auch die individuelle Wahrnehmung, Einordnung und Positionierung von Linksextremisten im Kontext klassischer und aktueller Themenund Handlungsfelder trägt zu dem Bild eines in sich stark diversifizierten Phänomenbereichs bei. Ein Beispiel für solch eine klassische Konfliktlinie innerhalb des linksextremistischen Spektrums ist die Parteinahme im sogenannten Nahost-Konflikt: Internationalistische/ antiimperialistische Gruppierungen stellen sich ebenso unbedingt auf die Seite Palästinas wie es auf der anderen Seite antideutsche Akteure zugunsten Israels tun. Neben diesen dauerhaften, oft historisch-ideologisch gewachsenen Konfliktlinien sind aber auch Positionierungen im Zusammenhang mit aktuellen Entwicklungen geeignet, Spaltungen und Auseinandersetzungen innerhalb des linksextremistischen Spektrums auszulösen oder zu verstärken. Für den Berichtszeitraum sind hierfür verschiedene Thematiken von Relevanz: Corona-Beschränkungen Auch im Jahr 2022 setzte sich das linksextremistische Spektrum wieder mit der Frage auseinander, in welchem Rahmen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen befolgt und somit unterstützt werden sollten. Dabei zeigte sich, dass die staatlichen Vorgaben mehrheitlich eingehalten und vereinzelt sogar darüber hinaus gehende Regelungen für eigene Veranstaltungen getroffen wurden. So galt etwa im Autonomen Zentrum Köln auch nach Wegfall der Beschränkungen bei Treffen die "2G+"Regel (COVID 19-genesen oder dreifach geimpft und zusätzlich getestet). Allerdings gab es auch gegenteilige Verhaltensweisen. So wurden haben sich vereinzelt Akteure, die in der Vergangenheit dem linksextremistischen Spektrum zuzurechnen waren, offenbar 160 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 dauerhaft dem Spektrum der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates angeschlossen. Ukraine-Konflikt Insbesondere traditionell sowjetunionund russlandfreundliche Akteure sowie teilweise ideologisch geprägte Gruppierungen aus dem leninistischen und stalinistischen Lager ergriffen vor allem in der Anfangszeit des Konfliktes Partei für Russland. Hierbei deklarierten sie den russischen Angriffskrieg mit verschiedenen Begründungen als legitimen Akt. So wurde der Krieg etwa als "Kampf Russlands gegen ein faschistisches Regime in der Ukraine" oder als "Verteidigung gegen eine aggressive Osterweiterung der NATO" im Sinne Russlands gerechtfertigt. Während diese Auffassung von einer Mehrheit im linksextremistischen Spektrum nach wie vor abgelehnt wird, kam es im Berichtszeitraum unbenommen dessen zu Teilnahmen der russlandfreundlichen Minderheit an prorussischen Kundgebungen. Bemerkenswert ist der Umstand, dass dies teilweise auch dann der Fall war, wenn diese Kundgebungen durch Personen veranstaltet wurden, die dem Spektrum des politischen Gegners zuzurechnen waren. Auf Seiten pro-ukrainischer Akteure im Linksextremismus waren dagegen Solidarisierungsbekundungen mit der Ukraine festzustellen. In Deutschland ansässige Anarchisten unterstützten mit der Sammlung von Geldund Sachspenden aktiv auf Seiten der Ukraine kämpfende Anarchisten. Sowohl die Unterstützungsleistungen für die Kämpfer als auch die aktive Beteiligung an der Unterstützung eines hierarchisch organisierten staatlichen Akteurs stehen dabei in direktem Widerspruch zur anarchistischen Ideologie. "Heißer Herbst" Ein weiteres Themenfeld im Berichtszeitraum, das durch eine unterschiedliche Bewertung verschiedener Akteure des Linksextremismus gekennzeichnet war, war der Umgang mit der Inflation in Folge des Ukraine-Konfliktes. Unter dem teilweise durch die Berichterstattung der Medien geprägten Titel "Heißer Herbst" sahen viele Akteure des Linksextremismus einen Ansatzpunkt, Systemund Kapitalismuskritik nun auch verstärkt in den zivildemokratischen Raum tragen zu können. Die Hoffnung, durch die auch im demokratischen Spektrum verbreitete individuelle Betroffenheit von Preissteigerungen weitere Teile der Gesellschaft von den eigenen ideologischen Vorstellungen überzeugen zu können, wurde allerdings enttäuscht. Hierfür gibt es eine Vielzahl an Gründen. Insbesondere dürften die Zersplitterung der Szene, unterschiedliche ideologische wie auch praktische Ansätze und eine gewisse Konzeptlosigkeit dazu beigetragen haben, dass linksextremistische Deutungsund Erklärungsmuster im demokratischen Spektrum trotz der Situation nicht verfingen. lInksextremIsmus 161 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Dieser Umstand sorgte bei einzelnen Akteuren für die ernüchternde Erkenntnis, dass ihrerseits kaum eine oder gar keine Anbindung in die von der Krise besonders betroffenen Teile der Gesellschaft vorhanden ist. Vor allem ideologisch geprägte Strukturen, die Menschen in prekären Lebensverhältnissen als ihre Zielgruppe - das revolutionäre Subjekt - betrachten und sich als deren Interessenvertretung wahrnehmen, mussten erkennen, dass diese Eigenwahrnehmung offenbar weitgehend unzutreffend ist. Outings Zusätzlich zu diesen thematisch-inhaltlichen Spaltungslinien gab es weitere, insbesondere zwischenmenschliche Konflikte, die zu Auseinandersetzungen innerhalb des Spektrums beitrugen. Dazu gehörten szeneinterne Outings. In Abgrenzung zu Aktionen, bei denen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten in ihrem sozialen Umfeld öffentlich als Rechtsextremisten bezeichnet werden, kommt es im linksextremistischen Spektrum zunehmend auch zu Outings von Personen des eigenen Lagers. Die Gründe für derartige Outings reichen von der Zusammenarbeit des "Geouteten" mit "Repressionsorganen", also mit Polizei und Justiz, bis hin zu - insbesondere sexualisiertem - Fehlverhalten. Ein Beispiel hierfür ist das Outing des Kronzeugen im sogenannten "Antifa Ost"-Verfahren, Johannes D.. Diesem wurden durch eine ehemalige Partnerin auf einer öffentlichen Szenewebsite sexuelle Übergriffe vorgeworfen. In der Konsequenz wurden durch die Szene auf derselben Website unter Bezugnahme auf die Tatvorwürfe öffentlich "Stadtverbote" für die Städte Berlin, Leipzig und Nürnberg gegen Johannes D. ausgesprochen. Ein weiteres bundesweites Outing im Berichtszeitraum richtete sich gegen einen langjährigen Angehörigen des linksextremistischen Spektrums in Köln. Der männliche Betroffene war zuletzt Angehöriger der Gruppe K2, einer Ortsgruppe der Interventionistischen Linken (IL) in Köln. In dem Outing wurde auch ihm sexualisierte Übergriffigkeit in mehreren Fällen vorgeworfen. Für den Ahndungsprozess richtete die IL intern Strukturen ein, die in der Folge ein "Verfahren" nach eigenen rechtlichen und prozessualen Standards führten. Im Ergebnis einer Abstimmung zwischen den Entscheidungsträgern wurde ein reichweitenstarkes Outing über die sozialen Netzwerke und weitere Szenewebsites beschlossen und durchgeführt. Neben den Tatvorwürfen führte insbesondere das Vorgehen der IL, die das Outing initiiert hatte, im linken Spektrum bundesweit zu Widerspruch. Im Fokus der Kritik standen und stehen bis heute das Verfahren der Entscheidungsfindung und die daran beteiligten Akteure. Neben der Langwierigkeit des Prozesses wurde unter anderem dessen mangelnde Transparenz kritisiert. Ferner kamen auch Zweifel an der Vereinbar162 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 keit des Vorgehens der IL im konkreten Fall mit den grundsätzlichen, selbst definierten moralischen Standards der IL auf. So sei das zielgerichtete Ausgrenzen und Diffamieren von Menschen kaum mit dem nach außen propagierten sozialen und gerechten Agieren zu vereinbaren. Der Analyse einzelner Szeneangehöriger zufolge reagierte die IL auf die Vorwürfe, indem sie den Kritikern Parteinahme zugunsten des Beschuldigten unterstellte und einen Vertrauensanspruch für die eingesetzten Prozessführenden sowie für die gesamten prozessualen Maßnahmen im Kontext erhob. Hiermit verbunden war implizit zugleich der allgemeine Anspruch der IL, eine Struktur zu sein, die berechtigt und in der Lage ist, organisationsinterne Disziplinarund Strafprozesse eigenständig durchzuführen. Als Konsequenz der beschriebenen Aktion und der damit einhergehenden szeneinternen Kritik ist das Outing mittlerweile Gegenstand strafund zivilrechtlicher Verfahren. Darüber hinaus hat sich die erwähnte Ortsgruppe der IL in Köln mit dem Namen K2 im Zuge des Konfliktes um den Prozess aufgelöst, sodass aktuell nur noch eine Ortsgruppe der IL in Köln existiert. lInksextremIsmus 163 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Linksjugend ['solid] Nordrhein-Westfalen Sitz/Verbreitung Berlin (Bundesgeschäftsstelle)/Aachen (Landesgeschäftsstelle) NRW; Verbreitung deutschlandweit Gründung/Bestehen seit 2007 Struktur/ Repräsentanz Bundesverband, Landesverbände, Basisgruppen, Hochschulgruppen (Die Linke/SDS) Mitglieder/Anhänger/ NRW: rund 1.200 (Stand 2019) Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Web-Angebote und Auftritte in den sozialen Medien Kurzporträt/Ziele Die Linksjugend ['solid] bezeichnet sich selbst als parteinaher Jugendverband der Partei DIE LINKE. Sie vertritt marxistisch-leninistische Positionen und führt alle politischen und gesellschaftlichen Probleme auf einen Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie (das kapitalistische Großbürgertum) und Proletariat (die Arbeiterklasse) zurück. Diesen will sie durch eine revolutionäre Übernahme des Staates durch das Proletariat beziehungsweise die Kommunistische Partei aufheben. Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Mittel der Partei DIE LINKE, Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Partei DIE LINKE unterliegt in ihrer Gesamtheit nicht der Beobachtung durch den Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen. Alle Mitglieder der Partei DIE LINKE unter 35 Jahren werden automatisch zugleich passives Mitglied der Linksjugend ['solid], sofern sie einer Mitgliedschaft in der Jugendorganisation nicht aktiv widersprechen. Die Mit164 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 gliedschaft in der Linksjugend ['solid] ist folglich nicht zwangsläufig mit einer bewussten Entscheidung für eine extremistische Organisation verbunden. Daher werden die Mitglieder der Linksjugend ['solid] nicht in das Personenpotenzial Linksextremismus eingerechnet. Parlamentarismus und die repräsentative Demokratie werden von der Linksjugend ['solid] explizit abgelehnt. Nach Ansicht der Linksjugend ['solid] NRW sei die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik Deutschland keine wirkliche Demokratie, sondern Ausdruck des Klassencharakters der bestehenden Gesellschaftsordnung und Instrument der herrschenden Klasse. Diesen Zustand will man nach eigenen Angaben durch "die bewusste Aktion der organisierten Mehrheit zur Umwälzung der Verhältnisse" beenden. Den Beschlüssen ihrer Gremien sowie anderen Veröffentlichungen ist zu entnehmen, dass die Linksjugend ['solid] gesellschaftliche Veränderungen nicht über Reformen, sondern durch eine revolutionäre außerparlamentarische Bewegung erreichen möchte. Dieser Linie folgend, wurde auch beim Bundeskongress im November 2022 erneut der "Systemwechsel hin zum Sozialismus" als politisches Ziel beschlossen. Diese Ziele richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die Linksjugend ['solid] NRW unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Das schwache Ergebnis der Partei DIE LINKE bei der Bundestagswahl 2021 führte der Bundessprecher:innenrat der Linksjugend ['solid] im Januar 2022 auf eine mangelnde Distanz zur aktuellen Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik zurück. Statt parlamentarischer Mitarbeit wurde in einem Strategiepapier die Mutterpartei dazu aufgefordert, den bestehenden Staat zu bekämpfen und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. In diesem Sinne äußerte sich auch die Linksjugend ['solid] NRW, hier in Bezug auf die Klimakrise, am 17. Dezember 2022 mit den Worten: "Für uns ist klar: Die Klimakatastrophe kann nicht innerhalb eines kapitalistischen Wirtschaftssystems verhindert werden. Es gibt kein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten. Daher ist für uns die völlig richtige Forderung der Klimabewegung nach einem Systemwandel gegen den Klimawandel immer auch damit verbunden, einen sozialistischen Staat mit nachhaltiger Produktionsweise gemessen an Bedürfnissen und Ressourcen aufzubauen." lInksextremIsmus 165 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Auf Instagram führt zum Beispiel die Basisgruppe Köln die Ideologie der Linksjugend ['solid] konsequent weiter in den Kommunismus. Infolge des russischen Angriffs im Februar 2022 auf die Ukraine nahm die Linksjugend ['solid] NRW im Berichtszeitraum eine ambivalente Haltung zu dem Kriegsgeschehen ein. Sie verurteilte zwar den russischen Angriffskrieg, behauptete aber gleichzeitig, NATO, EU und Deutschland hätten den Krieg billigend in Kauf genommen. In einer Stellungnahme vom 3. März 2022 bezeichnete der Landesverband NRW der Linksjugend ['solid] sowohl den russischen Angriff als auch die "Handlungen der NATO" als völkerrechtswidrig, forderte unter anderem ein Ende der Sanktionen gegen Russland und positionierte sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Ihrem Selbstverständnis folgend, Teil einer größeren revolutionären Bewegung gegen die bestehenden Verhältnisse zu sein, beteiligte sich die Linksjugend ['solid] NRW auch im Jahr 2022 in Bündnissen und führte Versammlungen in Kooperation mit anderen linksextremistischen beziehungsweise dem auslandsbezogenen Extremismus zuIn einem Flyer spricht die Linksjugend ['solid] NRW von "völkerrechtswidrigen Handlungen der NATO" im Ukraine-Krieg zurechnenden Gruppierungen durch. 166 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Daran anschließend ist auch für den Berichtszeitraum 2022 wieder zu konstatieren, dass trotzkistische Gruppierungen, wie die Sozialistische Organisation Solidarität (SOL), innerhalb der Linksjugend ['solid] NRW offen agieren können. Im März 2022 konnte ein zumindest verbaler Schulterschluss mit Personen beobachtet werden, gegen die Verfahren wegen Gewaltstraftaten eingeleitet worden waren. Statt Distanzierung von den in Rede stehenden, mutmaßlich linksextremistisch motivierten Straftaten, imaginierte die Linksjugend ['solid] vonseiten ihres Bundesverbandes eine Verschwörung von Polizei, Justiz und Medien gegen linke Aktivisten, die zu den Anklagen geführt hätten, und rechtfertigte Gewalt aus politischen Motiven. Eine Distanzierung seitens der Linksjugend ['solid] NRW fand nicht statt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Ähnlich wie die Partei DIE LINKE war im Berichtszeitraum auch die Linksjugend ['solid] von inneren Konflikten geprägt. Bei der Landesvollversammlung vom 25. bis 27. November 2022 in Oer-Erkenschwick wurde eine Neuausrichtung und Abspaltung des Landesverbandes NRW vom Bundesverband diskutiert. Letztendlich votierte die Mehrheit der Delegierten jedoch dagegen. Von einem Ende der Kontroversen zwischen den verschiedenen Strömungen ist für die Zukunft nicht auszugehen. Auch besteht die Möglichkeit, dass größere Personengruppen die Linksjugend ['solid] NRW verlassen. lInksextremIsmus 167 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Sitz/Verbreitung Essen Gründung/Bestehen seit 1968 Struktur/ Repräsentanz Bezirke: Ruhr Westfalen und Rheinland Westfalen Vorsitz: Patrick Köbele unterstützte Jugendorganisation: Sozialistische deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 800 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Eigene Webseite, sozialistische Wochenzeitung unsere Zeit Kurzporträt/Ziele Die DKP versteht sich als politische Nachfolgerin der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Sie bekennt sich als "revolutionäre Partei der Arbeiterklasse" zum MarxismusLeninismus und strebt die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft an. Finanzierung Überwiegend durch Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Nach Vorstellung der DKP soll die Arbeiterklasse als maßgebende gesellschaftsverändernde Kraft durch einen klassenkämpferisch-revolutionären Akt die kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnisse, den Parlamentarismus und den politischgesellschaftlichen Pluralismus überwinden. Über die Zwischenstufe des Sozialismus 168 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 wird eine klassenlose kommunistische Gesellschaft angestrebt, in der alle wesentlichen gesellschaftlichen Gegensätze, insbesondere der zwischen Kapital und Arbeit, aufgehoben sein sollen. Individualgrundrechte haben in diesem Konzept nur noch eine stark eingeschränkte Bedeutung. Damit richtet sich die DKP gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gemäß SS 3 Absatz 1 Nr. 1 des Verfassungsschutzgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Das Jahr 2022 stand auch für die DKP erneut unter dem Eindruck pandemiebedingter Einschränkungen und Veränderungen, wenngleich Lockerungen der Vorgaben und Maßnahmen im Jahresverlauf eine schrittweise Rückkehr zur Normalität ermöglichten. Während die erste Jahreshälfte noch durch Online-Veranstaltungen geprägt war, wurde im August 2022 nach mehrmaliger Verschiebung das 21. Pressefest der Wochenzeitung unsere Zeit in Präsenz ausgerichtet. Bestimmend in der ersten Jahreshälfte war auch die Vorbereitung der Partei auf die Landtagswahl im Mai. Hier verblieb der Stimmenanteil für die DKP, wie schon bei Wahlen in den vergangenen Jahren, im Promillebereich. Luxemburg-Liebknecht-Wochenende 8./9. Januar 2022 in Berlin Aufgrund der Pandemielage wurden geplante Präsenzveranstaltungen in geschlossenen Räumen in Berlin zum Luxemburg-Liebknecht-Wochenende abgesagt und online durchgeführt. Der Vorsitzende der Partei, Patrick Köbele, initiierte zum bundesweiten politischen Jahresauftakt am ersten Veranstaltungstag die Kampagne "Energiepreisstopp jetzt!" als Online-Petition. Die Kampagne sollte auf die Preiserhöhungen in der Energieversorgung und die Abwälzung der Pandemielasten insgesamt auf Geringverdienende aufmerksam machen. An der traditionellen Demonstration am zweiten Veranstaltungstag beteiligten sich Mitglieder der DKP mit der Aufforderung "Für Frieden und Völkerverständigung und gegen die Kriegshetze gegen Russland und China." Wahl zum 18. Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen am 15. Mai 2022 Mit einer gemeinsamen Liste der Bezirke Ruhr-Westfalen und Rheinland-Westfalen nahm die DKP als Landesliste 17 an der Landtagswahl teil. Das Wahlprogramm stand unter dem Motto: "Die Krise heißt Kapitalismus - Wähle den Weg des Widerstands, wähle DKP!". Auf der Website der Partei heißt es in einer Erklärung zur Wahl: "Für Frieden, für niedrige Mieten, für mehr Personal in den Krankenhäusern, für die Rechte der Jugend, für eine soziale Umweltpolitik und gegen das Abwälzen der Kosten auf die BelInksextremIsmus 169 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 völkerung. [...] Andere treten zur Wahl an um mitzuregieren, wir treten an um mit euch Widerstand zu leisten." In Bezug auf die Friedenspolitik der Partei wurde an der Kernaussage "Abrüsten statt aufrüsten. Deutschland muss raus aus der NATO - Frieden mit Russland und China" festgehalten. Diese Forderungen wurden bereits im Vorfeld der Landtagswahl im Auf einem Plakat zur Landtagswahl 2022 fordert die DKP Abrüstung 170 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Rahmen des Ostermarsches Rhein-Ruhr vom 16. bis 18. April 2002 von den Parteimitgliedern innerhalb der Friedensbewegung hervorgehoben. Im Ergebnis erzielte die DKP mit 1.679 Erststimmen (2.416 im Jahr 2017) und 3.117 Zweitstimmen (2.899 im Jahr 2017) jeweils 0,0 Prozent Stimmenanteil. In einer gemeinsamen Erklärung der Vorsitzenden der Bezirke Ruhr-Westfalen und Rheinland-Westfalen kommen diese in ihrer Bewertung des Wahlausganges zu dem Ergebnis, dass sich die Landtagswahl 2022 durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg schwierig gestaltet habe. Dennoch sei es der DKP gelungen, ihre Stimmenbasis auf Landesebene zu stabilisieren. 24. Parteitag am 22. Mai 2022 als Online-Konferenz Mit der Online-Konferenz im Vorfeld zum regulären 25. Parteitag im Jahr 2023 sollte unter anderem die Wahrung von Fristen des Parteiengesetzes zur Vorlage von Rechenschaftsberichten für die Teilnahme an Wahlen sichergestellt werden. Im Jahr 2021 hatte der Bundeswahlausschuss die DKP aufgrund nicht fristgerecht eingereichter Rechenschaftsberichte zunächst nicht zur Teilnahme an der Bundestagswahl zugelassen. Die DKP war mit einer hiergegen gerichteten Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zwar erfolgreich, wollte eine Wiederholung dieses Procederes zur Landtagswahl 2022 jedoch verhindern. An dem Parteitag im Mai nahmen nach Angaben der DKP 174 Delegierte online und per Telefon teil. Der aktuelle Vorstand und die Kommissionen wurden durch eine nachgelagerte Briefwahl im Amt bestätigt. Mit der Aussage: "Nein zum Krieg! Hochrüstung stoppen! Frieden geht nur mit Russland und China!" nahm die Partei Bezug zum Kriegsgeschehen in der Ukraine. Über die Frage der völkerrechtlichen Bewertung des Krieges und ob der russische Angriff zu verurteilen sei, unterschieden sich dabei die Positionen innerhalb der Partei. Der DKP-Vorsitzende stellte fest, dass dies "[l]etztlich auch in der Frage, ob der Angriff Russlands auf die Ukraine zu verurteilen ist oder nicht" der Fall sei. Im Ergebnis setzte sich der Parteivorstand mit seinem Antrag gegen zwei Anträge aus den Reihen der Delegierten durch, die klar für eine Verurteilung des russischen Angriffskrieges plädierten. lInksextremIsmus 171 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 21. Pressefest der Wochenzeitschrift "unsere Zeit" der DKP in Berlin vom 26. bis 28. August 2022 Die Ausrichtung des 21. Pressefestes war ursprünglich bereits für das Jahr 2020 geplant, musste aber pandemiebedingt zweimal verschoben und letztlich auf den August 2022 terminiert werden. Nachdem der traditionelle Veranstaltungsort des Pressefestes, der Revierpark Wischlingen in Dortmund, nicht zur Verfügung stand, entschied man sich für eine Verlegung des Veranstaltungsortes. In der Vorbereitung der Veranstaltung warb die Wochenzeitschrift unsere Zeit mit dem Slogan "Das UZ-Pressefest vorbereiten - das rote Friedensfest in Berlin gegen NATO-Aggression und deutsche Großmachtpläne." Unter besonderem organisatorischem und logistischem Aufwand fand das Pressefest schließlich auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin statt. Der Parteivorsitzende der DKP beklagte in dem Zusammenhang, dass die Partei Die Linke eine Anfrage der DKP zur Anmietung von Räumlichkeiten im Karl-LiebknechtHaus in Berlin mit der Begründung abgelehnt hätte, die DKP sei eine konkurrierende Partei. In der Konsequenz seien weitere Kosten durch das Erfordernis entstanden, Zelte für Veranstaltungen im Rahmen des Pressefestes anmieten zu müssen. Die Weigerung der Partei Die Linke, Räumlichkeiten im Karl-Liebknecht-Haus an die DKP zu vermieten, wurde auch deswegen breit thematisiert und kritisiert, weil in den Jahren zuvor die Partei Die Linke auf den Pressefesten in Dortmund stets mit eigenen Zelten vertreten war. Nach Angaben der DKP nahmen an dem Pressefest im Verlaufe des Wochenendes circa 10.000 Besucherinnen und Besucher teil. Der Vorsitzende der DKP sprach von einem erfolgreichen Pressefest in Berlin, stellte für das Jahr 2024 jedoch wieder den Revierpark Wischlingen in Dortmund als Veranstaltungsort in Aussicht. Bewertung, Tendenzen, Ausblick In Nordrhein-Westfalen traten die DKP und die Jugendorganisation der Sozialistischen deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) im Berichtszeitraum vor allem in Bündnisstrukturen in den Themenfeldern Friedenspolitik (Ostermärsche) und soziale Proteste ("Genug ist Genug"; "Heizung, Brot und Frieden"; "Preissturz jetzt") auf. Die Kampagne "Energiepreisstopp jetzt" ist an die gewerkschaftliche Arbeit gekoppelt, da die erzielten Unterschriften dort zur Vorlage kommen sollen. Hierdurch soll - gemäß der 172 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Darstellung der DKP - den Gewerkschaften der Wille der Arbeiterklasse verdeutlicht werden, den sie vertreten sollen. Mit dieser Vorgehensweise sucht die Partei ihren von ihr so benannten "außerparlamentarischen Kampf für die Arbeiterklasse" weiter zu profilieren und unter dem Mantel der Überparteilichkeit einen breiteren Personenkreis zu erreichen. Das Wahlergebnis bestätigt, wie durch die Bezirksvorsitzenden von Ruhr-Westfalen und Rheinland-Westfalen analysiert, eine stabile, aber wahlpolitisch unbedeutende Basis an Wählerinnen und Wählern. Die Parteispitze ist sich weiterhin darüber bewusst, dass die DKP aus eigener Kraft nicht öffentlichkeitswirksam in der Masse meinungsbildend wirken kann. Als Kaderpartei versteht sie sich hingegen weiterhin als "Impulsgeberin" für Aktionen der Arbeiterklasse im Klassenkampf für die sozialistische Revolution. Themenfelder wie soziale Belange, Gesundheitswesen, Umweltpolitik und Friedenspolitik bleiben weiterhin und im verstärkten Maße durch den Krieg in der Ukraine Angriffspunkte für die DKP zur Gewinnung von Sympathien und Mitgliedern für den Sozialismus/Kommunismus. lInksextremIsmus 173 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) Sitz/Verbreitung Gelsenkirchen Gründung/Bestehen seit 1982 Struktur/ Repräsentanz neun Landesverbände (unter anderem in NRW), zahlreiche Gruppierungen mit nomineller Eigenständigkeit als struktureller Unterbau, darunter der Jugendverband Rebell mit der Kinderorganisation Rotfüchse, und kommunale Wahlbündnisse wie alternativ, unabhängig, fortschrittlich (AUF) Vorsitz: Gabi Fechtner Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 750 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Publikationen: Rote Fahne Magazin Web-Angebote: umfangreiche Internetpräsenz, Rote Fahne News als Online-Nachrichtenmagazin Kurzporträt/Ziele Die 1982 aus dem Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands (KABD) hervorgegangene Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) versteht sich als politische Vorhutorganisation der Arbeiterklasse in Deutschland. Ihr grundlegendes Ziel ist der revolutionäre Sturz der von ihr so bezeichneten Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. In einem "17 Punkte Kampfprogramm" führt die Partei aus, dass die Herrschaft der internationalen Monopole gestürzt 174 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 und der Sozialismus aufgebaut werden müsse. Dies beschränke sich nicht nur auf Deutschland, erklärt die MLPD und konkretisiert im eigenen Parteiprogramm: Der Sozialismus stelle eine Übergangsgesellschaft vom Kapitalismus zum Kommunismus dar und mit der Diktatur des Proletariats organisiere die Arbeiterklasse den Klassenkampf im Sozialismus. Das Hauptaugenmerk ihrer politischen Arbeit legt die Partei neben der Frauenund Jugendpolitik, die sie mit vermeintlich eigenständigen organisatorischen Gruppen bearbeitet, vorwiegend auf die Betriebsund Gewerkschaftsarbeit. Sie verbindet dies verstärkt mit einer von der Partei als sozialistisch bezeichneten Umweltpolitik und der Beteiligung an sozialen Protesten in einem internationalen sozialistischen Kontext. Dem Anspruch an Internationalität versucht die MLPD durch die 2010 gegründete Internationale Koordinierung revolutionärer Organisationen und Parteien (ICOR) gerecht zu werden. Da sich die MLPD in einer fortdauernden Verfolgungssituation durch den Staat und seine Organe wähnt, agiert sie auf kommunaler Ebene durch angeblich unabhängige Personenwahlbündnisse wie die Organisation alternativ, unabhängig, fortschrittlich (AUF), die zum Teil personell mit der MLPD verflochten sind. Finanzierung Überwiegend durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Einnahmen aus Vermögen Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die MLPD bekennt sich nach wie vor zu den Lehren von Marx, Engels, Stalin und Mao Tse-Tung und verbindet nach eigener Aussage "den Kampf um die Forderungen der Arbeiterund Volksbewegungen mit dem Ziel der internationalen sozialistischen Revolution". Die Zielsetzungen der MLPD sind durch verfassungsfeindliche Aussagen geprägt und lassen sich in den drei Kernpunkten Revolution, Diktatur des Proletariats und Kommunismus zusammenfassen. Die Ziele der MLPD richten sich somit gegen lInksextremIsmus 175 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 wesentliche Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, weshalb die Partei nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW durch den Verfassungsschutz NRW beobachtet wird. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Das 40. Jahr des Parteibestehens war maßgeblich vom Ukraine-Konflikt, von den Landtagswahlen und von den Jubiläumsfeierlichkeiten geprägt. Anders als die DKP wies die MLPD Russland unter der Führung Putins eine neuimperialistisch motivierte Mitschuld am Ukrainekonflikt zu. Trotz medialer Aufmerksamkeit anlässlich der Enthüllung von Gedenktafeln gut eine Woche vor der Landtagswahl blieben die Stimmenanteile der MLPD im Bereich der wahlpolitischen Bedeutungslosigkeit. Ideologische Schulung - Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Wochenende am 8./9. Januar 2022 in Berlin Im Januar 2022 veröffentlichte die Partei den zweiten von vier Teilen aus der Bücherreihe "Die Krise der bürgerlichen Ideologie und die Lehre von der Denkweise" mit dem Titel "Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Opportunismus". Nach dem Erscheinen des ersten Teils mit dem Titel "Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Antikommunismus" im April 2021 wurde hiermit eine Schriftenreihe fortgesetzt, die auch als Ausgaben des theoretischen Organs der MLPD mit dem Namen "Revolutionärer Weg" erschienen sind. Die MLPD bezeichnet die Ausgaben des "Revolutionären Wegs" als wissenschaftlich basierte Leitlinien der Parteiarbeit im "weltanschaulichen Kampf gegen die kleinbürgerliche Denkweise" im Klassenkampf. Sie sollen das Auftreten und die Handlungsweisen der Parteimitglieder bei Demonstrationen, Kundgebungen, Schulungen, Weiterbildungstreffen, Diskussionen, Verkaufs-, Verteilaktionen und somit das gesamte Handeln und Auftreten der Partei in der Öffentlichkeit prägen. Einweihung von Gedenktafeln am Lenin-Denkmal in Gelsenkirchen am 8. Mai 2022 Am 8. Mai 2022 wurden an der Parteizentrale der MLPD in Gelsenkirchen Gedenktafeln für die Kommunisten Karl Marx, Friedrich Engels, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Ernst Thälmann und Willi Dickhut eingeweiht. Die MLPD hatte zusammen mit dem Internationalistischen Bündnis bundesweit zur Teilnahme an einer Versammlung im Vorfeld der Einweihungszeremonie am gleichen Tag aufgerufen, die sich angesichts des Krieges in der Ukraine "Gegen die akute Weltkriegsgefahr" richtete. An der Versammlung, deren Aufzugsweg von Essen nach Gelsenkirchen verlief, nah176 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 An der Parteizentrale in Gelsenkirchen wirbt die MLPD für die Veranstaltung am 8. Mai 2022 zur Einweihung von Gedenktafeln men nach Parteiangaben bis zu 1.500 Personen teil. Die Sicherheitsbehörden beziffern die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf in der Spitze etwa 770. Nach der öffentlichkeitswirksamen Aufstellung des Lenin-Denkmals vor der MLPDParteizentrale im Jahr 2020 machte die MLPD mit der Einweihung der Gedenktafeln im Mai und insbesondere mit der Aufstellung einer Marx-Statue im August im Jahr des 40-jährigen Parteijubiläums ihren Anspruch deutlich, eine traditionell antikapitalistische, antiimperialistische und revolutionäre marxistisch-leninistische Partei zu sein. Zeitgleich zur Einweihung der Gedenktafeln wurde die Parteizentrale Horster Mitte nach einem Mitbegründer der Partei in Willi-Dickhut-Haus umbenannt. Wahl zum 18. Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen am 15. Mai 2022 Die MLPD nahm an der Landtagswahl am 15. Mai zum zweiten Mal nach 2017 als internationalistische Liste/MLPD - Landesliste 13 - mit 29 Kandidatinnen und Kandidaten teil. Die Wahl stand unter dem Motto: "Nur noch Krisen, eine Lösung: Sozialismus!" Mit Blick auf die Geschehnisse in der Ukraine forderte die MLPD: "Aktiver Widerstand lInksextremIsmus 177 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 gegen die Weltkriegsgefahr! Gegen jede imperialistische Aggression - in der Ukraine und anderswo." Im Ergebnis verharrte die Liste mit 3.563 Erststimmen (2.496 im Jahr 2017) und 3.346 Zweitstimmen (7.107 im Jahr 2017) in einer relativen Bedeutungslosigkeit. Das Wahlergebnis wurde durch die Landesleitung der MLPD gleichwohl mit den Worten "MLPD/internationalistische Liste zeigt erfolgreich Flagge in Situation der akuten Weltkriegsgefahr!" kommentiert. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass der Fokus der Wahl auf dem Aufbau einer neuen Friedensbewegung unter beAuf einem Wahlplakat greift die MLPD das Thema sonderer Einbeziehung der Jugend lag. Ukraine-Krieg auf 20. internationales Pfingstjugendtreffen des Jugendverbands Rebell der MLPD in Gelsenkirchen am 4. und 5. Juni 2022 Das Pfingstjugendtreffen stand im Jahr 2022 unter dem Motto: "Generation Krise? Generation Rebellion! - Aktiv für den Weltfrieden!" Traditionell begann das Festival mit einer "Zukunftsdemonstration" von Essen nach Gelsenkirchen, die in diesem Jahr den Titel "Zukunftsdemo unter der Losung Rebellion für den Weltfrieden" trug. Partei und Jugendverband berichteten im Nachgang insgesamt von einem erfolgreichen Festival mit 1.600 Teilnehmerinnen und Teilnehmern und somit von einem Zuwachs von 400 Personen im Vergleich zu den Meldungen zum Treffen im Jahr 2019 in Truckenthal/Thüringen. 40 Jahre MLPD - Jubiläumsfeierlichkeiten in Gelsenkirchen vom 26. bis 28. August 2022 Mit Gesprächsrunden, Ausstellungen und Bühnenprogramm fand an drei Tagen das Jubiläumswochenende zum 40-jährigen Bestehen der Partei an deren Zentrale in Gelsenkirchen statt. Nach einem "Sternmarsch" aus sechs Richtungen und zwei Fahrradkorsos wurde am 27. August 2022 an der Parteizentrale neben der bereits be178 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 stehenden Lenin-Statue eine spendenfinanzierte Marx-Statue enthüllt. Nach parteieigenen Angaben wohnten der Enthüllung etwa 1.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei. Kongress Gründung einer neuen Friedensbewegung in Berlin am 2. Oktober 2022 Die MLPD hatte sich bereits an der Mobilisierung für die zentrale Herbstdemonstration der bundesweiten Montagsdemonstrationsbewegung und des internationalistischen Bündnisses mit dem Titel "Wir zahlen nicht für Eure Kriege - Wir stehen gegen Eure Kriege auf!" am 1. Oktober 2022 in Berlin beteiligt. Nach Angaben der Partei hatten an dieser Versammlung im Ergebnis etwa 1.300 Personen teilgenommen. Für den darauffolgenden 2. Oktober 2022 hatte die Partei zur Teilnahme am Gründungskongress "Für eine neue Friedensbewegung gegen alle imperialistischen Kriege" aufgerufen. Veröffentlichungen der MLPD zufolge waren dem Aufruf gewählte Delegationen aus 18 Städten sowie von 20 Organisationen gefolgt, die im Rahmen des Kongresses die neue Friedensbewegung "Gegen Faschismus und Krieg" gründeten. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Ukrainekrieg wird seitens der MLPD als Konsequenz imperialistischer Bestrebungen der NATO verurteilt. Auch Russland wird jedoch als Mitverursacher des Krieges gesehen. Als Begründung wird eine "neuimperialistische" Entwicklung angeführt, der das Bestreben Putins zugrunde liege, eine "von Russland dominierte Eurasische Union von Lissabon bis Wladiwostok" zu errichten. Trotz eines Verlustes von rund 58 Prozent des Zweitstimmenanteils bei der Landtagswahl 2022, sieht sich die Partei durch das Erststimmenergebnis darin bestätigt, dass dort, wo sie mit Personal aktiv ist, positive Ergebnisse erzielt werden können. Perspektivisch wird die MLPD wahlpolitisch jedoch weiterhin unbedeutend bleiben. lInksextremIsmus 179 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Autonome Linksextremisten Sitz/Verbreitung Landesweite Verteilung mit lokalen Schwerpunkten in Ballungszentren Gründung/Bestehen seit Ende der 1970erbeziehungsweise Anfang der 1980erJahre aus der Studentenbewegung der 1968er-Jahre, der "Sponti"-Szene der 1970er-Jahre und der Punk-Subkultur entstanden Struktur/ Repräsentanz Weitgehend hierarchiefreie Netzwerke mit themenoder aktionsbezogener Ausrichtung; überregionale Treffen, Chatoder Telefonkonferenzen mit Delegierten örtlicher oder thematisch gebundener Zusammenhänge; Internet als offenes Kontaktmedium Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 1.100\ Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Hauptsächlich Veröffentlichungen in szenebezogenen Internetportalen, Internetblogs und sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Die linksautonome Szene als bekannteste Subkultur im Linksextremismus definiert ihre Ziele vorrangig durch Gegenproteste, wohingegen eine gemeinsame Zielsetzung - abgesehen von der Eroberung sogenannter Freiräume - kaum festzustellen ist. Staatliche Strukturen, insbesondere Hierarchien und das staatliche Gewaltmonopol, werden zugunsten eines "selbstbestimmten Lebens" abgelehnt. Gleichzeitig wenden Autonome zur Durchsetzung ihrer Auffassung auch enthemmte Gewalt gegen Meinungsgegner an und versuchen damit, diese einzuschüchtern und gesellschaftliche Diskurse nach ihren Vorstellungen zu steuern. 180 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Finanzierung Ereignisoder anlassbezogene Finanzierung von Kampagnen durch Solidaritätskonzerte und -partys oder Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Insbesondere die Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols und der rechtsstaatlichen Ordnung durch die linksautonome Szene bei gleichzeitiger Befürwortung von Gewalt zur Erreichung der eigenen politischen Ziele ist nicht vereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Autonomen werden daher nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW durch den Verfassungsschutz NRW beobachtet. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Ein Anstieg des Personenpotenzials der linksautonomen Szene und ihrer szeneninternen Diskurse führte nicht zu einer Steigerung öffentlich wahrnehmbarer Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen. Das Aktionspotenzial autonomer Akteure und die von diesen ausgehenden Straftaten verblieben auf dem Niveau des Vorjahres. Bildung neuer Gruppen und Bündnisse Bemerkenswert ist ein auch schon in den Vorjahren sichtbar gewordenes Bemühen undogmatischer Gruppen des Linksextremismus, sich über die lose Vernetzung hinaus auch die Form zielgerichteter Strukturen und Allianzen zu geben. Das "Recherche Kollektiv NRW" trat im Mai 2022 in Erscheinung und beschrieb sich im Juni 2022 als "unabhängiger Zusammenschluss antifaschistischer Personen aus Nordrhein-Westfalen, die sich mit gewaltbereiten, rechtsextremen Netzwerken befassen." In dieser Hinsicht stellt das "Recherche Kollektiv NRW" seinerseits ein Netzwerk dar, das von der linksautonomen Antifa-Szene vorwiegend zur Identifizierung von Protagonisten des politischen Gegners und seiner Strukturen genutzt wird. Die dabei gewonnenen Daten dienen zur Vorbereitung von Kampagnen und Outing-Aktionen gegen die gegnerischen Akteure, mitunter auch zu tätlichen Angriffen auf Person und Besitz. In Köln fand vom 15. bis 17. April 2022 der bundesweite Gründungskongress der Föderation klassenkämpferischer Organisationen (FKO) statt. In der FKO schlossen sich die in mehreren deutschen Städten und Regionen tätigen Ortsgruppen der Organisationen "Betriebskampf", "Frauenkollektiv", "Internationale Jugend" und "SolidarilInksextremIsmus 181 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 tätsnetzwerk" zusammen. Die örtlichen FKO-Schwerpunkte in Nordrhein-Westfalen liegen bisher in Essen, Köln und Wuppertal; die gesamte Mitgliederanzahl in Nordrhein-Westfalen liegt bei unter hundert Personen. Trotz geringer Wahrnehmbarkeit in der Öffentlichkeit engagierten sich die FKO-Gruppen in Nordrhein-Westfalen im Bündnis "Nicht auf unserem Rücken" (NAUR) gegen Preissteigerungen, hohe Mieten, Rüstungshilfen für die Ukraine und den G7-Gipfel. Der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November 2022 wurde hingegen mit dem Satz "Gegen Gewalt an Frauen zu kämpfen heißt gegen Kapitalismus & Patriarchat zu kämpfen" in eine für Linksextremisten typische Ausdeutung uminterpretiert. Während sich nach längerer Zeit eine neue Ortsgruppe der Interventionistischen Linken (IL) in Bielefeld gebildet hat, hat sich dagegen K2, eine der beiden IL-Ortsgruppen in Köln, im Juli 2022 nach einem öffentlichen Sexismus-Vorwurf gegen eines ihrer Mitglieder aufgelöst. Dabei soll es sich um die Weitergabe frauenfeindlicher Inhalte innerhalb eines "Männernetzwerks" mit detaillierten Äußerungen zu Eigenschaften und Verhalten weiblicher Personen aus dem Umfeld des linksextremistischen Spektrums gehandelt haben. Der beschuldigte IL-Protagonist widersprach dieser Darstellung und suchte anwaltliche Hilfe. Offenbar scheitert die linksautonome Szene sowohl an den sich selbst gesetzten Ansprüchen einer umfassenden internen Aufklärung als auch an einem dem eigenen Gerechtigkeitsverständnis folgenden Umgang mit der Aufarbeitung und Sanktionierung derartiger Vorfälle. Davon unabhängig kam es nach bereits mehreren erfolglosen Anläufen in den Vorjahren auch im Jahr 2022 nicht zur Formierung einer aktiven IL-Ortsgruppe in Bochum beziehungsweise im Ruhrgebiet. Anarchismus als scheinbare Antwort auf gesellschaftliche Probleme Die "Anarchistische Linke Köln" trat im Mai 2022 der anarchokommunistischen Gruppierung "die Plattform" bei und benannte sich in "die plattform Köln" um. Seit ihrer Gründung im Jahr 2019 traten Vertreter der Gruppierung auch aus Nordrhein-Westfalen vor allem durch Vortragsveranstaltungen bei der linksextremistischen Szene im gesamten Bundesgebiet und im deutschsprachigem Ausland in Erscheinung. Dabei verstanden sie sich als eine Art Bewegungsmanager: Bei überschaubarem Wirkungsgrad versucht "die plattform" im anarchistischen Milieu für die eigenen Vorstellungen zu werben, sich an sozialen Konflikten in der Gesellschaft zu beteiligen und dabei eine anti-staatliche Interpretation der jeweiligen Problemlage zu verbreiten. 182 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Kaum Beteiligung an Aktionen gegen den G7-Gipfel Vom 18. bis 20. Mai 2022 fand in Königswinter das Treffen der Finanzminister der G7Staaten statt. Ein Bündnis mit dem Namen "G7 in den Rhein fallen lassen", an dem sich auch linksextremistische Gruppen maßgeblich beteiligten, protestierte gegen die Veranstaltung zeitlich parallel mit einer Aktionswoche, in der themengebundene Vorträge und Kundgebungen in Königswinter und Bonn stattfanden. Insbesondere die Demonstration am 21. Mai 2022 in Bonn blieb trotz versuchter bundesweiter Mobilisierung deutlich hinter den erwarteten Teilnehmerzahlen zurück. Das Ziel, die Mobilisierung gegen den bevorstehenden G7-Gipfel vom 26. bis 28. Juni 2022 in Elmau anzuheizen, wurde auf diese Weise verfehlt. Bei der Gründung des Aktionsbündnisses und den Kundgebungen kooperierten lokale Gruppen unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung in einem bis dahin nicht festgestellten Umfang. In der Vergangenheit hatte sich die Zusammenarbeit linksextremistischer Gruppen der Region lediglich auf die Absprache weitgehend getrennter Aktionsvorhaben bei "Antifa"-Kundgebungen beschränkt. Auch beim Protest gegen den G7-Gipfel selbst in München und vor Ort in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen fiel das Aktionspotenzial im Verhältnis zu den Gipfelveranstaltungen der jüngeren Vergangenheit gering aus. Im Vorfeld des G7-Gipfels fanden neben nur wenigen Kleinkundgebungen und Plakataktionen einige Mobilisierungsveranstaltungen in mehreren Städten Nordrhein-Westfalens statt, die jedoch in der linksextremistischen Szene und darüber hinaus ohne Zugkraft blieben. Aus Nordrhein-Westfalen beteiligten sich letztlich nur Gruppen und Bündnisse mit antiimperialistischem Hintergrund und einer im Verhältnis zum Gesamtspektrum eher geringen Teilnehmerzahl am Demonstrationsgeschehen in Bayern. Die jeweiligen Ortsgruppen dieser Akteure standen weitgehend isoliert in der linksextremistischen Szene und konnten somit kein nennenswertes Personenpotenzial mobilisieren. Das Treffen der Außenminister der G7-Staaten im November 2022 in Münster wurde von Klima-Aktivisten als Anlass für eine Kundgebung genutzt, wobei Teile der Demonstranten sich vermummten und ohne nennenswerten Erfolg versuchten, polizeiliche Absperrungen gewaltsam zu durchbrechen. Demonstrative und sonstige Aktionen Am 1. Mai 2022 fand eine Kundgebung von Rechtsextremisten in Dortmund statt, gegen die auch seitens der linksautonomen Szene protestiert wurde. Im Zusammenhang mit den Gegenaktivitäten und Auseinandersetzungen zwischen den autonomlInksextremIsmus 183 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 anarchistischen Akteuren mit der eingesetzten Polizei kam es zu Sitzblockaden, Beleidigungen und tätlichen Angriffen gegen die Polizisten. Später am Nachmittag beteiligte sich dann eine unerwartet hohe Anzahl von über 1.000 Demonstranten an einem linksextremistischen Aufzug unter dem Motto "Anarchistischer 1. Mai" und mit der Parole "Freiheit statt Patriarchat, Kapitalismus und Egoismus". Wenngleich anarchistische Gruppen im Berichtszeitraum kaum einen weitergehenden Einfluss über die eigene Anhängerschaft hinaus entfalteten, beteiligten sich neben losem Zulauf an dieser Veranstaltung auch weitere Personen aus der autonomen Szene sowie die lokalen "Antifa"-Gruppen, die bereits zuvor gegen den rechtsextremistischen Aufmarsch mobilisiert hatten. Im Berichtszeitraum wurden mehrere demonstrative Ereignisse durch Linksextremisten genutzt, um gegen das Verbot der PKK, gegen die Angriffe der Türkei auf das von Kurden besiedelte Rojava und für die Freilassung des Parteiführers Abdullah Öcalan zu protestieren. Auffällig war die im Verhältnis zu den Vorjahren starke Beteiligung von Personen aus dem linksextremistischen Spektrum in Deutschland und dem angrenzenden Ausland am "Internationalistischen Langen Marsch" der kurdischen Jugendbewegung, der im September 2022 über mehrere Tage hinweg durch mehrere Großstädte in Nordrhein-Westfalen lief. Die linksextremistischen Teilnehmer dokumentierten ihre Solidarität mit der PKK neben Sprechchören auch damit, dass sie in einem Block von etwa 50 Personen T-Shirts mit der Abbildung des in der Türkei inhaftierten PKK-Führers trugen. Daneben wurden wie bereits bei der Waldbesetzung im Hambacher Forst in der Vergangenheit auch bei der Besetzung des Weilers Lützerath im Protest gegen den Kohleabbau im Rheinischen Braunkohlerevier mehrfach Solidaritätsbekundungen mit der PKK und dem kurdischen Widerstand in Rojava festgestellt. Der Eingangsbereich einer Anwaltskanzlei in Leverkusen-Opladen wurde in der zweiten Jahreshälfte wiederholt großflächig mit Farbe und aufgesprühten beleidigenden Aussagen verunstaltet. Die Farbschmierereien wurden jeweils im Vorfeld von Demonstrationen verübt, welche die in der Kanzlei tätige Führungsperson der Wählergruppe Aufbruch Leverkusen e.V., Markus Beisicht, mit veranstaltet hatte. Ein Personenzusammenhang mit dem bisher nicht bekannten Pseudonym "Kommando Ernst Oberdörster" bekannte sich auf der von Linksextremisten genutzten Internetplattform Indymedia zu der ersten Aktion und begründete sie damit, dass die Kanzlei maßgeblich zur Vernetzung der rechtsextremistischen Szene beitrage und Markus Beisicht in diesem Spektrum fest verwurzelt sei. 184 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bildung autonomer "Freiräume" Am 15. Oktober 2022 wurde in Bochum ein ehemaliges Wohnheim der Arbeiterwohlfahrt besetzt. Das Gebäude war für den Abriss zur Errichtung eines neuen Standortes der Diakonie vorgesehen. Das mittlerweile als "Haldi 47" bezeichnete Objekt dient nunmehr auch als neuer Veranstaltungsort der örtlichen autonomen Szene. Mit dem "Sozialen Zentrum Philipp Müller" wurde bereits im September 2022 auch in Essen ein weiterer Ort als Anlaufstelle und Treffpunkt der linksextremistischen Szene ins Leben gerufen. Zur vorübergehenden Räumung des "Autonomen Zentrums" in Köln (AZ Köln) durch die Polizei Auf seinem Facebook-Profil wirbt das AZ Köln für eine "Solidaritätskundgebung" am 6. Mai 2022 kam es am 6. Mai 2022 nach Beschwerden der Anwohner über die von dort ausgehende ruhestörende Lärmbelästigung bei einem im AZ Köln stattfindenden "Antirep-Soli-Punk"-Konzert. Die autonome Szene dramatisierte den Polizeieinsatz als "unverhältnismäßige Hausdurchsuchung" und nahm den Vorfall zum Anlass einer späteren "Solidaritätskundgebung". Proteste im Rheinischen Braunkohlerevier Gegen den Kohleabbau unter dem Weiler Lützerath hatte sich im Jahr 2021 eine heterogene Protestszene mit einem Camp, Baumhäusern, Holzkonstruktionen und diversen Hausbesetzungen etabliert, die sich im Jahr 2022 beständig weiterentwickelte. Diese Szene propagierte die Vorstellung, mit dem Erhalt von Lützerath die im Pariser Abkommen vereinbarten Klimaschutzziele von einer Erderwärmung von nicht mehr als 1,5 Grad zumindest im Bereich einer Umsetzbarkeit zu halten. Eine Abbaggerung der Kohle unter Lützerath würde dagegen die Einhaltung dieser Ziele unmöglich machen. Am 27. März 2022 hatte das Oberverwaltungsgericht Münster entschieden, dass der Tagebaubetreiber die erforderlichen Vorbereitungsmaßnahmen zur Gewinnung von Braunkohle treffen dürfe. Die Protestszene hatte demgegenüber klargestellt, dass sie widerrechtlich in dem errichteten Camp verweilen werde. Die von dort ausgehende lInksextremIsmus 185 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Medienarbeit, Vernetzungen sowie Erlebnisund Bildungsangebote übten eine gewisse Anziehungskraft auf weite Teile der nationalen und internationalen Klimaschutzbewegung aus. Straftaten und extremistische Einschlüsse in Lützerath Die Anzahl der sich im Protestcamp aufhaltenden Personen fluktuierte über das Jahr hinweg. Der letzte verbliebene Privateigentümer Lützeraths verließ sein Haus im Oktober 2022. Zum Ende des Jahres 2022 hatte sich ein Kern von rund 100 dauerhaft in Lützerath verweilenden Personen gebildet, von denen der überwiegende Teil zivildemokratische Klimaschutzziele verfolgte. Daneben waren in der Protestszene jedoch auch Linksextremisten aktiv. Mit der Kampagne "Ende Gelände goes Lützerath" zeigte das linksextremistisch beeinflusste Bündnis "Ende Gelände" wiederkehrendes Engagement im Jahr 2022. Im Vordergrund der Protestbewegung standen allerdings lokale Zusammenschlüsse. Beispielsweise waren in dem Bündnis "Lützerath Lebt!" auch Personen mit Vorerfahrungen aus anarchistisch motivierten Waldbesetzungen aktiv. Das Bündnis diente insbesondere der heterogenen Protestszene in Lützerath als lose Kommunikationsplattform und Vernetzungsstruktur. Auf diesem Wege wurden auch punktuelle Verbindungen zum auslandsbezogenen Extremismus hergestellt: "Lützerath Lebt!" trat im Mai 2022 als Mitausrichter des im Protestcamp stattfindenden "Muzlum Dogan Festivals" auf, das nach einem verstorbenen Parteikader der verbotenen PKK benannt wurde. Sowohl bei dieser Veranstaltung als auch bei anderen Gelegenheiten wurden verbotene Fahnen der PKK und ihrer Nebenorganisationen gezeigt. In einigen der besetzten Häuser und Kleingruppen mit Bezügen zum Anarchismus trat das Motiv Klimaschutz nahezu vollständig hinter das Ziel zurück, gewaltsam gegen die selbst entworfenen Feindbilder vorzugehen, die als Verantwortliche für Klimakrise, Rassismus und antikoloniale Ausbeutung ausgemacht worden waren: der Kapitalismus in Form des Tagebaubetreibers, die Institution Polizei und die des Staates im Allgemeinen. Entsprechend zustimmend äußerten sich einige dieser Akteure in Bezug auf einen schweren Landfriedensbruch im Protestcamp, bei dem am 24. Februar 2022 auch Polizeibeamte mit Steinwürfen angegriffen worden waren. Im Nachgang wurde die Gewaltfrage in der Protestszene teils kontrovers diskutiert. 186 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Obwohl vergleichbare Vorkommnisse in der Folge ausblieben, ereigneten sich im Laufe des Jahres 2022 im Umfeld von Lützerath fortgesetzt weitere Straftaten. Hierzu zählten fortgesetzte Hausfriedensbrüche, eine weitere Hausbesetzung am 8. Januar 2022, der Einsatz von Feuerwerkskörpern gegen Baumaschinen sowie eine Vielzahl an Sachbeschädigungen, die teils mit erheblichen Schadenssummen überwiegend an der Infrastruktur des Tagebaubetreibers begangen wurden. Innerhalb des Camps wurde versucht, das Protestcamp als autonom-anarchistische Zone darzustellen. Dazu verwehrte ein kleiner Personenkreis anderen ideologisch konkurrierenden Gruppen den Zugang zur Ortslage oder einzelnen Gebäuden, während Medienschaffende in den sozialen Netzwerken vereinzelt über Nötigungen berichteten, die ihre Tätigkeiten einschränken sollten. Mobilisierung nach dem Kohlekompromiss Am 4. Oktober 2022 wurde der "Kohlekompromiss" verkündet, in dem auf politischer Ebene der Kohleausstieg auf das Jahr 2030 vorgezogen, dafür aber eine Nutzung des Kohleflözes unter der Ortslage Lützerath vereinbart wurde. Als unmittelbare Reaktion wurden Sachbeschädigungen sowohl im Umkreis des Rheinischen Braunkohlereviers als auch bundesweit in den Begründungszusammenhang mit der Klimaschutzkampagne gestellt. Eine Reihe dieser teilweise extremistisch motivierten Resonanzstraftaten richtete sich gegen Einrichtungen der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die als ein weiterer Verantwortlicher für den erwarteten Rückbau Lützeraths ausgemacht wurde. Seit dem "Kohlekompromiss" mobilisierten die Klimaschutzbewegung und Teile des linksextremistischen Spektrums verstärkt für den sogenannten "Tag X" der erwarteten Räumungsmaßnahme. "Ende Gelände" kündigte an, man werde der Landesregierung dabei "ein Desaster bereiten". Die linksextremistischen Bündnisse Interventionistische Linke und "...ums Ganze!" begannen, bundesweit für Anreisen zu werben. Die autonome Szene kommunizierte in den sozialen Medien vereinzelt radikaler und veröffentlichte Schreiben, die zur Teilnahme an den Protesten oder zur Begehung paralleler Straftaten aufriefen. Gleichzeitig hatte das Bündnis "Lützerath Lebt!" seine Sprache verschärft und konzentrierte sich stärker auf eine "Verteidigung" des Protestcamps. Politische Kompromisse, rechtsstaatliche Entscheidungen und deren polizeiliche Durchsetzung ablehnend hieß es: "über Lützerath entscheiden wir." Schon seit ihrem Bestehen hatte sich die lokale Protestszene an der Errichtung von Holzkonstruktionen und Barrikaden versucht, die lInksextremIsmus 187 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 eine mögliche Räumung beoder sogar verhindern sollten. Zuletzt proklamierte das Bündnis in einem Strategiepapier eine "Diversity of Tactics": "Doch allein durch Aufklärung können wir im Kampf gegen das hochorganisierte System nicht bestehen. Weitere Aktionsformen sollten darauf ausgelegt sein, das kapitalistische System in Form des Staates und der großen Unternehmen anzugreifen. [...] Die Aktionsformen dazu können von zivilem Ungehorsam, bis zu direkten Angriffen wie Sabotage oder Sachbeschädigung reichen." Wenngleich hier ein militantes Vorgehen gegen Menschen, insbesondere Polizeibeamte, nicht inbegriffen ist, versteht gerade auch die autonome Szene eine "Diversity of Tactics" als Signal, dass solche Handlungen nicht ausgeschlossen werden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Zuge der Konzentrationsund Spaltungsprozesse war im nordrhein-westfälischen Linksextremismus im Jahr 2022 in geringem Ausmaß auch eine Bedeutungszunahme der Diskussion um weltanschauliche Positionen festzustellen. Die in den westlichen Demokratien in den Hintergrund gedrängten Ideologiewelten des Marxismus, die auf einem erweiterten Begriff der Arbeiterklasse und des Klassenkampfes basieren, finden neben Parteien kommunistischer Ausrichtung wie MLPD oder DKP neue Anhänger. Das gilt auch für anarchistische Ideen, die sich grundlegend gegen jede Form von Herrschaft richten. Trotz unterschiedlichster Varianten dieser politischen Ideenfamilien kommen diese dennoch dahingehend überein, dass der Staat im Zentrum aller Unterdrückungsverhältnisse steht und daher zerschlagen werden muss. Interne Spaltungslinien bleiben für die autonome und anarchistische Szene aber weiterhin prägend. Zwar reichen die gemeinsamen Feindbilder - etwa die Narrative von staatlicher und polizeilicher Repression oder der Unterdrückungsmechanismen des Kapitalismus - für ein Zusammenwirken verschiedener Gruppen bei Demonstrationen und anlassbezogenen Bündnissen aus. Sie führen aber wegen der unterschiedlichen strategischen Ansätze dennoch nicht zu einer dauerhaften Bündelung der segmentierten Szenepotenziale in einer gemeinsamen Agenda. Auf diese Weise stehen die themenbezogene Agitation und von der Tagespolitik bestimmte Aktionen gerade bei der autonomen, postautonomen und anarchistischen Szene wie auch bei den sich klassenkämpferisch gebenden Gruppen weiter im Vordergrund. 188 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Das Schaffen "autonomer Freiräume" in Form selbstverwalteter und hierarchiefreier Zentren ist trotz der Vernetzungsbemühungen im Internet ein wesentliches Anliegen der autonomen Szene. Die Autonomen Zentren bilden auch künftig den zentralen Anlaufund Treffpunkt linksextremistischer Gruppen auf lokaler und regionaler Basis. Als häufiges Ergebnis rechtswidriger Gebäudebesetzungen entziehen sie sich dem Einfluss der Ordnungsund Kommunalbehörden und bieten daher der autonomen Szene die Möglichkeit von Veranstaltungen abseits gesetzlicher und gesellschaftlicher Zwänge. Der Reflex autonomer Antifa-Gruppen, die demonstrativen Aktionen mit Beteiligung von Rechtsextremisten oder deren Umfeld stets mit eigenen Gegenaktivitäten zu beantworten, nach Möglichkeit zu verhindern oder zumindest die Durchführung zu erschweren, bleibt ebenfalls ein Handlungsmuster, das szeneintern willkommene Anlässe zu gemeinsamen Aktionen schafft. Insbesondere tätliche Auseinandersetzungen mit der dabei eingesetzten Polizei besitzen für die autonome Szene eine identitätsstiftende Wirkung. In gleicher Weise schafft die Teilnahme an spektakulären Aktionen autonomer oder autonom beeinflusster Personenzusammenhänge im Kontext des gewaltbefürwortenden Protestes gegen die Klimapolitik auch künftig initiierende und selbstbestätigende Impulse gerade für Neueinsteiger in der linksextremistischen Szene. Hier bleibt die weitere Entwicklung abzuwarten, insbesondere inwieweit es linksextremistischen Akteuren gelingt, ihre Positionen in die bürgerlich geprägte Klimaschutzbewegung hineinzutragen. Auffällig ist für Nordrhein-Westfalen ein über mehrere Jahre anhaltender Trend abnehmender Mobilisierung für Massendemonstrationen mit linksextremistischer Beteiligung. Die früher übliche Anreise mit zahlreichen Bussen zu Protestveranstaltungen blieb im Berichtszeitraum aus, obwohl pandemiebedingte Auflagen weitgehend weggefallen waren. Stattdessen fanden vermehrt Beteiligungen auf lokaler oder regionaler Basis an bundesweiten Aktionen statt, die aber in ihrer Dezentralisierung keine nennenswerte Attraktivität innerhalb der linksextremistischen Szene ausstrahlten und wenig öffentliche Aufmerksamkeit erzeugten. Ausnahmen von dieser stagnierenden Mobilisierungsfähigkeit als Ergebnis eines Zusammenwirkens extremistischer und nicht extremistischer Akteure waren und sind in anschlussfähigen Themenfeldern gleichwohl immer wieder möglich. lInksextremIsmus 189 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 190 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Auslandsbezogener Extremismus auslandsbezogener extremIsmus 191 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Zusammenfassung Im nicht religiösen auslandsbezogenen Extremismus liegt ein deutlicher Schwerpunkt der Beobachtung auf Organisationen mit Bezug zur Türkei. Diese agieren sowohl im linksextremistischen als auch im nationalistisch geprägten rechtsextremistischen Spektrum. Das linksextremistische Spektrum repräsentieren die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-Front (DHKP-C). Zum rechtsextremistischen Spektrum zählt die als Graue Wölfe bekannte Ülkücü-Bewegung mit den ihr zuzuordnenden Dachverbänden Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V. (ADÜTDF), Union der TürkischIslamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB), Föderation der Weltordnung in Europa (ANF) und die ebenfalls der Ülkücü-Bewegung zuzurechnende, jedoch nicht in Dachverbänden organisierte sogenannte freie Szene der Ülkücü-Bewegung. Reaktionen der PKK auf Ereignisse in der Türkei und in den kurdischen Siedlungsgebieten in Nordsyrien und im Nordirak Im Berichtszeitraum 2022 kam es erneut zu Angriffen auf Stellungen der PKK in den kurdischen Siedlungsgebieten in Nordsyrien und im Nordirak. Die Kampfhandlungen beeinflussten unmittelbar die Agitation der PKK und führten zu einer erhöhten Anzahl an Demonstrationen und Protestkundgebungen im Bundesgebiet und in Nordrhein-Westfalen. Nachdem bereits im April und Juni größere Veranstaltungen mit bis zu 6.500 Teilnehmern in Düsseldorf stattfanden, kam es nach einer militärischen Offensive im Kampfgebiet, bei dem nach Angaben der PKK von türkischer Seite auch Chemiewaffen eingesetzt worden sein sollten, erneut zu einer deutlichen Intensivierung der Proteste. Demonstrationen in diesem Kontext haben großen Zulauf und dienen der PKK und ihren Anhängern dazu, mediale Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu gewinnen. Zudem bemüht sich die Organisation durch diese öffentlichkeitswirksame Agitation darum, in den ihr nahestehenden Szenen möglichst viele Gelder zur Unterstützung der umkämpften kurdischen Siedlungsgebiete zu generieren. Darüber hinaus wirkt die PKK nach wie vor mit ihren nicht dem Betätigungsverbot unterliegenden Strukturen in die Zivilgesellschaft hinein. Solche Entgrenzungstendenzen finden sich bei der PKK beispielsweise in dem Versuch, sich im Rahmen ihrer politischen und kulturellen Lobbyarbeit von dem Makel der Einstufung als Terrororganisation zu befreien. 192 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Aktionsverhalten von DHKP-C-Aktivisten Kundgebungen und die Solidarisierung mit inhaftierten Mitgliedern der Organisation sind ein wesentlicher Teil des Aktionsverhaltens von Aktivisten und Sympathisanten der DHKP-C in Deutschland und NRW. Ein weiteres zentrales Thema ist das "Märtyrergedenken", bei dem an Mitglieder erinnert wird, die bei Selbstmordanschlägen oder in Folge von "Todesfasten" genannten Hungerstreiks verstorben sind. Solidarität für inhaftierte Mitglieder und Sympathisanten und das "Märtyrergedenken" bleiben damit zentraler Aspekt der Agitation und Propaganda von Aktivisten der DHKP-C in Deutschland. Einen weiteren thematischen Schwerpunkt legt die DHKP-C in ihr Bestreben, sich vom Makel der Einstufung als ausländische terroristische Vereinigung zu befreien. Aktivitäten der Ülkücü-Bewegung In Deutschland manifestiert sich der türkische Rechtsextremismus in drei Dachverbänden sowie einer verbandsunabhängigen freien Szene der Ülkücü-Bewegung. Ihre gemeinsame weltanschauliche Klammer bildet die Ülkücü-Ideologie, die sich durch einen übersteigerten Nationalismus auszeichnet. Nach wie vor stellt die Wiedervereinigung aller Turkvölker in einem Großreich "Turan" ein zentrales Ideologieelement der Ülkücü-Bewegung dar. Damit geht eine deutliche Überhöhung der türkischen Ethnie sowie eine Herabwürdigung anderer Ethnien durch das Pflegen von Feindbildern einher. Dazu gehören unter anderem Kurden und Juden, aber auch Armenier und Christen. Während die Dachverbände ADÜTDF, ATIB und ANF nach außen hin die Nähe zur Ülkücü-Ideologie eher kaschieren und ihre Mitglieder zu einem rechtskonformen Verhalten anhalten, ist in der freien Szene der Ülkücü-Bewegung die Fokussierung auf die Feindbilder deutlicher erkennbar. Aktuelle Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland, in der Türkei oder den türkischen Staat betreffend werden in der freien Ülkücü-Szene in den sozialen Medien thematisiert und in rassistischer, antisemitischer Art und Weise kommentiert. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y auslandsbezogener extremIsmus 193 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe) Sitz/Verbreitung Landesweit mit Schwerpunkten in Ballungszentren Gründung/Bestehen seit 1978 Gründung der Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu - ADÜTDF) 1987 Abspaltung und Gründung der Union der TürkischIslamischen Kulturvereine in Europa e.V. (Avrupa Türk Islam Kültür Dernekleri Birligi - ATIB) von der heutigen ADÜTDF 1994 Gründung der Föderation der Weltordnung in Europa (Avrupa Nizam-i Alem Federasyonu - ANF) Struktur/ Repräsentanz 70 ADÜTDF - Vereine in NRW Sieben ATIB -Vereine in NRW und der Dachverband mit Sitz in Köln Vier ANF-Vereine in NRW Mitglieder/Anhänger/ Freie Szene der Ülkücü-Bewegung: Unterstützer 2022 NRW: 800 Vereinsgebundene ADÜTDF-Mitglieder: NRW: 2.000 Vereinsgebundene ATIB-Mitglieder: NRW: 600 194 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Vereinsgebundene ANF-Mitglieder NRW: 300 Veröffentlichungen ADÜTDF: Zeitschriften (zum Beispiel Bülten), Webseiten, Facebook-, Instagram-, Twitterund Tiktok-Profile und -Gruppen, YouTube ATIB: Zeitschrift Referans, Webseiten, Facebook-, Instagramund Twitter-Profile und -Gruppen, YouTube ANF: Zeitschrift Alperen, Webseiten, Facebook-, Instagram-, Twitterund TikTok-Profile und -Gruppen, YouTube Kurzporträt/Ziele Der Ülkücü-Bewegung sind in NRW drei Dachverbände zuzuordnen: die ADÜTDF, die ATIB und die ANF. Die heterogene türkisch-rechtsextremistische Ülkücü-Bewegung zeichnet sich durch ihr turanistisches Weltbild aus: Die politische und geschichtliche Bedeutung des Osmanischen Reiches ist narrative Grundlage für die Überlegenheit der türkischen Nation. Zentrales Merkmal der Bewegung ist somit die Idealisierung der eigenen türkischen Identität bei gleichzeitiger Herabwürdigung anderer Volksgruppen und politischer Gegner. Ziel ist die Vereinigung aller Turkvölker in einem Staat "Turan". Finanzierung ADÜTDF: Mitgliedsbeiträge und Spenden ATIB: Mitgliedsbeiträge und Spenden ANF: Mitgliedsbeiträge, Spenden, Verkauf von zum Beispiel Kalendern Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Wegen ihres extremistisch-nationalistischen Gedankenguts handelt es sich bei der Ülkücü-Bewegung um eine Gruppierung, die sich gegen den Gedanken der Völkerverauslandsbezogener extremIsmus 195 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 ständigung beziehungsweise gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richtet und zugleich gegen den im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgrundsatz verstößt. Somit erfüllt diese Bewegung mit ihren Gruppierungen die Voraussetzungen zur Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörde (SS 3 Abs. 1, Nr. 1 und Nr. 4 VSG NRW). Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Vereinsgebundene Anhängerschaft Im Berichtsjahr 2022 hat die vereinsgebundene Anhängerschaft der Ülkücü-Bewegung nach Aufhebung eines Großteils der Corona-Schutzmaßnahmen ihre realweltlichen Aktivitäten wiederaufgenommen. Die drei Dachverbände (ADÜTDF, ATIB und ANF) arrangierten - wie auch vor den pandemieschutzbedingten Einschränkungen - Veranstaltungen zu verschiedenen Themen: Neben Sportund Spielfesten, die sich in erster Linie an Kinder richteten, wurden auch Bildungsund Schulungsveranstaltungen - zum Teil auch mit religiöser Konnotation - angeboten. Die einzelnen regionalen Vereine der Ülkücü-Bewegung handeln nach den Vorgaben ihrer jeweiligen Verbandszentralen. Zum Beispiel zeigt die Anhängerschaft vereinzelter ADÜTDF-Vereine in NRW nach wie vor unverkennbar ihre ideologische Ausrichtung: Profilseiten in sozialen Medien - vornehmlich Facebook - haben zum Teil eine starke Prägung der klassischen Ülkücü-Symbolik. Erkennbar sind unter anderem Jugendliche und Erwachsene, die den Wolfsgruß zeigen, Vereinsräume, die die drei Halbmonde oder den heulenden Wolf abbilden. Auch ist in den Vereinsräumlichkeiten der regionalen ADÜTDF-Vereine in NRW fortwährend das Bild des ideologischen Vordenkers, Alparslan Türkes, zu sehen. Alparslan Türkes > geboren am 25. November 1917 und gestorben am 4. April 1997 > Gründer der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP - Milliyetci Hareket Partisi) > Türkes wird von den Grauen Wölfen heute noch als sogenannter Basbug (deutsch: "Häuptling") bezeichnet. 196 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Demgegenüber stehen die Vereine der ATIB: Diese setzen den Fokus nicht nur auf ihre religiöse Ausrichtung, sondern versuchen, insbesondere in sozialen Medien, keinerlei Bezugspunkte zum türkischen Rechtsextremismus offenzulegen. Sie treten überwiegend mit integrativen, religiösen und bildungszentrierten Themen in die Öffentlichkeit. Ein zentrales Thema der ATIB ist so zum Beispiel die nach ihrer Auffassung in Deutschland herrschende Islamund Türkeifeindlichkeit. Das ist sowohl auf den jeweiligen Profilseiten innerhalb sozialer Medien als auch in ihrer eigens herausgegebenen Zeitschrift Referans erkennbar. So heißt es in der Referans zum Beispiel: "Alman siyasi dehasi, kendiler icin gösterdigi asaleti sözkonusu Türkler olunca ne yazik ki göstermiyor... Öteden beri Türk ve Islam baglantili bütün kavramlar, cagrisimlar, Alman siyasetinde ve aydin/entelektüel dünyasinda olumsuzluklar ve önyargilarla birlikte terennüm edilmektedir." Übersetzt bedeutet dies: "Der deutsche politische Geist verweigert den Türken die Würde, die sie sich selbst zukommen lässt... Seit jeher werden alle Begriffe und Assoziationen, die einen türkischen und islamischen Bezug besitzen, in der deutschen Politik und intellektuellen Welt gemeinsam mit negativen und vorurteilsbeladenen Inhalten genannt." Die Autoren dieses Beitrags gehen indes von einer grundsätzlichen und alle Deutschen betreffenden Türkeiund Islamfeindlichkeit aus. Dieses Narrativ dient unter anderem dazu, die Akzeptanz türkisch-nationalistischer Deutungsmuster zu erhöhen und den Zugang zu Denkweisen der Ülkücü-Bewegung zu erleichtern. Auch die ANF-Vereine kennzeichnet eine Besonderheit: Die ANF-Vereine sind durch eine starke Führerund Märtyrerverehrung geprägt. Das zeigt auch die im März 2022 organisierte Gedenkveranstaltung zu Muhsin Yazicioglu. Als Redner nahm an dieser Gedenkveranstaltung auch der ehemalige Vorstand der ATIB teil. In seiner Rede bezog er sich auf historische Ereignisse der Türkei und hob hervor, dass Yazicioglu einer der größten Anführer der Ülkücü-Bewegung sei und die Ülkücü-Bewegung unter "Blutverlust" leide, da Anführer wie Yazicioglu fehlten. Obgleich ihrer unterschiedlichen öffentlichen Ausrichtung bestätigen die dargestellten personellen Verflechtungen die ideologische Nähe zwischen der ATIB und ANF. Die freie Szene des türkischen Rechtsextremismus Die sogenannte freie Szene der Ülkücü-Bewegung ist durch eine vorbehaltslose Solidarität gegenüber der Türkei und dem türkischen Staatspräsidenten gekennzeichnet. Diese auch emotionale Verbundenheit ist in erster Linie in sozialen Medien feststellbar. Anhand internationaler und nationaler Themen wurden auch im Berichtsauslandsbezogener extremIsmus 197 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 ANF-Gedenkveranstaltung jahr 2022 Deutschland, "der Westen" und "die EU" der Türkei als schlechte Beispiele gegenübergestellt. Dass weder die eine noch die andere Seite hierbei eine homogene Masse darstellen, wird außer Acht gelassen. Motive, die regelmäßig in den Fokus gerückt werden, sind die angeblich mangelnde Neutralität deutscher Medien und die aus Sicht der freien Szene der Ülkücü-Bewegung vorherrschende Islamund Türkeifeindlichkeit von Repräsentanten des deutschen Staates, zum Beispiel von Polizisten. Überdies spielten innerhalb der Ülkücü-Bewegung im Berichtszeitraum auch internationale Konflikte eine Rolle,so zum Teil auch der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Meinungen und Stellungnahmen seitens der freien Szene der Ülkücü-Bewegung hierzu sind sehr unterschiedlich: Einerseits finden sich Positionen, denen eine eindeutige Ablehnung der NATO und Allianz mit Russland inhärent ist. Andererseits sind Solidaritätsbekundungen gegenüber der Ukraine erkennbar. Eine einheitliche Bewertung und entsprechender Umgang mit dem Thema ist für die freie Szene der Ülkücü-Bewegung nicht erkennbar. Im Berichtsjahr war überdies vereinzelt erkennbar, dass Personen, die der Verfassungsschutz NRW der freien Szene der Ülkücü-Bewegung zurechnet, an Veranstaltungen des verbandlich organisierten Spektrums teilnahmen und dies in sozialen Medien entsprechend kundtaten. 198 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Jahr 2022 haben die einzelnen regionalen Vereine der drei großen Dachverbände ADÜTDF, ATIB und ANF, die der Ülkücü-Bewegung zugerechnet werden können, ihre Aktivitäten wiederaufgenommen. Neben den klassischen Veranstaltungen und der jeweils vereinsinternen Vorgabe, gesetzeskonform zu handeln und sich nach außen integrativ zu geben, sind die Themen und Aktivitäten türkischer Rechtsextremisten auch im Berichtsjahr 2022 stark an Ereignissen und Entwicklungen in der Türkei orientiert. Im Gegensatz zur ATIB sind die ADÜTDFund ANF-Vereine strukturell an politische und staatliche Institutionen der Türkei gebunden. Zugleich sind die einzelnen Ortsvereine der Ülkücü-Bewegung in den Kommunen NRWs fest verankert - obgleich ihre ideologische Ausund Zielrichtung in der Türkei bestimmt und in NRW umgesetzt wird. Die freie Szene der Ülkücü-Bewegung ist weiterhin schwerpunktmäßig im digitalen Raum aktiv. In den sozialen Netzwerken äußern sich häufig Einzelpersonen zu tagesaktuellen innenund außenpolitischen Ereignissen. Diese Akteure verfügen zuweilen über eine sehr hohe digitale Reichweite und sind damit in der Lage, ein großes Spektrum der türkeistämmigen und türkischen Community in NRW zu erreichen. Das dient der Verbreitung türkisch-nationalistischer Narrative. Vielfältigste Themen werden mal mit starker, mal mit geringer ideologischer Färbung kommentiert. Diese Agitationsweise türkischer Rechtsextremisten führt im Ergebnis zu einer Polarisierung der Gesellschaft. Die Ülkücü-Bewegung versucht, das gesellschaftliche und politische System zugunsten ihrer Grundund Werteordnung mitzugestalten und ihre Agenda im Interesse ihrer Anhängerschaft gesellschaftspolitisch zu etablieren. Deshalb sind Aktivitäten und Meinungen der unterschiedlichen Akteure der Ülkücü-Bewegung auf den ersten Blick nicht immer gleich als der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entgegenstehendes Ideologem zu erkennen; dies intendiert der türkische Rechtsextremismus. Denn Ziel ist unter anderem die Mobilisierung - durch nach Außen kommunizierte Verfassungstreue - von Personen aus der politischen Mitte der türkeistämmigen und türkischen Community in NRW. auslandsbezogener extremIsmus 199 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Revolutionäre Volksbefreiungspartei/Front (Devrimci Halk Kurtulus PartisiCephesi - DHKP-C) Sitz/Verbreitung Türkei, europaweite Verbreitung mit Schwerpunkt Mittelund Westeuropa Gründung/Bestehen seit 1994, hervorgegangen aus der 1978 gegründeten revolutionären Linken (Devrimci Sol - Dev-Sol) Struktur/ Repräsentanz Generalsekretär, Zentralkomitee sowie länderund gebietsverantwortliche Funktionäre. Nach dem Tod von Dursun Karatas im Jahr 2008 wurde offiziell noch kein Nachfolger für das Amt des Generalsekretärs bestimmt. Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 200 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Publikationen "Devrimci Sol" (unregelmäßiges Erscheinen) und "Halk Okulu" (bis 2019 "Yürüyüs") Web-Angebot: Eigener Internetauftritt, Nutzung von sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Die in der Türkei und in Deutschland verbotene Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKP-C) verfolgt das Ziel, das bestehende türkische Staatssystem durch eine bewaffnete Revolution zu zerschlagen, um ein sozialistisches System zu errichten. Auf der ideologischen Grundlage des Marxismus-Leninismus propagiert die DHKP-C einen bewaffneten Volkskampf unter ihrer Führung. 200 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Organisation tritt damit für eine revolutionäre Überwindung der türkischen Staatsund Gesellschaftsordnung ein. Hierzu führt sie in der Türkei auch terroristische Aktionen durch. In Deutschland kann die DHKP-C aufgrund ihres Verbotes im Jahr 2000 nicht offen agieren. Sie handelt daher über Vereine, deren Satzungen keinen Rückschluss auf die Zugehörigkeit zur Organisation zulassen oder deren Verbindungen zur DHKP-C nur schwer nachweisbar sind. Finanzierung Spenden und Erlöse aus dem Verkauf von Publikationen Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Mit ihrem Bestreben gefährdet die DHKP-C sowohl die innere Sicherheit als auch die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 VSG NRW). Die DHKP-C ist eine Nachfolgeorganisation der in der Bundesrepublik Deutschland seit 1983 verbotenen Devrimci Sol. Seit dem Verbot 1983 werden politische Aktivitäten konspirativ fortgesetzt. Die DHKP-C selbst ist in Deutschland seit dem 1. Februar 2000 rechtskräftig verboten. Im Mai 2002 hat der Rat der Europäischen Union die DHKP-C auf die europäische Liste der Terrororganisationen gesetzt. Der politische Flügel der DHKP-C gibt sich selbst den Namen Revolutionäre Volksbefreiungspartei (Devrimci Halk Kurtulus Partisi - DHKP), während sich der militärische Arm der DHKP-C als Revolutionäre Volksbefreiungsfront (Devrimci Halk Kurtulus Cephesi - DHKC) bezeichnet. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Öffentliche Aktivitäten der linksextremistischen DHKP-C in NRW standen im Berichtszeitraum erneut überwiegend im Kontext zu staatlichen Exekutivmaßnahmen gegen DHKP-C Mitglieder und der Situation von in Haft befindlichen Führungskadern und Aktivisten der Organisation. Insbesondere ging es dabei um die Forderung, die Paragraphen 129a und b des Strafgesetzbuches abzuschaffen. Diese regeln die Strafbarkeit der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, also auch die Strafbarkeit der Mitgliedschaft in der DHKP-C. auslandsbezogener extremIsmus 201 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 In der ersten Jahreshälfte 2022 wurden vereinzelt Protestaktionen in Form von Informationsständen und Protestkundgebungen vor diplomatischen Vertretungen der Türkei und Griechenland sowie im öffentlichen Raum an verschiedenen Orten in NRW angemeldet und durchgeführt. Die Teilnehmerzahlen bewegten sich hierbei überwiegend im unteren einbeziehungsweise zweistelligen Bereich. Eine größere Außenwirkung konnte durch die Aktionen nicht erzielt werden. Darüber hinaus versammelten sich im April 2022 in Köln Aktivisten und Unterstützer der DHKP-C im Rahmen des jährlich stattfindenden so genannten "Märtyrergedenkens". Beim "Märtyrergedenken" wird an Personen erinnert, die in der Vergangenheit während Hungerstreiks, Attentaten oder bei bewaffneten Auseinandersetzungen mit türkischen Sicherheitskräften und dem Militär ihr Leben verloren haben. An einer Demonstration mit anschließender Gedenkveranstaltung nahmen circa 150 Personen teil. Musikalische Darbietungen wurden unter anderem von Mitgliedern der aus dem Umfeld der DHKP-C stammenden Musikgruppe Grup Yorum vorgetragen. Auch hier wurde in Redebeiträgen der so genannten "Märtyrer" der Organisation gedacht. Exekutivmaßnahmen gegen DHKP-C-Funktionäre Im Mai 2022 wurden im Bundesgebiet im Kontext laufender Ermittlungsverfahren gegen Funktionäre der DHKP-C wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gemäß Paragraph 129b Absatz 1 in Verbindung mit Paragraph 129a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs mehrere Haftbefehle und Dursuchungsbeschlüsse vollstreckt. Im Rahmen der Exekutivmaßnahmen im Auftrag der Bundesanwaltschaft kam es in NRW zur Festnahme eines Mitgliedes der Musikgruppe Grup Yorum. Dem 58-jährigen türkischen Staatsangehörigen wird unter anderem die Durchführung von Propagandaaktivitäten zugunsten der verbotenen DHKP-C vorgeworfen. Als Reaktion auf die polizeilichen Maßnahmen initiierte die Organisation eine Kampagne, die zur Solidarität mit den Inhaftierten aufrief und deren Freilassung forderte. Neben Beiträgen in sozialen Medien und auf einschlägigen Internetseiten wurden auch diverse realweltliche Protestkundgebungen von DHKP-C-Aktivisten und -Sympathisanten im Bundesgebiet durchgeführt. In diesem Zusammenhang fand unter anderem am 1. Oktober 2022 eine Protestund Solidaritätskundgebung vor der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf statt, an der sich rund 30 Personen beteiligten. Neben Rede202 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 beiträgen und dem Skandieren von Sprechchören durch die Anwesenden wurden von Mitgliedern der Musikgruppe Grup Yorum einige Lieder dargeboten. Eine Mobilisierung über die eigene Klientel hinaus gelang hiermit jedoch nicht. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Kundgebungen und Versammlungen im Rahmen des so genannten "Märtyrergedenkens" und die Solidarisierung mit inhaftierten Gesinnungsgenossen nehmen nach wie vor eine zentrale Stellung im Aktionsverhalten von Aktivisten und Sympathisanten der DHKP-C in Deutschland ein. Hierbei spielt das Vorgehen der staatlichen Behörden gegen die DHKP-C und deren Unterstützerumfeld sowie die Situation der in Haft befindlichen Aktivisten eine zentrale Rolle. Strafrechtliche Maßnahmen und staatlicher Verfolgungsdruck im Inund Ausland haben somit einen direkten Einfluss auf die Aktivitäten der DHKP-C in Deutschland. In diesem Kontext hat NRW für die Organisation aufgrund seiner geographischen Lage und dem hohen Anteil türkischer und türkeistämmiger Einwohner eine hohe Relevanz. Nach der Lockerung der staatlich angeordneten Einschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie in den Jahren 2020/2021 konnte im Berichtszeitraum wieder eine Zunahme von Kundgebungen und Versammlungen mit DHKP-C Bezügen im öffentlichem Raum festgestellt werden. Darüber hinaus spielen die Möglichkeiten des virtuellen Raums im Rahmen von Agitation und Propagandaaktivitäten der DHKP-C weiterhin eine wichtige Rolle. Hier macht sich die Organisation die enorme Reichweite des Internets, insbesondere von sozialen Netzwerken zu Nutze, um Aktivisten und Sympathisanten sowie potenzielle neue Unterstützer zu erreichen und zu mobilisieren. Auf einschlägigen Plattformen und Internetseiten werden, analog zu realweltlich durchgeführten Kundgebungen, die gleichen Themen propagandistisch aufbereitet und forciert. Obwohl die Organisation in den letzten Jahren aufgrund des entschlossenen Handelns der Sicherheitsund Ordnungsbehörden wiederholt empfindliche Rückschläge hinnehmen musste, bleibt Deutschland ein wichtiger Sammlungsund Rückzugsraum sowie Rekrutierungsbasis für potenzielle neue Aktivisten und Unterstützer. Zudem kann weiterhin nicht ausgeschlossen werden, dass von hier aus finanzielle und logistische Unterstützung für terroristische Aktivitäten in der Türkei zur Verfügung gestellt wird. Eine nachrichtendienstliche Beobachtung der Aktivitäten der DHKP-C ist somit auch weiterhin angebracht und notwendig. auslandsbezogener extremIsmus 203 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) und unterstützende Organisationen Sitz/Verbreitung Nordirak, in Europa Vertretung durch wenige weisungsberechtigte Funktionäre mit wechselnden Aufenthaltsorten durch den Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa (KCDK-E) Gründung/Bestehen seit November 1978 Struktur/ Repräsentanz Höchste Entscheidungsgremien: Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Präsident: Abdullah Öcalan, Co-Vorsitzende: Bese Hozat und Cemil Bayik und die Generalversammlung Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) Europa: autoritäre Führung mittels Kaderprinzip Deutschland: neun Regionen (Eyalet), 31 Gebiete (Bölge). Nordrhein-Westfalen: zwei Regionen (Nordrhein und Westfalen), acht Gebiete mit je einem leitenden Führungsfunktionär, örtliche kurdische Vereine für die Umsetzung von Vorgaben der europäischen Führungsebene sowie als Treffpunkt und Anlaufstelle für Anhänger der Organisation. Dachverband: Seit Ende Januar 2020 (Konfederasyona Civaken Kurdistaniyen li Almanya - KON-MED) als neuer Dachverband (bereits im Jahr 2019 gegründet): fünf regionale Föderationen im Bundesgebiet, die den örtlichen Vereinen übergeordnet sind (NRW: Föderation der freiheitlichen Gesellschaft Mesopotamiens in NRW (Federasyona Civaken Azad yen Mezopotamy li NRW - FED-MED e.V.). 204 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 KON-MED bemüht sich, wie bereits sein Vorgänger NAVDEM e.V., mit aktiver Öffentlichkeitsund Kampagnenarbeit und durch einen Kontaktaufbau zu politischen Entscheidungsträgern um Unterstützung der PKK und ihrer Anliegen. Aktuell werden in NRW rund 50 örtliche Vereine als PKKnah eingeschätzt. Neben den lokalen Vereinsstrukturen versucht die PKK, ihre Politik mithilfe sogenannter Massenorganisationen zu popularisieren und umzusetzen. Darin organisiert sie ihre Anhänger nach sozialen Kriterien oder nach Berufsund Interessengruppen: Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK) mit Sitz in Köln Islamische Gemeinde Kurdistans (CIK) Zentralverband der Ezidischen Vereine e.V. (NAV-YEK) mit Sitz in Löhne Föderation der demokratischen Aleviten e.V. (FEDA) mit Sitz in Dortmund. Diese Organisationen vertreten kurdische Interessen, ohne integraler Bestandteil der PKK zu sein. Gleichwohl ist deutlich erkennbar, dass auch in diesen Organisationen der PKK nahestehendes Personenpotential aktiv ist. Weitere Organisationen: Kurdische Frauenbewegung in Europa (AKKH / TJKE) Europäischer Jugend-Dachverband Bewegung der revolutionären Jugend (Tevgera Ciwanen Soresger - TCS, auslandsbezogener extremIsmus 205 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 in Deutschland maßgeblich für Rekrutierungsaktivitäten zum bewaffneten Kampf in der Türkei, Syrien oder dem Irak verantwortlich). Mitglieder/Anhänger/ Unterstützer 2022 NRW: 2.200 Veröffentlichungen Publikationen: Serxwebun (Unabhängigkeit) (monatlich) Sterka Ciwan (Stern der Jugend) (monatlich) Newaya Jin (Erlebnisse der Frauen) (monatlich) Kurdistan-Report (zweimonatlich) Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik) (täglich) Fernsehen: Sterk TV Gerila TV Internet: Zahlreiche Internetauftritte verschiedener regionaler Organisationen und Gruppierungen sowie mediale Präsenz in unterschiedlichen sozialen Netzwerken mit guten Verknüpfungen untereinander. Kurzporträt/Ziele Die PKK, die heute unter der Bezeichnung KONGRA-GEL agiert, strebte ursprünglich einen eigenen kurdischen Nationalstaat an, der die Gebiete Südostanatoliens (Türkei), den Nordirak, Teile des westlichen Iran und Gebiete im Norden Syriens umfassen sollte. Im Jahr 1993 hat das Bundesministerium des Innern ein Betätigungsverbot für die PKK und ihre Nebenorganisationen erlassen. Obwohl seitens der PKK immer wieder betont wird, man habe die früheren separatistischen Ziele aufgegeben, bemüht sie sich weiterhin um einen länderübergreifenden 206 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Verbund aller Kurden im Nahen Osten. Darüber hinaus sind die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Führers Abdullah Öcalan und die Aufhebung des Betätigungsverbots zentrale Ziele. Finanzierung Das Generieren von Geld ist ein wesentlicher Schwerpunkt der Aktivitäten der PKK in Deutschland: Jährliche Spendensammlungen bei den Anhängern, Erlöse aus Zeitschriftenund Devotionalienverkäufen, Eintrittsgelder bei Großveranstaltungen dienen der logistischen und finanziellen Unterstützung der Organisation. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die PKK ist mit der Verbotsverfügung nach SS 18 Satz 2 Vereinsgesetz vom 22. November 1993 durch das Bundesministerium des Innern mit einem Betätigungsverbot belegt. Das Betätigungsverbot erstreckt sich sowohl auf sämtliche späteren Umbenennungen der Organisation als auch auf alle seit 1993 benutzten Symbole sowie auf neu hinzugekommene Kennzeichnungen der PKK. Mittels Umbenennung verfolgte die PKK das Ziel, den Eindruck einer politischen Neuausrichtung zu vermitteln und sich des Makels einer Terrororganisation zu entledigen. Die PKK ist zudem seit 2002 von der Europäischen Union auf der Liste von Personen, Vereinigungen und Körperschaften verzeichnet, die an Terrorhandlungen beteiligt waren und restriktiven Maßnahmen unterliegen sollen (sogenannte EU-Terrorliste). In Westeuropa ist seit Ende März 1996 ein weitgehender Verzicht auf gewalttätige Aktionen feststellbar. Insbesondere beim Aufeinandertreffen mit politischen Gegnern kommt es situativ aber auch zu gewalttätigem Verhalten von einzelnen Personen oder Kleinstgruppen. Die PKK stellt zudem aufgrund ihrer fortwährenden Bereitschaft, zu aktionsorientiertem und gewaltbereitem Verhalten zurückzukehren, nach wie vor eine Bedrohung für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Dies begründet ihre Beobachtung gemäß SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW. Ihre Ziele verfolgt die PKK in den Kampfgebieten weiterhin mit Waffengewalt. Damit gefährdet die Organisation die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland, auslandsbezogener extremIsmus 207 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 so dass auch aus diesem Grund eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz nach SS 3 Abs. 1 Nr. 3 VSG NRW erforderlich ist. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Angriffe türkischer Truppen auf kurdische Siedlungsgebiete außerhalb der Türkei dauern an. Im November 2022 kam es zu einem neuerlichen Angriff der türkischen Armee gegen Stellungen der PKK sowohl in Nordsyrien als auch im Nordirak (Operation Krallenschwert). Im Bundesgebiet und auch in NRW kam es in diesem Zusammenhang zu einem erhöhten Demonstrationsaufkommen. Auch wenn die Stimmung angespannt und gereizt war, verliefen die Demonstrationen in diesem Zusammenhang weitestgehend störungsfrei. Reaktionen auf politische Ereignisse im Ausland mit PKK-Bezug Weiterhin gilt, dass neben dem Gesundheitszustand und den Haftbedingungen Abdullah Öcalans insbesondere die Situation in den kurdischen Siedlungsgebieten maßgeblich dafür verantwortlich ist, wie die PKK-nahen Organisationen taktieren und reagieren. Speziell die Ereignisse in Nordsyrien, im Nordirak und in der geographischen Region Kurdistan lösen Reaktionen aus, die im Bundesgebiet und somit auch in NRW erkennbar sind. In NRW gab es im April und im Juni unter anderem in Düsseldorf größere Veranstaltungen, bei denen die Teilnehmerzahlen zwischen 4.500 und 6.500 lagen. Die gesamte kurdische Community wurde im Oktober durch erneute Luftangriffe im Kampfgebiet erschüttert. Nach Angaben der PKK soll es dabei von türkischer Seite auch zum Einsatz von Chemiewaffen gekommen sein. Im Zusammenhang mit diesem Ereignis kam es zu einer vermehrten Aktivität bei den demonstrativen Handlungen im Bundesgebiet und auch in NRW. Demonstrationen in diesem Zusammenhang fanden auch vor dem EU-Parlament in Straßburg statt. Die Demonstranten forderten von der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) den Einsatz chemischer Kampfmittel in Kampfgebieten zu untersuchen, zu verurteilen und zu verhindern. Neben den traditionellen Themen, die in einem direkten kausalen Zusammenhang zur PKK oder ihr nahestehenden Gruppierungen stehen, sind auch Inhalte, die kurdische Interessen betreffen, von Bedeutung. Die aktuellen Ereignisse im Iran, insbesondere der Tod der kurdischstämmigen Masha A., in dessen Folge es unter anderem in Teheran zu heftigen Protesten kam, haben die PKK-nahe kurdische Community in NRW 208 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 mobilisiert. Bei vielen Demonstrationen zu dieser Thematik waren auch Gruppierungen vertreten, die einen engen Bezug zur PKK aufweisen. Insbesondere die PKK-nahen Frauenverbände haben sich hier stark engagiert. Gerichtsentscheidungen im Berichtszeitraum mit Bezügen zur PKK Mitte Februar 2019 wurden die beiden Unternehmen "Mezopotamien Verlag und Vertrieb GmbH" und "MIR Multimedia GmbH" mit Sitz in Neuss als Teilorganisationen der PKK durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) nach dem Vereinsgesetz verboten und aufgelöst. Beide Unternehmen reichten eine Klage ein, welche Ende Januar 2022 durch das Bundesverwaltungsgericht abgewiesen wurde. Anfang März 2022 wurde in Leverkusen aufgrund eines Haftbefehls des Oberlandesgerichts Stuttgart ein 70-jähriger türkischer Staatsangehöriger wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland (PKK) gemäß Paragraph 129a Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Paragraph 129b Absatz 1 Satz 1 und 2 Strafgesetzbuch festgenommen. Anfang November 2022 erfolgte die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Oberlandesgericht Stuttgart. Am 24. Mai 2022 erfolgte im Raum Kassel die Festnahme eines 54-jährigen türkischen Staatsangehörigen aus dem Kreis Wesel aufgrund eines Haftbefehls des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main. Der Beschuldigte ist dringend verdächtig, Mitglied der ausländischen terroristischen Vereinigung PKK gemäß Paragraph 129a Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Paragraph 129b Absatz 1 Strafgesetzbuch zu sein. Auswirkungen der COVID-19-Pandemie/ Ende der Corona-Einschränkungen Die Aktivitäten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) waren durch die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie bis Anfang 2022 stark eingeschränkt. Nach Aufhebung einiger Corona-Einschränkungen konnten die PKK und ihre Anhänger die Demonstrationsaktivitäten deutlich steigern. Im Laufe des Jahres wurden durch die PKK wieder vermehrt Veranstaltungen angemeldet und durchgeführt. Ab April 2022 ist die PKK zum normalen Protestgeschehen zurückgekehrt. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten wurden anlassbezogen organisiert und durchgeführt. Neben der Wiederaufnahme der für die PKK typischen Demonstrationsaktivitäten konnten im Jahr 2022 auch die traditionellen Großveranstaltungen wieder stattfinden. auslandsbezogener extremIsmus 209 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Im Jahreskalender der PKK zählen insbesondere die folgenden vier Großveranstaltungen zu den tradierten Ereignissen und Festen: > März: Traditionelles kurdisches Neujahrsfest Newroz > Mai: Internationales Jugendfestival/Kulturfest Mazlum Dogan > Juni: Zilan Frauenfestival > September: Internationales kurdisches Kulturfestival Von diesen vier Traditionsveranstaltungen fand lediglich die Zentralfeier des Internationalen Jugendfestivals in NRW statt. Das Jugendfestival fand auf dem Gelände des Protestcamps in Lützerath statt, das sich gegen den Braunkohletagebau im Gebiet Garzweiler II richtet. Die Teilnehmerzahl blieb mit 1.000 Personen zu Spitzenzeiten hinter den Erwartungen der Veranstalter zurück. Ein Grund hierfür ist möglicherweise der ungewöhnliche Termin, da dieses Festival in der Regel im Juli eines Jahres stattfindet, in diesem Jahr jedoch vorgezogen wurde und bereits im Mai stattfand. Ein anderer Grund mag in der außergewöhnlichen Wahl des Veranstaltungsortes liegen. Neben verschiedenen kleineren Newroz-Feierlichkeiten in NRW gab es eine zentrale Großveranstaltung in Frankfurt am Main, an der 17.000 Personen teilgenommen haben. Auch das Zilan-Frauenfestival hat im Jahr 2022 in Frankfurt am Mai stattgefunden. Wie bereits im Jahr 2021 ist die Organisation mit der Durchführung des Internationalen kurdischen Kulturfestivals in das benachbarte Ausland (Niederlande) ausgewichen. Die Teilnehmerzahl lag mit rund 10.000 Personen deutlich über den Teilnehmerzahlen der vorherigen Jahre. Im Vorfeld dieser Veranstaltung kam es zum ebenfalls traditionellen "Langen Marsch" der Kurdischen Jugend. Dieser Marsch verlief über eine Woche quer durch NRW und endete in Aachen in unmittelbarer Nähe zum Veranstaltungsort des Internationalen kurdischen Kulturfestivals in den Niederlanden. 210 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 In diesem Jahr waren im Rahmen des "Langen Marsches" der Kurdischen Jugend strukturelle Abweichungen zu den Vorjahren erkennbar. Die Teilnehmer repräsentierten eine heterogene Mischung von PKK-Anhängern und Personen, die sich mit den Zielen der PKK solidarisierten. Deutlich erhöht hat sich dabei die Zahl der Teilnehmer, die nicht dem klassischen kurdischen PKK-nahen Klientel zu zuordnen waren. Hier handelte es sich um Personen aus dem Spektrum des Linksextremismus. Insgesamt war erkennbar, dass bis zu ein Drittel der Teilnehmer des "Langen Marsches" anderen als kurdischen Gruppierungen angehören. Neben der heterogenen Teilnehmerschaft war eine Veränderung des Aktionsverhaltens festzustellen. Von Beginn an waren die Plakataufruf zum "Langen Marsch" der Kurdischen Jugend Teilnehmer hochgradig emotional und suchten den Konflikt mit den Polizeikräften. Der Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen wurde am vorletzten Tag des Marsches erreicht und erforderte einen mehrstündigen polizeilichen Einsatz, bei dem etliche Personen in Gewahrsam genommen wurden. Reaktionen auf Gerüchte über die Gesundheit oder den Tod Abdullah Öcalans Nach wie vor ist Abdullah Öcalan die zentrale ideologieprägende Person für die Anhänger der PKK. Gerüchte über die Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder sogar über den Tod Abdullah Öcalans tauchen immer wieder in der kurdischen Community auf. Im Ergebnis führt dies dann bundesweit und somit auch in NRW dazu, dass die Anhänger verstärkt auf die Straße gehen, um dort durch Demonstrationen Gehör zu erlangen. Weitestgehend verliefen die Demonstrationen, die durch Gerüchte über ein mögliches Ableben von Abdullah Öcalan ausgelöst waren, störungsfrei und ohne nennenswerte Zwischenfälle. auslandsbezogener extremIsmus 211 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Gleichwohl belegen die Demonstrationen, dass allein schon Gerüchte über eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder den Tod Öcalans sehr kurzfristig die PKK-Anhängerschaft mobilisieren können. Die Sorge um den Gesundheitszustand und die Haftbedingungen Öcalans löst eine hohe Emotionalisierung aus und zeigt zugleich das Potenzial der Organisation, ihre Anhänger in Aktionen zu steuern. Verschärfung des Kennzeichnungsverbotes Auch in 2022 war das durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) verschärfte Verbot des Zeigens von Symbolen aus dem Bereich der PKK und deren nahestehenden Organisationen ein andauerndes Thema. Das BMI konkretisierte zunächst im März 2017 und erneut im Januar 2018 das PKKKennzeichnungsverbot. Grundlage dieser Konkretisierung ist das bereits seit dem Jahr 1993 geltende Betätigungsverbot. Inhaltlich umfasst das Betätigungsverbot auch das öffentliche Zeigen von Symbolen der PKK sowie ihrer Unterund Teilorganisationen. Inzwischen gibt es auch in NRW verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die den Anwendungsbereich des BMI-Erlasses in Bezug auf einige Symbole weiter verdeutlichen. Gestiegene Bedeutung digitaler Medien Die PKK nutzt einen aufwändigen Medienapparat, in dem digitale Medien (Facebook, Twitter, Instagram, Facebook-Messenger, WhatsApp etc.) weiter an Bedeutung gewinnen. Diese dienen der Kommunikation und weltweiten Verbreitung von Nachrichten und Informationen. Daneben erhöhen sie die kurzfristige Mobilisierungsfähigkeit der PKK-nahen Gruppierungen. Insbesondere die Nutzung sozialer Netzwerke zielt auf die jüngere Anhängerschaft der PKK. Diese werden zur Rekrutierung Jugendlicher für den bewaffneten Kampf, für kurzfristige und flächendeckende Veranstaltungsaufrufe sowie für die Verbreitung von Stimmungsbildern genutzt. Auffällig im Berichtszeitraum war auch hier die Aneignung dieser Inhalte durch die linksextremistische Szene. Viele Veranstaltungen, die im Ursprung einen PKK-Bezug haben, wurden durch Accounts der linksextremistischen Szene oder dieser Szene nahestehenden Gruppierungen geteilt und verbreitet. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Hinblick auf das künftige Aktionsverhalten muss weiterhin aufmerksam beobachtet werden, welche Wechselwirkungen zwischen PKK-Anhängern und nationalistischen/ rechtsextremistischen Türken innerhalb Deutschlands durch politische Ereignisse er212 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 zeugt werden. Das Aktionsverhalten der PKK-Anhänger in Nordrhein-Westfalen wird weiterhin im Wesentlichen von den Entwicklungen in den Krisengebieten Syrien und Nordirak abhängen. Die fortdauernden Angriffe der türkischen Truppen auf kurdische Siedlungsgebiete außerhalb der Türkei entfalten ihre Auswirkungen in der kurdischen Gemeinschaft bis in die Städte Nordrhein-Westfalens. Die jüngsten Militäroffensiven in den kurdischen Siedlungsgebieten im Nordirak intensivieren den historisch gewachsenen und andauernden Konflikt und sind in der Gesamtschau dazu geeignet, die Sicherheitslage in Deutschland nachhaltig zu beeinflussen. Nicht zuletzt ist die Frage um den gesundheitlichen Zustand Abdullah Öcalans und dessen Haftbedingungen ebenfalls ein wiederkehrendes Thema innerhalb der kurdischen Gemeinschaft. In der nahen Zukunft muss ein besonderes Augenmerk auf die in der Türkei anstehenden Wahlen im Frühjahr 2023 gerichtet sein. Der Wahlkampf in der Türkei, aber auch damit korrespondierende Veranstaltungen im Bundesgebiet, können zu entsprechenden Reaktionen führen. Speziell Veranstaltungen, bei denen türkische Regierungspolitiker hier im Bundesgebiet auftreten, können in den Fokus der PKK-nahen Gruppierungen geraten. Es muss damit gerechnet werden, dass die PKK wieder auf medienwirksame Aktionsformen wie zum Beispiel die Besetzung oder Blockade von Fernsehanstalten, Flughäfen, Parteibüros oder Schiffen zurückgreift. Auch die anlassbezogene, direkte gewaltsame Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner ist in Betracht zu ziehen. Bei ihren Handlungsformen wird sich die PKK-Führung hier aber aller Voraussicht nach weiterhin davon leiten lassen, Deutschland als Rückzugsraum nicht zu gefährden. Auch politische Einflussnahme beziehungsweise Lobbyarbeit ist ein Aktionsschwerpunkt der PKK in Deutschland mit dem Ziel, die Einstufung als Terrororganisation zu beenden. auslandsbezogener extremIsmus 213 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 214 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Islamismus IslamIsmus 215 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Zusammenfassung Die jihadistische Ideologie ist nach wie vor ein Nährboden für terroristische Gewalt. Dadurch besteht weiterhin eine sehr große Gefahr für terroristische Anschläge in Deutschland von islamistisch motivierten Extremisten. Das zeigt nicht zuletzt der mutmaßlich geplante Anschlag in Castrop-Rauxel an Silvester 2022. Deshalb bleibt der extremistische Salafismus eine langfristige Herausforderung für die Sicherheitsbehörden und die Gesellschaft. Zurzeit versuchen der IS wie auch al-Qaida eher, Einzeltäter oder Kleinst-Gruppen anzustiften und wenn möglich anzuleiten, Angriffe unter Verwendung einfacher Tatmittel (Hiebund Stichwaffen, Fahrzeuge) zu begehen. Unabhängig davon sind für diese Terrororganisationen "Unkonventionelle Sprengund Brandvorrichtungen" (USBV) aufgrund ihrer größeren Wirkung aber nach wie vor ein wichtiges Tatmittel. Feindbilder und damit auch Anschlagsziele sind unverändert alle staatlichen Einrichtungen, insbesondere Polizei und Bundeswehr, sowie symbolträchtige Einrichtungen, Veranstaltungen und Gebäude. Aufgrund eines virulenten Antisemitismus in diesen Terrororganisationen befinden sich auch tatsächliche oder vermeintliche jüdische Einrichtungen und Einzelpersonen in deren Zielspektrum. Insbesondere nichtkomplexe Angriffe werden vor allem gegen sogenannte "weiche" Ziele gerichtet, weil dort eher die Wahrscheinlichkeit gegeben ist, größeren Schaden anrichten zu können. Missionierungs-Aktivitäten extremistisch-salafistischer Akteure erneut im öffentlichen Raum Seit Januar 2022 nehmen extremistisch-salafistische Propagandaund Missionierungs-Aktivitäten wieder zu. Diese als "Da'wa" - Einladung (zum Islam) oder auch Missionierung - bezeichneten Aktivitäten zur Verbreitung extremistisch-salafistischer Anschauungen hatten sich seit dem Verbot der "LIES!-Kampagne" 2016 ganz überwiegend aus dem öffentlichen Raum, von der Straße in private Räumlichkeiten und in die Sozialen Medien verlagert. Seit Beginn des Jahres 2022 werden wieder sowohl die sogenannte "Street-Da'wa", als auch die Da'wa in Moscheen und "PlakatDa'wa" verstärkt im öffentlichen Raum beobachtet. In der Online-Da'wa werden diese Formate aufgegriffen und weiterverbreitet, hauptsächlich auf den Plattformen TikTok 216 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 und Instagram. Dabei treten unterschiedliche Akteure und Organisationen auf, die untereinander vernetzt sind. Hierzu gehören unter anderem "Salam - Aufruf zum inneren Frieden", "Einladung zum Islam", oder "Was ist Islam?". Verbot des "Islamischen Kulturvereins Nuralislam" Der in Dortmund ansässige Moscheeverein "Islamischer Kulturverein Nuralislam" wurde durch den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen am 10. März 2022 verboten. Dabei handelte es sich um ein Zentrum extremistisch-salafistischer Propaganda mit einer jihadistischen Ausrichtung. Der Moscheeverein war zugleich ein Rekrutierungszentrum für ein IS-nahes Netzwerk, das auch in Beziehung zum rechtskräftig verurteilten und in Haft befindlichen IS-Rekruteur Abu Walaa stand. Verbot des Iman Mahdi-Zentrums Bereits am 30. April 2020 hat das Bundesministerium des Innern und für Heimat die libanesische Hizb Allah als Terrororganisation in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegt. Dies war ein wichtiger Schritt bei der Bekämpfung eines insbesondere gegen Israel gerichteten Terrorismus. Im Anschluss an das Verbot war zu belegen, dass bestimmte Vereine eng mit der Hizb Allah verbunden sind. Dies ist in Bezug auf das Imam Mahdi-Zentrum (IMZ) in Münster und dessen Trägerverein "Fatime Versammlung" gelungen. Am 17. März 2022 wurde das IMZ durch den Innenminister des Landes NRW verboten und geschlossen, weil es sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung und die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet und die Hizb Allah finanziell und propagandistisch unterstützt hat. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y IslamIsmus 217 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Im Fokus: Wiedererstarken der Da'wa-Aktivitäten in der salafistischen Szene Der Verfassungsschutz hat als Frühwarnsystem die Entwicklungen in allen Extremismusbereichen aufmerksam im Blick. Ein Schwerpunkt ist dabei intensive Aufklärung im Internet und in sozialen Medien. Auf diese Weise beobachtet der NRW-Verfassungsschutz, dass seit Beginn des Jahres 2022 Da'wa-Aktivitäten (Street-Da'wa, Online-Da'wa und Da'wa in Moscheen) innerhalb der extremistisch-salafistischen Szene wieder zunehmend im öffentlichen Raum stattfinden. Der extremistische Salafismus stellt noch immer eine attraktive Ideologie für Jugendliche und junge Erwachsene dar, die auf der Suche nach einer festen Struktur sowie Zusammenhalt und Gemeinschaft sind. Daher sprechen die Da'wa-Akteure gezielt ein junges Publikum an, vor allem über die sozialen Medien. Formen der Street-Da'wa Seit Beginn des Jahres 2022 ist wieder eine Zunahme der Missionierungsarbeit auf den Straßen (Street-Da'wa) zu beobachten, nachdem es im Nachgang zum Verbotsverfahren der Koranverteilaktion LIES!/DWR (Die Wahre Religion) im Jahr 2016 einen starken Rückgang gab. Aktivisten und Prediger zeigen bundesweit in verschiedenen Städten - auch in Nordrhein-Westfalen - an Informationsständen Präsenz und verteilen Literatur mit salafistischen Inhalten. Insbesondere im Ruhrgebiet und in Ostwestfalen waren entsprechende Aktivitäten feststellbar. Auffallend sind nahezu identische Informationsstände mit gleicher Literatur. Bis September/Oktober 2022 wurden im Internet auf unterschiedlichen Plattformen regelmäßig entsprechende Stände unterschiedlicher Gruppierungen dokumentiert. So fanden unter den Namen "Salam-Aufruf zum inneren Frieden", "Einladung zum Islam" und "Was ist Islam?" Verteilaktionen an mobilen Ständen unter anderem in 218 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Dortmund, Essen, Gelsenkirchen, Duisburg und Bielefeld statt. An diesen Ständen waren auch szenebekannte Prediger wie Abu Rumaisa vertreten. Street-Da'wa von "Was ist Islam?" Mittlerweile ist die Dokumentation in den sozialen Medien nicht mehr in so umfassender Form festzustellen. Es ist davon auszugehen, dass die Stände inzwischen ausreichend bekannt sind. Eine weitere Form der Street-Da'wa wurde im Januar 2022 mit einer Plakataktion von Pierre Vogel initiiert. Dabei wurde dazu aufgerufen, deutschlandweit an möglichst vielen Standorten gut sichtbare Plakate anzubringen. Zunächst trugen die Plakate die Botschaft "Jesus fiel auf sein Angesicht und betete zu Gott... Nimm Dir Jesus zum Vorbild, und werde Muslim!". Die aktuellen Plakate tragen die Botschaft "Jesus sagte: Dient Allah, meinem und eurem Herrn!". Seit dem ersten Aufruf wurden primär über den Instagram-Kanal von Pierre Vogel im Laufe des Jahres immer wieder Fotos veröffentlicht, auf denen solche Plakate zu sehen waren. Die letzte bekannte Veröffentlichung erfolgte am 26. November 2022 und zeigte ein Plakat aus Gelsenkirchen. IslamIsmus 219 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Plakataktion von Pierre Vogel Eine weitere Aktionsform der Street-Da'wa besteht in Flyerverteilungen. Dabei gehen Personen von Haus zu Haus und werfen Flyer mit islamischen Themen in Briefkästen. Da'wa in Moscheen Mittlerweile laden regelmäßig Prediger aus der extremistisch-salafistischen Szene zu Vortragsveranstaltungen in Nordrhein-Westfalen ein. Hierbei handelt es sich nicht nur um Prediger aus Nordrhein-Westfalen selbst, sondern auch um bundesweit bekannte Prediger aus anderen Bundesländern. Es sind nur einige wenige Moscheen, die diesen Predigern eine Bühne geben und entsprechende Veranstaltungen organisieren. Diese Veranstaltungen werden gut besucht, das Publikum ist überwiegend jung. 220 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 In Nordrhein-Westfalen gab es mehrere Besuche des überregional bekannten Predigers Abul Baraa in Dormagen, Dortmund, Hagen sowie in der Nähe von Münster. Abul Baraa lebt in Berlin und ist nach Einschätzung des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes schon seit Jahren einer der deutschlandweit bekanntesten und einflussreichsten Prediger der extremistisch-salafistischen Szene. Neben Berlin hält er sich primär in Niedersachsen auf, andere Bundesländer besucht er punktuell. Vorträge und Ratschläge von ihm werden auf zahlreichen Internetkanälen verbreitet und geteilt. Die Veranstaltungen wurden in den sozialen Medien beworben und stießen auf eine große Resonanz. Online-Da'wa Diese Form der Da'wa manifestiert sich auf unterschiedliche Arten: Überregional bekannte Prediger pflegen Internetauftritte auf unterschiedlichen Plattformen in den sozialen Medien. Dort werden regelmäßig Kurzvorträge sowie Antworten auf unterschiedliche Fragen, die einen Bezug zum Islam aufweisen, veröffentlicht. Gelegentlich werden auch Konversionen auf telefonischem Weg durchgeführt. Entsprechende Kanäle haben Followerzahlen im fünfstelligen Bereich. Eine weitere Form der Online-Da'wa findet über Kanäle statt, die kontinuierlich religiöse Inhalte wie Koransuren veröffentlichen und darüber hinaus auch kostenlos Literatur anbieten. Interessierte Personen können die entsprechende Literatur anfordern und erhalten diese zugesandt. Es handelt sich hierbei in der Regel um Bücher, die auch an den Street-Da'wa-Ständen zu finden sind. Auch auf solchen Plattformen werden regelmäßig Konversionen geteilt. Dies geschieht meist in Form einer Darstellung von Chats. Darüber hinaus gibt es bei Instagram, Facebook, Twitter etc. zahllose Kanäle, auf denen regelmäßig und nahezu wahllos Videos von Predigern aus dem salafistischen Spektrum veröffentlicht werden. Besondere Projekte Des Weiteren werden besondere Projekte ins Leben gerufen, die sich an neue Muslime beziehungsweise Nichtmuslime wenden sollen. Ein Beispiel ist das "Dein Hijab-Projekt", das erstmals bereits im Jahr 2020 beworben, aber im Oktober 2022 wieder neu aufgelegt wurde. Mit dieser Aktion sollen "gläubige Frauen" dazu bewegt werden, einen Hijab anzulegen und sich so angemessen zu bedecken. Dieser Hijab wird dann kostenlos zur Verfügung gestellt. IslamIsmus 221 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Prediger Szeneweit bekannte Prediger, die mit eigenen Social-Media-Kanälen auf unterschiedlichen Plattformen im Internet sehr aktiv sind und auch realweltlich gut besuchte Vortragsveranstaltungen in Moscheen in Nordrhein-Westfalen abhalten, sind unter anderem Ibrahim El Azzazi (Bayern) oder Ahmad Abul Baraa (Berlin). Ähnlich aktiv sind unter anderem auch Pierre Vogel (Nordrhein-Westfalen), Marcel Krass (Niedersachsen), Amen Dali (Baden-Württemberg) und Hassan Dabbagh (Sachsen), allerdings seltener an Standorten innerhalb von Nordrhein-Westfalen. Erwähnenswert ist, dass die genannten Prediger sich gegenseitig vernetzen, unterstützen und gelegentlich auch bewerben. Auffallend ist weiter, dass Prediger, die nicht als "Prediger der ersten Reihe" bezeichnet werden können, aktiver werden und versuchen, sich eine größere Medienpräsenz aufzubauen und bei Vortragsveranstaltungen aufzutreten. Ansprache von Jugendlichen Sowohl bei Vortragsveranstaltungen als auch bei der Online-Da'wa in sozialen Netzwerken werden gezielt Jugendliche angesprochen und für die propagierte Religionsausübung begeistert. Die Inhalte werden dementsprechend gestaltet. Die verbreiteten Videos auf den unterschiedlichen Plattformen sind oft sehr kurz und befassen sich häufig mit lebenspraktischen Fragen aus der Community. So erhalten die Zuschauerinnen und Zuschauer ein Gefühl der Beteiligung. Sowohl die Fragen als auch die Antworten sind inhaltlich oft sehr einfach gehalten. Dabei werden zum Beispiel von Ibrahim El Azzazi sogar Fragen wie "Darf man in Schweinfurt wohnen?" oder "Wer ist besser? Christiano Ronaldo oder Messi?" beantwortet. Auf diese Weise werden junge Personen, die sich bisher noch nicht mit dem Islam befasst haben, weder überfordert noch verschreckt. Zuletzt ging aus Videomitschnitten hervor, dass Prediger gelegentlich auch Hallenfußball mit einem jugendlichen Publikum spielen und dies ebenfalls medial verbreiten. Auch diese Aktion zielt auf ein sehr junges Publikum. Bewertung Im Jahr 2022 gab es in Nordrhein-Westfalen sowohl online als auch realweltlich eine signifikante Zunahme von Da'wa-Bemühungen der extremistischsalafistischen Szene. 222 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Diese verteilen sich auf unterschiedliche Felder beziehungsweise Projekte, um ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Jugendliche stehen dabei besonders im Fokus. Nach aktueller Einschätzung werden die Aktivitäten der extremistisch-salafistischen Szene noch weiter zunehmen und die extremistisch-salafistische Szene sich weiter vernetzen. Die Finanzierung für die Beschaffung von Literatur oder das Anbringen von Plakaten erfolgt durch das Sammeln von Spenden. Entsprechende Aufrufe dazu finden sich auf unterschiedlichen Plattformen. Die extremistisch-salafistische Szene ist dabei, sich neu zu konsolidieren. Maßnahmen und Rolle des Verfassungsschutzes Der NRW-Verfassungsschutz beobachtet die wieder aufkommende Missionierungsarbeit bereits in ihren Anfängen. Zugleich sensibilisiert der NRW-Verfassungsschutz die Öffentlichkeit und teilt seine Erkenntnisse mit anderen Sicherheitsbehörden. IslamIsmus 223 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Extremistischer Salafismus Sitz/Verbreitung Alle Regionen Nordrhein-Westfalens, Schwerpunkte in den Ballungszentren des Rheinlands und des Ruhrgebiets Gründung/Bestehen seit Ursprung extremistisch-salafistischer Bestrebungen: Historische islamisch-sunnitische Strömungen vor allem Saudi-Arabiens und Ägyptens. Die ideologischen Grundlagen basieren in großen Teilen auf dem sogenannten Wahhabismus. Ursprung jihadistischer Bestrebungen: Mujahidin-Bewegung der 1980er-Jahre in Afghanistan In Nordrhein-Westfalen: Ab etwa 2003 erste gezielte deutschsprachige Aktivitäten. Struktur/ Repräsentanz Die extremistisch-salafistische Szene in Nordrhein-Westfalen ist äußerst heterogen. Im Jahr 2022 wurden 14 eindeutig extremistisch-salafistisch beeinflusste Moscheevereine beobachtet. Überregionale Netzwerke, die sich aufgrund von Verbotsmaßnahmen, Verdrängungseffekten und der Corona-Pandemie aufgelöst hatten, konnten weiterhin nicht die Aktivitäten, die in den Vorjahren der Pandemie zu beobachten waren, entfalten. Die Aktivitäten der extremistisch-salafistischen Szene erstrecken sich weiterhin in großen Teilen auf die sozialen Medien und sind deshalb schwierig regional einzugrenzen. Eine neue Entwicklung ist das Wiedererstarken von Da'waAktivitäten im Berichtszeitraum, die vor allem in den sozialen Medien stattfinden, aber auch realweltlich zunehmen. 224 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Mitglieder/Anhänger/ Unterstützer 2022 Bekannte extremistische Salafisten in NRW: 2.800\ davon politisch: 2200\ gewaltorientiert: 600\ Veröffentlichungen Verbreitung der Ideologie über Web-Angebote und soziale Netzwerke, Vereinsaktivitäten und Vortragsbeziehungsweise Seminarveranstaltungen Kurzporträt/Ziele Der extremistische Salafismus teilt sich ideologisch in eine politische und eine gewaltorientierte/jihadistische Strömung auf. Salafisten vertreten eine anti-demokratische und damit verfassungsfeindliche Ideologie. Diese basiert auf religiösen Versatzstücken, die der islamischen Religion entlehnt sind. Salafisten streben die Errichtung eines vermeintlich "authentisch-islamischen" Staatssystems an. Politische Salafisten versuchen diese Ziele durch Missionierungsarbeit und den Aufbau von gesellschaftlichen Strukturen zu erreichen, die jedoch die Bildung einer Parallelgesellschaft fördern. Gewaltorientierte Salafisten, die auch als Jihadisten bezeichnet werden, stellen den Jihad im Sinne eines bewaffneten militärischen Kampfes in den Mittelpunkt ihrer Ideologie. Sie wollen ihre Vision eines islamischen Staatswesens mit Waffengewalt umsetzen. Der Übergang zwischen politischen und gewaltorientierten Salafisten ist fließend. IslamIsmus 225 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Finanzierung Spenden aus dem Inund Ausland, wirtschaftliche Betätigung durch den Verkauf von szenetypischen Produkten, Kriminalität Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Anhänger der extremistischen salafistischen Szene verstehen die islamische Religion als Ideologie und die Scharia als gottgegebenes Ordnungsund Herrschaftssystem. Dieser Ideologie folgend wird Demokratie als "falsche Religion" und die Teilnahme an Wahlen als "Götzendienst" angesehen. Extremistische Salafisten folgen damit dem Prinzip der "göttlichen Souveränität". Die Gesetzgebung kann demnach nur von Gott ausgehen und niemals von einem von Menschen gewählten Gesetzgeber gemacht werden. Der extremistische Salafismus widerspricht aus diesem Grund dem Prinzip der "Volkssouveränität" und dadurch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die ablehnende und offen feindselige Haltung gegenüber der Gesellschaft und die teilweise hohe Gewaltaffinität führen zu einem großen Konfliktpotenzial, das das friedliche Zusammenleben gefährdet. Von gewaltorientierten Salafisten geht eine tatsächliche Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland aus. Denn sie sind bereit, schwerste Gewalttaten und Anschläge zu verüben und schrecken auch vor vielfachem Mord nicht zurück. Extremistisch-salafistische Bestrebungen unterliegen deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Der extremistische Salafismus ist für Jugendliche und junge Erwachsene weiter attraktiv. Trotz der Umsetzung einer Vielzahl staatlicher Maßnahmen und der damit verbundenen Verdrängungseffekte konsolidiert sich die Szene gegenwärtig neu. Ehemalige Aktionsfelder werden wiederbelebt und so erneut Verbreitungswege für ihre Ideologie eröffnet. Vor allem die szenetypischen Missionierungsaktivitäten (Da'wa), die mit dem Verbot der Koranverteilkampagne LIES!/Die wahre Religion im Jahr 2016 und durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie stark rückläufig waren, sind seit dem Ende des Jahres 2021 wieder verstärkt öffentlich wahrnehmbar. Diese Aktivitäten erstrecken sich in 226 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 großen Teilen auf die sozialen Medien, finden aber auch im öffentlichen Raum (StreetDa'wa) und in Moscheen statt. Im Rahmen dieser sogenannten Da'wa-Aktivitäten wird der Boden für Radikalisierungsprozesse bereitet. Auch das Rekrutierungspotential für jihadistische Gruppen könnte dadurch zukünftig erhöht sein. Darüber hinaus prägen sowohl lokale Netzwerke als auch solche mit überregionalen Verbindungen sowie Frauengruppen die aktuell noch immer als äußerst heterogen zu bezeichnende Szene. Frauengruppen spielen aufgrund des innerhalb der Szene propagierten binären Rollenbildes weiterhin eine eigenständige und bedeutende Rolle. Lokale Netzwerke im Raum Aachen/Düren verfügten in der Vergangenheit aufgrund der grenznahen Lage zu Belgien und den Niederlanden über Kontakte in die dortige Salafistenszene. Die erwähnten lokalen Netzwerke waren im Herbst 2021 Gegenstand polizeilicher Durchsuchungsmaßnahmen. Danach waren Verdrängungseffekte aufgrund des gestiegenen Verfolgungsdrucks feststellbar. Es ist davon auszugehen, dass die lokalen Netzwerke - analog zu den Bestrebungen der Szene insgesamt - den Versuch unternehmen werden, neue Betätigungsfelder zu erschließen und sich zu konsolidieren. Außerdem wirken innerhalb der Szene Nordrhein-Westfalens Netzwerke, in denen Personen mit einem bestimmten Migrationshintergrund überwiegen - beispielsweise aus Tschetschenien (Ostwestfalen-Lippe) oder Tadschikistan. Auch Konvertiten nehmen nach wie vor eine wichtige Rolle ein. Der in Dortmund ansässige Moscheeverein "Islamischer Kulturverein Nuralislam" wurde durch den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen am 10. März 2022 verboten. Dabei handelte es sich um ein Zentrum extremistisch-salafistischer Propaganda mit einer jihadistischen Ausrichtung. Dieses war zugleich ein Rekrutierungszentrum für ein IS-nahes Netzwerk, das auch in Beziehung zum rechtskräftig verurteilten und in Haft befindlichen IS-Rekruteur Abu Walaa stand. Ein erhebliches Gefahrenmoment und/oder Radikalisierungsmotiv stellen Rückkehrende aus jihadistischen Kampfgebieten, anstehende Entlassungen verurteilter Jihadreisender und weiterer Inhaftierter aus dem extremistisch-salafistischen und jihadistischen Spektrum sowie eine potentielle Radikalisierung in Haft dar. IslamIsmus 227 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Rolle sozialer Medien innerhalb der extremistisch-salafistischen Szene Einhergehend mit den Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie sowie den skizzierten Verdrängungseffekten durch Verbotsmaßnahmen hat die extremistischsalafistische Szene die Aktivitäten in den sozialen Medien weiter verstärkt. Vor allem Instagram, TikTok und Telegram spielen bei der Verbreitung extremistischsalafistischer und jihadistischer Propaganda eine große Rolle. Auf diese Weise werden neue Anhängerinnen und Anhänger für die Szene gewonnen und zugleich die Fremdund Selbstradikalisierung gefördert. Dadurch radikalisieren sich weiterhin Einzelpersonen und Personengruppen auch in Richtung des jihadistischen Spektrums. Die abstrakte Gefahr von Anschlägen bleibt bestehen. Massenhafte Verbreitung salafistischer Propaganda über soziale Medien Gefangenenhilfe Innerhalb der extremistisch-salafistischen Szene stellt die Gefangenenhilfe weiterhin ein wesentliches Element dar. Die Aktivitäten haben auch während der CoronaPandemie kaum abgenommen. In den sozialen Medien hat sich der Schwerpunkt auf den Messengerdienst Telegram verlagert. Dort werden unterschiedliche Kanäle betrieben, von denen "Free our Sisters", "Al Asraa", "Deine Schwester im Camp" sowie "Falk Nachrichten" die prominentesten sind. 228 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Neben den Telegram-Kanälen existieren weiterhin Facebook-Gruppen und vereinzelte Instagram-Profile. Dabei verweisen Profile von Angehörigen der extremistisch-salafistischen Szene sporadisch auf die Gefangenenhilfe. Um Spendengelder einzuwerben, wird die Reichweite von extremistisch-salafistischen Entrepreneurship-Kanälen genutzt. Darüber werden einzelne Spendenaktionen zugunsten der Gefangenenhilfe gestreut. Neben der Sammlung von Spenden fällt die Gefangenenhilfe durch Solidaritätsbekundungen für inhaftierte Szeneangehörige im Inund Ausland sowie für Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus den früheren Gebieten des sogenannten Islamischen Staates auf. Im Fokus der Beiträge und Spendenaktionen stehen weibliche Jihad-Reisende, die sich gegenwärtig in den Camps Roj und al-Hol in Syrien aufhalten. Mit dem gesammelten Geld sollen die Haftbedingungen verbessert und Schleusungen in die Türkei ermöglicht werden. Der über die extremistisch-salafistische Szene hinaus bekannte Bernhard Falk ist seit Jahren im Bereich der Gefangenenhilfe präsent. Falk ist ein ehemaliger zum Islam konvertierter Linksterrorist, der sich selbst als Muntasir billah (deutsch: "siegreich durch Gott") bezeichnet. Der sprachliche Duktus seiner Videobotschaften spiegelt noch immer seine ehemalige Zugehörigkeit zur linksextremistischen Szene wider. So bezeichnet er die in Haft befindlichen Personen der extremistisch-salafistischen Szene als "politische muslimische Gefangene der BRD". Falk nimmt bundesweit als selbsternannter Prozessbeobachter an Gerichtsverhandlungen teil und sucht Personen in Justizvollzugsanstalten auf. Da Falk zu Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen keinen Zugang mehr erhält, werden diese Besuche teilweise von Personen aus seinem Umfeld, die ihn unterstützen, übernommen. In Internetbeiträgen ruft Falk immer wieder zu Solidaritätsbekundungen und zur Teilnahme an Gerichtsprozessen auf. In seinen Videos und Telegram-Beiträgen stellt er Zeugen, Staatsanwälte, Richter, Pflichtverteidiger und Ermittlungsbehörden bloß. So versucht er dem Resozialisierungscharakter der Haft entgegenzuwirken. Die Betreuten sollen in der extremistisch-salafistischen Ideologie verankert und weiter an die Szene gebunden werden. Durch seine umfangreichen Aktivitäten hat Falk seinen Einfluss auf andere Akteure im Bereich der extremistisch-salafistischen Gefangenenhilfe und sein Netzwerk ausbauen können. Dies führte sogar so weit, dass er selbst finanziell unterstützt wurde. Sein szene-untypisches Auftreten und seine offenen Sympathiebekundungen für al-Qaida IslamIsmus 229 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 - und als neue Entwicklung auch für das Islamische Afghanische Emirat, die Politik des Kremls und die Kommunistische Partei Chinas - polarisieren stark. Jedoch zeigt sich hier die Szene pragmatisch: Das Ziel, inhaftierte Szeneangehörige zu betreuen, überwiegt die persönlichen Befindlichkeiten einzelner Personen. Es ist zweifelhaft, ob Falk auch jenseits der Gefangenenhilfe weiterhin an Einfluss gewinnen kann. In Glaubensfragen wird Falk nur selten bis gar nicht als Referenz genannt und bei der Gewinnung neuer Szeneanhänger für die extremistisch-salafistische Szene spielt Falk eine untergeordnete Rolle. Zudem nehmen seit dem russischen Angriffskrieg die unkritische Verbreitung pro-russischer Propaganda und eine breite Kritik an der NATO einen großen Teil von Bernhard Falks Kapazitäten in Anspruch. Die Vereinigung Al Asraa - Die Gefangenen hat sich auf die Betreuung von inhaftierten Muslimen und deren Angehörigen spezialisiert. Sie wurde im Jahr 2015 erstmals in sozialen Netzwerken aktiv. Bei dieser Vereinigung handelt es sich um eine Organisation, die sowohl aufgrund der Themensetzung als auch im Erscheinungsbild stark der Gefangenenhilfe Ansarul Aseer ähnelt, die im Zuge des Vereinsverbotsverfahrens zu Tauhid Germany im Jahre 2015 verboten wurde. In den letzten Jahren richtete sich Al Asraa international aus und machte auf die Haftbedingungen in den kurdischen Gebieten oder auch Xinjiang (China) aufmerksam. Seit dem Sommer 2020 sind die Aktivitäten von Al Asraa stark rückläufig und Aktivitäten in den sozialen Netzwerken nur sporadisch zu verzeichnen. Die Vereinigung scheint sich weiterhin in einem Auflösungsprozess zu befinden. Die Organisation Free our Sisters ist weiterhin aktiv, postet regelmäßig Spendenaufrufe und verbreitet Hilfegesuche von Personen, die bestimmte Sachgüter, eine Wohnung oder einen Rechtsbeistand suchen. Neben der Spendensammlung ist Free our Sisters vor allem dafür bekannt, dass zum Schreiben von Briefen an inhaftierte Muslime aufgerufen wird. Ein Kennverhältnis zwischen dem Briefsender und dem Inhaftierten ist nicht zwangsläufig gegeben und der Inhalt meist ideologisch aufgeladen, aber unverfänglich. Ziel der Briefe ist es, den Inhaftierten in der Szene zu halten. Free our Sisters hat es sich aber auch zur Aufgabe gemacht, Spenden für das Freikaufen 230 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 aus kurdischer Haft zu sammeln. Als Beweis werden Geldscheine, Dankesbriefe und aktuelle Spendenstände geteilt. Vor allem im Zusammenhang mit den Rückkehrenden aus jihadistischen Kampfgebieten nach dem militärischen Niedergang des sogenannten Islamischen Staates sowie im Zuge zahlreicher Verbotsmaßnahmen und damit einhergehender Verdrängungseffekte innerhalb der extremistisch-salafistischen Szene hat die Gefangenenhilfe in den vergangenen Jahren entscheidend an Bedeutung gewonnen. Neben den Missionierungsaktivitäten und Hilfsnetzwerken stellt die Gefangenenhilfe damit ein weiteres zentrales Themenfeld im extremistisch-salafistischen Spektrum dar. Vor allem durch die Verbreitung von Opfernarrativen und das Propagieren von Feindbildern werden Szeneangehörige gebunden und neue Szeneanhänger angesprochen. Hilfsorganisationen Innerhalb der extremistisch-salafistischen Szene sind Hilfsorganisationen ein sehr verbreitetes Aktionsfeld. Regional und deutschlandweit werden erhebliche Geldbeträge gesammelt. Hilfsorganisationen der extremistisch-salafistischen Szene stellen dabei nicht die Ideologie in den Vordergrund, sondern die Hilfe für Notleidende. Da sie nicht nur Szeneangehörige, sondern auch Spender aus dem muslimisch geprägten Teil der Gesellschaft gezielt ansprechen, die keinerlei Extremismusbezüge aufweisen, wird innerhalb dieses Aktionsfeldes eine Entgrenzung in die Mehrheitsgesellschaft angestrebt. Benefizveranstaltungen spielen weiterhin keine bedeutende Rolle mehr. Spenden werden vor allem über das Internet und die sozialen Medien gesammelt. Die Hilfsorganisationen achten bei Auftritten zudem sehr darauf, ihren extremistischen Kern nicht deutlich werden zu lassen. Seit Mai 2021 sind der Verein Ansaar International e.V. und seine Teilorganisationen mit Verfügung des Bundesministeriums des Innern, für Heimat und Bau vereinsrechtlich verboten, da Ansaar gegen den Gedanken der Völkerverständigung und die verfassungsmäßige Ordnung verstoßen hat. Der Verein Ansaar International e.V. wurde 2012 als Ansaar Düsseldorf e.V. gegründet und entwickelte sich nach seiner Umbenennung im Jahr 2014 in Ansaar InterIslamIsmus 231 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 national e.V. zur bundesweit größten Hilfsorganisation der extremistischsalafistischen Szene. Die Hilfsorganisation Blue Springs LTD (ehemals Afrikabrunnen e.V.) stellte sich zu Beginn als rein humanitäre Hilfsorganisation innerhalb der extremistisch-salafistischen Szene dar. Lange Zeit widmete sie sich vorrangig der Aufbauhilfe, bei der es nach eigenen Angaben vor allem um die Sicherung der Grundversorgung mit Wasser in Afrika durch den Bau von Brunnen ging. Bei der Brunnenfinanzierung bietet Blue Springs eine Namenspatenschaft an, die die tatsächlich geleistete Hilfe belegen und eine persönliche Nähe symbolisieren soll. Unter der Schirmherrschaft von Blue Springs werben vermehrt Partnerorganisationen oder scheinbar eigenständige Spendenteams mit abweichendem Logo und Namen um Spendengelder. Im Berichtszeitraum war eine breite Streuung der Spendenaufrufe in der extremistisch-salafistischen Szene zu beobachten. Inzwischen ergibt sich ein diffuses und heterogenes Gesamtbild an Spendenteams. Diese Teams agieren digital und haben in Nordrhein-Westfalen keinen offiziellen Vereinssitz oder Geschäftsräume. Sie rekrutieren sich allerdings vereinzelt aus Mitgliedern der extremistisch-salafistischen Szene in Nordrhein-Westfalen oder wirken auf diese. Eine stringente und transparente Außendarstellung der tatsächlichen Organisationsstruktur von Blue Springs ist im Berichtszeitraum nicht festzustellen. Aufgebaut wie ein Schneeballsystem, versucht Blue Springs durch eine kontinuierlich steigende Zahl an Mitarbeitern, den Kreis an Spendern zu vergrößern. Entgegen der eigenen Darstellung setzt Blue Springs auch die Brunnenprojekte nicht vollständig in Eigenregie um, sondern bedient sich der Expertise ortsansässiger Firmen und unterhält ein Netz von Suborganisationen. Die Hauptorganisation Blue Springs tritt mittlerweile in den sozialen Netzwerken nicht mehr unter eigenem Namen auf, lediglich das Bewerben der Spendenkampagnen findet über die Website statt. Einige der Hauptprotagonisten halten sich derzeit im Ausland auf. Sie verfügen aber über ein breites Netzwerk in den sozialen Medien und pflegen Kontakte in die extremistisch-salafistische Szene in Nordrhein-Westfalen. Die Kombination aus humanitärer Hilfe, professioneller mehrsprachiger Werbung sowie 232 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 der Unterstützung durch Influencer unter anderem aus der Rap-, Beautyoder Kampfsportszene, sorgen für eine hohe Attraktivität und Reichweite bei jungen Menschen. Blue Springs beziehungsweise die Spendennetzwerke in deren Umfeld besetzen vordergründig humanitäre Themen, die auf eine breite gesellschaftliche Zustimmung abzielen. Dementsprechend sind nicht alle Spendensammler, die für Blue Springs tätig sind, der extremistisch-salafistischen Szene zuzuordnen. Bei den Unterstützern sind auch finanzielle, religiöse und humanitäre Motive anzunehmen. Dadurch lässt sich eine Entgrenzung in die Mehrheitsgesellschaft hinein beobachten. Blue Springs galt im Jahr 2022 noch immer als Bestandteil der extremistisch-salafistischen Szene mit strukturellen und personellen Schnittmengen zu anderen extremistisch-salafistischen Akteuren in Nordrhein-Westfalen. Islamistische nordkaukasische Szene (INS) Das Kaukasische Emirat wurde im Jahr 2007 von dem tschetschenischen Untergrundführer Dokku Umarov mit dem Ziel ausgerufen, die russische Armee mit Gewalt zum Rückzug aus Tschetschenien zu zwingen und im Nordkaukasus einen Islamischen Staat zu errichten. Dabei werden auch terroristische Mittel eingesetzt. Deutschland dient den Anhängern der INS vorwiegend zur Akquirierung finanzieller und logistischer Unterstützung. Mit dem Zerfall der Strukturen des Kaukasischen Emirats schlossen sich ab 2015 zahlreiche Emire (Anführer) dem sogenannten Islamischen Staat (IS) an. In diesem Zusammenhang ist eine spürbare Hinwendung zu global-jihadistischen Organisatoren (insbesondere zum sogenannten IS) zu beobachten. Eine äußerst heterogene Szene in Deutschland betreibt in Nordrhein-Westfalen Propaganda für die Bewegung im Nordkaukasus. Feste Strukturen sind nicht erkennbar, jedoch sind einzelne herausragende Persönlichkeiten in überregionalen Zusammenhängen aktiv. Die Orientierung der Anhänger der islamistisch nordkaukasischen Szene in NRW zum Salafismus ist deutlich erkennbar. Durch die anhaltende Schwäche und den Zerfall der Strukturen des sogenannten Islamischen Staates haben seit 2016 die Ausreisen von Tschetschenen aus Nordrhein-Westfalen in die jihadistischen Kampfgebiete deutlich abgenommen. Gegenwärtig ist keine neue Ausreisewelle erkennbar. Perspektivisch ist mit einem Anwachsen der tschetschenischen Diaspora in Deutschland zu rechnen. Aufgrund von Gewalterfahrungen in ihrer Heimatregion besteht in Teilen dieser Szene ein erhöhtes Radikalisierungspotenzial. IslamIsmus 233 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die extremistisch-salafistische Szene hat sich trotz der Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie und den Verdrängungseffekten durch Verbotsmaßnahmen angepasst und ihre Aktivitäten in den sozialen Medien weiter verstärkt. Die Szene nutzt dabei vor allem Instagram, Telegram und zunehmend TikTok. Die Anzahl der extremistischen Salafisten in Nordrhein-Westfalen ist im Jahr 2022 rückläufig. Hierfür ausschlaggebend sind die beschriebenen Verdrängungseffekte innerhalb der extremistisch-salafistischen Szene ebenso wie die Auswirkungen der pandemiebedingten Einschränkungen. Gegenwärtig werden der Szene in NordrheinWestfalen 2.800 Personen zugerechnet. Die Szene ist weiterhin durch eine große Heterogenität gekennzeichnet. Es bestehen sowohl verschiedene lokale Netzwerke als auch solche mit überregionalen Verbindungen sowie Frauen-Gruppen, die aufgrund des innerhalb der Szene propagierten binären Rollenbildes eine eigenständige und bedeutende Rolle spielen. Außerdem gibt es Netzwerke, in denen Personen mit einem bestimmten Migrationshintergrund überwiegen - beispielsweise aus Tschetschenien oder Tadschikistan. Konvertiten spielen in der Szene nach wie vor eine wichtige Rolle. Extremistisch-salafistische Propaganda und Anwerbung finden hauptsächlich in den sozialen Medien statt. Dadurch radikalisieren sich weiterhin Einzelpersonen und Personengruppen. Die abstrakte Gefahr von Anschlägen bleibt bestehen. Schließlich stellen Rückkehrende aus jihadistischen Kampfgebieten ein erhebliches Gefahrenmoment dar. Sie sind zum Teil an Waffen ausgebildet und kampferfahren, und einige haben die gewaltbereite jihadistische Ideologie verinnerlicht und verachten die westliche Lebensweise zutiefst. Jihad-Rückkehrerinnen und -Rückkehrer werden wie auch andere jihadistische Straftäter und Straftäterinnen strafrechtlich verfolgt, und manche von ihnen kommen in Haft. Deshalb ist es weiter sinnvoll, die Rückkehr oder die Haft als Ansatz für Maßnahmen zur Deradikalisierung dieser Personen zu nutzen. Hinzu kommt, dass einzelne inhaftierte Salafisten versuchen, ihre Ideologie an Mithäftlinge weiterzugeben, die zuvor nicht zur Szene gehörten. Auch dies gilt es aufzudecken und geeignete Maßnahmen zur Eingrenzung der potenziellen Gefahr unter den Behörden abzustimmen. 234 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Der extremistische Salafismus ist immer noch eine attraktive Ideologie für Jugendliche und junge Erwachsene. Trotz der Umsetzung einer Vielzahl staatlicher Maßnahmen und damit einhergehender Verdrängungseffekte ist davon auszugehen, dass die Szene sich immer weiter andere und neue Betätigungsfelder und Verbreitungswege suchen wird. IslamIsmus 235 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 HAMAS Sitz/Verbreitung Hauptsitz der Vereinsstrukturen in Berlin, Aktivitäten auch in Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländern Gründung/Bestehen seit 1987 Struktur/ Repräsentanz Wichtigste Organisation für die Anhänger der HAMAS in Deutschland ist die Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (PGD). In NRW weist darüber hinaus der in Dortmund gemeldete Spendenverein "Die Barmherzigen Hände" Bezüge zur HAMAS auf. Mitglieder/Anhänger/ 150\ (Teilmenge der MB) Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Englischund arabischsprachiges Web-Angebot der HAMAS-Kernorganisation; arabischund teilweise deutschsprachige Veröffentlichungen der PGD in sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Die sunnitische HAMAS (arabisches Akronym für "Bewegung des islamischen Widerstandes") hat sich aus dem palästinensischen Teil der Muslimbruderschaft entwickelt und ist seit Beginn der ersten Intifada im Jahr 1987 aktiv. Das vorrangige politische Ziel der HAMAS ist die von ihr so benannte Befreiung Gesamtpalästinas und damit die Auflösung Israels als eigenständiger Staat. Im Jahr 2017 veröffentlichte die HAMAS ein neues Grundsatzdokument. Es stellt jedoch keine wesentliche Abweichung gegenüber der ursprünglichen HAMAS-Charta von 1987 dar. Die Organisation zeigt sich in dem neu verfassten Dokument grundsätzlich dazu bereit, einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 hinzunehmen. 236 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Ihr Widerstand richte sich nicht gegen die jüdische Religion, sondern ausschließlich gegen den Staat Israel. Gleichzeitig wird jedoch an einer vollkommenen Befreiung Palästinas vom "Jordan bis zum Mittelmeer" und am bewaffneten Widerstand festgehalten, wobei der "zionistischen Entität" jegliche Anerkennung zu verweigern sei. Das Existenzrecht Israels wird damit nach wie vor negiert, auch wenn moderate HAMAS-Politiker dies in der Vergangenheit unter bestimmten Bedingungen bei Verhandlungen in Aussicht stellten. Die HAMAS befindet sich mitsamt ihrer militärischen Suborganisation, den Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden, auf der durch den Rat der Europäischen Union erstellten EU-Terrorliste und unterliegt damit entsprechenden Sanktionen. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die HAMAS ist eine terroristische Organisation. Neben ihrem paramilitärischen Arm, den Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden, verfügt sie über eine Partei-Organisation, ein soziales Hilfswerk sowie religiöse und karitative Organisationen. Sie ist für zahlreiche Selbstmordattentate und Raketenangriffe auf israelisches Gebiet verantwortlich. Die Feindschaft gegenüber Israel wird begleitet von einem virulenten Antisemitismus, der auch in der Charta der HAMAS deutlich zum Ausdruck kommt. Als weiteres Ziel verfolgt die HAMAS die Errichtung eines "islamischen Staates", der auf der extremistischen Ideologie der Muslimbruderschaft beruht. Diese Ideologie steht im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die terroristischen Aktivitäten gegen Israel gefährden auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und die antisemitische Einstellung richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung und das friedliche Zusammenleben der Völker. Die HAMAS unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. IslamIsmus 237 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Jahr 2022 kam es erneut mehrfach zu Gewalteskalationen im Israel-Gaza-Konflikt. Insbesondere nach der gezielten Tötung eines führenden Funktionärs der Al-QudsBrigaden (Sarayat al-Quds), des militärischen Arms des Palästinensischen Islamischen Jihad (PIJ), durch Israel im August 2022 wurden aus dem Gaza-Streifen innerhalb weniger Tage hunderte Raketen auf israelisches Staatsgebiet abgefeuert. Das israelische Militär wiederum flog daraufhin Luftangriffe auf den Gaza-Streifen. Die im Gaza-Streifen herrschende HAMAS stellte sich demonstrativ auf die Seite des PIJ. Beide Organisationen betonten ihre engen Verbindungen zueinander und riefen ihre Mitglieder zur Zusammenarbeit auf. Angesichts des 35. Gründungstages der HAMAS veröffentlichte diese am 14. Dezember 2022 eine Stellungnahme, in der sie sich erneut ausdrücklich zu ihren Zielen bekannte. Als erstes bekräftigte die HAMAS, dass sie an der "Verteidigung und Befreiung" Palästinas "vom Fluss [Jordan] bis zum [Mittel-] Meer" festhalte. Hiermit wird erneut das Existenzrecht Israels negiert. Nach Auffassung der HAMAS ist es dabei ihr Recht, alle möglichen Mittel, inklusive des gewaltsamen Kampfes, einzusetzen. Die Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland (PGD), die nach wie vor die wichtigste Organisation von Anhängern der HAMAS in Deutschland darstellt, rief auch im Jahr 2022 zu Kundgebungen auf, bei denen, nach Lesart der PGD, etwa die "israelischen Verbrechen gegen den GazaHAMAS-Logo anlässlich des Streifen" verurteilt werden sollten. 35. Gründungstages In Nordrhein-Westfalen hat die PGD im Jahr 2022 nur wenige öffentlichkeitswirksame Aktivitäten entfaltet. Der Verein "Die Barmherzigen Hände", der über ausgeprägte personelle Verbindungen zur PGD verfügt, hat seine Spendensammelaktivitäten im Berichtszeitraum 2022 unvermindert fortgesetzt. 238 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bewertung, Tendenzen, Ausblick In Nordrhein-Westfalen setzt sich die bereits im Vorjahreszeitraum abzeichnende Annäherung zwischen Anhängern des PIJ und der HAMAS fort. Derzeit ist nicht erkennbar, dass die in Nordrhein-Westfalen festgestellten Anhänger des PIJ weiterhin eine Unterstützung des PIJ in eigenen Strukturen verfolgen. Vielmehr zeichnet sich ab, dass diese sich nun auch in die bereits gefestigteren Strukturen der HAMAS einbringen. Dennoch war dadurch kein Anstieg des Personenpotenzials, sondern sogar ein leichter Rückgang zu verzeichnen, da im Berichtszeitraum auch die Anhänger der HAMAS nur schwer zu mobilisieren waren. Grundsätzlich suchen die HAMAS und ihr zuzurechnende Organisationen und Aktivisten zunehmend den Schulterschluss mit anderen militanten oder zumindest anti-israelisch ausgerichteten Organisationen mit unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung. Dabei zeigt sich die HAMAS bereit, ideologische Differenzen zur Erreichung ihrer Ziele zurückzustellen. IslamIsmus 239 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Hizb Allah (Partei Gottes) und schiitischer Islamismus Sitz/Verbreitung Mutterorganisation im Libanon, sympathisierende religiöse Vereine in der libanesischen Diaspora, darunter auch im Bundesgebiet Gründung/Bestehen seit 1982 Struktur/ Repräsentanz Die Anhänger in Deutschland treffen sich in den örtlichen Moscheevereinen. Deren Satzungen und Aktivitäten lassen nach außen keinen Hizb Allah-Bezug erkennen. Es gibt keinen Dachverband. Bezüge zur Hizb Allah sind unter anderem für die Gemeinschaft libanesischer Emigranten e.V. in Dortmund (Ahl al-Bait-Zentrum), die Gemeinschaft Libanesischer Emigranten e.V. in Bottrop (Imam Rida-Zentrum) sowie den Almahdy Kulturverein e.V. in Bad Oeynhausen nachweisbar. Bis zu seinem Verbot am 17. März 2022 diente auch das Imam Mahdi-Zentrum in Münster als Plattform und Begegnungsstätte für Hizb Allah-Anhänger in NordrheinWestfalen und im Westen Deutschlands. Mitglieder/Anhänger/ NRW: 350 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Mehrsprachiges Web-Angebot Kurzporträt/Ziele Die schiitische islamistische Organisation Hizb Allah bildete sich 1982 als Reaktion auf den Einmarsch israelischer Truppen im Libanon. Die Organisation profitierte dabei vor allem von der iranischen Intervention während des libanesischen Bürgerkriegs. 240 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Sie verfügt über einen (para-)militärischen, einen karitativen und einen politischen Zweig. An ihrer Spitze steht der Generalsekretär und Oberbefehlshaber Hassan Nasrallah, der als zentrale Identifikationsfigur gilt. Die Hizb Allah ist seit Anfang der 1990er-Jahre im libanesischen Parlament und der Politik vertreten und immer wieder auch an Regierungen beteiligt. In einigen Teilen des Libanon (Nordosten und Südlibanon) beherrscht sie das gesamte öffentliche Leben und verfügt über staatsähnliche Strukturen. Mit ihren wohltätigen Einrichtungen sowie ihren legalen und illegalen Strukturen ist sie ein wichtiger Faktor in der Wirtschaft des Libanon. Militärisch verfügt die Hizb Allah über eine schlagkräftige Truppe, die zu Kampfeinsätzen fähig ist. Der militärische Zweig kooperiert dabei eng mit einer für Auslandseinsätze zuständigen Einheit der iranischen Revolutionsgarde, der sogenannten Quds Force. Die Organisation bestreitet offen das Existenzrecht des Staates Israel. Sie wird für Anschläge oder entsprechende Vorbereitungsaktivitäten, insbesondere gegen israelische und jüdische Ziele, verantwortlich gemacht (unter anderem 1992 und 1994 in Buenos Aires, 1992 im Berliner Restaurant Mykonos, 2012 in Burgas). Für Israel ist die Hizb Allah mit ihren militärischen und terroristischen Möglichkeiten eine permanente Bedrohung, die sich immer wieder in gewaltsamen Angriffen manifestiert. Deutschland stellt für die Organisation einen Rückzugsraum dar, der für logistische Unterstützungsleistungen genutzt wird. Finanzierung Spenden der Anhänger, mutmaßlich Erlöse aus kriminellen Aktivitäten, im Libanon finanzielle Zuwendungen aus Iran. IslamIsmus 241 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Das Eintreten der Hizb Allah für die Ideologie der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" (wilayat al-faqih) widerspricht dem Prinzip der Volkssouveränität. Sie ist demnach eine Bestrebung, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet. Ihre Agitation gegen den Staat Israel und die damit einhergehenden antisemitischen Positionen laufen dem Gedanken der Völkerverständigung zuwider. Bei der Hizb Allah handelt sich darüber hinaus um eine international agierende terroristische Organisation, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Rechtsgrundlage für die Bearbeitung der Hizb Allah durch den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz sind demnach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 4 VSG NRW. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Entwicklungen im Libanon Die Krise des politischen Systems des Libanon setzte sich 2022 fort. Das Land befindet sich in einer wirtschaftlichen und sozialen Notsituation und ist kaum handlungsfähig. Auch die Parlamentswahlen im Mai 2022 brachten hier keine wesentliche Veränderung und keine klaren Machtverhältnisse. Eine Regierungsbildung ist dem designierten Ministerpräsidenten bisher nicht gelungen. Verschärfend kommt hinzu, dass im Oktober 2022 die Amtszeit des Präsidenten endete, aber bisher kein Nachfolger gewählt werden konnte. Für die Hizb Allah verlief die Wahl ambivalent. Zwar gelang es der Partei, wiederum in ungefähr gleicher Stärke ins Parlament einzuziehen, allerdings büßten ihre Bündnispartner an Zustimmung ein, sodass das Parteienbündnis seine bisherige Mehrheit verlor. Eine wachsende Skepsis gegenüber den politischen Parteien, die durch Klientelpolitik und Korruption erheblich zur Verschärfung der Krise beitrugen, hatte sich jüngst auch negativ auf das gesellschaftliche Ansehen der Hizb Allah ausgewirkt. Diese Entwicklung verhinderte aber nicht, dass die Hizb Allah genügend Unterstützer mobilisieren konnte. Die Organisation zieht ihre Legitimation weiterhin in erheblichem Maße aus ihrem Kampf gegen Israel und ist bemüht, sich als Verteidiger gesamtlibanesischer Interessen darzustellen. 242 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Diese Rolle versuchte sie auch im Rahmen der Verhandlungen um die Seegrenze zwischen dem Libanon und Israel zu übernehmen. Beide Staaten befinden sich offiziell immer noch im Kriegszustand und waren nicht zu direkten Verhandlungen bereit. Sie haben aber beide Interesse daran, Erdgasvorkommen im Mittelmeer auszubeuten, was aber erst nach Demarkation der gemeinsamen Grenze möglich ist. Die Hizb Allah drohte militärische Mittel einzusetzen, falls Israel einseitig mit der Förderung beginnen sollte. Tatsächlich wurden im Juli 2022 drei Drohnen der Hizb Allah von den israelischen Streitkräften abgeschossen, nachdem diese sich auf ein Gasfeld und die dortigen Förderanlagen zubewegt hatten. Im Oktober 2022 waren die amerikanischen Vermittlungsbemühungen schließlich erfolgreich, sodass beide Seiten dem Vorschlag, eine gemeinsame Grenze festzulegen, zustimmten und die Ausbeutung der Gasfelder regelten. Beide Vertragspartner betonten aber, dass das Abkommen keine Normalisierung der Beziehungen beinhalte. Die Hizb Allah betrachtete das Abkommen als Sieg, der vor allem aufgrund ihres militärischen Drucks auf Israel zustande gekommen sei. Hizb Allah-Generalsekretär Hasan Nasrallah betonte in einer Rede, dass der militärische Druck der Hizb Allah das Abkommen ermöglicht habe al-Quds-Tag 2022 Der al-Quds-Tag geht auf einen Aufruf von Ayatollah Khomeini zurück, sich alljährlich für die "Befreiung" Jerusalems einzusetzen. In den vergangenen Jahren gab es dazu eine Demonstration in Berlin, zu der auch viele schiitische Islamisten aus dem gesamten Bundesgebiet anreisten. Aufgrund der Corona-Maßnahmen fand diese aber IslamIsmus 243 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 2022 nicht statt. Stattdessen organisierten einige Aktivisten aus der schiitisch-islamistischen Szene einen Online-al-Quds-Tag, der auch von Personen aus NordrheinWestfalen unterstützt wurde. Am 30. April 2022 fand jedoch in Frankfurt am Main eine Demonstration aus Anlass des al-Quds-Tages mit 360 Teilnehmern statt. Darunter befanden sich auch Personen aus Nordrhein-Westfalen. Aufruf zum Online-al-Quds-Tag 2022 Verbot des "Imam Mahdi-Zentrums" (IMZ) in Münster am 17. März 2022 Das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen erließ im Berichtszeitraum eine Verfügung, mit der der Verein "Fatime Versammlung e.V.", der als Träger des "Imam Mahdi-Zentrums" (IMZ) in Münster agierte, verboten und aufgelöst wurde, da er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtete. Die Verfügung wurde am 17. März 2022 zeitgleich mit dem Verbot des Hizb Allah-nahen Al Mustafa Gemeinschaft e.V. in Bremen vollzogen. Aktuell ist noch eine Klage gegen die Verbotsverfügung für das IMZ anhängig. Der Verein war bereits im Rahmen der Vollstreckung des Betätigungsverbots für die Hizb Allah am 30. April 2020 durchsucht worden. Eine direkte organisatorische Anbindung an die Hizb Allah konnte damals nicht nachgewiesen werden. Allerdings wurde deutlich, dass der Verein, der bereits seit 1996 kontinuierlich in den Verfassungsschutzberichten des Landes Nordrhein-Westfalen erwähnt wird, über die gesamte Dauer seiner Existenz hinweg sehr stark durch das Gedankengut der Hizb Allah sowie die extremistische Ideologie der Islamischen Revolution geprägt war und damit auch ohne den Nachweis der unmittelbaren Einbindung in die Organisation die Voraussetzung für ein Verbot erfüllt. Das IMZ wurde bereits 1988 ins Vereinsregister eingetragen und ließ bereits früh eine Anbindung an den schiitischen Islamismus erkennen. Zudem gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Etablierung des Vereins in erheblichem Maße durch weltweit prominen244 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 te Führungspersonen des schiitisch-islamistischen Spektrums gefördert wurde. Diese Anhaltspunkte legen nahe, dass das IMZ in den 1990er-Jahren hohe sechsstellige DMBeträge durch den iranischen Revolutionsführer Ali Khamenei sowie den bekannten Hizb Allah-nahen libanesischen Gelehrten Muhammad Husain Fadlallah erhalten hat. Das IMZ stand kontinuierlich mit Führungspersönlichkeiten der Hizb Allah im Kontakt sowie mit Personen, die die Organisation unterstützen. So empfing der Verein etwa in seinen Räumlichkeiten sowohl einen Parlamentsabgeordneten der Hizb Allah als auch einen mutmaßlichen Reisescheich - ein zu besonderen Anlässen aus dem Heimatland angereister Prediger - der Organisation. Der Verein veranstaltete außerdem Gedenkveranstaltungen für Hizb Allah-nahe Geistliche. In den Räumlichkeiten des Vereins wurde darüber hinaus sowohl explizite als auch implizite Hizb Allah-Symbolik festgestellt, da etwa zu religiösen Feierlichkeiten spezifische, von der Mutterorganisation herausgegebene Slogans und Motive, verwendet wurden. Der Imam des Vereins verbreitete zudem regelmäßig islamistische Botschaften und leitete aus seinem religiösen Verständnis heraus unmittelbare Bewertungen politischer Entwicklungen ab. Immer wieder wurde die Islamische Republik Iran als Vorbild propagiert, das insbesondere aufgrund der Umsetzung des Konzepts der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" (wilayat al-faqih) und der Etablierung eines wahrhaft islamischen Staates nachzuahmen sei. Damit einher geht eine "Befreiungstheologie", die sich mit den "Unterdrückten" solidarisiert und zugleich stark antiamerikanisch ausgerichtet ist. Das IMZ hat in der Vergangenheit zudem Hizb Allah-Strukturen finanziell unterstützt. Dies galt insbesondere für den Verein Waisenkinderprojekt Libanon e.V. (WKP), der durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat im Jahr 2014 aufgrund seiner Förderung der Hizb Allah verboten wurde. Dieser wurde durch das IMZ in erheblichem Umfang gefördert und hat in den Jahren von 2008 bis 2013 fast 30.000 Euro erhalten. Der extremistische Charakter des IMZ wurde besonders an seiner regelmäßigen Unterstützung des al-Quds-Tages deutlich. Das IMZ organisierte aus diesem Anlass etwa Busfahrten zur zentralen Veranstaltung in Berlin. Auf diesen Fahrten kam es auch zu islamistischen und antisemitischen Äußerungen. So wurde beispielsweise ein Lied angestimmt, in dem man sich zur islamistischen Ideologie von Ruhollah Khomeini bekannte und dem aktuellen Revolutionsführer der Islamischen Republik Iran, Ali Khamenei, die Treue schwor. In einem weiteren Lied wurden Juden als Ratten beleidigt und dem Staat Israel unter Verweis auf Ereignisse der islamischen Geschichte die militärische Vernichtung angedroht. IslamIsmus 245 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Reaktionen auf die Verbote zweier Hizb Allah-naher Vereine Der Vollzug der Verbotsmaßnahmen gegen das IMZ und die Al Mustafa Gemeinschaft e.V. in Bremen wurde in der schiitisch-islamistischen Szene mit großer Bestürzung aufgenommen. Während das Betätigungsverbot für die Hizb Allah im Jahr 2020 als erwartbare und eher symbolische Geste wahrgenommen wurde, kam die Schließung von zwei der aktivsten Vereine der Szene überraschend und stellt eine nachhaltige Beeinträchtigung ihrer Infrastruktur dar. Besonders deutlich wird dies an der Reaktion der Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands e.V. (IGS), die bereits am Tag nach dem Vollzug der Verbotsmaßnahmen eine Stellungnahme veröffentlichte, in der sie ihr Unverständnis über das Verbot von zwei ihrer Mitgliedsvereine zum Ausdruck brachte und auf deren intensives gesellschaftliches Engagement verwies. Am 2. April 2022 rief die IGS ihre Mitglieder und weitere schiitische Gemeinden zu einer Dringlichkeitssitzung in Bochum auf, um die Zukunft der Schia in Deutschland zu besprechen. Als Ergebnis dieses Treffens wurde die sogenannte "Bochumer Erklärung" veröffentlicht, in der behauptet wird, dass erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg Andachtsstätten dieser Größenordnung ohne richterlichen Beschluss verboten und die Gebäude konfisziert worden seien. Durch die Verbotsmaßnahmen erfolge eine "Kriminalisierung der Schia in Deutschland" sowie ein "faktisches Religionsverbot gegen Schiiten". Dies sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und beschädige das Ansehen der Bundesrepublik in der muslimischen Welt. Die "Bochumer Erklärung" wurde von zahlreichen schiitischen Moscheevereinen unterschrieben, darunter auch einigen, die Bezüge in den Islamismus aufweisen. Bezeichnenderweise ging die IGS in ihren Positionierungen zu den Vereinsverboten kaum auf die Gründe für die Maßnahmen ein, sondern führte diese vor allem auf "geopolitische Machtinteressen" zurück. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ursachen der Verbote vermied sie hingegen und die Bezüge der betroffenen Vereine zur Hizb Allah wurden vollkommen ignoriert. Zudem war erkennbar, dass sich die IGS darum bemühte, die durch die Vereinsverbote entstandene organisatorische Lücke zu füllen und entsprechende alternative Angebote zur Verfügung zu stellen. 246 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die "Bochumer Erklärung" der Islamischen Gemeinschaft der shiitischen Gemeinden Deutschlands e.V. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Für Anhänger der Hizb Allah stellte das Verbot zweier Moscheevereine eine starke Beeinträchtigung ihres Wirkens dar. Diese wird dazu führen, dass man sich noch stärker als zuvor um eine Verschleierung der Bezüge zur Mutterorganisation im Libanon bemühen und zunehmend konspirativer agieren wird. Geradezu konträr wirkt hingegen die Strategie der IGS, die sich immer deutlicher mit der schiitisch-islamistischen Szene solidarisiert und sich offensichtlich bedingungslos und ohne jegliche Vorbehalte auf die Seite der verbotenen Vereine stellt. Die IGS sieht ihre neue Aufgabe anscheinend darin, sich immer stärker für ihre islamistischen Mitgliedsvereine einzusetzen und die übergeordneten Belange der Schiiten in Deutschland zugunsten der Partikularinteressen einiger extremistisch beeinflusster Vereine zurückzustellen. In Zukunft dürfte hier besonders die Debatte um die Zukunft des Islamischen Zentrums Hamburg (IZH) im Fokus stehen. Im November 2022 hatte der Bundestag die Bundesregierung dazu aufgefordert, eine Schließung des IZH zu prüfen. Im schiitischen Islamismus werden Maßnahmen gegen diese zentrale Organisation der Szene hingegen vehement abgelehnt. Auch die IGS, die dem IZH eng verbunden ist, veröffentlichte umgehend eine Stellungnahme, in der sie vor Maßnahmen gegen das IZH warnte. IslamIsmus 247 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Hizb ut-Tahrir (Islamische Befreiungspartei - HuT) Sitz/Verbreitung Keine offizielle Vertretung in Deutschland, regionale Schwerpunkte der Anhänger in Nordrhein-Westfalen sind Duisburg, Essen, Dortmund und Münster. Gründung/Bestehen seit 1953 Struktur/ Repräsentanz In der Bundesrepublik Deutschland ist die Hizb ut-Tahrir in verschiedene Regionen aufgeteilt, in denen streng voneinander abgeschottete Kleingruppen (Zellen) existieren, die sich durch ein äußerst konspiratives Verhalten auszeichnen. Darüber hinaus verbreiten auch mehrere Internet-Kanäle wie Realität Islam (RI) und Generation Islam (GI) das Gedankengut der HuT. Mitglieder/Anhänger/ NRW: 120/ Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Mehrsprachiges Web-Angebot Kurzporträt/Ziele Die Hizb ut-Tahrir (HuT) wurde 1953 von dem Rechtsgelehrten Scheich Taqi ad-Din an-Nabhani, einem ehemaligen Mitglied der ägyptischen und palästinensischen Muslimbruderschaft, gegründet. Es handelt sich um eine pan-islamistische Bewegung, die sich an alle Muslime richtet. Vorrangige Ziele der Organisation sind die Wiedereinführung des 1924 durch die Republik Türkei abgeschafften Kalifats und die Errichtung eines islamischen Staats unter Führung eines Kalifen. Dieser soll die Scharia als Grundlage und Maßstab staatlichen Handelns im Kalifat durchsetzen und als "Schild der Umma" (islamische Gemeinschaft) die 248 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 vermeintlich weltweit bedrohten Muslime vor Unterdrückung beschützen. Säkulare Staatsformen stehen hierzu im Widerspruch und werden bekämpft. Islam und Demokratie sind für die HuT nicht miteinander vereinbar. Zur Durchsetzung ihrer Ziele versucht die HuT vor allem einflussreiche Persönlichkeiten und Akademiker zu rekrutieren, die ihre herausgehobene gesellschaftliche Position zur gezielten Einflussnahme im Sinne der HuT nutzen sollen. In den meisten muslimisch geprägten Ländern ist die HuT verboten. Seit dem 15. Januar 2003 unterliegt die HuT auch in Deutschland einem Betätigungsverbot. Im Gegensatz zu anderen islamistischen Organisationen agiert die HuT rein politisch und bietet keine religiösen Dienstleistungen an. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Das vom Bundesminister des Innern ausgesprochene Betätigungsverbot wurde am 25. Januar 2006 vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 19. Juni 2012 die Klage der HuT gegen das Betätigungsverbot für unzulässig erklärt. Der EGMR sah es als erwiesen an, dass die HuT dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht. Sie habe ferner den Sturz von Regierungen in muslimisch geprägten Staaten gefordert. Diese sollten nach Vorstellung der HuT durch ein auf den Regeln der Scharia basierendes Kalifat ersetzt werden, das man allerdings nicht mit Gewalt erkämpfen will. Die HuT kennzeichnet zudem ein besonders stark ausgeprägter Antisemitismus. Juden, aber auch Christen, gelten - entgegen der mehrheitlich von islamischen Gelehrten vertretenen Meinung - als Ungläubige. Ihre Lebensform sei abzulehnen. Mit ihnen solle möglichst kein Kontakt gehalten werden, da sie untereinander ein Bündnis eingegangen seien, um den Islam zu zerstören. IslamIsmus 249 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Aufgrund der gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ideologie sowie des Antisemitismus der HuT unterliegt diese nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 VSG NRW der Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Fortsetzung der klandestinen Aktivitäten der HuT Aufgrund des Verbots der HuT waren auch im Jahr 2022 keine öffentlich wahrnehmbaren Veranstaltungen zu verzeichnen. Anhänger der HuT treffen sich aber nach wie vor in privaten Räumlichkeiten, um sich im Rahmen von kleinen Schulungszirkeln mit dem Gedankengut der Organisation auseinanderzusetzen und unter anderem die Schriften des HuT-Gründers an-Nabhani zu studieren. Online-Aktivitäten HuT-naher Strukturen Im Berichtszeitraum setzten HuT-nahe Online-Gruppierungen wie Realität Islam (RI) und Generation Islam (GI) ihre Aktivitäten im Umfang und auf dem Niveau der Vorjahre fort und thematisierten das Zeitgeschehen aus islamistischer Perspektive. Immer wieder wurden vermeintliche oder tatsächliche muslimfeindliche Vorfälle und Übergriffe als Beleg für eine in der gesamten Gesellschaft verbreitete Ablehnung des Islam angeführt. Muslime müssten sich deshalb zusammenschließen, um ihre angeblich bedrohte religiöse Identität zu bewahren. In diesem Kontext wurden beispielsweise auch die Debatten um die Fußball-Weltmeisterschaft (WM) in Katar im Jahr 2022 betrachtet. Diese sei von den Medien westlicher Staaten dazu genutzt Dieses Foto stammt aus einem Beitrag ansehen Beitrag. worden, um auf propaganRealität Islam 2 0 . D e z e mb e r u m 1 8 : 3 3 * 1 Gefällt mir distische Weise gegen den Kommentieren 1 Mal geteilt Teilen Islam zu hetzen, sich für Liberalismus einzusetzen und islamische Werte und Gebote zu attackieren. Besonders scheinheilig sei dabei, dass man die katarische Herrscherfamilie weitgehend von Kritik verschont habe, da man mit Die HuT äußert sich zur WM 2022 in Katar dieser weiterhin Geschäfte 250 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 machen wolle. Aus Sicht der HuT sei die Fußball-Weltmeisterschaft schon alleine aufgrund der damit einhergehenden Geldverschwendung als unislamisch abzulehnen. Im Zusammenhang mit der WM wurde zudem das Zeigen von Nationalflaggen durch Muslime thematisiert. Aus Sicht der panislamisch ausgerichteten HuT stellt dies ein besonderes Ärgernis dar. Nach Auffassung der Online-Aktivisten von Generation Islam (GI) wird durch dieses Verhalten ein Keil in die islamische Gemeinschaft getrieben, die sich eigentlich unter der Fahne der Schahada (islamisches Glaubensbekenntnis) versammeln sollte. Die Nationalstaaten mit ihren heutigen Grenzen und ihren Flaggen seien durch die Kolonialmächte im Rahmen der Zerstörung des Kalifats ins Leben gerufen worden, um die Muslime zu spalten und ihre Einheit zu zerstören. Zum Aktivitätsspektrum der HuT gehört deshalb auch ein nostalgisches Erinnern an das verlorene Kalifat, das alljährlich am 3. März in Gedenken an die Abschaffung des Kalifats der Osmanen im Jahr 1924 stattfindet. Als vorbildhaft werden deshalb auch historische Persönlichkeiten betrachtet, die sich für die Wiedereinführung des Kalifats einsetzten. Dazu wird etwa Scheich Said gezählt, der 1925 erfolglos gegen die türkische Republik rebellierte. Anhänger der HuT sehen sich in der gleichen Tradition stehend als Vorkämpfer für das Kalifat, die sich gegen eine säkulare Ordnung zur Wehr setzen müssen. Generation Islam 30. Juni * "Als es ein Kalifat gab, war der Gehorsam unsere Pflicht. Als das Kalifat weg war, wurde unser Aufstand zur Pflicht." Gestern waren es 97 Jahre seit dem Märtyrertod von Sheikh Said (rh) und seinen Brüdern im Glauben und immer noch erinnern wir uns an seine ehrenhaften Aussagen. Er war für seinen Kampf gegen die Säkularisierung bekannt und stritt mit seinem Leben für die Reimplementierung des Kalifats voran. Sheikh Said (rh) sagte auf dem Weg zu seiner Gefangennahme: "Das Kalifat erwartet euch, es gibt keinen Islam ohne ein Kalifat, euer Motto und Ruf ist der Islam, also fordert die Scharia." Möge Allah (t) mit Sheikh Said zufrieden sein und seiner Erbarmen. Möge Allah(t) seinen Eifer und Wagemut in unsere Hände übertragen, auf dass wir die Botschaft weitertragen. Allahumma Amin. Weniger anzeigen 224 38 Mal geteilt Gefällt mir Kommentieren Teilen Relevanteste zuerst "Am relevantesten" wurde ausgewählt. Einige Kommentare wurden daher möglicherweise verschoben. Scheich Said als Vorbild im Kampf für das Kalifat IslamIsmus 251 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Islamistische Kritik an Islamismusprävention Ab Ende August 2022 setzten sich die der HuT nahestehenden Betreiber des Netzwerks Realität Islam kritisch mit der Islamismusprävention auseinander und veröffentlichten dazu mehrere Video-Beiträge. Sie versuchen dabei eine vorgeblich muslimische Mainstream-Perspektive einzunehmen. Diese spricht sich gegen eine unzulässige staatliche Intervention in die Religionsfreiheit aus und kritisiert eine angebliche staatliche Grundhaltung, die muslimische Religiosität per se als problematisch wahrnehme. Dabei wird aber immer wieder deutlich, dass RI selbst einem extremistischen Religionsverständnis anhängt und die Warnungen vor einer Ideologisierung des Islam ablehnt, weil die Gruppierung zutiefst durch islamistisches Gedankengut geprägt ist. Ersichtlich wird dies etwa dann, wenn dargestellt wird, dass nach eigenem Verständnis der Islam keinen Raum für demokratische Prinzipien biete. Die Vertreter von RI haben zu Recht erkannt, dass sich die staatliche geförderte Präventionsarbeit in wesentlichen Punkten gegen ihre zentralen Überzeugungen richtet. Aus ihrer Sicht stellt es sich so dar, dass der Staat nicht nur gegen gewaltbereite Islamisten vorgeht, sondern Maßnahmen gegen die "richtige" Glaubensauffassung ergreift, die ihrer Meinung nach von allen konsequent praktizierenden Muslimen geteilt werde. Aus diesem Grund wird in einem Video auch bewusst von "Islamprävention" statt Islamismusprävention gesprochen. Mit ihrer Sichtweise versuchen die HuT-Aktivisten insbesondere bei jungen, in Deutschland sozialisierten Muslimen mit Zuwanderungsgeschichte zu punkten, die das hiesige Institutionalisierungsund Repräsentationsdefizit des Islam mindestens als Ungerechtigkeit oder sogar als Diskriminierung und persönliche Zurücksetzung empfinden. Sehr intensiv wird in diesem Zusammenhang das Thema "Islamische Identität und Identitätsbildung" behandelt, das insbesondere vor dem Hintergrund der Debatten um Integration für eine größere Zahl von Muslimen interessant sein könnte. Von daher besteht die Möglichkeit, dass die Narrative von RI auch jenseits der HuTSzene auf Zustimmung stoßen und zu einer Entfremdung junger Muslime von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung beitragen können. Erleichtert wird dies durch den Umstand, dass die Aktivisten von RI das Kernelement der HuT-Ideologie - die Etablierung eines islamischen Kalifats, die von den meisten Muslimen skeptisch betrachtet wird - nicht in den Vordergrund ihrer Argumentationslinie rücken, sondern ihr Publikum eher subtil an das Thema heranführen. 252 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die HuT präsentiert sich gegenwärtig in zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen. Während sich die Kern-Anhängerschaft im gewohnten Format in Kleingruppen zusammenfindet und dort ohne jede Scheu die ideologischen Grundlagen der Organisation diskutiert, findet sich darüber hinaus ein deutlich größeres Zielpublikum für die Online-Aktivitäten von Gruppen, die der HuT nahestehen und über das Internet versuchen, neue Anhänger für ihre islamistische Weltanschauung zu gewinnen. Dafür greifen sie aktuelle Diskurse und gesellschaftlich relevante Themen auf, die besonders junge Muslime ansprechen. Die Ideologie der HuT wird auf diese Weise nur sehr subtil eingebracht, sodass Personen niedrigschwellig an die Organisation herangeführt werden und die Gefahr besteht, dass diese langfristig in die HuT eingebunden werden. Im Gegensatz zu anderen islamistischen Organisationen, die oft noch starke Bezüge zu bestimmten Ländern der muslimischen Welt aufweisen und teilweise durch die dortigen Debatten geprägt sind, richtet sich der Fokus der Online-Aktivisten der HuT stärker auf die Situation in Deutschland. Dementsprechend erfolgt auch die gesamte Kommunikation ausschließlich in deutscher Sprache. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass ihre Botschaften besonders jene Muslime ansprechen, die vorrangig in Deutschland sozialisiert sind und mit dem häufig vorhandenen Migrationshintergrund ihrer Vorfahren zwar nur noch wenig anfangen können, gleichzeitig aber auch mit den hiesigen Integrationsdebatten hadern. Im Rahmen dieses Identitätsfindungsprozesses bietet die HuT ihre Gemeinschaft mit ihrem Islamverständnis als vermeintlich alternative Antwort auf die Frage der Zugehörigkeit an. Die HuT hat sich damit strategisch günstig positioniert und kann auf diese Weise eine Wirkung entfalten, die weit über ihr eher überschaubares Kern-Klientel hinausreicht. Dies hat auch Auswirkungen auf das Personenpotenzial der Gruppierung. In den letzten Jahren war hier eine Zunahme zu verzeichnen, die sich auch im Berichtszeitraum fortsetzte. IslamIsmus 253 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) Sitz/Verbreitung Vereinsstrukturen seit Dezember 2001 verboten, früherer Hauptsitz in Köln Gründung/Bestehen seit 1984 Struktur/ Repräsentanz Keine offen erkennbaren Strukturen, aber mehrere islamische Gemeinden, die sich weiterhin der Ideologie des Kalifatsstaats verpflichtet fühlen Mitglieder/Anhänger/ NRW: 150\ Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Mehrere Web-Angebote Kurzporträt/Ziele Im Jahr 1984 gründete in Köln der türkische Prediger Cemaleddin Kaplan (1926 bis 1995) nach Loslösung von der Milli Görüs-Bewegung den Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (Ädegslami cemiyet ve cemaatleri birliIi -- ICCB), auch Kaplan-Verband genannt. Nachdem viele Gemeinden im Laufe der Zeit den ICCB wieder verlassen hatten, proklamierte er im März 1994 den so bezeichneten Kalifatsstaat und ließ sich als Kalifen huldigen. Sein Kalifatsstaat war eine am Führerprinzip orientierte und streng hierarchisch gegliederte Organisation. Ziel Kaplans und seines Verbandes war die Erringung der Herrschaft in der Türkei und in letzter Konsequenz die Weltherrschaft für sein Kalifat. Nach dem Tod Cemaleddin Kaplans folgte ihm sein Sohn Metin Kaplan als Kalif nach. Intern kam es jedoch zu Nachfolgestreitigkeiten, in deren Verlauf Metin Kaplans Widersacher 1997 ermordet wurde. Im Jahr 2000 wurde Metin Kaplan wegen Anstiftung zum Mord zu einer vierjährigen 254 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Freiheitsstrafe verurteilt und nach Verbüßung der Haftstrafe im Oktober 2004 in die Türkei abgeschoben. Dort wurde er wegen Gründung und Leitung einer terroristischen Vereinigung verurteilt und inhaftiert. Aus gesundheitlichen Gründen kam er Ende 2016 vorzeitig aus der Haft frei. Die Anhänger des Kalifatsstaats in Deutschland konnten sich unterdessen nicht auf eine Führung einigen, so dass sich mehrere Fraktionen bildeten. Diese entwickelten unterschiedlichen Vorstellungen über ihre Ausrichtung und die Person des Kalifen. Seitdem bildet der Kalifatsstaat keine zusammenhängende Struktur mehr, sondern besteht nur noch aus mehreren bundesweit verteilten Moscheegemeinden. Diese sind in unterschiedlichem Grad miteinander vernetzt, gehören aber jeweils verschiedenen Fraktionen an. Einigender Faktor ist einzig das ideologische Vermächtnis des Cemaleddin Kaplan, auf das sich sämtliche Flügel des Kalifatsstaats berufen. Durch diese Zersplitterung hat der Kalifatsstaat stark an Reputation verloren, so dass sich insbesondere viele jüngere Anhänger dem Salafismus zuwandten. Der Salafismus ist für diese besonders attraktiv, da dessen Inhalte ansatzweise bereits in den Lehren Cemaleddin Kaplans zu finden sind. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die islamistische Ideologie des Kalifatsstaats zeichnet sich durch eine rigorose Ablehnung der Demokratie und des Säkularismus aus. Darüber hinaus zeigte der Kalifatsstaat eine ausgeprägte Judenfeindlichkeit und eine große Affinität zum bewaffneten Jihad. Die Ziele des Kalifatsstaats richten sich demnach gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gegen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. IslamIsmus 255 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Diese Bestrebung unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Rolle des Metin Kaplan Metin Kaplan lebt seit seinem Freispruch von sämtlichen Terrorvorwürfen Anfang 2021 durch ein Strafgericht in Istanbul im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens weiterhin in der Türkei und ist bemüht, von dort aus den Kontakt zu jenen Anhängern der Bewegung zu halten, die ihm gegenüber noch loyal sind. Über Facebook und YouTube stellt er für diese die Übertragung der Freitagspredigt ein. Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Unterstützer des Kalifatsstaats Im Berichtszeitraum kam es zu offenen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden gegen Strukturen des Kalifatsstaats. Anlass dazu boten Erkenntnisse des Verfassungsschutzes Rheinland-Pfalz zu einem Moscheeverein in Bad Kreuznach, wonach der dringende Verdacht bestand, dass dort in Predigten und durch den Verkauf von Schriften und sonstigen Propagandamitteln die Ideologie des Kalifatsstaats verbreitet wird. Die weiteren Ermittlungen des Landeskriminalamts Rheinland-Pfalz ergaben, dass in diesem Verein durch den Verkauf der Schriften des Metin Kaplan sowie durch die Sammlung von Spenden und den Verkauf von Lebensmitteln in einem eigenen Ladenlokal erhebliche Einnahmen erzielt wurden, die für die Aufrechterhaltung der Vereinigungsstrukturen und den Lebensunterhalt des Metin Kaplan genutzt wurden. Im Zuge der Ermittlungen wurde deutlich, dass sich die Strukturen des Kalifatsstaats auch auf weitere Bundesländer erstrecken und eine mutmaßlich zentrale Führungsfigur der Organisation in Nordrhein-Westfalen ansässig ist, die der zweitobersten Führungsebene angehört. Diese soll Anweisungen des Metin Kaplan an andere Anhänger weitergegeben und zudem die Schriften des "Kalifen" verbreitet haben. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse kam es am 28. Juni 2022 zu Durchsuchungsmaßnahmen in sechs Bundesländern, darunter auch Nordrhein-Westfalen, wobei 50 Objekte durchsucht und drei Haftbefehle vollstreckt wurden. Die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz erhob schließlich Anklage gegen drei festgenommene Personen, die verdächtig sind, durch die Fortführung des Kalifatsstaats gegen das Vereinigungsverbot verstoßen zu haben. 256 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Online-Aktivitäten jüngerer Anhänger des Kalifatsstaats Jüngere Anhänger des Kalifatsstaats hatten in der Vergangenheit versucht, den schwächelnden Strukturen des Kalifatsstaats neues Leben einzuhauchen, indem sie etwa die alten Schriften des Cemaleddin Kaplan rezipierten und in ihren Online-Aktivitäten immer wieder auf das Gedankengut des Kalifatsstaats zurückgriffen. Dieser Trend setzte sich auch fort, nachdem sie sich mit Metin Kaplan überworfen hatten. Mit ihrem Engagement finden sie auch Zuspruch in extremistisch-salafistischen Kreisen und brechen dadurch die häufig sehr exklusive Kalifatsstaats-Szene auf. Im Auftrag des Islam 5. Juni * Gestern war der 40. Jahrestag nach dem Hijra Kalender, der von Cemaleddin Kaplan Hodja gegründeten Bewegung [03 Zilkade 1403 - 13. August 1983] Deshalb haben wir uns gestern auf einen historischen Rundgang begeben, angefangen von dem alten Ort, an dem sich 1983 die Barbaros-Moschee in Köln befand, bis zum damaligen Ort der Kölner Moschee am Niehler Kirchweg und der Neuserstr. 418 in KölnNippes, welches sich genau hinter mir auf dem Foto befand. 2001 wurde der Kaplan Verband, durch den Innenminister Otto Schily verboten. Später verdeckten sie dieses Gebiet hinter mir mit neuen Gebäuden, so dass man von damals nichts mehr wieder erkennen kann, oder vielleicht auch sollte. Genau dort wehte bis 2001 die Tauhid-Flagge der Moschee [Köln Ulu Camii]. Natürlich werden wir diesen Abschnitt, der auf jeden Fall beendet ist, weiterhin studieren und vor allem Lektionen und Lehrern aus den verstaubten Seiten der Geschichte entnehmen. {Furkan bin Abdullah} Weniger anzeigen 17 6 Kommentare 2 Mal geteilt Ein Sympathisant des Kalifatsstaats begibt sich auf Spurensuche nach den Wurzeln der Bewegung in Köln Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die einstmals straff geführte Organisation hat keine Führungsperson, die die Fraktionen wieder einigen könnte. Hier zeichnet sich auch keine kurzfristige Änderung ab, so dass die Fragmentierung weiter Bestand haben dürfte. Dies wird sich auch in weiter sinkenden Anhängerzahlen ausdrücken. Die aktuellen Ermittlungsmaßnahmen und die Strafverfahren gegen Leitungspersonen werden die Organisation zusätzlich schwächen und eine Fortsetzung der Aktivitäten für die Zukunft deutlich erschweren. Dies dürfte insbesondere auf jenen Flügel der Bewegung zutreffen, der noch gegenüber Metin Kaplan loyal war, da im Zuge der Ermittlungen dessen Strukturen in erheblichem Maße aufgeklärt werden konnten. Bezüglich der jüngeren Anhänger des Kalifatsstaats gilt es zu beobachten, ob deren Offenheit gegenüber extremistisch-salafistischem Gedankengut zu einem abnehmenden Zugehörigkeitsgefühl gegenüber dem Kalifatsstaat führt und ihre Wurzeln in der Bewegung auf lange Sicht an Relevanz verlieren. IslamIsmus 257 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Muslimbruderschaft (unter anderem Deutsche Muslimische Gemeinschaft, DMG) Sitz/Verbreitung Bundesweite Strukturen, Hauptsitz der DMG in Berlin Gründung/Bestehen seit 1928 in Ägypten, in Deutschland seit den 1960erJahren aktiv Struktur/ Repräsentanz Die Muslimbruderschaft (MB) ist eine weltweit agierende Bewegung, zu der eine Vielzahl von Organisationen gehört. In Deutschland stellt die Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG) die wichtigste Organisation von Anhängern der Muslimbruderschaft dar. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern der Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE), heute Council of European Muslims (CEM), die als Sammelbecken für Organisationen der Muslimbruderschaft in Europa gilt. Neben der DMG existieren zahlreiche weitere Institutionen und Vereine. Diese stehen der Ideologie der Muslimbruderschaft zumindest nahe, obwohl sie keine oder nur eine sehr lose Anbindung an die DMG-Strukturen aufweisen. In NRW sind Einflüsse der Muslimbruderschaft unter anderem in der ar-Rahman-Moschee in Münster feststellbar, die durch das Islamische Kulturzentrum in Münster e.V. betrieben wird. Mitglieder/Anhänger/ 270\ (einschließlich HAMAS) Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Verschiedene Internetseiten und Auftritte, auch deutschsprachig, in sozialen Medien 258 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Kurzporträt/Ziele Die im Jahr 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft (MB) ist die älteste und einflussreichste islamistische Bewegung. Als pan-islamisch ausgerichtete Organisation ist sie nicht nur in allen arabischen Staaten, sondern in nahezu allen muslimisch geprägten Ländern vertreten. Nach eigenen Angaben sind dies insgesamt 70 Länder weltweit. Die Ideologie der Muslimbruderschaft ist die Basis aller späteren islamistischen Bestrebungen. Das taktische und strategische Vorgehen der verschiedenen regionalen Zweige der MB unterscheidet sich vor allem im Hinblick auf die Frage, ob Gewalt zur Erreichung des politischen Ziels angewandt werden soll. Bis heute nimmt die ägyptische MB gegenüber allen anderen regionalen Zweigen eine führende Rolle ein. Nach der Abspaltung militanter Gruppierungen verzichtet die (ägyptische) MB seit Ende der 1970er-Jahre grundsätzlich auf die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Dieser Gewaltverzicht gilt jedoch nicht für die von ihr propagierte Befreiung Palästinas und somit im Kampf gegen Israel. Dieser wird insbesondere von der HAMAS, dem palästinensischen Zweig der MB, geführt. In Nordrhein-Westfalen ist das Ziel der hiesigen Vertreter der Muslimbruderschaft zunächst, die Bestrebungen der Organisation in den islamisch geprägten Ländern zu unterstützen. Um dieses Ziel zu erreichen, geht die MB entsprechend moderat vor. Erkenntnisse über das organisierte Zusammenwirken öffentlicher und nicht öffentlicher MB-naher Strukturen zeigen zudem, dass die Muslimbruderschaft in NordrheinWestfalen vor allem durch die DMG repräsentiert wird. Finanzierung Spenden sowie wirtschaftliche Betätigung IslamIsmus 259 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Muslimbruderschaft ist der Ursprung des modernen politischen Islam, einer extremistischen Ideologie, die auch als Islamismus bezeichnet wird. Kernaussage und -forderung des Islamismus ist, dass die politische Herrschaft nur Gott zustehe und der Mensch diese nur als sein Stellvertreter oder Sachwalter auszuüben habe. Dabei müsse der Mensch sich an die von Gott herabgesandten Offenbarungen und die darin gegebenen Bestimmungen halten. Diese finde man im Koran und der Sunna, dem Brauch des Propheten Muhammad. Die Muslimbruderschaft verfolgt das Ziel, in islamisch geprägten Staaten ein Regierungssystem auf der Grundlage der Scharia einzuführen. Eine säkulare demokratische Verfassungsordnung wird allenfalls als Möglichkeit angenommen, den Übergang zu einer islamischen Ordnung gewaltlos zu gestalten. Dazu wird eine Strategie der "Islamisierung von unten" verfolgt, die zunächst das Individuum anspricht und auf einen Bewusstseinswandel hin zu einem durch die Religion geprägten Leben abzielt. Die derart geschulten Einzelpersonen sollen dann in die Gesellschaft hineinwirken und dafür Sorge tragen, dass sich diese auf lange Sicht dem Gedankengut der Muslimbruderschaft annähert oder zumindest gewisse Freiräume für die Ideologie der Bewegung entstehen. Nach Auffassung der Muslimbruderschaft sind die staatliche Ordnung und die Rechtsprechung gemäß der islamischen Rechtsund Lebensordnung, der Scharia, aufzubauen. Diese gründet sich auf Koran und Sunna. In dieser Ordnung kann das Volk zwar am politischen Meinungsbildungsprozess teilhaben, was demokratische Elemente innerhalb der islamischen Ordnung möglich machen würde, aber der Rahmen des politisch Möglichen wäre zwingend durch die Offenbarung Gottes und der daraus entwickelten Scharia gesetzt. In dieser von der Muslimbruderschaft so bezeichneten "islamischen Ordnung" wäre also Gott der Souverän, nicht das Volk. Dies widerspricht im Grundsatz dem Gedanken der Volkssouveränität und der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Hiesige Vertreter der Muslimbruderschaft äußern sich in der Regel nicht eindeutig extremistisch. Stattdessen stellen sich die MB-nahen Vereine als religiöse islamische Organisationen dar, die für das Recht der Muslime auf Teilhabe in der Gesellschaft eintreten. Dabei vertritt die Muslimbruderschaft nach eigenem Verständnis einen "Islam der Mitte". Dieser grenzt sich einerseits vom religiösen Fundamentalismus und andererseits von einem liberalen, westlichen Islam ab. In ideologischer Hinsicht steht er zwischen einem militanten salafistischen Jihadismus und einem säkularen 260 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Islamverständnis. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass sich auch dieser "Mittelweg" eindeutig am klassischen Konzept von Scharia orientiert, damit Widersprüche zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufweist und somit selbst als extremistisch zu bewerten ist. Die Muslimbruderschaft fühlt sich nach wie vor einem ganzheitlichen Religionsverständnis verpflichtet. Demzufolge sollte der Glaube alle Lebensbereiche regeln, wozu auch die politische und gesellschaftliche Ordnung zählen. Deshalb unterliegt sie nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW als extremistische Bestrebung der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Internationale Entwicklungen International geriet die Muslimbruderschaft im Jahr 2022 durch verschiedene Entwicklungen unter Druck. In ihrem Mutterland Ägypten wird die Bewegung bereits seit 2013 durch die dortige autoritäre Regierung massiv unterdrückt und verfolgt. Bisher konnte sie sich aber auf ausländische Partner stützen, die sich für ihre Belange einsetzten und ihr einen Rückzugsraum boten. Dazu gehörte insbesondere Katar, das im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 aber stark im Fokus der Öffentlichkeit stand und unter anderem auch aufgrund seiner Förderung der Muslimbruderschaft kritisiert wurde. Katar ließ daraufhin erste Ansätze für eine vorsichtige Distanzierung von der Bewegung erkennen. Ein weiterer wichtiger Unterstützer war die Türkei, die im Jahr 2022 allerdings einen diplomatischen Schwenk vollzog und sich um eine Revitalisierung der abgekühlten Beziehungen zu Ägypten bemühte. In diesem Zusammenhang sind Anzeichen dafür erkennbar, dass die Türkei die MB zunehmend kritisch betrachtet und erste Maßnahmen trifft, um die bisher sehr großzügig gewährte Bewegungsfreiheit der Organisation zu beschränken. Tod des Vordenkers Yusuf al-Qaradawi Im September 2022 verstarb mit Yusuf al-Qaradawi der wohl bedeutendste zeitgenössische Ideologe der Muslimbruderschaft. Die DMG veröffentlichte kurz nach dessen Ableben einen öffentlichen Nachruf auf alQaradawi. Im Rahmen dieser Veröffentlichung verwies die DMG darauf, dass al-Qaradawi "jeglichen Extremismus" abgelehnt habe. IslamIsmus 261 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Tatsächlich war es al-Qaradawi, der das sogenannte Konzept der "Wasatiya" ("Mittelweg, Mäßigung") maßgeblich geprägt und verbreitet hat, auf dem der als extremistisch zu bewertende "Weg der Mitte" der Muslimbruderschaft basiert. Von einigen extremen Positionen al-Qaradawis, etwa der Rechtfertigung von Selbstmordattentaten in Palästina sowie der Bezeichnung Hitlers als "schicksalhafte Bestrafung der Juden" distanzierte sich die DMG in einer früheren Stellungnahme. Wenn die DMG nun jedoch im Nachruf auf al-Qaradawi behauptet, dass dieser "jeglichen Extremismus" abgelehnt habe, verdeutlicht dies, dass die DMG die Thesen al-Qaradawis selbst nicht als extremistisch versteht und trotz ihrer halbherzigen Distanzierung immer noch nicht nachvollziehen kann, dass die Glaubensauffassung des al-Qaradawi stark durch eine extremistische Lesart geprägt war. Diese ließ er beispielsweise in einer 1995 veröffentlichten Publikation erkennen, in der er schrieb: "Wir sind der Meinung, dass die Gesetze des Islam und seine umfassenden Lehren die Angelegenheiten der Menschen im Diesseits und im Jenseits regulieren und dass diejenigen irren, die denken, dass diese Lehren [nur] gottesdienstliche und spirituelle Aspekte behandeln, aber nichts darüber hinaus. Denn der Islam ist Dogma und Gottesdienst, Vaterland und Nationalität, Religion und Die DMG gedenkt des verstorbenen MB-Vordenkers Yusuf Staat [din wa-daula], Spiritualität und al-Qaradawi Tat, Schrift und Schwert." Das Zitat verdeutlicht, dass die extremistischen Positionierungen des al-Qaradawi nicht nur Einzelfälle politischer Entgleisungen sind, sondern eine allumfassende islamistische Grundhaltung den Kern seines religiösen Gedankenguts und damit auch seines theologischen Wirkens bilden. 262 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Tod des Leiters der Muslimbruderschaft Mit Ibrahim Munir verstarb im November 2022 eine weitere bedeutende Persönlichkeit der Muslimbruderschaft. Zuletzt agierte Munir als Generalsekretär der internationalen Vereinigung der Muslimbruderschaft. Nachdem es im Jahr 2021 noch zu einem Konflikt zwischen hochrangigen MB-Funktionären in der Türkei und der globalen Leitung um Ibrahim Munir in London kam, bleibt abzuwarten, wie sich die Führung der Muslimbruderschaft nach dem Tod Munirs aufstellt. Bislang sind keine direkten Auswirkungen auf die Aktivitäten und Strukturen der Muslimbruderschaft in Deutschland erkennbar. Ausschluss der DMG aus dem Zentralrat der Muslime in Deutschland Im Januar 2022 wurde die DMG aus dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) ausgeschlossen. Im Rahmen der Vorstandswahlen des ZMD im September 2022 schieden zudem Personen mit Bezügen zur Muslimbruderschaft aus dem Vorstand aus. Diese Maßnahmen trugen dazu bei, die Einflussmöglichkeiten der DMG zu reduzieren. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die gewählte Formulierung des Nachrufes der DMG auf den Ideologen der Muslimbruderschaft, Yusuf al-Qaradawi, steht sinnbildlich für das fehlende Bewusstsein der Organisation für den extremistischen Charakter der Ideologie der Muslimbruderschaft. Deren extremistische Inhalte werden offenbar auch durch die DMG selbst befürwortet. Wenngleich nach wie vor davon ausgegangen werden muss, dass die DMG über Einzelpersonen und mit ihr verbundene Organisationen weiterhin mittelbar im ZMD mitwirken kann, hat sie durch ihren Ausschluss aus dem Dachverband dennoch eine spürbare Schwächung ihrer Einflussmöglichkeiten hinnehmen müssen. Darüber konnte die Muslimbruderschaft im Berichtszeitraum weniger Anhänger mobilisieren, sodass ein leichter zahlenmäßiger Rückgang zu beobachten war. IslamIsmus 263 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Milli Görüs-Bewegung Sitz/Verbreitung Türkei/Deutschland Gründung/Bestehen seit Entstehung 1969, Gründung als Milli Nizam Partei (MNP) 1970 Struktur/ Repräsentanz Parteistrukturen der Saadet Partisi (SP) mit Europazentrale in Duisburg. Darüber hinaus weitere Organisationen, die im Rahmen der Milli Görüs-Bewegung extremistisch in Erscheinung treten: Erbakan Vakfi (Erbakan Stiftung - EV) mit ihrem politischen Ableger Yeni Refah Partisi (YRP), Sultan-Fatih-Jugend Bielefeld (Sultan Fatih Genclik Bielefeld - BSFG), Ismail Aga Cemaati (IAC) Mitglieder/Anhänger/ NRW: 250 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Mehrere Web-Angebote, Tageszeitung Milli Gazete Kurzporträt/Ziele Die ideologischen Wurzeln der Milli Görüs-Bewegung (MGB) gehen zurück auf den am 27. Februar 2011 verstorbenen türkischen Politiker und ehemaligen Ministerpräsidenten der Türkei Prof. Dr. Necmettin Erbakan. Die Kern-Gedanken dieser Ideologie sind die Schlüsselbegriffe Milli Görüs (Nationale Sicht) und Adil Düzen (Gerechte Ordnung). Sowohl in der Türkei als auch in Deutschland besteht die MGB aus mehreren Komponenten, die von einer gemeinsamen ideologisch-religiösen Ausrichtung und der ideellen Bindung an den türkischen Politiker Necmettin Erbakan zusammengehalten werden. 264 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Obgleich alle Vereinigungen der MGB für sich gesehen selbständig und unabhängig voneinander agieren, ist die verfassungsfeindliche Milli Görüs-Ideologie, wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung, das sie alle einigende Band. Ab 2013 etablierten sich in Deutschland neue Strukturen der Milli Görüs-Bewegung in Form von Organisationen, die einen Schwerpunkt auf die politischen Aspekte der Ideologie legen und damit im Gegensatz zu eher religiös ausgerichteten Strukturen stehen. Dies sind insbesondere die Saadet Partisi (SP), die Erbakan-Stiftung sowie die Ismail Aga Cemaati (IAC). Seit den Parlamentswahlen 2018 ist die SP durch eine Bündnisliste mit zwei Abgeordneten im türkischen Parlament vertreten. Finanzierung Spenden und Mitgliedsbeiträge Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit In seinen ideologischen Vorstellungen ging Erbakan von zwei politischen Ordnungen aus, einer von Menschen geschaffenen "nichtigen Ordnung" (Batil Düzen) und einer von Gott geoffenbarten "gerechten Ordnung" (Adil Düzen). Das erste Ziel der Mission von Milli Görüs ist die Durchsetzung der "gerechten Ordnung" in der Türkei. Die "islamische Zivilisation" solle die "westliche Zivilisation" in der Vorherrschaft ablösen, um anschließend die Mission in die Welt hinauszutragen. Trotz eines zum Teil martialischen Vokabulars hat die Milli Görüs-Bewegung innerhalb und außerhalb der Türkei ihre Ziele stets ausschließlich mit politischen Mitteln verfolgt und vollkommen auf Gewalt verzichtet. Die Umsetzung des Adil Düzen-Konzepts als Ziel der politischen Bewegung Milli Görüs ist mit den Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar, da eben diese überwunden werden soll. Darüber hinaus treten antisemitische Einstellungen sowohl in der Schrift Adil Düzen als auch bei Äußerungen Necmettin Erbakans und einiger Milli Görüs-Funktionäre deutlich zu Tage. IslamIsmus 265 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Milli Görüs-Bewegung unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Saadet Partisi Die Saadet Partei in Nordrhein-Westfalen setzte ihre Aktivitäten auch unter Pandemiebedingungen fort. Dabei handelte es sich in der ersten Jahreshälfte 2022 wie im Vorjahr 2021 noch vielfach um Onlineangebote. Auch das Gedenken anlässlich des 11. Todestags von Necmettin Erbakan erfolgte aus diesem Grund nur online . Mit dem Auslaufen der Corona-Schutzmaßnahmen zum Jahresende 2022 hin fanden die Veranstaltungen auch wieder in Präsenz statt. Im Laufe des Jahres 2022 gab es vermehrt Veranstaltungen der SP in ihrer neuen "Europazentrale" in Duisburg. Der Hauptsitz der europäischen Organisationsstrukturen befindet sich damit nicht mehr länger in Köln. In der zweiten Jahreshälfte 2022 machte sich der Beginn des Wahlkampfes der türkischen Parlamentswahlen durch vermehrte Aktivitäten bemerkbar. Die Parlamentswahlen finden Mitte 2023 statt. In diesem Zusammenhang ist insbesondere ein Europatreffen der SP zu erwähnen, das am 19. November 2022 in Duisburg stattfand und das mehrere hundert Anhänger aus ganz Europa besuchten. Eröffnet wurde die Veranstaltung durch den Parteivorsitzenden, der zu diesem Anlass aus der Türkei einreiste. Bemerkenswert ist, dass die SP im Februar 2022 mit fünf anderen türkischen Oppositionsparteien - darunter die sozialdemokratisch orientierte und größte Oppositionspartei CHP - ein Oppositionsbündnis gegen die Regierungsparteien AKP und MHP eingegangen ist. Ismail Aga Cemaati Am 23. Juni 2022 verstarb im Alter von 90 Jahren Mahmud Ustaosmanoglu, der Leiter der Ismail Aga-Gemeinde in Istanbul, die dem Naqschbandi-Orden zuzurechnen ist. Sein Tod wurde auch von hiesigen Anhängern der IAC betrauert. Ustaosmanoglu, der meist nur als Mahmud Efendi bezeichnet wurde, fungierte viele Jahrzehnte als spiritueller Leiter der Gemeinde. Er war ein Weggefährte Erbakans und hatte in der Vergangenheit auch zur Unterstützung der Milli Görüs-Ideologie aufgerufen. Auch zum 266 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 heutigen türkischen Staatspräsidenten, der an der Begräbniszeremonie teilnahm, bestand ein gutes und enges Verhältnis. Ein Teil der Ismail Aga-Gemeinde orientiert sich politisch sehr stark an der Saadet Partisi. Dies trifft insbesondere auch auf deren Europavertreter zu. Dieser ist zwar weiterhin in der Türkei ansässig, hält mit seinen Anhängern aber über das Internet Kontakt und vermittelt dabei regelmäßig auch extremistische Botschaften. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die SP befindet sich trotz der gemeinsamen Wurzeln in der Milli Görüs-Bewegung nach wie vor in Opposition zur türkischen Regierungspartei und vertritt damit nur noch eine Minderheit der Milli Görüs-Anhänger in politischer Hinsicht. Hier ist nicht erkennbar, dass sich dies auf kurze Sicht ändern wird. Auch bei den türkischen Parlamentswahlen 2023 dürfte die SP nur noch einen marginalen Anteil der Wählerschaft für sich gewinnen können. Im Vorfeld der Wahlen ist dennoch mit vermehrten Aktivitäten zu rechnen, die sich auf die SP-Strukturen in NRW auswirken dürften. In der deutschen Diaspora hat sich die SP mittlerweile etabliert. Die Einrichtung einer neuen Zentrale in Duisburg verdeutlicht, dass die Aufrechterhaltung der Exilstrukturen für sie von Bedeutung ist. Die Aktivitäten ihrer Regionalund Ortsverbände variieren allerdings stark. Manche davon organisieren ein vielfältiges Programm und richten kontinuierlich Veranstaltungen aus, andere sind nur sporadisch aktiv. Die Aktivitäten der Mitglieder der Ismail Aga Cemaati finden meist nur im Verborgenen statt. Die sehr konservative Auslegung des Islams wird auch in Zukunft nicht öffentlichkeitswirksam ausgeübt werden. IslamIsmus 267 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Türkische Hizbullah (TH) Sitz/Verbreitung Türkei Gründung/Bestehen seit 1979 in Diyarbakir Struktur/ Repräsentanz Mehrere Gemeinden in NRW, die sich jedoch nicht offen zur TH bekennen. In der Türkei steht die Hür Dava Partisi der TH nahe. Mitglieder/Anhänger/ NRW: 50\ Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Publikationen: Inzar Dergisi (Warnung), Dogru Haber (Richtige Nachricht), mehrere Web-Angebote Kurzporträt/Ziele Anfang der 1980er-Jahre bildeten sich unter sunnitischen Kurden in der Türkei Gruppierungen heraus, die für die Errichtung einer auf strikter Befolgung von Koran und Scharia gegründeten, von ihnen so bezeichneten "islamischen Herrschaft" eintraten und sich gegen den säkularen türkischen Staat wandten. Aus einer dieser Gruppierungen entwickelte sich die Hizbullah (Partei Gottes). Diese wendete vor allem seit Beginn der 1990er-Jahre Gewalt gegen interne Abweichler, gegen die kurdische Separatistenorganisation Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), gegen liberale Journalisten und gegen Vertreter des türkischen Staates an, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Im Januar 2000 wurde Hüseyin Velioglu, der Anführer der sogenannten Türkischen Hizbullah, in Istanbul bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet. Dieser Vorfall und weitere Exekutivmaßnahmen der türkischen Strafverfolgungsbehörden führten zu einer empfindlichen Schwächung der Hizbullah. 268 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Dabei wurden mehrere Funktionäre der Organisation und zahlreiche Mitglieder festgenommen und inhaftiert. Zugleich wurde aus Papieren und Videoaufzeichnungen deutlich, in welch großem Ausmaß die Organisation Entführungen, Morde und andere Gewalttaten verübt hatte. Zahlreiche Aktivisten der TH setzten sich daraufhin nach Europa und insbesondere nach Deutschland ab. Im Januar 2012 veröffentlichten TH-nahe Internetseiten ein Manifest, das die Gruppe auf eine neue ideologische Grundlage stellte. Darin wird unter anderem klargestellt, dass man die anvisierten Ziele nur noch gewaltfrei und auf legalem Wege erreichen wolle. Diese sind aber immer noch eindeutig islamistisch und richten sich gegen eine säkulare Ordnung. Im Mai 2022 wurden auf einer TH-nahen Website Erklärungen zu diesem Manifest veröffentlicht, die verdeutlichen, dass dieses nach wie vor für die Bewegung von Relevanz ist. In ihrer Zielsetzung verbindet die Türkische Hizbullah eine islamistische mit einer kurdisch-nationalen Agenda. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Aus dem Manifest der TH geht hervor, dass das zentrale Ziel der TH nach wie vor die Errichtung einer islamischen Ordnung ist. Regierungen und Staaten, die dem Islam nicht im - aus Sicht der TH - gebotenen Umfang Geltung verschaffen, gehören zum Feindbild. Die TH unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. IslamIsmus 269 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die TH erinnerte auch im Jahr 2022 an das "Martyrium" ihres Gründers Hüseyin Velioglu. Das Ereignis bot dem Leiter der Organisation erneut Anlass zur Veröffentlichung einer Stellungnahme, in der er auch auf politische Entwicklungen einging und diese aus Sicht der TH interpretierte. Darin äußerte er, dass es den Taliban gelungen sei, die amerikanische Besatzung zu vertreiben und bekundete seine Freude darüber, dass sie nun die islamische Ordnung in Afghanistan durchsetzen können. Allerdings würden die USA ihnen immer noch Steine in den Weg legen, weshalb er alle islamischen Bewegungen weltweit zur Solidarität mit den Taliban und zu konkreten Unterstützungsleistungen auffordert. Hinsichtlich des Nahostkonflikts ruft er ebenfalls zur Solidarität der islamischen Welt auf, die sich auf die Seite der HAMAS und des Palästinensischen Islamischen Jihads stellen müsse und jegliche Normalisierung ablehnen sollte. Nur so sei es möglich, "die Zionisten aus dem Herzen der islamischen Welt zu vertreiben". TH-naher Internetauftritt veröffentlicht Gedenkbotschaft an den Gründer Hüseyin Velioglu Bewertung, Tendenzen, Ausblick In Nordrhein-Westfalen konzentriert sich die TH vorwiegend auf Spendensammelkampagnen und religiöse Veranstaltungen. Die Anhänger der TH in Deutschland und NRW vermeiden ein offenes Bekenntnis zu ihrer Organisation. Sie geben sich weiterhin sehr konspirativ und vermeiden jegliches öffentliche Agieren. 270 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Eine Motivation zur Abkehr von ihrer politischen Zielsetzung oder von ihrem konspirativen Verhalten ist gegenwärtig nicht erkennbar. IslamIsmus 271 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Furkan-Gemeinschaft Sitz/Verbreitung Zentrale: Adana (Türkei) Deutschland: Zentren in Dortmund, Hamburg, Berlin und München Gründung/Bestehen seit 1994 Gründung der Furkan Vakfi (Furkan Stiftung) in der Türkei, in NRW seit 2011 vertreten, 2015 Gründung des Furkan Kulturund Bildungszentrums e.V. in Dortmund Struktur/ Repräsentanz Regionale Vertretungen in Deutschland, hierarchische Gliederung mit Alparslan Kuytul als Gründer an der Spitze Mitglieder/Anhänger/ NRW: 80 Unterstützer 2022 Veröffentlichungen Zeitschrift Furkan Nesli Dergisi (Magazin der Generation Furkan), Verbreitung von Inhalten über die eigene Internetpräsenz, über Videoplattformen und in sozialen Netzwerken (FurkanTV) Kurzporträt/Ziele Die Furkan Stiftung für Bildung und Dienst (Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) - auch als Furkan-Gemeinschaft bezeichnet - wurde durch Alparslan Kuytul gegründet, der bis heute als charismatische Führungsfigur agiert. Die Organisation verfolgt das Ziel, die "Islamische Zivilisation" - hier ein Synonym für Staatsund Gesellschaftsordnungen - durchzusetzen. Zur Umsetzung bemüht sich die Bewegung um eine Stärkung der Ummah (Gemeinschaft der Muslime) sowie die Ausbildung und Schulung einer Vorreiter-Generation (Öncü Nesil). Sie soll als gesellschaftliche Avantgarde auf dieses Ziel hinwirken. Zentrum der Furkan-Gemeinschaft ist Adana (Türkei), der 272 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Wohnort Kuytuls. Die Furkan-Gemeinschaft hat Ableger in zahlreichen Städten der Türkei und in Europa, darunter auch in Deutschland. Bei der in NRW befindlichen Furkan-Gemeinschaft handelt es sich um einen Verein mit Sitz in Dortmund und Kleingruppen im Umland. Die Anhänger finden sich regelmäßig zu religiösen Unterrichtsveranstaltungen zusammen. Diese gibt es auch für Kinder und Jugendliche. Männer und Frauen werden hierbei getrennt unterrichtet. Die Furkan-Gemeinschaft stellt hohe Anforderungen an ihre einzelnen Mitglieder und bindet diese sehr stark ein. Dadurch weist sie einen beinahe sektenartigen Charakter auf. Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden, Eintrittsgelder, Erlöse aus Veranstaltungen Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Anhänger der Furkan-Gemeinschaft orientieren sich auch in Deutschland vor allem an den Lehren Kuytuls. Ein zentrales Anliegen ist für ihn die Rückkehr zu einer "Islamischen Zivilisation". Diese soll sich ausschließlich an Koran und Sunna (prophetische Tradition) orientieren und Gott das ihm zustehende Recht zur Herrschaft einräumen. Die Furkan-Gemeinschaft geht davon aus, dass die Demokratie die Rechte Gottes vereinnahme und die Teilhabe am politischen Prozess zu Kompromissen zwinge, die im Widerspruch zu Gottes Gesetzen stünden. Solche Kompromisse dürften nach Kuytuls Verständnis jedoch keinesfalls eingegangen werden. Aus dieser Auffassung resultiert eine prinzipielle Ablehnung der Demokratie, die sich auch im Verbot der Teilnahme an Wahlen widerspiegelt. Dieses politische Religionsverständnis lehnt demnach die Herrschaft des Volkes, also die Demokratie, ab und strebt eine Herrschaft Gottes an, die auf der Scharia basieren soll. Somit stellt die Furkan-Gemeinschaft eine islamistische Bestrebung gegen die IslamIsmus 273 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 freiheitliche demokratische Grundordnung dar und unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Furkan-Gemeinschaft hat nach Aufhebung der Pandemiebeschränkungen im Jahr 2022 ihre Aktivitäten weiter fortgesetzt. Nach der Verhaftung einiger Furkan-Mitglieder in der Türkei und ihres Anführers Alparslan Kuytul kam es seit Anfang des Jahres 2022 zu wiederholten Demonstrationen der Furkan-Gemeinschaft in Dortmund. Diese forderten fortlaufend die Freilassung der Gefangenen und ihres Anführers. Demo der Furkan-Gemeinschaft im Januar 2022 in Dortmund Gleichwohl wurden im Rahmen der Demonstrationen auch andere Themen wie "Angriffe auf Moscheen in Deutschland" oder "Kopftuchverbot" aufgegriffen, um auf eine vermeintlich vorherrschende allgemeine Islamfeindlichkeit in Deutschland und der westlichen Welt hinzuweisen. Damit wird versucht, den großen Anteil der Bevölkerung, der die Diskriminierung und Angriffe auf Minderheiten verurteilt, für die eigene islamistische Weltansicht zu gewinnen. Im April 2022 fand eine große Konferenz in einem Veranstaltungssaal in Marl statt, zu der zahlreiche Mitglieder aus NRW und Besucher aus dem übrigen Bundesgebiet anreisten. 274 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Organisation nutzt weiterhin intensiv soziale Medien, um ihre Inhalte zu verbreiten und ihre Mitglieder an sich zu binden. Dabei wird zum einen das Opfernarrativ - Muslime werden in westlichen Staaten unterdrückt - verwendet und zum anderen die Verfolgung Kuytuls und seiner Anhänger in der Türkei auch der deutschen Politik angelastet. Über Werbung in den sozialen Medien versucht die Gemeinschaft neue Mitglieder, insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene, zu gewinnen. Dieses geschieht zum Beispiel durch Koranunterricht, Arabischsprachkurse, Veranstaltungen für Studenten sowie Jugendcamps mit religiösem Unterricht und gemeinsamen Freizeitaktivitäten. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die intensive Vernetzung mit anderen Furkan-Gruppen im Bundesgebiet und in der Türkei zeigt sich unter anderem am regen Austausch im Internet und den gegenseitigen persönlichen Besuchen. Gemeinsame Reisen zur Furkan-Zentrale nach Adana/Türkei zählen zu den Höhepunkten der Aktivitäten der Gemeinschaft in Deutschland. Seit mehreren Jahren kommt es in der Türkei immer wieder zu Konflikten zwischen der türkischen Regierung und der Furkan-Gemeinschaft. Infolge dessen werden dort Kundgebungen und Konferenzen verboten und gewaltsam von der Polizei aufgelöst. Diese Repressalien durch den türkischen Staat sowie die Inhaftierungen von Kuytul und anderen Mitgliedern emotionalisieren auch die Anhänger in Deutschland und führen zu großer Anteilnahme. Eine Befriedung dieser Auseinandersetzung in naher Zukunft erscheint unwahrscheinlich. Durch die beinahe täglichen Angebote für die Mitglieder in NRW werden diese stark an die Gemeinschaft gebunden. Eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben außerhalb dieser Gemeinschaft ist somit nur schwer möglich und aufgrund der Überzeugung, dass die "islamische Zivilisation" die einzig Wahre sei, auch nicht gewollt. Eine Steigerung der Anhängerzahl ist trotz oder auch aufgrund der starken Beanspruchung der einzelnen Mitglieder in die Aktivitäten der Gemeinschaft nicht zu erkennen. IslamIsmus 275 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 276 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Scientology Organisation (SO) scIentology organIsatIon (so) 277 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Scientology Organisation (SO) Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y Sitz/Verbreitung Zentrale in Los Angeles (USA), Repräsentanzen in Deutschland unter anderem in Berlin, Hamburg, München, Hannover, Frankfurt am Main, Stuttgart und Düsseldorf (Niederlassung des Scientology Kirche Düsseldorf e.V. und Repräsentanz des Celebrity Centre Rheinland Scientology Kirche e.V.) Gründung/Bestehen seit Gründung der Church of Scientology im Jahr 1953 durch Lafayette Ronald Hubbard (auch L. Ron Hubbard oder LRH) in den USA, Niederlassungen in Deutschland seit den 1970er Jahren Struktur/ Repräsentanz Die SO ist streng hierarchisch organisiert. Nachfolger des 1986 verstorbenen Gründers L. Ron Hubbard ist David Miscavige, der die Organisation bis heute als Vorsitzender des Religious Technology Centers (RTC) steuert. Die Repräsentanzen in Deutschland gliedern sich in sieben sogenannte Kirchen (Orgs), mehrere kleinere Missionen und zwei Celebrity Centres in München und Düsseldorf. 278 scIentology organIsatIon (so) Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Letztere sollen insbesondere prominente Persönlichkeiten für die SO gewinnen. Missionen unterscheiden sich von den Orgs im Wesentlichen darin, dass hier nur grundlegende Dienstleistungen angeboten werden. Große, repräsentative Orgs mit überregionaler Bedeutung werden als Ideale Orgs bezeichnet. Sie sollen möglichst alle Dienstleistungen unter einem Dach anbieten. In Deutschland befinden sich Ideale Orgs in Berlin, Hamburg und Stuttgart. Die SO bezeichnet sich selbst als Kirche. In Deutschland ist sie jedoch als solche nicht anerkannt. Die Orgs sind daher als eingetragene Vereine (e.V.) organisiert, auch wenn sie den rechtlich nicht geschützten Begriff Kirche zum Bestandteil ihrer Vereinsnamen gemacht haben. Mitglieder/Anhänger/ Unterstützer 2022 NRW: circa 350 Die SO selbst nennt häufig höhere Mitgliederzahlen. Veröffentlichungen Internationale Zeitschriften: Impact, Scientology News, Celebrity, Source, Freewinds, OT-Universe, The Auditor und Advance Deutschsprachige Zeitschriften: Freiheit und Kompetenz Diverse durch New Era Publications verlegte Sachbücher und Romane von L. Ron Hubbard Broschüren "Wie man sich selbst & andere gesund hält" und "Der Weg zum Glücklichsein" Kurzporträt/Ziele Die Ziele der SO basieren auf den bis heute verbindlichen Lehren ihres Gründers L. Ron Hubbard, insbesondere auf seinem 1950 veröffentlichten Grundlagenwerk Dianetik. scIentology organIsatIon (so) 279 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Sie strebt eine scientologische Gesellschaft an, in der an die Stelle des Demokratieprinzips und der Grundrechte ein auf der bedingungslosen Unterordnung des Einzelnen beruhendes, totalitäres Herrschaftssystem unter scientologischer Führung tritt. Die SO agiert häufig verborgen unter dem Deckmantel einer ihrer zahlreichen Nebenund Tarnorganisationen oder Kampagnen, deren Zugehörigkeit zur SO auf den ersten Blick meist nicht erkennbar ist. Beispiele hierfür sind: > Der Weg zum Glücklichsein (The Way To Happiness) > Sag NEIN zu Drogen, sag JA zum Leben (deutscher Ableger der Foundation for a drug-free world) > Jugend für Menschenrechte (Youth for Human Rights) > Foundation for a drug-free world (Kampagne gegen Drogenmissbrauch) > Narconon (Organisation zur Rehabilitation von Suchtkranken), > Criminon (Verein zur Resozialisierung von Strafgefangenen), > Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM), auf internationaler Ebene: Citizens Commission On Human Rights (CCHR). Um Kontakt zu potenziellen Neumitgliedern herzustellen, bedient sich die SO sowohl klassischer Methoden wie dem Verteilen von hochwertig gestalteten Broschüren als auch der Möglichkeiten des digitalen Raums, zum Beispiel in Form von Online-Persönlichkeitstests oder Webinaren. 280 scIentology organIsatIon (so) Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Weiterhin versucht die SO, ihre Einflussmöglichkeiten durch Unterwanderung der Wirtschaft zu vergrößern. Hierzu nutzt sie den eigenen Wirtschaftsverband World Institute of Scientology Enterprises (WISE) sowie eigene Organisationsund Managementstrategien. Auf diese Weise soll sukzessive die Infiltration der Wirtschaft voranschreiten und der Einfluss der Organisation ausgebaut werden. Der SO zugehörige Wirtschaftsunternehmen sind häufig dem Immobiliensektor oder der Beratungsbranche zuzurechnen. Bekannt sind aber auch Einrichtungen, die Dienstleistungen auf dem Nachhilfemarkt anbieten und sich damit gezielt an junge Menschen richten. Diese sind oft daran zu erkennen, dass sie Lerntechniken von Applied Scholastics anwenden. Applied Scholastics ist Teil der Association for Better Living and Education (ABLE), einer Nebenorganisation der SO. Finanzierung Kostenpflichtige Kurse und Vertrieb entsprechender Kursmaterialien; daneben wird regelmäßig Druck auf die Mitglieder ausgeübt, teils erhebliche Geldbeträge an die SO zu spenden. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die SO als gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebung ist seit 1997 Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. In Nordrhein-Westfalen erfolgt die Beobachtung auf der Grundlage des SS 3 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen. Scientologen teilen die Gesellschaft in Nichtabberierte und Abberierte (Nicht-Scientologen) auf. Letztere sind nach ihren Vorstellungen in einzelnen Rechten einzuschränken. Diese Einschränkungen betreffen wesentliche Grundund Menschenrechte wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung, zudem wird eine Gesellschaft ohne allgemeine und gleiche Wahlen angestrebt. Zur Erreichung ihrer Ziele versucht die Organisation, Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu nehmen. scIentology organIsatIon (so) 281 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Mit der Entscheidung des OVG Münster vom 12. Februar 2008 ist die Rechtmäßigkeit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz festgestellt worden. Das Gericht bestätigte die Auffassung des Verfassungsschutzes, dass die Lehre der Scientology Kirche Deutschland e.V. (SKD) und der Scientology Kirche Berlin e.V. (SKB) eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellt. Nach wie vor dienen die Schriften des Gründers L. Ron Hubbard als Grundlage für die SO zur Schaffung einer Gesellschaft nach scientologischen Vorstellungen. Sie werden von der SO in Deutschland auch weiterhin in großem Umfang verbreitet. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Zahl der Mitglieder in Nordrhein-Westfalen stagniert seit einigen Jahren auf einem im Vergleich zu früheren Zeiten überschaubaren Niveau. Die SO ist jedoch bemüht, ihr Image aufzubessern und neue Mitglieder zu gewinnen. Die Ende 2018 medial angekündigte Eröffnung einer Idealen Org in Düsseldorf konnte bisher jedoch nicht realisiert werden. Im Jahr 2022 wurden zahlreiche Fälle bekannt, in denen Druckerzeugnisse von SOTarnorganisationen, insbesondere von "Der Weg zum Glücklichsein", in Briefkästen nordrhein-westfälischer Bürgerinnen und Bürger eingeworfen wurden. Bei der Gestaltung dieser Materialien fanden meist farbenfrohe und teils kindgerechte Motive Verwendung, die eine Zuordnung zur SO oft nicht oder nur schwer möglich machen. Diese Taktik soll die wahre Herkunft der Angebote verschleiern und einen Erstkontakt mit der SO generieren. Nachdem in den letzten Jahren und insbesondere seit Beginn der Corona-Pandemie deutlich zu beobachten war, dass die SO verstärkt den digitalen Raum nutzte, um dort Webinare und Onlinekurse anzubieten, war in 2022 auch ein Wiedererstarken Titelblatt der Broschüre "Der Weg zum realweltlicher Aktivitäten festzustellen. So Glücklichsein" 282 scIentology organIsatIon (so) Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 wurde der sukzessive Wegfall der Corona-Einschränkungen offenbar dazu genutzt, wieder in persönlicheren Kontakt mit potenziellen Neumitgliedern zu kommen, beispielsweise durch das Angebot auffälliger Informationsstände in Innenstädten. Es wird davon ausgegangen, dass die SO in Zukunft sowohl auf Angebote im digitalen Raum als auch auf analoge Angebote setzen und sich die Vorzüge der jeweiligen Formate zu Nutzen machen wird. Teilweise sind auch Verschränkungen digitaler und analoger Methoden erkennbar, wenn zum Beispiel Flyer mit QR-Codes in Briefkästen eingeworfen werden, die auf die Website des Fernsehund Streamingdienstes "Scientology Network" führen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die 2008 durch das OVG Münster formulierte Gefahreneinschätzung zur SO hat unverändert Bestand. Die SO wendet zur Erreichung ihrer Ziele nach wie vor die gleichen Mittel an und hat sich zusätzlich Teile des digitalen Raums erschlossen. Es wird davon ausgegangen, dass die SO in Nordrhein-Westfalen alle ihr zur Verfügung stehen Mittel nutzen wird, um durch eine Vergrößerung der Mitgliederzahl sowie durch die Generierung entsprechender Finanzmittel ihrem Ziel der Eröffnung einer Idealen Org in Düsseldorf näher zu kommen. scIentology organIsatIon (so) 283 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 284 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Spionageabwehr, Cyberabwehr und Wirtschaftsschutz spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 285 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Zusammenfassung Mit dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat sich die schwelende Systemrivalität zwischen der Russischen Föderation und der westlichen Staatengemeinschaft hin zu einer offenen Auseinandersetzung entwickelt. Dadurch erhöht sich die von Russland ausgehende Spionagegefahr auf allen Angriffsvektoren. Neben der klassischen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Spionage betrifft dies unter anderem die von Cyberund Sabotageangriffen ausgehenden Risiken, die Versuche der Einflussnahme auf allen Ebenen sowie zunehmende Proliferationsaktivitäten zur Umgehung der gegen Russland verhängten Sanktionen. Die Möglichkeit weiterer staatsterroristischer Anschläge ist einzukalkulieren. Über die Russische Föderation hinaus verbleibt die sonstige nachrichtendienstliche Bedrohungslage durch ausländische Nachrichtendienste und sonstige geheimdienstlich oder sicherheitsrelevant agierende Strukturen in Nordrhein-Westfalen weiterhin auf einem sehr hohen Niveau. Im Bereich der Spionage interessieren sich ausländische Nachrichtendienste für Haltungen, Verhandlungspositionen und Zielsetzungen politischer Akteure auf Landesund Kommunalebene. Aber auch Behördenmitarbeiter, ihre Zuständigkeiten und ihr Agieren werden in Nordrhein-Westfalen durch nachrichtendienstliche Strukturen in den Blick genommen. Solche Aktivitäten folgen stets dem Interesse, Personen oder Organisationen für die eigene politische Agenda zu vereinnahmen, sie zu beeinflussen oder gar nachrichtendienstlich nutzbare Zugänge zu schaffen. Aus diesem Grund hat die Spionageabwehr ihre Sensibilisierungsund Beratungsaktivitäten insbesondere im behördlichen Umfeld im Berichtsjahr weiter intensiviert. Darüber hinaus sieht sich die nordrhein-westfälische Wirtschaft und Wissenschaft weiterhin einem erheblichen Spionagerisiko ausgesetzt. Illegitime Einflussnahme ist in den letzten Jahren zu einem wesentlichen Mittel im Kampf um Einfluss und Vorherrschaft im globalen Gefüge geworden. Übergeordnete Ziele solcher Aktivitäten sind die Destabilisierung des jeweiligen Zielstaats und seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen sowie die Schaffung günstiger 286 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Voraussetzungen für die Umsetzung der eigenen politischen Ziele. Letzteres wurde im Berichtsjahr insbesondere bei russischen Versuchen dokumentiert, die eigenen Narrative in Zusammenhang mit dem Angriffskrieg in der Ukraine und der Auseinandersetzung mit der NATO beziehungsweise dem Westen zu transportieren. Die Spionageabwehr hat 2022 umfassende Einflussnahmeversuche diverser Staaten auf unterschiedlichsten Feldern in Nordrhein-Westfalen festgestellt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des andauernden Krieges in der Ukraine ist mit einer weiteren Zunahme entsprechender Aktivitäten zu rechnen. Cyberangriffe haben sich bei ausländischen Nachrichtendiensten als Einsatzmittel weiter etabliert. Insbesondere autokratische Staaten verfügen inzwischen über hochqualifizierte Hackergruppierungen, die nachrichtendienstliche Operationen im Cyberraum durchführen. Zu den Operationszielen der staatlichen Angreifer gehören in Nordrhein-Westfalen sowohl wirtschaftliche und politische Spionage, Versuche der Einflussnahme aber auch mutmaßliche Vorbereitung von Sabotage. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat in Deutschland die mögliche Gefährdung im Cyberraum erhöht. Zu den besonderen Gefahren gehören die mögliche Ausbreitung von Schadsoftware aus der Ukraine, Aktionen sogenannter Hacktivisten und gezielte Sabotageangriffe. Angesichts der beschriebenen, zugespitzten Bedrohungslage durch Wirtschaftsspionage und Cyberattacken hat die Bedeutung des präventiven Wirtschaftsschutzes zugenommen. Dazu gehören Sicherheitsberatungen von Unternehmen der geheimschutzbetreuten Wirtschaft. Insbesondere Kritische Infrastrukturen (KRITIS) und KRITIS-nahe Unternehmen haben aktuell einen hohen Beratungsbedarf. Über die "Sicherheitspartnerschaft gegen Wirtschaftsspionage, Sabotage und Wirtschaftskriminalität NRW" wird die Vernetzung und der Austausch auf möglichst vielen Ebenen organisiert und weiter ausgebaut. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 287 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Im Fokus: Lagebild Wirtschaftsschutz 2021/22 Das Lagebild Wirtschaftsschutz NRW 2021/22 bietet einen ganzheitlichen Blick auf das Schutzniveau der kleinen und mittleren Unternehmen in Nordrhein-Westfalen. Diese sind nach der zum ersten Mal fortgeschriebenen Studie weiterhin nur teilweise geschützt. Das Schutzniveau fällt dabei im Vergleich zum ohnehin schon niedrigen Niveau des Jahres 2019 noch geringer aus. Das durch die Fachhochschule des Mittelstands in Bielefeld und auf Initiative der Sicherheitspartnerschaft NRW erstellte Lagebild Wirtschaftsschutz NRW 2021/22 zeigt, dass in den vier Schutzdimensionen Organisation, Personal, Cyberangriffsschutz und Gebäudeschutz in Teilen deutlicher Handlungsund Aufholbedarf bei kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Nordrhein-Westfalen besteht. In den vergangenen zwei Jahren hat sich der Innenminister Herbert Reul stellte das erstmalig fortgeschriebene Lagebild Wirtschaftsschutz zusammen mit Vertretern der Fachhochschule des MittelSchutzstatus in einzelstands und der Sicherheitspartner im Rahmen der Sicherheitsmesse Security der Öffentlichkeit vor nen Bereichen deutlich und insgesamt zumindest merklich verschlechtert. Das Lagebild zeigt auf einer Skala von 0 bis 10, wie mittelständische Unternehmen mit einer Größe von bis zu 499 Mitarbeitern die Umsetzung ihrer Unternehmensschutzmaßnahmen in den genannten vier Dimensionen einschätzen. Der Gesamtindexwert ist von 4,81 im Jahr 2019 auf 4,41 gesunken, was dem Status "teilweise geschützt" entspricht. 288 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Unterschiede bei Branchen und Unternehmensgrößen Je nach Branche und Unternehmensgröße bestehen weiterhin große Unterschiede. Als "wenig geschützt" erweisen sich vor allem die Branchen "Gastronomie/Hotellerie" (3,12) und "Handwerk" (3,80). Daher sollte Von den vier Schutzdimensionen ist lediglich der Cyberangriffsschutz überdurchschnittlich ausgeprägt sich ein besonderer Fokus der Prävention auf diese Branchen richten. Keine Branche erreicht im aktuellen Lagebild das Ergebnis "eher geschützt" oder eine höhere Einstufung. Insgesamt sind größere Mittelständler beim Thema Unternehmenssicherheit besser aufgestellt: Während "Kleinstunternehmen" (0-9 Mitarbeiter) auf einen Wert von 3,79 kommen und damit "wenig geschützt" sind, erzielen Unternehmen mit 10 bis 249 Mitarbeitenden Werte zwischen 4 und Je kleiner Unternehmen sind, desto geringer ist das Schutzniveau über alle Bereiche 6. Dies entspricht hinweg ausgeprägt der Aussage spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 289 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 "teilweise geschützt". Lediglich Unternehmen ab 250 Mitarbeitern gelten mit einem Wert von 6,18 als "eher geschützt". Wirtschaftsschutzstand und Schutzniveau abhängig vom Indexwert Das Lagebild Wirtschaftsschutz bezeichnet den Stand des Wirtschaftsschutzes sowie das jeweilige Schutzniveau abhängig vom Indexwert: Stand Indexwert Schutzniveau gar nicht geschützt =0 nicht geschützt <2 Schutzlos wenig geschützt 2 bis < 4 Einsteiger teilweise geschützt 4 bis < 6 Intermediäre eher geschützt 6 bis < 8 Fortgeschrittene stark geschützt 8 bis < 10 Experte umfassend geschützt 10 Die Mehrheit der Unternehmen bewegt sich auf dem Niveau "Einsteiger" (31,6 Prozent) oder "Intermediär" (32,1 Prozent). Lediglich 3,1 Prozent aller Unternehmen sind auf der Grundlage eigener Angaben dem Schutzstatus "Experte" zuzurechnen. 13,1 Prozent aller Unternehmen sind als "schutzlos" zu bezeichnen. Jedes fünfte Unternehmen (20,1 Prozent) ordnet sich in die Kategorie "Fortgeschrittene" ein. Unternehmen, die zu den sogenannten Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) gehören, sind mit einem Indexwert von 5,04 nur wenig besser geschützt als Nicht-KRITIS-Unternehmen (4,22). Der Schutz von KRITIS-Unternehmen fällt deutlich geringer aus als noch 2019 (Indexwert 7,2). Schutz gegen Cyberangriffe am stärksten ausgeprägt Die Unternehmen überschätzen ihren Schutz in allen vier abgefragten Dimensionen. Dies deutet auf ein trügerisches Sicherheitsgefühl hin. Lediglich im Bereich Cyberangriffsschutz liegt die Selbstwahrnehmung mit einem Indexwert von 6,51 nahe am tatsächlichen Indexwert von 6,20. Es ist zu vermuten, dass die Unternehmen in diesem Bereich besser informiert sind und daher zu einer realistischeren Einschätzung kommen. Der Cyberangriffsschutz ist über alle Branchen und Unternehmensgrößen hinweg die am stärksten ausgeprägte Dimension der Unternehmenssicherheit. 290 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Dabei setzen Unternehmen vor allem auf die Basisschutzmaßnahmen wie Backups, Firewalls und Antivirenprogramme. Je komplexer Schutzmaßnahmen werden, desto Die Selbsteinschätzung der Unternehmen liegt in allen vier Schutzdimensionen über den ermittelten Indexwerten geringer wird die Umsetzung und die wahrgenommene Relevanz. Deutlich wird dies vor allem beim Thema Sicherheitstests. Während alle anderen Maßnahmen des Indikators Schutz vor Cyberattacken und Datenverlust auf Indexwerte von 8,00 bis 8,47 kommen, liegt der Wert für Sicherheitstests bei 4,27. Schutzfaktor Mensch wird vernachlässigt Eine besonders geringe Relevanz wird hingegen den Bereichen Schulung und Sensibilisierung sowie Integritätsprüfungen zugemessen. Die geringere Relevanzwahrnehmung spiegelt sich in einer geringen Umsetzung konkreter Maßnahmen in diesen Kategorien wider. Dem Schutzfaktor Mensch wird zu wenig Bedeutung beigemessen. Die Dimension Personenbezogene Schutzmaßnahmen weist entsprechend lediglich einen Gesamtindexwert von 4,22 auf. Schulungen und Sensibilisierungen werden als wichtige präventive Maßnahme des Unternehmensschutzes im Mittel deutlich vernachlässigt (Indexwert 3,43). Der Nutzen dieser Maßnahmen, um beispielsweise der Gefahr des Social Engineerings zu begegnen, ist den Unternehmen kaum bewusst. Beinahe jedes vierte Unternehmen hält Schulungen und Sensibilisierungen für "gar nicht relevant" (26,3 Prozent). Dies ist umso bedenklicher, zumal 54,5 Prozent der Unternehmen angeben, dass ihre Mitarbeiter nur "teilweise" bis "gar nicht" über mögliche Schutzmaßnahmen informiert sind. Dieser Wert ist im Vergleich zu 2019 noch einmal spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 291 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 um sieben Prozent gestiegen. Je weniger Mitarbeiter über potenzielle Bedrohungen und Schutzmaßnahmen wissen, umso leichter haben es Angreifer mit Methoden, die sich die Gutgläubigkeit und Unbedarftheit von Beschäftigten zunutze machen. Vorbereitung auf den Notund Krisenfall weiterhin ungenügend Organisatorische Schutzmaßnahmen sind am schlechtesten ausgeprägt. Ein großer Teil der Unternehmen misst schriftlichen Regelungen und Konzepten zum Unternehmensschutz keine besondere Bedeutung bei. Selbst Passwortrichtlinien existieren bei fast einem Drittel der Unternehmen nicht. Insgesamt haben Unternehmen ein erhöhtes Risiko für schwere Beeinträchtigungen der Betriebsfähigkeit sowie für finanzielle Schäden bei erfolgreichen Angriffen. Zum einem sind Notfallund Krisenkonzepte (3,47) sowie Sicherheitsanalysen und -konzepte (3,35) nur selten existent und vollständig ausgearbeitet. Zum anderen bestehen für den Fall finanzieller Folgen eines Angriffs kaum externe Absicherungen (2,46). Die Umsetzung organisatorischer Schutzmaßnahmen ist im Vergleich zu 2019 um 0,4 Indexpunkte gesunken. Eine gewisse Relevanz derartiger Maßnahmen wird lediglich bei "großen Mittelständlern" gesehen. Die Gefahr eines Angriffs besteht jedoch bei jeder Unternehmensgröße. Fokus: Mobiles Arbeiten und Homeoffice Die Corona-Pandemie hat viele Unternehmen gezwungen, neue Wege der Zusammenarbeit zu finden. Durch die Verlagerung von Arbeit in das Homeoffice oder durch die Nutzung des mobilen Arbeitens stellen sich verstärkt Sicherheitsfragen wie der Schutz mobiler Endgeräte, des öffentlichen oder häuslichen WLANs, der Zugriff von außen auf Systeme und Programme und die Sicherheit genutzter Plattformen Notfallund Krisenkonzepte sowie die Schulung und Sensibilisierung der Beschäftigten gehören zu den oder Kommunikationswege. In einem beIndikatoren mit den niedrigsten Indexwerten sonderen Fokusteil beleuchtet das Lagebild, inwiefern die Unternehmen ihren Digitalisierungsstand und entsprechend auch den Unternehmensschutz auf diese Situationen hin angepasst haben oder zukünftig anpassen wollen. Als wesentliche Ergebnisse lassen sich festhalten: 292 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 > Mobiles Arbeiten oder Homeoffice werden bei der Mehrheit der Unternehmen zu einem festen Bestandteil. Digitalisierungsstand und Sicherheit gewinnen nur sehr verhalten an Bedeutung. > Unternehmen setzen auf technischen Schutz. Sie widmen dem Schutzfaktor Mensch auch in diesem Bereich keine hinreichende Aufmerksamkeit. > Eine Sensibilisierung für Sicherheitsrisiken bei flexiblen Arbeitsorten gewinnt an Bedeutung. Handlungsempfehlungen der Sicherheitspartnerschaft Das Lagebild Wirtschaftsschutz NRW 2021/22 spiegelt die Selbsteinschätzung und den Schutzstatus kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) in Nordrhein-Westfalen wider. Aus den Ergebnissen der Befragungen leitet die Sicherheitspartnerschaft Nordrhein-Westfalen folgende, an dieser Stelle nur kurz beschriebene Empfehlungen ab: > verstärkte Ausrichtung des Fokus bei der Sensibilisierung auf eine ganzheitliche Betrachtung der Unternehmenssicherheit, > kurzfristige Intensivierung der Unterstützung der Branchen Handel und Handwerk durch die in der Prävention aktiven Akteure, um den Grundschutz zu verbessern, > verstärkte Vermittlung von Methoden und Werkzeugen, mit denen sich besonders schützenswerte Betriebsund Geschäftsgeheimnisse identifizieren, konkrete Bedrohungspotenziale analysieren und ganzheitliche Sicherheitskonzepte leichter umsetzen lassen, > Ausbau von Informationen über niederschwellige Methoden und Instrumente für Schulung und Sensibilisierung (zum Beispiel Lernund Vermittlungsinhalte in Form von Videos und Podcasts), > Betrieb eines kontinuierlichen, aktiven Monitorings, > Sensibilisierung für die Notwendigkeit von Notfallund Krisenplänen sowie Information über entsprechende Angebote zur Unterstützung bei der Erstellung, > nähere Beleuchtung der Gründe für den deutlichen Rückgang des Schutzniveaus im besonders sensiblen KRITIS-Bereich. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 293 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Spionage, Proliferation und sicherheitsgefährdende Aktivitäten für fremde Mächte Kriege, politisch-gesellschaftliche Krisen und Instabilität in vielen Teilen der Welt wirken sich oftmals auch auf die Sicherheitslage in der Bundesrepublik Deutschland und in Nordrhein-Westfalen aus. Militärische Eskalationen oder die zunehmende innenpolitische Entwicklung von Staaten hin zu autoritären Regimen erhöhen die Bereitschaft vieler Regierungen, ihre Nachrichtendienste auch im Ausland umfassend zur Verfolgung nationaler Interessen und zur Sicherung der eigenen Machtposition einzusetzen. Davon betroffen sind das gesamte Zielspektrum von Spionage, die sich weiter intensivierenden Versuche illegitimer Einflussnahme ausländischer Akteure auf politische und gesellschaftliche Prozesse sowie die Überwachung und Bekämpfung oppositioneller Strukturen auf deutschem Boden. Das immer robustere Vorgehen gegen Exil-Opposition kann dabei bis zum Einsatz von Gewalt reichen. Solche staatsterroristischen Aktivitäten stellen eine besonders ernstzunehmende Bedrohung für die Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland dar. Während die Russische Föderation, die Volksrepublik China, die Islamische Republik Iran und die Republik Türkei nach wie vor die Hauptakteure gegen Deutschland und Nordrhein-Westfalen gerichteter Spionage sind, geht die Spionageabwehr mit einem sogenannten 360-Grad-Blick allen anderen Hinweisen auf illegale oder statuswidrige nachrichtendienstliche Aktivitäten sonstiger Staaten konsequent nach. 24. Februar Ausfall des KA-SAT-Netzes in Deutschland als mutmaßlicher Kollateralschaden des Angriffskriegs Russlands 2022 [?] 24. März Anklage von vier Mitarbeitern des FSB und des russischen Verteidigungsministeriums, die als Hacker in hunderte Unternehmen und Organisationen eingedrungen sind, durch die US-Justiz 294 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine Bereits vor Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zählte die Bundesrepublik Deutschland zu den Hauptaufklärungszielen russischer Nachrichtendienste. Die in vielfältiger Weise gegen deutsche Interessen gerichteten, aggressiven nachrichtendienstlichen Aktivitäten Russlands bis hin zu staatsterroristischen Mordanschlägen auf deutschem Boden stellen seit jeher eine erhebliche Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands dar. Ungeachtet dessen stellt der russische Angriffskrieg auch die Nachrichtendienste vor besondere Herausforderungen, die sich noch über Jahre hinaus auf die Spionageabwehr auswirken. Die derzeit gegen Deutschland und Nordrhein-Westfalen gerichtete Spionage hat dabei das Ausmaß des Kalten Krieges erreicht und wird tendenziell weiter zunehmen. Es ist langfristig mit besonders intensiven nachrichtendienstlichen Aktivitäten Russlands auf allen Angriffsvektoren zu rechnen. Aufgrund des Krieges in der Ukraine, der folgenden umfassenden Sanktionen und der politischen Isolation Russlands - zumindest in sehr weiten Teilen der westlichen Staatengemeinschaft - stehen die russischen Nachrichtendienste unter enormem Informationsbeschaffungsdruck. Der Krieg hat zu einer von russischer Seite provozierten massiven Eskalation zwischen Russland und der NATO beziehungsweise der westlichen Staatengemeinschaft geführt. Die Hemmschwelle Russlands, über ukrainisches Territorium hinaus mit noch massiveren nachrichtendienstlichen Maßnahmen zu agieren, ist dadurch noch einmal deutlich gesunken. Grundsätzlich wägen Staaten die mit eigenen nachrichtendienstlichen Maßnahmen im Ausland verbundenen politischen Risiken stets sehr genau gegen die erhofften Gewinne ab. Im Lichte der beschriebenen Eskalation und ihrer unmittelbaren Folgen für Russland ist eine deutlich erhöhte Bereitschaft der russischen Regierung einzukalkulieren, ihre Nachrichtendienste auch in Deutschland mit umfassenden Spio4. April Ausweisung von 40 in Deutschland akkreditierten russischen Diplomaten durch das Auswärtige Amt 14. April Verurteilung eines Doktoranden der Universität Augsburg durch das OLG München wegen Agententätigkeit für Russland spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 295 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 nage-Operationen, Sabotageakten oder staatsterroristischen Aktionen zu beauftragen. Die politischen Auswirkungen des Krieges und der auf russischer Seite empfundene nachrichtendienstliche Handlungsbedarf werden mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zeitlich weit über ein Ende aktiver Kampfhandlungen in der Ukraine hinausreichen. Nachrichtendienstliche Aktivitäten Russlands, bei denen eine Zunahme zu erwarten ist > politische Spionage, unter anderem mit den Zielen Reduzierung von Sanktionen, Reduzierung der Unterstützung der Ukraine sowie Verbesserung der bilateralen Beziehungen > militärische Spionage, unter anderem gegen NATO, Bundeswehr und die militärische Unterstützung der Ukraine > wirtschaftlich-wissenschaftliche Spionage und proliferationsrelevante Beschaffungsversuche zur Umgehung der gegen Russland bestehenden Sanktionen > (umfassende) Cyberangriffe und Sabotage, insbesondere im Bereich Kritischer Infrastruktur (KRITIS) > staatsterroristische Aktivitäten gegen Oppositionelle oder andere als Staatsfeinde definierte Akteure > Versuche illegitimer Einflussnahme durch Propaganda, Desinformationskampagnen und Vereinnahmung von Entscheidungsträgern 15. April Aufruf zu Überlastungsangriffen gegen deutsche Webseiten durch die pro-russische Hackergruppierung "KILLNET" über Telegram unter Bezug auf Waffenlieferungen Deutschlands 2022 [?] 10. Mai Gemeinsame Erklärung der EU, Großbritanniens, der USA und weiterer Verbündeter: Der Cyberangriff auf das KA-SAT-Netz wird der Russischen Föderation zugeordnet und aufs Schärfste verurteilt 296 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Politische Einflussnahme Bei illegitimer ausländischer Einflussnahme, die von fremden Nachrichtendiensten oder sonstigen Stellen ausländischer Staaten ausgeht, handelt es sich um eine der bedeutsamsten Bedrohungen für das westliche Demokratieund Werteverständnis. Übergeordnete Ziele derartiger Angriffe sind das Unterminieren oder Zerstören des Vertrauens in die Stabilität und Integrität des betroffenen Staates. Seine rechtsstaatlichen Institutionen und Repräsentanten sowie die demokratischen Prozesse sollen geschwächt und das Vertrauen in eine unabhängige mediale Berichterstattung beschädigt werden. Weil sich Einflussnahmeversuche gegen den demokratischen Verfassungsstaat und seine Institutionen richten, handelt es sich dabei um sicherheitsgefährdende Bestrebungen im Sinne des Verfassungsschutzgesetzes, deren Aufdeckung und Offenlegung Aufgabe der Spionageabwehr ist. Aktivitäten der Einflussnahme werden oftmals politisch und gesellschaftlich umfassend und langfristig angelegt. Sie richten sich gegen alle politischen Ebenen und können sich potentiell aller denkbaren Themenbereiche bedienen, sofern diese zur Verbreitung eigener Narrative geeignet sind. Die Einfluss nehmenden Staaten zielen auf ein wohlwollendes Umfeld und Verständnis für die eigene Außen-, Sicherheitsund Wirtschaftspolitik ab. Gleichzeitig möchten sie den Eindruck vermitteln, dass ihr Gesellschaftsmodell dem Modell demokratischer Verfassungsstaaten überlegen ist. Illegitime Einflussnahme wird als hybride Bedrohung bezeichnet, weil ausländische Staaten sich eines breiten Instrumentenkastens zur Umsetzung ihrer Ziele bei gleichzeitiger Verschleierung der Urheberschaft ihrer Aktivitäten bedienen. In Deutschland und Nordrhein-Westfalen konzentrieren sich Einflussnahmeversuche auf die vier grundlegenden unter "Handlungsfelder hybrider Einflussakteure" beschriebenen Be16. Juni Bericht des niederländischen Nachrichtendienstes AIVD über einen Infiltrationsversuch des GRU beim internationalen Strafgerichtshof in Den Haag 14. Juli Verurteilung von Ali D. wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit für einen türkischen Nachrichtendienst durch das OLG Düsseldorf spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 297 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 reiche. Diese lassen sich nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen, greifen oftmals ineinander und bedingen sich teilweise wechselseitig. Handlungsfelder hybrider Einflussakteure > Informationsraum und gesellschaftlicher Raum Einflussakteure nutzen unter anderem eigene staatliche beziehungsweise staatsnahe Medien, Thinktanks, soziale Netzwerke sowie staatsnahe (religiöse) Verbände zur Verbreitung ihrer Narrative. Die öffentliche Meinung sowie Haltungen in Diaspora-Gruppen sollen beeinflusst werden. Mittel sind Propaganda, einseitige und tendenziöse Berichterstattung und Desinformation. > Cyberraum Die Einflussnahmeversuche reichen von Vorbereitungsund Unterstützungsmaßnahmen einzelner Aktivitäten über sogenannte "Hack-and-Leak"-Operationen zur Erbeutung und (teilweise verfälschten) Veröffentlichung vertraulicher Daten bis hin zu gezielten Cyberangriffen auf KRITIS-Bereiche. > Politischer Raum Es stehen vor allem Parlamente, Parteien und politische Stiftungen im Fokus. Favorisierte Parteien und Politiker werden beispielsweise unterstützt, Missliebige diskreditiert oder gar eingeschüchtert. Daneben wird unter anderem durch diplomatische Vertretungen oder über vermeintlich neutrale Mittelsleute versucht, Entscheidungsträger zu vereinnahmen. 15. Juli Verurteilung von Alexander S. wegen illegaler Ausfuhren von Dual-use-Gütern nach Russland durch das OLG Dresden 2022 [?] 30. August Anklage gegen einen Deutsch-Iraner durch den Generalbundesanwalt wegen des Verdachts illegaler Lieferungen in das iranische Nuklearund Raketenprogramm 298 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 > Wirtschafts-, Wissenschafts-, Bildungsund Kulturraum Einflussakteure zielen mit nichtöffentlichen (Druck-)Mitteln/Verweis auf Absatzmärkte/wissenschaftliche Kooperationen auf konformes Verhalten ab. Die Spionageabwehr konnte im Berichtsjahr in NRW weiterhin ein ausgeprägtes Interesse ausländischer nachrichtendienstlicher und sonstiger staatlicher Strukturen an politischen und behördlichen Institutionen von Land und Kommunen feststellen. Die Aktivitäten reichten von illegitimen Einflussnahmeversuchen auf einzelne politische oder behördliche Entscheidungen über generelle Vereinnahmungsversuche bei Entscheidungsträgern bis hin zu nachrichtendienstlichen Anbahnungsoperationen, für die es tatsächliche Anhaltspunkte gab. Für die im Fokus stehenden Akteure war häufig nicht sofort erkennbar, dass es sich um solche Einflussnahmeversuche ausländischer Staaten handelte. Ausländische Einflussakteure bedienen sich regelmäßig scheinbar neutraler Dritter als Mittler ihrer Anliegen oder kultivieren den zunächst dienstlich etablierten Kontakt in ein vorgeblich privat-freundschaftliches Verhältnis. Naturgemäß sind Zugänge in Sicherheitsbehörden und mit sicherheitsrelevanten Vorgängen betraute Behörden für ausländische Nachrichtendienste von besonderem Interesse. Fälle von inzwischen gerichtlich verurteilten Beschäftigten unterschiedlicher Behörden in den letzten Jahren haben dies gezeigt. Die Festnahme eines Mitarbeiters des Bundesnachrichtendienstes am 21. Dezember 2022 wegen des Verdachts des Landesverrats deutet ebenfalls in diese Richtung. Die Spionageabwehr hat daher im Berichtsjahr ihre Sensibilisierungsmaßnahmen, insbesondere im (sicherheits-)behördlichen Kontext intensiviert und wird dies im kommenden Jahr fortsetzen. 16. September Der Tod von Mahsa Amini im iranischen Polizeigewahrsam löst Massenproteste in Iran und weltweit aus 26. September Sprengstoffanschlag auf die Nordstream-Pipelines und Ermittlungen des Generalbundesanwalts in diesem Zusammenhang spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 299 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Operatives Vorgehen der Nachrichtendienste In operativer Hinsicht konnte bei einer Vielzahl ausländischer Nachrichtendienste im Berichtsjahr erneut eine Kombination aus zentral gesteuerten Operationen und einem Agieren aus sogenannten Legalresidenturen festgestellt werden. Aktivitäten aus Legalresidenturen heraus Bei sogenannten Legalresidenturen handelt es sich um getarnte Stützpunkte ausländischer Nachrichtendienste in diplomatischen, konsularischen oder halbamtlichen Vertretungen wie Botschaften, Konsulaten, aber auch Presseagenturen oder Fluggesellschaften. Von dort agieren ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oftmals unter diplomatischem oder journalistischem Schutz. Dies erleichtert es ihnen, statuswidrig beziehungsweise illegal Informationen zu beschaffen oder bei nachrichtendienstlichen Operationen ihres Heimatlandes zu unterstützen. Ihre Aktivitäten können sich auf alle gesellschaftlichen und politischen Ebenen und Themenfelder erstrecken. Eine entsprechende Abtarnung ermöglicht den Angehörigen von Legalresidenturen eine unverfänglich erscheinende Kontaktaufnahme zu Zielpersonen. Diese haben ihrerseits meist keine Kenntnis vom nachrichtendienstlichen Hintergrund ihres Gegenübers und gehen zunächst von regulären beruflichen Kontakten aus. 27. September Das US-Unternehmen META informiert über den Stopp einer groß angelegten russischen Desinformationskampagne, bei der Deutschland das Hauptziel war 2022 [?] 8. Oktober Sabotageangriff auf den Betriebsfunk der Deutschen Bahn, bei dem der Zugverkehr in Norddeutschland zum Erliegen kam 300 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Informationsbeschaffung der Legalresidenturen wird häufig durch zentrale Operationen aus den Heimatländern ergänzt. Zielpersonen werden bei Geschäftsoder Urlaubsreisen angeworben und langfristig aus dem jeweiligen Ausland gesteuert. Das Führen von Agenten über ihre Reisen in das staatliche Hoheitsgebiet des entsprechenden Nachrichtendienstes birgt ein geringeres Entdeckungsrisiko als ein Agieren im Zielstaat. Es wird in vielen Fällen durch Kommunikationskanäle im Internet und Treffs in Drittstaaten ergänzt. Die meisten Staaten bedienen sich einer Kombination aller Möglichkeiten. Methoden fremder Nachrichtendienste > Ausländische Nachrichtendienste (AND) haben in ihren Staaten potentiell umfangreichen Zugriff auf Daten wie Visa-Unterlagen. Mit diesen Informationen lassen sich die Reisen der Zielpersonen in ihr Hoheitsgebiet passgenau vorbereiten. > AND betreiben offene oder halboffene Informationsbeschaffung zu Zielpersonen (Soziale Medien, Internetrecherchen, offene Datenbanken, Kontakte bei Empfängen, dienstlichen Veranstaltungen oder Meetings) und eruieren so Möglichkeiten einer nachrichtendienstlichen Anbahnung. > Angehörige von Residenturen nehmen unter dem Vorwand internationaler Kooperationen oder unverfänglicher politischer "Hintergrundgespräche" direkten Kontakt zu Zielpersonen auf. 16. Oktober Beim 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) lässt sich Xi Jinping für eine dritte Amtzeit in seinen führenden Parteiund Staatsämtern wiederwählen 10. November Verurteilung von Aziz A. durch das OLG Düsseldorf wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit für einen türkischen Nachrichtendienst spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 301 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 > Zunächst berufliche Kontakte werden kultiviert und in den scheinbar privat-freundschaftlichen Bereich überführt. Mitarbeiter von AND befinden sich in Deutschland jedoch im Auslandseinsatz, ihre Kontakte sind daher stets dienstlich und meldepflichtig. > AND können zur Anbahnung von Zielpersonen Anreize und Druckmittel einsetzen. Dazu zählen eine finanzielle Vergütung, attraktive Reisen, dienstliche Vorteile, Wertschätzung, aber auch Kompromate oder Druck auf Angehörige im jeweiligen Herkunftsland. Russische Föderation Der Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 markierte auch für die nordrhein-westfälische Spionageabwehr eine Zäsur. Die Lage wurde und wird unter Federführung der Spionageund Cyberabwehr sowie unter Einbeziehung aller Extremismusbereiche intensiv beobachtet und analysiert. Dabei richtet sich der Blick insbesondere auch auf die Auswirkungen auf die Sicherheitslage in NRW. Besonders sichtbar waren die russischen Versuche illegitimer Einflussnahme. Die entsprechenden russischen Akteure bedienten und bedienen unablässig die auch in den Staatsmedien in Russland etablierten Narrative, die Ukraine als Aggressor und den Westen mit seinen Waffenlieferungen als Kriegstreiber darzustellen. Der russische Einmarsch diene dazu, einen Genozid in der Ostukraine zu verhindern sowie die Ukraine zu befreien, zu entmilitarisieren und zu "entnazifizieren". Angriffe des russischen 14. November Der Generalbundesanwalt nimmt einen mutmaßlichen marokkanischen Agenten in NRW fest 2022 [?] 18. November Verurteilung eines früheren Reserveoffiziers der Bundeswehr wegen Agententätigkeit für Russland durch das OLG Düsseldorf 302 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Militärs auf zivile Ziele werden geleugnet. Darüber hinaus verbreiten russische Medien, vorrangig RT DE, neben den vorgenannten Botschaften verstärkt das russische Narrativ einer Energie - und Lebensmittelknappheit im Westen und stellen die Sanktionen des Westens als ursächlich hierfür dar. Zudem wird verstärkt über einen angeblich wachsenden Unmut in der deutschen Bevölkerung berichtet, der aufgrund der Auswirkungen von Inflation und Rezession entstünde. Tiefgreifende gesellschaftliche Unruhen stünden bevor. Vermeintlich simple Lösungen - wie etwa die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nordstream 2 - werden dem entgegengesetzt. In diesem Zusammenhang ist auch die Einrichtung eines "SOS"-E-Mail-Postfachs der russischen diplomatischen Vertretungen im Bundesgebiet zu sehen, an das sich tatsächliche oder vermeintliche Opfer von Fällen antirussischer Diskriminierung wenden können. Die Einrichtung wurde durch umfangreiche Aktivitäten in den sozialen Netzwerken propagandistisch begleitet. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges traten unter anderem in Nordrhein-Westfalen zudem mehrfach zum Teil gleiche Akteure durch die Organisation prorussischer Autokorsos und anderer Demonstrationen in Erscheinung. Es ist anzunehmen, dass diese Aktivitäten von russischen staatlichen Stellen mit Wohlwollen betrachtet werden. Die Wahl des Veranstaltungsformats Autokorso lehnt sich an frühere Formate zum sogenannten "Tag des Sieges" an. Sie dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass derartige Veranstaltungen in besonderem Maße geeignet sind, dynamisch wirkendes Bildmaterial zu liefern. Dies kann in russischen Medien und in den sozialen Netzwerken verbreitet werden. Es soll der Eindruck erzeugt werden, dass sich in Deutschland eine breite Öffentlichkeit gegen westliche Waffenlieferungen und Sanktionen positioniert. 23. November Bericht der Präsidentin des Europaparlaments über einen Cyberangriff auf die Website des EU-Parlaments, mutmaßlich durch die pro-russische Hackergruppierung "Anonymous Russia" spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 303 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Spionageabwehr stellt bei den russischen Nachrichtendiensten einen erheblich erhöhten Informationsbeschaffungsbedarf sowie die Notwendigkeit fest, sich auf veränderte Gegebenheiten in Europa und Deutschland einzustellen. Deutschland hat darauf beispielsweise mit der Ausweisung von 40 russischen Diplomaten, angepassten Einreisebestimmungen für russische Staatsangehörige sowie verschiedenen Sanktionen reagiert. Insgesamt ist die Sensibilität für die Aktivitäten russischer Nachrichtendienste noch einmal deutlich gestiegen. Ein erhöhter Informationsbeschaffungsdruck sowie gestiegene Schwierigkeiten, in Europa erfolgreich operativ tätig zu werden, dürfte die russischen Nachrichtendienste zu einer Anpassung beziehungsweise Ergänzung ihres methodischen Vorgehens zwingen. Es ist damit zu rechnen, dass sie noch konspirativer agieren werden. Die Ausweisungen russischer Diplomaten aus Deutschland dürften den Aktionsradius russischer Nachrichtendienste für das Bundesgebiet zunächst eingeschränkt haben, die betroffenen Dienste verfügen jedoch über weitere, langjährig erprobte Mittel und Wege zur Informationsgewinnung. Dazu zählen vor allem zentralgesteuerte Operationen wie etwa Reisekader oder das sogenannte "Illegalenprogramm". Mit einer Verlagerung des nachrichtendienstlichen Geschäfts von den Legalresidenturen der russischen diplomatischen Vertretungen hin zu klandestineren und damit schwieriger zu detektierenden Alternativen ist zu rechnen. Als Beispiel für diese Entwicklung kann der Fall eines mutmaßlichen russischen "Illegalen" dienen. Dieser hatte offenbar versucht, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu infiltrieren, der derzeit mögliche russische Kriegsverbrechen in der Ukraine untersucht. Der niederländische Nachrichtendienst AIVD veröffentlichte im Juni 2022 eine Meldung auf seiner Internetseite, nach der ein für den russischen GRU tätiger "Illegaler" mit einer aufwendig und langjährig konstruierten brasilianischen Tarnidentität daran gehindert worden sei, Zugang zum Internationalen Strafgerichtshof zu erlangen. Dabei habe es sich um eine sehr ernsthafte Bedrohung für die nationale Sicherheit, die Sicherheit der Verbündeten und die Integrität des Strafgerichtshofs gehandelt. Die Person wurde nach Brasilien ausgewiesen, wo sie vor Gericht gestellt werden soll. Nach Pressemeldungen von Oktober 2022 ist den norwegischen Sicherheitsbehörden die Enttarnung eines Verdächtigen gelungen, der ebenfalls unter Nutzung einer brasilianischen Legende tätig gewesen ist. Er soll an der Universität in Tromso gearbeitet haben. Zur Legendierung ihrer "Illegalen" haben russische Nachrichtendienste in der Vergangenheit immer wieder auf Tarnidentitäten aus Lateinamerika zurückgegriffen. 304 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Die Nachrichtendienste der Russischen Föderation Nachrichtendienstlich stützt sich die Russische Föderation im Wesentlichen auf > den für die Tätigkeitsfelder Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung und organisierte Kriminalität zuständigen Inlandsnachrichtendienst "Federalnaja Slushba Besopasnosti" (FSB), > den zivilen Auslandsnachrichtendienst "Slushba Wneschnej Raswedki" (SWR), vorrangig konzentriert auf die Themen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, sowie > den "Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije" (GRU) als militärischen Auslandsnachrichtendienst. Nachrichtendienste sind ein traditionell fester Bestandteil der russischen Sicherheitsarchitektur. Sie sind für die Vorbereitung und Umsetzung von Entscheidungen der Staatsführung von essenzieller Bedeutung. Beispielsweise gehören die Direktoren von SWR und FSB dem Sicherheitsrat der Russischen Föderation an. Die GRU ist dort über den Verteidigungsminister vertreten. Russische Nachrichtendienste haben im Berichtsjahr auch in Nordrhein-Westfalen versucht, umfangreich Informationen entlang der Aufklärungsvektoren Politik, Militär, Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft sowie zu russischen Oppositionellen beziehungsweise als Staatsfeinde definierten Akteuren zu sammeln. Sie führen konspirative Operationen durch und agieren aus Legalresidenturen heraus. Dazu gehört, sich zur Vereinnahmung, Abschöpfung und Anbahnung auf unterschiedlichen Ebenen mit Vertreterinnen und Vertretern nordrhein-westfälischer Parteien, Behörden, Stiftungen und zivilgesellschaftlicher Institutionen zu vernetzen. Die Spionageabwehr hat daher ihre Sensibilisierungsmaßnahmen in diesen Feldern im Berichtsjahr noch weiter intensiviert. Exemplarisch für das Vorgehen russischer Nachrichtendienste ist der Sachverhalt, der dem Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 18. November 2018 gegen Ralph G. zugrunde liegt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der in Nordrhein-Westfalen wohnhafte Reserveoffizier im Rang eines Oberstleutnants seit Ende Oktober 2014 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 305 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 in Kontakt zu Angehörigen des russischen Militärgeheimdienstes GRU stand, die an der Russischen Botschaft in Berlin stationiert waren. Im Zusammenhang mit seiner geheimdienstlichen Agententätigkeit übermittelte er seinen Kontaktpersonen in der russischen Botschaft eine Vielzahl von Dokumenten und Informationen zu Fragen der Verteidigung, der Wirtschaftspolitik sowie der Sicherheitsund Verteidigungspolitik der USA und seiner westlichen Verbündeten. Die Kontakte erfolgten persönlich, telefonisch und insbesondere über E-Mails. Zur Motivation des Angeklagten stellte das Gericht unter anderem seine russlandfreundliche Einstellung und den Drang fest, sich bei hochrangigen russischen Militärangehörigen interessant zu machen. Er erhielt Einladungen zu Veranstaltungen der russischen Botschaft in Berlin und zur jährlichen Sicherheitskonferenz in Moskau. Ein Beispiel für die Aktivitäten russischer Nachrichtendienste im Bereich Wissenschaft und Technik liefert ein Urteil des Oberlandesgerichts München vom 13. April 2022. Der Angeklagte Ilnur N. war als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Augsburg beschäftigt und wurde wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit nach SS 99 StGB zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Der zuständige Senat gelangte zu der Überzeugung, dass ein für den russischen Nachrichtendienst SWR als Vizekonsul akkreditierter Mitarbeiter des Generalkonsulats in München im Herbst 2019 Kontakt zu N. aufnahm, um über ihn an Informationen zu Forschungsprojekten aus dem Bereich der Luftund Raumfahrttechnologie zu gelangen. In der Folge kam es zu verschiedenen Informationsübermittlungen des Verurteilten bei persönlichen Treffen. Das Ausmaß der nachrichtendienstlichen Bedrohung für die westliche Sicherheitsarchitektur und damit für die Angehörigen von Sicherheitsbehörden zeigt sich mit der Festnahme von Carsten L. am 21. Dezember 2022. Der Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes ist laut Mitteilung der Generalbundesanwaltschaft dringend des Landesverrats nach SS 94 StGB verdächtig. Er soll Informationen, deren Inhalt als Staatsgeheimnis nach SS 93 StGB einzustufen sei, an einen russischen Nachrichtendienst übermittelt haben. Die Ermittlungen dauern zum Berichtszeitpunkt noch an. Aufgrund der mit dem Krieg in der Ukraine verbundenen Eskalation besteht zudem ein erhöhtes Risiko für russische Sabotage, staatsterroristische Aktivitäten und Cyberangriffe. Der Sicherheitsapparat der Russischen Föderation verfügt grundsätzlich über Mittel und Motive, Kritische Infrastrukturen auf dem Gebiet der NATO sowie von Staaten, die die Ukraine unterstützen, zu attackieren. Mögliche Vorkommnisse werden stets auf Bezüge zu staatlichen russischen Stellen geprüft. Gleiches gilt für Anschläge gegen Oppositionelle oder andere als Staatsfeinde definierte Personen, welche 306 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 die Russische Föderation in der jüngeren Vergangenheit auch auf deutschem Boden durchgeführt hat. Die mittlerweile exzellenten Cyberfähigkeiten der russischen Nachrichtendienste wurden mutmaßlich seit dem Jahr 2007 kontinuierlich aufgebaut. Zahlreiche Beispiele zeigen, dass Russland diese sowohl zum Zwecke der Spionage als auch der Sabotage einsetzt. Ebenso werden russischen Hackergruppierungen Einflussnahme-Operationen zugerechnet. Bereits im Jahr 2020 hat die Europäische Union Sanktionen gegen zwei russische Geheimdienstoffiziere sowie gegen eine für Cyberangriffe zuständige Stelle des Militärgeheimdienstes GRU verfügt. Die betroffenen Akteure werden maßgeblich für den Cyberangriff auf den Deutschen Bundestag im Jahr 2015 verantwortlich gemacht. Im Vorfeld des Angriffskriegs Russlands konnten in der Ukraine vermehrt Cyberangriffe beobachtet werden. Diese fortlaufenden Cyberangriffe und der Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar 2022 haben weltweit zu einer erhöhten Alarmbereitschaft im Cyberraum geführt. Richtiges Verhalten bei nachrichtendienstlicher Verstrickung Internationaler Austausch ist wichtig und notwendig. Entscheidend ist ein sensibler Umgang mit Kontakten und eine umgehende Einschaltung der Spionageabwehr bei erkannter nachrichtendienstlicher Verstrickung. Die Spionageabwehr als Teil des Verfassungsschutzes ist keine Strafverfolgungsbehörde und kann daher gemeinsam mit Betroffenen individuell erarbeiten, wie eine solche Verstrickung aufgelöst werden kann. Volksrepublik China Auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Oktober 2022 wurde Xi Jinping für eine, nach der chinesischen Verfassung bislang nicht vorgesehene, dritte Amtszeit als Generalsekretär der KPCh wiedergewählt. Damit bleibt Xi auch Staatspräsident und Vorsitzender der Ständigen Militärkommission. In seiner Rede schwor Xi die Delegierten auf unbedingte Loyalität gegenüber seiner Führung ein. Zudem rief er die Bevölkerung dazu auf, sich "auf die schlimmsten Fälle vorzubereiten" und "starken Winden, schwerer See und gefährlichen Stürmen standzuhalten". In Bezug auf das durch Peking als "abtrünnig" erachtete Taiwan strebe Peking zwar eine spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 307 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 friedliche Wiedervereinigung an, "werde sich jedoch niemals verpflichten, den Einsatz von Gewalt aufzugeben". Es bleibt das erklärte Ziel der KPCh, bis spätestens zum 100. Jahrestag der Volksrepublik China im Jahr 2049 sowohl in technologischer als auch militärischer Hinsicht Weltmachtstatus zu erlangen. Um dieses Ziel zu erreichen, nutzt China Mittel der sogenannten Soft Power. Damit werden Einflusspotentiale bezeichnet, mit denen Dritte für sich eingenommen oder zu einer im eigenen Interesse stehenden Entscheidung bewegt werden sollen, ohne dabei Zwangsmaßnahmen anwenden zu müssen. Gleichzeitig werden jedoch Mittel der sogenannten Hard Power eingesetzt. Hierzu zählen klassisch Formen der wirtschaftlichen oder militärischen Macht, mit deren Hilfe Druck auf Dritte ausgeübt werden kann. Wichtigste Grundlage auf dem Weg der Etablierung Chinas als führende Weltmacht ist eine langfristig angelegte und auf Expansion ausgerichtete, strategische Außenund Außenwirtschaftspolitik. Dazu gehören unter anderem verschiedene Initiativen und Pläne wie beispielsweise "Made in China 2025" (MIC25) oder die "Neue Seidenstraße" genannte "Belt-and-Road-Initiative" (BRI). Sie haben neben einer wirtschaftlichen eine hohe außenpolitische Bedeutung für China. Wirtschaftliches Engagement Chinas insbesondere in strukturschwachen Regionen oder Städten kann dabei oftmals als erstes Einfallstor zur Schaffung langfristiger Abhängigkeiten dienen. Mit Blick auf enge wirtschaftliche Bezüge erwartet China von seinen Kooperationspartnern, dass diese sich nicht in die "inneren Angelegenheiten" Chinas einmischen, sich also in der Öffentlichkeit nicht kritisch äußern. Sie sollen vielmehr konformes Verhalten zeigen oder gar im Sinne Chinas agieren. Solche Aktivitäten der Einflussnahme sind dazu geeignet, politische und wirtschaftliche Akteure in Deutschland als "Lobbyisten" für chinesische Interessen zu vereinnahmen. Zur Erreichung der ehrgeizigen außenund außenwirtschaftspolitischen Ziele greift der chinesische Staat unter anderem auf Mittel klassischer Spionage in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, auf Cyberangriffe, aber auch auf gezielte Direktinvestitionen oder Firmenübernahmen zurück. Mittel der Soft Power können Abhängigkeiten zusätzlich begünstigen. Das gesamte Portfolio chinesischer Maßnahmen dient dem Zweck, technologische Lücken zu schließen und ein für Chinas Expansionsbestrebungen günstiges Umfeld schaffen. In Nordrhein-Westfalen sind in diesem Zusammenhang vor allem innovative kleine und mittlere Unternehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie kommunale Partnerschaften von besonderem Interesse. 308 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Konkret betroffen ist beispielsweise die Chip-Industrie. Diese Zukunftstechnologie ist von erheblicher Bedeutung für jede Ökonomie. Vor diesem Hintergrund untersagte die Bundesregierung im November 2022 den Verkauf der Chipfertigung der Dortmunder Firma Elmos an die schwedische Tochterfirma eines chinesischen Halbleiterherstellers. Der Bundeswirtschaftsminister begründete die Entscheidung damit, dass es gerade im Halbleiterbereich wichtig sei, "die technologische und wirtschaftliche Souveränität Deutschlands und auch Europas zu schützen". Die Erfahrungen mit Russland und dem Krieg in der Ukraine führten im Berichtsjahr bei einigen landesund kommunalpolitischen Akteuren in Nordrhein-Westfalen sowie in der Wirtschaft und Wissenschaft des Landes dazu, dass Kooperationen mit China kritischer hinterfragt, eigene Aktivitäten diversifiziert und Abhängigkeiten reduziert worden sind. Diesen Prozess begrüßt die Spionageabwehr. Sie sensibilisiert und berät betroffene Akteure eigeninitiativ oder auf Anfrage. Zur Durchsetzung diverser Projekte und Regierungsziele sowie zum Machterhalt der Staatsführung im Allgemeinen sind die chinesischen Nachrichtendienste von essentieller Bedeutung. Sie sind im Bereich der Einflussnahme eingebunden, aber auch in klassisch nachrichtendienstlicher Weise zur Informationsbeschaffung aktiv. In Deutschland sind das für die Bekämpfung von Gefahren für die öffentliche Ordnung zuständige Ministry of State Security (MSS), das Military Intelligence Directorate (MID) als militärischer Nachrichtendienst und der polizeiliche Nachrichtendienst Ministry of Public Security (MPS) tätig. Cyberaktivitäten der Volksrepublik China Die chinesischen Geheimdienste verfügen auf dem Gebiet der Cyberangriffe über umfangreiche Kompetenzen. Die Ziele der Angreifer liegen im nationalen und internationalen Interesse Chinas. Es ist erkennbar, dass sich die Cyberangriffe in eine übergreifende Staatsstrategie einfügen und mit anderen Maßnahmen abgestimmt sind. Indizien deuten darauf hin, dass Cyberangriffe zum Zwecke der Wirtschaftsspionage im Jahr 2022 rückläufig waren. Inzwischen werden jedoch vermehrt Cyberangriffe mit dem mutmaßlichen Ziel politischer Spionage beobachtet. Einer Vielzahl der Angriffsziele kann ein entsprechendes Aufklärungsinteresse Chinas zugeordnet werden. Nach wie vor ist als Leitstrategie vieler Maßnahmen das Streben Chinas erkennbar, eine politische Vormachtstellung und eine technische Führungsrolle einzunehmen. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 309 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Chinesische Nachrichtendienste agieren in Deutschland oftmals aus Legalresidenturen an diplomatischen Vertretungen heraus. Es dienen aber auch andere Berufsgruppen sowie nicht hauptamtlich für die Dienste tätige Mittelsleute der Legendierung und Abtarnung. Das Internet, vor allem Soziale Medien, und Reisen potentieller Zielpersonen nach China werden intensiv für nachrichtendienstliche Ansprachen genutzt. Auf den beiden zuletzt genannten Wegen können die Angehörigen chinesischer Nachrichtendienste Gegenmaßnahmen der Spionageabwehrbehörden leichter umgehen. Auf chinesischem Territorium profitieren sie zudem von umfangreichen Befugnissen, Datenzugriffsmöglichkeiten und dem "Nationalen Geheimdienstgesetz", welches den chinesischen Sicherheitsbehörden umfangreiche Sonderrechte einräumt. Sie können auf dessen Grundlage nahezu unbeschränkt im Inund Ausland nachrichtendienstlich tätig werden. Es verpflichtet zudem chinastämmige Einzelpersonen ungeachtet ihrer tatsächlichen Staatsangehörigkeit sowie chinesische Firmen, staatliche Strukturen und sonstige Organisationen im Inund Ausland zur Zusammenarbeit mit chinesischen Sicherheitsbehörden. Dies birgt beispielsweise mit Blick auf deutsch-chinesische Forschungskooperationen die Gefahr von Wissensund Technologietransfers über das akzeptable Maß hinaus. Hinzu kommt, dass in der chinesischen Forschung und Lehre nicht strikt zwischen Wirtschaft, ziviler Forschung und Militär unterschieden wird und viele Universitäten Bezüge zum Militär aufweisen. Als Beispiel für Einflussnahmepotentiale Chinas auf die hiesige Wissenschaft können darüber hinaus weiterhin die Konfuzius Institute (KI) dienen. Bei ihnen ist nach wie vor keine Eigenständigkeit gegenüber dem chinesischen Staat beziehungsweise der KPCh erkennbar. Es ist weiterhin zu erwarten, dass KI tendenziell ein wohlwollendes Bild über die chinesische Politik vermitteln und besonders kritische Themen aussparen werden. Es kann vermutet werden, dass eine universitäre Kooperation mit KI die Gefahr einer schleichenden Aushöhlung der akademischen Freiheit durch vorauseilende Selbstzensur birgt. Über den wissenschaftlichen Sektor hinaus erstrecken sich staatliche Einflussnahmepotentiale Chinas im Ausland auf weitere Bereiche. International agierende chinesische Unternehmen sind nach dem "Nationalen Geheimdienstgesetz" zur Kooperation verpflichtet und müssen beispielsweise unternehmensinterne Parteizellen unterhalten. Chinesische Auslandsgemeinden, Studentenvereine und eine Vielzahl sonstiger Vereine mit China-Bezug sind oftmals ebenfalls sehr staatsnah und direkt an die örtlich zuständige chinesische diplomatische Vertretung angebunden. Mit welcher Selbstverständlichkeit sich der chinesische Einflussbereich und Vertretungsanspruch auf im Ausland lebende chinastämmige Personen bezieht, haben die chinesischen Versuche im Berichtsjahr gezeigt, in vielen Staaten sogenannte "Überseepolizeistationen" 310 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 (ÜPS) zu etablieren. In diesen sollten ergänzend zu den diplomatischen Vertretungen staatliche Dienstleistungen erbracht werden. Gerade in der oppositionellen Community bestand die Befürchtung, dass sie ebenfalls zur Informationssammlung, Einflussnahme oder Einschüchterung hätten dienen können. Schließlich stellt die Aufklärung und Bekämpfung oppositioneller Organisationen und Einzelpersonen in Nordrhein-Westfalen weiterhin einen Arbeitsschwerpunkt chinesischer Nachrichtenund Sicherheitsdienste dar. Als oppositionell gilt dabei bereits, wer aus Sicht des chinesischen Staates das Machtmonopol der KPCh in Frage stellt und die "nationale Einheit" bedroht. Dazu zählt die chinesische Führung in besonderem Maße jegliche Unterstützung der Protestbewegung in Hongkong sowie der durch China als "Fünf Gifte" bezeichneten Gruppen. Dies sind die ethnischen Minderheiten der Tibeter und Uiguren, die Befürworter der Eigenstaatlichkeit Taiwans, die Demokratiebewegung sowie die Anhänger der Falun-Gong-Bewegung. Zur Bekämpfung der Opposition nutzen chinesische Sicherheitsbehörden sowohl offene als auch verdeckte Methoden. Sie bedienen sich unterschiedlicher Möglichkeiten, Personen beispielsweise unter Verweis auf Angehörige in China unter Druck zu setzen, einzuschüchtern, auszuspähen, zu diskreditieren und gegeneinander auszuspielen. Ergänzend werden häufig finanzielle Anreize, Unterstützung von Angehörigen in China oder lukrative berufliche Perspektiven angeboten. Betroffene Personen sollen zu einer nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit bewegt oder zumindest davon überzeugt werden, ihre politischen Aktivitäten einzustellen. Islamische Republik Iran Die intensivsten nachrichtendienstlichen Aktivitäten Irans gehen in Nordrhein-Westfalen vom zivilen Inund Auslandsnachrichtendienst, dem Ministry of Information and Security (MOIS), aus. Dieser agiert sowohl von der Zentrale in Teheran aus, indem Mitarbeiter Treffs in Drittländern arrangieren, als auch über örtliche Legalresidenturen. Daneben sind Angehörige und Unterstützer der sogenannten Quds Force (QF) der Iranischen Revolutionsgarde in NRW tätig. Ihre Aktivitäten haben im Berichtsjahr zugenommen. Seit dem Jahr 2013 können außerdem iranische Cyber-Gruppierungen beobachtet werden, die vermutlich im staatlichen Auftrag Irans agieren und auch in Nordrhein-Westfalen mit Angriffen aufgefallen sind. Schwerpunkte der Aktivitäten iranischer Nachrichtendienste sind die Ausforschung und Bekämpfung oppositioneller Organisationen und Personen. Das nachrichtendienstliche Vorgehen erfolgt dabei teilweise unabhängig von Organisationsgröße, Reichweite oder tatsächlichen Einflussmöglichkeiten der betroffenen Akteure auf polispIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 311 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 tische oder gesellschaftliche Entwicklungen im Iran. Schon niederschwelliges oppositionelles Agieren, beispielsweise in sozialen Netzwerken, kann ausreichen, um selbst hier in Deutschland in den Fokus zu geraten. Die durch den Tod einer jungen Iranerin nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei ausgelösten Proteste seit dem 18. September 2022 in Teheran und vielen weiteren Landesteilen könnten die Situation weiter verschärfen. Die iranischen Sicherheitskräfte gingen und gehen gewaltsam gegen Demonstrierende vor, wobei es Tote und Verletzte gab. In Deutschland und anderen europäischen Staaten kam es in der Folge zu einer Vielzahl öffentlicher Solidaritätsbekundungen bei Demonstrationen oder in den sozialen Medien. Vor dem Hintergrund des massiven Vorgehens der iranischen Sicherheitskräfte im Inland ist mit einer Verstärkung der Aufklärungsmaßnahmen gegen exil-oppositionelle Aktivitäten in Deutschland und NRW zu rechnen. Weiterhin stehen (pro-)israelische und (pro-)jüdische Ziele im Fokus iranischer Nachrichtendienste, insbesondere der Quds Force. Zu solchen Zielen können beispielsweise Vertreter jüdischer Gemeinden oder Organisationen in der Diaspora in NRW gehören. Das diesbezügliche Informationsaufkommen der Spionageabwehr bewegte sich im Berichtsjahr weiterhin auf einem hohen Niveau. Unverändert sammeln iranische Nachrichtendienste zudem Informationen zur deutschen Außenund Sicherheitspolitik sowie zu Militär, Wirtschaft und Wissenschaft. Dabei sind auf diesen Aktionsfeldern neben klassisch nachrichtendienstlichem Vorgehen auch Angriffe iranischer Cybergruppierungen zu beobachten. Die iranischen Nachrichtendienste bedienen sich unterschiedlicher Methoden, um ihre Ziele zu erreichen. Die Rekrutierung und Steuerung menschlicher Quellen dient der Unterwanderung oppositioneller Strukturen und der Ausforschung oder Lokalisierung von Einzelpersonen. Exil-Oppositionelle wurden zudem wiederholt Opfer von Angriffen iranischer Cybergruppierungen. Reisen von Zielpersonen iranischer Nachrichtendienste in den Iran werden regelmäßig für Ansprachen genutzt. Aber auch Kontaktaufnahmen in Deutschland, beispielsweise auf elektronischem oder telefonischem Wege, sind ein gängiges Mittel. Bei nachrichtendienstlichen Ansprachen verweist der iranische Nachrichtendienst oftmals auf familiäre Verbindungen als Druckmittel, um Zielpersonen zu einer Kooperation zu drängen. Im Berichtsjahr haben die iranischen Dienste erneut gezeigt, dass es in Einzelfällen nicht bei verbalen Drohungen gegen Familienangehörige bleibt. Die seit September 2022 andauernden Proteste und die Reaktionen der iranischen Sicherheitsbehörden darauf dürften eine weitere Erhöhung des Risikos nach sich ziehen. Das Auswärtige Amt hat seine Reisewarnung für Iran, gerade auch für Doppel312 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 staatler, inzwischen nicht nur weiter verschärft, sondern fordert deutsche Staatsangehörige explizit zur Ausreise auf, weil im Iran willkürliche Verhaftungen drohen. Dabei ist zu beachten, dass insbesondere in an Iran grenzenden Staaten Zugriffsmöglichkeiten der dort sehr aktiven iranischen Nachrichtendienste ebenfalls nicht ausgeschlossen sind. In den letzten Jahren haben iranische Nachrichtendienste wiederholt Zielpersonen aus Drittstaaten entführt und in den Iran verbracht. Generell besteht die Gefahr, dass Iran inhaftierte Ausländer als politisches Druckmittel einsetzt, zumal die iranische Führung vor allem das westliche Ausland und dort lebende ExilIraner öffentlich als Drahtzieher der aktuellen Proteste bezeichnet. Bei besonders relevanten Zielpersonen der iranischen Dienste sind staatsterroristische Aktivitäten weiterhin möglich. Iran hat in den letzten Jahren wiederholt gezeigt, dass auch in Europa die Bereitschaft zu gewalttätigem Vorgehen bis hin zu Mordanschlägen zur Verfolgung eigener Interessen besteht. Bei entsprechenden Gefährdungssachverhalten arbeitet die Spionageabwehr eng im nachrichtendienstlichen Verbund und mit den zuständigen Polizeibehörden zusammen. Republik Türkei Der türkische Inund Auslandsnachrichtendienst Milli Istihbarat Teskilati (MIT) stellt als größter von mehreren Nachrichtendiensten in der Türkei ein zentrales Element der türkischen Sicherheitsarchitektur dar. Er dient der türkischen Regierung unter anderem zur Durchsetzung der Regierungspolitik und zur Vorbereitung politischer Entscheidungen durch Informationsbeschaffung. Der MIT besitzt in der Türkei weitreichende Befugnisse und ist auch in Nordrhein-Westfalen umfassend tätig. Deutschland und insbesondere NRW gehören zu den vorrangigen Zielgebieten des türkischen Nachrichtendienstes innerhalb Europas. In mehreren diplomatischen Vertretungen der Türkei in Deutschland, unter anderem in Nordrhein-Westfalen, unterhält der MIT Legalresidenturen. Diese sind in Aufklärungsmaßnahmen gegen relevante Beobachtungsbereiche involviert und gegenüber der Zentrale in Ankara entsprechend berichtspflichtig. Neben dem MIT sind nachrichtendienstliche Strukturen weiterer türkischer Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen aktiv, beispielsweise des Nachrichtendienstes der türkischen Gendarmerie Jandarma Istihbarat Baskanligi (JIB). Im Fokus türkischer Nachrichtendienste stehen Gruppierungen und Organisationen, die von der türkischen Regierung als extremistisch oder terroristisch definiert werden. In erster Linie sind dies die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die nach ihrer Führungsfigur Fethullah-Gülen bezeichnete Gülen-Bewegung. Entwicklungen in 2022 haben gezeigt, dass auch Einzelakteure zunehmend in den Fokus türkischer Nachrichtendienste geraten können. Dazu zählen zum Beispiel journalistisch tätige spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 313 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Personen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher Opposition zur gegenwärtigen türkischen Regierung stehen. Aufgrund der großen Anzahl aktiver türkischer staatlicher und staatsnaher Organisationen in NRW sowie hier lebender staatsloyaler oder nationalistischer türkischer oder türkeistämmiger Personen besteht für türkische Nachrichtendienste dabei eine günstige Beschaffungslage. Neben Informationen, die bei nachrichtendienstlichen Operationen erhoben werden, verfügt die türkische Regierung über Erkenntnisse, die auf Selbstanbieter und Denunziationen zurückgehen. Verurteilungen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit in NRW 2022 kam es durch das Oberlandesgericht Düsseldorf zu zwei Verurteilungen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit (SS 99 StGB) für einen türkischen Nachrichtendienst. Der bereits im September 2021 in einem Düsseldorfer Hotel festgenommene Ali D. wurde am 14. Juli 2022 zu einem Jahr und neun Monaten Haft verurteilt. Sie wurde nach Anrechnung der Untersuchungshaft zur Bewährung ausgesetzt. D. hatte Informationen über Personen, die er der sogenannten Gülen-Bewegung zurechnete, an den Nachrichtendienst der türkischen Gendarmerie (JIB) weitergegeben. Teilweise erhielt er diese Informationen von Aziz A., der am 10. November 2022 in einem gesonderten Verfahren zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten verurteilt wurde. Das Gericht sah es dabei als erwiesen an, dass A. die Informationen in dem Wissen an D. weitergegeben hatte, dass dieser sie an einen türkischen Nachrichtendienst übermitteln würde. Beide Verurteilten hatten vor Gericht ein Geständnis abgelegt, was strafmildernd gewertet wurde. Grundsätzlich muss damit gerechnet werden, dass in Nordrhein-Westfalen gewonnene Erkenntnisse über Zielpersonen türkischer Sicherheitsbehörden gegen die betroffenen Personen eingesetzt werden. Bei solchen Informationen kann es sich um geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste Sachverhalte handeln. Im Berichtsjahr konnte festgestellt werden, dass türkische Polizeibehörden bereits auf Basis von Denunziationen aus Deutschland offizielle Ermittlungsverfahren gegen hier lebende Personen einleiten. In der Folge kann es insbesondere bei Einreise in die Türkei zu sicherheitsbehördlichen Maßnahmen kommen. Mögliche Festnahmen sowie Ein314 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 oder Ausreisesperren erfolgen oftmals auf Basis eines aus Sicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte rechtsstaatswidrig weit gefassten Terrorismusbegriffs. Anlässe können unter anderem eine Teilnahme an Demonstrationen in Deutschland oder eine Mitgliedschaft in einem durch die türkische Regierung kritisch bewerteten Verein sein. Neben diesen Vorwürfen können schon kritische Äußerungen in sozialen Medien über die türkische Regierung, den Staatspräsidenten oder über politische Entscheidungen ausreichen, um in den Fokus zu geraten. Zudem besteht die Möglichkeit, dass in der Türkei lebende Verwandte als Druckmittel dienen, um in NRW lebende Zielpersonen einzuschüchtern oder zu einer Kooperation zu bewegen. Die teilweise aggressive Rhetorik der türkischen Regierung kann zudem Personen aus besonders nationalistischen oder staatsloyalen Milieus aufstacheln. In der Folge können sich Gefährdungen auch ohne staatlichen Auftrag durch aufgebrachte, aus eigener Initiative handelnde Täter ergeben. Vor diesem Hintergrund lässt sich selbst in Deutschland eine Gefährdung von Dissidenten nicht gänzlich ausschließen. Nach wie vor existieren öffentlich-zugängliche Webseiten mit Personenlisten, auf denen tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur türkischen Regierung stehende Personen als Terroristen denunziert werden. Regelmäßig informiert und sensibilisiert die Spionageabwehr in solchen Fällen Betroffene. Generell werden potenzielle Gefährdungssachverhalte in engem Austausch mit den zuständigen Polizeibehörden bearbeitet. Abseits des klassischen nachrichtendienstlichen Agierens ist Nordrhein-Westfalen aufgrund der großen Anzahl hier lebender türkischer und türkeistämmiger Menschen für den türkischen Staat von herausgehobenem Interesse. Die in NRW lebende türkische und türkeistämmige Community stellt ein erhebliches Mobilisierungsund Wählerpotenzial dar. Dem wird durch eine oftmals desintegrative Diasporapolitik Rechnung getragen. Sie zielt darauf ab, türkische und türkeistämmige Menschen auf unterschiedlichen Ebenen und zu möglichst vielen Themenfeldern zu erreichen und eng an die Türkei zu binden, indem Narrative der türkischen Regierung verbreitet werden. Ein wesentlicher Teil der türkischen Diasporapolitik besteht darin, fortwährend und über viele unterschiedliche Kanäle auf vermeintliche oder tatsächliche Fälle von Rassismus, Islamophobie und Türkei-Feindlichkeit der deutschen Gesellschaft und des deutschen Staates hinzuweisen. Demgegenüber werden die Wertschätzung und hohe Bedeutung der in Deutschland lebenden Community für die türkische Regierung herausgestellt. Gleichzeitig wird versucht, Kritik an Entwicklungen in der Türkei zu unterbinden. Es werden beispielsweise Freund-Feind-Narrative betont sowie Oppositionelle und Regierungskritiker immer wieder pauschal als Staatsfeinde diffamiert. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 315 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Dies macht auch Nordrhein-Westfalen zum Projektionsfeld innertürkischer gesellschaftlicher und politischer Konfliktlinien. Diese Aktivitäten der Einflussnahme erfolgen über unterschiedliche Organisationen und auf verschiedenen Ebenen. So ist die Türkei in NRW mit vier Generalkonsulaten in Hürth, Düsseldorf, Essen und Münster vertreten. Überdies haben zahlreiche staatliche oder regierungsnahe Organisationen der Türkei ihren Sitz im Land. Hierzu zählt zum Beispiel die Union Internationaler Demokraten (UID). Sie ist die Vorfeldund Lobbyorganisation der türkischen Regierungspartei AKP und damit die wichtigste Einflussnahmeorganisation der türkischen Diaspora-Politik in Nordrhein-Westfalen. 2004 wurde der Dachverband in Köln gegründet und verfügt über eine Vielzahl an Regionalund Ortsvereinen in ganz Deutschland. Bereits in den letzten Berichtsjahren gingen von der UID umfassende Aktivitäten zugunsten der AKP aus. Die UID nutzte und nutzt dafür unter anderem Kontakte zu anderen türkischen Verbänden und Institutionen. Im Berichtsjahr hat sich erneut gezeigt, dass das Einflussnahmepotenzial der UID in die organisierten Strukturen der türkischen Diaspora punktuell sehr weitreichend sein kann. Insbesondere aufgrund der 2023 anstehenden Präsidentschaftswahlen in der Türkei ist mit einer Zunahme illegitimer Einflussnahmeversuche der UID und vergleichbarer Organisationen in Nordrhein-Westfalen zu rechnen. So bieten weitere regierungsnahe Organisationen wie Vereine, Verbände, Stiftungen, Medien oder die Strukturen der extremistisch-nationalistischen Ülkücü-Bewegung der türkischen Regierung potenziell Einfallstore für punktuelle oder auch weitergehende Aktivitäten der Einflussnahme. Diese können sich gegen die Diaspora richten, aber beispielsweise auch gegen lokale oder regionale politische Strukturen in Deutschland und Nordrhein-Westfalen. Die Spionageabwehr konnte im Berichtsjahr Versuche türkischer oder türkeinaher Organisationen beobachten, in illegitimer Weise Einfluss auf landesund insbesondere lokalpolitische Akteure zu nehmen. Häufig wurden dabei scheinbar neutrale Mittelsleute eingesetzt, die die Agenda der hinter ihnen stehenden Einflussakteure in politische Gremien wie Stadtoder Integrationsräte trugen oder sie gegenüber Stadtspitzen artikulierten. Sie verschleierten dabei jedoch, wessen Interessen sie tatsächlich vertraten. Aufgrund der ausgesprochenen Regierungsnähe vieler Akteure können die Übergänge von Einflussnahme im Sinne der türkischen Regierung über Denunziationen bis hin zu einem nachrichtendienstlichen Agieren fließend sein. So veröffentlichte die türkische und als regierungsnah zu bezeichnende Zeitung SABAH ab September 2022 eine Reihe von Artikeln über in Deutschland und Europa aufhältige Personen wie zum Beispiel Exil-Journalisten. Diese Personen werden von der türkischen Regierung als 316 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 oppositionell oder gar staatsfeindlich eingestuft. Die Artikel im Stile von "Outing-Aktionen" sollen die Aufenthaltsorte der Personen bekannt machen und liefern personenbezogene Daten wie Wohnanschriften. Die SABAH selbst gab in diesem Zusammenhang an, dass die Informationen über den eigenen "Spezialnachrichtendienst der SABAH" (Özel Istihbarat Servisi) beziehungsweise das "Nachrichtendienstteam" der Zeitung gesammelt wurden. Sonstige Staaten Mit einem sogenannten 360-Grad-Blick geht die Spionageabwehr allen tatsächlichen Anhaltspunkten für unzulässige nachrichtendienstliche Aktivitäten nach, unabhängig von welchem Staat sie ausgehen. Neben den dargestellten Hauptakteuren ist die Zahl der darüber hinaus gegen Deutschland und Nordrhein-Westfalen agierenden Nachrichtendienste weiterhin hoch. Die Aufklärungsinteressen sonstiger Staaten gestalten sich vielfältig und ihre Aktivitäten in NRW haben zugenommen. Die Spionageabwehr hat in einer Vielzahl von Länderbereichen Maßnahmen zur Aufklärung und Abwehr umgesetzt. Das Königreich Marokko zählt zu diesen Staaten. Zum marokkanischen Sicherheitsapparat gehören unter anderem der Inlandsnachrichtendienst Direction Generale de la Surveillance du Territoire (DGST) und der Auslandsnachrichtendienst Direction Generale des Etudes et de la Documentation (DGED). Im Ausland klären marokkanische Nachrichtendienste insbesondere oppositionelle beziehungsweise separatistische Bewegungen auf. Dies sind beispielsweise Anhänger der Frente Polisario, einer Organisation, die für eine unabhängige Westsahara kämpft. Marokko sieht die Westsahara als integralen Bestandteil des marokkanischen Staatsgebiets an. Ebenfalls im Fokus steht die sogenannte Hirak-Bewegung. Dabei handelt es sich um eine 2016 entstandene Bewegung aus der marokkanischen Rif-Region. Sie sieht die Region strukturell benachteiligt und ruft zu entsprechenden Protesten auf. Im Berichtsjahr konnte die Spionageabwehr nachrichtendienstliche Aktivitäten marokkanischer Dienste in Nordrhein-Westfalen feststellen, wo sich ein Schwerpunkt der marokkanischen Diaspora befindet. Im November 2022 kam es beispielsweise zur Festnahme des mutmaßlichen marokkanischen Agenten Mohamed A. im Raum Köln, der Anhänger der Hirak-Bewegung ausgespäht haben soll. Unabhängig hiervon berichteten verschiedene Medien ab 2021 vermehrt darüber, dass auch das Königreich Marokko die Spionagesoftware Pegasus eingesetzt haben soll, um unter anderem europäische Spitzenpolitiker auszuspähen. Dieser Vorwurf wird von spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 317 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 marokkanischer Seite bis heute dementiert. Sollte die Software durch Marokko genutzt worden sein, liegt es nahe, dass die konkrete Umsetzung durch die Nachrichtendienste des Königreichs vorgenommen wurde. Sie würden damit über erhebliche Ressourcen zur technischen Kommunikationsüberwachung verfügen. Neben seiner Kategorisierung als Proliferationsstaat fällt Nordkorea immer wieder durch nachrichtendienstliches Agieren, vor allem im Cyberraum, auf. Cyberangriffe werden nach bisherigen Erkenntnissen durch den militärischen Geheimdienst des Landes durchgeführt. Die ersten Angriffe begannen vor über zehn Jahren und wurden insbesondere mit politischen Sanktionen und der Notwendigkeit zur Beschaffung von Devisen in Verbindung gebracht. Seit einigen Jahren können darüber hinaus vermehrt Hinweise auf zielgerichtete Operationen zum Zwecke der wirtschaftlichen und politischen Spionage festgestellt werden. Proliferation Unter Proliferation wird die Weiterverbreitung atomarer, biologischer oder chemischer Massenvernichtungswaffen (ABC-Waffen) sowie entsprechender Trägermittel (Raketen und Drohnen) beziehungsweise der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dazu erforderlichen Know-hows verstanden. Die Proliferationsabwehr beobachtet daneben seit einiger Zeit zunehmende Beschaffungsbemühungen für militärische Raumfahrtprogramme fremder Staaten, insbesondere Russlands und Chinas ("Space/Counter-Space"). Bei proliferationsrelevanten Staaten ist zu befürchten, dass sie Massenvernichtungswaffen oder militärisch ausgerichtete Raumfahrtprogramme in kriegerischen Konflikten einsetzen oder zur Durchsetzung politischer Ziele mit ihrem Einsatz drohen. Trotz des teils erheblichen technologischen Fortschritts sind diese Staaten zum Aufund Ausbau ihrer Programme nach wie vor auf den Erwerb von Produkten und von Knowhow aus dem Ausland angewiesen. Sie versuchen, benötigte Güter unter Umgehung von Genehmigungspflichten oder Ausfuhrverboten unter anderem in Deutschland zu beschaffen. Als Risikostaaten treten in diesem Zusammenhang vor allem Iran, Pakistan, Syrien, Nordkorea und Russland in Erscheinung. Im Berichtsjahr waren proliferationsrelevante Beschaffungsbemühungen sowie entsprechende Ermittlungsverfahren und Urteile zu verzeichnen. Das Oberlandesgericht Dresden verurteilte beispielsweise am 15. Juli 2022 einen sächsischen Unternehmer wegen mehrfacher illegaler Exporte sogenannter Dual-use-Güter nach Russland zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Die Generalbundesanwaltschaft 318 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Entwicklung der Sanktionen gegen die Russische Föderation Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Europäische Union weitreichende Sanktionen gegen Russland beschlossen. Diese gehen über die klassischen Proliferationsbereiche von ABC-Waffen und Raketentechnik hinaus. Von den Sanktionen sind unter anderem die russische Finanzwirtschaft, der Energie-, Verkehrsund Verteidigungssektor oder der Dienstleistungsbereich betroffen. Zudem wurden Sanktionen gegen eine Vielzahl von Einzelpersonen und Organisationen erlassen. Es sind insbesondere Güter mit doppeltem Verwendungszeck (Dual-use), diverse Hochtechnologie-Produkte und Funkund Telekommunikationstechnologie von den Sanktionen umfasst. Die Proliferationsabwehr erwartet nicht zuletzt aufgrund dieser umfassenden Maßnahmen eine weitere Intensivierung von Versuchen Russlands, die Sanktionen zu umgehen. Um eine schnelle Sensibilisierung der nordrhein-westfälischen Wirtschaft zu diesem Thema zu erreichen, wurden unmittelbar nach Erlass der ersten Sanktionspakete verschiedene Austauschformate über die Industrieund Handelskammern realisiert. Dieser Austausch wird fortgesetzt. erhob am 30. August 2022 gegen einen Unternehmer aus Schleswig-Holstein Anklage vor dem Oberlandesgericht Hamburg. Er ist hinreichend verdächtig, durch mutmaßlich für das iranische Nuklearund Raketenprogramm bestimmte Lieferungen von Spektrometer-Systemen und Laborausrüstung gegen das Außenwirtschaftsgesetz verstoßen zu haben. Die Proliferationsabwehr des NRW-Verfassungsschutzes arbeitet zur Aufklärung und Abwehr der Aktivitäten eng mit den Sicherheitsund Kontrollbehörden des Bundes zusammen. Einerseits wird mit sogenannten Verdachtsfallbearbeitungen Hinweisen auf mögliche illegale Lieferungen aus NRW nachgegangen; andererseits wird den Risiken von Proliferationsgeschäften durch umfangreiche Sensibilisierungen bei Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Multiplikatoren wie Verbänden und Kammern präventiv begegnet. Im vertraulichen Austausch wird hierbei auf Beschaffungsmethoden wie die Verschleierung des wahren Endverwenders und der Warennutzung, die Nutzung von Tarnund Beschaffungsfirmen sowie die Umdeklarierung von Dokumenten hingewiesen. Die Spionageabwehr steht Unternehmen für eine individuelle und bedarfsgerechte Beratung zur Verfügung. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 319 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Cyberangriffe ausländischer Staaten Digitalisierung gewinnt in allen Bereichen des Zusammenlebens rasant an Bedeutung. Ausländische Staaten nutzen den Cyberraum für Spionage, Einflussnahme und Sabotage. Die stetige Fortentwicklung von invasiven digitalen Angriffsmöglichkeiten hat in vielen Staaten zu einem Aufbau enormer Cyberkapazitäten geführt. So zeigt der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine erstmalig Strukturen einer hybriden Kriegsführung. Aber auch China, der Iran und Nordkorea nutzen das Internet, um ihre Operationsziele umzusetzen. Handlungen von Nachrichtendiensten können online leicht getarnt werden. Durch mehrschichtige Kommunikationswege sind Cyberangriffe im internationalen Raum nur sehr schwer zu verfolgen. Bei den Angriffen kann das nachrichtendienstliche Personal aus dem Heimatland heraus agieren und sich leicht der Strafverfolgung in den Zielstaaten entziehen. Staatlich unterstützte und gesteuerte Hackergruppierungen suchen im Internet regelmäßig nach Systemen, die aufgrund von nicht eingespielten Sicherheitsupdates oder bekannten Sicherheitslücken angreifbar sind. Den Angreifern gelingt es, sich in diesen Systemen relativ einfach und unbemerkt eine Zugangsmöglichkeit einzurichten. Ohne dass die Nutzer der Zielsysteme es bemerken, können die Systeme dann ausspioniert und für weitere Angriffe genutzt werden. Hierbei verwenden die Angreifer auch Geräte des Internets der Dinge (Internet of Things, IoT) sowie Produkte der Smart-HomeTechnologie. Einige der Geräte erhalten von den Herstellern keine oder nur sehr selten Sicherheits-Updates. Daher lassen sich die Geräte leicht angreifen und für die Zwecke des Angreifenden verwenden. Der fortdauernde Ausbau von Cyberkapazitäten, der in vielen ausländische Staaten seit mehr als zehn Jahren methodisch betrieben wird, hat zu exzellenten Fähigkeiten der ausländischen Nachrichtendienste geführt. Insbesondere autokratische Staaten konnten sich in dem vergangenen Jahrzehnt aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen Militär, Forschung, Wissenschaft und Industrie einen erheblichen Wissensvorsprung erarbeiten. Groß angelegte Angriffskampagnen, wie beispielsweise der spektakuläre Cyberangriff über kompromittierte Updates der NetzwerkmanagementSoftware Orion der texanischen Firma SolarWinds, lassen die Fähigkeiten der Angreifer erahnen. Der Ende 2020 bekannt gewordene Angriff betraf weltweit eine Vielzahl von 320 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Behörden und Unternehmen. Da der Angriff über legitime Updates des Software-Anbieters erfolgte, gab es für die Opfer keine Möglichkeit, die Installation der Schadsoftware zu erkennen. Es wurde berichtet, dass auch US-amerikanische Bundesbehörden zu den Opfern des Cyberangriffs zählten. Am 15. April 2021 beschuldigte das Weiße Haus den russischen Auslandsgeheimdienst SWR, für die Kampagne verantwortlich zu sein. Als weiteres Beispiel gilt der im März 2021 ebenfalls in den USA bekannt gewordene weiträumige Cyberangriff gegen Forschungseinrichtungen, Hochschulen, Anwaltsfirmen, den Rüstungssektor, Think Tanks und Nichtregierungsorganisationen. Bei ihren Angriffen nutzten die Akteure mehrere bis dahin unbekannte Schwachstellen auf Microsoft Exchange Servern. Diese Art von Servern ist auch in Deutschland weit verbreitet. Unter Ausnutzung der Schwachstellen gelang es den Angreifern, bei zahlreichen Systemen eine versteckte Zugangsmöglichkeit einzurichten. Das Weiße Haus gab am 19. Juli 2021 offiziell bekannt, dass der Angriff mit hoher Wahrscheinlichkeit dem chinesischen Ministerium für Staatssicherheit (MSS) zuzuordnen ist. Zahlreiche Hackergruppierungen arbeiten im Auftrag fremder Staaten Wie das zuletzt genannte Beispiel zeigt, verwenden staatlich gesteuerte Hackergruppierungen für den Einstieg und das weitere Vordringen in Netzwerke Sicherheitslücken, die noch nicht öffentlich bekannt sind. Gegen Angriffe mit diesen sogenannten Zero-Day-Exploits existieren keine Schutzmechanismen. Das vorherrschende Operationsmuster staatlich gesteuerter Hackergruppierungen ist nach wie vor komplex, zielgerichtet und häufig auf Dauer angelegt. Aus diesem Grund werden viele staatlich gesteuerte Hacker-Gruppierungen auch als Advanced Persistent Threat (APT - fortgeschrittene andauernde Bedrohung) bezeichnet. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 321 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Neben groß angelegten Cyberkampagnen identifizieren ausländische Nachrichtendienste einzelne Zielpersonen in Unternehmen, in der Politik und in der Wissenschaft. Über Kontaktanfragen in den sozialen Medien wird mit falscher Identität und unter falschem Vorwand eine persönliche Verbindung hergestellt. Die Kontaktanbahnung erfolgt hierbei teilweise sogar durch direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch, beispielsweise über einen Sprachoder Videoanruf. Der technische Zugriff auf das Opfernetz wird nach einer gewissen Zeit dann über eine Phishing-Nachricht initiiert. Das Vertrauen zwischen einer Zielperson und dem ausländischen Agenten ist dann häufig so weit aufgebaut, dass das Opfer ohne Bedenken präparierte Links oder Dokumente mit Schadsoftware öffnet. Auf diesem Weg gelangt Schadsoftware in das Zielsystem des Opfers und ermöglicht den Angreifern weitere Zugangsmöglichkeiten. In diesen vier Schritten gehen ausländische Nachrichtendienste beim sogenannten Social Engineering vor Cyberangriffe werden von ausländischen Staaten nicht nur für politische Spionage eingesetzt, sie dienen auch als Mittel, um sich Wissen und Technologien anzueignen und die heimische Forschung und Wirtschaft zu unterstützten. Darüber hinaus sind Cyberangriffe Teil von Operationen zur Einflussnahme und werden in Konfliktsituationen zur Sabotage eingesetzt. Aufgrund der hochentwickelten Fähigkeiten der Angreifer werden die Angriffe von den Nutzern nur selten erkannt. Herkömmliche Schutzmechanismen versagen. Die Entdeckung von Fremdzugriffen ist häufig der besonderen Aufmerksamkeit eines Systemadministrators zu verdanken. In anderen Fällen können entsprechende Angriffe nur durch nachrichtendienstliche Hinweise abgewehrt werden. Die Cyberabwehr des NRWVerfassungsschutzes informiert und sensibilisiert potentielle Opfer. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden damit in die Lage versetzt, Angriffe zu erkennen und eine 322 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Abwehr zu ermöglichen. Eine Beschreibung von technischen Erkennungsmerkmalen der Angriffe hilft den verantwortlichen Systemadministratoren. In Nordrhein-Westfalen werden insbesondere Aktivitäten von Hackergruppierungen beobachtet, die mit großer Wahrscheinlichkeit China, Russland, Iran und Nordkorea zugeordnet werden können. Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wird die sicherheitspolitische Lage in Deutschland neu bewertet. Für die Cyberabwehr des Verfassungsschutzes bedeutet dies eine erhöhte Alarmbereitschaft. Schon lange sind die besonderen Fähigkeiten der russischen Dienste auf dem Gebiet der Cyberangriffe bekannt. In der Vergangenheit gab es zahlreiche Cyberangriffe, die zum Zwecke der Spionage, Sabotage, Einflussnahme und Desinformation durchgeführt wurden. Urheber der Angriffe waren und sind mit großer Wahrscheinlichkeit Hackergruppierungen der russischen Geheimdienste GRU, SWR und FSB. Das Geschehen in der Ukraine deutet auf eine hybride Kriegsführung hin. Im Kriegsgebiet kann beobachtet werden, wie der Aggressor Desinformationskampagnen, gezielte militärische Schläge und Cyberangriffe mit dem Ziel der Sabotage miteinander kombiniert. Seit Beginn des russisch-ukrainischen Konfliktes im Jahr 2014 können in der Ukraine Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen beobachtet werden. Bereits im Dezember 2016 führte eine Schadsoftware, die von Sicherheitsforschern Black-Energy genanntwird, zu einem mehrstündigen Stromausfall in der Hauptstadt Kiew. Ein Cyberangriff mit der Schadsoftware NotPetya, die über Updates der ukrainischen Buchhaltungssoftware MeDoc verteilt wurde, führte im Jahr 2017 zu erheblichen Schäden in der ukrainischen Wirtschaft. Von der Schadsoftware waren zudem Unternehmen in der gesamten Welt betroffen. In Deutschland mussten mehrere Unternehmen ihre Produktion unterbrechen. Die Schadsoftware erweckte zunächst den Eindruck eines gewöhnlichen Erpressungs-Trojaners. Sicherheitsexperten sind sich aber inzwischen einig, spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 323 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 dass die Schadsoftware vielmehr Daten unwiderruflich zerstören sollte. Ein Motiv für die Cyberangriffe könnte schon damals in dem Versuch Russlands gelegen haben, die Ukraine zu destabilisieren. Eine zweifelsfreie Zuordnung der Angriffe konnte aber bisher nicht bestätigt werden. Cyberangriffe als Mittel der Destabilisierung Verschiedene ausländische Staaten haben die strategische Bedeutung von Cyberangriffen zum Zwecke der Sabotage erkannt und in ihre Konfliktstrategien eingearbeitet. Militärexperten gehen davon aus, dass gewalttätige Konflikte zwischen Staaten in Zukunft mit Cyberangriffen auf sogenannte kritische Infrastrukturen (KRITIS) einhergehen werden. Militärisch wird die Wirksamkeit von Cyberangriffen in Verbindung mit gezielten militärischen Schlägen und Kampagnen in sozialen Medien von vielen Strategen inzwischen als kostengünstiger und effizienter als rein konventionelle Angriffe bewertet. Die Kombination der verschiedenen Mittel wird auch als hybride Kriegsführung bezeichnet. Ende Juli 2021 warnte US-Präsident Biden vor einem Krieg als Folge eines Cyberangriffs. Wie IT-Sicherheitsdienstleister und das ukrainische Computer Emergency Response Team (CERT) berichten, setzen sich bis heute die Cyberangriffe in der Ukraine fort. Bei den Cyberangriffen seien verschiedene Gruppierungen erkennbar, die mutmaßlich jeweils einem der russischen Geheimdienste GRU, SWR oder FSB zugeordnet werden können. Seit Beginn des Krieges zeigen Experten Korrelationen zwischen physischen Angriffen und Cyberangriffen auf. Berichte deuten beispielsweise darauf hin, dass behördliche Daten der Ukraine sowohl durch den Einsatz von sogenannter Wiper-Schadsoftware (to wipe = wischen, ausmerzen) als auch durch gezielte Raketenangriffe auf Rechenzentren zerstört werden sollten. Ebenso weist das ukrainische CERT auf eine Cybersabotageoperation eines mutmaßlich russischen Cyberakteures hin. Dieser habe das Netz eines ukrainischen Stromanbieters bereits im Februar 2022 kompromittiert, um im April 2022 Hochspannungsund Umspannwerke in der Ukraine abzuschalten. Cyberangriffe in Verbindung mit Raketenangriffen stehen nach Expertensicht weiter324 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 hin auf der Agenda. Die Hauptangriffsziele sind mutmaßlich Transportund Logistikunternehmen sowie Energieund Wasserversorger in der Ukraine. Die Berichterstattung aus dem Kriegsgebiet deutet darauf hin, dass sich trotz vorübergehender Einschränkungen die IT-Infrastruktur in der Ukraine bisher als erstaunlich resilient gegenüber der hohen Anzahl von Cyberangriffen erwiesen hat. Als wichtiger Baustein der Cyberabwehr hat sich in diesem Zusammenhang auch der schnelle und koordinierte internationale Austausch von Informationen und Warnungen erwiesen. Auswirkungen auf die IT-Sicherheit in Nordrhein-Westfalen Auswirkungen der Cyberangriffe in der Ukraine waren unmittelbar in Deutschland zu spüren. Am 24. Februar 2022 führten mutmaßlich Cyberangriffe in der Ukraine in mehreren europäischen Ländern zu einem mehrmonatigen Ausfall des KA-SAT-Netzes. KASAT ist ein kommerzieller Kommunikationssatellit, der auch Kommunikationsdienste für das ukrainische Militär bereitstellen soll. In Deutschland wurde bekannt, dass das KA-SAT-Netz in einzelnen Bereichen als Rückfallsystem für die primäre Kommunikation, wie etwa die Mobilfunknetze, eingesetzt wird. Darüber hinaus wurde berichtet, dass es für die Fernsteuerung von mindestens 3.000 Windkraftanlagen genutzt wird. Nach Ausfall des Netzes produzierten die Windräder im Automatikbetrieb zwar weiterhin Strom, konnten jedoch nur noch vor Ort gesteuert werden. Bei dem Sabotageangriff war es den Angreifern mutmaßlich gelungen, in das geschützte Verwaltungssegment des KA-SAT-Netzes einzudringen und bei einem bestimmten Kundenkreis Speicherbereiche des Kommunikationsmoduls zu überschreiben. Modems verloren dadurch ihren Netzzugang. Wie bekannt wurde, konnte in einigen Fällen die Anbindung erst nach dem Austausch des defekten Modems wiederhergestellt werden. In einer gemeinsamen Erklärung der EU, Großbritanniens, der USA und weiterer Verbündeter im Mai 2022 wurde der Cyberangriff der Russischen Föderation zugeordnet und aufs Schärfste verurteilt. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wurden zudem sogenannte Distributed Denial of Service (DDOS) Angriffe festgestellt. Diese können zeitweise zu einer Herabsetzung der Verfügbarkeiten von Web-Angeboten betroffener Unternehmen und Institutionen führen. In der Regel werden jedoch keine lang anhaltenden Schäden durch die Angriffe verursacht. Viele dieser Angriffe wurden mutmaßlich von einer Gruppe pro-russischer Hacker initiiert. Diese behaupten, sich unter dem Namen KILLNET freiwillig zusammengeschlossen zu haben. Von den DDOS-Angriffen waren unter anderem Unternehmen und Institutionen in Nordrhein-Westfalen betroffen, darunter die Website der Polizei. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 325 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Anhaltende Gefährdungslage In Nordrhein-Westfalen sind bisher zwar keine gravierenden Cybersicherheitsvorfälle bekannt, die in direktem Zusammenhang zum Ukraine-Krieg stehen. Es besteht jedoch nach wie vor die Gefahr, dass die vermehrten Cyberangriffe in der Ukraine zu Nebeneffekten in Deutschland führen. Deutschland könnte zudem bei einer weiteren Eskalation des Konfliktes zum Ziel von Sabotageangriffen werden. Daneben besteht weiterhin eine Gefährdung durch Spionageangriffe in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die von staatlich gesteuerten Akteuren aus Russland durchgeführt werden können. Verstärkte Desinformationskampagnen sind ebenfalls möglich. Hierzu könnten beispielsweise cybergestützte Desinformationsund Einflussnahme-Operationen gegen den politischen Raum, gegen das Militär, gegen Medien und die Presse gehören. Prorussische Akteure könnten Daten über Cyberangriffe erbeuten und manipuliert im Rahmen sogenannter Hack and Leak Operationen veröffentlichen. In der Vergangenheit fiel in diesem Zusammenhang bereits die pro-russische Hackergruppierung GHOSTWRITER auf. Der Gruppierung werden in Osteuropa mehrere Kampagnen zur Desinformation zugeschrieben. Im Vorfeld der Bundestagswahl wurden zwischen März und September 2021 Angriffe der Gruppierung gegen in Deutschland aktive politische Personen bekannt. Die Akteure versuchten über Phishing-E-Mails in den Besitz von Zugangsdaten von E-Mail-Konten zu gelangen. In weiteren Schritten versuchten die Angreifer, Passwörter für Social-Media-Zugänge zurückzusetzen und die Kontrolle über die Konten zu übernehmen. Mit Presseerklärung vom September 2021 hat die Bundesregierung Russland für die Cyberangriffe als Vorbereitung von Desinformationskampagnen verantwortlich gemacht. Indizien deuten darauf hin, dass die Gruppierung weiterhin in Europa und Deutschland aktiv ist. Die Einbeziehung von zivilen Hacktivisten und kriminellen Hackern neben den staatlich gesteuerten Hackergruppierungen stellt eine bisher nicht dagewesene Ebene in dem Konflikt dar. Sollte es bei einem Angriff ziviler Hacker zu Schäden kommen, die von der Gegenpartei als kriegerische Handlung interpretiert werden, könnte dies zu einer weiteren Eskalation des Konfliktes führen. Vor allem Cyberangriffe, die Sabotage zum Ziel haben und zu einer physikalischen Zerstörung oder menschlichen Opfern führen, könnten als kriegerischer Akt bewertet werden. Dies könnten beispielsweise Angriffe auf Systeme der Flugsicherung sein, in deren Nachgang es zu Flugzeugzusammenstößen und Abstürzen kommen könnte. 326 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bedrohungspotential weiterer Akteure Der Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar 2022 in die Ukraine hat insgesamt zu einer Neubewertung der sicherheitspolitischen Lage in Deutschland geführt. Im Bereich der Cyberabwehr werden in diese Bewertung mögliche Bedrohungen durch andere Akteure ebenfalls einbezogen. Insbesondere China verfügt über immense Kenntnisse im Bereich der Informationstechnik. Es muss davon ausgegangen werden, dass offensive Cyberkompetenzen als Teil einer übergreifenden Staatsstrategie fortlaufend weiterentwickelt werden. Chinesische Gesetze zum Datenschutz und zur IT-Sicherheit eröffnen staatlichen Stellen die Möglichkeit, Kenntnisse über IT-Sicherheitslücken früh und exklusiv zu erhalten. Ein Zusammenspiel von Bereichen der Sicherheitsforschung, der Produktentwicklung und der Fortentwicklung offensiver, militärischer Cyberfähigkeiten könnte das Bedrohungspotential im Krisenfall massiv erhöhen. Maßnahmen der Cyberabwehr in NRW Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine musste unmittelbar mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass Russland seine Cyberfähigkeiten in Deutschland vermehrt für Spionage und Sabotage, für Desinformationskampagnen und zur Einflussnahme einsetzt. Daher lag ein besonderer Schwerpunkt der Cyberabwehr im Jahr 2022 auf der Sensibilisierung potentiell besonders gefährdeter Unternehmen und Institutionen. Cyberangriffe zum Zwecke der Sabotage, wie beispielsweise der Angriff auf das KASAT-Netz, erfordern von den Angreifern eine umfangreiche Vorarbeit. Komplexe Cyberangriffe können gelingen, wenn unter Leitung eines Geheimdienstes interdisziplinäre Teams gebildet werden. Diese können die Funktionsweise auch komplexer Systeme erforschen und Schwachstellen herausarbeiten. Hierbei werden Abwehrmechanismen des Opfers analysiert und bei dem folgenden Angriff geschickt umgangen. In den kompromittierten Systemen deuten häufig nur minimale technische Spuren auf die Angreifer hin. Diese können anhand bestimmter Parameter erkannt werden. Aus diesem Grund werden die technischen Parameter auch als Indicators of Compromise (IOC) bezeichnet. Um bereits erfolgte oder neu geschaffene Kompromittierungen zu erkennen, hat die Cyberabwehr des Verfassungsschutzes eine Vielzahl von Indikatoren zusammengestellt und die Liste laufend aktualisiert. Entsprechende Informationen wurden insbesondere Organisationen und Einrichtungen im Bereich der kritischen Infrastrukturen zur Verfügung gestellt. Der politische Raum in Nordrhein-Westfalen wurde ebenfalls gegen mögliche Versuche der Einflussnahme und mögliche Cyberangriffe sensibilisiert. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 327 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Wirtschaftsschutz und Geheimschutz in der Wirtschaft Die Vulnerabilität der Wirtschaftsleistung in Deutschland ist in den Vorjahren durch den Ausfall von Lieferketten und pandemiebedingtem Personalmangel offenbar geworden. Nach Beginn des russischen Angriffskrieges sind die Sorgen der Unternehmensführungen in Deutschland und Nordrhein-Westfalen zusätzlich durch drohende Energiemangellagen und die mögliche Gefahr gezielter Angriffe auf Wirtschaftsunternehmen und staatliche Verwaltungen geprägt. Dies gilt insbesondere für Unternehmen und Einrichtungen der sogenannten Kritischen Infrastruktur sowie für die Rüstungsbranche. Das unternehmerische und öffentliche Bewusstsein für den Bedarf an Schutzmaßnahmen gegen potentielle Spionageund Sabotageakte wurde deutlich erweitert. Die Mitglieder des NATOVerteidigungsbündnisses und somit die BundesMessestand des Wirtschaftsschutzes auf der Sicherheitsmesse Security republik Deutschland in Essen sind selbst nicht Teil der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation. Dennoch hat sich die Gefahr für alle deutschen Unternehmen deutlich erhöht, unmittelbar als russisches Angriffsziel in Betracht zu kommen oder gegebenenfalls nur als Kollateralschaden Opfer eines Cyberangriffs zu werden. Vor dem Hintergrund dieser politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen waren die Informationsund Sensibilisierungsarbeit des Wirtschaftsschutzes sowie die Zusammenarbeit mit ihm besonders gefragt. Neben zahlreichen Beratungsgesprächen in Unternehmen hat der nordrhein-westfälische Wirtschaftsschutz verstärkt Kontakt zu Hochschulen gesucht. Unter anderem wurden in Studiengängen, die thematische Berührungspunkte mit Themen des Wirtschaftsschutzes haben, Gastvorlesungen gehalten. Zudem haben im Berichtsjahr mehrere Sensibilisierungsformate für den politischen Raum stattgefunden. Im Vorfeld der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 328 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 wurden beispielsweise Landtagsfraktionen und die Landtagsverwaltung sensibilisiert. Neben eigenen Messebesuchen war der Wirtschaftsschutz mit einem eigenen Stand auf der Sicherheitsmesse Security in Essen vertreten und konnte über diese Plattform wertvolle Kontakte zu Unternehmen und Branchenvertretern knüpfen. Trotz der im ersten Quartal des Berichtsjahres fortgeltenden pandemiebedingten Beschränkungen für Veranstaltungen sowie einer weiter bestehenden Zurückhaltung bei vielen Unternehmen konnten 2022 durch Sensibilisierungsvorträge in Onlineund Präsenzformaten insgesamt rund 5.900 Personen bei über 40 Veranstaltungen informiert und sensibilisiert werden. Die Vortragsund Sensibilisierungsangebote des Wirtschaftsschutzes wurden konzeptionell geschärft und auf die Bedarfe unterschiedlicher Zielgruppen wie Entscheidungsträger, IT-Verantwortliche, Auslandsreisende, Auszubildende und im Mit einem Faltblatt und online unter Personalbereich Beschäftigte angepasst. www.im.nrw/wirtschaftsschutz informiert der nordrheinwestfälische Wirtschaftsschutz über seine Vortragsund Beratungsangebote Sicherheitspartnerschaft NRW Im März 2022 erneuerten die Mitglieder der Sicherheitspartnerschaft gegen Wirtschaftsspionage und Wirtschaftskriminalität Nordrhein-Westfalen die Grundlage ihrer zwanzigjährigen erfolgreichen Zusammenarbeit. Partner sind das Ministerium des Innern mit den Bereichen Polizei und Verfassungsschutz, das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie, die Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft West e.V. sowie die Industrieund Handelskammern in Nordrhein-Westfalen e. V.. Mit der Neu-Unterzeichnung der "Gemeinsamen Erklärung" wurde zugleich der Verband der Wirtschaftsförderungsund Entwicklungsgesellschaften in NRW e.V. als neuer Partner aufgenommen. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 329 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Gemeinsam mit Innenminister Herbert Reul und Wirtschaftsminister Prof. Dr. Andreas Pinkwart unterzeichneten die Sicherheitspartner im März 2022 die aktualisierte "Gemeinsame Erklärung" Die Sicherheitspartner verpflichten sich zu einer engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit zur Stärkung des Wirtschaftsschutzes. Dadurch sollen unter anderem die durch Wirtschaftsspionage, Wirtschaftskriminalität und Sabotage verursachten Schäden reduziert, Netzwerke und gegenseitige Kooperationsbereitschaft gestärkt sowie die Sensibilität von Wirtschaftsunternehmen hinsichtlich der Gefahrenpotentiale erhöht werden. Dies soll durch eine vernetzte Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat erreicht werden. Die Partner setzen auf den kontinuierlichen Austausch von Informationen, die Beratung und Unterstützung von Unternehmen sowie auf gemeinsame Projekte und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. Die Sicherheitspartnerschaft profitiert dabei von der Expertise Innenminister Reul diskutierte beim Sicherheitsforum in Essen mit Vertretern der Sicherheitspartner über Schlussfolgerungen aus dem neuder einzelnen Partner. Das esten Lagebild Wirtschaftsschutz 330 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Ministerium des Innern bringt sowohl das spezifische Wissen des Verfassungsschutzes zur Wirtschaftsspionage als auch das der Polizei zur Wirtschaftskriminalität ein. Als Produkt der erfolgreichen Sicherheitspartnerschaft konnte im Herbst 2022 das zweite Lagebild Wirtschaftsschutz NRW im Rahmen der Messe Security in Essen vorgestellt und im Sicherheitsforum diskutiert werden. Kritische Infrastrukturen als Angriffsziele Wegen der hohen Bedeutung für das Funktionieren von Gesellschaft und Staat stellen die sogenannten Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) und KRITIS-nahe Unternehmen eine besondere Zielkategorie für Cyberkriminelle und ausländische Nachrichtendienste dar. Unter die KRITIS-Kategorie fallen insbesondere Unternehmen und Betriebe aus den Bereichen Energie, Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser, Ernährung sowie dem Finanzund Versicherungswesen. Hochindustrieländer wie die Bundesrepublik Deutschland und damit auch das einwohnerstärkste Bundesland Nordrhein-Westfalen sind im hohen Maße von der digitalen Anbindung an die übrige Welt abhängig und auf stabile Stromund Wasserversorgungsnetze angewiesen. Für klassische Industriesparten wie beispielsweise die Stahlbranche ist dies essentiell. Angriffe auf technische Anlagen, Netzwerke und IT-Systeme von KRITIS-Unternehmen können neben dem wirtschaftlichen Erfolg des jeweiligen Unternehmens auch die öffentliche Sicherheit des Landes Nordrhein-Westfalen gefährden. Erfolgreiche Cyberangriffe auf Energieversorgungssysteme europäischer Länder hat es bereits gegeben. In Deutschland waren ebenfalls entsprechende Angriffsversuche zu verzeichnen. Neben der Energiebranche stehen insbesondere die Wasserversorgung, medizinische Einrichtungen wie unter anderem die Universitätskliniken des Landes und die Telekommunikationsverbindungen im besonderen Blick. Ein mehrtägiger Ausfall solcher Systeme hätte schwere wirtschaftliche Schäden zur Folge, was die Sicherheit und Handlungsfähigkeit des Landes insgesamt beeinträchtigen würde. Wirtschaftsschutztag "Die Lage ist KRITIS" Im Oktober 2022 veranstaltete der Verfassungsschutz den Wirtschaftsschutztag NRW unter dem Titel "Die Lage ist KRITIS - Resilienz gewinnen in Zeiten von Krisen, Kriegen und Konflikten" im Ministerium des Innern. Neben Keynotes durch Professor Dr. Günther Schmid (vormals Bundesnachrichtendienst und Hochschule des Bundes für öffentlich Verwaltung) und Dr. Anna Schulte-Loosen (Fraunhofer-Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen INT) diskutierten unter anderem Vertreterinnen und Vertreter der Bundeswehr, der spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 331 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Energiebranche sowie des Bundesamtes für Bevölkerungshilfe und Katastrophenschutz über die Bedeutung und den Schutz von Unternehmen und Einrichtungen der Kritischen Infrastruktur innerhalb einer offenen, freiheitlichen demokratischen Gesellschaft. Im Vordergrund stand dabei der Bedarf nach einer einheitlichen Festlegung, welche Branchen und Unternehmen grundsätzlich unter KRITIS fallen, wie sich diese zukünftig schützen können und welche Rolle den staatDer Wirtschaftsschutztag NRW fand im Oktober 2022 als lichen Strukturen kombinierte Präsenzund Online-Veranstaltung statt dabei zukommt. Geheimschutzbetreute Wirtschaft Die Betreuung und Beratung der sogenannten "geheimschutzbetreuten Wirtschaft" gehört ebenfalls zum Aufgabenbereich des Wirtschaftsschutzes. Es handelt sich hierbei um Unternehmen, die mit sicherheitsempfindlichen Aufträgen und Projekten betraut werden oder schon betraut sind. Sie müssen die speziellen Anforderungen und Verfahren des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (SÜG) durchlaufen und fortlaufend erfüllen. Der Verfassungsschutz arbeitet in diesem Aufgabenfeld im besonderen Maße mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und dem nordrhein-westfälischen Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie zusammen. In erster Linie führt der Verfassungsschutz gesonderte Einzelfallberatungen und Sensibilisierungsgespräche vor Ort durch, um das Schutzniveau weiterhin hochzu332 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 halten und zu verbessern. Besonderes Augenmerk liegt auf der Sensibilisierung von Sicherheitsbevollmächtigten und in kritischen Bereichen tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Kontakt zum Wirtschaftsschutz Bei Interesse an den Sensibilisierungsangeboten des Verfassungsschutzes oder beim Verdacht auf Spionageoder Sabotageaktivitäten können Unternehmen per E-Mail an wirtschaftsschutz@im1.nrw.de oder telefonisch unter 0211 871-2821 Kontakt zum Wirtschaftsschutz aufnehmen. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen kann ein Maximum an Vertraulichkeit zusichern. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 333 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 334 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Präventionsarbeit und Aussteigerprogramme präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 335 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Prävention Die Präventionsarbeit des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes gegen Extremismus hat sich im Jahr 2022 erfolgreich weiterentwickelt. In vielen Hinsichten erhielten Projekte und Maßnahmen der Prävention neue Impulse - andere konnten verstetigt werden. So wurden die breitgefächerten Kooperationen und Austauschformate mit Partnerorganisationen, insbesondere aus den Kommunen, von Land und Bund, fortgeführt und um neue Themen ergänzt. Gerade Herausforderungen wie die Rückkehr von Personen aus Kriegsgebieten zeigen die große Bedeutung von Vernetzung und Abstimmung unter den betroffenen Behörden und weiteren Akteuren. Im Fokus der Präventionsmaßnahmen standen im Jahr 2022 unter anderem ProgrammEvaluationen durch externe Forschungsteams, ein Projektjubiläum sowie die Teilnahme an mehreren Messen und Kongressen. Fortentwicklung des Präventionsprogramms Wegweiser Im November 2022 wurde der Evaluationsbericht zum Präventionsprogramm "Wegweiser - Gemeinsam gegen Islamismus" vorgelegt. Dieser bewertet das Programm als sehr erfolgreich und hat zehn Empfehlungen zu seiner Weiterentwicklung formuliert. Gemeinsam mit den 25 Wegweiser-Beratungsstellen vor Ort werden diese Empfehlungen nun bearbeitet und umgesetzt. Das neue Themengebiet Graue Wölfe ist an den sechs Wegweiser-Pilotstandorten auf großes Interesse gestoßen. In ersten Veranstaltungen und Workshops haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Standorte Information und Beratung angeboten. Kleines Jubiläum bei VIR Im Mai 2022 fand in Bielefeld die zehnte Trainerinnenund Trainer-Ausbildung im VIRProjekt statt. Seit 2014 wurden damit 170 Fachkräfte aus Nordrhein-Westfalen und zwölf weiteren Bundesländern als VIR-Trainerinnen und -Trainer lizenziert. VIR ist ein Qualifizierungskonzept für Personen, die mit jungen Menschen in einer Annäherungsphase an den Rechtsextremismus im Kontakt sind. Insofern gehört VIR zur selektiven oder sekundären Rechtsextremismusprävention. Der Verfassungsschutz NordrheinWestfalen setzt das Projekt gemeinsam mit Kooperationspartnern um. 336 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Der VIR-Trägerkreis nahm das Jubiläum zum Anlass für einen Fachworkshop, der die selektive Rechtsextremismusprävention grundsätzlich, praxisnah und bundesweit in den Blick nahm. Der Workshop im Oktober 2022 in der Sportschule Hennef ging dem Thema aus den Perspektiven der Wissenschaft und der Fachpädagogik nach. Vertreterinnen und Vertreter vieler Projekte erläuterten ihre Konzepte. Weitere Optimierung der Ausstiegsarbeit Die Aussteigerprogramme haben im Jahr 2022 ihre Netzwerkarbeit im Rahmen von Fachtagungen und Sensibilisierungsveranstaltungen intensiviert. Diese Arbeit war in Pandemiezeiten nur eingeschränkt möglich und konnte nun nachgeholt werden. Eine gute Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz sowie anderen Netzwerkpartnern der Länder und des Bundes ist für die erfolgreiche Arbeit der Aussteigerprogramme unbedingt notwendig. Das Aussteigerprogramm Spurwechsel konnte im nunmehr 21. Jahr des Bestehens die erfolgreiche Begleitung von Ausstiegswilligen aus dem Rechtsextremismus fortsetzen, ebenso verzeichnet das Aussteigerprogramm Islamismus (API) eine weiterhin hohe Nachfrage nach seiner Expertise in der Deradikalisierung von islamistischen Extremisten. Auch das API durchlief 2022 eine wissenschaftliche Evaluation. Deren Ergebnisse liegen im Jahr 2023 vor, sie werden in die Arbeit des API und der anderen Aussteigerprogramme einfließen. Als jüngstes dieser Programme hat Left 2021 die deutschlandweit erste Bund-LänderArbeitstagung staatlicher Aussteigerprogramme ausgerichtet und damit seine Vorreiterrolle im Bereich der tertiären Linksextremismus-Prävention ausgebaut. Aktuelle Fachtagungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes brachten ihre Expertise auch 2022 in zahlreiche Informationsveranstaltungen ein. Mit 161 Veranstaltungen, schwerpunktmäßig zu den Themen Rechtsextremismus und Islamismus, wurden 5.744 Menschen erreicht. Zwei besonders aktuelle Themen griffen die Landeszentrale für politische Bildung in Nordrhein-Westfalen und der NRW-Verfassungsschutz in gemeinsamen Fachtagungen in Düsseldorf auf: Die Tagung "Delegitimierte Demokratie? Strukturen und Mechanismen einer Radikalisierung der 'Mitte'" am 2. November 2022 nahm Entgrenzungen zwischen Extremismus und gesellschaftlicher "Mitte" in den Blick. Die Tagung "Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland. Erkennen - Benennen - Handeln" am 21. September richtete den Fokus auf Entwicklungen bei den sogenannten Grauen Wölfen. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 337 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Im Fokus: Jubiläum des VIRProjekts Mit der zehnten Trainerinnenund Trainer-Ausbildung im Mai 2022 in Bielefeld konnte das VIR-Projekt ein kleines Jubiläum begehen. Der Trägerkreis des Projekts, in dem der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen mit zivilgesellschaftlichen Stellen zusammenarbeitet, nahm das Jubiläum zum Anlass, um die selektive Rechtsextremismusprävention gemeinsam mit anderen Fachkräften in den Blick zu nehmen - differenziert, konkret und praxisnah. Unter dem Titel "Selektive Rechtsextremismusprävention - Ansätze, Konzepte, Erfahrungen" lud das VIR-Projekt zu einem bundesweiten Fachworkshop am 21. Oktober 2022 in die Sportschule Hennef ein. Selektive oder sekundäre Rechtsextremismusprävention ist die präventive Arbeit mit Zielgruppen, die sich dem Rechtsextremismus annähern, aber noch nicht fest in ihm verankert sind. Dies gilt etwa für Personen, die sich sporadisch an rechtsextremistischen Gruppierungen beteiligen und deren Denkmuster schrittweise annehmen, aber (noch) nicht dauerhaft oder führend in dieser Szene aktiv sind. VIR ("Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen") ist ein Qualifizierungskonzept der selektiven Rechtsextremismusprävention. Es wurde 2014 auch aus der Wahrnehmung geboren, dass gerade auf dieser Stufe der Prävention zusätzliche Anstrengungen notwendig sind. Zum selben Ergebnis kam im Januar 2021 auch ein Positionspapier des Bonn International Center for Conversion (BICC Policy Brief 1/2021). Das BICC ist die Koordinationsstelle des Netzwerks CoRE-NRW, das den Austausch zwischen Wissenschaft, Praxis und Zivilgesellschaft im Bereich der Extremismusprävention in Nordrhein-Westfalen fördert. Der VIR-Fachworkshop in Hennef brachte Konzepte und Akteure zusammen, er bot ein Forum für den Erfahrungstausch und gab Impulse für die Praxis. Das Programm führte in zwei Schritten von der wissenschaftlichen und fachpädagogischen Ebene zu konkreten Projekten und Handlungsmöglichkeiten vor Ort: erstens dem Podiumsgespräch "Selektive Rechtsextremismusprävention in der Praxis" mit Angela Tomalka von der Aktion Zivilcourage in Pirna (Sächsische Schweiz) und Jonas Behrend, Streetworker der Stadt Soest, sowie zweitens einem World Cafe, in dem Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern von Projekten der selektiven Rechtsextremismusprävention aus Nordrhein-Westfalen, Berlin, Bremen, Rheinland338 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Pfalz und Sachsen möglich waren. Moderiert wurde der Fachtag von Stefan Woßmann, dem Geschäftsführer des Arbeitskreises der Ruhrgebietsstädte gegen rechtsextreme Tendenzen bei Jugendlichen (AK Ruhr), der - neben der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinderund Jugendschutz e.V. - zum Trägerkreis des VIR-Projekts zählt. Präventive Arbeit mit Extremismus-"Gefährdeten" "Selektive Rechtsextremismusprävention - was ist das eigentlich?" Mit dieser Frage eröffnete Michaela Glaser den Workshop. Die Soziologin ist für die Berghof Foundation in Berlin tätig und befasst sich seit Langem wissenschaftlich mit Ansätzen und Konzepten der Extremismusprävention. Sie definierte selektive Prävention als die Arbeit mit "Personen und Gruppen mit erhöhtem Risiko zur Ausprägung extremistischer Haltungen und Zugehörigkeiten ('Gefährdete')". Der auf Risiken gerichtete Fokus könne allerdings leicht zu Pauschalisierungen und Stigmatisierungen führen: wenn aus bestimmten Lebensumständen - zum Beispiel unvollständigen Familienkonstellationen ("broken homes") - eine Radikalisierungsgefahr unmittelbar abgeleitet werde. Sie plädierte deshalb für einen Gefährdungsbegriff, der sich auf beobachtbare Haltungen (etwa zunehmende demokratiefeindliche Positionen, Dialogunfähigkeit, Gewaltbefürwortung) stützt - und diese zudem nur als "erste Hinweise" begreift, die es genauer abzuklären gilt. Auf einen Bedarf, Maßnahmen der selektiven Rechtsextremismusprävention auszuweiten, verwiesen auch die Fachvorträge von Silke Baer (cultures interactive e.V., Berlin) und Reinhard Koch (Archiv und Informationsstelle Rechtsextremismus e.V., Braunschweig). Silke Baer gab einen bundesweiten Überblick über entsprechende Projekte und Konzepte. Die Veranstalter hatten Reinhard Koch um einen Kommentar gebeten zur Frage "Selektive Prävention - ein blinder Fleck der Rechtsextremismusprävention?". Beide zählen in der Fachpraxis bundesweit zu den besonders erfahrenen und ausgewiesenen Kräften. Sie stellten einen Qualifizierungsbedarf unter Multiplikatorinnen und Multiplikatoren fest, auch unter pädagogischen Fachkräften, und einen Ressourcenbedarf für die spezialisierte Arbeit mit rechtsextrem orientierter Klientel. Silke Baer hob zudem den Bedarf an Konzepten für geschlechtssensible Prävention (Jungenarbeit/Mädchenarbeit) hervor. "Zugänge zu den Troublemakern" sind notwendig Manche Lücken, darauf wies Reinhard Koch hin, hingen auch mit dem Negativbild zusammen, selektive Rechtsextremismusprävention betreibe "Täterarbeit". Gerade die, wie Koch es nannte, "Zugänge zu den Troublemakerinnen und Troublemakern" seien aber wichtig, damit sich Radikalisierungsspiralen nicht fortsetzten. Bis heute wirke auch die Erinnerung an bestimmte, vielkritisierte Maßnahmen der frühen 1990er Jahre präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 339 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 negativ nach. Seinerzeit griffen Projekte, überwiegend in den östlichen Bundesländern, den Leitbegriff einer "akzeptierenden Jugendarbeit" auf, den der Bremer Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Franz Josef Krafeld geprägt hatte. Mitunter gerieten die Projekte in den Verdacht, ungewollt rechtsextremistische Strukturen eher zu stärken als zu schwächen. Tatsächlich, so stellt Michaela Glaser in einem fast zeitgleich zum Fachworkshop erschienenen Aufsatz im Lehrbuch "Soziale Arbeit und Rechtsextremismus" heraus, seien viele Projekte unzureichend qualifiziert, mit den Grundlagen der "akzeptierenden Jugendarbeit" kaum vertraut gewesen. Die Fachpraxis der selektiven Rechtsextremismusprävention habe sich zudem seither erheblich weiterentwickelt. Im Grundsatz gehe es selektiver Prävention weiterhin darum, Beziehung auch zu rechtsextrem orientierter Klientel herzustellen, um vor der Verfestigung von Denkund Handlungsmustern Reflexion und Veränderung zu ermöglichen. Diese Form der Prävention basiere, so Glaser, auf der "Trennung von Einstellung und Person, womit gemeint ist, die Jugendlichen als Personen zu akzeptieren, auch wenn die von ihnen vertretenen Positionen nicht akzeptabel sind". Grenzsetzungen schließe dies keineswegs aus. VIR wurde im Fachworkshop mehrfach als ein Good-Practice-Projekt der Qualifizierung zur selektiven Rechtsextremismusprävention angesprochen. Weitere Projekte mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und Profilen standen im World Cafe zu Gesprächen zur Verfügung, darunter "Aktion Zivilcourage" (Sachsen), "Rote Linie - pädagogische Fachstelle Rechtsextremismus" (Hessen), "Rückwege - Auf der Schwelle zum Rechtsextremismus" (Rheinland-Pfalz), "Frauen* im Fokus der Präventionsarbeit", "Violence Prevention Network" (beide Berlin), "spot. Streetwork. Prävention. Orientierung. Teilhabe" (Bremen) und "U-Turn - Wege aus dem Rechtsextremismus und der Gewalt" (Dortmund). Wie alle VIR-Veranstaltungen war der Workshop vom Austausch auf Augenhöhe zwischen Sicherheitsbehörden und Pädagogik, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Stellen geprägt. Diesen Dialog hat der Fachworkshop weiter gestärkt. Das VIR-Projekt geht davon aus, dass die Veranstaltung auf der individuellen Ebene Kenntnisse und Kontakte erweitert hat - auf der überörtlichen und institutionellen Ebene hat sie fachliche Netzwerke gestärkt. 340 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Einladungsflyer zum bundesweiten VIR-Fachworkshop präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 341 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Übergreifende Konzepte und Vernetzung Prävention gegen Extremismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die umso erfolgreicher ist, je mehr relevante Akteure zusammenarbeiten und sich austauschen. Der NRW-Verfassungsschutz ist daher an zahlreichen Arbeitsgruppen und Netzwerken beteiligt und bringt seine Expertise ein. Zu den Partnern gehören unter anderem andere Ressorts der Landesregierung und des Bundes, die Kommunen und die Wissenschaft. Integriertes Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus und Rassismus 2016 entwickelte die Landesregierung NRW unter dem Leitziel "Nordrhein-Westfalen handelt geschlossen für ein respektvolles gesellschaftliches Miteinander - gegen Rechtsextremismus und Rassismus" das Integrierte Handlungskonzept zu diesen Themenfeldern. 2022 lag der Schwerpunkt des Konzeptes auf der Optimierung der vernetzten Präventionsarbeit. Die Proteste gegen Corona-Schutzmaßnahmen haben deutlich gemacht, wie wichtig es ist, stetig an diesem Konzept weiterzuarbeiten und Präventionsangebote an neue Gefahren für die Demokratie anzupassen. Das Handlungskonzept umfasst 167 Maßnahmen aus verschiedenen Ressorts der Landesregierung und von zivilgesellschaftlichen Trägern. In einer Interministeriellen Arbeitsgruppe (IMAG) stimmen sich zudem die beteiligten Ministerien ab. Im Landesnetzwerk gegen Rechtsextremismus erfolgt ferner der Austausch mit Akteuren aus der Zivilgesellschaft. Der Verfassungsschutz ist ebenfalls Teil der Interministeriellen Arbeitsgruppe und bringt seine Expertise in das Konzept ein. Zudem sind rund zwei Drittel der 167 Maßnahmen dem Verfassungsschutz und der Polizei zugeordnet. 22 Maßnahmen liegen im Verantwortungsbereich des Verfassungsschutzes NRW. Neben der Beobachtung rechtsextremistischer Bestrebungen informiert der Verfassungsschutz die Öffentlichkeit über deren Strukturen, Erscheinungsformen, Ideologieelemente, Propaganda und Strategien. Der Verfassungsschutz bringt seine Erkenntnisse und Erfahrungen sowohl in die universelle (primäre) und selektive (sekundäre) als auch in die indizierte (tertiäre) Rechtsextremismusprävention ein. Zu den Maßnahmen der universellen Prävention zählen Informationsund Aufklärungsformate für die breite Öffentlichkeit und speziel342 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 le Gruppen, die der Verfassungsschutz in Form von Veranstaltungen, Publikationen und dem jährlichen Verfassungsschutzbericht anbietet. Daneben etablierte er auch Maßnahmen, die der selektiven Prävention zuzuordnen sind, beispielsweise das Projekt VIR. Das Aussteigerprogramm Rechtsextremismus des Landes NRW "Spurwechsel" gehört seit 21 Jahren zum Verfassungsschutz und leistet einen relevanten Beitrag in der indizierten Prävention. Interministerielle Arbeitsgruppe "Salafismusprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe" Seit dem Jahr 2016 entwickeln die Mitglieder der Interministeriellen Arbeitsgruppe "Salafismusprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe" unter Federführung des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration sowie des Ministeriums des Innern NRW ihr Handlungskonzept weiter. Damit wurde ressortübergreifend und unter Einbeziehung von Expertinnen und Experten aus Zivilgesellschaft, Praxis und Wissenschaft die Grundlage für eine Vielzahl präventiver Maßnahmen geschaffen. Ziel des gesamtgesellschaftlichen Ansatzes ist die frühzeitige Bekämpfung des Islamismus durch umfassende Prävention. Die Maßnahmen umfassen universelle, selektive und indizierte Präventionsprojekte und Ansätze. Sie setzen somit an den individuellen Lebenssituationen von vorwiegend jungen Menschen und ihren jeweiligen Sozialräumen an. So können die Maßnahmen passgenau auf die konkreten Situationen wirken. Die Bandbreite der Präventionsmaßnahmen reicht von Sensibilisierung, Qualifizierung, Beratung bis zur Unterstützung. Auch wurden bereits bestehende Programme stetig weiterentwickelt und optimiert. So konnten gerade in der Zeit der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie neue Wege gefunden werden, Online-Plattformen im Rahmen der täglichen präventiven Arbeit zu nutzen, um weiterhin zukunftssicher und verlässlich als Ansprechpartner aufzutreten. In der IMAG wurde zudem eine Unterarbeitsgruppe Vernetzung gegründet, die durch die Einführung von zentralen Anlaufstellen in den beteiligten Ministerien die Expertise und Kommunikation über einschlägige Themen bündelt sowie die Effizienz der ressortübergreifenden Zusammenarbeit steigert. Die IMAG, die unbefristet auf eine dynamische und kontinuierliche Zusammenarbeit der Arbeitsbereiche aller beteiligten Ressorts ausgerichtet ist, hat seit dem Jahr 2022 zudem einen wissenschaftlichen Beirat, der die Mitglieder begleitet und berät. Im Prozess wird fortlaufend insbesondere die noch weitergehende Vernetzung erörtert, darüber hinaus befasst sich die IMAG intensiv mit dem Themenfeld psychische Erkrankungen. Es ist vorgesehen, dass immer wieder neue Schwerpunkte und EinzelpräVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 343 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 projekte in das ganzheitliche Handlungskonzept aufgenommen und bearbeitet werden und dann in weitere konkrete Projekte münden sollen. CoRE NRW - Connecting Research on Extremism in North Rhine-Westphalia Das wissenschaftliche Netzwerk Connecting Research on Extremism in North RhineWestphalia, kurz CoRE NRW, erforscht Bedingungen und Formen extremistischer Radikalisierung sowie Präventionsmaßnahmen. Es wurde 2016 gegründet und hat zum Ziel, den Austausch zwischen Wissenschaft, Praxis und Zivilgesellschaft zu stärken. In den ersten Jahren lag der Schwerpunkt auf der Erforschung des gewaltbereiten Salafismus. Seit 2020 beschäftigt sich das Wissenschaftsnetzwerk mit weiteren Formen des Extremismus, beispielsweise mit Rechtsextremismus. Das "Bonn International Center for Conversion" (BICC) ist seit 2019 die Koordinierungsstelle des Netzwerkes. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz bringt sich mit seinen Erkenntnissen im Wissenschaftsnetzwerk aktiv ein und kann seine Arbeit durch sehr aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse ergänzen. Durch den gemeinsamen Austausch wird Wissen aus Wissenschaft, Praxis und Zivilgesellschaft gebündelt und fließt wiederum in Forschung und Praxis ein. Das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW, das für CoRE NRW federführend ist, förderte bisher 13 Projekte, von denen zurzeit noch fünf laufen. Aktuelle Fragestellungen sind die Auswirkungen rechtsextremistischer Gewalt, religiöse Ideale und muslimische Praxis in der von Einwanderung geprägten Gesellschaft, vorurteilsmotivierte Gewaltkriminalität, Testung eines Modells der Radikalisierung sowie Vigilantimus (Erscheinungsformen von Bürgerwehren und Selbstjustiz) in NordrheinWestfalen. 2022 wurde das Projekt "Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam. Gesellschaftliche Polarisierung und wahrgenommene Bedrohungen als Triebfaktoren von Radikalisierungsund Co-Radikalisierungsprozessen bei Jugendlichen und Post-Adoleszenten" vorgestellt. Es untersucht die dynamischen Wechselbeziehungen von Radikalisierungsprozessen zwischen Islamismus, Rechtsund Linksextremismus. Das zweite Projekt "Religiöse Deutungsmachtkonflikte und Überbietungskämpfe im globalen Feld des Salafismus" vergleicht religiöse Überbietungspraktiken in salafistischen Kreisen in Deutschland und Marokko, die einer Radikalisierung der Diskurse Vorschub leisten können. Zudem fand die Veranstaltungsreihe "CoRE-NRW Werkstatt" statt, bei der verschiedene Forschungsvorhaben vorgestellt und diskutiert wurden. Das CoRE-NRWNetzwerktreffen 2022 befasste sich sowohl mit neuen Forschungsergebnissen zu den verschiedenen Phänomenbereichen als auch mit Handlungsmöglichkeiten für die Präventionspraxis. 344 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Projekt "Kommunen gegen Extremismus" Kommunen und Kreise sind in ihrer Arbeit mit unterschiedlichen Erscheinungsformen des Extremismus konfrontiert. Um die staatlichen Institutionen bei Fragen und Unsicherheiten zu den sozialen Phänomenen zu unterstützen, wurde 2014 das Präventionsprojekt "Kommunen gegen Extremismus" als Pilot im Kreis Mettmann ins Leben gerufen. Das Projekt zielt darauf ab, sämtlichen Formen von Extremismus bereits früh entgegenzuwirken. Hierbei arbeiten der polizeiliche Staatsschutz, der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz sowie die Kommunen und Kreise eng zusammen. Im Laufe der Jahre ist das Projekt auf den Rhein-Erft-Kreis, den Rhein-Kreis Neuss, den Rhein-Sieg-Kreis und die Kreise Düren, Paderborn und Viersen sowie die kreisfreien Städte Mönchengladbach und Remscheid ausgedehnt worden. Bis heute gab es über 300 Hinweise und Anfragen aus den teilnehmenden Kommunen. Künftig ist beabsichtigt, das Projekt in weiteren Kommunen zu etablieren. Europäische und internationale Zusammenarbeit Die Gefahren des Extremismus machen an den Grenzen keinen Halt. Umso bedeutender sind die Vernetzung und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene. Durch den grenzüberschreitenden Austausch wird die Möglichkeit eröffnet, voneinander zu lernen und miteinander zu arbeiten. Hierdurch können die beteiligten Länder wechselseitig profitieren und ihre Präventionsarbeit weiterentwickeln. Besonders hervorzuheben ist die bereits seit mehreren Jahren bestehende Zusammenarbeit mit Belgien. Am 29. März 2022 fand die dritte gemeinsame Kabinettsitzung der Regierungen von Flandern und Nordrhein-Westfalen statt. In dieser Sitzung wurde unter anderem zum Themenfeld Prävention beschlossen, einen weiteren Austausch über Maßnahmen zur Verhinderungen aller Formen des gewalttätigen Extremismus - sowohl offline als auch online - anzustreben. Besonderes Augenmerk wurde auf den Austausch über bewährte Formen der Sensibilisierung zum Thema Extremismus in den beiden Regionen gelegt sowie auf die Zusammenarbeit und Abstimmung lokaler und regionaler Behörden mit anderen Präventionsakteuren. Die Arbeitsgruppe, die sich aus Expertinnen und Experten der Verwaltung zusammensetzt, hat sich bisher insbesondere über die Präventionsarbeit im Bereich Rechtsextremismus und Islamismus informiert und wird diesen Austausch fortführen. Nordrhein-Westfalen vernetzte sich in der Vergangenheit bereits mit der britischen Regierung in Bezug auf die Präventionsarbeit im Rahmen des Programms "Prevent". Die Zusammenarbeit wurde durch einen Besuch von Vertreterinnen und Vertretern der Britischen Botschaft aus dem Bereich Terrorismusbekämpfung am 1. September 2022 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 345 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 intensiviert. Der NRW-Verfassungsschutz referierte über aktuelle Aspekte seines breitgefächerten Spektrums an Tätigkeiten und Themenfeldern, insbesondere aus den Bereichen Rechtsextremismus, Islamismus und Rückkehrer aus Kampfgebieten. Projekt Rückkehrkoordination Im Jahr 2022 bestand die Rückkehrkoordination in Nordrhein-Westfalen seit drei Jahren. Sie sorgt für die Vernetzung und Abstimmung der staatlichen Stellen und zivilgesellschaftlichen Akteure, die betroffen sind, wenn Personen nach Nordrhein-Westfalen zurückkehren, die in die Kampfgebiete des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Syrien und dem Irak ausgereist waren. Ziel ist es, durch die Einbindung aller Institutionen eine Deradikalisierung, gesellschaftliche Reintegration und dauerhafte Stabilisierung der Rückkehrenden zu erreichen. Dabei kooperiert die Rückkehrkoordination neben dem staatlichen Aussteigerprogramm Islamismus (API) auch mit in Nordrhein-Westfalen aktiven zivilgesellschaftlichen Akteuren wie dem Beratungsnetzwerk Grenzgänger und dem Verein Grüner Vogel. Im Jahr 2022 wurden die örtlichen Jugendämter weiter über die besonderen Herausforderungen und Bedürfnisse der aus dem Kriegsgebiet zurückkehrenden Kinder und Jugendlichen informiert und für diese Fragen sensibilisiert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter werden mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert, die unter äußerst schwierigen Verhältnissen gelebt haben, oftmals traumatisiert sind und deren Werte und Interessen sich zum Teil deutlich von denen ihrer Altersgenossen unterscheiden. Frühe Information durch die Rückkehrkoordination ermöglich es den Kommunen, sich auf Rückkehrfälle einzustellen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit zusätzlichem Fachwissen auszustatten und sich erforderlichenfalls mit weiteren Stellen zu vernetzen. Im Jahr 2022 begleitete die Rückkehrkoordination erneut Rückholungen von Frauen mit ihren Kindern aus einem Lager in Nordostsyrien, die unter Federführung des Auswärtigen Amtes erfolgten. Dabei wurde deutlich, dass das proaktive Zugehen der Rückkehrkoordination auf die örtlich zuständigen Jugendämter ein wesentlicher Faktor für die erfolgreiche Durchführung der Rückholungsaktionen war. 346 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Verbindungsbeamter Justizvollzug Der Verbindungsbeamte (VB) Justizvollzug ist zentraler Ansprechpartner für die Justizvollzugsanstalten des Landes. Er dient als Schnittstelle für einen phänomenübergreifenden und gegenseitigen Informationsaustausch und sorgt zudem für Aufklärung und Sensibilisierung der Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner im Justizvollzug zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes und zu Entwicklungen in den Phänomenbereichen des Extremismus. Inhaftierte, die den Willen haben, aus dem Extremismus auszusteigen, vermittelt der VB Justizvollzug an die drei Aussteigerprogramme (Spurwechsel, API und Left) des Verfassungsschutzes. Seit Einrichtung im Oktober 2018 hat sich der VB Justizvollzug etabliert und ist fester Bestandteil der Kommunikation zwischen Justizvollzug und Verfassungsschutz. Kooperation mit politischen Stiftungen Im Jahr 2020 initiierte der Verfassungsschutz das Projekt "Akteure politische Bildung NRW". Das Projekt zielt darauf, in Dialog mit den Landesbüros der verschiedenen politischen Stiftungen in NRW zu treten. Hierbei soll das wechselseitige Verständnis zwischen der Extremismusprävention und der politischen Bildung gestärkt werden. Denn politische Bildung und Prävention können voneinander profitieren. Aufgrund dessen ist es hilfreich, die präventive und inhaltliche Expertise des Verfassungsschutzes in die Netzwerklandschaft verschiedener zivilgesellschaftlicher Akteure einzubringen. Ebenso bringen die zivilgesellschaftlichen Akteure ihre Perspektiven und Kompetenzen in den Austausch ein. Der Dialog zwischen den beiden Bereichen hat somit zum Ziel, Raum für die unterschiedlichen Perspektiven zu schaffen und mögliche Kooperationsprojekte zu entwickeln. Erste kooperative Veranstaltungen konnten realisiert werden. Es fanden Veranstaltungen zu den Themen Verschwörungsmythen und Extremismus, institutioneller und struktureller Rassismus sowie zur Erlebniswelt Rechtsextremismus statt. Arbeitsgremien auf Bundesebene Der Verfassungsschutz NRW ist im Bereich der Islamismusprävention in ein breites Netzwerk aller Landesprogramme und der Behörden von Bund und Ländern eingebunden. Das Präventionsreferat ist zum Beispiel Teil der seit 2009 bestehenden Arbeitsgruppe "Deradikalisierung" im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum. Die AG verfolgt unter Federführung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Ziele einer länderübergreifenden Abstimmung und Klärung von Grundsatzfragen. Im Rahmen von Unterarbeitsgruppen und Schnittstellen zu weiteren Arbeitsbereichen und Behörden werden aktuelle Bedarfe der Prävention und Deradikalisierung aufgegriffen und bearbeitet. Ein Ziel der Arbeitsgruppe ist zudem die Erarbeitung präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 347 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 praxisorientierter Standards für die Deradikalisierungsarbeit. Dabei gibt insbesondere das Aussteigerprogramm Islamismus (API) aufgrund seiner langjährigen Praxiserfahrung fruchtbare Impulse, speziell in der vom API geleiteten und mit Praktikerinnen und Praktikern aus dem Bereich der Ausstiegsbegleitung besetzten Unterarbeitsgruppe Fallarbeit. Das BAMF ist zudem die koordinierende Stelle für einen bundesweiten Austausch aller Landespräventionsprogramme und ihrer zivilgesellschaftlichen Partner, an dem der NRW-Verfassungsschutz teilnimmt. Auch das Bundesministerium des Innern und für Heimat organisiert einmal jährlich einen Bund-Länder-Austausch zum Thema Deradikalisierung im Phänomenbereich Islamismus. In der digitalen Sitzung im November 2022 wurden die aktuellen Herausforderungen und der künftige Handlungsbedarf besprochen. 348 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Prävention auf drei Ebenen In Wissenschaft und Praxis wird die Präventionsarbeit nach den Zielgruppen eingeteilt, an die sich die jeweilige Präventionsmaßnahme richtet. So wird zwischen universeller (oder primärer), selektiver (sekundärer) und indizierter (tertiärer) Prävention unterschieden. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz bringt seine Erkenntnisse in den Bereichen Rechtsextremismus und Islamismus gezielt in alle drei genannten Feldern der Prävention ein. > Universelle Prävention zielt auf die demokratische Öffentlichkeit ab ("Verfassungsschutz durch Aufklärung"). > Selektive Prävention nimmt Personengruppen in den Blick, die eine Nähe zum extremistischen Denken und Handeln haben. Sie befinden sich meist in einer Annäherungsphase an extremistische Szenen. > Indizierte Prävention richtet sich an Personen, die fest in einer extremistischen Szene verankert und in ihr aktiv sind. Maßnahmen der tertiären Prävention sind insbesondere Aussteigerprogramme. Die Übergänge zwischen diesen drei Präventionsbereichen sind fließend, die Unterscheidung ist aber wichtig, weil wirksame Präventionsmaßnahmen passgenau auf die jeweilige Zielgruppe ausgerichtet sein müssen. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 349 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Präventionsprogramm Wegweiser - Gemeinsam gegen Islamismus Das Ministerium des Innern Nordrhein-Westfalen initiiert, finanziert und koordiniert das Landespräventionsprogramm "Wegweiser - Gemeinsam gegen Islamismus". Es richtet sich vorwiegend an junge Menschen in einer identitätsprägenden Phase, die Affinitäten zu islamistischen Ideologien aufweisen. Auch deren Umfeld, wie Familie, Freundinnen und Freunde, Lehrkräfte, kann bei Wegweiser Rat suchen. Die 25 zivilgesellschaftlichen oder kommunalen Wegweiser-Beratungsstellen vor Ort behandeln ebenfalls im Rahmen von Sensibilisierungsveranstaltungen und Workshops für Schülerinnen und Schüler sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren (zum Beispiel Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher) die Gefahren und Methoden des Islamismus. Dies geschieht im Sinne der Prävention auch ohne konkret ersichtlichen Anlass. Behörden und alle sonstigen Organisationen klärt Wegweiser ebenso auf und gibt auf die jeweilige Fragestellung abgestimmte Handlungsempfehlungen. Wegweiser steht somit allen Ratsuchenden offen. Wegweiser - zwischen Normalität und Pandemie Trotz zwischenzeitlicher Kontaktsperren und Veranstaltungsverbote in der Pandemie wurden Veranstaltungen lückenlos weitergeführt. Sie wurden an die Situation angepasst und fanden zum Teil online statt. Auch die Beratungsarbeit konnte weiterhin vollständig angeboten werden. Im weiteren Verlauf des Jahres 2022 fanden die von den Beratungsstellen geplanten Veranstaltungen, die wegen der jeweiligen Auflagen auf spätere Zeitpunkte verschoben worden waren, so statt, dass sie gut mit dem Pandemieschutz vereinbart werden konnten. Gerade Schulen nutzen die Wegweiser-Angebote, um für junge Menschen Demokratieförderung im Rahmen der Islamismusprävention zu ermöglichen. Sowohl die Einzelberatung als auch Workshops und Sensibilisierungsveranstaltungen trugen dazu bei. Wie im vorangegangenen Jahr wurden auch aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen und Probleme zielgruppengerecht in die Formate einbezogen. 350 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Um gemeinsam mit den Beratungsstellen vor Ort optimal auf nationale, internationale und globale Ereignisse reagieren zu können, finden fortlaufend und anlassbezogen Impulsvorträge von Referentinnen und Referenten des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen für die Beratungsstellen statt. Auch durch diese Angebote sind die Beratungskräfte Expertinnen und Experten zu aktuellen Problemlagen und werden als solche durch die Zielgruppen wahrgenommen und angesprochen. Beispiele für aktuelle Ereignisse waren die mögliche Ungleichbehandlung von Geflüchteten sowie Formen und Verbreitung von Antisemitismus im Islamismus. Wegweiser - Erfolge in der Prävention Im Jahr 2022 wuchs die Zahl der Personen weiter, die durch das Programm erreicht wurden. Seit dem Start 2014 wurden 1.292 direkt Betroffene beraten (27,2 Prozent Frauen und Mädchen). In 53 Prozent aller Beratungen waren 14bis 17-jährige Kinder und Jugendliche sowie in 14 Prozent aller Beratungen Kinder bis 14 Jahre betroffen. Die Wegweiser-Standorte haben zudem über 33.000 allgemeine Anfragen bearbeitet, zum Beispiel Fragen mit Einzelfallbezug sowie nach Infomaterialien, Vorträgen, Infos zum Thema Islamismus und Presseanfragen. Sie haben darüber hinaus 6.700 Sensibilisierungsmaßnahmen durchgeführt, darunter Veranstaltungen, Vorträge und Workshops für Schülerinnen und Schüler. Das Landepräventionsprogramm Wegweiser öffnet dabei Türen, schafft Vertrauen und leistet Überzeugungsarbeit. Pendant in Belgien Die erfolgreiche Arbeit der Wegweiser-Beratungsstellen gilt ebenso für das Pendant des Programms im belgischen Eupen. Auf Grundlage der trilateralen Vereinbarung zwischen der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien (DG), dem Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Aachen über die Zusammenarbeit im Rahmen des Präventionsprogramms Wegweiser, befinden sich die beiden Beratungsteams in Aachen und Eupen im regen Austausch. Hierbei erfolgt ein Wissenstransfer auf verschiedenen Ebenen, etwa die gegenseitige Unterstützung bei der Fallarbeit oder die wechselseitige Teilnahme bei Gremien und Fortbildungen. Dem europäischen Gedanken folgend, steht dabei die vertrauensvolle Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg im Vordergrund. Wegweiser - regionale Netzwerktreffen und Fachtagungen Im Jahr 2022 fanden vermehrt Netzwerktreffen bei den Wegweiser-Beratungsstellen in ihren jeweiligen Regionen statt. Netzwerktreffen dienen der umfassenden Netzwerkpflege und dem Gewinnen neuer Partner. Alle in Frage kommenden regionalen Netzwerkpartner sollen über die Wegweiser-Arbeit unterrichtet werden. Dies gilt vor allem für Netzwerkpartner, die nicht zu dem engen Kreis von Expertinnen und Experten gepräVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 351 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 hören, die regelmäßig und mehrfach im Jahr zu Arbeitstreffen (Fachkommissionen) mit der jeweiligen Beratungsstelle und dem Ministerium des Innern zusammenkommen. Netzwerktreffen sind einmal pro Jahr für einen erweiterten größeren Kreis vorgesehen. Bei einem Wegweiser-Netzwerktreffen in Region Aachen informierte der Verfassungsschutz über Extremismus in NRW und zeigte Möglichkeiten der Prävention auf (Foto: Josephine Vossen/Diakonie Aachen) Inhaltlich sollen aktuelle Informationen zu Wegweiser und der Wegweiser-Arbeit im Fokus stehen, aber auch Formate, die bei den Treffen einen Austausch und ein besseres Kennenlernen untereinander fördern. Das Ziel ist ein besseres Verständnis der jeweiligen Perspektiven und Handlungsgrenzen der verschiedenen Partner. Zielpublikum sind daher neben langjährigen Partnern auch immer Vertreterinnen und Vertreter etwa von Vereinen, Behörden und Initiativen, zu denen der Kontakt bisher weniger ausgeprägt war oder deren Expertise neu gefragt ist. Des Weiteren richteten im Jahr 2022 wieder einige Beratungsstellen sehr erfolgreiche Fachtagungen aus. Fachtagungen haben im Gegensatz zu Netzwerktreffen einen allgemeineren und offeneren Charakter. Einladungen werden breiter gestreut, und alle Interessierten vor Ort können teilnehmen. Auch Öffentlichkeitsarbeit ist ausdrücklich 352 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 erwünscht. Die Beratungskräfte trugen zu bestimmten fachlichen Themen vor, wie "Homosexualität im Islam" und "Antisemitismus im Islamismus", oder es wurden externe, in ihrem Fachgebiet bekannte Referentinnen und Referenten eingeladen. Auch diese Tagungen dienen der Netzwerkpflege, jedoch nicht in dem intensiven Sinn wie die Netzwerktreffen. Wegweiser-Evaluation Seit Anfang des Jahres 2021 wurde das Programm Wegweiser von einem externen Institut wissenschaftlich evaluiert. Im November 2022 lag der endgültige Evaluationsbericht vor. Die Evaluation besteht aus einer quantitativen und einer qualitativen Auswertung. Zum einen wurden vorliegende quantitative Daten analysiert, zum anderen wurden neun Standorte beispielsweise auf der Grundlage von Interviews und Fokusgruppengesprächen tiefergehend untersucht. Der Abschlussbericht bescheinigt dem Wegweiser-Programm, dass es seine gesetzten Ziele erreiche. Wegweiser adressiere bestehende Bedarfe bei den Zielgruppen, leiste wertvolle Arbeit und habe durch die Ausweitung seines Aufgabenfeldes - vom gewaltbereiten Salafismus zum Islamismus insgesamt - einen angemessenen Umgang mit Kontextveränderungen gefunden. In dem Bericht werden zehn Empfehlungen formuliert, die unter Beteiligung der Beratungsstellen vor Ort einer Weiterentwicklung des Programms Wegweiser dienen sollen. Dazu zählen unter anderem eine Optimierung des Fortbildungsangebots für die Beratungskräfte von Wegweiser, weitere Intensivierung des Austausches zwischen den Beratungsstellen, die Erschließung weiterer Zugangsmöglichkeiten zu Betroffenen oder die Zusammenarbeit mit Moscheegemeinden. Ferner wird empfohlen, die Bandbreite der vielschichtigen Beratungs-, Dialogund Sensibilisierungsarbeit in den Beratungsstellen noch stärker in der Außendarstellung abzubilden. Viele Inhalte der Empfehlungen hatte das Präventionsreferat im Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen bereits aufgenommen. Darüber hinaus wird deren Umsetzung unter Einbindung der Träger und Beratungskräfte von Wegweiser zur bestmöglichen gemeinsamen Weiterentwicklung des Programms intensiv durch das Präventionsreferat vorangetrieben. Wegweiser Online Mit einer neuen Online-Erweiterung, einschließlich unmittelbarer Kontaktmöglichkeit per Online-Chat, startet Wegweiser künftig ein neues digitales Beratungsangebot. Insbesondere digitalaffine Jugendliche und junge Erwachsene mit entsprechendem Kommunikationsverhalten bekommen die Möglichkeit, über den Chat in den direkten Dialog mit den Wegweiser-Beratungskräften zu treten. Die niedrigschwellige, vertraupräVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 353 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 liche und anonyme Online-Beratung will sowohl Hindernisse wie Angst vor Stigmatisierung überwinden als auch Zugangshürden, zum Beispiel für Betroffene im ländlichen Raum, abbauen. Ratsuchende können sich durch die Verknüpfung der digitalen mit der bereits etablierten analogen Beratung - je nach individuellem Bedarf - für ein bestimmtes Beratungssetting entscheiden. Die im Aufbau befindliche Wegweiser-Website wird neben einem Zugang zu professioneller Beratung Informationen zu den Themen Prävention, Islamismus und Radikalisierung anbieten. Im Rahmen der Programm-Erweiterung werden von den Wegweiser-Beratungskräften bereits maßgeschneiderte Medienkompetenzworkshops angeboten. Im Fokus stehen Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern. Sie sollen Kompetenzen erwerben und Werkzeuge kennenlernen, mit denen sie Online-Dynamiken - Filterblasen, Algorithmen, Echokammer-Effekte - besser verstehen können. Darüber hinaus werden das Internet und die sozialen Medien aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, um möglichen Radikalisierungsprozessen entgegenzuwirken. Eigene, auf die jeweiligen Zielgruppen ausgerichtete Angebote in sozialen Medien sollen die Website flankieren. Zudem ist eine medienübergreifende Bewerbung der neuen Online-Komponente in Vorbereitung. Ausweitung auf den Bereich Graue Wölfe Das im Oktober 2021 gestartete zweijährige Pilotprojekt zur Ausweitung von Wegweiser auf den Bereich Graue Wölfe wurde in 2022 an den sechs Standorten Aachen, Bielefeld, Bochum, Dortmund, Neuss und Wuppertal fortgeführt. Im Berichtszeitraum fanden vor allem umfangreiche Fortbildungsmaßnahmen der dort tätigen Beratungskräfte statt, die von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis durchgeführt wurden. Dadurch konnten neben tiefgehenden Kenntnissen zum Beispiel über die Geschichte und Ideologie der Bewegung auch hilfreiche Handlungsempfehlungen für die Sensibilisierungsund Aufklärungsarbeit der Beratungsstellen gewonnen werden. Das Themengebiet Graue Wölfe ist in der Arbeit der Pilotstandorte bereits auf großes Interesse gestoßen. In ersten Veranstaltungen und Workshops, vorrangig an Schulen, bot Wegweiser Informationen und Beratung an. Mit Rücksicht auf die hohe Sicherheitsrelevanz und Gewaltaffinität der Grauen Wölfe wurde die Ausweitung noch zurückhaltend beworben. Reaktionen aus dieser Szene 354 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 oder seitens ihrer Sympathisanten, insbesondere durch soziale Medien, konnten bislang nicht beobachtet werden. Es wird jedoch erwartet, dass sich im Kontext der Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in der Türkei im Mai 2023 die Strukturen und Organisationen der Bewegung durch gezielte Emotionalisierung türkeistämmiger Jugendlicher auch hier in Nordrhein-Westfalen deutlicher zeigen werden. Es besteht daher unverändert ein hoher Aufklärungsund Sensibilisierungsbedarf, insbesondere an Schulen, in Jugendeinrichtungen und Sportvereinen. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 355 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 VIR - Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen Die zehnte Trainerinnenund Trainer-Ausbildung im Mai 2022 in Bielefeld war ein Meilenstein in der Entwicklung des VIR-Projekts. VIR ist ein praxisnahes Qualifizierungskonzept für Personen, die beruflich oder ehrenamtlich mit rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kontakt sind, also mit jungen Menschen in einer Annäherungsphase an den Rechtsextremismus. 2022 standen neben der Trainerinnenund TrainerAusbildung auch VIR-Fortbildungen, die jährliche Vernetzungstagung und der Fachworkshop "Selektive Rechtsextremismusprävention" im Fokus des Projekts. Das VIR-Projekt verortet sich in der selektiven oder sekundären Rechtsextremismusprävention und bietet zwei Qualifizierungsformate an. Die dreitägige Fortbildung schult die Teilnehmenden im Umgang mit jungen Menschen, die sich dem Rechtsextremismus annähern. Sie bietet neben einem Einblick in die rechtsextremistische Szene auch Kommunikationsmethoden, um in Alltagsgesprächen Reflexionsund Veränderungsprozesse anzuregen. Die viertägige Trainerinnenund Trainer-Ausbildung befähigt die Teilnehmenden, selbstständig VIR-Fortbildungen in Zweierteams anzubieten (Trainthe-Trainer-Ansatz). Nach der zehnten VIR-Trainerinnenund -Trainer-Ausbildung, die vom 9. bis 12. Mai 2022 im ver.di Bildungszentrum "Das bunte Haus" in Bielefeld stattfand, stehen nun rund 170 VIR-Trainerinnen und -Trainer in Nordrhein-Westfalen und in zwölf weiteren Bundesländern zur Verfügung. 356 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 VIR im Überblick Das Qualifizierungskonzept VIR (Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen) umfasst zehn Bausteine, darunter Übungen zur motivierenden Gesprächsführung, ein Modell, das Veränderungsphasen aufzeigt (Transtheoretisches Modell der Veränderung), und Grundlagen zum Thema Rechtsextremismus (Rechtslage, "Erlebniswelt Rechtsextremismus", Einund Ausstiegsprozesse). VIR-Fortbildungen und Aufbaulehrgang Auch 2022 wurden VIR-Fortbildungen angeboten und durchgeführt. Nachdem 2021 die Fortbildung erstmalig in einem Online-Format erfolgreich erprobt worden war, konnten 2022 alle Veranstaltungen wieder in Präsenz stattfinden. So fanden 2022 unter anderem VIR-Fortbildungen in Lüdinghausen, Mainz, Herne und Hamm statt. Präventionsansatz Bei VIR-Qualifizierungen geht es um die Kommunikation mit Zielgruppen, bei denen man in Alltagssituationen Impulse setzt, die zur Veränderung motivieren und den Veränderungsprozess fördern. VIR setzt auf Kurzinterventionen wie "Tür und Angel"-Gespräche oder Kurzberatungen mit einer Dauer von zehn Minuten bis zu einer Stunde. Typische Situationen sind Pausengespräche in der Schule, Gespräche im Jugendzentrum oder zwischen Strafgefangenen und Beschäftigten in einer Justizvollzugsanstalt. Vernetzungstagung und Fachworkshop Die jährliche Vernetzungstagung für VIR-Trainerinnen und -Trainer fand am 20. Oktober 2022 in der Sportschule Hennef statt. Sie setzte den fachlichen Schwerpunkt auf die politische, historische und kulturelle Bildung. Drei VIR-Trainerinnenund Trainer berichteten aus ihrer Praxis: Sebastian Hebler vom Demokratiezentrum RheinlandPfalz, das im Landesjugendamt angesiedelt ist, stellte Konzept und Durchführung von Planspielen zur politischen Bildung vor. Sabine Weber, Leiterin Bildung der Akademie Vogelsang IP, berichtete aus der Erinnerungsarbeit in einer ehemaligen nationalpräVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 357 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 sozialistischen Schulungsstätte, der sogenannten Ordensburg Vogelsang in der Eifel. Bünyamin Werker, der als Professor für Bildung und Erziehung im Kontext Sozialer Arbeit an der Hochschule Hannover lehrt und zuvor auch als Studienleiter der Akademie der Kulturellen Bildung in Remscheid und als Rap-Musiker tätig war, nahm die kulturelle Bildung in Blick. Darüber hinaus ging Stefan Woßmann, Leiter des Respekt-Büros der Stadt Dortmund und Geschäftsführer des AK Ruhr, Grundsätzen und Ansätzen der politischen (Jugend-)Bildung nach. Am 21. Oktober 2022 fand, ebenfalls in der Sportschule Hennef, der VIR-Fachworkshop "Selektive Rechtsextremismusprävention - Ansätze, Konzepte, Erfahrungen" statt. Angela Tomalka (Pirna) und Jonas Behrend (Soest) berichten beim VIR-Fachworkshop in Hennef im Gespräch mit Stefan Woßmann (AK Ruhr) über Erfahrungen aus ihrer pädagogischen Arbeit Weitere Informationen zum VIR-Projekt und Kontaktmöglichkeiten zu Trainerinnen und Trainern sind unter www.vir.nrw abrufbar. 358 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Akteure Im VIR-Projekt arbeiten staatliche und zivilgesellschaftliche Stellen eng zusammen: Es wird gemeinsam getragen vom Arbeitskreis der Ruhrgebietsstädte gegen rechtsextreme Tendenzen bei Jugendlichen (AK Ruhr), von der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinderund Jugendschutz NRW und dem Verfassungsschutz NordrheinWestfalen (Aussteigerprogramm Spurwechsel). VIR wird begleitet durch das LWL-Landesjugendamt Westfalen. Die ginko Stiftung für Prävention in Mülheim/Ruhr, an deren Fortbildungskonzept MOVE (Motivierende Kurzintervention) sich VIR anlehnt, hat das Projekt unterstützt. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 359 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Aussteigerprogramme Die drei staatlichen Aussteigerprogramme Spurwechsel (Rechtsextremismus), API (Islamismus) und Left (Linksund auslandsbezogener Extremismus) sind Kernelemente der indizierten (tertiären) Extremismusprävention . Da es hier im engeren Sinne nicht mehr um eine Vorbeugung gegen Extremismus geht, kann die Arbeit auch als intervenierende Prävention bezeichnet werden. Der Verfassungsschutz NRW befasst sich in seinen Aussteigerprogrammen mit Personen, deren Radikalisierung in rechtsextremistischen, islamistischen oder linksbeziehungsweise auslandsbezogenen extremistischen Denkund Aktionsstrukturen bereits fortgeschritten ist. Szeneangehörigen, die den Willen haben, sich aus ihrem extremistischen Umfeld zu lösen, bieten die Aussteigerprogramme Unterstützung an. Um diesen Ausstieg nachhaltig zu gestalten, unterstützen die Programme professionell, insbesondere bei der Wiedereingliederung in die demokratische Gesellschaft. Auch Personen, die sich schon selbstständig in einen Ausstiegsprozess begeben haben, bieten die Programme den Raum, diesen Prozess zu festigen. Die Aussteigerprogramme leisten landesweit einen wichtigen Beitrag zur inneren Sicherheit, indem sie zielgerichtete Maßnahmen der Deradikalisierung umsetzen und damit Straftaten verhindern können. Kontaktangebote und proaktive Ansprache Jede Person, die den Willen hat, sich aus der extremistischen Szene zu lösen, kann einfach und unbürokratisch Kontakt zu den Aussteigerprogrammen des Landes aufnehmen: über die Telefonhotline, die jeweilige E-Mail-Adresse oder über die allgemeine Erreichbarkeit des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes. Die Programme warten aber nicht nur, bis Betroffene auf sie zukommen. Ein wichtiger Teil der Arbeit der Ausstiegsbegleiterinnen und Ausstiegsbegleiter ist das aktive Zugehen auf Extremistinnen und Extremisten. Dabei erweist sich die Anbindung der Aussteigerprogramme an den Verfassungsschutz als großer Vorteil. Sie sind über Entwicklungen in den extremistischen Szenen sowie bei deren Anhängerinnen und Anhängern unter anderem durch einen intensiven Kontakt zur Polizei stets auf dem aktuellen Stand und gehen bei Hinweisen zu ersten Distanzierungen auf die jeweiligen Szeneangehörigen zu. Langjährige praktische Erfahrung und stetig wachsende Expertise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind die Grundlage für erfolgreiche Ausstiegsarbeit. Die Vielschichtigkeit eines Ausstiegsprozesses bedingt breit gefächertes Fachwissen im Team der Ausstiegsbegleitung. Ein weitreichendes Netzwerk aus 360 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Sicherheitsbehörden sowie relevanten Präventionsakteuren und Hilfesystemen auf kommunaler Ebene, Landesund Bundesebene unterstützt die Aussteigerprogramme sowohl bei der Suche nach potenziell Ausstiegswilligen als auch bei der Begleitung im konkreten Ausstiegsprozess. Personenakquise im Justizvollzug Mögliche Ausstiegswillige werden regelmäßig in den nordrhein-westfälischen Haftanstalten angesprochen. Das Hilfsangebot der Aussteigerprogramme richtet sich dabei an inhaftierte Personen mit Bezügen zu extremistischen Milieus und umfasst die Begleitung während der Haftzeit, die intensive Vorbereitung auf eine anstehende Haftentlassung sowie die engmaschige Begleitung danach. Die Aussteigerprogramme profitieren dabei als Teil der behördlichen Sicherheitsstruktur insbesondere von der guten Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz. Die Haftsituation stellt für die meisten Betroffenen eine extreme Belastung dar. Aussteigerprogramme können hier mit ihren Hilfsangeboten ansetzen. Es wird dabei jedoch immer klargestellt, dass das jeweilige Programm grundsätzlich keinen Einfluss auf laufende Ermittlungsund Gerichtsverfahren nimmt. Deradikalisierungsarbeit der Aussteigerprogramme Ausstiegsprozesse sind langwierig. Die beiden Kernelemente der Ausstiegsarbeit sind die soziale Stabilisierung und die systematische Aufarbeitung der ideologisch geprägten Haltung der ausstiegswilligen Personen. Beides soll ihnen zu einem selbstbestimmten Leben in der demokratischen Gesellschaft verhelfen. Grundlage für eine nachhaltige Distanzierung der Ausstiegswilligen sind der eigene Antrieb und eine grundsätzliche Gesprächsbereitschaft. Die Ausstiegsbegleitung übernehmen multiprofessionell aufgestellte Teams. Sie bieten den Aussteigenden in regelmäßigen persönlichen Gesprächen die Möglichkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen extremistischen Vergangenheit und geben individuelle Hilfestellungen zur eigenständigen Bewältigung des Alltags und bestehender Problemlagen. Die Ausstiegsbegleitung regt dabei lediglich zu einer Veränderung an oder zeigt andere Wege auf. Die Veränderung des Verhaltens und der Einstellungen verbleibt jedoch in der Verantwortung der Aussteigenden. Ausstiegsarbeit ist primär Beziehungsarbeit auf Grundlage unmittelbarer persönlicher Kontakte zwischen Ausstiegsbegleitung und Ausstiegswilligen. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 361 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Web-Angebote der Aussteigerprogramme Spurwechsel: www.spurwechsel.nrw.de API: www.api.nrw.de Left: www.left.nrw.de Spurwechsel - Aussteigerprogramm Rechtsextremismus Seit nunmehr 21 Jahren hilft das Aussteigerprogramm Spurwechsel Personen bei der Distanzierung aus deren rechtsextremistischen Umfeld und bei der Reintegration in die Gesellschaft. Das Programm begleitet Frauen und Männer in einer Altersspanne von der Strafmündigkeit bis ins hohe Erwachsenenalter. Auch wenn Frauen und Mädchen im Rechtsextremismus an Bedeutung gewinnen, bleibt diese Szene männlich dominiert. Dies entspricht den ideologisch fundierten Rollenbildern im Rechtsextremismus. Damit hängt auch der Geschlechteranteil der Teilnehmenden von Spurwechsel zusammen: Über 90 Prozent der Personen sind männlich und lediglich knapp zehn Prozent weiblich. Seit 2022 bietet Spurwechsel auch zertifiziertes Einzel-Anti-AggressivitätsTraining (AAT(r)) im Rahmen der Ausstiegsbegleitung an und verfügt damit bundesweit innerhalb aller staatlichen Aussteigerprogramme über ein Alleinstellungsmerkmal. Das AAT(r) wird seit mehr als 30 Jahren in Deutschland angeboten und wurde in seiner Wirksamkeit in zahlreichen Evaluationen bestätigt. Das AAT(r) wird als ergänzende Maßnahme zur Ausstiegsbegleitung angeboten. Vorgesehen ist, das Angebot einer Teilnahme am AAT(r) auf alle Aussteigerprogramme auszuweiten. Damit wird eine Bedarfslücke geschlossen und das inhaltliche Angebot der Programme um ein bedeutendes Modul erweitert. Mit seiner Expertise aus den Bereichen Soziale Arbeit, Nachrichtendienst und Polizei spielt Spurwechsel seine Stärken als staatliches Aussteigerprogramm aus. In seiner Strukturqualität 2015 durch eine wissenschaftliche Evaluation bestätigt, zeichnen ein guter Zugang zu anderen Behörden und Institutionen sowie die gute Ressourcenund 362 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Personalausstattung Spurwechsel aus und machen das Programm damit zu einem verlässlichen Partner. In den vergangenen Jahren hat sich das Team von Spurwechsel insgesamt mit über 450 Personen aus der rechtsextremistischen Szene beschäftigt. In über 190 Fällen konnte nach einem Zeitraum von durchschnittlich drei Jahren die Begleitung erfolgreich abgeschlossen werden. Weitere 29 Personen wurden an andere Beratungsstellen vermittelt, weil der Schwerpunkt des Hilfebedarfs nicht auf der Deradikalisierung lag. Etwa 37 Personen werden gleichzeitig durch Spurwechsel begleitet. Spurwechsel hat trotz der noch fortdauernden pandemiebedingten Einschränkungen das Jahr 2022 genutzt, die Netzwerkarbeit und den länderübergreifenden Austausch (u. a. durch eine gemeinsame Arbeitstagung mit der Polizei sowie die Bund-LänderArbeitstagung Rechtsextremismus für staatliche Aussteigerprogramme) wieder zu intensivieren. Kontakt zu Spurwechsel E-Mail: kontakt@spurwechsel.nrw.de Telefon: 0211 837-1906 Website mit Kontaktformular: www.spurwechsel.nrw.de API - Aussteigerprogramm Islamismus Das Aussteigerprogramm Islamismus (API) besteht seit 2014 und verfolgt das Ziel, ausstiegswillige Personen bei der Distanzierung von der islamistischen Szene und der Rückkehr in die demokratische Gesellschaft zu unterstützen. Ein großer Teil der durch das API begleiteten Personen weist eine tendenziell hohe Sicherheitsrelevanz auf, die auf eine fortgeschrittene Radikalisierung und einen terroristischen Hintergrund zurückgehen kann. Dies sind beispielsweise gewaltbereite Personen, die der islamistischen Szene in Deutschland entweder anhängen oder mit ihr sympathisieren, sowie Personen, die präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 363 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 wegen terroristischer Straftaten eine Haftstrafe verbüßen beziehungsweise verbüßt haben oder die aus jihadistischen Kriegsgebieten zurückgekehrt sind. Mit einem Anteil von rund 80 Prozent ist die überwiegende Zahl der im API betreuten Personen im polizeilichen Kontext als "relevante Person" oder "Gefährder" eingestuft. Das API hat sich seit 2014 bereits mit über 240 Personen aus der islamistischen Szene befasst. Das multiprofessionell besetzte Team hat im Jahr 2022 bis zu 56 Hilfesuchende gleichzeitig intensiv in ihrem Ausstiegsprozess begleitet. Seit 2014 konnten knapp 20 Personen mit einem anders gelagerten Unterstützungsbedarf nach Kontaktaufnahme mit dem API an bestehende Hilfesysteme weitervermittelt werden. Bei einem Großteil der aktuellen, teilweise bereits langjährigen Begleitungen zeichnet sich positiv eine deutliche Distanzierung von der extremistischen Ideologie und Szene ab. In knapp 40 Fällen ist ein positiver Fallabschluss bereits gelungen. Das API hat im Berichtsjahr die fachliche Expertise im Team weiter ausgebaut und seine Arbeit auch im länderübergreifenden Austausch erfolgreich fortgesetzt. Eine wesentliche Aufgabe war im Jahr 2022 die Begleitung des API durch eine unabhängige Evaluation. Sie erfolgt durch Prof. Dr. Kurt Möller von der Fakultät für Soziale Arbeit, Bildung und Pflege der Hochschule Esslingen. Die Ergebnisse werden für alle drei Aussteigerprogramme beginnend ab 2023 umgesetzt. Kontakt zum API E-Mail: kontakt@api.nrw.de Telefon: 0211 837-1926 Website mit Kontaktformular: www.api.nrw.de Left - Aussteigerprogramm Linksund auslandsbezogener Extremismus Um Personen aus dem Linksextremismus und dem auslandsbezogenen Extremismus einen nachhaltigen Ausstieg aus der extremistischen Szene zu ermöglichen, startete im Jahr 2018 offiziell das Aussteigerprogramm Left. Left nimmt weiterhin im BundLänder-Vergleich eine Vorreiterrolle im Bereich der tertiären Prävention im Bereich Linksextremismus ein. Das Programm bietet Ausstiegshilfe für Linksextremistinnen und Linksextremisten beispielsweise aus den gewaltbereiten autonomen Szene sowie für Szeneangehörige des Extremismus mit Auslandsbezug beispielsweise im Umfeld von PKK oder DHKP-C. 364 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bis Ende 2022 hat sich Left bereits mit knapp 60 Personen befasst, bei denen Hinweise auf einen möglichen Distanzierungswillen vorlagen. Left begleitet bis zu 20 Personen parallel in ihrem Ausstiegsprozess. Im Jahr 2021 hat Left eine deutschlandweit erste Bund-Länder-Arbeitstagung staatlicher Aussteigerprogramme in Bergisch-Gladbach ausgerichtet. Da das Format des länderübergreifenden Austauschs auf arbeitspraktischer Ebene ein großer Erfolg war, wurde die Arbeitstagung im Jahr 2022 durch Baden-Württemberg fortgeführt. Ein besonderer Fokus wurde auf das Thema Fallakquise gelegt. Left stellte den beteiligten Ländern das Konzept aus NRW vor. Für das Jahr 2023 ist eine weitere Tagung in Sachsen geplant. Kontakt zu Left E-Mail: kontakt@left.nrw.de Telefon: 0211 837-1931 Website mit Kontaktformular: www.left.nrw.de präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 365 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Fachtagungen, Vorträge und Fortbildungen Im persönlichen oder beruflichen Umfeld mit Extremismus und Radikalisierungstendenzen konfrontiert zu werden kann verunsichern und Fragen aufwerfen. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen klärt über Extremismus auf und unterstützt bei der Vermittlung von Hilfsangeboten aus der Praxis. Geschultes Fachpersonal sensibilisiert im Rahmen von Vorträgen und Fortbildungen zu extremistischen Bestrebungen und Ideologien. Der NRW-Verfassungsschutz richtet sich mit Informationen über aktuelle Entwicklungen extremistischer Szenen, deren Strategien und Propaganda gemäß seinem gesetzlichen Auftrag an die Öffentlichkeit, die Politik sowie an Fachkräfte aus allen Tätigkeitsfeldern, die Interesse an Aufklärung über das Thema Extremismus haben. Diese Tätigkeitsfelder umfassen beispielsweise die Bereiche Schule, Jugendund Sozialarbeit, Polizei, Feuerwehr, Justiz und Unternehmen. Neben der Aufklärung über Extremismus bringt der NRW-Verfassungsschutz Erfahrungen aus seinen Präventionsmaßnahmen in die Sensibilisierungsarbeit ein. Regelmäßig stellt er Konzepte, Akteure und Methoden seiner Präventionsangebote und -programme der Öffentlichkeit vor. Dabei werden insbesondere die vielfältigen Kooperationen mit Partnern aus der Zivilgesellschaft und im Bildungssektor deutlich. Die Vermittlung von Ansätzen und Arbeitsweisen der Aussteigerprogramme, der Präventionsprogramme Wegweiser oder VIR bietet der Zielgruppe Informationen über weitergehende Hilfsangebote und Handlungsoptionen bei Unsicherheiten im Umgang mit Extremismus und Radikalisierung. Der Verfassungsschutz bietet ebenso Vorträge zum Wirtschaftsschutz und zur Spionageabwehr an. Schwerpunkte Rechtsextremismus und Islamismus Die Schwerpunkte der Vorträge und Fortbildungen lagen 2022 wie in den vorhergehenden Jahren auf den Phänomenbereichen Rechtsextremismus und Islamismus. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes wirkten bei insgesamt 161 Veranstaltungen aus allen Extremismusbereichen sowie zum Wirtschaftsschutz und zur Spionageabwehr mit eigenen Fachbeiträgen mit. Auf diese Weise sensibilisierten sie unterschiedliche Zielgruppen. Insgesamt wurden 5.744 Menschen erreicht. Extremistische Akteure passen sich und ihre Ideologie an aktuelle Entwicklungen in der Gesellschaft an. Gleichzeitig können sehr unterschiedliche Personengruppen mit extremistischen Ausprägungen konfrontiert werden. Die Vortragsund Fortbildungs366 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 angebote werden daher an die jeweilige Zielgruppe angepasst. Auf die kontinuierlichen Veränderungsprozesse im Extremismus kann der Verfassungsschutz durch seinen direkten Blick auf die Szene auch in Informationsveranstaltungen schnell und mit aktuellen Beispielen reagieren. Dabei wird eine große Bandbreite an Aspekten des Extremismus abgedeckt: Behandelt werden zum Beispiel jugendkulturelle Elemente, die Anschlussfähigkeit extremistischer Positionen an demokratische Bereiche der Gesellschaft genauso wie terroristische Erscheinungsformen und Netzwerke. Angebote für Schulen und Lehrkräfteausbildung Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Arbeit an Schulen in allen Landesteilen. Hier kann auf erprobte Konzepte und Kontakte zurückgegriffen werden. Zum Teil bestehen Kooperationsverhältnisse mit Schulen schon seit mehreren Jahren. Hauptzielgruppen sind Schuljahrgänge ab Klasse neun. Neben Vortragsveranstaltungen bietet der NRWVerfassungsschutz auch kombinierte Workshops und Aussteigerspräche an. Regelmäßig finden Informationsveranstaltungen des Verfassungsschutzes zum Thema Rechtsextremismus auf Einladung der Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) statt. So richteten das ZfsL Hamm, das Medienzentrum der Stadt und das Ministerium des Innern Nordrhein-Westfalen am 29. August 2022 zum neunten Mal gemeinsam den Studientag "Sensibilisierung für den Umgang mit (Rechts-)Extremismus in Schule und Unterricht" aus. Rund 150 Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärtern aller Fächer gingen dem Thema nach. Zum Programm zählten 14 Workshops (darunter auch ein Workshop zum Thema Islamismus sowie zum Beispiel zu Antisemitismus im Gangsta Rap, Anti-Diskriminierung im Fußball, Musik mit rechtsextremistischen Inhalten) und das Gespräch mit einem Aussteiger aus dem Rechtsextremismus. Zudem fanden Vorträge und Fortbildungen des NRW-Verfassungsschutzes zum Thema Rechtsextremismus für Lehrkräfte an Schulen und ZfsL unter anderem in Dortmund, Hagen, Krefeld, Marl, Münster, Solingen und Wuppertal statt. Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Die Landeszentrale für politische Bildung in Nordrhein-Westfalen gehört im Bereich der Veranstaltungen zu den wichtigsten Partnern des Verfassungsschutzes, um über Extremismus aufzuklären. Im Laufe der langjährigen Kooperation sind verschiedene Tagungsreihen entstanden, die im Jahr 2022 fortgeführt wurden. Auch neue Themen wurden gemeinsam aufgegriffen. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 367 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Fachtagung "Delegitimierte Demokratie?" Im Zuge der Corona-Pandemie hat der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen im Frühjahr 2021 den Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" eingerichtet. Dies hat der Debatte um einen Extremismus der Mitte neue Zugkraft gegeben. Deutlicher als zuvor traten Frustrationsund Abwendungsmomente von Teilen der Bevölkerung gegenüber der bestehenden Ordnung einer parlamentarischen Demokratie auf, die allerdings auch in der Vergangenheit bereits erkennbar waren. Der Verfassungsschutz und die Landeszentrale für politische Bildung in NordrheinWestfalen haben deshalb in einer gemeinsamen Tagung "Delegitimierte Demokratie? Strukturen und Mechanismen einer Radikalisierung der 'Mitte'" am 2. November 2022 die dem Protestgeschehen zugrundeliegenden Julia Ebner vom Londoner Institute for Strategic Dialogue stelle aktuelle Langzeittrends und Erkenntnisse der Extremismusforschung vor aktuelle Entgrenzungsstrategien der verschiedenen Phänomenbereiche des Extremismus in den Blick genommen sowie Akteure der Bildungsund Präventionsarbeit zusammengebracht. Aktuelle Erkenntnisse der Extremismus-, Einstellungsund Bewegungsforschung wurden beispielsweise von Prof. Dr. Beate Küpper, Hochschule Niederrhein und Co-Autorin der Bielefelder "Mitte-Studien", sowie Julia Ebner vom Institute for Strategic Dialogue (London) vorgestellt. Das hohe Interesse aus der Zivilgesellschaft zeigt zudem die Wichtigkeit übergreifender Veranstaltungsformate, auch um zielgerichtete Vernetzungsmöglichkeiten zu schaffen. Gemeinsam wurden Perspektiven für die Stärkung des demokratischen Gemeinwesens aufgezeigt. Gleichzeitig ist die Tagung der Auftakt einer Intensivierung der bereits bestehenden Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung. Der Erfolg der Tagung war in dieser Hinsicht ein Meilenstein. 368 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Fachworkshop "Rechtsextremismus und Kampfsport" Mit dem Fachworkshop "Rechtsextremismus und Kampfsport" am 17. August 2022 in Düsseldorf informierten die Landeszentrale für politische Bildung und der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen weiter über dieses Themenfeld und unterstützten die Fachdiskussion über Möglichkeiten der Prävention. Bereits am 21. Juni 2021 hatten beide Stellen gemeinsam mit weiteren Partnern in Dortmund die Tagung "Gewalt - Dynamik. Rechtsextreme Aktivitäten im Kampfsport" ausgerichtet. Auf diese Weise machen sie darauf aufmerksam, dass Kampfsport für Rechtsextremisten strategische Bedeutung gewonnen hat: als ein Mittel, um junge Zielgruppen für den Rechtsextremismus zu erreichen und um Gewalt gegen die Polizei und andere politische Gegner zu professionalisieren. Der Fachworkshop in Düsseldorf ging aus der Tagung hervor und brachte Personen aus Zivilgesellschaft, Kommunen, Sicherheitsbehörden und Kampfsport zu intensiven Gesprächen zusammen. Sie waren sich bewusst, dass Sensibilisierung in diesem Feld einerseits bedeutet, unter den Akteuren des Kampfsports den Blick für rechtsextremistische Aktivitäten und mögliche Raumgewinne zu schärfen - andererseits dürften diese Sportarten keineswegs unter einen pauschalen Verdacht gestellt werden. Der Fachworkshop erörterte zum Beispiel Weiterbildungsangebote für Trainerinnen und Trainer im Kampfsport sowie Möglichkeiten für Clubs und Studios, ihre demokratische und antirassistische Haltung nach innen und außen deutlich zu machen. Die gemeinsamen Maßnahmen der Landeszentrale und des Verfassungsschutzes auf diesem Gebiet sollen fortgesetzt werden. Tagungsreihe "Extremismus-Prävention" 2022 haben vier Veranstaltungen der Tagungsreihe "Extremismus-Prävention" für Führungskräfte der Feuerwehr am Institut der Feuerwehr Nordrhein-Westfalen (IdF NRW) stattgefunden. Sie setzen die Maßnahmen fort, die die Landeszentrale für politische Bildung, der Verfassungsschutz NRW und die Feuerwehr Düsseldorf seit 2020 gemeinsam erprobt hatten. Die Tagungen "Extremismus-Prävention" sind seit November 2021 landesweit ausgerichtet und am IdF NRW in Münster angesiedelt. Alle Veranstaltungen umfassen Fachvorträge, die Einstiegsmotive in den Rechtsextremismus und den Islamismus beleuchten, Feindbilder analysieren und Methoden extremistischer Gruppierungen aufzeigen, mit denen insbesondere junge Menschen angesprochen werden. Hinzu kommt ein Beitrag, der ausgrenzende, pauschalisierende und verletzende Sprüche im Alltag (Stammtischparolen) in den Blick nimmt und mit den Teilnehmenden Möglichkeiten erörtert, ihnen entgegenzutreten. Den Abschluss der Veranstaltungen bildet jeweils das Gespräch mit einem Aussteiger aus dem Rechtsextremismus, der anhand seines Lebensweges von persönlichen Motiven und Erfahrungen der Radikalisierung berichtet. Dieses Gespräch wird durch das PrismaProjekt im Verfassungsschutz NRW ermöglicht. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 369 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Seit 2022 beteiligt sich der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen darüber hinaus an Qualifizierungen für Einheitsleiterinnen und Einheitsleiter der Freiwilligen Feuerwehr, die das IdF NRW neu konzipiert hat. In den Themenblock "Feuerwehr als weltoffene, wertegebundene und aufgeschlossene Institution" bringt der Verfassungsschutz eine Seminareinheit ein, die vor allem einer rechtsextremistischen Agitation und den Erscheinungsweisen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in scheinbar modernen, subtilen Formen kritisch nachgeht. Auch im Rahmen des Seminars für Einheitsleiterinnen und Einheitsleiter findet das Gespräch mit einem Aussteiger aus dem Rechtsextremismus statt. Zudem beteiligt sich der Verfassungsschutz an internen Fortbildungen zur Extremismusprävention für die Beschäftigten des Instituts der Feuerwehr NRW. Durch den vertrauensvollen Austausch aller Projektbeteiligten konnten Dozierende des IdF NRW zu VIR-Trainern qualifiziert werden, um ein ausgeweitetes Veranstaltungsangebot für die Zielgruppe "Feuerwehr" am IdF NRW etablieren zu können. Veranstaltungen im Bereich Islamismus und Auslandsbezogener Extremismus Unter der Überschrift "Gefahren für die Demokratie: Antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus" lud die Landeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit dem NRW-Verfassungsschutz Imame und muslimische Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu einer zweitägigen Veranstaltung am 14. Mai und 11. Juni 2022 nach Siegburg ein. Zu den behandelten Themen gehörten die Auswirkungen des antimuslimischen Rassismus und die Entstehung des Antisemitismus. Ferner wurden Möglichkeiten der Dekonstruktion antisemitischer und rassistischer Aussagen und Handlungen sowie Gegenstrategien thematisiert. Beratungskräfte des Standortes Köln stellten an einem Veranstaltungstag die Arbeit des Präventionsprogramms Wegweiser vor. Am 21. September fand in Düsseldorf die Fachtagung "Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland. Erkennen - Benennen - Handeln" der Landeszentrale für politische Bildung NRW statt. Zu den Kooperationspartnern gehörten SABRA (Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit und Beratung bei Rassismus und Antisemitismus) und das nordrhein-westfälische Ministerium des Innern. Expertinnen und Experten beleuchteten die auch als Graue Wölfe bekannte Ülkücü-Bewegung aus den Perspektiven von Wissenschaft, Praxis und Sicherheit. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Perspektive von Personengruppen, die von Gewalt und Anfeindungen der Grauen Wölfe betroffen sind. Das bisher eher wenig öffentlich diskutierte Thema stieß auf ein großes Interesse beim Publikum. 370 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 In 2022 wurde ebenfalls die erfolgreiche Reihe "Islam von Islamismus unterscheiden - Antimuslimischem Rassismus begegnen!" der Landeszentrale für politische Bildung NRW mit einer Tagung für pädagogische Fachkräfte am 29. September in Düsseldorf fortgeführt, die zusammen mit dem Integrations-, dem Schulund dem Innenministerium inhaltlich konzipiert wurde. An der Veranstaltung waren Beratungskräfte des Wegweiser-Standorts Düsseldorf und Kreis Mettmann mit einem Workshop aktiv beteiligt. Fachstelle Islamismusprävention Um eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis im Phänomenbereich Islamismus zu bilden, wurde im Präventionsreferat des NRW-Verfassungsschutzes die Fachstelle Islamismusprävention, kurz FIP, initiiert. Sie steht im Austausch mit Wissenschaftsnetzwerken wie CoRE NRW, nimmt Stellung zu geplanten Forschungsprojekten und ist Ansprechpartnerin für Forschende. Anfragen aus der Forschung werden von ihr bearbeitet und koordiniert. Die FIP vertritt den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz in Wissenschaftsnetzwerken, bezieht daraus Wissen für die eigene Arbeit und bringt ihre Expertise in die Wissenschaft ein. Aktuelle Erkenntnisse aus Studien zum Phänomenbereich und der Extremismusprävention liefern wichtige Impulse für die Präventionsarbeit. Die abgeschlossene Evaluation des Programmes Wegweiser wurde von der FIP begleitet und nachbereitet. So wirkt sie aktiv an der Umsetzung der Handlungsempfehlungen mit. Darüber hinaus unterstützt die FIP fachlich das Präventionsprogramm Wegweiser. Um die Beratungsstellen mit aktuellen Informationen zu den Themenfeldern Präventionsarbeit, Islamismus, Antisemitismus und auslandsbezogener Extremismus zu versorgen, erstellt die FIP alle zwei Monate einen Newsletter. Für die Beratungskräfte werden Fachfortbildungen zu den Phänomenbereichen Islamismus und Antisemitismus konzipiert. In Kooperation mit SABRA hat sie eine mehrtägige Fortbildungsreihe für die Beraterinnen und Berater durchgeführt. Aktuelle politische Ereignisse werden von ihr zeitnah aufgegriffen und Informationsveranstaltungen kurzfristig durchgeführt, um gezielt auf die Bedarfe der Beratungskräfte einzugehen. Prisma Das Projekt Prisma ist Teil des Verfassungsschutzes NRW und setzt auf Prävention durch Dialog. Prisma befasst sich mit den Biografien von Aussteigerinnen und Aussteigern aus extremistischen Szenen. Bei den Veranstaltungen treffen diese auf Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie auf Jugendliche und kommen ins Gespräch . Durch die Erzählungen der Aussteigerinnen und Aussteiger haben die Teilnehmenden die Gelegenheit, die Einstiegsmotive, den Lebensweg und die Erfahrungen in der jepräVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 371 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 weiligen Szene kennenzulernen. Dies kann einen enormen Wert für die Teilnehmenden haben. Im Rahmen der Gespräche findet zudem die Beleuchtung von Einund Ausstiegsprozessen statt. Dadurch können sowohl für die Ausgestiegenen als auch für die Teilnehmenden wertvolle Impulse entstehen. Derzeit sind im Prisma-Team Ausgestiegene aus dem Islamismus, dem Rechtsextremismus und dem Bereich der Grauen Wölfe beteiligt. Im Jahr 2022 fanden 40 Veranstaltungen statt. Beteiligung an Fachmessen Nach zweijähriger pandemiebedingter Pause fanden im Jahr 2022 Fachmessen wieder in Präsenz statt. Der NRW-Verfassungsschutz war bei der Bildungsmesse didacta und der Computerspielemesse Gamescom in Köln sowie dem Deutschen Präventionstag in Hannover mit jeweils eigenen Ständen vertreten. Er konnte sein breites Angebot im Bereich der Extremismusprävention einem großen Publikum präsentieren und wertvolle Kontakte knüpfen. didacta in Köln Bei der didacta im Juni lag ein Schwerpunkt auf dem Computerspiel "Leons Identität". Die Besucherinnen und Besucher konnten das vom Verfassungsschutz und der Staatskanzlei NRW entwickelte Spiel zum Thema Rechtsextremismus am Stand ausprobieren und sich über die Einsatzmöglichkeiten insbesondere im Unterricht informieren. Auch die Videos der Kampagne "Jihadi fool" und das Präventionsprogramm "Wegweiser - Gemeinsam gegen Islamismus" mit seinen 25 lokalen Beratungsstellen in NordrheinWestfalen stießen auf großes Interesse. An zwei Messetagen haben Beratungskräfte von Wegweiser konkrete Einblicke in die Angebote vor Ort gegeben. Über alle fünf Messetage hinweg wurden am Stand knapp Auf der Bildungsmesse didacta in Köln informierte der Verfassungsschutz NRW über seine Präventionsangebote 372 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 600 zum Teil intensive Gespräche geführt und über die Messe hinausgehende Kontakte geknüpft. gamescom in Köln Nachdem die gamescom pandemiebedingt in den vergangenen zwei Jahren nur digital stattfinden konnte, war in 2022 wieder eine Veranstaltung in Präsenz möglich. Der Verfassungsschutz NRW nahm an der weltweit größten Messe für interaktives Entertainment erneut mit einem eigenen Stand teil. Auf rund 25 Quadratmetern präsentierte er dort vom 24. bis 28. August den rund 250.000 Besucherinnen und Besuchern Das Videospiel "Leons Identität" fand bei den Gästen des gamescom-Standes großen Anklang das Videospiel "Leons Identität", um Jugendliche und junge Erwachsene zum Thema Rechtsextremismus zu sensibilisieren. Der Messestand war dabei wie das im Spiel gezeigte Jugendzimmer des Protagonisten Leon gestaltet. So war es den Besucherinnen und Besuchern möglich, noch realistischer in die Lebenswelt des Jugendlichen einzutauchen und sich in seine Lage zu versetzen. Zusätzlich zu den Spielstationen für "Leons Identität" gab es einen Quiz-Bereich, in dem die Standgäste ihr Wissen zum Thema Extremismus testen und vertiefen konnten. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 373 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Bei einem Quiz konnten die Besucherinnen und Besucher ihr Wissen zu Verfassungsschutzthemen testen An den fünf Messetagen haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes NRW mit den Angeboten am Stand und vertiefenden Gesprächen rund 3.400 Personen für das Thema Extremismus sensibilisiert. Die Gestaltung des Standes, die Angebote und generell die Präsenz des Verfassungsschutzes wurden von den Besucherinnen und Besuchern durchweg positiv bewertet. Vor allem die Möglichkeit, dem Verfassungsschutz auf Augenhöhe in lockerer Atmosphäre im Gespräch zu begegnen und auch kritische Fragen stellen zu können, wurde gelobt. 27. Deutscher Präventionstag in Hannover Der 27. Deutsche Präventionstag (DPT) mit dem Schwerpunktthema "Kinder im Fokus der Prävention" fand neben einem digitalen Programm auch als Präsenzkongress im Oktober 2022 statt. Am Stand des NRW-Verfassungsschutzes konnte sich das Fachpublikum über die verschiedenen Präventionsmaßnahmen informieren. Auch bei dieser Veranstaltung standen mit "Leons Identität" und "Jihadi fool" insbesondere die digitalen Angebote im Vordergrund, die über die Grenzen von Nordrhein-Westfalen hinaus nutzbar sind. Die vielen Gespräche mit anderen Präventionsakteuren und die positive Resonanz haben dabei verdeutlicht, wie wichtig der persönliche Austausch im Rahmen des DPT ist, um voneinander zu lernen und Synergien zu nutzen. 374 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Digital Education Day in Köln Im Dezember 2022 hat der NRW-Verfassungsschutz mit "Leons Identität" und "Jihadi fool" einen Teil seiner digitalen Angebote auf dem Digital Education Day 2022 in Köln vorgestellt und zahlreiche Gespräche mit Lehrkräften und Multiplikatorinnen und Multiplikatoren im Bildungsbereich geführt. Zudem wurde "Leons Identität" in einem Barcamp-Format als eigene Session angeboten. In dieser wurde mit den Teilnehmenden über den Nutzen von Computerspielen für den Unterricht diskutiert. Der Digital Education Day wird vom Amt für Informationsverarbeitung der Stadt Köln ausgerichtet und richtet sich an Lehrerinnen und Lehrer aller Schulformen und Hochschulen. Das Format soll laut Veranstalter bundesweit einmalig sein und die digitale Bildung insbesondere in Schulen voranbringen. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 375 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Digitale Angebote und Veröffentlichungen Um unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen, greift der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen auf verschiedene Medien zurück. Neben gedruckten Publikationen sowie Aufsätzen in wissenschaftlichen Sammelbänden und Zeitschriften werden digitale Medien und Plattformen genutzt. Leons Identität Der Verfassungsschutz NRW will mit Hilfe des Videospiels Leons Identität Jugendliche und junge Erwachsene zum Thema Rechtsextremismus sensibilisieren. Es soll ihnen helfen, rechtsextremistische Ideologie zu erkennen, ihre politische Urteilsfähigkeit zu schulen. Zugleich fördert das Spiel die Medienkompetenz und festigt das Demokratieverständnis. Dabei soll Leons Identität auch Personen an das Thema heranführen, die bislang wenig Nähe zum Bereich der politischen Bildung hatten. Es ist niedrigschwellig und soll die Entwicklung der eigenen Medienkompetenz unterstützen. Um den Einsatz in Schulen und Jugendarbeit zu ermöglichen, wurde zu Leons Identität pädagogisches Begleitmaterial entwickelt. Es ist neben der fachlichen Nutzung auch für die Verwendung im Bereich Medienkompetenz empfohlen. 376 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Möglichkeiten zum Download Leons Identität kann über die eigene Website leon.nrw.de für alle gängigen Betriebssysteme (Windows, MacOS, Linux) und die Spieleplattform Steam heruntergeladen werden. Das Spiel hat eine offizielle Altersfreigabe ab 12 Jahren und eignet sich für den Einsatz im pädagogischen Kontext. Das pädagogische Begleitmaterial steht auf der Website leon.nrw.de und im Broschüren-Service des Ministeriums für Schule und Bildung zum Download bereit. Videound Social-Media-Kampagne "Jihadi fool" Die 75 Videos der Kampagne "Jihadi fool" sind auf der Plattform YouTube weiterhin online abrufbar. Mit der Kampagne wendet sich der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz an ein breites Publikum mit einem Schwerpunkt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen und lädt zur Auseinandersetzung mit salafistischer Internetpropaganda und Extremismus ein. Mit Humor und Satire soll Aufmerksamkeit erzielt und mit Hintergrundvideos sensibilisiert werden. Die Videos erklären, woran man Extremismus erkennt, was genau am extremistischen Salafismus beziehungsweise Islamismus problematisch und warum die Demokratie schützenswert ist. Aktuell arbeitet der Verfassungsschutz daran, dass sich insbesondere die Hintergrundformate für die pädagogische Arbeit beispielsweise an Schulen optimal nutzen lassen. Jihadi fool im Netz Die Videos und weitere Inhalte der Kampagne sind online abrufbar unter > YouTube. www.youtube.com/c/jihadifool > Facebook: www.facebook.com/Jihadifool/ > Instagram: www.instagram.com/jihadifool/ > Twitter: twitter.com/jihadifool präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 377 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Aufsätze in Fachpublikationen "Einstiegsund Ausstiegsprozesse nordamerikanischer Rechtsextremisten. Eine Untersuchung anhand von vier Fallbeispielen aus gewaltund diskursorientierten Szenen" - unter diesem Titel blickt ein Fachaufsatz aus dem Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen auf die Biografien von Aussteigern aus dem Rechtsextremismus in den USA und Kanada: Derek Black, Frank Meeink, Arno Michaelis und Tony McAleer. Er analysiert ihre kindliche Sozialisation, die Beteiligung an rechtsextremistischen Netzwerken, deren Agitationsmuster und Erlebniswelten sowie die Prozesse der Distanzierung von solchen Szenen. Der Autor gleicht die Biografien der Fallbeispiele mit dem Erkenntnisstand zu Radikalisierungsprozessen in Deutschland ab. Sind die Szenen Nordamerikas, die sich in ihren Formen zum Teil deutlich von den deutschen unterscheiden, mit ebenso deutlich anders gelagerten Mustern der Radikalisierung verbunden? Erfordern Veränderungsprozesse des Rechtsextremismus, wie sie seit geraumer Zeit auch in Deutschland zu erkennen sind, somit ein grundlegend neues Repertoire der Prävention? Im Ergebnis überwiegen die Parallelen zu denjenigen Faktoren, die auch in der deutschen Szene als typisch gelten. Hierzu zählen das Erleben von Zugehörigkeit, Anerkennung und Orientierung, Erfahrungen von Bedeutung, Stärke und Macht in den Phasen des Einstiegs und der aktiven Beteiligung. Im Distanzierungsprozess sind Integrationsangebote aus dem nicht extremistischen Raum besonders wichtig. Sie vermitteln Anerkennungserfahrungen und bringen Feindbilder ins Wanken. Der Beitrag erscheint 2023 im Jahrbuch für Extremismusund Terrorismusforschung, herausgegeben von Hendrik Hansen und Armin Pfahl-Traughber. Darüber hinaus ist ein Band, der Mythen und Legenden zur Wewelsburg analysiert und an dem sich der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen mit zwei Fachaufsätzen beteiligt hat, im August 2022 in englischer Sprache erschienen: "Myths of Wewelsburg Castle. Facts and Fiction" (herausgegeben von Kirsten John-Stucke und Daniela Siepe). Die Wewelsburg bei Paderborn sollte zu einer zentralen Versammlungsstätte für höhere SS-Führer werden. Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten greifen heute regelmäßig das Sonnenrad 378 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 auf, das die SS im "Obergruppenführersaal" der Burg anbringen ließ und das in der rechtsextremistischen Szene als "Schwarze Sonne" bezeichnet wird. Einer der Beiträge aus dem Verfassungsschutz NRW geht den Verwendungen und Bedeutungen des Symbols im internationalen Rechtsextremismus nach. Der Autor stellt fest, dass im internationalen Raum auch in Quellen, die kritisch über Rechtsextremismus aufklären, Verzerrungen zur genauen Rolle der Wewelsburg und zum Ursprung ihres Zeichens auftauchten, die ungewollt zur Mythisierung beitragen könnten. Daher sollten Erkenntnisse, die den Mythos Wewelsburg einordnen und hinterfragen, auch international noch transparenter gemacht werden. Die englischsprachige Ausgabe des Bandes leistet dazu einen wichtigen Beitrag. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 379 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 380 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Über den Verfassungsschutz Über den Verfassungsschutz 381 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Über den Verfassungsschutz Verfassungsschutz ist nach dem Grundgesetz eine Aufgabe der Länder und des Bundes. Verfassungsschutzbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen ist das Ministerium des Innern. Die für den Verfassungsschutz zuständige Abteilung im Ministerium nimmt ihre Aufgaben gesondert von der Polizeiorganisation wahr. Die Verfassungsschutzbehörden der einzelnen Bundesländer sind gesetzlich dazu verpflichtet, untereinander und mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu kooperieren, wobei das Bundesamt die Aufgaben einer Zentralstelle auf Bundesebene übernimmt. Der Verfassungsschutz NRW verfügte im Jahr 2022 über rund 21,66 Millionen Euro, das sind rund 1,2 Millionen Euro mehr als im Vorjahr. Davon waren rund 9,8 Millionen Euro für die Prävention vorgesehen. Zudem waren ihm für das Berichtsjahr 556 Stellen zugewiesen. Aufgaben Der Verfassungsschutz hat die Aufgabe, bereits im Vorfeld von konkreten Gefährdungslagen Informationen zu verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu beschaffen, zu sammeln und auszuwerten. Dazu gehören insbesondere Aktivitäten, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder darauf abzielen, die Amtsführung von Verfassungsorganen des Bundes oder eines Landes ungesetzlich zu beeinflussen. Des Weiteren betrifft dies Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind, oder sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht. Dabei verfolgt der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz mit den zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln eine Dreifachstrategie aus Früherkennung, Frühwarnung und Prävention. Als Frühwarnsystem hat der Verfassungsschutz die Aufgabe, mögliche verfassungsfeindliche Bestrebungen zu identifizieren, deren Ursachen zu analysieren, Entwicklungen zu prognostizieren und Politik, Verwaltung und Gesellschaft darüber zu informieren. Er wirkt ferner daran mit, drohenden politischen und wirtschaftlichen 382 Über den Verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Schaden durch illegitime oder illegale Aktivitäten fremder Mächte in Deutschland zu verhindern. Als Früherkennungssystem unterstützt der Verfassungsschutz andere Behörden bei der rechtzeitigen Erkennung von Gefahren, die im Einzelfall aus derartigen Bestrebungen erwachsen; dazu gehört es auch, extremistische Personen zu erkennen, die potenziell Gewalt anwenden könnten. Im Rahmen der Prävention schafft der Verfassungsschutz einerseits durch Aufklärung der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Gefahren des Extremismus, um die Demokratie von innen heraus zu stärken (primäre Prävention). Andererseits bietet er durch gezielte Angebote Schutz vor dem Einstieg in extremistische Szenen (sekundäre Prävention) und unterstützt den Ausstieg aus ihnen (tertiäre Prävention). Diese personenbezogenen Präventionsmaßnahmen werden vor allem durch das WegweiserProgramm und die Aussteigerprogramme realisiert. Schließlich sensibilisiert der Verfassungsschutz auch die Wirtschaft vor den Gefahren durch Spionage und Sabotage, um so deren Eigenschutzmechanismen zu aktivieren. Kontrolle des Verfassungsschutzes Die Aufgaben und Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde sind im Verfassungsschutzgesetz NRW (VSG NRW) definiert. Zugleich ist dort geregelt, durch wen und wie ihr Handeln kontrolliert wird, denn eine rechtliche und politische Kontrolle der Verwaltung sind konstitutive Merkmale des Rechtsstaates. Dies gilt auch für den Verfassungsschutz. Da die Angelegenheiten des Verfassungsschutzes aufgrund ihrer besonderen Geheimhaltungsbedürftigkeit in der Regel nicht öffentlich im Parlament oder seinen Ausschüssen beraten werden können, gibt es für die Kontrolle besondere Stellen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG). Der Landtag Nordrhein-Westfalen bestimmt zu Beginn jeder Wahlperiode die Anzahl der Mitglieder des PKG und wählt diese aus seiner Mitte. Das PKG überwacht umfassend die Tätigkeit des Verfassungsschutzes. Für die Kontrolle der Telekommunikationsüberwachungsund Finanzermittlungsmaßnahmen des Verfassungsschutzes bestellt das PKG in jeder Legislaturperiode die sogenannte G 10-Kommission. Diese ist, anstelle eines Richters, auch für die Genehmigung dieser Maßnahmen zuständig. Über den Verfassungsschutz 383 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Verarbeitung personenbezogener Daten Zur Erfüllung der übertragenen Aufgaben dürfen Verfassungsschutzbehörden unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen personenbezogene Daten erheben und verarbeiten. Die Verfassungsschutzbehörde Nordrhein-Westfalen nutzt dazu eigene Dateien sowie das "Nachrichtendienstliche Informationssystem und Wissensnetz" (NADIS WN), auf das die Verfassungsschutzbehörden der Länder und des Bundes gemeinsam Zugriff haben. Erfasst werden insbesondere Daten zu Personen, über die Erkenntnisse im Zusammenhang mit politischem Extremismus vorliegen. Getrennt davon werden Daten gespeichert zu Personen, die wegen ihres Umgangs mit Verschlusssachen oder ihrer Tätigkeit in einem sicherheitsempfindlichen Bereich einer Sicherheitsüberprüfung unterliegen. Die Durchführung solcher Überprüfungen erfolgt mit Zustimmung der Betroffenen und macht rund 90 Prozent aller NADIS-Einträge aus NordrheinWestfalen aus. Öffentlichkeitsarbeit Eine informierte, aufgeklärte Öffentlichkeit ist eine Grundvoraussetzung, um die Gesellschaft vor extremistischen Bestrebungen zu schützen. Daher versteht der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen den Leitspruch "Verfassungsschutz durch Aufklärung" als einen wesentlichen Arbeitsauftrag. Damit Bevölkerung, Politik und Medien Anzeichen für Extremismus frühzeitig erkennen können, leistet der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz intensive Aufklärungsarbeit und bietet eine breite Palette verschiedener Informationsmittel an. Dazu gehören Vorträge und Tagungen, Broschüren und verschiedene Online-Angebote. Einen umfassenden Aufklärungsbeitrag, der alle verfassungsschutzrelevanten Themen umfasst, liefert der jährliche Verfassungsschutzbericht. Die Mitglieder des nordrheinwestfälischen Landtags sind die ersten Adressaten des jährlichen Berichts. Die Jahresberichte dienen Behörden und anderen öffentlichen Stellen als Nachschlagewerke zum Extremismus in NRW. Sie werden zudem von der Öffentlichkeit stark nachgefragt. Informationen zu aktuellen Schwerpunktthemen finden sich in Berichten und Broschüren, die über die Internetseite des Ministeriums des Innern unter ww.im.nrw/verfassungsschutz abrufbar und kostenfrei bestellbar sind. 384 Über den Verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Über den Verfassungsschutz 385 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Index Almanya Demokratik Ülkücü Türk Kennzeichnung Dernekleri Federasyonu (ADÜTDF) 65 Al Mustafa Gemeinschaft e.V. 246 Strukturen und Organisationen, deren Alperen 195 Verfassungsfeindlichkeit bereits eral-Qaida 40, 41, 65, 216, 229 wiesen ist, werden im Folgenden im al-Qaradawi 68, 261 ff. Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die al-Quds-Brigaden (Sarayat Verfassungsfeindlichkeit zwar noch al-Quds) 238 nicht erwiesen ist, aber hinreichend al-Quds-Tag 68, 243 ff. gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte Alternativer Kulturkongress 89 einen Verdacht auf verfassungsfeindalternativ, unabhängig, liche Bestrebungen begründen, werfortschrittlich (AUF) 174 f. den die betroffenen Organisationen in ANF 193 ff., 199 Kursivdruck gesetzt. an-Nabhani 248, 250 Ansaar Düsseldorf e.V. 231 Beispiel: Partei X, Partei Y Ansaar International e.V. 231 Ansarul Aseer 230 Antimuslimischer Rassismus 370 f Antisemitismus 250, 351, 353, 370 f. Symbole API 337, 346 ff., 360 Applied Scholastics 281 ...ums Ganze! 187 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 65, 192, 209, 268, 313 A ar-Rahman-Moschee 258 Association for Better Living Abraham-Abkommen 68 and Education 281 Adil Düzen 67, 264 f. ATIB 193 ff., 199 ADÜTDF 193 ff., 199 Atomwaffen Division (AWD) 137 Ahl al-Bait-Zentrum 240 Aufbruch Leverkusen e.V. 49, 77, 79, 84, AKP 316 85 ff., 151, 184 Aktionsgruppe Düsseldorf 112 Aussteigerprogramm Al Asraa - Die Gefangenen 230 Islamismus (API) 337, 346, 348, 363 Almahdy Kulturverein e.V. 240 Autonome 28, 180 f. autonomer Linksextremismus 158 386 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 autonome, postautonome und anarchis- D tische Szene 51, 184, 185, 187 ff., 364 autonome Antifa-Gruppen 189 David Miscavige 278 Avrupa Nizam-i Alem Da'wa 216, 218, 221 f., 226 f. Federasyonu (ANF) 65 ddbradio 140 Avrupa Türk Islam Kültür DDOS 325 Dernekleri Birligi (ATIB) 65 Deep State 138 Delegitimierer 12 f., 59, 61 f., 73, 139, 143, B 150, 151, 152 ff. Delegitimierungsund Basidsch-Miliz 67 rechtsextremistischen Szene 151 B&H 115 Der III. Weg 49, 59, 76, 79, 92 ff., 97, 110 ff. Bismarcks Erben 124 Der Schelm 60 Blickpunkt TV 80 Der Volkslehrer 60, 151 Blood and Honour (B&H) 115, 117 Der Weg zum Glücklichsein Blood and Honour-Division (The Way To Happiness) 280 Deutschland 115 Deutsche Depeschen Bildund Blue Springs LTD (ehemals Tonagentur/ddb 123 Afrikabrunnen e.V.) 232 f. Deutsche Kommunistische Boycott, Divestment, Sanctions (BDS) 63 Partei (DKP) 51, 159 Bruderschaft Deutschland 12, 128 ff., Deutsche Muslimische 132 f. Gemeinschaft (DMG) 258 Bülten 195 Deutsche Stimme 80, 82 DGED 317 C DGST 317 DHKP-C 65, 193, 200 ff., 364 C18 115 f. Dianetik 279 Celebrity Centre Rheinland Die Barmherzigen Hände 236, 238 Scientology Kirche e.V. 278 Die Erbengemeinschaft Jakob e.V. 123 Cemaleddin Kaplan 254 f., 257 die plattform Köln 182 Church of Scientology 278 Die Rechte 12, 49, 59 f., 74 f., 81, 83, 98 ff., Combat 18 (C18) 115 110 ff, 119, 132, 134, 143 Compact-Magazin 77, 86 Die Ruhrpott Uschis 130 Corona Rebellen Düsseldorf 132, 153 Distributed Denial of Service 325 Council of European Muslims (CEM) 258 Division Germania 117 Criminon 280 DKP 159, 168 f., 171 ff., 176, 188 DMG 258 f., 261 ff. Index 387 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 E Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE) 258 Ein Prozent e.V. 141 Föderation klassenkämpferischer Erbakan-Stiftung 265 Organisationen (FKO) 158, 181 Erbakan Vakfi Foundation for a drug-free world 280 (Erbakan Stiftung - EV) 264 Free our Sisters 230 Erlebniswelt 95, 105, 114, 378 Freie Düsseldorfer 153 Erlebniswelt Rechtsextremismus 118, 347 Freie Sachsen 77 Ethnopluralismus 107 freie Szene der Ülkücü-Bewegung Ewiger Bund 124 65, 192 ff., 197 ff. Extremismus der Mitte 368 Freies Netz Süd 92 extremistischer Salafismus Freilich Frei 94 14, 216, 218, 220 ff., 228 f., 230 ff. Freundeskreis UN e.V. 135 extremistisch-salafistische Furkan-Gemeinschaft 272 ff. Bestrebungen 65, 224, 226 Furkan Kulturund Bildungszentrum 272 Furkan Nesli Dergisi (Magazin der F Generation Furkan) 272 Furkan Stiftung für Bildung und Dienst Fachstelle Islamismusprävention 371 (Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) 272 Fadlallah 245 FurkanTV 272 Fatime Versammlung e.V. 217, 244 Furkan Vakfi (Furkan Stiftung) 272 Federasyona Civaken Azad yen Mezopotamy li NRW - FED-MED e.V. 204 G First Class Crew - Steeler Jungs 128 ff. FKO 181 f. GdVuSt 125 Flügel 88 f., 91 Geeinte deutsche Völker und Föderation der demokratischen Stämme (GdVuSt) 125 Aleviten e.V. (FEDA) 205 Gegenuni 142 Föderation der TürkischGemeinsames TerrorismusDemokratischen Idealistenvereine abwehrzentrum 347 in Deutschland e.V. (ADÜTDF) 192 Gemeinschaft der Gesellschaften Föderation der TürkischKurdistans (KCK) 204 Demokratischen Idealistenvereine Gemeinschaft Libanesischer in Europa e.V. (Almanya Demokratik Emigranten e.V. in Bottrop Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu - (Imam Rida-Zentrum) 240 ADÜTDF) 194 Gemeinschaft libanesischer Föderation der Weltordnung in Europa Emigranten e.V. in Dortmund (Avrupa Nizam-i Alem (Ahl al-Bait-Zentrum) 240 Federasyonu - ANF) 192, 194 Generation Islam (GI) 248, 250, 251 388 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Gerila TV 206 Institut für Staatspolitik 89 Goyim Partei Deutschland (GPD) 60, 144 Interventionistische Linke (IL) Graue Wölfe 158, 162, 182, 187 15, 64, 192, 196, 336 f., 354, 370, 372 IOC 327 Gruppe S. 126 f., 137, 139 IS 40 f., 65, 216 f., 227, 229, 231, 233, 346 Grup Yorum 202 f. Islamische Gemeinde Gülen-Bewegung 313 Kurdistans (CIK) 205 Islamisches Kulturzentrum in H Münster e.V. 258 Islamischen Gemeinschaft der HAMAS 67, 236 ff., 258 f., 270 schiitischen Gemeinden Deutschlands Hammerskin-Nation (HSN) 114 ff. e.V. (IGS) 246 Hizb Allah 14, 65, 217, 240 ff. Islamische Revolution 244 Hizbullah (Partei Gottes) 268 Islamischer Staat (IS) Hizb ut-Tahrir (HuT) 248 40 f., 65, 216 f., 227, 229, 231, 233, 346 HoGeSa 128 Islamisches Zentrum Hamburg (IZH)247 Hooligans Europe United 128, 132 Islamischer Kulturverein Hüseyin Velioglu 268, 270 Nuralislam 217, 227 HuT 248 ff. Ismail Aga Cemaati (IAC) 264, 265, 267 Huttroper Jungs 129 IZH 247 Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden 237 I J IAC 266 IBD 106 f., 109 JIB 313 ICCB 254 Jihadi fool 372 Ideale Orgs 279 Jugend für Menschenrechte Identitäre Bewegung Deutschland (Youth for Human Rights) 280 e.V. (IBD) 49, 106 Junge Nationalisten (JN) 81, 101, 140 Identitäre Bewegung 77 f., 141, 143 Justizopferhilfe (JOH) 125 Identitären Bewegung NordrheinWestfalen 106 K IGS 246 f. IL 158 f., 162 f., 182 K2 162 f., 182 Imam Mahdi-Zentrum (IMZ) Kalifatsstaat 254 ff. 14, 217, 240, 244 ff. Kameradschaft Aachener Imam Rida-Zentrum 240 Land (KAL) 102 IMZ 14, 217, 240, 244 ff. Kameradschaften 98 Indymedia 184 Kameradschaft Hamm (KS Hamm) 102 Index 389 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Kampf der Nibelungen 103 MB 236, 259 ff., 263 Kaplan-Verband 254 Metin Kaplan 254, 256 f. Kategorie C 151 MGB 264 f. Kommission für Verstöße der MHP 196 Psychiatrie gegen Menschenrechte Milli Görüs 264 ff. (KVPM) 280 Milli Görüs-Bewegung 66, 254, 264 ff. Konfederasyona Civaken Milliyetci Hareket Partisi 196 Kurdistaniyen li Almanya - KON-MED 204 f. Mindener Jungs 116, 118 KONGRA-GEL 206 MIT 313 Kongress der kurdisch-demokratischen MLPD 159, 175 ff., 188 Gesellschaft Kurdistans in Europa Mönchengladbach steht auf 128, 130 (KCDK-E) 204 Muslimbruderschaft (MB) 236 f., Königreich Deutschland (KRD) 124 248, 258 ff. KON-MED 204 f. KRD 124 N Kurdische Frauenbewegung in Europa (AKKH / TJKE) 205 Narconon 280 Kurdistan-Report 206 Nationaler Widerstand Dortmund Kuytul 272 ff. (NWDO) 102 Kvltgames 141 f. Necmettin Erbakan 66, 264 f. Neonazis 80, 92, 98 f., 110 ff. L Neonazi-Szene 59, 110 ff. Neue Rechte 72, 88, 107 Landesverband NRW der Linksjugend Newaya Jin 206 ['solid] 166 N.O.B. 118 Left 337, 347, 360, 364 NotPetya 323 Leons Identität 372 NPD 49, 59, 75, 80 ff., 92, 101, 104 f., 107, LIES!/DWR (Die Wahre Religion) 112, 134, 140 216, 218, 226 NRW stellt sich quer 128, 132 linksautonome Szene 180 ff. NSDAP 81, 93 Linksjugend ['solid] NRW 165 ff. N.S. Heute (Nationaler L. Ron Hubbard 278 Sozialismus Heute) 103, 105, 134 Lukreta 107 NWDO 102 Lunikoff 119 O M Oberberger 118 Marxistisch-Leninistische Partei Oidoxie 117 f. Deutschlands (MLPD) 51, 63, 159, 174 Online-Da'wa 216, 218, 221 f. 390 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 P Revolutionäre Volksbefreiungspartei/Front (Devrimci Halk Kurtulus PartisiPalästinensische Gemeinschaft Cephesi - DHKP-C) 65, 192, 200 in Deutschland e.V. (PGD) 236, 238 Revolutionsgarde 241 Palästinensischer Islamischer Jihad RI 252 (PIJ) 238, 270 Rock Hate 117, 134 f. Partei der Nationalistischen Rote Fahne Magazin 174 Bewegung 196 Rotfüchse 174 PEGIDA 128 Pegida NRW 119, 128, 131 f. S PGD 236, 238 PIJ 238 f. Saadet Partei (Saadet Partisi - SP) PKK 13, 38, 184, 186, 192, 205 ff., 364 264 ff. Prisma 371 Sag NEIN zu Drogen, sag JA Proliferation 318 zum Leben 280 Pro NRW 84, 87 Saiyid Qutb 66 Proto 143 salafistischer Jihadismus 260 salafistische Szene 222, 232 Q Schwesternschaft Deutschland 130 Scientology Kirche Berlin e.V. (SKB) 282 QAnon 138 Scientology Kirche Deutschland Quds Force 241 e.V. (SKD) 282 Scientology Kirche Düsseldorf e.V. 278 R Selbstverwalter 35, 121 Serxwebun 206 Realität Islam (RI) 248, 250, 252 S.H.A.E.F. Regierungsinstitution Rebell 174 Deutschland 122 f. Recherche Kollektiv NRW 158, 181 Skinhead-Szene 115 rechtsextremistische Mischszene Sleipnir 117 75, 128 ff. Smart Violence 117 rechtsextremistische SO 278 ff. Skinhead-Szene 114, 116 Sozialistische deutsche Referans 195 Arbeiterjugend (SDAJ) 168, 172 Reichsbürger und Selbstverwalter 12, 35 Sozialistische Organisation 49, 51, 61, 73, 120 ff., 126 ff., 137 ff., 150 Solidarität (SOL) 167 Reichstrunkenbold 118 SP 265 ff. Revolte Rheinland 107 Spurwechsel 337, 343, 347, 359 ff., 362 Staatenlos.info 132 Sterka Ciwan 206 Index 391 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Sterk TV 206 Verfassunggebende Street-Da'wa 216, 218 ff., 227 Versammlung (VV) 61, 123, 132, 140, 151 Sturmwehr 117 verfassungsschutzrelevante subkulturell geprägter Delegitimierung des Staates 161 Rechtsextremismus 114 ff. Verschwörungsmythen 138, 347 Sultan-Fatih-Jugend Bielefeld (Sultan VGN 112 Fatih Genclik Bielefeld - BSFG) 264 VHD 125 VIR 338, 340, 343, 356, 358, 366 T VoA-Sektion Preussen 116, 118 Voice of Anger (VoA) 116 Taliban 270 völkisch-nationalistischer Tauhid Germany 230 Personenzusammenschluss in der AfD, Tevgera Ciwanen Soresger - TCS, 205 ehemals Flügel 28, 72, 77 f., 89 ff. TH 268 ff. Volksgemeinschaft Niederrhein Turan 193, 195 (VGN) 111, 132 Türkische Hizbullah (TH) 268 f. Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) 204 U VV 61, 123 f. Ülkücü-Bewegung 15, 52, 64 f., 192 f., W 195 ff., 316, 370 UN Waisenkinderprojekt Libanon 135 Unabhängige Nachrichten (UN) 61, 134 f. e.V. (WKP) 245 Union der Türkisch-Islamischen Wasatiya 262 Kulturvereine in Europa e.V. (Avrupa Wegweiser - Gemeinsam gegen Türk Islam Kültür Dernekleri Birligi - Islamismus 350, 366 ATIB) Weisse Wölfe 192, 194 60, 117 unsere Zeit wenea-Akademie 168 f., 172 123 UZ White Rex 172 78 Windecker 94 V Wolfsgruß 196 World Institute of Scientology Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) 124 Enterprises (WISE) 281 Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (Ädegslami cemiyet ve ce- Y maatleri birligi -- ICCB) 254 Verband der Studierenden aus Yeni Özgür Politi 206 Kurdistan (YXK) 205 Yeni Refah Partisi (YRP) 264 392 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Z Zentralverband der Ezidischen Vereine e.V. (NAV-YEK) 205 Zero-Day-Exploits 321 ZMD 263 Index 393 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 Impressum Herausgeber Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen Friedrichstraße 62-80 40217 Düsseldorf Telefon: 0211/871-01 Telefax: 0211/871-3355 poststelle@im.nrw.de www.im.nrw Redaktion Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen Telefon: 0211/871-2821 Telefax: 0211/871-2980 kontakt.verfassungsschutz@im1.nrw.de www.im.nrw/themen/verfassungsschutz Bestellservice info.verfassungsschutz@im1.nrw.de www.im.nrw/publikationen Stand: April 2023 Druck: Silber Druck oHG Fotos: picture alliance/dpa, Jochen Tack, Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen Hinweis Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlbewerberinnen und Wahlbewerbern oder Wahlhelferinnen und Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für die Landtags-, Bundestagsund Kommunalwahlen sowie für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Eine Verwendung dieser Druckschrift durch Parteien oder sie unterstützende Organisationen ausschließlich zur Unterrichtung ihrer eigenen Mitglieder bleibt hiervon unberührt. Unabhängig davon, wann, auf welchem Weg und in welcher Anzahl diese Schrift dem Empfänger zugegangen ist, darf sie auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme des Ministeriums des Innern NordrheinWestfalen zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Der Inhalt dieser Broschüre wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen Friedrichstraße 62-80 40217 Düsseldorf Telefon: 0211 871-01 Telefax: 0211 871-3355 poststelle@im.nrw.de www.im.nrw