Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2020 www.im.nrw Impressum Herausgeber Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen Friedrichstraße 62-80 40217 Düsseldorf Telefon: 0211/871-01 Telefax: 0211/871-3355 poststelle@im.nrw.de www.im.nrw Redaktion Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen Telefon: 0211/871-2821 Telefax: 0211/871-2980 kontakt.verfassungsschutz@im1.nrw.de www.im.nrw/verfassungsschutz Bestellservice bestellung.verfassungsschutz@im1.nrw.de www.im.nrw/publikationen Stand: Juni 2021 Druck: Schipplick + Winkler Printmedien GmbH Lübeck, www.suw-printmedien.de Fotos: picture alliance/dpa, Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen Vorwort Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle geschrieben, dass Extremisten die Corona-Krise nutzen werden, um staatliche Maßnahmen zu diskreditieren. In den vergangenen Monaten sind nicht nur staatliche Maßnahmen angegriffen worden, sondern auch der Staat selbst. Was heißt das, "der Staat"? Dieses Wort meint uns alle: unser Land und uns, die wir in diesem Land leben. Alle Bürgerinnen und Bürger und alle, die Verantwortung tragen in Politik und Verwaltung. Das heißt, dass ein Bürgermeister bedroht wird, weil er Schülerinnen und Schüler dazu aufruft, einen Mund-NasenSchutz zu tragen. Dass an Impfzentren Polizistinnen und Polizisten verstärkt Streife fahren. Dass Journalistinnen und Journalisten so sehr bedroht werden, dass "Reporter ohne Grenzen" Deutschland in seinem Pressefreiheitsranking herunterstuft. Die Pandemie ist eine Herausforderung für unsere Demokratie und für den Verfassungsschutz. Nach unseren Erkenntnissen ist fast jeder zehnte Demonstrant bei Querdenken ein Rechtsextremist. Unter Berufung auf eine angebliche "Corona-Diktatur" versuchen sie, das Vertrauen in staatliche Maßnahmen zu untergraben - mit dem Ziel, demokratiefeindliche Positionen zu verankern. Auf den Demonstrationen vereinen sie sich mit Esoterikern und Wutbürgern. Diese extremistischen Querschläger schimpfen nicht nur auf den Staat, sondern wollen ihn sogar abschaffen. Für diese neue Form des Extremismus wurde ein neuer Phänomenbereich geschaffen: verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates. Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus verbreiten sich immer mehr über das Internet. Rechtsextreme treffen sich in virtuellen Gruppen und bestärken sich in ihrem Hass auf das vermeintlich Fremde oder den "Staat". Das Netz schafft neue Tatorte, wie die Drohmails des sogenannten NSU 2.0 zeigen. Damit es dort nicht unbemerkt zu Radikalisierungen kommt oder Verschwörungsmythen sich zu Feindbildern verfestigen, ist der Verfassungsschutz gefordert. Um interne Zirkel zu beobachten, muss er nachrichtendienstliche Mittel einsetzen. 2 Vorwort Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Islamisten vernetzen und radikalisieren sich ebenfalls zunehmend im Internet. So unterschiedlich die islamistischen Anschläge waren: Die Täter haben sich im Netz aufgeheizt, bevor sie in Dresden, Paris, Nizza und Wien loszogen, um Menschen zu töten. Im linksextremistischen Spektrum wird Gewalt weiterhin als legitimes Mittel angesehen. Polizistinnen und Polizisten angreifen, auf Plakaten zu Straftaten aufrufen, Bäume ansägen, Infrastruktur lahmlegen: Keine noch so vermeintlich gute Sache rechtfertigt illegales oder radikales Handeln. Ob bei Querdenken-Demos oder im Netz: Extremisten aus unterschiedlichen politischen Spektren kommen sich näher. Schon seit Längerem beobachtet der Verfassungsschutz, dass Mischszenen entstehen, in denen beispielsweise Rechtsextremisten mit Rockern und Hooligans gemeinsame Sache machen. Extremisten schwächen den Staat und wollen mit Gewalt ihre Interessen für einen Systemwechsel durchsetzen. Dabei knüpfen sie vordergründig an gesellschaftlich kontrovers diskutierte Themen an, wie beispielsweise Tierschutz, Impfungen, Klimaschutz oder Migration. Manche wenden sich aber auch offen gegen "den Staat". Noch einmal: Der Staat aber, das sind wir alle. Wir alle müssen dafür sorgen, dass die ideologische Brille abund die demokratische Brille aufgesetzt wird. Die Pandemie fordert uns heraus, die demokratischen Werte zu schützen und sich zur Demokratie zu bekennen. Der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen sieht es als eine seiner wichtigsten Aufgaben an, dafür zu sorgen, dass die Menschen in unserem Land Gefahren für unsere Demokratie erkennen und damit verantwortungsvoll umgehen. Auch ich möchte Ihnen Mut zusprechen, sich als Demokratin oder Demokrat zu bekennen. Dieser Verfassungsschutzbericht soll dafür eine Grundlage geben, Transparenz schaffen und nicht zuletzt das Vertrauen in eine funktionierende, lebendige Gesellschaft und in unsere Demokratie stärken. Herbert Reul Minister des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen Vorwort 3 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Inhaltsverzeichnis Vorwort 2 Vorbemerkung 8 Kompakt 12 Extremismus in Zahlen 19 Mitgliederzahlen und -potenziale in Nordrhein-Westfalen 28 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) 30 Verschwörungsmythen - eine Gefahr für die Demokratie 47 Rechtsextremismus 59 Zusammenfassung 60 Im Fokus: Rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei 62 NPD 66 Aufbruch Leverkusen e.V. 74 Der Flügel 78 Der III. Weg 82 Die Rechte 88 Identitäre Bewegung Deutschland e.V. (IBD) 98 Neonazis 104 Subkulturell geprägter Rechtsextremismus 110 Reichsbürger und Selbstverwalter 118 Rechtsextremistische Mischszene 126 Rechtsextremistische Zeitschriften 134 Rechtsterrorismus 138 4 InhaltsVerzeIchnIs Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Linksextremismus 145 Zusammenfassung 146 Im Fokus: Entgrenzungsversuche im Antirassismus und Ansätze linksextremistischer Radikalisierung 150 Zusammenschlüsse innerhalb der Partei DIE LINKE 158 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 166 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 170 Autonome Linksextremisten 176 Auslandsbezogener Extremismus 187 Zusammenfassung 188 Im Fokus: Entgrenzung der Ülkücü-Bewegung 190 Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe) 194 Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKP-C) 200 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) und unterstützende Organisationen 204 Islamismus 215 Zusammenfassung 216 Im Fokus: Jihadistische Anschläge in Europa 218 Im Fokus: Betätigungsverbot gegen die Hizb Allah 222 Extremistischer Salafismus 228 HAMAS 238 Hizb Allah (Partei Gottes) 242 Hizb ut Tahrir (Islamische Befreiungspartei - HuT) 248 Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 254 Muslimbruderschaft (unter anderem Deutsche Muslimische Gemeinschaft, DMG) 258 Milli Görüs-Bewegung 264 Türkische Hizbullah (TH) 268 InhaltsVerzeIchnIs 5 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Furkan-Gemeinschaft 272 Palästinensischer Islamischer Jihad (Harakat al-Jihad al-Islami fi-l-Filastin - PIJ) 278 Extremismus im Internet 283 Scientology Organisation (SO) 297 Spionageabwehr, Cyberabwehr und Wirtschaftsschutz 307 Zusammenfassung 308 Im Fokus: Unternehmen und Institutionen im Fokus staatlicher Hacker 310 Spionage, politische Einflussnahme ausländischer Staaten und Proliferation 318 Wirtschaftsschutz und Geheimschutz in der Wirtschaft 328 Präventionsarbeit und Aussteigerprogramme 335 Zusammenfassung 336 Im Fokus: Symbolische Entgrenzung - Prävention und neue Uneindeutigkeiten 338 Übergreifende Konzepte und Vernetzung 342 Präventionsprogramm Wegweiser - Gemeinsam gegen Islamismus 350 VIR - Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen 356 Aussteigerprogramme 360 Fachtagungen und Kongresse 368 Vorträge und Fortbildungen 370 Digitale Angebote und Veröffentlichungen 376 6 InhaltsVerzeIchnIs Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Über den Verfassungsschutz 385 Index 390 InhaltsVerzeIchnIs 7 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Vorbemerkung Der vorliegende Verfassungsschutzbericht bezieht sich auf Ereignisse und Beobachtungen im Jahr 2020. Zeitlich danach liegende Vorfälle und Entwicklungen werden punktuell angesprochen, wenn sie von größerer Bedeutung sind. Hinweise auf Geschehnisse außerhalb Nordrhein-Westfalens sind aufgenommen, soweit sie für das Verständnis des Berichts erforderlich sind. Ergänzende Informationen finden Sie im Internet unter www.im.nrw/themen/verfassungsschutz. Grundlagen und Zielsetzung des Verfassungsschutzes Nach SS 3 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen (VSG NRW) hat der Verfassungsschutz die Aufgabe, bereits im Vorfeld von konkreten Gefährdungslagen Informationen zu sammeln und auszuwerten, die Bestrebungen oder Tätigkeiten betreffen, die > gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder > darauf abzielen, die Amtsführung von Verfassungsorganen des Bundes oder eines Landes ungesetzlich zu beeinträchtigen, oder > durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder > gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind oder > sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht darstellen. Der Verfassungsschutz sammelt die für ihn relevanten Informationen und wertet sie aus, sobald tatsächliche Anhaltspunkte den Verdacht einer verfassungsfeindlichen Bestrebung oder Tätigkeit im vorgenannten Sinne begründen. Dabei wird der Verfassungsschutz in seiner Eigenschaft als Frühwarnsystem des demokratischen Rechtsstaates schon im Vorfeld konkreter Gefahren oder Straftaten 8 Vorbemerkung Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 tätig. Bei der Wahrnehmung seines gesetzlichen Auftrags richtet er seinen Fokus schwerpunktmäßig auf Strukturen und Organisationen, insbesondere solche, die gewaltorientiert sind. Über seine Erkenntnisse und Einschätzungen informiert der Verfassungsschutz die Öffentlichkeit regelmäßig und gebündelt in seinem jährlichen Verfassungsschutzbericht und darüber hinaus bei bedeutsamen konkreten Anlässen. Eine Berichterstattung im Verfassungsschutzbericht setzt voraus, dass aufgrund hinreichend gewichtiger tatsächlicher Anhaltspunkte ein Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen besteht. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y Bei "Bestrebungen" handelt es sich gemäß SS 3 Abs. 5 VSG NRW um politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der gegen die in SS 3 Abs. 1 VSG NRW genannten Schutzgüter gerichtet ist. Ein "Personenzusammenschluss" setzt mehrere Personen voraus, die gemeinsam handeln. Einzelpersonen stehen dann unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes, wenn ihr Verhalten auf die Anwendung von Gewalt zur Erreichung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele gerichtet ist oder wenn von ihnen eine erhebliche Gefahr für eines der Schutzgüter des Verfassungsschutzgesetzes ausgeht. Vorbemerkung 9 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Im Zentrum steht der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie bildet den Kern des Grundgesetzes, der gemäß Art. 79 Abs. 3 GG gegen jede Veränderung geschützt ist. SS 3 Abs. 6 VSG NRW zählt hierzu im Einzelnen folgende Grundsätze: > das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, > die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, > das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, > die Ablösbarkeit der Regierung und deren Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, > die Unabhängigkeit der Gerichte, > den Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft und > die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte. Auswärtige Belange der Bundesrepublik und Völkerverständigung Daneben beobachtet der Verfassungsschutz Bestrebungen, "die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden". Hier geht es beispielsweise um gewaltbereite extremistische Gruppen mit Auslandsbezug, die vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus Gewaltaktionen vorbereiten, um eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse im Ausland, insbesondere in ihren Heimatländern, herbeizuführen und die dadurch die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten beeinträchtigen (SS 3 Abs. 1 Nr. 3 VSG NRW). Auch Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, gerichtet sind, gehören zu den Beobachtungsobjekten des Verfassungsschutzes (SS 3 Abs. 1 Nr. 4 VSG NRW). Der Verfassungsschutz beobachtet international operierende Gruppierungen, die beispielsweise darauf abzielen, konfessionelle oder ethnische Gruppen im Ausland zu bekämpfen. In diesem Fall sind die Angriffe nicht auf die staatliche Ordnung oder die Grenzen eines einzelnen anderen Landes gerichtet, 10 Vorbemerkung Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 sondern gegen bestimmte (Volks-)Gruppen in den betreffenden Staaten. Gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind damit auch Gruppierungen, die die - notfalls gewaltsame - Rückgewinnung der ehemaligen deutschen Ostgebiete propagieren. Arbeitsweise des Verfassungsschutzes Bei seiner Tätigkeit stützt sich der Verfassungsschutz in großem Umfang auf offenes Material wie Zeitungen, Radiound Fernsehberichte sowie Veröffentlichungen im Internet und den sozialen Medien. Quellen können dabei unter anderem wissenschaftliche Beiträge, Interviews und zum Beispiel Parteiprogramme sein. Typischerweise geben sich extremistische Organisationen in ihren Programmen und öffentlichen Auftritten jedoch gemäßigt, um ihre Akzeptanz und ihre Wahlchancen nicht zu beeinträchtigen. Klartext wird häufig nur in den inneren Zirkeln und unter Ausschluss der Öffentlichkeit gesprochen. Auch darüber muss der Verfassungsschutz verlässliche Informationen erlangen, um sich ein realistisches Bild von den Zielen und den Methoden derartiger Organisationen zu verschaffen und seinen Auftrag zur Beratung der Politik und Aufklärung der Öffentlichkeit zu erfüllen. Zur Aufklärung konspirativ arbeitender verfassungsfeindlicher Organisationen ist deshalb der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel notwendig. Dabei werden nach Maßgabe konkreter gesetzlicher Vorgaben insbesondere Vertrauenspersonen (V-Personen) eingesetzt und Zielpersonen observiert. In besonders gravierenden Einzelfällen erfolgt eine Überwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs. Die gesamte Tätigkeit des Verfassungsschutzes unterliegt der Kontrolle des Parlamentarischen Kontrollgremiums des nordrhein-westfälischen Landtags und bei bestimmten Maßnahmen zur Kommunikationsüberwachung oder Finanzermittlung dem Genehmigungsvorbehalt durch eine unabhängige Kommission (G 10-Kommission). Vorbemerkung 11 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Kompakt Rechtsextremismus * In einem ideologischen Umfeld mit sich stetig verfestigenden Feindbildern und rassistischen Zuspitzungen von gesellschaftlichen Konflikten können sich rechtsterroristische Strukturen oder Einzeltäter entwickeln, wie der Anschlag in Hanau mit neun Todesopfern im Februar 2020 belegt. * Ein anderer Teil der rechtsextremistischen Szene versucht hingegen, die Stigmatisierung des Rechtsextremismus aufzubrechen, fremdenfeindliche und autoritäre Argumente im politischen Diskurs zu normalisieren und damit anschlussfähig für breitere Teile der Gesellschaft zu werden. * Eine zunehmende Entgrenzung wird unter anderem in der demokratiefeindlichen und in Teilen gewaltorientierten rechtsextremistischen Mischszene sichtbar, in der sich Rechtsextremisten mit Angehörigen der Rockerund Hooliganszene und sogenannten Wutbürgern vernetzen. Ereignisse im Berichtszeitraum 23. Januar Verbot der rechts19. Februar extremistischen VerRechtsextremistischer einigung "Combat 18 Terroranschlag in Hanau Deutschland" mit neun Todesopfern 2020 [?] 27. Januar Erster Coronavirus SARS-CoV-2-Fall in Deutschland. 12 kompakt Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 * Menschen mit rechtsextremistischen Ansichten treffen sich in virtuellen Gruppen und bestärken sich dort in ihrem Hass auf das vermeintlich Fremde oder das "System". Das Netz schafft neue Tatorte, wie die Drohmails des sogenannten NSU 2.0 zeigen. * Rechtsextremisten missbrauchen die durch die Pandemie notwendigen Einschränkungen für die Darstellung eigener demokratiefeindlicher Positionen. Sie versuchen dabei, Einfluss auf die heterogene Gruppe der Teilnehmenden an entsprechenden Protestveranstaltungen zu nehmen. * Soziale Medien wirken dabei wie ein Brandbeschleuniger für die Verbreitung der extremistischen Ideologien und verknüpfen diese teilweise mit Drohungen und gewaltsamen Aufrufen. Linksextremismus * Die linksextremistische Szene in Nordrhein-Westfalen zeigt sich weiter gewaltbereit. Neben Sachbeschädigungen und bei Demonstrationen "gegen Rechts" begangenen Körperverletzungsdelikten wurden im Jahr 2020 unter anderem Personen in ihrem privaten Umfeld angegriffen, nachdem sie zuvor gezielt als (vermeintliche) Angehörige des rechten Spektrums geoutet wurden. * Ein Schwerpunkt des NRW-Verfassungsschutzes liegt daher in der Beobachtung des gewaltorientierten Linksextremismus beziehungsweise des autonomen Spektrums. 23. März Erster Lockdown zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 in NRW 30. April Betätigungsverbot für die schiitische Terrororganisation "Hizb Allah" in Deutschland kompakt 13 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 * Bei Veranstaltungen versuchen Linksextremisten, mit aktuellen und anschlussfähigen Themen wie Antifaschismus, Antirepression sowie Klimaschutz und Ökologie Kontakte zu nicht-extremistischen Gruppen zu knüpfen. * Neben der Besetzerszene im Hambacher Forst hat sich im Keyenberger Wald am Tagebau Garzweiler eine weitere Besetzung etabliert. Der Kampf um autonome Freiräume im Themenfeld Klimaschutz setzt sich damit fort. Auslandsbezogener Extremismus * Der Schwerpunkt in der Beobachtung liegt auf Organisationen mit jeweils unterschiedlichen Bezügen zur Türkei wie der PKK, der DHKP-C und der Ülkücü-Bewegung (sogenannte Graue Wölfe). * Aufgrund der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie war die Zahl der Aktivitäten im auslandsbezogenen Extremismus im Jahr 2020 trotz der fortdauernden Konflikte im nordsyrischen Grenzgebiet deutlich rückläufig. Islamismus * Vom jihadistischen Salafismus und dem darauf basierenden internationalen Terrorismus geht nach wie vor eine hohe Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland und Nordrhein-Westfalen aus. Dies haben nicht zuletzt die Anschläge in Dresden, Frankreich und Österreich deutlich gezeigt. 25. Mai 21. August Tötung von George Floyd Warnung deutscher Sicherbei seiner Festnahme durch heitsbehörden vor der US-Polizisten Spionagesoftware GOLDENSPY (Verbreitung über chinesische Steuersoftware) 2020 [?] 14. Juni Mehrtägige Militäroffensive der Türkei im Nordirak und zahlreiche dezentrale Kundgebungen als Reaktion darauf 14 kompakt Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 * Das Personenpotential in NRW ist konstant hoch und die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus hat weiterhin höchste Priorität für den Verfassungsschutz, zumal die Corona-Pandemie die Entwicklung der salafistischen Szene keineswegs aufgehalten hat, sondern vielmehr Hinweise auf neue Netzwerke und eine zunehmende Rekrutierung vorliegen. * Verschiedene Organisationen im nicht-jihadistischen Salafismus zeigten sich bestrebt, in die im Berichtszeitraum zu beobachtende Debatte um den legalistischen Islamismus einzugreifen und ihre eigenen verfassungsfeindlichen Positionen zu rechtfertigen oder zu relativieren. Spionageabwehr und Wirtschaftsschutz * Die Bundesrepublik Deutschland und damit auch Nordrhein-Westfalen stehen weiterhin im Fokus ausländischer Nachrichtendienste. Dabei finden vermehrt Cyberangriffe statt, um Unternehmensund Forschungs-Know-how zu erlangen. * Häufig verbinden die Angreifer gezielte Kontaktaufnahmen in sozialen Netzwerken mit ihren hohen technischen Fähigkeiten. Dabei werden Unternehmen nicht selten erst durch einen Hinweis des Verfassungsschutzes auf Cyberangriffe aufmerksam. 29. August Ausschreitungen am Reichstagsgebäude in Berlin mit Beteiligung von Rechtsextremisten und Reichsbürgern 4. Oktober Tödlicher Messerangriff eines Salafisten auf zwei Personen in Dresden kompakt 15 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 * Die Spionageabwehr beobachtet zudem vermehrt Fälle von Staatsterrorismus, die sich oftmals gegen Oppositionelle richten und eine besonders ernst zu nehmende Gefährdungsdimension aufweisen. * Ausländische Akteure versuchen zudem zunehmend, durch verdeckte Methoden beziehungsweise Desinformationskampagnen die politische oder gesellschaftliche Willensbildung zu beeinflussen und Zielstaaten zu destabilisieren. * Die durch die Corona-Pandemie forcierte Digitalisierung und der Einsatz neuer Formen der unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit bieten für Unternehmen eine große Chance, das Thema Sicherheit vom ersten Schritt an mitzudenken und umzusetzen. Dabei können der präventive Wirtschaftsschutz des Verfassungsschutzes und die Mitglieder der Sicherheitspartnerschaft NRW wertvolle Unterstützung und Sensibilisierungsarbeit leisten. Präventionsarbeit und Aussteigerprogramme * Mit der Fortsetzung der Videokampagne Jihadi Fool und der Veröffentlichung des Videospiel Leons Identität hat der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz seine Sensibilisierungsarbeit gegenüber der Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen weiter verstärkt. 29. Oktober Mutmaßlich islamistisch motivierte Ermordung von drei Personen in einer Kirche in Nizza 2020 [?] 16. Oktober Ermordung eines Lehrers durch einen Salafisten in der Nähe von Paris (Anlass: Thematisierung der sogenannten "Mohammed-Karikaturen" im Unterricht) 16 kompakt Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 * Mit der Corona-Pandemie verbundene Gefährdungspotentiale für die Demokratie, neue Erscheinungsformen des Rechtsextremismus und verdeckter Rassismus standen im Fokus von in der Regel digitalen Aufklärungsveranstaltungen für die Öffentlichkeit und Beschäftigte von Sicherheitsbehörden. * Die vielschichtigen Aktivitäten mit relevanten Akteuren in der Präventionsarbeit auf Landes-, Bundesund internationaler Ebene sowie mit der Wissenschaft und mit verschiedenen kommunalen Ämtern sind im Berichtsjahr fortgesetzt und weiter intensiviert worden. * Das Präventionsprogramm "Wegweiser" ist mit insgesamt 25 Beratungsstellen in NRW nun flächendeckend im ganzen Land aktiv und wurde auch während der Pandemie stark angefragt, etwa von Schulen im Zusammenhang mit dem offensichtlich islamistisch motivierten Mord an einem Lehrer in Paris. * Die Begleitung in den drei staatlichen Aussteigerprogrammen Spurwechsel (Rechtsextremismus), API (Islamismus) und Left (Linksextremismus) konnte trotz der pandemiebedingten Einschränkungen konsequent weitergeführt werden. Die Zahl der Kontaktaufnahmen hat sogar deutlich zugenommen. Dabei wurde den Ausstiegswilligen auch gezielte Unterstützung im Umgang mit der Pandemielage geboten. 2. November 16. Dezember Anschlag eines Salafisten Erneuter bundesweiter in Wien, der sich zuvor zum Lockdown zur Besogenannten "Islamischen kämpfung des Coronavirus Staat" bekannte. SARS-CoV-2 4. November Frankreich verbietet die "Grauen Wölfe" kompakt 17 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 18 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Extremismus in Zahlen extremIsmus In zahlen 19 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Extremismus in Zahlen Politisch motivierte Kriminalität nach PMK-Phänomenbereichen Gewaltkriminalität nach PMK-Phänomenbereichen 20 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Tatverdächtige PMK-rechts Tatverdächtige PMK-links Tatverdächtige PMK-ausländische Ideologie Tatverdächtige PMK-religiöse Ideologie extremIsmus In zahlen 21 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Personenpotenzial im Rechtsextremismus 22 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Personenpotenzial im Linksextremismus Personenpotenzial im auslandsbezogenen Extremismus extremIsmus In zahlen 23 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Personenpotenzial im Islamismus (deutlicher Rückgang im Jahr 2014 durch andere Bewertung von Teilen der Bewegung Milli Görüs) Personenpotenzial im extremistischen Salafismus 24 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Präventionsangebote des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen Präventionsprogramm Wegweiser im Überblick extremIsmus In zahlen 25 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Fallzahlen seit Einrichtung der Aussteigerprogramme Knapp zwei Drittel der Hinweise auf potentielle Klienten stammen von Behörden bzw. Netzwerkpartnern 26 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Mehr als die Hälfte der Fälle wird in der Anfangsphase des Programms left durch aktive Ansprache generiert. Das Aussteigerprogramm Islamismus spiegelt den Anteil der Frauen und Mädchen in der Szene wider. Mehr als zwei Drittel der aktiv im API betreuten Klienten waren dem Verfassungsschutz bei Eintritt in das Programm als Gefährder oder zumindest relevante Person bekannt. extremIsmus In zahlen 27 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Mitgliederzahlen und -potenziale in Nordrhein-Westfalen Die Angaben zu den Parteien und Organisationen umfassen grundsätzlich alle Mitglieder. Die Angaben sind gerundet. Rechtsextremismus 2019 2020 NPD 450 400 Die Rechte 290 290 Der III. Weg 35 35 IBD 50 50 Aufbruch Leverkusen - 30 Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotential in Parteien 1.000 1.000 ("Der Flügel") In parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen, 650 1.150 insbesondere neonazistischen Kameradschaften und Mischszene Unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotential, 1.600 1.150 insbesondere Skinhead Sonstige, insbesondere Anhänger der ehemaligen Pro-Parteien - 345 abzüglich Doppelmitgliedschaften* -575 -510 Gesamt 4.075 3.940 davon gewaltorientierte Rechtsextremisten 2.000 2.000 Reichsbürger und Selbstverwalter 3.200 3.200 * Einzelne Personen können gleichzeitig zwei Organisationen oder Gruppierungen zugerechnet werden. Die Mitglieder der Partei Die Rechte werden weiterhin als Neonazis gezählt. 28 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Linksextremismus 2019 2020 Gewaltorientierte Linksextremisten einschl. Autonome 975 1.020 DKP 800 800 MLPD 750 750 Gesamt 2.525 2.570 Auslandsbezogener Extremismus 2019 2020 ADÜTDF 2.000 2.000 ATIB - 600 DHKP-C 200 200 KONGRA-GEL bzw. PKK 2.200 2.200 Gesamt 4.400 5.000 Islamismus 2019 2020 Extremistischer Salafismus 3.200 3.200 davon politisch 2.420 2.430 davon gewaltbereit 780 770 HAMAS 140 145 Hizb Allah 115 250 Hizb ut-Tahrir 70 70 Kalifatstaat 220 220 Muslimbruderschaft 250 300 Milli Görüs-Bewegung (extremistischer Teil) 250 250 Nordkaukasische Separatisten-Bewegung 70 - Türkische Hizbullah 100 100 Furkan-Gemeinschaft 80 80 abzüglich Doppelmitgliedschaften* -140 -145 Gesamt 4.355 4.470 * Einzelne Personen können gleichzeitig zwei Organisationen oder Gruppierungen zugerechnet werden. extremIsmus In zahlen 29 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) Betrachtung der Gesamtentwicklung In Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2020 insgesamt 6.543 Politisch motivierte Straftaten bekannt (2019: 6.032). Damit ist im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um 511 Delikte bzw. um ca. 8,5 % zu verzeichnen. Die Aufklärungsquote im Bereich der PMK für das Jahr 2020 beträgt 35,0 % (2019: 37,1 %). Es wurden mit 2.292 Straftaten im Vergleich zum Vorjahr 57 Delikte mehr aufgeklärt (2019: 2.235). Gesamtentwicklung der Politisch motivierten Kriminalität im 10-Jahres-Vergleich 30 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Gewaltdelikte der Politisch motivierten Kriminalität (PMK-Gewalt) Die Zahl der bekannt gewordenen Gewaltdelikte mit politischer Motivation ist in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zum Jahr 2019 gesunken. Es wurden insgesamt 331 Gewaltdelikte bekannt, das bedeutet einen Rückgang um 22,5 % (2019: 427). 178 Gewaltdelikte konnten polizeilich geklärt werden (2019: 240). Die Aufklärungsquote liegt mit 53,8 % etwas niedriger als im Vorjahr (2019: 56,2 %). Propagandadelikte Einen hohen Anteil der PMK macht jährlich wiederkehrend die Gruppe der Propagandadelikte, also Straftaten der SSSS 86 und 86a StGB, aus. Im Vergleich zum Vorjahr sank mit 2.192 Straftaten bzw. 33,5% der Anteil der Propagandadelikte am Straftatenaufkommen der PMK (2019: 2.778 Straftaten bzw. 46,1 %). Bei den meisten Propagandadelikten handelt es sich um das Aufbringen von Hakenkreuzsymbolen im Öffentlichen Raum, die nur wenige Ermittlungsansätze bieten und daher schwer aufzuklären sind. Mit 35,9% liegt die Aufklärungsquote der Propagandadelikte etwas über dem Niveau des Vorjahres (2019: 34,4 %). Der fallzahlenmäßige deutliche Rückgang von 586 Straftaten steht offensichtlich im Zusammenhang mit den beschränkenden Maßnahmen zu Pandemiebekämpfung in der Öffentlichkeit. Extremistische Straftaten Von den 6.543 im Jahr 2020 bekannt gewordenen Delikten der PMK sind 6.215 (95,0 %) als extremistische Straftaten im Sinne des SS 3 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen eingestuft, weil sie sich beispielsweise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richteten. Die Anzahl der als extremistisch einzustufenden Straftaten ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen, ebenso der Anteil am Gesamtaufkommen der PMK (2019: 5.666 Straftaten bzw. 93,9 %). extremIsmus In zahlen 31 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Entwicklung der Phänomenbereiche der Politisch motivierten Kriminalität Betrachtet man die Entwicklung der PMK differenziert nach Phänomenbereichen, so ist in den Phänomenbereichen der PMK-ausländische Ideologie, der PMK-rechts und der PMK-religiöse Ideologie, entgegen der Gesamtentwicklung, ein Rückgang der Fallzahlen festzustellen. Im Bereich der PMK-links blieben die Fallzahlen auf dem Niveau des Vorjahres. Lediglich im Bereich der PMK-nicht zuzuordnen ist ein deutlicher Anstieg der Fallzahlen um 148,3 % festzustellen. Politisch motivierte Kriminalität-rechts Die Anzahl der Straftaten im Phänomenbereich der PMK-rechts ist mit 3.389 Straftaten (2019: 3.661) im Vergleich zum Vorjahr um 272 Straftaten (7,4%) gesunken. Propagandadelikte und Volksverhetzungen machen mit 75,8 % (2.567 von 3.389 Straftaten), wie in den Vorjahren, den überwiegenden Anteil der Straftaten der PMK-rechts aus (2019: 79,7 %). Es konnten 1.418 Straftaten bzw. 41,8 % polizeilich geklärt werden. Damit steigt die Aufklärungsquote um 5,1 % gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt wurden 1.411 Tatverdächtige ermittelt (2019: 1.409). Davon waren 1.210 Personen bzw. 85,75 % männlich und 201 bzw. 14,25 % weiblich. Die am höchsten belastete Altersgruppe war mit 311 Personen, die der 30 - 39-jährigen. Es folgte die Gruppe der 50 - 59-jährigen mit 267 Personen. 826 (58,5 %) der Tatverdächtigen waren bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten (2019: 750 bzw. 53,2%). Vorherrschende Themenfelder der PMK-rechts waren "Nationalsozialismus/Sozialdarwinismus" (Rückgang von 2.706 auf 2.256 Straftaten) und "Hasskriminalität" (Rückgang von 1.319 auf 1.318 Straftaten). Dahinter folgt das Themenfelder "Konfrontation/politische Einstellung" (Anstieg von 875 auf 923 Straftaten). Gewaltkriminalität im Phänomenbereich PMK-rechts Die Anzahl der Gewaltdelikte durch rechtsmotivierte Tatverdächtige ist mit 146 Straftaten gegenüber dem Vorjahr um 7,6 % gefallen (2019: 158 Straftaten). Schwerpunktmäßig handelte es sich um Körperverletzungen (131 Straftaten bzw. 89,7 %). 32 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 PMK-rechts und PMK-rechts-Gewalt im 10-Jahres-Vergleich Die Aufklärungsquote der Gewaltdelikte im Bereich der PMK-rechts liegt mit 91 geklärten Taten bei 62,3 % (2019: 111 Straftaten bzw. 70,3 %). Hasskriminalität durch "Rechte" Der Hasskriminalität werden Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen eine Person wegen ihrer Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, sozialen Status, physischer und/oder psychischer Behinderung oder Beeinträchtigung, sexuellen Orientierung oder aufgrund ihres äußerlichen Erscheinungsbildes gerichtet sind. Die "Hasskriminalität" im Phänomenbereich PMK-rechts ist mit 1.318 Straftaten im Vergleich zum Vorjahr nahezu unverändert (2019: 1.319 Straftaten) geblieben. Deliktisch gesehen liegen die Schwerpunkte bei Volksverhetzungen (579 Straftaten), Beleidigungen (272 Straftaten) und Straftaten gem. SSSS 86, 86a StGB (174 Straftaten). extremIsmus In zahlen 33 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Themenfelder der PMK-rechts (Merhfachnennungen bei den Oberthemen sind möglich) Die Anzahl der Gewaltdelikte im Themenfeld Hasskriminalität ist mit 112 Straftaten gesunken (2019: 125 Straftaten). Antisemitische Straftaten Die Anzahl der antisemitischen Straftaten (aller Phänomenbereiche) ist von 315 auf 284 Straftaten gefallen (Rückgang um 9,8 %). 263 Straftaten bzw. 92,6 % der antisemitischen Straftaten wurden im Jahr 2020 der PMK-rechts zugeordnet. Bei den Deliktsgruppen machten, wie in den Vorjahren, Volksverhetzungen (177 Straftaten), Propagandadelikte (45 Straftaten), Sachbeschädigungen (26 Straftaten) und Beleidigungen (17 Straftaten) mit 93,3 % den überwiegenden Anteil der Fallzahlen aus (2019: 87,6 %). Die Anzahl der antisemitischen Gewaltdelikte ist im Vergleich zum Vorjahr unverändert bei 9 Straftaten geblieben. 34 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Antisemitische Strafund Gewalttaten im 10-Jahres-Vergleich Reichsbürger/Selbstverwalter Die Anzahl der Gesamtstraftaten im Zusammenhang mit Reichsbürgern/Selbstverwaltern hat 2020 im Vergleich mit dem Vorjahr von 43 auf 49 Taten zugenommen. Unter diesen Taten sind fünf Gewaltdelikte zu verzeichnen. Alle Gewaltdelikte wurden 2020 aufgeklärt. Politisch motivierte Kriminalität-links Die Anzahl der Straftaten im Phänomenbereich der PMK-links ist mit 1.430 Straftaten im Vergleich zum Vorjahr geringfügig um 0,4 % gestiegen (2019: 1.424 Straftaten). In 2020 konnten mit 362 Straftaten weniger Straftaten geklärt werden als im Jahr zuvor (2019: 372 Straftaten). Die Aufklärungsquote sank auf 25,3 % (2019: 26,1 %). Insgesamt wurden 457 (2019: 482) Tatverdächtige ermittelt. Davon waren 340 (74,4 %) männlich und 117 (25,6 %) weiblich. Die am höchsten belastete Altersgruppe war mit 90 Personen die der 21 - 24-jährigen. extremIsmus In zahlen 35 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Es folgte die Gruppe der 3039-jährigen mit 80 Personen. 188 Tatverdächtige (41,1 %) waren zuvor polizeilich in Erscheinung getreten (2019: 179 bzw. 37,1 %). Themenfelder der PMK-links (Mehrfachnennungen bei den Oberthemen sind möglich) Vorherrschende Themenfelder waren wie in den Vorjahren "Konfrontation mit dem politischen Gegner" (Anstieg von 1011* auf 1047 Straftaten), "Innenund Sicherheitspolitik" (Rückgang von 630 auf 532 Straftaten), "Ökologie/Industrie/Wirtschaft" (Rückgang von 374 auf 310 Straftaten) und "Antifaschismus" (Anstieg von 239 auf 290 Straftaten). Die Straftaten im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Rodungen im "Hambacher Forst" zum Braunkohletagebau haben abgenommen. In diesem Kontext wurden im Berichtszeitraum 174 Straftaten verübt, die der PMK-links zugerechnet werden (2019: 252 Straftaten). Der Anteil der Straftaten bei versammlungsrechtlichen Ereignissen am Gesamtaufkommen der PMK-links lag mit 241 von 1.430 Straftaten bzw. 16,9 % unter dem Niveau des Vorjahres (2019: 360 von 1.424 Straftaten bzw. 25,3 %). *redaktionelle Berichtigung 36 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Aufgrund der Pandemiesituation konnte in den meisten Kriminalitätsfeldern ein Rückgang der Fallzahlen verzeichnet werden. Im Bereich der PMK-links ist es jedoch sogar zu einem leichten Anstieg der Fallzahlen gekommen. Dies kann als deutlicher Hinweis verstanden werden, dass in diesem Phänomenbereich ein zunehmendes Entwicklungsund Mobilisierungspotential vorhanden ist. Gewaltkriminalität im Phänomenbereich PMK-links Die Anzahl der Gewaltdelikte durch "Linke" ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 32,5 % gesunken (135 Straftaten, 2019: 200 Straftaten). 34,8 % der Gewaltdelikte PMK-links (47 von 135 Straftaten) wurden bei demonstrativen Ereignissen verübt (2019: 97 Straftaten bzw. 48,5%). Im Jahr 2020 wurden 51 Gewaltdelikte aufgeklärt und somit 37 weniger als im Vorjahr (2019: 88 Straftaten). Die Aufklärungsquote sank auf 37,8 % (2019: 44,0 %). PMK-links und PMK-links-Gewalt im 10-Jahres-Vergleich extremIsmus In zahlen 37 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Politisch motivierte Kriminalität-ausländische Ideologie Die Anzahl der Straftaten im Phänomenbereich der PMK-ausländische Ideologie ist mit 138 Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 48,3 % gefallen (2019: 267 Straftaten). In 2020 konnten mit 59 Straftaten weniger Straftaten geklärt werden als im Jahr zuvor (2019: 137 Straftaten). Die Aufklärungsquote fiel auf 42,8% (2019: 51,3 %). Insgesamt wurden 63 Tatverdächtige ermittelt (2019: 155). Davon waren 52 Personen bzw. 82,5 % männlich und 11 bzw. 17,5 % weiblich. 18 (28,6 %) waren zur Tatzeit zwischen 30 und 39 Jahre alt. 34 (54,0 %) waren bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten (2019: 72 bzw. 46,5 %). Hauptsächliche Themenfelder waren "Konfrontation/politische Einstellung" (Rückgang von 134 auf 97 Straftaten) "Krisenherde/Bürgerkriege" (Rückgang von 217 auf 82 Straftaten), "Befreiungsbewegungen/Internationale Solidarität" (Rückgang von 180 auf 59 Straftaten) und "Innenund Sicherheitspolitik" (Rückgang von 125 auf 29 Straftaten). Themenfelder der PMK-ausländische Ideologie (Mehrfachnennungen bei den Oberthemen sind möglich) 38 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Gewaltkriminalität im Phänomenbereich PMK-ausländische Ideologie Die Anzahl der Gewaltdelikte der PMK-ausländische Ideologie liegt bei 18 Straftaten (2019: 50 Straftaten). Mehrheitlich handelt es sich dabei um Körperverletzungen (16 Straftaten bzw. 88,9 %). Die Mehrheit der Gewaltstraftaten wurde dem Unterthema "zwischen Ausländern" zugeordnet (15 Straftaten). Lediglich vier Gewaltstraftaten wurden den Unterthemen "PKK" oder "Kurden" zugeordnet (2019: 33 Straftaten). Die Aufklärungsquote bei den Gewaltdelikten der PMK-ausländische Ideologieliegt mit 15 geklärten Straftaten bei 83,3 % (2019: 34 geklärte Straftaten; 68,0 %). Entsprechend der Gesamtzahlen ist auch bei der Gewaltkriminalität im Phänomen Bereich PMK-ausländische Ideologie, ein deutlicher Rückgang zu erkennen. Beim Unterthema "PKK" und "Kurden" sank diese Zahl von 33 auf vier Taten. PMK-ausländische Ideologie und PMK-ausländische Ideologie-Gewalt im 10-Jahres-Vergleich extremIsmus In zahlen 39 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ein so deutlicher Rückgang ist bei Gewalttaten mit dem Unterthema "zwischen Ausländern" nicht festzustellen; hier sanken die Taten lediglich um die Hälfte. Die Gewaltdelikte bei diesem Unterthema wurden überwiegend im Kontext unspezifischer Konfliktsituationen im Alltag begangen. Im Gegensatz dazu dürfte der deutlichere Rückgang bei den Unterthemen "PKK" und "Kurden" auf das erheblich reduzierte Veranstaltungsgeschehen im Berichtsjahr aufgrund der Corona-Pandemie zurückzuführen sein. Politisch motivierte Kriminalität-religiöse Ideologie Im Bereich PMK-religiöse Ideologie wurden 18 der registrierten 34 Straftaten (2019: 35 von 55 Straftaten) aufgeklärt; das entspricht einer Aufklärungsquote von 52,9 % (2019: 63,6 %). Die Zahl der 2020 registrierten Straftaten im Themenfeld "Islamismus/ Fundamentalismus" betrug 32 Straftaten (2019: 40 Straftaten). Es wurde eine Gewaltstraftat im Bereich PMK-religiöse Ideologie verzeichnet. Diese wurde den Themenfeldern "Islamismus/Fundamentalismus" und Hasskriminalität zugeordnet (2019: 1 Straftat mit Zuordnung des Themenfeldes "Islamismus/ Fundamentalismus"). Insgesamt 21 Tatverdächtige wurden ermittelt (2019: 37): 20 Männer (95,2 %) und eine Frau (4,8 %). 13 Tatverdächtige (61,9 %) waren bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten (2019: 22 bzw. 59,5 %). Auch durch die weltweite Propaganda und die Ausrufung immer weiterer sogenannter Provinzen von Nordund Westafrika bis nach Südostasien zeigt sich der sogenannte Islamische Staat (IS) in einzelnen Regionen weiterhin aktiv und handlungsfähig. Die Einbindung dieser Provinzen und die Radikalisierung sowie Rekrutierung von Einzelpersonen oder selbstständig handelnden Gruppen ist ebenfalls weiterhin eine von Erfolg bewährte Strategie. Teil dieser Strategie, insbesondere für Anschlagsszenarien in westlichen Staaten, ist weiterhin die Anwendung von Hiebund Stichwaffen und die Wahl von weichen und symbolträchtigen Zielen. In Folge der Ausgangsbeschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie waren weiche Anschlagsziele im Jahr 2020 jedoch nur in einem stark eingeschränkten Umfang zugänglich. 40 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Innerhalb der Bundesrepublik entfaltet das sich seit Jahren auf hohem Niveau bewegende islamistisch motivierte Personenpotenzial besondere Relevanz in der Gefährdungsbewertung. Eine Gefährdung kann zudem - unabhängig von der organisatorischen Anbindung - von den in terroristischen Ausbildungslagern oder durch die Teilnahme an Kampfhandlungen in Konfliktgebieten geschulten und in das Bundesgebiet zurückgekehrten radikalisierten Personen ausgehen. Dazu kommen noch Frauen und deren Kinder, die sich aktuell in Flüchtlingslagern aufhalten. Für die Bundesrepublik Deutschland - wie auch für andere westeuropäische Staaten - besteht weiterhin eine anhaltend hohe Gefahr für jihadistisch motivierte Gewalttaten. PMK-religiöse Ideologie und PMK-religiöse Ideologie-Gewalt Politisch motivierte Kriminalität-nicht zuzuordnen Im Bereich PMK-nicht zuzuordnen stieg die Zahl der Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 148,3 % von 625 auf 1.552 Straftaten an. Es konnten 435 der registrierten 1.552 Straftaten (2019: 347 von 625 Straftaten) aufgeklärt werden; das entspricht einer Aufklärungsquote von 28,0 % (2019: 55,5 %). Vorherrschende Themenfelder waren wie in den Vorjahren "Konfrontation/politische Einstellung" (Anstieg von 257 auf 1.010 Straftaten) und "Innenund Sicherheitspolitik" (Anstieg von 186 auf 962 Straftaten). Hinzugekommen ist im Jahr 2020 das Themenfeld "Sozialpolitik" (Anstieg von 1 auf 450 Straftaten). Es wurden 31 Gewaltstraftaten im Bereich PMK-nicht zuzuordnen verzeichnet. 2019 waren es 18 Gewaltstraftaten und somit ergibt sich eine Steigerung von 72,2 %. extremIsmus In zahlen 41 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Zahl der 2020 registrierten Straftaten im Themenfeld "Gesundheitswesen" betrug 447 Straftaten (2019: 0 Straftaten). Insgesamt 465 Tatverdächtige wurden ermittelt (2019: 509): 377 Männer (81,1 %) und 88 Frauen (18,9 %). 186 Tatverdächtige (40,0 %) waren bereits zuvor kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten (2019: 174 bzw. 34,2 %). Der vehemente Anstieg der Fallzahlen ist den Themenfeldern "Kommunalwahlen" sowie dem "Gesundheitswesen" geschuldet. Im Themenfeld "Kommunalwahlen" wurden im Zeitraum von Januar bis Juni sowie von Oktober bis Dezember lediglich Straftaten im einstelligen Bereich festgestellt. In den Monaten Juli bis September wurden knapp 600 Straftaten festgestellt. Dabei handelt es sich in den allermeisten Fällen um Sachbeschädigungen an Wahlplakaten, die aufgrund der durchgeführten Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen aufgestellt wurden. Im Themenfeld "Gesundheitswesen" kommt es wie ergänzend beschrieben zu sehr hohen Fallzahlen in den Monaten September und Dezember. Im September kommt es zu einem "Hate Speech" in diversen Internetforen gegen einen Polizeieinsatz auf einer "Anti-Corona-Demo" in Wuppertal. Dabei werden über 250 Straftaten (z. B. Beleidigungen) festgestellt. Im Dezember sieht sich der Bürgermeister von Dormagen nach der Veröffentlichung eines Videos auf seinem persönlichen Facebook-Account in den Sozialen Medien Beschimpfungen und Diffamierung ausgesetzt. Inhalt des Videos war der Appell des Bürgermeisters an die Schüler, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen und seine Warnung, sich vor den "Maskenverweigerern" zu hüten. In diesem Zusammenhang wurden mehr als 100 Straftaten zum Nachteil des Bürgermeisters von Dormagen verzeichnet. 42 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 extremIsmus In zahlen 43 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Strafund Gewalttaten der PMK-Phänomenbereiche nach Deliktsgruppen 44 extremIsmus In zahlen Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 extremIsmus In zahlen 45 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 46 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Verschwörungsmythen - eine Gefahr für die Demokratie Verschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe 47 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Verschwörungsmythen - eine Gefahr für die Demokratie Mit Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 haben Verschwörungsmythen zunehmend Einzug in die Protestbewegung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und in den gesellschaftlichen Diskurs gehalten. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen nimmt seitdem insbesondere die Versuche der Einflussnahme und Instrumentalisierung durch Rechtsextremisten intensiv in den Blick und stellt eine zunehmende Radikalisierung demokratiefeindlicher und staatsgefährdender Bestrebungen innerhalb dieser Bewegung fest. Einige Akteure haben das Ziel, Unmut in der Gesellschaft zu schüren und die Legitimität der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Frage zu stellen, um dies für die eigene Agenda zu instrumentalisieren. Als Frühwarnsystem informiert der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen Politik und Gesellschaft über demokratiegefährdende Entwicklungen. Verschwörungsmythen sind zwar nicht grundsätzlich verfassungsfeindlich, können im Ergebnis aber dazu führen, dass Personen oder Organisationen die freiheitliche demokratische Grundordnung in Frage stellen und versuchen sie ganz oder in Teilen abzuschaffen. Deshalb analysiert der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz kontinuierlich die demokratiegefährdenden Potenziale von Protestbewegungen, die diese Inhalte offensiv verbreiten. Ursprung und Wirkung Verschwörungsmythen sind keine neue Erscheinung. Der Glaube, dass geheime Mächte den Lauf der Geschichte steuern, findet seit Jahrhunderten Anhänger. In der Zeit des Nationalsozialismus war die feste Überzeugung Adolf Hitlers, eine jüdische Weltverschwörung sei für die desolate wirtschaftliche und politische Lage in Deutschland verantwortlich. Diese Überzeugung führte in den Holocaust. Die Folgen der damit verbundenen Verbrechen und Zerstörungen wirken bis heute nach. Seit dem gelten Verschwörungstheorien als nicht seriöse Formen des Wissens. Daher ist es nicht zutreffend von Verschwörungstheorien zu sprechen. Wissenschaftliche Theorien zeichnen sich durch die Widerspruchsfreiheit und den nachprüfbaren Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen und der ihnen zu Grunde liegenden Annahmen aus. Sie sind 48 Verschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 offen für Kritik. Auf die sogenannten Verschwörungstheorien trifft das nicht zu. Deshalb sollten sie richtigerweise als Verschwörungsmythen bezeichnet werden. Deren Anhänger sehen Kritik als persönlichen Angriff und weitere Vertuschungsversuche. Wenn heute in öffentlichen Diskussionen "alternative Fakten" propagandiert und Sachverhalte zunehmend komplexer werden, scheinen Verschwörungsmythen an Wirkmächtigkeit gewonnen zu haben. Die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen werden zum Teil begründet mit der Behauptung, die Pandemie sei nur ein Vorwand für Grundrechtseingriffe, letztlich mit dem Ziel der Errichtung einer Diktatur. Dies führte zu massiven Protestaktionen und gipfelte im versuchten "Sturm" auf das Reichstagsgebäude. In den USA wurde die mit Gewalttaten einhergehende Besetzung des Kapitols ausgelöst von dem Glauben an eine "gestohlene Wahl" Donald Trumps durch eine Verschwörung von Demokraten und Eliten. So unterschiedlich diese Fälle sind, beide Male sind Menschen durch Verschwörungsmythen manipuliert und zu Handlungen angestachelt worden. Faszination und Bedeutung für die Anhänger Wer an Verschwörungsmythen glaubt, reduziert eine immer kompliziertere und globalisierte Lebensrealität auf eine überschaubare Ebene. Er meint einer Gruppe von "Erleuchteten" anzugehören, die im Gegensatz zu anderen erkannt hat, was hinter den Kulissen wirklich passiert. Alle anderen seien manipuliert und verblendet. Verschwörungsmythen bieten aber auch einfache Erklärungen für persönliche Misserfolge. Die Welt ist klar unterteilt in schwarz und weiß, in Schuldige und Unschuldige. Verschwörungsmythen sind in Form von Filmen und Romanen nachhaltig in der Populärkultur verankert und erfolgreich in der Öffentlichkeit angekommen. Mit der rasanten Entwicklung der sozialen Medien eröffnen sich für Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungsmythen neue Reichweiten und Vernetzungsmöglichkeiten. Jeder kann über soziale Medien eine Vielzahl anderer Menschen mit beliebigen eigenen Inhalten über das eigene Umfeld hinaus unmittelbar erreichen, zudem ist die Vielzahl dieser Quellen für jeden zu jeder Zeit und unabhängig von einem Ort ungefiltert zugänglich. Damit profitieren gerade Produzenten sogenannter "Fake News" und "alternativer Wahrheiten". So haben beispielsweise die von rechtsextremistisch beeinTelegram-Beitrag: Verschwörungsmythische Erklärung für die Ausflussten Protestbewegungen breitung der Corona-Pandemie wie PEGIDA erhobenen VorVerschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe 49 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 würfe einer "Lügenpresse" zu einem Misstrauen gegenüber seriösen Medien geführt. Dies leistet Manipulationsverdächtigungen Vorschub und erschließt Verschwörungsmythen eine neue Anhängerschaft. Muster und Themen Die bekannten Mythen lassen sich grob in zwei Gruppen einordnen: > Ereignisverschwörung (zum Beispiel "Die Mondlandung ist Betrug") > Systemverschwörung (zum Beispiel "Deutschland ist eine GmbH") Beide Verschwörungstypen kommen nicht selten in Kombination vor. Ein prominentes Beispiel ist die Vorstellung, dass die Erde eigentlich von Echsen kontrolliert werde, und Regierungen bloße Marionetten seien. Es liegen immer drei Annahmen zugrunde: > Nichts geschieht durch Zufall > Nichts ist, wie es scheint > Alles ist miteinander verbunden Zudem lassen sich die bekannten Verschwörungsmythen den folgenden sechs Themenbereichen zuordnen: > Sie beziehen sich auf einen Konflikt zwischen Gruppen beziehungsweise eine Gruppenaggression. Die Existenz der eigenen Gruppe wird von einer anderen bedroht oder angegriffen. Im Mittelalter war es der Vorwurf, dass die Juden die Brunnen von Christen vergiften würden. Heute wird zum Beispiel unter dem Stichwort "Umvolkung" ein angeblich von den Regierungen geplanter "Bevölkerungsaustausch" insbesondere von Rechtsextremisten behauptet. Diese Verschwörungserzählung geht in der Regel einher mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, der Beanspruchung einer Opferposition und der Forderung nach einem radikalen Neustart. Diese Erzählungen haben Ähnlichkeiten mit der Telegram-Beitrag: Verschwörungsmythos zum Hintergrund der CoroBehauptung von einem na-Pandemie 50 Verschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 bevorstehenden ominösen "Tag X", der den Zusammenbruch des politischen und gesellschaftlichen Systems bezeichnen soll. > Die Bevölkerung werde durch innere oder äußere Eliten gesteuert und unterdrückt, die auch im Geheimen wirken. Die Spannbreite der Verantwortlichen reiche von der eigenen Regierung über prominente und finanziell potente Unternehmer wie George Soros oder Bill Gates bis hin zur jüdischen Weltverschwörung. Noch diffuser ist die Annahme, dass bei den sogenannten "Bilderberg-Konferenzen", informelle Treffen von Spitzen unter anderem aus Wirtschaft, Politik und GeVertreter angeblicher Eliten werden in den Fokus der Verschwörungsmythen gestellt sellschaft, die "Strippen" hinter den Kulissen gezogen würden. > Der vorgenannte Typus kommt auch in Kombination mit der sogenannten alternativen Gegenkultur zu wissenschaftlichen Positionen vor. Gegner ist hier das wissenschaftliche Weltbild und die Expertenkultur des Westens. Eine Wurzel sind okkulte und esoterische Bewegungen, wie New Age oder Anthroposophie des letzten Jahrhunderts. Impfgegner und Corona-Protestierer lassen sich hier verorten. Aufgrund der Nähe zu esoterisch angehauchten Strömungen ist der daraus gespeiste Widerstand nicht selten mit Erlösungsmomenten verbunden. > Erlösung aus der aktuellen Situation verspricht auch eine weitere Kategorie von Verschwörungsmythen. Diese Mythen "erklären" vermeintlich eine persönliche Betroffenheit und zeigen gleichzeitig Möglichkeiten auf, "etwas dagegen zu tun". Demjenigen, der beispielsweise glaubt aufgrund von Chemtrails (angebliche Manipulation der Atomsphäre und Individuen durch Kondensstreifen) in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt zu sein, wird das Angebot gemacht, Entgiftungssets zu kaufen. Impfgegner können schon mit der bloßen Impfverweigerung ihre vermeintliche Gefährdungslage in den Griff bekommen. Anhänger dieses Verschwörungstypus überschätzen nicht selten in irrationaler Weise tatsächliche technische Möglichkeiten, etwa bei der Furcht vor Manipulationen durch implantierte Chips oder Strahlung. > Eine besondere psychologische Rolle kommt einem weiteren Verschwörungstypus zu. Es geht darum, der eigenen Ohnmacht einen Sinn zu geben, die eigene Rolle in Verschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe 51 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 der Welt aufzuwerten. Die Anhänger dieses Verschwörungsmythos sehen etwas, was die anderen nicht sehen und sind damit Teil einer besonderen Gemeinschaft. Je nachdem, wie der persönliche Hintergrund ist, wechselt man damit vermeintlich leicht in der persönlichen Wahrnehmung von der Verliererauf die Gewinnerseite. Ein bekanntes Beispiel sind die sogenannten Reichsbürger. Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie werden als Unterdrückung durch den vermeintlichen Überwachungsstaat diffamiert > Verschwörungsmythen dienen häufig dazu, einen "Sündenbock" zu bestimmen. Jemand anderes wird für die Unübersichtlichkeit der Welt oder für persönliche Schicksalsschläge verantwortlich gemacht. Dafür boten sich im Laufe der Geschichte immer wieder andere Gruppen an, die als feindliches Kollektiv dargestellt werden, wie Juden, Freimaurer, Illuminaten oder Aliens. Alle aufgezählten Varianten haben gemeinsam, dass sie strikt dualistisch unterteilen in "Gut" und "Böse" beziehungsweise "Wir" und "die Anderen". Dieses Weltbild fördert gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, weckt und stimuliert Angstgefühle. Autoritäre Bewegungen und Regime instrumentalisieren es darum gerne, um den Rechtsstaat zu schwächen. Wenn die Welt von bösen Mächten beherrscht wird und alle manipuliert sind, dann lässt sich beispielsweise hinter den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schnell der Plan vermuten, die Gesellschaft ihrer Freiheit zu berauben und sie knechten zu wollen. Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit bietet hierzu Anlass, und das Gebot zum Tragen von 52 Verschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Schutzmasken wird gleichgesetzt mit einem Verbot, die eigene Meinung frei äußern zu dürfen. Bedeutung im Extremismus Verschwörungsmythen oder entsprechende Versatzstücke finden sich mehr oder weniger stark ausgeprägt bei Extremisten jedweder Couleur. Die Corona-Pandemie wurde beispielsweise bereits in einem sehr frühen Stadium für entsprechende Ideologien verschiedener Gruppen instrumentalisiert. Der Islamismus ist stark geprägt von antisemitischen und antiwestlichen Verschwörungsmythen. Es gehört im Islamismus zum Standard, von einer jüdisch-zionistischen Weltverschwörung auszugehen. Verschwörungsmythische Narrative fanden sich in der Vergangenheit vor allem im Hinblick auf den Terroranschlag vom 11. September 2001, zu dem es zahlreiche verschwörungsmythische Erklärungsmodelle gibt, die in der islamistischen Szene breite Zustimmung finden. Für den Rechtsextremismus haben Verschwörungsmythen zwei Bedeutungen: Zum einen sind sie integraler Bestandteil der Ideologie, zum anderen bieten sie eine Möglichkeit, mit eigenen Thesen Anschluss an bestehende gesellschaftliche Konfliktthemen zu gewinnen. Bereits der historische Nationalsozialismus griff zur Begründung seines aggressiven Antisemitismus auf Verschwörungserzählungen zurück. Zentral war hier die Annahme einer jüdischen Weltverschwörung, die sich gegen Deutschland richte. Vermeintliche Belege dafür wurden bereits in den 1920er Jahren als Fälschungen entlarvt, von den Nationalsozialisten dennoch als vorgebliche Beweise herangezogen. Die ideologiebildende und instrumentelle Dimension des Verschwörungsdenkens im Rechtsextremismus ist auch nach dem Untergang des Nationalsozialismus beTelegram-Beitrag zu Überlegungen von Corona-Leugstehen geblieben. nern zum Staats-Umsturz Öffentlich bedeutsam wurde dies im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise Mitte der 2010er-Jahre. Die gesellschaftliche Kritik an der zunehmenden Migration mit großer medialer Wahrnehmung im rechtsextremistischen Spektrum wurde in den Zusammenhang mit der Verschwörungserzählung des "Großen Austausches" gebracht. Demnach würden die europäischen Regierungen die Bevölkerung austauschen und die nationalen Identitäten gezielt zu Gunsten einer Einheitsbevölkerung nivellieren wollen. Der Verschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe 53 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zuzug wäre ein Bestandteil dieses verschwörerischen Planes, verbunden mit einer geplanten Islamisierung Europas. Damit ging eine Abwertung parlamentarischer Entscheidungsprozesse einher, das Schüren von Hass gegen Andersdenkende und Entscheidungsträger sowie die Verbreitung von rassistischen Ressentiments. Entgrenzung und Delegitimierung des Staates Rechtsextremisten, die sich diese Verschwörungsmythen zunutze machen, verfolgen damit mehrere Ziele: Instrumentalisierung der Kritik an dem staatlichen Umgang mit der gestiegenen Zuwanderung, Intensivierung der gesellschaftlichen Polarisierung und Einspeisung der eigenen ideologischen Positionen in den gesellschaftlichen Diskurs. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz beschrieb bereits in den vergangenen Jahren dieses Phänomen einer angestrebten Entgrenzung. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 haben die damit verbundenen Maßnahmen und Einschränkungen immer wieder zu Protesten geführt. Damit aufkommende Verschwörungsmythen versuchen insbesondere Rechtsextremisten aufgrund des enthaltenen Potenzials für extremistische Entgrenzung und Instrumentalisierung zu nutzen. Die Kritik an den staatlichen Maßnahmen wurde darum schnell mit einer Generalkritik am System und seiner Grundlage, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, verbunden. Die Grenzen des an Sachfragen orientierten legitimen Protests wurden verlassen mit der Proklamation eines vermeintlichen Verfassungsnotstandes, der zum Widerstand nach Artikel 20 Grundgesetz berechtige. Daraus wird dann die Legitimität der Verfassungsorgane abgestritten sowie eine Verfassungsgebende Versammlung unter Verweis auf Artikel 146 Grundgesetz ausgerufen. Damit werden Inhalte und Wertung unserer Verfassung ins Gegenteil verkehrt. Auch hier spielten Verschwörungsmythen eine wichtige Rolle, sowohl in der Bildung eines weltanschaulichen Feldes, als auch in der Bildung von Gruppengrenzen und dem Versuch, Anschluss an bisher nicht ansprechbare Bereiche der Gesellschaft zu erlangen. Es wurde das Ausmaß der Pandemie massiv in Zweifel gezogen, bis hin zur Leugnung. Hierbei wurde auf divergierende Erkenntnislagen innerhalb der Virologie verwiesen, aber auch randständige Positionen von in der Fachwelt umstrittenen Medizinern, die nicht zwangsläufig Virologen sein mussten, herangezogen. Dies geschah zumeist in Kombination mit einer Schmähung und Herabwürdigung wissenschaftlicher Meinungen, die eine strikte Eindämmung forderten. Zudem wurde unterstellt, die Maßnahmen zu Bekämpfung der Pandemie wären nur der Vorwand, um eine Massenüberwachung unter völliger Aushebelung der grundgesetzlich verbrieften Grundrechte zu installieren. In diesem Kontext tauchte die Formulierung einer "Corona-Diktatur" auf. Hierbei handelt es sich um die Aktualisierung des schon älteren Begriffes der "Mer54 Verschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 kel-Diktatur", der im rechten Populismus und Rechtsextremismus geprägt wurde und nicht nur eine persönliche Herabwürdigung, sondern auch eine Verunglimpfung der Verfassungsordnung darstellt. Ebenfalls im Zusammenhang mit dem Ziel einer Systemüberwindung steht die Forderung nach Schaffung einer neuen Verfassungsordnung. Sie erweist sich besonders anschlussfähig an die Ideologie der sogenannten Reichsbürger. Diese behaupten, die Bundesrepublik Deutschland existiere in Wahrheit nicht, sondern wäre ein Verwaltungskonstrukt der Besatzungsmächte. Mehrere selbsternannte sogenannte Reichsregierungen bieten eigene Dokumente wie Reisepässe, Führerscheine oder Autokennzeichen käuflich an. Das Aufkommen von Flaggen in den Farben des Deutschen Kaiserreiches bei Protestveranstaltungen ist vor diesem Hintergrund nicht als Nostalgie, sondern als politische Bekundung zu werten. Nicht zuletzt der Ansturm auf das Reichstagsgebäude im August 2020 hat den Einfluss von Reichsbürgern in der Protestszene offensichtlich werden lassen. Telegram-Beitrag zur Leugnung der Existenz der Bundesrepublik Deutschland Aufgreifen der QAnon-Erzählung Im Zuge der Corona-Proteste hat der aus den USA stammende Verschwörungsmythos um QAnon eine größere Verbreitung gefunden. Hinter "Q" verberge sich angeblich ein hoher Regierungsbeamter, der Zugang zu geheimsten Vorgängen habe. Diese Erzählung behauptet die Verschleppung von Kindern in unterirdische Gefängnisse, um aus ihnen "Adrenochrom" zu gewinnen, das verjüngend wirken soll. Betrieben würde dies im Auftrag einer von Angehörigen der US-amerikanischen Demokratischen Partei und Juden dominerten Elite. Der Sache nach handelt es sich um eine Aktualisierung der mittelalterlichen Ritualmordlegende, die Juden unterstellte, zu kultischen Zwecken christliche Kinder zu entführen und zu töten. In Social Media Beiträgen werden die Anhänger durch gezielte Andeutungen und Fragen zur Recherche von Sachverhalten und zum Teilen der Ergebnisse aufgefordert. Es handelt sich dabei um einen partizipativen Verschwörungsmythos, da jeder seine Resultate einbringen und mit neuen Folgefragen Verschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe 55 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 versehen kann. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde der Verschwörungsmythos durch den misslungenen Versuch eines Anhängers in den USA, Kinder aus einem nicht existenten Keller einer Pizzeria in Washington zu befreien. Dieser Tötungsversuch hat der Bewegung keinerlei Abbruch getan. Eine strukturelle Nähe zeigt sich darin, dass bei der von Stuttgart ausgehenden sogenannten Querdenker-Bewegung nicht nur Bezüge zur Szene der sogenannten Reichsbürger festzustellen sind, sondern sich auch Elemente der QAnon-Bewegung wiederfinden. Der von der QAnon-Bewegung geprägte Slogan "Where we go one we go all / WWG1WGA" (sinngemäß "Einer für alle, alle für einen") ist beispielsweise durch den Gründer von "Querdenken 711" verwendet worden und war auch bei Demonstrationen sichtbar. Die Querdenker-Bewegung hat im letzten Jahr auch in Nordrhein-Westfalen zunehmend Verbreitung gefunden. An die Farben der Reichsflagge angelehnter Buchstabe "Q", der während einer Demonstration in Berlin Bezug auf die Verschwörungserzählung um QAnon nimmt. Verschwörungsmythos als verbindendes Element Der Widerspruch gegen den sognannten Mainstream und die Wahrnehmung, in der Öffentlichkeit pauschal als Extremisten und Verschwörungsideologen abqualifiziert zu werden, fördern die Gruppengemeinschaft, was sich nicht zuletzt in dem scheinbar konfliktfreien Nebeneinander gegensätzlicher Ansichten und Symbole äußert. Bei 56 Verschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Veranstaltungen kommen beispielsweise Esoteriker, Impfgegner, Reichsbürger und Rechtsextremisten zusammen. Es findet eine neue Radikalisierung statt, gespeist aus einem Gefühl der Entfremdung gegenüber dem demokratischen System und der Nichtrepräsentanz der eigenen Positionen im gesellschaftlichen Diskurs. Das war beispielsweise auch schon im Kontext von PEGIDA registrierbar. Versuche, Medien und Staat zum Gegenstand von Hass und Protest werden zu lassen, fallen auf fruchtbaren Boden. Die Verbreitung von Desinformationen birgt Gefahren sowohl für den öffentlichen Meinungsbildungsprozess, als auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Verschwörungsmythen schüren gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und vermitteln ein vereinfachtes Weltbild von Gut und Böse, welches für Zwischentöne und damit Kompromissfähigkeit keinen Raum lässt. Es fördert nicht zuletzt eine Gewaltbereitschaft, sich gegenüber einer vermeintlichen Verschwörung gegen Leib und Leben wehren zu müssen. Bereits vor der Pandemie wurde diese Gefahr einer Gewaltanwendung durch die Anschläge von Halle im Jahr 2019 und Hanau im Jahr 2020 Realität. Beide Taten wurden auch aufgrund von Verschwörungsüberzeugungen verübt. In vielen Bereichen erweist sich die Pandemie als Beschleuniger vorher bestehender demokratiefeindlicher Tendenzen. Das gilt insbesondere für die Reichweite und politische Relevanz von Verschwörungsmythen. Die Krise schafft neue Gelegenheitsstrukturen durch neue Themen, Akteure und Aktivitäten für Extremismus. Insofern hat der Verfassungsschutz nicht nur die Verschwörungsmythen rund um die Pandemie im Blick. Es ist eine ständige Aufgabe zu beobachten, wie sich Krisensituationen auf demokratiegefährdende Entwicklungen auswirken. Verschwörungsmythen - eIne gefahr für dIe demokratIe 57 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 58 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Rechtsextremismus rechtsextremIsmus 59 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zusammenfassung Die Corona-Pandemie wirkte sich auch auf das Geschehen im Rechtsextremismus aus. Einerseits erschwerten die Corona-Schutzmaßnahmen es der Szene, eigene Veranstaltungen wie Demonstrationen oder Musikveranstaltungen durchzuführen. Andererseits hat nach einer zuerst ungeklärten Haltung der Szene zu den Maßnahmen der Landesund Bundesregierung ein großer Teil der Rechtsextremisten inzwischen entschieden, sich an den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu beteiligen. Damit verbinden die Rechtsextremisten die Hoffnung, die Proteste gegen die Maßnahmen zu einem Protest gegen die freiheitliche Demokratie zu radikalisieren. In den vergangenen Jahren zeichnete sich der Rechtsextremismus durch eine hohe Dynamik aus, die im Wesentlichen durch drei Entwicklungsstränge geprägt ist: Radikalisierung Die Radikalisierung schlägt sich im unverhohlenen Bekenntnis zum historischen Nationalsozialismus nieder. Zudem diskutieren Rechtsextremisten die derzeitige politische Situation in Endzeitund Bürgerkriegsszenarien und folgern daraus zum Teil, sich auf diese Auseinandersetzung vorbereiten zu müssen. Das permanente Wiederholen von Feindbildern sowie das rassistische Zuspitzen von gesellschaftlichen Konflikten liefert einigen Rechtsextremisten eine vermeintliche Rechtfertigung für Gewalttaten. Der Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 auf zwei Shisha-Bars und einen Kiosk, bei dem der Täter rechtsextremistisch motiviert neun Menschen tötete und weitere verletzte, zeigt, dass sich in diesem ideologischen Umfeld rechtsterroristische Strukturen oder Einzeltäter entwickeln können. Zur Eindämmung der Radikalisierung tragen unter anderem die Aufdeckung der mutmaßlich rechtsterroristischen Gruppe S., bevor sie Anschläge begehen konnte, zahlreiche Strafverfahren und die Vereinsverbote von Combat 18, Sturmbrigade 44 beziehungsweise Wolfsbrigade 44 sowie Vereinte Völker und Stämme bei. Außerdem sind Rechtsextremisten konsequent im Fokus der Behörden bei der Entziehung von waffenrechtlichen Erlaubnissen. Entgrenzung Ein anderer Teil der rechtsextremistischen Szene versucht, die Stigmatisierung des Rechtsextremismus aufzubrechen, fremdenfeindliche und autoritäre Argumente 60 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 im politischen Diskurs zu normalisieren und damit anschlussfähig für breitere Teile der Gesellschaft zu werden. Dies wird als "Entgrenzung" des Rechtsextremismus bezeichnet. Diese Strategie ist insofern erfolgreich, als mit dem Flügel ein diese Strategie anwendender Personenzusammenschluss die AfD rechtsextremistisch beeinflusst. Zudem führte in mehreren Städten in Nordrhein-Westfalen eine rechtsextremistische Mischszene regelmäßig Versammlungen durch. Sie setzt sich aus organisierten Rechtsextremisten, Angehörigen der Hooliganund Rockerszene sowie sogenannten "Wutbürgern" zusammen, tritt bürgerwehrähnlich auf und propagiert fremdenund islamfeindliche Positionen, die gegen die Menschenwürde verstoßen. Aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen gab es zwar einen Rückgang im Vergleich zum Jahr 2019. Dafür beteiligten sich die rechtsextremistische Mischszene, aber auch die NPD, Der III. Weg, Die Rechte sowie die Neonaziszene regelmäßig an größeren Protestveranstaltungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und versuchten die dortige heterogene Teilnehmerschaft im rechtsextremistischen Sinne zu beeinflussen. Virtualisierung Der Strukturwandel der Öffentlichkeit durch die Verbreitung der sozialen Medien hat auch den Rechtsextremismus verändert. Rechtsextremisten entdecken als YouTuber ein neues Aktionsfeld, auf dem sie vor allem Jugendliche und junge Erwachsene erreichen wollen. Menschen finden so leichter Zugang zu rechtsextremistischen Angeboten und radikalisieren sich über das Netz. Menschen mit rechtsextremistischen Ansichten treffen sich in virtuellen Gruppen und bestärken sich dort in ihrem Hass auf das vermeintlich Fremde oder das "System". Das Netz schafft neue Tatorte, wie die Drohmails des sogenannten NSU 2.0 zeigen. Außerdem schafft das Netz neue Tätertypen, wie der Anschlag in Halle auf die Synagoge beweist. Die Sicherheitsbehörden haben deshalb in den vergangenen Jahren die Auseinandersetzung mit dem virtuellen Rechtsextremismus deutlich intensiviert. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y rechtsextremIsmus 61 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Im Fokus: Rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei Das Jahr 2020 war geprägt von wiederkehrenden Berichten über Vorfälle von Rassismus und Rechtsextremismus in der deutschen Polizei. In Nordrhein-Westfalen wurde im Februar 2020 ein Verwaltungsbeamter des Polizeipräsidiums Hamm wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer rechtsterroristischen Organisation festgenommen. Im September 2020 wurden im Zuge eines Ermittlungsverfahrens interne Chatgruppen beim Polizeipräsidium Essen aufgedeckt, in denen unter Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten unter anderem Abbildungen und Videos ausgetauscht worden sind, die Innenminister Herbert Reul inhaltlich als "hochgradig fremdenfeindlich und menschenverachtend" bezeichnete. Dabei sei doch, so der Innenminister, die Grundlage der Arbeit der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, die Verfassung, das Grundgesetz und die Menschenwürde zu schützen. Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei NRW In der Konsequenz der Chatgruppen in Essen-Mülheim wurden am 16. September 2020 insgesamt 35 Polizeidienststellen und Privatwohnungen in NRW von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten durchsucht. Es wurde zudem das Landesamt für Ausund Fortbildung der Polizei NRW (LAFP) damit beauftragt, eine Sonderinspektion im Polizeipräsidium Essen durchzuführen. Diese verfolgt zwei Ziele: Einerseits sollte durch Verwaltungsermittlungen in den Dienststellen geprüft werden, ob mögliche gleichgelagerte Fälle erkannt werden können. Andererseits sollte ermittelt werden, welche Umstände derartige Verhaltensweisen begünstigt haben könnten, um daraus mögliche Präventionsmaßnahmen abzuleiten. Neben der bereits im März 2020 durch den Innenminister veranlassten Benennung von Extremismusbeauftragten in allen 47 Kreispolizeibehörden des Landes sowie der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV) NRW wurde zudem am 15. Oktober 2020 der ehemalige stellvertretende Leiter des Verfassungsschutzes NRW zum Sonderbeauftragten für rechtsextremistische Tendenzen in der nordrhein-westfälischen Polizei bestellt. Gemeinsam mit seiner im Ministerium des Innern eingerichteten Stabsstelle Rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei NRW soll er innerhalb eines Jahres ein Handlungskonzept zur Früherkennung, Entgegnung und Vorbeugung rechtsextremistischer Tendenzen in der Polizei entwickeln. Aus dem im Oktober 2020 von Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder erstellten ersten bundesweiten Lagebericht zu Rechtsextremisten in Sicherheits62 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 behörden, der Vorfälle in dem Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis zum 31. März 2020 erfasst, ergaben sich insgesamt 319 rechtsextreme Verdachtsfälle in den Sicherheitsbehörden der Bundesländer, 58 in den Sicherheitsbehörden des Bundes und 1064 in der Bundeswehr. In dem Lagebericht werden auch Maßnahmen der Länder aufgeführt, welche unter anderem Informations-, Schulungsund Fortbildungsangebote für öffentliche Arbeitgeber und deren Beschäftigte, regelmäßige Überprüfungen von Bewerbern für die Einstellung in den Polizeidienst, Einsatz von Extremismusbeauftragten in den Polizeibehörden und konsequente dienstund arbeitsrechtliche Maßnahmen bei Zweifeln an der Verfassungstreue von Beschäftigten umfassen. Beim Bundesamt für Verfassungsschutz ist eine Zentralstelle eingerichtet worden, die die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern sowie die Fortentwicklung der Maßnahmen koordiniert und gewonnene Erkenntnisse vernetzt. Die Stabsstelle Rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei NRW knüpfte an den Lagebericht des Bundes inhaltlich mit einem erweiterten Lagebild für Nordrhein-Westfalen an, das rassistische und rechtsextremistische Verdachtsfälle in der Polizei NRW zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2020 erfasst. In diesem Lagebild werden alle in den nordrhein-westfälischen Polizeibehörden erhobenen Fälle berücksichtigt, bei denen disziplinar-, beamtenoder arbeitsrechtliche Verfahren und/oder strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden. Erkenntnisse aus dem Lagebild NRW Die Datenanalyse der Vorfälle innerhalb der Polizei NRW zeigt, dass ein heterogenes Phänomen vorliegt: Die Verdachtsfälle finden sich sowohl in der digitalen wie der realen Welt, sie reichen von Einzeläußerungen bis hin zum Teilen rechtsextremistischen Materials in Chatgruppen über Jahre hinweg, sie finden sich im dienstlichen wie im privaten Bereich. Dabei ist festzustellen, dass sich Gruppenaktivitäten im Wesentlichen digital abbilden, Einzelaktivitäten hauptsächlich realweltlich. Quantitativ überwiegen die digitalen Aktivitäten mit einem Anteil von 75 Prozent. Phänomenologisch stellen die rassistischen Verdachtsfälle sowohl digital wie realweltlich die am stärksten ausgeprägte Form nicht verfassungskonformen Verhaltens dar. Gewaltverherrlichung, Verherrlichung des Nationalsozialismus sowie Antisemitismus finden sich im Wesentlichen in der digitalen Welt wieder. Die Datenanalyse hat bislang keine Hinweise auf konspirative und handlungsorientierte rechtsextremistische Netzwerke innerhalb der Polizei NRW ergeben. Zudem besteht in nur wenigen Einzelfällen der Verdacht auf Kontakt zu oder Mitgliedschaft in rechtsextremistischen Organisationen. Neben dem Fall des Verwaltungsbeamten rechtsextremIsmus 63 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 des Polizeipräsidiums Hamm, gegen den wegen des Verdachts einer Mitgliedschaft in einer rechtsterroristischen Vereinigung ermittelt wird, wurde beispielsweise bekannt, dass einer der suspendierten Polizeibeamten der Essener Chatgruppen Kontakte zur Rockergruppe "Bandidos" sowie der rechtsextremistischen bürgerwehrähnlichen Gruppierung Steeler Jungs in Essen unterhielt. Im Hinblick auf die Essener Chatgruppen konnte zum einen festgestellt werden, dass es sich um polizeiinterne Chatgruppen handelt, in denen über Jahre NS-verherrlichendes, rassistisches und antisemitisches Material verbreitet wurde. Zum anderen liegt eine Reihe von Sachverhaltsund Personenhinweisen vor, die darauf hindeutet, dass nicht regelkonformes Verhalten auch im Dienst praktiziert wurde. So traten die Akteure strafrechtlich mit unterschiedlichen Deliktsformen (unter anderem Staatsschutzdelikte, Amtsdelikte, Körperverletzungsdelikte, Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung und Eigentumsdelikte) in Erscheinung, sodass von einer sogenannten Multidevianz ausgegangen werden kann. Das Agieren einzelner Mitglieder der Chatgruppen umfasste nahezu alle Aspekte gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Sexismus, Homophobie. Es umfasst demnach eine abwertende und ausgrenzende Einstellung zu Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Die Bandbreite der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit manifestierte sich in den Chatgruppen in Form einer "Gesinnungsgemeinschaft". Rassistische und rechtsextremistische Einstellungen wurden ausgetauscht und von den Mitgliedern, die nicht aktiv beteiligt waren, mindestens toleriert. Dies deutet auf einen ausgeprägten negaKategorisierung der Verdachtsfälle im Lagebild NRW 64 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 tiven Korpsgeist hin, einen Verlust an Empathie und eine Missachtung der ethischen Fundamente des Polizeiberufs. Bewertung, Tendenz, Ausblick Der Rechtsextremismus, dessen Ideologie im nationalistischen und rassistischen Gedankengut wurzelt, erweist sich als eine ständige Bedrohung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Er ist insbesondere von der Vorstellung gekennzeichnet, dass die ethnische Zugehörigkeit den Wert eines Menschen bestimmt und erklärt infolgedessen bestimmte Gruppen von Menschen als ungleichwertig und zum Feindbild. Obwohl rechtsextremistische Einstellungen nicht nur innerhalb rechtsextremistischer Gruppen zu finden sind, sondern sich ebenfalls in Teilen der Gesellschaft jenseits des organisierten Rechtsextremismus wiederfinden, stellen sie insbesondere auch innerhalb der Polizei und der Sicherheitsbehörden eine Gefahr dar, da gerade diese Institutionen für den Schutz der Verfassungsund Rechtsordnung verantwortlich sind. Spätestens seit der Vorstellung sowohl des Bundeslageberichtes "Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden" des Bundesamtes für Verfassungsschutz sowie des Lagebildes der Stabsstelle Rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei NRW bleibt festzuhalten, dass die Problematik von Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei nicht auf Einzelfälle reduziert werden kann. Die im Jahr 2020 bekannt gewordenen Fälle in der nordrhein-westfälischen Polizei, die auf Haltungen hinweisen, die mit Achtung und Schutz der Menschenwürde nicht in Einklang zu bringen sind, zeigen neben dem Bedarf an konsequenter dienstund strafrechtlicher Verfolgung die Notwendigkeit effektiverer präventiver Maßnahmen. Dem soll die Einwicklung eines ganzheitlichen Handlungskonzeptes von der Personalauswahl bis zur beruflichen Praxis dienen, durch das die Werteorientierung und demokratische Resilienz gestärkt, negative gruppendynamische Prozesse (Code of Silence) möglichst verhindert, politische Bildung und Medienkompetenz verbessert und Führungsund Kontrollmechanismen etabliert werden, die eine frühzeitige Intervention bei deviantem Verhalten sicherstellen. Der Bundeslagebericht "Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden" sowie das Lagebild der Stabsstelle Rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei NRW liefern nicht nur Überblicke über die Verdachtsfälle von Rechtsextremismus in den verschiedenen Sicherheitsbehörden. Sie zeigen auch auf, dass zur effektiven Abwehr von Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden eine weitere intensive Aufklärungsarbeit und das Zusammenwirken geeigneter repressiver wie präventiver Maßnahmen erforderlich ist. Der Bundeslagebericht versteht sich vor diesem Hintergrund auch nicht als statisches Produkt, vielmehr richtet der Verfassungsschutzverbund seinen Blick bereits sehr deutlich auf eine Fortschreibung des Lageberichtes. rechtsextremIsmus 65 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 NPD Sitz/Verbreitung Bundesverband: Berlin; Landesverband: Essen Gründung/Bestehen seit 1964 (Bundesund Landesverband NRW) Struktur/ Repräsentanz Bundesvorsitzender: Frank Franz (seit 2014); Landesvorsitzender: Claus Cremer (seit Juni 2008); einstellige Zahl handlungsfähiger Kreisverbände Mitglieder/Anhänger/ Land: circa 400\ Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Publikationen: Zeitung des Bundesverbandes Deutsche Stimme (monatlich) als Printversion Web-Angebote: Bundesund landesbezogene Web-Auftritte; fast alle Kreisverbände haben eigene Webseiten oder sind in den sozialen Netzwerken vertreten; BlickpunktTV als YouTube-Kanal Kurzporträt/Ziele Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ist die älteste aktive rechtsextremistische Partei. Das Bundesverfassungsgericht stellte in seiner Entscheidung vom 17. Januar 2017 im NPD-Verbotsverfahren fest, dass es sich um eine verfassungsfeindliche Partei handelt, der es aber an Potenzial fehle, ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu realisieren. Die Partei kooperiert mit anderen rechtsextremistischen Parteien und Neonazis. Neben der Parteipolitik beteiligt sich die Partei auch an rechtsextremistischer Brauchtumspflege und versucht erlebnisorientierte Angebote für die Szene zu machen. Innerhalb der Partei existieren unterschiedliche Strömungen, die sich unter anderem im Grad der radikalen Selbstdarstellung unterscheiden. 66 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Der NRW-Landesverband spielt innerhalb des Bundesverbandes nur eine geringe Rolle. In den vergangenen Jahren haben einige Kreisverbände in NRW ihre Aktivitäten weitgehend eingestellt, so dass nur noch eine Handvoll aktiver Kreisverbände übrig geblieben ist. Zudem gelingt es dem Landesverband nicht, den rechtsextremistischen Nachwuchs für die Partei zu interessieren. Finanzierung Staatliche Parteienfinanzierung, Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die NPD lehnt die freiheitliche Demokratie in Deutschland ab und will diese beseitigen. Dies betrifft wesentliche Prinzipien und Grundwerte der Verfassung. So negiert die Partei die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere dass jeder Mensch als Individuum und ohne Vorbedingungen eine Würde besitzt. Vielmehr spricht die NPD Menschen lediglich eine Würde als Teil eines nationalen Kollektivs zu. Die von der NPD verfolgten politischen Ziele laufen auf einen autoritären Staat hinaus, in dem die Prinzipien der durch das Grundgesetz garantierten freiheitlichen demokratischen Grundordnung außer Kraft gesetzt werden sollen. Die NPD verfolgt eine rechtsextremistische Ideologie, die auf das Prinzip der Volksgemeinschaft baut und sich vor allem durch Fremdenfeindlichkeit und Rassismus hervortut. Eine solche Volksgemeinschaft definiert die Partei ausschließlich nach ethnischen Kriterien. Alle Bürger, die diesen ethnischen Kriterien nicht genügen, will die Partei aus den demokratischen Prozessen ausschließen und damit entrechten. Das heißt, dass sie die Gleichheit aller Menschen als allgemeines Menschenrecht nach Artikel 3 des Grundgesetzes ablehnt. Weiterhin verbreitet die NPD antisemitische und revisionistische Propaganda, indem sie beispielsweise den Holocaust oder die Zahl der Opfer in Frage stellt und die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges leugnet. Angesichts der vielfachen Bezüge auf die Ideologie der NSDAP gibt es eine inhaltliche Wesensverwandtschaft der NPD mit dem Nationalsozialismus, die auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 17. Januar 2017 feststellte. Die Partei verfolgt ihre verfassungsfeindlichen Ziele überdies in einer aggressiv-kämpferischen Weise. rechtsextremIsmus 67 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Dies zeigt nicht zuletzt ihre Zusammenarbeit mit gewaltbereiten Neonazis und Hooligans. Die NPD unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bundesverband Der fortdauernde Bedeutungsverlust der NPD hat in der ältesten rechtsextremistischen Partei eine Debatte über die künftige strategische Ausrichtung der NPD intensiviert. Bei ihrem letzten Bundesparteitag im November 2019 gab es dazu eine sehr kontroverse Debatte, die die Bruchlinien in der Partei verdeutlichte. Eine Mehrheit der Delegierten beschloss ein Konzept, wonach auch geprüft werden solle, ob die Partei sich einen neuen Namen geben solle. Der Landesvorsitzende aus Nordrhein-Westfalen war auf Seiten der Mehrheit. Im Jahr 2020 setzte sich der innerparteiliche Streit fort. Die Minderheit der Traditionalisten brachte mit der Stimme Deutschland eine eigene Publikation heraus, um für ihren Kurs innerparteilich zu werben und bezeichnet die Publikation selbst als Mitteilungsblatt NPD-treuer Verbände für Mitglieder. Eigentlich hatte der Parteivorstand geplant, die Parteistrategie auf Regionalkonferenzen zu diskutieren. Aufgrund der Corona-Pandemie fanden die Konferenzen aber nicht statt. Insofern ist der Kurs weiterhin ungeklärt und der Streit setzt sich fort, was unter etlichen Mitgliedern für Verdruss sorgt. Gleichwohl gibt es in der NPD keinen Dissens über ihre rechtsextremistische Agenda. Kommunalwahl 2020 Der Bedeutungsverlust der NPD zeigte sich nachdrücklich bei der Kommunalwahl 2020 in Nordrhein-Westfalen. Das sehr schwache Wahlkampfgeschehen der Rechtsextremisten verdeutlicht, dass die Partei in Nordrhein-Westfalen kaum noch über aktive Kreisverbände verfügt. So beschränkte sich der Wahlkampf auf einige Plakatierungen und einige wenige Infostände, die beispielsweise in Duisburg und Bochum stattfanden. Trotz des geringen Engagements war die rechtsextremistische Agenda deutlich zu erkennen. In der Woche vor der Kommunalwahl postete der NPD-Landesvorsitzende auf seinem Facebook-Profil den Text "Wir gegen alle Volksverräter-Parteien". Mit der Partei Die Rechte schloss man aufgrund der eigenen Schwäche eine Absprache, dass die beiden rechtsextremistischen Parteien in denselben Kommunen 68 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 nicht gegeneinander antreten und um das gleiche Wählerspektrum konkurrieren sollten. Die NPD trat aber auch in einigen Kommunen nicht mehr zur Ratswahl an, in denen sie bei der Kommunalwahl 2014 noch Mandate gewonnen hatte und in denen Die Rechte nicht kandidierte. Dies betraf Essen, den Facebook-Beitrag anlässlich der Kommunalwahlen 2020 in NRW Kreis Viersen, den Märkischen Kreis und den Rhein-Sieg-Kreis. In Dortmund stand die NPD zwar ebenfalls nicht zur Wahl, allerdings kandidierte ein Mitglied auf der Liste der Partei Die Rechte. Die NPD erlitt bei den Kommunalwahlen eine deutliche Niederlage. Sie verlor ihre fünf Mandate in den Räten der kreisfreien Städte und ihre vier Mandate in den Kreistagen . Lediglich in den kreisangehörigen Städten Hückelhoven und Lüdenscheid gelang es der NPD, ein Mandat zu gewinnen. Landesweit erhielt die Partei 1.776 Stimmen (2014: 14.137 Stimmen). Angesichts der wenigen Kommunen, in denen sie angetreten war, und den dort erzielten Ergebnissen manifestiert sich in Nordrhein-Westfalen der Status der NPD als Splitterpartei. Ebenfalls stellte die NPD nur in wenigen Städten Kandidaten zur Wahl des Oberbürgermeisters beziehungsweise des Bürgermeisters auf. Ergebnisse von mehr als zwei Prozent erzielte sie nur in Hückelhoven (2,6 Prozent) und Lüdenscheid (2,2 Prozent). Anlässlich der erstmaligen Wahl zum sogenannten Ruhrparlament bildeten NPD und Die Rechte die gemeinsame Wahlliste "Nationales Bündnis Ruhrgebiet". Diese erzielte lediglich ein Ergebnis im Promillebereich (4225 Stimmen; 0,23 Prozent). Das zeigt, dass die Kooperation zweier Kleinstparteien nicht zwangsläufig die Erfolgschancen an der Wahlurne erhöht. Propaganda Angesichts des Niedergangs der Parteistrukturen setzt die NPD verstärkt darauf, ihre Propaganda über soziale Medien zu verbreiten. In der Bundesgeschäftsstelle richtete man 2020 dafür ein Studio ein, um künftig verstärkt Propagandafilme für die sozialen Medien herzustellen, wovon die Parteiführung sich eine größere Aufmerksamkeit erhofft. Der NRW-Landesverband hingegen nutzt selbst die Möglichkeiten des Internets nur in einem geringen Ausmaß. In seiner Neujahrsansprache am 1. Januar 2020 auf rechtsextremIsmus 69 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Neujahrsansprache 2020 des NPD-Landesvorsitzenden auf YouTube YouTube verbreitete der Landesvorsitzende fremdenfeindliche Vorurteile, in denen er Migranten pauschal als Kriminelle und mit dem Begriff des Löwen entmenschlicht als Raubtier darstellte: "Ständig sogenannte Einzelfälle in den Bereichen Terror, Messerstecherei, Vergewaltigung, Schwimmbadgrabscherei, Überfälle und neuerdings auch Zugschubserei haben unser Land und unseren Kontinent in ein Survival-Camp verwandelt, in dem die einheimische Bevölkerung das Futter für die Löwen ist." Gelegentlich veröffentlichte der Landesverband auch auf Twitter seine Propaganda. Beispielsweise griff er am 26. Juni 2020 auf Widerstandsrhetorik zurück, um gegen das demokratische System zu agitieren. In diesem Zusammenhang distanzierte er sich von der AfD, die er als "blaue Brille" bezeichnete: "In Zeiten wie diesen, braucht unser Land ein nationales Korrektiv. Das seichte Herumdoktern an den Problemen des kranken Systems mag manchem Landsmann eine blaue Brille verpasst haben, ändern wird es jedoch nichts. Es ist Zeit für nationalen #Widerstand!" Den öffentlich bekannt gewordenen Ausschluss eines Rechtsextremisten aus einem Düsseldorfer Karnevalsverein nahm der NPD-Landesvorsitzende zum Anlass, um am 14. Januar 2020 eine antisemitische Tirade auf seinem Facebook-Profil zu veröffentlichen, die er nur pro forma als Satire auszugeben versuchte: "Seit Jahren ist ein Juden-Anwalt, der auch Moslems vertreten soll, im Düsseldorfer Narrencollegium aktiv. Nun wurde der Fall 70 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 zum Politikum, unter anderem die NPD-NRW beschwerte sich. [...] Wenig später wurde bekannt, dass der so beschuldigte Schmuel Trompetenschleim aus dem Düsseldorfer Karnevalsverein 'Narrencollegium' austritt. [...] Zu den Kritikern des Narrencollegiums gehörte unter anderem der Brauchtumsmanager der NPD-NRW, Claus Cremer. Er kritisierte Trompetenschleims' Mitgliedschaft gegenüber der 'Deutschen Stimme' so: 'Ich bin entsetzt und verspüre ein leichtes Gefühl von Ekel'. " Eigene Kundgebungen führte der NRW-Landesverband im Jahr 2020 nicht durch. Stattdessen beteiligten sich die Rechtsextremisten gelegentlich an von anderen Rechtsextremisten organisierten Protestkundgebungen. So trat der Landesvorsitzende bei einer rechtsextremistischen Kundgebung am 17. Oktober 2020 in Bremerhaven auf, auf der gegen das im Bundesland Bremen geltende Verbot von Reichskriegsflaggen demonstriert wurde. Corona-Pandemie Im Laufe des vergangenen Jahres änderte die NPD in Nordrhein-Westfalen ihre Strategie in Bezug auf die Corona-Pandemie. Zunächst befürwortete die rechtsextremistische Partei Schutzmaßnahmen und sagte eigene Veranstaltungen ab. Im Laufe des vergangenen Jahres ging man dann zunehmend auf die Protestbewegung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu. So schrieb der Landesverband auf seinem Facebook-Profil am 12. Mai 2020, dass die NPD den überparteilichen Protest in vielen Städten begrüße. In der zweiten Jahreshälfte versuchten die Rechtsextremisten, die mit den Protestveranstaltungen einhergehende Öffentlichkeit für ihre Zwecke zu nutzen. Bei einer großen Protestveranstaltung in Leipzig am 7. November 2020 beteiligten sich neben Claus Cremer weitere NPD-Politiker aus anderen Landesverbänden. Um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, trugen sie gemeinsam ein Banner mit dem Text "Deutschland gegen den Corona-Wahnsinn". Des Weiteren nahm der Landesvorsitzende am 21. November 2020 an einer Kundgebung der Initiative Querdenken in Bochum teil und gab dabei Medien ein Interview. Auch virtuell versuchte die NPD, die Pandemie zu instrumentalisieren. Mit einer Online-Aktion am 26. April 2020 unter dem Titel "#SystemExit jetzt!" wollte die Partei öffentliche Aufmerksamkeit erzielen und die durch die Pandemie ausgelösten Probleme nutzen, um Skepsis und Gegnerschaft zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu verstärken:"'Das System ist am Ende, wir sind die Wende!' So riefen wir es auf unzähligen Demos, noch nie war ein Systemwechsel so greifbar wie derzeit. " rechtsextremIsmus 71 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Aufruf der NPD zu einer Online-Demonstration mit dem Hashtag #SystemExit 72 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Dazu sollten die Partei-Anhänger unter dem Hashtag #SystemExit Texte, Bilder oder Videos in sozialen Netzwerken verbreiten, in denen das Scheitern des Systems behauptet wird. Allerdings schlug die angekündigte "Flutung des Internets" fehl. Durch fehlende Unterstützung aus der rechtsextremistischen Szene und das virtuelle Besetzen des Hashtags #SystemExit durch politische Gegner wurde die groß angekündigte "erste nationale Demonstration in den sozialen Netzwerken" weitgehend ein Fehlschlag. Antrag, die NPD von der Parteienfinanzierung auszuschließen Im Juli 2019 haben der Bundesrat, der Bundestag und die Bundesregierung einen 150-seitigen Antrag beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, die NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen. Sollte der Antrag Erfolg haben, würden der NPD zugleich die Steuerprivilegien für Parteien aberkannt. Laut den Antragstellern verfolgt die rechtsextremistische Partei planvoll das Ziel, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts war das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht noch anhängig. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die NPD ist eine verfassungsfeindliche Partei. Obwohl der Landesverband in Nordrhein-Westfalen versucht, mit fremdenfeindlichen Kampagnen die Öffentlichkeit zu erreichen, verliert er weiterhin an Bedeutung. Die Niederlage bei den Kommunalwahlen 2020 hat diese Entwicklung nochmals verstärkt. Eine Trendumkehr ist vorerst nicht wahrscheinlich, da sich keine innerparteiliche Alternative aufdrängt und kaum noch handlungsfähige Kreisverbände existieren. Der innerparteiliche Streit im Bundesverband um die strategische Neuausrichtung und die Kontroverse um die eventuelle Umbenennung schwächt die NPD zusätzlich. Zudem folgt der Verunsicherung etlicher Parteimitglieder durch das abgeschlossene Verbotsverfahren nun die Verunsicherung wegen der möglichen Entziehung staatlicher Gelder. rechtsextremIsmus 73 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Aufbruch Leverkusen e.V. Sitz/Verbreitung Leverkusen Gründung/Bestehen seit 2019 Struktur/ Repräsentanz Lokaler Verein in Leverkusen Mitglieder/Anhänger/ 30 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Internetpräsenzen Kurzporträt/Ziele Bei der Gruppierung Aufbruch Leverkusen e.V. handelt es sich um eine lokal agierende Nachfolgeorganisation von Pro NRW, deren Akteure sich aus der aufgelösten Partei rekrutieren. Thematisch setzt man die fremdenund islamfeindlichen Kampagnen von Pro NRW fort. Weiterhin sucht Aufbruch Leverkusen e. V. die Zusammenarbeit mit der Gruppierung Aufbruch Deutschland 2020 und zu Kleinstgruppierungen aus dem Umfeld der rechtsextremistischen Mischszene. Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Gruppierung Aufbruch Leverkusen e.V. missachtet mit ihren Aussagen und Forderungen die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, insbesondere die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot. Sie vermittelt ein negatives Menschenbild über bestimmte Minderheiten, welches ausschließlich an deren Nationalität oder Religionszugehörigkeit anknüpft. Dabei greifen sowohl Wortwahl als auch die Argumentationsmuster die Menschenwürde an und sind deshalb nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Aufbruch Leverkusen unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. 74 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Auch 2020 setzte Aufbruch Leverkusen e.V. seine Kampagnen gegen Minderheiten fort. Wie bereits früher Pro NRW versuchten die Rechtsextremisten Vorurteile zu schüren, in dem sie Migranten und Muslime pauschal negativ charakterisierten und sie als Bedrohung von Sicherheit und Wohlstand darstellten. Beispielsweise versuchte die Gruppierung mit dem Slogan "Sozialer Wohnungsbau statt Asyl-Luxusunterkünfte" zu suggerieren, dass Flüchtlinge wohnungspolitisch weit übermäßig bevorteilt werden, um gegen diese gerichteten Sozialneid hervorzurufen. Weiterhin agitiert Aufbruch Leverkusen e.V. seit 2019 gegen den Bau einer repräsentativen Moschee in Leverkusen. Die Rechtsextremisten versuchten fortwährend, dem Bauherren negative Absichten zu unterstellen, in dem sie ihm vorwarfen, eine "orientalische Protzmoschee" bauen zu wollen. Zudem zielten sie darauf ab, Ängste in der Bevölkerung hervorzurufen, indem sie prognostizierten, dass dort "Hassprediger" auftreten werden würden. Internetseite von Aufbruch Leverkusen e.V. mit einem Beitrag , der sich gegen den Bau einer Moschee in Leverkusen/Manfort ausspricht rechtsextremIsmus 75 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Im Rahmen dieser Kampagne organisierte Aufbruch Leverkusen e.V. am 23. Mai 2020 eine Versammlung gegen den Bau der Moschee. Dabei kooperierte die Gruppierung mit den Protagonisten mehrerer anderer rechtsextremistischer Kleinstgruppen. Von Mitgliedern der Gruppierung, aber auch von Andre Poggenburg von Aufbruch Deutschland 2020, Steffi v. L. von der Kleinstgruppierung NRW stellt sich quer aus der rechtsextremistischen Mischszene und Alexander K., einem rechtsextremistischen Gewalttäter, der bereits in der NPD und der Partei Die Rechte aktiv war, wurden auf der Versammlung Reden gehalten. Trotz der vielen im Vorfeld angekündigten Redner nahmen nur rund 20 Zuhörer an der Veranstaltung teil. Steffi L. hielt dabei eine islamfeindliche Rede: "Der Islam ist keine Religion, der Islam ist eine feindliche, fundamentalistische Ideologie [...] und verteilt seine Ideologie mit Gewalt, dem Schwert, Mord und Unterdrückung". Mit dieser durchweg negativen Beschreibung des Islam sprach sie Muslimen implizit das Recht ab, ihre Religion auszuüben. Der Vorsitzende von Aufbruch Leverkusen, Markus Beisicht, ehemaliger Vorsitzender von Pro NRW, nutzte die Veranstaltung zugleich als Wahlkampfauftakt für die anstehende Kommunalwahl. Bei der Kommunalwahl 2020 erzielte Aufbruch Leverkusen e.V. 1,4 Prozent der Stimmen und ist damit mit einem Sitz im Stadtrat vertreten. Gegenüber der letzten Wahl im Jahr 2014, als die Gruppierung noch als Pro NRW antrat, ist dies ein deutlicher Verlust. Damals bekam man 4,4 Prozent der Wählerstimmen und zwei Sitze im Stadtrat. Zur Bürgermeisterwahl 2020 trat der Vereinsvorsitzende Beisicht an und erzielte 1,8 Prozent der Stimmen. Zu Beginn des Jahres, am 12. Januar 2020, veranstaltete die Ratsgruppe von Aufbruch Leverkusen e.V. einen Neujahrsempfang. Dazu lud man unter anderem Redner anderer rechtsextremistischer Kleinstgruppierungen wie Andre Poggenburg von Aufbruch Deutschland 2020 ein. Die ehemalige AfD-Landesvorsitzende aus Schleswig-Holstein, Doris von Sayn-Wittgenstein, die von der AfD wegen parteischädigenden Verhaltens ausgeschlossen wurde, hielt dort ebenfalls eine Rede, in der sie Geschichtsrevisionismus mit Fremdenfeindlichkeit verband. Der Angriffskrieg des NS-Regimes wurde als Auftrag an die heutige Gesellschaft umgedeutet, Migranten auszugrenzen: "Wir haben nicht in zwei Kriegen gekämpft, unsere Altvorderen haben dieses Land nicht aufgebaut, damit wir Fremde im eigenen Land sind. Und einer radikalen Politik, wie sie von der Regierung gegen das eigene Volk betrieben wird, muss man auch radikal entgegnen." Am 29. Oktober 2020 fand die zweite Jahreshauptversammlung des Vereins statt. Zum neuen Vorsitzenden wurde Winfried Kranz gewählt. Der bisherige Vorsitzende Beisicht fungiert seitdem als Beisitzer. 76 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Wahlwerbung auf der Internetseite des Aufbruch Leverkusen e.V. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Gruppierung bemüht sich, sich mit anderen rechtsextremistischen Gruppierungen zu vernetzen. Allerdings gelingt ihr das nur mit einigen wenigen Kleinstgruppierungen. Ihre öffentliche Wirkung reicht nicht über Leverkusen hinaus. Bislang stellt sie die lokale Fortsetzung der aufgelösten Partei Pro NRW dar. Strategische oder inhaltliche Innovationen sind nicht zu erkennen. Insofern besitzt sie lediglich die Bedeutung einer lokalen rechtsextremistischen Splittergruppe. rechtsextremIsmus 77 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Der Flügel Sitz/Verbreitung Zentrale bundesweite Kontaktanschrift: Heilbad Heiligenstadt (Thüringen), ab dem 30. April 2020 dezentrale Auffächerung Gründung/Bestehen seit 14. März 2015 (Veröffentlichung der "Erfurter Resolution") Struktur/ Repräsentanz Sammlungsbewegung; maßgebliche Leitund Identifikationsfigur: Björn Höcke; sogenannte Obleute auf Landesebene Mitglieder/Anhänger/ Land: circa 1.000 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Zentraler Internetauftritt, verschiedene Web-Angebote (darunter Internetversand und Rundbriefe, Online-Kanal) zum 30. April 2020 eingestellt; seitdem Verlagerung in geschlossene Gruppen in sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Der Flügel als offiziell aufgelöste, jedoch weiterhin agierende Sammlungsbewegung innerhalb der Partei Alternative für Deutschland (AfD) ist der Personenzusammenschluss mit der größten Wirkungsmacht im parlamentsorientierten Rechtsextremismus. Die ideologische Ausrichtung fokussiert sich im Wesentlichen auf das völkische Konzept des sogenannten Ethnopluralismus. Damit knüpft Der Flügel unmittelbar an den Entwurf einer ethnisch homogenen Gemeinschaft an, den die rechtsextremistische Neue Rechte vertritt. Diese Zielsetzung versucht Der Flügel zu verschleiern und stellt sich selbst als vermeintliches Sprachrohr einer bürgerlichen Mitte dar. 78 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Finanzierung Spenden; Der Flügel partizipiert entsprechend seiner Verankerung in den Parteistrukturen an den Mitgliedsbeiträgen. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die ideologische Ausrichtung des Flügels manifestiert sich in den Aussagen der führenden Funktionäre im Rahmen von Reden auf Veranstaltungen und in zentralen Positionspapieren. Es finden sich zahlreiche Stellungnahmen, die eine völkisch-nationalistische Ideologie propagieren beziehungsweise fremdenund muslimenfeindlich sind. Der Flügel propagiert ein in Teilen revisionistisches Geschichtsbild. Sein ethnisch homogener Volksbegriff, sein antiindividualistisches Menschenbild und seine darauf gründende Gegnerschaft zur gegenwärtigen politischen Ordnung sind in der Gesamtschau nicht mit der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde, dem Demokratieund dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar. Der Flügel unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Flügel-Anhänger in Nordrhein-Westfalen setzten ihre Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre mit den gemäßigteren Parteikräften innerhalb der AfD fort. Allerdings sind die Flügel-Anhänger öffentlich nicht mehr so sichtbar. Zum einen hängt dies damit zusammen, dass beim Landesparteitag der AfD im November 2019 keine Flügel-Anhänger mehr in den Landesvorstand gewählt wurden. Zum anderen hat sich Der Flügel im Frühjahr 2020 formell aufgelöst. Nachdem Der Flügel im März 2020 bundesweit durch den Verfassungsschutz als extremistische Bestrebung eingestuft wurde, forderte der AfD-Bundesvorstand, dass sich Der Flügel bis Ende April auflösen solle. Dem kamen die Führungsleute des Flügels scheinbar nach und stellten sämtliche öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten des Personenzusammenschlusses zum 30. April 2020 ein. Beispielsweise wurde deren Webseite vom Netz genommen. Zugleich erklärte jedoch die Führungsperson des Flügels, Björn Höcke, in einem Interview mit der rechtsextremistischen Zeitschrift SerechtsextremIsmus 79 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Internetseite von Der Flügel kurz vor dessen Auflösung zession am 21. März 2020 die "Historisierung" der Gruppierung, da diese inzwischen integraler Bestandteil der Partei sei und ihre Agenda innerhalb der AfD weiterverfolgen werde: "Unsere Arbeit weist über den Flügel hinaus, Andreas Kalbitz, ich selbst und alle anderen politikfähigen "Flügler" werden ihren politischen Kurs im Sinne der AfD weiterführen." Tatsächlich hat sich Der Flügel in geschlossene Gruppen in den sozialen Netzwerken verlagert. Auch in Nordrhein-Westfalen gibt es weiterhin Anhänger des Flügels. Am 5. Dezember 2020 organisierte der AfD-Kreisverband Höxter eine Veranstaltung mit Björn Höcke als Hauptredner. Dieser verbreitete in seiner Rede Verschwörungsmythen. Er behauptete, es gebe einen gesteuerten Prozess von angeblichen "Globalisten", um die Nationalstaaten zu entmachten: "Die Leitmedien werden unterwandert und als neue Dienstklassen etabliert. Genauso ist es mit den Wirtschaftsverbänden, mit den Gewerkschaften, den Amtskirchen, den Universitäten bis hin zu den Parteioligarchien, samt des von ihnen okkupierten Staatsapparates und das bedeutet, dass auch der sogenannte Verfassungsschutz dazu gehört." Zudem argumentierte er völkisch-nationalistisch und sprach sich gegen die universelle Geltung der Menschenrechte aus: "Nahziel dieses gesteuerten Prozesses ist die vollständige Entmachtung der Nationalstaaten, die Zerbröselung aller gewachsenen Gemeinschaften von den Familien bis zu den Völkern, das Zersetzen aller traditionellen Werte durch einen beliebig auslegbaren Menschenrechtsuniversalis80 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 mus [...]" Bemerkenswert ist die starke Zustimmung des Publikums zu diesen rechtsextremistischen Aussagen. Video auf dem YouTube-Kanal von Björn Höcke mit seiner Rede auf dem Parteitreffen in Höxter am 05.12.2020 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Flügel ist ein bundesweit agierender rechtsextremistischer Personenzusammenschluss, der trotz formeller Auflösung informell weiter agiert. In Nordrhein-Westfalen stellt er einen relevanten, jedoch nicht vorherrschenden Faktor im Landesverband der AfD dar. Ein Ausgleich zwischen den zerstrittenen Strömungen ist nicht absehbar. Allerdings streitet man hauptsächlich um innerparteiliche Macht und das öffentliche Erscheinungsbild, während eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Positionen des Flügels weitgehend unterbleibt. rechtsextremIsmus 81 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Der III. Weg Sitz/Verbreitung Bundesverband: Weidenthal (Rheinland-Pfalz); Verbreitung hauptsächlich in Südund in Ostdeutschland; zwei Stützpunkte in NRW Gründung/Bestehen seit 28. September 2013 in Heidelberg Struktur/ Repräsentanz Vorsitzender Bundesverband: Klaus Armstroff Vorsitzender Landesverband West (ehemals Gebietsverband West): Julian Bender Drei Landesverbände: Bayern, Sachsen und West. 2020 erfolgte eine Umbenennung der bisherigen Gebietsverbände in Landesverbände. 19 teilweise länderübergreifende sogenannte Stützpunkte, zwei davon in Nordrhein-Westfalen. Gründung des Stützpunkt Sauerland-Süd am 29. Dezember 2015, umfasst insbesondere Siegen und den Landkreis Olpe. Der Stützpunkt Rheinland, am 16. März 2019 gegründet, umfasst den Großraum Düsseldorf und Köln. Mitglieder/Anhänger/ NRW: rund 35 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen verschiedene Internetpräsenzen Kurzporträt/Ziele Die Partei-Gründung erfolgte zunächst unter Beteiligung einzelner ehemaliger NPD-Mitglieder und Neonazis aus Rheinland-Pfalz und Hessen. Als sich 2014 in Bayern ein Verbot des Neonazi-Netzwerks Freies Netz Süd abzeichnete, trat ein Teil der betroffenen Neonazis in die Partei Der III. Weg ein und sah die Partei als Auffangstruktur, 82 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 um staatlichen Exekutivund Verbotsmaßnahmen zu entgehen. Die Aktivisten nutzen somit den Schutzmantel des Parteienprivilegs, um ihre neonazistischen Aktivitäten fortzusetzen. Finanzierung Überwiegend durch Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Partei Der III. Weg propagiert ein rechtsextremistisches Staatsund Gesellschaftsbild, insbesondere greift sie völkisch-nationalistische Elemente des historischen Nationalsozialismus auf. So lehnt sie sich mit ihrem 10-Punkte-Programm ideologisch an das Gedankengut der NSDAP an und fordert einen "deutschen Sozialismus" ein. Zudem beteiligt sich die Partei an revisionistischen Kampagnen, die darauf abzielen, nationalsozialistische Verbrechen zu relativieren. Das Parteiprogramm zeigt, dass die Rechtsextremisten eine ethnisch homogene Gesellschaft im Sinne des völkischen Nationalismus anstreben, die durch die rigide Ausgrenzung aller vermeintlich Fremden ohne Rücksicht auf die Menschenrechte verwirklicht werden soll. Diesem Verständnis folgend agitiert die Partei vor allem gegen Flüchtlinge. Zahlreiche Mitglieder waren zuvor in anderen rechtsextremistischen Organisationen aktiv. Zudem pflegt die Partei Kontakte zu verschiedenen rechtsextremistischen Organisationen in Europa, wie zum Beispiel "Die Goldene Morgenröte" (Griechenland), "Bulgarischer Nationalbund" und "Nordische Widerstandsbewegung" (Schweden). Der III. Weg unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum 2020 gelang es dem III. Weg seine Strukturen in Nordrhein-Westfalen auszubauen. In Siegen eröffnete die rechtsextremistische Partei am 6. Juli 2020 ein Parteibüro, das sie selbst als "nationalrevolutionäre Anlaufstelle" bezeichnet. Über eigene Räumlichkeiten zu verfügen ist ein Teil der Parteistrategie und zielt darauf ab, sogenannte nationale Freiräume zu schaffen, in denen die Rechtsextremisten möglichst ungestört ihren Aktivitäten nachgehen können. Dazu gehörte beispielsweise auch eine Rechtsschulung rechtsextremIsmus 83 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 durch einen als Anwalt tätigen Rechtsextremisten aus Hessen im August 2020. Des Weiteren versucht Der III. Weg sich als "Kümmererpartei" für Deutsche darzustellen, um Sympathien und letztlich neue Anhänger zu gewinnen. So gehören zum Siegener Parteibüro vorgeblich eine Kleiderkammer und eine Tafel für Haustiere von ärmeren deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Der regionale Schwerpunkt der Aktivitäten der Partei in Nordrhein-Westfalen blieb im Jahr 2020 Siegen. Der III. Weg hielt dort regelmäßig Veranstaltungen und Kundgebungen ab. Weiterhin war der Stützpunkt Sauerland-Süd in Olpe aktiv. Am 8. August 2020 veranstaltete der Ortsverband den dritten "Tag der Heimattreue". Mit der Durchführung des "nationalrevolutionären Festes" wollte die Partei ihre rechtsextremistische Flyer zum jährlich stattfindenden "Tag der Heimattreue" in Olpe Weltanschauung auf die Straße tragen. Neben politischen Vorträgen wurde ein Selbstverteidigungskurs angeboten. Außerdem trat der neonazistische Rapper Makss Damage auf. Nachdem im September 2020 ein queerer Aktivist in Siegen von Jugendlichen erst schwulenfeindlich beleidigt und dann tätlich angegriffen wurde, nutzte Der III. Weg dies, um das Opfer zu verhöhnen und schwulenfeindliche Propaganda zu verbreiten. Dazu posierten vier Rechtsextremisten der Partei vor der Wohnung des Betroffenen, um vorgeblich ein Foto mit Schildern ihrer Parteipropaganda aufzunehmen. Tatsächlich diente die Aktion aber dazu, die Person einzuschüchtern. Vergleichbar agierte die rechtsextremistische Partei in einem anderen Fall. Als im Januar 2020 in Finnentrop Unbekannte zahlreiche Steine gegen ein Moscheeund Kultur84 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 zentrum warfen und dabei Scheiben und die Fassade beschädigten, veröffentlichte Der III. Weg einen hämischen, islamfeindlichen Beitrag auf ihrer Webseite. Darin heißt es: "Diese Tat zeigt jedoch erneut, dass Multikultur aus aller Herren Länder nichts anderes als gesellschaftliche Spannungen mit sich bringt, die immer zum Nachteil des angestammten Volkes, also dem deutschen Volk, ausfallen." Weiterhin sind für den Stützpunkt Sauerland-Süd revisionistische Veranstaltungen von wesentlicher Bedeutung. So versuchte man dort, durch Gedenkveranstaltungen den Eindruck hervorzurufen, dass das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg das Opfer der Alliierten war. Eine entsprechende Veranstaltung führte die Partei am 28. März 2020 in Olpe durch. Ebenso begingen die Rechtsextremisten im November den Volkstrauertag als "Heldengedenken". Diese Umwidmung geht auf die Nationalsozialisten zurück, die 1934 aus ideologischen Gründen nicht mehr um die Toten trauerten, sondern sie als Helden verehren wollten. Auch der bereits in 2019 gegründete Stützpunkt Rheinland hat 2020 ein "Heldengedenken" begangen. Als Termin wählte man bezeichnenderweise den 16. März. Auf diesen Termin verlegte Adolf Hitler 1939 den "Heldengedenktag". Mit dem Anknüpfen an diesen Termin stellt die Partei sich bewusst in die Tradition des Nationalsozialismus. Der Stützpunkt Rheinland hat sich zum Ziel gesetzt, auf seine "nationalrevolutionäre Alternative" aufmerksam zu machen. Die Aktivitäten des Stützpunktes Rheinland beschränkten sich allerdings in Düsseldorf und angrenzenden Städten vor allem darauf, dort Flugblätter zu verteilen. Anlässlich einer Messerstecherei im Mai 2020 am Düsseldorfer Hauptbahnhof schrieben die Rechtsextremisten in rassistischer Diktion von einem "blutigen[n] Messerkampf zwischen Negern und Nordafrikanern". Gelegentlich nahmen die Rechtsextremisten an Veranstaltungen anderer Partei-Stützpunkte teil. Die Corona-Pandemie und die durch die Bundesund die Landesregierungen getroffenen Schutzmaßnahmen waren auch für die Rechtsextremisten 2020 ein zentrales Thema. Ein Grundsatzbeitrag vom 3. April 2020 auf der Webseite der Partei hatte den Titel "Das System ist am Ende". Darin spricht sich die Partei für revolutionäre Veränderungen aus. Außerdem werden Migranten, insbesondere Flüchtlinge, zu Sündenböcken erklärt: "Ethnien erweisen sich als Bruchlinien der Bevölkerung. Während sich Deutsche an die Ausgangssperren halten, sind nicht nur Asylforderer alles andere als begeistert von den Maßnahmen. [...]Auch in Italien untergraben Migranten die Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie." Ihren Protest gegen die Corona-Schutzmaßnahmen verbreitete die Partei unter dem Slogan "Das System ist gefährlicher als Corona!" und zeigte damit, dass es ihr nicht um eine kritische Diskussion von einzelrechtsextremIsmus 85 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 nen Maßnahmen ging, sondern darum, die Feindschaft gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu verbreiten. Beitrag auf der Internetseite von Der III. Weg gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie Im Verlauf der Pandemie rief die Partei dazu auf, sich an den Protesten gegen staatliche Maßnahmen vor Ort zu beteiligen. So nahmen Mitglieder von Der III. Weg an einer Versammlung am 6. Dezember 2020 in Düsseldorf teil. Sie gehörten dabei mit zu einer Personengruppe, die im Laufschritt in Richtung von Gegenprotestlern außerhalb der Versammlungsfläche lief. Die Gruppe wurde durch die Polizei aufgehalten. Der Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Stützpunktes Sauerland-Süd, Julian Bender, versuchte sich daraufhin als Wortführer der Gruppe gegenüber der Polizei. Allerdings wurde die Gruppe von der Versammlung ausgeschlossen und anschließend von der Polizei geschlossen zum Hauptbahnhof begleitet. Eine Gruppe von Parteiaktivisten aus Nordrhein-Westfalen nahm ebenfalls an der vom III. Weg am 3. Oktober 2020 in Berlin durchgeführten Demonstration gegen die Corona-Schutzmaßnahmen teil. Bender hielt dort eine Rede, in der er völkischen Nationalismus in revolutionärer Rhetorik vortrug: "Der Kampf um und in der Hauptstadt bildet immer ein besonderes Kapitel in der Geschichte revolutionärer Bewegungen. [...] eine deutsche Jugend, eben die Jugend, die keinen Migrationshintergrund hat, die hier für den Kampf um Deutschland bereit steht." Der III. Weg ist bei der Kommunalwahl 2020 in Nordrhein-Westfalen nicht angetreten. Obschon die Partei in Siegen und Olpe zahlreiche öffentlichkeitswirksame Aktionen durchführte, hat sie sich nicht um eine Wahlteilnahme bemüht. Das zeigt, dass die Par86 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 tei das parlamentarische System grundsätzlich ablehnt und sie nur an Wahlen wie der Bundestagswahl teilnimmt, um den Parteistatus aufrecht zu erhalten. Deshalb will die rechtsextremistische Partei auch bei der 2021 anstehenden Bundestagswahl antreten. Nach bisheriger Planung soll der Wahlkampf unter dem Motto "Freiheit statt Corona-Diktatur" stattfinden. Bewerbung des Online-Shops von der Der III. Weg mit Artikeln, die den Protest-Slogan "Das System ist gefährlicher als Corona!" tragen Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Partei Der III. Weg stellt weiterhin in erster Linie eine Auffangstruktur für Neonazis dar. Mit dem Parteienstatus beabsichtigt sie, staatliche Sanktionsmaßnahmen zu erschweren. Die maßgeblichen Aktivitäten der Partei gehen in Nordrhein-Westfalen vom Stützpunkt Sauerland-Süd aus. Dieser ist gewillt, seine Arbeit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung fortzusetzen. Vor allem versuchten die Rechtsextremisten im Jahr 2020, sich die Skepsis gegen die Corona-Schutzmaßnahmen in Teilen der Bevölkerung zu Nutze zu machen und die Proteste zu radikalisieren. Die Planungen für den anstehenden Bundestagswahlkampf zeigen, dass Der III. Weg diese Strategie weiter verfolgen möchte. rechtsextremIsmus 87 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Rechte Sitz/Verbreitung Bundesgeschäftsstelle in Dortmund; der Landesverband Nordrhein-Westfalen verfügt über zehn Kreisverbände, deren regionaler Schwerpunkt im Ruhrgebiet liegt. Gründung/Bestehen seit Bundesverband: 27. Mai 2012, Landesverband: 15. September 2012 Struktur/ Repräsentanz Bundesvorsitzende: Sascha Krolzig und Sven Skoda; Landesvorsitzender: Sascha Krolzig; insgesamt ein Ratsmandat und zwei Mandate in der Bezirksvertretung Dortmund-Huckarde. Mitglieder/Anhänger/ NRW: 290 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Webangebote: Veröffentlichung der Partei auf Bundesund Landesebene überwiegend über soziale Medien wie Facebook oder Twitter; Website Dortmundecho (bis September 2020) als Hauptsprachrohr des Landesverbandes beziehungsweise des Kreisverbandes Dortmund; alle Artikel erscheinen auch auf der Homepage des Bundesverbandes. Kurzporträt/Ziele Der Landesverband Nordrhein-Westfalen der Partei Die Rechte ist vor allem ein Sammelbecken von Neonazis, die aus den 2012 verbotenen Kameradschaften in Dortmund, Hamm und Aachen kommen. Der Aufbau von neuen Kreisverbänden hat jedoch auch neues Personenpotenzial an die Partei herangeführt. 88 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ziel des Landesverbandes ist es weiterhin, die bisherigen neonazistischen Aktivitäten nunmehr im Schutz des sogenannten Parteienprivilegs zu betreiben und neonazistische Propaganda zu verbreiten. Die Kreisverbände stellen die eigentlichen politischen Akteure dar, die autonom über inhaltliche Belange und Aktivitäten entscheiden. Diese Organisationsstruktur stellt den Versuch dar, dezentrale Strukturen der Neonaziszene in vormals lokalen Kameradschaften in eine Parteiorganisation zu überführen. Die meisten Mitglieder dürften ihre Organisation ebenfalls weiterhin nicht als Partei begreifen. Hauptsächlich geht es den Aktivisten darum, ihre "Erlebniswelt Rechtsextremismus" vor staatlichen Repressionsmaßnahmen zu schützen. So gestaltet Die Rechte Demonstrationen, Mahnwachen, Geburtstagspartys, Rechtsrockkonzerte und Sonnenwendfeiern nunmehr als Parteiveranstaltungen aus. Der Landesverband hat im Jahr 2020 eine unverändert führende Rolle innerhalb der Bundespartei Die Rechte eingenommen. Finanzierung Mitgliedsbeiträge der Parteimitglieder und Einnahmen aus Spenden. Im Jahr 2020 wurde von der Partei Die Rechte mehrfach dazu aufgerufen, Spenden zu leisten, um die politische Arbeit der Partei zu unterstützen. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Partei Die Rechte ist ein Sammelbecken für Neonazis, ideologisch wesensverwandt mit dem Nationalsozialismus und tritt in aggressiv-kämpferischer Weise auf. Dies trifft insbesondere auf den Landesverband Nordrhein-Westfalen zu, der den Bundesverband dominiert. rechtsextremIsmus 89 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Politische Schwerpunkte der Partei Die Rechte sind Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Des Weiteren stellte sich die Partei Die Rechte offen in eine nationalsozialistische Tradition. So änderten sie bereits im Jahr 2017 das Parteiprogramm dahingehend, dass sich die Partei nunmehr zur "Volksgemeinschaft" bekennt, dem zentralen gesellschaftspolitischen Leitbild in der nationalsozialistischen Ideologie. Die Partei Die Rechte versucht, die von ihnen ausgemachten Gegner der Partei einzuschüchtern. Zu diesen Gegnern zählen Politiker, Journalisten und Bürger, die sich kritisch mit der Partei Die Rechte auseinandersetzen, sowie Behördenmitarbeiter, die im Sinne der wehrhaften Demokratie repressive Maßnahmen gegen Neonazis veranlassen. Meistens formulieren die Parteiaktivisten ihre Bedrohungen jedoch unterhalb der Grenze der Strafbarkeit. Zugleich sind die Einschüchterungsversuche eindeutig genug, so dass die Adressierten wissen, wie es gemeint ist. Die Partei verfolgt die Strategie, Provokation und Einschüchterung zu maximieren und das strafrechtliche Risiko zu minimieren. Beispielsweise veröffentlichte der Kreisverband Gelsenkirchen im November 2020 die Namen von Mitarbeitern der Stadt auf seinem Twitteraccount und drohte unterschwellig: "Da Hacken wir bei Zeiten auch nach." Die Rechte unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bundesverband Personell geriet der Bundesvorstand 2020 in Schwierigkeiten, weil ein Teil der Vorstandsmitglieder inhaftiert war. Der Bundesvorsitzende Sascha Krolzig war bereits im Februar 2018 durch das Amtsgericht Bielefeld wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Er hatte auf einer von ihm zu verantwortenden Internetseite im Jahr 2016 einen Artikel veröffentlicht, in dem er den Vorsitzenden einer jüdischen Gemeinde unter anderem als "der freche Juden-Funktionär" bezeichnet hatte. Das Urteil wurde in einer Berufungsverhandlung im Januar 2020 durch das Oberlandesgericht Hamm bestätigt (Az. III-3 RVs 1/20). Die Richter führten in ihrer Begründung aus, dass der Begriff des "frechen Juden" zum charakteristischen Vokabular der Sprache des Nationalsozialismus gehöre und die Äußerung zum Hass gegen Menschen jüdischen Glaubens aufstachele. Krolzig legte Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil ein, die vom Bundesverfassungsgericht am 10. Juli 2020 abgewiesen wurde. Zudem wurde er im Jahr 2020 unter Einbeziehung dieser sechsmonatigen Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten ohne Bewährung wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Volksverhetzung sowie des Verwendens verfassungsfeind90 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 licher Symbole verurteilt. Krolzig hatte 2016 in einer Gaststätte in der Dortmunder Innenstadt einen Migranten angegriffen. Dabei hat der Parteivorsitzende das Opfer rassistisch beleidigt, "Heil Hitler" skandiert und den sogenannten Hitlergruß gezeigt. Mitte Juli 2020 trat Krolzig seine Haft an. Das Bundesvorstandsmitglied Christoph Drewer war bereits 2019 wegen Volksverhetzung verurteilt worden. Er trat am 18. November 2019 seine Haft an und verbüßte diese auch in 2020 weiter. Landesverband Nordrhein-Westfalen Durch seine Inhaftierung fehlte Krolzig als Landesvorsitzender auch seinem Landesverband. Der stellvertretende Landesvorsitzende Michael Brück, zugleich Führungsfigur im Dortmunder Kreisverband, zog Ende 2020 nach Sachsen um und fehlte dem Landesverband daher ebenfalls. Allerdings nimmt der Landesverband kaum eigene Aufgaben wahr. Meistens werden im Namen des Landesverbandes lediglich Versammlungen angemeldet, wobei es sich tatsächlich um Demonstrationen des Dortmunder Kreisverbandes handelt, die überwiegend auch in Dortmund stattfinden, oder um Versammlungen, die zumindest maßgeblich von Dortmunder Parteimitgliedern unterstützt werden. Der Landesverband umfasste 2020 neun Kreisverbände (Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen/Recklinghausen, Hamm, Heinsberg/Aachen, Ostwestfalen-Lippe, Rhein-Erft, Unna und Wuppertal) und drei sogenannte Stützpunkte (Kleve/Wesel, Köln, Schwelm/ Ennepe-Ruhr). Führend innerhalb des Landesverbandes ist der Kreisverband Dortmund, der rund 80 bis 100 mobilisierbare Anhänger hat. Der Kreisvorsitzende Siegfried Borchardt musste Ende August 2020 zum wiederholten Mal eine Haftstrafe antreten. Durch die Inhaftierung von Krolzig, Drewer und Borchardt sowie weiterer Aktivisten und den Wegzug von Brück ist die Dortmunder Szene erkennbar geschwächt. Des Weiteren wurde im Oktober 2020 auch der Vorsitzende des Gelsenkirchener Kreisverbandes zu einer dreimonatigen Haftstrafte verurteilt. Das Urteil ist zum Redaktionsschluss dieses Berichts aber noch nicht rechtskräftig. Durch die enge personelle Verflechtung der Führungspersonen des Kreisverbands Dortmund sowohl mit dem Landesals auch mit dem Bundesverband der Partei Die Rechte beschränkte sich der Aktionsraum der Rechtsextremisten aus Dortmund wie in den Vorjahren nicht auf das Stadtgebiet Dortmunds. Vielmehr reisten Anhänger des Kreisverbands Dortmund auch regelmäßig zu Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene in anderen Städten Nordrhein-Westfalens, in anderen BundesrechtsextremIsmus 91 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 ländern und im Ausland. Die Führungspersonen des Kreisverbands traten immer wieder als Redner bei Veranstaltungen auf. Kommunalwahl 2020 Die Partei Die Rechte nahm an der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen am 13. September 2020 teil. Landesweit erzielte die Partei 2.582 Stimmen (Kommunalwahl 2014: 2.755), wobei sie nur in Dortmund und Hamm antrat. Hierbei hatte sich die Partei hinsichtlich der Wahlantritte in den Kommunen mit der NPD abgestimmt, um eine Zersplitterung der Wählerstimmen möglichst zu vermeiden. In Dortmund erzielte sie 1,12 Prozent der abgegebenen Stimmen und in Hamm 0,3 Prozent. Für Die Rechte fiel das Ergebnis ernüchternd aus. Sie verlor das Mandat im Rat der Stadt Hamm, gewann aber wieder ein Mandat im Rat der Stadt Dortmund und eines in der Bezirksvertretung Dortmund-Huckarde. In Dortmund kandidierten Die Rechte und die NPD mit einer gemeinsamen Liste für den Einzug in den Stadtrat. Da aber nur der Kandidat der Partei Die Rechte aufgrund seines Listenplatzes und des erzielten Stimmenanteils Berücksichtigung fand, wird er nunmehr als Einzelvertreter weniger finanzielle Mittel erhalten als in der letzten Legislaturperiode, als Die Rechte gemeinsam mit der NPD noch eine Ratsgruppe bilden konnte. Die Rechte beteiligte sich ebenfalls an den Bürgermeisterwahlen in den beiden Städten. In Dortmund erzielte ihr Kandidat mit 3 Prozent ein besseres Ergebnis als die Partei bei der Kommunalwahl. Dagegen erlitt der langjährige Neonazi-Führungskader Christian Worch in Hamm eine Wahlniederlage und unterbot mit 0,2 Prozent der Stimmen das Ergebnis der Partei. Außerdem trat in der kreisangehörigen Stadt Kerpen der Bundesmedienbeauftragte der Partei Markus Walter an und erhielt 3 Prozent der Stimmen. Des Weiteren traten Die Rechte und die NPD zu Wahlplakat der Partei Die Rechte den in Nordrhein-Westfalen erstmals stattfindenden Wahlen zum Ruhrparlament (Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr) gemeinsam an. Das sogenannte "Nationale Bündnis Ruhr" wurde von Claus Cremer (Landesvorsitzender der NPD) und Michael Brück (Bundesgeschäftsführer und stellvertretender Landesvorsitzender der Partei Die Rechte) angeführt und setzte sich aus einer gemeinsamen Kandidatenliste beider 92 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Parteien zusammen. Die Absprache der beiden Parteien war auch Ausdruck der Sorge, bei konkurrierenden Wahlantritten keine Mandate zu erzielen. Dieses rechtsextremistische Bündnis erzielte mit 4.225 Stimmen lediglich ein Ergebnis im Promillebereich (0,23 Prozent der Stimmen). Das zeigt, dass die Kombination von zwei KleinstWahlwerbung anlässlich der Kommunalwahlen 2020 in NRW parteien nicht zwangsläufig die Erfolgschancen an der Wahlurne erhöht. Die Rechte Rhein-Erft konstatierte in einer Wahlanalyse "das schlechte Abschneiden der nationalen und patriotischen Parteien bei der Kommunalwahl" und forderte von den rechtsextremistischen Parteien, dass "die ewigen Grabenkämpfe untereinander beendet werden müssen". Die Partei Die Rechte nutzte den Kommunalwahlkampf als Forum für ihre rechtsextremistische Propaganda. Sie führte Standkundgebungen durch, hängte Plakate auf und verteilte Flyer. Diese Gelegenheit für Öffentlichkeitsarbeit nahmen auch unter anderem die Kreisverbände Duisburg und Gelsenkirchen/ Recklinghausen wahr, die nicht zur dortigen Stadtratswahl antraten. Inhaltlich setzte die Partei bei ihrer Kampagne vor allem auf fremdenfeindliche Themen. Die Wahlplakate negierten das Recht auf Asyl und die Religionsfreiheit für Muslime. Die Vertreter anderer Parteien diffamierte Die Rechte auf Plakaten als "Volksverräter". Kundgebungen und Demonstrationen Aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen führte die Partei Die Rechte 2020 hauptsächlich Infostände im Rahmen des Kommunalwahlkampfes durch. Darüber hinaus fanden wenige eigene Veranstaltungen statt. rechtsextremIsmus 93 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Am 2. August 2020 veranstaltete die Partei Die Rechte in der Dortmunder Nordstadt eine Kundgebung mit circa 70 Teilnehmenden. Als Anlass nahm sie die mutmaßliche Vergewaltigung eines Mädchens durch einen Asylbewerber. Die Rechtsextremisten nutzten diesen Vorfall, um pauschal ein negatives Bild von Migranten zu zeichnen und diese als Bedrohung der einheimischen Bevölkerung darzustellen, um damit fremdenfeindliche Vorurteile zu schüren. Auf ihrer Internetseite berichtet Die Rechte über die Kundgebung im August in Dortmund Eine weitere Kundgebung fand am 23. August 2020 in Dortmund unter dem Motto "Weg mit dem NWDO-Verbot" statt. Im Jahr 2012 waren die neonazistischen Kameradschaften Nationaler Widerstand Dortmund (NWDO), die Kameradschaft Aachener Land (KAL) und die Kameradschaft Hamm (KS Hamm) durch das Innenministerium Nordrhein-Westfalen verboten worden. Mit dieser jährlich wiederholt durchgeführten Veranstaltung zeigten die Rechtsextremisten, dass sie sich weiterhin mit dem verbotenen NWDO identifizieren. Als Bundeskanzlerin Merkel am 18. August 2020 in Essen die Zeche Zollverein besuchte, führte eine Handvoll Anhänger der Partei Die Rechte Gelsenkirchen eine Protestveranstaltung durch, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. 94 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Im Januar 2020 organisierte der Stützpunkt Kleve/ Wesel zusammen mit dem Landesverband eine Kundgebung gegen den Bürgermeister von Kamp-Lintfort, zu der 40 Rechtsextremisten erschienen. Der Bürgermeister hatte im Europawahlkampf 2019 Plakate der rechtsextremistischen Partei abhängen lassen. Während der Veranstaltung drohten die Rechtsextremisten dem Lokalpolitiker mit einem "Volksgericht". Damit erinnerte Die Rechte sprachlich an den Volksgerichtshof, den das NS-Regime in den 1930er Jahren einrichtete, um politische Gegner zu verfolgen. Des Weiteren beteiligten sich Mitglieder von Die Rechte an deutschlandweiten revisionistischen Versammlungen. Dazu zählte der sogenannte Gedenkmarsch am 15. Februar 2020 in Dresden anlässlich des 75. Jahrestages der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Deutsche und internationale Rechtsextremisten nehmen jährlich an dem Marsch teil. Der Kreisverband Heinsberg/Aachen hatte mit Flugblattverteilungen in Briefkästen versucht, öffentlich auf die Versammlung aufmerksam zu machen. In Remagen fand am 14. November 2020 der alljährliche "Gedenkmarsch für die Toten in den alliierten Rheinwiesenlagern" statt, an dem auch Mitglieder der Partei Die Rechte teilnahmen. Der Kreisverband Rhein-Erft lief dort mit einem eigenen Banner mit. Ziel dieser revisionistischen Versammlungen ist es, Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes zu relativieren und eine Opfer-Täter-Umkehr zu propagieren. So sprach ein Düsseldorfer Parteimitglied als Redner in Remagen vom "alliierten Bombenholocaust". Ferner reiste eine Gruppe von Mitgliedern der Partei Die Rechte nach Sofia (Bulgarien), um am sogenannten Lukow-Marsch teilzunehmen, den der rechtsextremistische Bulgarische Nationalbund organisiert. Der Dortmunder Matthias Deyda, der als "Auslandsbeauftragter" der Partei tätig ist, hielt eine rassistische Rede, in der er einen vermeintlichen gemeinsamen, europäischen Kampf um Europa als "Bollwerk und natürlichen Siedlungsraum der weißen Rasse zu erhalten und unseren Kontinent gegen seine Feinde zu beschützen" beschwor. Deyda vertritt inzwischen als Ratsmitglied die Partei Die Rechte im Rat der Stadt Dortmund. Zu Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 erklärte Die Rechte in Dortmund, auf öffentliche Aktivitäten verzichten zu wollen, um nicht ungewollt das Corona-Virus weiterzuverbreiten. Zudem sahen die Rechtsextremisten den Sinn von Corona-Schutzmaßnahmen prinzipiell ein. Im Mai 2020 änderten sie jedoch ihre Position und begannen nun, die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu unterstützen. Die damit verbundenen Hoffnungen formulierte der stellvertretende Landesvorsitzende Michael Brück folgendermaßen: "[...] jeder Einzelne hat seinen kleinen Anteil daran, rechtsextremIsmus 95 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 aus dem aufkommenden Sturm einen Orkan werden zu lassen, der die politischen Verhältnisse in diesem Land ordentlich verändern könnte." Der Bundesverband rief am 6. Mai 2020 seine Mitglieder dazu auf, Einfluss auf die Protestversammlungen zu nehmen: "Mittendrin statt nur dabei - die Corona-Proteste aktiv mitgestalten!" In Nordrhein-Westfalen nahmen Parteimitglieder immer wieder an größeren Veranstaltungen teil, die sich gegen die Corona-Schutzmaßnahmen richteten. Bei einer Protest-Versammlung am 6. Dezember 2020 in Düsseldorf gehörten einige Parteiaktivisten zu einer Personengruppe, die im Laufschritt in Richtung von Gegenprotestlern außerhalb der Versammlungsfläche lief. Die Gruppe wurde durch die Polizei aufgehalten, von der Versammlung ausgeschlossen und anschließend geschlossen zum Hauptbahnhof begleitet. Auch an größeren Versammlungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen in anderen Bundesländern beteiligten sich Mitglieder der Partei Die Rechte, wie zum Beispiel am 29. August und 18. November 2020 in Berlin und am 7. und 21. November 2020 in Leipzig. Die polizeilichen Maßnahmen bei der Versammlung am 21. November veranlassten den Kreisverband OWL zu folgenden Beleidigungen per Tweet: "Kack Bullen" und "Bullen sind eingeknickt, sich insgesamt aber wieder als niederster Abschaum präsentiert." Twitter-Beitrag von Die Rechte OWL Sonstige Aktivitäten Ansonsten pflegten einige Kreisverbände rechtsextremistische Traditionsveranstaltungen. Dazu zählte der Volkstrauertag, den beispielsweise Die Rechte RheinErft als sogenanntes "Heldengedenken" beging. Dies geht auf die Nationalsozialisten zurück, die 1934 aus ideologischen Gründen nicht mehr um die Toten trauern, sondern sie als Helden verehren wollten. Der Dortmunder Kreisverband nutzte den 75. Jahrestag der Bombardierung Dortmunds im Zweiten Weltkrieg für eine revisionistische Propagandaveranstaltung. Eine Besuchstour zu Schauplätzen des Zweiten 96 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Weltkrieges in Hürtgenwald veranstaltete im März 2020 der Duisburger Kreisverband. Zum 8. Mai 2020, dem Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges und damit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, besuchte Die Rechte Ostwestfalen-Lippe ein sogenanntes Krieger-Denkmal in Bielefeld, um nationalistische Erinnerungspolitik zu betreiben. Ebenfalls besuchten Rechtsextremisten aus Wuppertal, Düsseldorf und Schwelm ähnliche Gedenkstätten, um in den Worten des Wuppertaler Kreisverbandes "an den Tag der Schande zu erinnern". Aus dem Umfeld des Gelsenkirchener Kreisverbandes entstand Ende 2020 das Projekt Gemeinschaft FreiVest, das sich abseits von Parteipolitik mit den Themen "Prepping, Krisenvorsorge, Politik" beschäftigen möchte. Der Kreisvorsitzende der Partei beabsichtigt, nach Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen mit anderen Aktivisten entsprechende Seminare anzubieten. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten der Partei Die Rechte gingen merklich zurück. Das sogenannte "Zuchthaus" in Hamm, ein Veranstaltungsort, in dem der Kreisverband Hamm regelmäßig rechtsextremistische Szeneveranstaltungen durchgeführt hat, war auch im Jahr 2020 geschlossen, nachdem die Stadt Hamm im Jahr 2019 ein Nutzungsverbot für das Objekt verhängt hatte. Der Kreisverband Dortmund stellte seine Webseite Dortmundecho ein, der Bielefelder Kreisverband und der Kreisverband Heinsberg/Aachen löschten mehrere Internetpräsenzen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Partei stellt weiterhin das Zentrum des Neonazismus in Nordrhein-Westfalen dar, allerdings auf einem deutlich schwächeren Niveau als in den Vorjahren. Um das Parteienprivileg zu sichern, nimmt Die Rechte einige parteitypische Aktivitäten auf. Die Kommunalwahlen haben aber gezeigt, dass Die Rechte als Wahlpartei keine Rolle spielt. Den Anhängern geht es vor allem darum, den neonazistisch geprägten provokanten Aktionismus medienwirksam fortzusetzen. Darüber hinaus kooperiert Die Rechte insbesondere bei Demonstrationen und bei Wahlen mit der NPD, bei Vorträgen mit Revisionisten und bei Musikveranstaltungen mit der subkulturellen Szene. Aufgrund der Inhaftierung wichtiger Parteiaktivisten sowie dem Wegzug von Michael Brück nach Sachsen hatte die Partei 2020 ein Führungsproblem und erfuhr einen gewissen Bedeutungsverlust. Hinzu kam, dass die Corona-Schutzmaßnahmen es der Partei erschwert haben, ihre rechtsextremistische Erlebniswelt wie in den Vorjahren bei Konzerten und Versammlungen zu inszenieren. rechtsextremIsmus 97 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Identitäre Bewegung Deutschland e.V. (IBD) Sitz/Verbreitung Ursprung in Frankreich; seit 2012 in Deutschland; Vereinssitz ist Paderborn Gründung/Bestehen seit Seit Mai 2014 ist die ursprünglich virtuelle Aktionsform als Identitäre Bewegung Deutschland e.V. (IBD) vereinsrechtlich registriert. Struktur/ Repräsentanz Kleingruppen auf lokaler Ebene, die vor Ort agieren und in der Landesgruppe der Identitären Bewegung Nordrhein-Westfalen verbunden sind. Im Bundesvergleich ist Nordrhein-Westfalen auch weiterhin kein aktionsbezogener Schwerpunkt. Mitglieder/Anhänger/ NRW: Aktivistenkreis: rund 20\ Unterstützer 2020 aktionsorientierte Sympathisanten: rund 30\ Veröffentlichungen Zentraler Internetauftritt und Onlineshop, einzelne lokale Gliederungen, seit der Löschung der Profile auf Facebook und Instagram im Jahr 2018 nur noch rudimentär vertreten; auf Twitter seit Sommer 2020 ebenfalls gesperrt. Es bestehen Profile auf YouTube, vk.com, Telegram und diverse Blogs als Kanäle zur direkten, zielgruppenorientierten Ansprache im öffentlichen Raum. Kurzporträt/Ziele Ideologisch greift die IBD die von der sogenannten Neuen Rechten entwickelte Idee des Ethnopluralismus auf. Dabei handelt es sich um eine modernisierte Variante völkischer Ideologie, die mit kulturellen Argumenten verbunden wird. 98 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Anhänger dieser Idee behaupten, dass der Einzelne nur in einer ethnisch homogenen Umgebung seine kulturelle Identität finden und erhalten könne. Eine Vermischung von Ethnien wird abgelehnt, stattdessen werden ethnisch homogene Nationen gefordert. Eine Zuwanderung von nicht der eigenen Volksgruppe angehörenden "Fremden" - also von Menschen, die nicht als Teil dieser "Identität" angesehen werden - wird grundsätzlich abgelehnt. Diesem Verständnis folgend sind die Inhalte und Aktivitäten der IBD geprägt von fremdenfeindlichen und Minderheiten ausgrenzenden Positionen. Die Ziele und ideologischen Theorieelemente weisen auf die grundlegende Konzeption eines ethnisch homogenen Staates unter Herrschaft einer elitären Kaste hin. Die IBD hat eine prägnante visuelle Symbolik entwickelt, die sich um einen avantgardistischen und ästhetisierten Habitus bemüht und sich von traditionellen rechtsextremistischen Mustern abheben soll. Insbesondere setzt sie darauf, mit mediengerecht inszenierten Aktionen an symbolischen Orten öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dabei adaptiert sie öffentliche Aktionsformen, wie sie aus dem Bereich des Umweltprotestes bekannt sind. Dazu gehört beispielsweise das Entrollen großer Banner an gut sichtbaren Örtlichkeiten (Brücken, öffentliche Gebäude etc.). Es geht um ein als modern empfundenes Erscheinungsbild, das vorwiegend junge Menschen mit gutem Bildungsniveau ansprechen soll. Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden sowie Merchandising Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Ideologie der IBD als Teil der "Neuen Rechten" fundiert auf einem Politikverständnis, das sich grundsätzlich gegen die Menschenrechte und eine pluralistische Demokratie richtet. Sowohl die letztlich rassistische Doktrin des Ethnopluralismus als auch der kollektivistische Grundsatz, das Individuum mit seinen MenschenrechtsextremIsmus 99 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 rechten der Nation unterzuordnen, sind unvereinbar mit den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Mit ihren öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten versucht die IBD Einfluss auf die politische Öffentlichkeit zu nehmen und ihre rechtsextremistischen Positionen zu verbreiten. Die IBD unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In Nordrhein-Westfalen war die IBD bislang vorwiegend in den sozialen Netzwerken aktiv. Sie profitierte dabei von einer sich viral ausdehnenden Breitenwirkung, die mehrheitlich von regionalen Gruppierungen außerhalb Nordrhein-Westfalens gesteuert wird. Vor allem verbreitet die IBD auf ihren Internetpräsenzen Bilder, Videos und Berichte über ihre meist von Kleingruppen durchgeführten Aktionen, denen sie damit bundesweite Resonanz und die Aufmerksamkeit der Medienöffentlichkeit verschafft. Am 5. Januar 2020 entrollte die IBD medienwirksam ein Banner am WDR-Funkhaus in der Kölner Innenstadt als Protest gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die (vormalige) Gebühreneinzugszentrale (GEZ) und warf Flyer von dem Dach. Die IBD versuchte mit der Aktion öffentliche Kritik an einer Satire des WDR zu instrumentalisieren, um ihr Feindbild einer vermeintlichen "Lügenpresse" zu verbreiten. Die beteiligten IBD-Akteure sind inzwischen wegen Hausfriedensbruch zu Geldstrafen verurteilt worden. Telegram-Beitrag der Identitären Bewegung zu der Besetzung des WDR-Funkhauses am 05. Januar 2020 100 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Da einige soziale Plattformen wie Facebook und Twitter die Internetpräsenzen der IBD löschten, bemühte sich die rechtsextremistische Organisation, mit zahlreichen Infoständen im Rahmen einer "Sommertour" Präsenz in Innenstädten zu zeigen. In Nordrhein-Westfalen fanden diese vor allem im Rheinland, im Ruhrgebiet und in Ostwestfalen statt. Nachdem im Laufe des Jahres 2020 Islamisten mehrere terroristische Anschläge in Europa verübten, startete die IBD die Kampagne "schiebt sie ab". Sie wollte damit den Eindruck vermitteln, dass einerseits die Bundesregierung untätig und andererseits Terrorismus zwangsläufig eine Folge von Einwanderung sei. Neben virtuellen Aktivitäten, wie einer sogenannten Gefährder-Map, versuchten die Rechtsextremisten mit Plakataktionen Aufmerksamkeit zu erlangen. So klebten sie am 9. Dezember 2020 in Mülheim an der Ruhr Plakate im Stadtzentrum, mit denen sie für ihre Kampagne werben wollten. Trotz dieser vereinzelten Aktivitäten nimmt die IBD in Nordrhein-Westfalen weiter an Bedeutung ab. So stellten einige Kleingruppen ihre Aktivitäten ein. Beispielsweise veröffentlichte die im Jahr 2019 im Ruhrgebiet aktive Gruppierung Defend Ruhrpott nur noch ein einziges YouTube-Video auf ihrem Kanal Ruhrpott Roulette. Website "Gefährder Map", für die laut Impressum die Identitäre Bewegung Deutschland e.V. verantwortlich ist rechtsextremIsmus 101 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Allerdings suchten die Aktivisten auch neue Wege, um vor allem Jugendlichen und jungen Erwachsenen die neurechte Ideologie über erlebnisorientierte Angebote näherzubringen. Dabei sucht man weiterhin die Nähe zu dem publizistischen Umfeld der Neuen Rechten. Dazu zählen der Verein Ein Prozent e.V. und Arcadi-Verlag. Gemeinsam mit Ein Prozent e.V. brachte die IBD 2020 das Computerspiel "Heimat Defender: Rebellion" heraus. Dabei handelt es sich um ein Jump and Run-Spiel im Retro-Stil, bei dem Akteure der Neuen Rechten als Helden und der politische Gegner als Feind dargestellt werden. Im Arcadi-Magazin schrieb ein anonymer Autor zu dem Spiel: "Einmal in [...] Deutschlands versifften Vierteln und No-Go-Areas mit der Axt aufzuräumen, Zecken wegzulasern, oder überhaupt mal mit dem Controller aufrechte, deutsche Helden zu steuern." Werbung für das Computerspiel "Heimat Defender Rebellion" auf der Internetseite der Identitären Bewegung e.V. Der Arcadi-Verlag als publizistische Plattform der IBD hat 2020 sein Aktionsfeld um einen Musikvertrieb für rechtsextremistische Musiker aus dem Umfeld der IBD erweitert. Dazu zählt Kai Alexander Naggert, der zuvor als Regionalleiter der IBD in Nordrhein-Westfalen und in der Gruppierung Defend Ruhrpott agierte. Er tritt seit 2019 unter dem Pseudonym Prototyp als Identitärer Rapmusiker auf und ist Teil des Musikerkollektivs Neuer Deutscher Standard (NDS), welches im Jahr 2020 einen weiteren aus NRW stammenden Identitären Rapper mit dem Pseudonym Primus in die Gruppe aufnahm. Im Dezember 2020 hat Prototyp ein neues Album veröffentlicht, das zum Genre des Rechtsrap gehört. 102 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Dem bislang erfolgreichsten rechtsextremistischen Rapper aus der IBD, Chris Ares, räumte das Arcadi-Magazin in Ausgabe 1/2020 eine eigene Kolumne ein, in der er einen angeblich mangelnden Patriotismus in der Führung der Bundeswehr beklagen durfte. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die IBD erzeugt mit modernen Ausdrucksformen und dem Bemühen um einen intellektuellen Anspruch bei Bevölkerungsschichten eine Resonanz, die traditionelle Rechtsextremisten bislang nicht erreichen. Die Gruppierung knüpft dabei bewusst an die Lebenswelten internetaffiner junger Menschen an. Da die IBD sich nicht mit den üblichen rechtsextremistischen Slogans und Symbolen inszeniert, ist ihre ideologische Ausrichtung nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Entgegen der Selbstinszenierung als "Europas am schnellsten wachsender Jugendbewegung" musste die IBD in Nordrhein-Westfalen hinsichtlich ihrer Aktivistenzahl einen weiteren Rückgang verzeichnen. Die gesuchte Verankerung im Milieu des akademischen Nachwuchses bleibt marginal. Aufgrund der personellen Überschneidungen mit anderen rechtsextremistischen Gruppierungen ist ein gemeinsames Auftreten bei Kundgebungen oder öffentlichen Ereignissen zu beobachten. Obschon die IBD wahrnehmbar bleibt, sind ihre Aktionsund Aktivistenzahlen rückläufig. In der Gesamtschau ist deshalb eine abnehmende Relevanz dieser Gruppierung zu konstatieren. rechtsextremIsmus 103 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Neonazis Sitz/Verbreitung Landesweite Verbreitung mit regionalen Schwerpunkten Gründung/Bestehen seit 1970er Jahre Struktur/ Repräsentanz Gruppierungen auf lokaler Ebene, die teilweise in vereinsähnlichen sogenannten Kameradschaften oder in Kreisverbänden der Partei Die Rechte organisiert sind; überregionale Vernetzung der Szene zur Koordinierung und Durchführung gemeinsamer Aktivitäten. Mit den Verboten der wichtigsten Kameradschaften hat in der Neonazi-Szene in Nordrhein-Westfalen ein Strukturwandel stattgefunden: Die Partei Die Rechte stellt in Nordrhein-Westfalen nunmehr das Zentrum des Neonazismus dar. Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 650 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Internetpräsenzen und Facebook-Profile der Partei Die Rechte sowie einzelner Gruppen Kurzporträt/Ziele Der Neonazismus stellt sich in die ideologische Tradition des historischen Nationalsozialismus. Die Anhänger organisieren sich regional in Kleingruppen, sogenannten Kameradschaften. Diese werden oftmals von einer Person nach dem Führerprinzip geleitet. Die Szene ist überregional vernetzt und findet sich bei Veranstaltungen wie Demonstrationen, Rechtsrock-Konzerten oder rechtsextremistischen Kampfsportevents zusammen. Die Mehrzahl der Neonazis sind in Nordrhein-Westfalen in den Parteien Die Rechte und Der III. Weg organisiert. 104 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Der Rest der Szene in Nordrhein-Westfalen besteht aus kleineren, nur lose organisierten Gruppierungen und Einzelpersonen, die sich gelegentlich an Veranstaltungen der Partei Die Rechte beteiligen. Finanzierung Beiträge der Anhänger Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Neonazi-Szene ist durch ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus sowie durch ihre Gewaltbereitschaft gekennzeichnet. Neonazis verfolgen die Errichtung eines "Vierten Reiches", basierend auf den programmatischen Forderungen der NSDAP von 1920. Ideologische Grundlage ist ein rassenbiologisch geprägtes, völkisches Menschenbild und die Vorstellung einer antipluralistischen Gesellschaft sowie eines autoritären Staates. Vermeintlich Fremde und auch politische Gegner gelten als Feinde, denen ein geringeres beziehungsweise gar kein Existenzrecht zuerkannt wird. Damit wird Gewalt gegen "Fremde" beziehungsweise "Feinde" legitimiert. Schwerpunktmäßig agitierte die neonazistische Szene auch 2020 gegen Migranten, insbesondere gegen Flüchtlinge. Die Szene der Neonazis unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Verbot Sturm-/Wolfsbrigade Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat hat am 1. Dezember 2020 die neonazistische Gruppierung Sturmbrigade 44, die auch unter dem Namen Wolfsbrigade 44 seit 2016 in Erscheinung trat, verboten. Der Zahlencode 44 - die Zahl 4 entspricht hier dem vierten Buchstaben im Alphabet, D - steht nach dem Verständnis der Gruppierung für "Division Dirlewanger". Die SS-Sondereinheit Dirlewanger wurde nach dem Kriegsverbrecher und Offizier der Waffen-SS, Oskar Dirlewanger, benannt und verübte im Zweiten Weltkrieg brutale Kriegsverbrechen. Die Sturm-/ Wolfsbrigade 44 stellte sich ideologisch in die Tradition des Nationalsozialismus. Antisemitismus und Rassismus waren für die Gruppierung prägend. Die Gruppierung sah Gewalt als rechtmäßiges Mittel zur Durchsetzung ihrer rechtsextremistischen Ziele an und plante auch tätliche Angriffe auf mutmaßliche politische Gegner und MigranrechtsextremIsmus 105 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 ten. Vom Verbot waren elf Personen betroffen. Die überwiegende Zahl der Mitglieder stammte aus Hessen, zwei Mitglieder lebten in Nordrhein-Westfalen. Logo der seit dem 1. Dezember 2020 verbotenen Gruppierung Wolfsbrigade 44 Solidaritätskampagne für Holocaustleugnerin In den vergangenen Jahren war die Solidaritätskampagne für die notorische Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck-Wetzel ein wichtiges Thema für die neonazistische Szene. Zur Haftentlassung der Rechtsextremistin nach Absitzen einer Haftstrafe wegen Volksverhetzung räsonierte ein Autor auf der Kampagnen-Webseite über den vermeintlichen Erfolg der Kampagne. Er führte aus, dass die Kampagne "es geschafft hat, eine große Anzahl an Freunden und Unterstützern von Ursula Haverbeck über Parteiund Organisationsgrenzen hinweg zu mobilisieren und schließlich auch zu organisieren." Tatsächlich fand im Jahr 2020 aber im Namen der Kampagne keine Versammlung statt. Einen Monat nach der Haftentlassung verurteilte das Berliner Amtsgericht Tiergarten Haverbeck-Wetzel am 4. Dezember 2020 zu einer weiteren Haftstrafe von einem Jahr wegen Volksverhetzung. Neonazistische Erlebniswelt Wie in den vorangegangenen Jahren hat ein seit vielen Jahren aktiver Neonazi aus Grevenbroich eine Veranstaltung in Remagen (Rheinland-Pfalz) angemeldet, mit der die Neonaziszene angebliche Kriegsverbrechen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg instrumentalisieren möchte, um Deutschland als Opfer des Krieges darzustellen und die Verbrechen des NS-Regimes zu relativieren. An der geschichtsrevisionistischen Versammlung am 14. November 2020 beteiligten sich rund 90 Personen. 106 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Aktionsgruppe Dortmund-West, die im Umfeld des Dortmunder Kreisverbandes der Partei Die Rechte agierte, gab im Mai 2020 ihre Auflösung bekannt. Zugleich kündigte man an, dass ein Teil der Mitglieder sich weiterhin rechtsextremistisch betätigen wird: "Politisch überzeugte Aktivposten unseres Zusammenschlusses werden zukünftig sicherlich neue Wege finden, um den Kampf um Deutschlands Zukunft anderweitig fortzuführen." Im Oktober 2020 wurde dann durch den Dortmunder Kreisverband der Partei Die Rechte erstmals die Gruppierung Tremonia Kollektiv beworben. Die Gruppe beschreibt sich auf ihrer Internetseite als "Gemeinschaft von Deutschen und Nationalisten", die sich über "politische, weltanschauliche und zwischenmenschliche Aspekte" definiere. Es handelt sich potenziell um den Versuch, erneut eine aktionsorientierte Gruppierung innerhalb der Dortmunder Neonaziszene zu etablieren. Inhaltlich sind die Beiträge auf der Internetseite mit früheren Publikationen des mittlerweile inaktiven Portals dortmundecho.org vergleichbar. Dieses Portal diente dem Landesverband der Partei Die Rechte beziehungsweise deren Kreisverband Dortmund über mehrere Jahre als Sprachrohr. Realweltliche Aktionen des Tremonia Kollektivs waren bisher nur vereinzelt festzustellen. Beispielsweise wurde im Dezember 2020 eine Ein Plakat der Aktion gegen die Eröffnung des sozialPlakataktion gegen die Eröffnung ökonomischen Zentrums in Dortmund eines sozialökologischen Zentrums in Dortmund durchgeführt. Beim Freundeskreis Rhein-Sieg handelt es sich um eine Gruppierung, die weitgehend aus der rechtsextremistischen Gruppierung Identitäre Aktion Deutschland (IA) hervorgegangen ist. Seine Außenwirkung erlangte der Freundeskreis Rhein-Sieg vor allem über seine Internetpräsenz in Social Media-Kanälen. Internetbeiträge erfolgen überwiegend durch die Führungsperson Frank Kraemer, der unabhängig von der Gruppierung als rechtsextremistischer Musiker und Redner auftritt sowie verschiedene multimediale Formate für die Szene herausbringt. Die Gruppierung bietet ihren Mitgliedern Gemeinschaftserlebnisse mit rechtsextremistischen Inhalten. Beispielsweise machte der Freundeskreis Rhein-Sieg am 19. September 2020 einen Ausflug zu den von Rechtsextremisten mythisch überhöhten Externsteinen, bei dem der "Kontakt zu Gleichgesinnten" gestärkt wurde, wie Kraemer es in einem Beitrag auf seiner WebrechtsextremIsmus 107 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 seite ausdrückt. Auch wegen der Corona-Schutzmaßnahmen fanden 2020 nur wenige Aktivitäten der Gruppierung statt. Die Volksgemeinschaft Niederrhein (VGN) knüpft mit dem Begriff Volksgemeinschaft in ihrem Namen an die gesellschaftspolitische Ideologie im Dritten Reich an, die eine ethnisch und politische homogene Gemeinschaft befürwortete, in der die Rechte des Einzelnen nichts galten. Die rechtsextremistische Gesinnung zeigt sich auch in ihren Solidaritätsbekundungen für die Holocaustleugnerin Haverbeck-Wetzel. Die Gruppierung bildete sich 2017 in Kamp-Lintfort. Die Führungsperson, ein langjähriger Neonazi, verfügt dort über ein Haus mit großem Grundstück, das der Gruppierung als Anlaufstelle und Ort für rechtsextremistische Veranstaltungen dient. Auf seinem YouTube-Kanal verbreitet die Führungsperson zudem ihre Sicht auf Politik und Gesellschaft. Zur VGN heißt es am 11. Juli 2020 dort: "Wir haben die VGN gegründet, weil wir wollten einen Ort erschaffen, wo Deutsche sich noch wohlfühlen." Aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen waren 2020 aber kaum eigene Veranstaltungen möglich. Ein ursprünglich geplantes "Ostara-Fest", mit dem Neonazis an germanische Mythologien anknüpfen wollen, musste die Gruppierung kurzfristig absagen. Gelegentlich beteiligten sich VGN-Mitglieder an Versammlungen, mit denen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen protestiert wurde. Dazu zählen Versammlungen am 14. Juni 2020 in Mönchengladbach und am 6. Dezember 2020 in Düsseldorf. Aktivitäten von neonazistischen Kleinstgruppierungen In Düsseldorf trat 2020 erstmals eine Kleinstgruppierung von Neonazis unter dem Namen Autonome Aktive Aktivisten Düsseldorf auf, die mit der Düsseldorfer NPD verbunden ist. Diese Neonazis versuchten im September 2020 mit Protestaktionen gegen ein in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiertes Präventionsprojekt für Pädophile an der Düsseldorfer Universitätsklinik Aufmerksamkeit zu gewinnen. Mit Flugblättern, Aufklebern und Bannern mit dem Slogan "Todesstrafe statt Therapie!" versuchten sie die Stimmung gegen diesen Personenkreis anzuheizen. Außerdem beteiligten sie sich am rechtsextremistischen "Heldengedenken", bei dem der Volkstrauertag zum Gedenken an die Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen in der Tradition der nationalsozialistischen Erinnerungspolitik zum Gedenken an vermeintliche Helden umgewandelt wird. Des Weiteren trat im Januar 2020 in Essen eine neonazistische Kleinstgruppierung unter dem Namen Junge Patrioten Essen auf. Die Gruppierung zeichnete sich durch Aktionen aus, mit denen sie ihre politischen Gegner einschüchtern wollte. So brachte 108 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 sie am Abend des 13. Januar 2020 Aufkleber mit der Aufschrift "Antifa Gruppen Zerschlagen" und "Organisiert Die Anti-Antifa! Good Night Left Side" an einem Gebäude in Essen an, in dem sich Büroräume des Bündnisses "Essen stellt sich quer-Anti-Rassismus-Telefon" befinden. Anlässlich einer Versammlung des Bündnisses "Aufstehen gegen Rassismus" am 16. Januar 2020 kam es zu einer Banner-Aktion der Junge Patrioten Essen. Von einem Parkhausdach wurde ein Banner mit der Aufschrift "Love Football Hate Antifa" gezeigt und beim Abrollen des Banners pyrotechnische Gegenstände gezündet. Die Gruppe berichtete über ihre Aktionen auf ihrem Twitter-Kanal und zeigte sie in Videos auf YouTube. Eine der bislang identifizierten Personen zählt auch zur Gruppierung Steeler Jungs. Am 3. Oktober 2020 nahm eine Kleinstgruppierung mit dem Namen Division Ostwestfalen an einer Versammlung der Partei Der III. Weg in Berlin teil. Außerdem beteiligte sie sich an einer Protestveranstaltung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen am 6. Dezember 2020 in Düsseldorf und bewegte sich dort im Umfeld der rechtsextremistischen Teilnehmer. Inwieweit sich die Gruppierung verfestigt, ist noch nicht abzusehen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die neonazistische Szene in Nordrhein-Westfalen ist überwiegend in den Parteien Die Rechte und Der III. Weg organisiert. Darüber hinaus existieren einige kleinere Gruppierungen. Der Kreisverband Dortmund der Partei Die Rechte hat zwar im Jahr 2020 an Handlungsfähigkeit verloren, stellt aber dennoch das Zentrum der Neonaziszene in Nordrhein-Westfalen dar. rechtsextremIsmus 109 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Subkulturell geprägter Rechtsextremismus Sitz/Verbreitung Landesweite Verteilung mit regionalen Schwerpunkten Gründung/Bestehen seit Ende der 1960er Jahre in Großbritannien, seit circa Ende der 1970er Jahre in anderen europäischen Staaten Struktur/ Repräsentanz In der Regel keine festen Strukturen, eine Ausnahme bilden die Hammerskins mit einem festen hierarchischen Aufbau. Mitglieder/Anhänger/ Land: circa 1.150\ Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Publikationen: sogenannte Fanzines mit Artikeln zur überwiegend subkulturell geprägten Skinhead-Musik-Szene, Interviews und Konzertberichten; CD-Veröffentlichungen Web-Angebote: Bekanntmachungen von Konzerten über bestimme Foren, Veröffentlichungen von Videos über soziale Medien Kurzporträt/Ziele Der subkulturell geprägte Rechtsextremismus definiert sich hauptsächlich über eine spezifische Musik und dem damit zusammenhängenden Lebensstil. Es geht darum, eine Erlebniswelt mit gemeinsamen Freizeitaktivitäten wie Musikveranstaltungen zu schaffen, in der die Ideologie nur eine nachrangige Rolle spielt. Subkulturell geprägte Rechtsextremisten vertreten rassistische, fremdenfeindliche, nationalistische und antisemitische Positionen. Zudem befürworten sie rassistische Gewalt. Rechtsextremistische Skinheads bilden immer noch die wichtigste Subkultur im Rechtsextremismus. Äußerlichkeiten wie 110 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Dresscode oder Haarschnitt lassen heutzutage allerdings kaum noch eine eindeutige Zuordnung zur rechtsextremistischen Skinhead-Szene zu. Einerseits gibt es weitgehend unpolitische Jugendliche, die ein vermeintlich Skinhead-typisches Aussehen zeigen, ohne dem rechtsextremistischen Teil der Szene anzugehören. Andererseits verlieren die altbekannten Erscheinungsbilder seit einigen Jahren immer mehr an Bedeutung. Insbesondere für den rechtsextremistischen Teil der Skinhead-Szene ist es im Alltag einfacher, nicht durch offensichtliches Tragen von einschlägig bekannten Zeichen oder Haarschnitten eine politische Zuordnung zu ermöglichen. Finanzierung Rechtsextremistische Bands versuchen, sich über Verkäufe von CDs und Merchandise-Artikeln sowie über die Organisation und Durchführung von Musikveranstaltungen zu finanzieren. Oftmals erzielen sie jedoch maximal eine kostendeckende Durchführung von Konzerten. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Subkulturell geprägte Rechtsextremisten vertreten rassistische, fremdenfeindliche, nationalistische und antisemitische Positionen gepaart mit einem hohen Gewaltpotenzial. Musik spielt hier eine herausragende Rolle zur Selbstvergewisserung, Politisierung und Rekrutierung der Szene. Bands, CDs und Konzerten gilt deshalb ein besonderes Interesse. Oftmals gehen gerade rechtsextremistische Musikveranstaltungen mit menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Liedtexten sowie gelegentlich mit offenen Bekenntnissen zum Nationalsozialismus, wie dem Zeigen des Hitler-Grußes, einher. Der subkulturell geprägte Rechtsextremismus unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. rechtsextremIsmus 111 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Organisationen Blood and Honour (B&H) und Hammerskins sind die wichtigsten international tätigen rechtsextremistischen Skinhead-Organisationen, die Konzerte veranstalten. In Deutschland wurde bereits im September 2000 die Blood and Honour-Division Deutschland verboten. Während diese Organisationen früher miteinander konkurrierten, haben sie sich in den letzten Jahren zunehmend angenähert und kooperieren punktuell bei Veranstaltungen miteinander. In anderen Ländern ist B&H eng mit Combat 18 (C18) verbunden. Der Name C18 steht als Chiffre für "Kampfgruppe Adolf Hitler". Die 1992 gegründete Gruppierung fungierte ursprünglich als Saalschutztruppe der britischen rechtsextremistischen Partei British National Party. Als in Deutschland im Jahr 2000 B&H verboten worden ist, erstreckte sich dieses Verbot nicht auf C18, weil zum damaligen Zeitpunkt keine verbotsfähigen C18-Strukturen in Deutschland bekannt waren. Seit spätestens 2014 existiert die Gruppierung Combat 18 Logo der verbotenen Grupperung Combat18 Deutschland, der auch Mitglieder aus Nordrhein-Westfalen angehörten. Zielsetzung der Organisation war die Verbreitung einer rechtsextremistischen, insbesondere fremdenfeindlichen und antisemitischen Ideologie. Diese wurde vorzugsweise durch den Vertrieb von Tonträgern, die Organisation von Konzerten und den Verkauf von Merchandise-Artikeln verfolgt. Das einschlägige Markenund Erkennungszeichen von C18 Deutschland war ein Drache. Dieser wurde häufig als Symbol zum Beispiel auf T-Shirts, Aufklebern, Flyern und CDs abgebildet. Der Verein agierte hochgradig konspirativ, was auf die gesteigerte Ernsthaftigkeit hinweist, mit der die Organisation ihre Ziele verfolgte. Am 23. Januar 2020 hat das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat das Verbot der Gruppierung verkündet. Demnach richtet sich C 18 Deutschland gegen die verfassungsmäßige Ordnung, läuft nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider und richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Die Organisation ist mit dem Nationalsozialismus wesensverwandt, was bedeutet, dass sie sich zur NSDAP bekennt, außerdem rassistisch, antisemitisch sowie fremdenfeindlich ausgerichtet ist und zudem eine 112 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 kämpferisch-aggressive Grundhaltung aufweist. Das Verbot richtete sich gegen sieben Mitglieder, davon stammt eines aus Nordrhein-Westfalen. Bands und Konzerte Rechtsextremistische Musik hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten in verschiedene Musikstile ausdifferenziert. Zu den gängigsten Stilrichtungen zählen Rechtsrock, Balladen, National Socialist Black Metal und der in letzter Zeit aufgekommene Nationale Rap. Weiterhin bleibt dabei Rechtsrock die bedeutendste Stilrichtung. Diese zeichnet sich durch hart gespielte Gitarrenakkorde, lauten - teils geschrieenen - Gesang und eine aggressive Grundstimmung aus. Aus Nordrhein-Westfalen sind unter anderem die Bands Oidoxie, Sleipnir, Division Germania, Sturmwehr und Smart Violence seit mehreren Jahren aktiv und verfügen über eine überregionale Szeneprominenz im Bereich Rechtsrock. Vor seinem Wegzug nach Sachsen im November 2020 agierte Kai Naggert, die bisherige Führungsfigur der Identitären Bewegung Deutschland (IBD), seit Sommer 2019 unter dem Pseudonym Prototyp als Rechtsrapper in Nordrhein-Westfalen. Er trat gemeinsam mit einem rechtsextremistischen Musiker mit dem Künstlernamen Chris Ares auf und veröffentlichte mit ihm das Lied Neuer Deutscher Standard. Dieses Lied erschien sogar in den Charts verschiedener kommerzieller Streamingdienste. Im Jahr 2020 folgte die Single "Am Glas verteidigt" sowie im November das Album "Feuer". Das Lied "Am Glas verteidigt" verbindet nationalistische Texte mit harten Elektro-Beats. Das dazugehörige Musikvideo zeigt mit Drohnen gefilmte Party-Szenen, die Lust auf einen geselligen Abend unter Gleichgesinnten machen und das Gemeinschaftsgefühl stärken sollen. Das Video ist eine Produktion des Labels Arcadi-Musik im Arcadi-Verlag. Das Label versteht sich als "patriotische Gegenkultur" und konzentriert sich bislang auf Musiker aus dem Umfeld der IBD. Konzerte sind ein wichtiges Element Das Cover des Albums "Feuer" von Prototyp der Erlebniswelt Rechtsextremismus, in der politische Agitation, Freizeitaktivitäten und Unterhaltung verbunden werden, rechtsextremIsmus 113 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 um insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen. Die Attraktivität der Veranstaltungen macht neben der Musik das Treffen Gleichgesinnter, der Konsum von Alkohol und das Zeigen rechtsextremistischer Symbolik sowie Slogans aus. Im Unterschied zu den vorwiegend rocklastigen, größeren Konzerten dienen Balladenoder Liederabende dazu, einen eher kleineren Teilnehmerkreis anzusprechen. Dabei spielt meistens ein Sänger mit Gitarre überwiegend ruhige Stücke. Derartige Veranstaltungen werden oftmals von Parteiverbänden oder Freien Kameradschaften mit dem Ziel organisiert, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Rechtsextremistische Tonträger und Devotionalien werden auf vielfältige Weise vertrieben. Überwiegend erfolgt der Handel über das Internet, weiterhin über Verkaufsstände bei Veranstaltungen und in Szeneläden. Wirtschaftliche Interessen sind nach wie vor eine wichtige Motivation bei der Vermarktung von rechtsextremistischer Musik und Szene-Artikeln. Viele Inhaber rechtsextremistischer Musik-Vertriebe bestreiten ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Szene-Produkten oder betrachten den Handel als einen lukrativen Nebenverdienst. Im Jahr 2020 fanden in Nordrhein-Westfalen pandemiebedingt kaum Konzerte oder anderweitige Musikveranstaltungen statt. Auf musikalische Großveranstaltungen oder Festivals wurde aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen gänzlich verzichtet. In den Sommermonaten konnten einige wenige Balladenabende oder sonstige rechtsextremistische Veranstaltungen mit Livemusik verzeichnet werden. Insgesamt fanden im Berichtsjahr ein Konzert, sechs Liederbeziehungsweise Balladenabende und drei sonstige rechtsextremistische Veranstaltungen mit Livemusik statt. Zu den sonstigen Veranstaltungen zählen zum Beispiel parteiinterne Feste oder Geburtstagsfeiern, bei denen Musik Teil der Veranstaltung ist. Dies soll zum einen den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken und zum anderen sollen Erlöse erwirtschaftet werden. Die Anzahl der festgestellten Musikveranstaltungen ist im Vergleich zum Vorjahr somit von 40 auf zehn zurückgegangen. Kampfsport Ein weiteres wichtiges Veranstaltungsformat für die rechtsextremistische Szene in Nordrhein-Westfalen sind Kampfsportveranstaltungen. Zu den größten Veranstaltungen der rechtsextremistischen Kampfsportszene zählt der Kampf der Nibelungen (KdN). Konzeptionell soll aus Sicht der Rechtsextremisten der KdN eine explizite Gegenveranstaltung zu anderen unpolitischen Kampfsportveranstaltungen sein und durch Bestätigung der ideologischen Überzeugungen die Vernetzung sowie den Zusammenhalt der Szene fördern. Auf der Webseite des KdN propagieren die 114 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Verantwortlichen die Ablehnung der freien demokratischen Grundordnung und des von ihnen so bezeichneten"faulen politischen Systems". Kampfsport wird in diesem Zusammenhang als Mittel gesehen, demokratiefeindliche Bestrebungen zu stärken, indem eine Freund-Feind-Ideologie verbreitet und im Zusammenhang mit der rechtsextremistischen Widerstandsund Bürgerkriegsrhetorik die Gewaltbereitschaft und -fähigkeit der Szene erhöht wird. Außerdem erzielen die Veranstalter bei solchen Events über den Verkauf von Eintrittskarten, Erlösen aus Gastronomie und szenetypischen Verkaufsständen Einnahmen, die zumindest in Teilen in die Szene zurückfließen. Organisator der Veranstaltung ist der Rechtsextremist Alexander Deptolla, der zugleich eine Führungsrolle im Dortmunder Kreisverband der Partei Die Rechte einnimmt. Bedingt durch die Corona-Pandemie sollte der KdN im Jahr 2020 nicht als öffentliche Veranstaltung stattfinden, sondern als konspirativ organisiertes Kampfsportturnier, das am 10. Oktober 2020 als kostenpflichtiger Online-Stream gezeigt wurde. Am 26. September 2020 wurde in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) das KdN-Turnier durch die zuständigen Polizeiund Ordnungsbehörden mit Verweis auf die von der Veranstaltung ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verboten. Video-Werbung bei YouTube für die Kampfsportveranstaltung "Kampf der Nibelungen" rechtsextremIsmus 115 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Bei der geplanten Veranstaltung sollten die Aufnahmen für den späteren Online-Stream gefertigt werden. Mit gleicher Begründung unterbanden die Ordnungsbehörden bereits im vorvergangenen Jahr in Ostritz (Sachsen) die Durchführung einer KdN-Veranstaltung. Letztlich konnten im Online-Stream am 10. Oktober 2020 nur sechs Kämpfe aus dem Jahr 2020 gezeigt werden. Es handelte sich um eher amateurhafte Aufnahmen, die vermutlich kurzfristig vor Ausstrahlung der rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltungen gefertigt wurden. Die Organisatoren ergänzten den Stream durch zwei weitere Kämpfe von zurückliegenden Veranstaltungen. Auch wenn die Verantwortlichen die Durchführung des Streams als Erfolg bewarben, dürfte das Ergebnis deutlich hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben sein. Mit Verweis auf die behördlichen Maßnahmen gegen den KdN kündigte Alexander Deptolla an, zunächst keine Veranstaltungen mehr durchzuführen. Im Zusammenhang mit dem Verbot des KdN im Jahr 2019 sowie den Maßnahmen gegen die Veranstaltung im Jahr 2020 sind derzeit noch verschiedene Gerichtsverfahren anhängig. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Rechtsextremistische Musik ist zum einen ein Ausdrucksmittel einer Subkultur, die sich für Menschenverachtung und Demokratiefeindschaft ausspricht. Zum anderen ist sie ein effektives Mittel rechtsextremistischer Strategen, ihre Propaganda Jugendlichen und jungen Erwachsenen nahezubringen. Zudem handelt es sich bei rechtsextremistischer Musik um ein kommerzielles Geschäft, an dem Bands, Konzertveranstalter und Vertriebe verdienen. In Nordrhein-Westfalen nutzt die Partei Die Rechte den Parteistatus, um erlebnisorientierte Veranstaltungen inklusive Konzerten oder Balladenabende zu veranstalten. Damit möchte sie sowohl Anhänger binden als auch Erlöse erzielen. Mit der Modernisierung der Erscheinungsformen des Rechtsextremismus hat sich auch deren Musik gewandelt. Die Vielfalt an Musikstilen hat zugenommen. Dies beinhaltete sogar ideologisch widersprüchlich erscheinende Entwicklungen wie Nationaler Rap. Durch die digitale Revolution der letzten 20 Jahre haben sich die Vertriebsbedingungen für rechtsextremistische Musik enorm verbessert. Nach einer über längere Zeit rückläufigen Entwicklung gewinnen rechtsextremistische Musikveranstaltungen seit 2014 wieder an Bedeutung. Es finden mehr Konzerte statt und seit 2016 mehren sich Großveranstaltungen mit über 1.000 Besuchern. Das Berichtsjahr 116 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 ist diesbezüglich aufgrund der noch anhaltenden Corona-Pandemie und den damit verbundenen Beschränkungen nicht repräsentativ. Die subkulturelle Szene trägt dazu bei, Feindbilder zu verbreiten und die Gewaltbereitschaft der Szene zu stärken. Angesichts dessen beobachtet der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen die Szene hinsichtlich möglicher Radikalisierungstendenzen mit großer Aufmerksamkeit. Staatliche Maßnahmen beeinträchtigen die Aktivitäten der subkulturellen Szene. Dies umfasst Vereinsverbote wie bei C18, baurechtliche Nutzungsuntersagungen von Szeneobjekten oder ordnungsrechtliche Verbote von Veranstaltungen wie dem KdN. rechtsextremIsmus 117 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Reichsbürger und Selbstverwalter Sitz/Verbreitung NRW-weite Verbreitung Gründung/Bestehen seit 1985 (Gründung der ersten Reichsbürgergruppierung Kommissarische Reichsregierung (KRR) in Berlin) Struktur/ Repräsentanz Die heterogene Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter besteht aus einer Vielzahl von Einzelpersonen und Kleingruppen, die zum Teil miteinander kooperieren, sich zum Teil aber auch scharf voneinander abgrenzen. Neben kleinen, sektenartigen Gruppen mit hohem Organisationsgrad gibt es ebenso lose strukturierte Gruppierungen sowie Einzelpersonen, die nur im Internet aktiv sind oder sich an Behörden wenden. Bei der Mehrzahl der Reichsbürger und Selbstverwalter in Nordrhein-Westfalen ist keine feste Organisationsbindung erkennbar. Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 3.200 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Eigene Internetauftritte der einzelnen Gruppierungen, auf denen umfangreiche Schriftsätze zum Download angeboten werden; entsprechende Diskussionsplattformen Kurzporträt/Ziele Inhaltlicher Konsens der Reichsbürgerszene sind Behauptungen, dass erstens das Deutsche Reich in den Grenzen des Kaiserreichs von 1871 beziehungsweise der 1930er-Jahre weiterhin existiere und dass zweitens der Bundesrepublik Deutschland die rechtliche Legitimation fehle. 118 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Bundesrepublik sei eine GmbH und die Behörden deshalb nur "Scheinbehörden". Teilweise behaupten Reichsbürger auch, dass eine von ihnen geführte kommissarische Reichsregierung die Staatsgewalt ausübe. Daraus leiten sie für sich hoheitliche Befugnisse ab. Selbstverwalter knüpfen dagegen in ihrer Argumentation nicht an eine staatliche Autorität an. Sie berufen sich auf ein selbst definiertes Naturrecht, wonach sie als Individuen eigene Hoheitsrechte besäßen. Reichsbürger und Selbstverwalter sprechen gleichermaßen demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation ab und begehen Verstöße gegen die Rechtsordnung. Die Anhänger sind überzeugt, nach einem von ihnen erklärten Austritt aus der angeblichen GmbH in der Folge nicht weiter an bestehende Gesetze gebunden zu sein. Teile der Reichsbürgerszene überschneiden sich mit der rechtsextremistischen Szene und vertreten rechtsextremistische Argumentationsmuster. So bezeichnet sich die Germaniten Partei aus Vlotho beispielsweise als "Arische Partei" und verbreitet antisemitische Verschwörungstheorien. Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter lässt sich in drei Motivgruppen unterteilen: erstens Rechtsextremisten, zweitens Verschwörungstheoretiker und drittens Personen, die sich finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Staat entziehen möchten. Im jeweiligen Einzelfall können sich die Motive unterschiedlich mischen. Oftmals haben Reichsbürger und Selbstverwalter durch eine Lebenskrise Zugang zur Szene gefunden. Zudem treten in der Reichsbürgerszene oftmals Personen mit Verhaltensmustern psychisch Erkrankter auf. rechtsextremIsmus 119 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Reichsbürger und Selbstverwalter stellen ein erhebliches Gewaltpotenzial dar. Wiederkehrend sind Gewaltdelikte und ein teilweise umfangreicher Waffenbesitz in dieser Szene festzustellen. Gerichte, Polizei und Behörden werden in ihrer Arbeitsweise behindert und deren Mitarbeiter eingeschüchtert und bedroht. Finanzierung bei den Gruppierungen Mitgliedsbeiträge Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Reichsbürger und Selbstverwalter sind verfassungsfeindlich, da sie die freiheitliche demokratische Grundordnung offensiv ablehnen. Dies zeigt sich unter anderem im Verweigern von Steuerzahlungen und Nichtanerkennen von behördlichen Bescheiden sowie im Errichten vermeintlich eigener "Staaten". Gerichten und Behörden gegenüber wird latent - mitunter auch offen - aggressiv aufgetreten. Die fundamentale Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Gesetze und Institutionen bietet hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Ausrichtung, auch wenn diese Bestrebungen nur zum Teil einen eindeutig rechtsextremistischen Hintergrund, wie zum Beispiel ein gebietsund geschichtsrevisionistisches Weltbild, haben. Die Reichsbürger und Selbstverwalter unterliegen deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Das bundesweite Verbot der Reichsbürger-Gruppe Vereinte deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) wurde am 19. März 2020 auch in Nordrhein-Westfalen mit Durchsuchungen von Objekten in Bünde, Preußisch Oldendorf und Gummersbach durchgesetzt. Die Polizei stellte zahlreiche Asservate wie Propagandamittel, Waffen und Bargeld sicher. Die Gruppierung bestand seit Ende 2016. Die GdVuSt lehnt die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland ab in Verbindung mit einem auf Verschwörungstheorien beruhenden Antisemitismus. 120 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Durchsuchung in Gummersbach in Zusammenhang mit dem Verbot der Reichsbürger-Gruppe Vereinte deutsche Völker und Stämme im März 2020 Im Juli 2020 versuchte die Reichsbürgergruppierung Königreich Deutschland (KRD) vergeblich in Köln-Holweide ein sogenanntes "Gemeinwohlrestaurant", in dem Fall eine Pizzeria, zu eröffnen. Auf der Internetseite des Restaurants schrieb die Besitzerin, dass sie zum sogenannten KRD gehöre und die Gäste für die Zeit des Besuchs der Pizzeria temporär die Zugehörigkeit zum KRD besäßen. Der Leiter der Gruppierung, Peter Fitzek, der sich selbst zum "obersten Souverän" des KRD ausgerufen hatte, reiste vergeblich zur geplanten Eröffnung an, da die Stadt Köln das Restaurant wegen fehlender Konzession noch vor der Eröffnung schließen ließ. Im Jahr 2020 konnte ein deutlicher Anstieg der Aktivitäten der Verfassungsgebenden Versammlung (VV) festgestellt werden. Die VV gründete sich nach eigenen Angaben 2014 und verfügt über bundesweite Strukturen. In NRW gehören ihr etwa 120 Mitglieder an. Diese treffen sich intern zu sogenannten Stammtischen. Die Anhänger der VV gehen davon aus, dass die Bundesrepublik Deutschland mit der Wiedervereinigung erloschen sei und es daher keine gültigen Gesetze gebe. Die VV solle daher eine neue Verfassung begründen. Hierzu gründete sie am 4. April 2016 den fiktiven Staat "Bundesstaat Deutschland". Der Stand der eigenen Verfassungsberatungen sowie die ideologischen Positionen werden auf den Webseiten der Gruppierung dargestellt. Der VV sind direkt oder indirekt diverse Internetauftritte und Kanäle in sozialen Medien wie rechtsextremIsmus 121 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Facebook, Twitter, YouTube und vk.com zurechenbar. Hier tritt sie auch als Deutsche Depeschen Bild und Tonagentur/ddb auf. Unter diesem Namen betreibt sie ebenfalls ein eigenes Internetradio, auf welchem auch flüchtlingsfeindliche, rassistische sowie antisemitische Positionen verbreitet und das politische System Deutschlands und seine Repräsentanten in Gänze diffamiert werden. So nutzte die VV insbesondere die Corona-Pandemie, um ihre Aktivitäten sowohl online als auch außerhalb des Internets auszubauen. Durch die Verteilung von Flyern in öffentlichen Straßen oder durch Posteinwurf versuchte sie, auf sich aufmerksam zu machen. Darüber hinaus wurden diverse Schreiben an nationale und internationale Regierungschefs sowie an Landesund Bundesbehörden verschickt. Politische Öffentlichkeit Klassische politische Beteiligungsformen nutzt die Reichsbürger-Szene eher selten. Die Organisationen Ewiger Bund und Vaterländischer Hilfsdienst wurden jedoch im Laufe des Jahres 2020 durch das Verteilen von Postkarten mit kaiserlichem Reichsadler beziehungsweise kaiserlicher Reichsflagge in mehreren nordrhein-westfälischen Städten auffällig. Am 1. August 2020 führten circa 20 Personen des Ewigen Bundes eine unangemeldete Versammlung am Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Porta Westfalica mit diversen Fahnen, darunter auch der Reichskriegsflagge sowie einem Banner mit der Aufschrift "Deutschland kommt zu sich - komm einfach mit" durch, die von der Polizei aufgelöst wurde. Für den 29. August 2020 waren mehrere Kundgebungen und Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen in Berlin angemeldet. Dazu zählte eine Versammlung der Reichsbürger-Gruppierung staatenlos.info e.V., die auf der Wiese am Reichstag stattfand. Eine Reichsbürgerin aus der Städteregion Aachen hielt dort eine Rede und rief die Zuhörer dazu auf, die Reichstagstreppe zu stürmen. Anschließend gelang es 300 bis 400 Personen die Absperrgitter vor dem Reichstag zu überwinden und die Treppe des Reichstags für einige Minuten zu besetzen. Dazu zählten mehrere Reichsbürger. Dies war insofern bezeichnend, als dass sich bei größeren Protestversammlungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen immer wieder Reichsbürger beteiligten. Trotz des Zeigens ihrer schwarz-weißen-roten Fahnen wurden sie von den Veranstaltern nicht ausgeschlossen. 122 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 An der Besetzung der Reichstagstreppen beteiligten sich auch die Corona-Rebellen Düsseldorf. Diese Gruppierung führte in Düsseldorf eine Vielzahl von Protestversammlungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen durch. Zu dem Organisationsteam gehört ein Reichsbürger, der bei den Versammlungen die Gelegenheit nutzte, Reichsbürgerthesen zu verbreiten und auf der Bühne symbolisch eine schwarz-weiß-rote Fahne zu präsentieren. Die Corona-Rebellen Düsseldorf haben an der Besetzung der Reichstagstreppen am 29. August 2020 in Berlin teilgenommen, wie sie es auf ihrem Instagram-Account mit diesem Bild dokumentieren. Gewalt und Einschüchterung Reichsbürger und Selbstverwalter versuchen teilweise Amtshandlungen der Mitarbeiter von Kommunen, Justiz und Polizei digital zu dokumentieren. Auf diese Weise entstandene Videos und Audios werden unerlaubt im Internet verbreitet. Dabei wird das Material oft so zurechtgeschnitten, dass die Behördenmitarbeiter inkompetent oder überfordert wirken. Diese Strategie zielt darauf ab, die Bediensteten einzuschüchtern und künftig von ihrem Handeln abzuhalten. Darüber hinaus fielen sogenannte Reichsbürger und Selbstverwalter im Berichtsjahr strafrechtlich durch passive Widerstandshandlungen bis hin zu Körperverletzungsdelikten auf. Überregionale Aufmerksamkeit erlangte ein tätlicher Angriff in einem rechtsextremIsmus 123 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Supermarkt in Troisdorf im Mai, begangen von zwei Männern zum Nachteil von zwei Polizeibeamten, die dabei schwer verletzt wurden. Auslöser war die Weigerung, die nach der Coronaschutzverordnung erforderliche Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Einer der beiden Täter ist der Reichsbürgerszene zuzurechnen. Problematisch sind die in der Szene verbreitete Waffenaffinität sowie die Bereitschaft, Gewaltdelikte zu begehen. Die zuständigen Waffenbehörden prüfen deshalb bei jedem bekannt gewordenen Anhänger der Reichsbürgerszene in Nordrhein-Westfalen den Entzug von etwaigen Waffenerlaubnissen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Reichsbürger und Selbstverwalter versuchen durch ihre Aktivitäten, eine sachgerechte Arbeit der Behörden zu behindern. Davon sind insbesondere die Kommunen betroffen. Dies schließt auch Einschüchterungsversuche und Gewalttaten gegen Beschäftigte von Behörden ein. Gelegentlich sehen sich Reichsbürger und Selbstverwalter - neben ihrer Fundamentalopposition zu staatlichen Institutionen - genötigt, Vorsorge für vermeintlich drohende Endzeitszenarien zu treffen. Obwohl partiell auch Überschneidungen zur Szene der so genannten Prepper (abgeleitet von: to prepare = sich vorbereiten) bestehen, handelt es sich hierbei jedoch nicht um strukturelle Überlappungen oder verstetigte organisatorische Verbindungen. Seit Beginn der Proteste gegen die Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nehmen einige Reichsbürger und Selbstverwalter an Veranstaltungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen teil, weil sie durch die dort verbreiteten Verschwörungsmythen angezogen werden und hoffen, dort auch ihre eigene Ideologie verbreiten zu können. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Aktionismus und Aggression in der Reichsbürgerszene weiter verstärken und es zu Radikalisierungseffekten kommt. Deswegen bewertet der Verfassungsschutz die Reichsbürger und Selbstverwalter als Bestrebung mit erheblichem Gefahrenpotenzial. Die virale Verbreitung der Reichsbürger-Ideen im Internet setzt sich fort und wird weitere Sympathisanten zu entsprechenden Aktivitäten mobilisieren. 124 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Andererseits zeigen sich Ansätze, dass die repressiven Maßnahmen der Polizeibehörden bei Straftaten, die Aufklärung über Personen und Aktionen der Szene durch den Verfassungsschutz sowie konsequentes Vorgehen der kommunalen Behörden im Umgang mit Reichsbürgern und Selbstverwaltern zugleich zur Eindämmung des Phänomens beitragen. rechtsextremIsmus 125 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Rechtsextremistische Mischszene Sitz/Verbreitung Schwerpunkte in Düsseldorf, Essen und Mönchengladbach Gründung/Bestehen seit seit Mitte der 2010er Jahre Struktur/ Repräsentanz Netzwerk von Gruppierungen Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 500 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Internetpräsenzen Kurzporträt/Ziele Ausgehend von HoGeSa und PEGIDA haben sich in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen Jahren mehrere Gruppierungen herausgebildet, die sich aus organisierten Rechtsextremisten, Angehörigen der Hooliganund Rockerszene sowie sogenannten Wutbürgern zusammensetzen. Sie sind miteinander vernetzt, unterstützen sich gegenseitig und agieren gemeinsam im öffentlichen Raum. Diese Mischszene hat sich rechtsextremistisch politisiert. Das verbindende Element bilden dabei Fremdenund Islamfeindlichkeit sowie das behauptete Versagen des Staates gegenüber der vermeintlichen Kriminalität von Migranten. Die jeweiligen Gruppierungen der rechtsextremistischen Mischszene treten in der Öffentlichkeit oftmals mit einem einheitlichen Erscheinungsbild durch gleichartige Kleidung auf. Die wichtigsten Gruppierungen sind First Class Crew - SteelerJungs (Essen), die Bruderschaft Deutschland (Düsseldorf) und Mönchengladbach steht auf. Weiterhin zählen die Kleinstgruppierungen wie PEGIDA NRW, NRW stellt sich quer, Defensive West, Die Sippe NRW und Hooligans Europe United dazu. 2020 hat die Gruppierung 126 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Besorgte Bürger Herne (auch: Bruderschaft Herne, Bruderschaft Ruhrpott oder Stark für Herne) ihre diesbezüglichen Aktivitäten als Gruppe eingestellt, auch wenn einzelne Personen weiterhin in der rechtsextremistischen Mischszene aktiv sind. Gleiches gilt für den Begleitschutz Köln e.V. (auch: Internationale Kölsche Mitte) seit 2019. Finanzierung Mitgliedsbeiträge Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die rechtsextremistische Mischszene propagiert fremdenund islamfeindliche Vorstellungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen. Zudem behauptet sie, der Staat komme seiner Schutzfunktion gegenüber den Bürgern nicht nach, um damit ein bürgerwehrähnliches Auftreten zu rechtfertigen, mit dem sie das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellt. Darüber hinaus vernetzt die Szene sich mit anderen rechtsextremistischen Gruppierungen. Ein Teil der Szeneangehörigen ist überdies gewaltbereit gegenüber Menschen, die sie zu angeblich feindlichen Gruppen zählt. Dazu gehören vor allem Migranten und als politisch links wahrgenommene Personen. Die rechtsextremistische Mischszene unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Versammlungen in NRW Die erste größere Versammlung der rechtsextremistischen Mischszene fand am 1. März 2020 in Essen statt. Der Vorsitzende von Mönchengladbach steht auf, Dominik Roeseler, meldete unter dem Motto "Schildwall: Linksextreme Gewalt und Medienhetze stoppen" eine Demonstration an, deren Streckenverlauf nach dem Willen des Veranstalters an mehreren Parteibüros und Medienhäusern vorbeiführte. Außerdem lag die Alte Synagoge auf der Strecke. An der Veranstaltung beteiligten sich rund 130 Personen von den Gruppierungen Steeler Jungs, Bruderschaft Deutschland, Besorgte Bürger Herne und Mönchengladbach steht auf. Die Gruppierungen verzichteten dabei auf das Zeigen ihrer jeweiligen Gruppenkleidung und traten gewissermaßen inkognito auf. Es wurde nur noch ein Frontbanner mitgeführt, auf dem der Text stand: "Was wir hier in diesem Land brauchen, sind mutige Bürger, die die roten Ratten dortrechtsextremIsmus 127 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 hin jagen, wo sie hingehören - in ihre Löcher." Nach Entscheidung des Polizeiführers des Polizeipräsidums Essen wurde das Zeigen des Banners während des Aufzuges als unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung bewertet und somit per mündlicher Auflage untersagt. Im weiteren Verlauf des Jahres wirkte sich die Corona-Pandemie stark auf diese aktionsorientierte Szene aus, denn die Corona-Schutzmaßnahmen der Regierung erschwerten die Durchführung von eigenen Veranstaltungen. Inhaltlich wurde das Thema Corona aufgegriffen, indem man die Pandemie leugnete und Verschwörungsmythen sowie Fake-News verbreitete. Beispielsweise verbreitete NRW stellt sich quer anlässlich der Diskussion um geplante Corona-Schutzimpfungen im November 2020 ein Bild mit dem Text "Ich bin keine Laborratte für die Impfindustrie". Damit versuchte man anschlussfähig für anderweitige Protestgruppierungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu werden. Von "NRW stellt sich quer" veröffentlichter Beitrag auf Facebook gegen die geplante Corona-Schutzimpfung 128 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zunächst versuchte die rechtsextremistische Mischszene, eigene Versammlungen durchzuführen. So veranstaltete Mönchengladbach steht auf im Mai und Juni 2020 insgesamt drei Kundgebungen unter dem Motto "Freiheit statt neue Normalität". Allerdings blieben die Teilnehmerzahlen unter den Erwartungen. Bei der letzten Veranstaltung am 7. Juni 2020 nahmen lediglich 70 Personen teil. Auch die Steeler Jungs führten nur vereinzelt Versammlungen durch. Anlässlich eines Besuchs von Bundeskanzlerin Merkel am 18. August 2020 in Essen mobilisierte NRW stellt sich quer für eine Protestveranstaltung. Dem Aufruf folgten aber nur knapp 20 Personen. Auch Hooligans Europe United organisierte am 16. Dezember 2020 eine Versammlung, die aber nur rund 15 Personen besuchten. Stattdessen versuchte die rechtsextremistische Mischszene, Veranstaltungen anderer Protestgruppen zu vereinnahmen oder eigene Aktionen in unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Nähe anzumelden. Insbesondere an Versammlungen der Gruppierung Corona-Rebellen Düsseldorf beteiligten sich wiederkehrend Angehörige der rechtsextremistischen Mischszene. Ferner nahm die rechtsextremistische Mischszene aus Nordrhein-Westfalen auch an bundesweiten Veranstaltungen teil. So reiste man nach Berlin, um sich am 29. August 2020 am dortigen Protestgeschehen zu beteiligen. Mönchengladbach steht auf rief vorher zur Teilnahme auf: "Beenden wir ALLE GEMEINSAM diesen #Corona-Wahnsinn und setzen ein starkes Zeichen für Freiheit und Frieden. Bringt eure schwarz-weißroten Fahnen mit; dann bilden wir einen starken, patriotischen Block während des Demonstrationszuges und auf der Hauptkundgebung." Die Bruderschaft Deutschland und die Steeler Jungs traten dort sichtbar mit ihren jeweiligen T-Shirts auf. An der Besetzung der Reichstagstreppen beteiligte sich unter anderem der Vorsitzende von Mönchengladbach steht auf, Dominik Roeseler. Ebenso waren Angehörige der Bruderschaft Deutschland bei der Protestversammlung am 7. November in Leipzig. Insbesondere mobilisierte die rechtsextremistische Mischszene für eine Protestveranstaltung, die die Initiative Querdenken am 6. Dezember 2020 in Düsseldorf veranstaltete. Dabei stand der Szene die Veranstaltung am 7. November 2020 in Leipzig vor Augen, als Rechtsextremisten und Hooligans sich Auseinandersetzungen mit der Polizei und mit politisch Andersdenkenden lieferten. Dem Aufruf nach Düsseldorf folgten schätzungsweise 300 bis 400 Rechtsextremisten, darunter rund 150 Angehörige der rechtsextremistischen Mischszene, unter anderem von der Bruderschaft Deutschland und den Steeler Jungs. Als eine Gruppe von überwiegend Rechtsextremisten im Laufschritt in Richtung von Gegenprotestlern außerhalb der Versammlungsfläche lief, hielt die Polizei sie auf. Die Rechtsextremisten wurden von der rechtsextremIsmus 129 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Versammlung ausgeschlossen und anschließend geschlossen zum Hauptbahnhof begleitet. Zu dieser Gruppe zählten neben der rechtsextremistischen Mischszene auch Führungspersonen von Die Rechte und der Partei Der III. Weg. Die Distanzierung des Versammlungsleiters auf der Bühne von der rechtsextremistischen Mischszene sorgte bei den Rechtsextremisten für Unmut. Auch bei Protestversammlungen, die keinen Bezug zum Thema Corona hatten, suchte die rechtsextremistische Mischszene Anschluss. Unter dem Motto "Für die Freiheit. Gegen Fahrverbote." fand beispielsweise am 5. Juli 2020 in Essen eine Kundgebung statt, die sich gegen drohende Motorradfahrverbote richtete und vor allem die Biker-Szene ansprach. Zahlreiche Angehörige der rechtsextremistischen Mischszene nahmen teil, und der Vorsitzende von Mönchengladbach steht auf, Domink Roeseler, hielt eine Rede. Auffallend war, dass die Rechtsextremisten überwiegend auf ihre üblichen Erkennungsmerkmale wie Logos und Transparente verzichteten. First Class Crew - Steeler Jungs Die Mitglieder der Steeler Jungs führen seit 2018 regelmäßig sogenannte "Spaziergänge" im Essener Stadtteil Steele durch und bilden eine bürgerwehrähnliche Gruppierung, die mit ihrem uniformierten Auftreten einschüchternd wirken will. Eine Kneipe in Essen-Steele dient der Gruppe als Treffpunkt. Neben den Steeler Jungs haben sich in anderen Essener Ortsteilen mit den Huttroper Jungs und den Borbecker Jungs ähnliche Zusammenschlüsse beziehungsweise Untergruppierungen gebildet. Diese haben auf sich aufmerksam gemacht, indem sie durch einheitliche Bekleidung, die an die der Steeler Jungs angeglichen wurde, auffielen. Die Demonstrationen in Steele fanden bis März 2020 wöchentlich mit ungefähr 50 bis 100 Teilnehmern statt. Während der Corona-Pandemie kamen die Veranstaltungen zeitweise komplett zum Erliegen. Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 versuchte die Gruppierung, Ängste und Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern zu instrumentalisieren und protestierte am 18. Mai 2020 gegen Verbote und angeblich drohende Zwangsimpfungen. Während die Gruppierung bei Versammlungen auf Reden und Banner verzichtet und sich scheinbar als nicht rechtsextremistisch darstellen möchte, zeigen die Mitlieder auf ihren Profilen im russischen sozialen Netzwerk VK.com deutlich ihre rechtsextremistischen Auffassungen. Beispielsweise wurde anlässlich eines Geburtstages eines Mitglieds eine Torte mit Hakenkreuz als Verzierung gepostet. 130 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Bruderschaft Deutschland Die Bruderschaft Deutschland umfasst mittlerweile rund 60 Personen, die schwerpunktmäßig aus Düsseldorf und den angrenzenden Städten stammen. Ende 2019 wurde als Unterorganisation die Schwesternschaft Deutschland gegründet, um auch Frauen in die Organisation einzubinden. Diese nimmt inzwischen regelmäßig an Versammlungen teil, zu denen auch die Bruderschaft Deutschland anreist. Im Gegensatz zu den Steeler Jungs organisiert die Düsseldorfer Gruppierung keine eigenen Versammlungen. Stattdessen nahm sie an Versammlungen der rechtsextremistischen Mischszene und an einigen Protestversammlungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen teil. Allerdings beteiligte sich die Bruderschaft Deutschland auch an einer Versammlung der neonazistischen Partei Der III. Weg am 3. Oktober 2020 in Berlin. Einige Mitglieder trugen dabei trotz warmen Wetters Lederhandschuhe, um ihre Gewaltbereitschaft zu dokumentieren. Im Frühjahr 2020 zog sich eine Führungsperson aus der Bruderschaft Deutschland zurück, was zu organisatorischen Schwierigkeiten führte. Der Hintergrund des Rückzugs waren Verbindungen der Person zu Angehörigen der Gruppe S.. Der Generalbundesanwalt hat die Gruppe S. wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Mönchengladbach steht auf e.V. Dem Kern der Gruppierung werden rund zehn Personen zugerechnet. Seit dem 17. Januar 2019 ist die Gruppierung im Vereinsregister beim Amtsgericht Mönchengladbach eingetragen. Der Vereinsvorsitzende Dominik Roeseler war früher stellvertretender Parteivorsitzender der inzwischen aufgelösten rechtsextremistischen Partei Pro NRW sowie in führender Position bei HoGeSa aktiv. Insofern verfügt er über vielfältige Verbindungen in die rechtsextremistische und die Hooliganszene. 2020 trat er mehrfach mit den Corona Rebellen Düsseldorf auf und begleitete sie beispielsweise bei den Protestversammlungen am 29. August in Berlin. Nachdem im Mai 2019 vor einer Moschee in Mönchengladbach-Rheydt ein abgeschnittener Schweinekopf platziert, auf die Straße "Odin statt Allah" geschrieben und auf eine Wand der Moschee ein Hakenkreuz gemalt wurden, verurteilte das Amtsgericht Mönchengladbach zwei Personen aus dem Umfeld von Mönchengladbach steht auf als Täter. Roeseler wurde im Januar 2021 wegen Anstiftung zu der Straftat zu einer Bewährungsstrafe von vier Monaten Haft verurteilt. rechtsextremIsmus 131 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Facebook-Aufruf von Mönchengladbach steht auf e.V. zur Teilnahme an der Demonstration am 29. August 2020 in Berlin Besorgte Bürger Herne Seit August 2019 führte eine Gruppe unter der Bezeichnung Besorgte Bürger Herne sogenannte "Spaziergänge" in Herne durch. Die Kerngruppe umfasste rund 30 Personen. Rund ein Drittel davon wies rechtsextremistische Bezüge auf. Zudem stammte ein Teil aus der Hooliganszene des SC Westfalia 04 Herne. Ende 2019 zogen sich die ursprünglichen Organisatoren und die Kerngruppe weitgehend zurück. Ein neues Organisationsteam von rund zehn Personen setzte im Januar und Februar zunächst die Versammlungen in Herne fort. Danach stellte es seine Aktivitäten weitgehend ein. Allerdings nehmen die Personen gelegentlich an anderen Versammlungen der rechtsextremistischen Mischszene teil. 132 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die rechtsextremistische Mischszene führte 2020 im Vergleich zum Vorjahr deutlich weniger eigene Versammlungen durch. Der Grund lag in den Auflagen im Zuge der Corona-Pandemie. Weiterhin tritt die Szene in der Öffentlichkeit aggressiv auf, um politische Gegner einzuschüchtern. Im Jahr 2020 weitete sie ihre Aktivitäten im Internet aus. Zudem suchte sie Anschluss bei den Corona-Protesten, bemühte sich um eine überregionale Vernetzung und baute Verbindungen in das rechtsextremistische Parteienspektrum aus. rechtsextremIsmus 133 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Rechtsextremistische Zeitschriften Im Rechtsextremismus dienen Zeitschriften als Meinungsund Informationssystem, das diese Szene braucht, um gemeinsam aktionsund strategiefähig zu bleiben. Zudem schaffen sie die Möglichkeit der ideologischen Selbstvergewisserung. Diese Funktionen sind umso wichtiger, je mehr sich der Rechtsextremismus ausdifferenziert und von informellen Strukturen geprägt ist. Das geschriebene, vor allem das gedruckte Wort hat zudem auch einen symbolischen Wert: Es gibt rechtsextremistischen Botschaften scheinbares Gewicht, Substanz und Dauerhaftigkeit. Bis in die 1990er Jahre standen Zeitschriften im Vordergrund. Inzwischen haben Webseiten und vor allem das Social Web den Printmedien weitgehend den Rang abgelaufen. Insofern ist es auffallend, dass Rechtsextremisten aus Nordrhein-Westfalen seit 2016 mit den Magazinen N.S. Heute und Reconquista zwei neuere Ideologieorgane und seit 2017 mit dem Arcadi-Magazin eine Publikation der Neuen Rechten herausbringen. Weiterhin stammt die rechtsextremistische Zeitschrift Unabhängige Nachrichten ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen und findet aufgrund ihrer jahrzehntelangen Geschichte Beachtung in der rechtsextremistischen Szene. N.S. Heute Der Sturmzeichen-Verlag publiziert die seit 2017 erscheinende rechtsextremistische Zeitschrift N.S. Heute (Nationaler Sozialismus Heute). Ursprünglich sollte das Magazin im zweimonatlichen Rhythmus erscheinen. 2020 wurden allerdings nur vier Ausgaben veröffentlicht. Mutmaßlich hängt dies mit dem Haftantritt des wegen Volksverhetzung verurteilten Herausgebers Sascha Krolzig im Juli 2020 zusammen. Krolzig ist zugleich einer der beiden Bundesvorsitzenden der Partei Die Rechte. Während seiner Haft übernahm der langjährige Neonazi Christian M. die Schriftleitung. Das Periodikum versteht sich als Beitrag zur Schulung der bundesweiten Neonazi-Szene und spiegelt deren Erlebniswelt und Weltanschauung wider. Die Finanzierung der Zeitschrift, die in einer Auflagenhöhe von 1.500 Exemplaren erscheint, erfolgt vor allem über Abonnements. In einer Doppelausgabe im Frühjahr 2020 gab die Zeitschrift dem Holocaust-Leugner Gerard Menuhin ausführlich Gelegenheit, seine antisemitischen Verschwörungsmythen zu verbreiten. Außerdem wurde ausgiebig das rechtsextremistische Siedlungsprojekt "Zusammenrücken in Mitteldeutschland" vorgestellt. Im Interview 134 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 stellt einer der Initiatoren die fremdenfeindliche Motivation des Projektes dar: "In vielen Regionen stellen Fremde die Mehrheit, diktieren die Regeln und autochthonen Restdeutschen haben resigniert und werden an die Wand gedrückt." In einem anderen längeren Beitrag befasst sich ein Düsseldorfer Neonazi mit Terrorismus. Dabei stellt er rechtsextremistische Attentäter als geisteskrank dar, um jede Verantwortung der rechtsextremistischen Szene zu negieren. Letztlich geht es dem Autor um eine TäterOpfer-Umkehr, wonach unter Terroranschlägen vor allem Rechtsextremisten zu leiden hätten. Bemerkenswerterweise ist der folgende Beitrag in der Zeitschrift mit dem Titel "Auf in den Kampf" versehen. Doppelausgabe der Zeitschrift N.S. Heute vom Frühjahr 2020 mit dem Beirag "Auf in den Kampf" rechtsextremIsmus 135 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Reconquista Das Magazin Reconquista wird seit 2016 publiziert. Thematische Schwerpunkte der Zeitschrift sind Geschichte, Politik sowie Kultur aus rechtsextremistischer Sicht. Die im Impressum der Zeitschrift angegebene Adresse ist die des Dortmunder Kreisverbandes der Partei Die Rechte. Im Jahr 2020 erschienen zwei Ausgaben. Im Geleitwort der ersten Ausgabe wird geschrieben: "Dazu gehört auch die Befreiung von Schuldvorwürfen, welche die Deutschen und Europäer ins Mark treffen und als Argument für die Abschaffung ihrer ethnokulturellen Substanz mißbraucht werden." Unabhängige Nachrichten Seit 1969 erscheint bundesweit die Monatszeitschrift Unabhängige Nachrichten (UN), welche vom Oberhausener Freundeskreis UN e. V. herausgegeben wird. Die Herausgeber unterstellen, die deutsche Presselandschaft sei gleichgeschaltet und berichte einseitig. Insbesondere zur Corona-Pandemie suggeriert die Zeitschrift wiederkehrend, dass die Regierung unberechtigterweise Panik schüre und eigentlich nur Freiheitsrechte abschaffen wolle. So heißt es in dem Artikel "Merkels Transformation": "Nicht das Virus ist die größte Gefahr für unsere Demokratie - es ist die Regierung Merkel und ihre Helfer in den Blockparteien." Des Weiteren suggerierten die Beiträge beständig, dass Deutschland in einen totalitären Staat verwandelt werde. Beispielsweise titelt die UN in Heft 5/2020 anlässlich der Einführung der Corona-Warn-App "Wollt ihr die totale Überwachung?". Ferner geht es den Autoren und Herausgebern darum, eine rechtsextremistische Weltsicht zu rechtfertigen. Beispielweise spricht man sich in Heft 7/2020 in einem Beitrag für eine Rassenlehre aus. In der Gesamtschau zielt die Zeitschrift darauf ab, die freiheitliche Demokratie zu delegitimieren. 136 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Arcadi Magazin Im Sommer 2016 gründete sich in Leverkusen der Verein Publicatio e.V., der sich zur Aufgabe machte, das Onlinemagazin Arcadi herauszubringen. Seit 2017 erscheint auch eine Printausgabe: Das Arcadi-Magazin. In den vergangenen Jahren wurden jeweils vier Hefte pro Jahr herausgebracht. 2020 waren es aber nur zwei Hefte, wobei das zweite Heft als Doppelausgabe erschien. Formell ist der Herausgeber seit 2020 die in Dresden ansässige Arcadi Media UG. Allerdings zählen die beiden leitenden Redakteure, die für die jeweiligen Hefte verantwortlich zeichnen, zu den Gründern des Leverkusener Vereins Publicatio e.V.. Unterstützt wird das Magazin von Ein Prozent, einem Verein, der er sich zur Aufgabe gemacht hat, Projekte der Neuen Rechten zu fördern. Das Magazin stellte sich in den vergangenen Jahren vor allem als Magazin für das Umfeld der Identitären Bewegung dar. Dieser Linie blieb das Blatt auch im Jahr 2020 treu. In Ausgabe zwei und drei bekam der ehemalige Regionalleiter der IBD in Nordrhein-Westfalen, Kai Alexander Naggert, in einem Interview Gelegenheit, von seinen Ambitionen als Rechtsrapper unter dem Namen Prototyp zu erzählen. Ebenfalls wird in dem Heft ein Interview mit einem IB-Aktivisten geführt, der einen politischen Roman veröffentlicht hat. Über ein im Wesentlichen durch die Identitäre Bewegung verbreitetes Computerspiel schreibt ein anonymer Autor: "Einmal in [...] Deutschlands versifften Vierteln und No-Go-Areas mit der Axt aufzuräumen, Zecken wegzulasern, oder überhaupt mal mit dem Controller aufrechte, deutsche Helden zu steuern.". Darüber hinaus verbreitet die Publikation die Ideologie der rechtsextremistischen Strömung der Neuen Rechten. In einem Beitrag auf Arcadi-Online vom 23. Oktober 2020 stellte ein Autor die vermeintlich "reichhaltige Gedankenwelt der Neuen Rechten" heraus. Abgesehen von der Zeitschrift vertreibt der Arcadi-Verlag rechtsextremistische Musik, wie die von Prototyp, oder einschlägige Bücher wie das 2020 erschienene Buch "Der Aufstieg der Neuen Rechten" von Alexander Markovics, dem ehemalige Obmann der Identitären Bewegung Österreichs. rechtsextremIsmus 137 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Rechtsterrorismus Im Jahr 2020 blieb die Bekämpfung des Rechtsterrorismus eine zentrale Aufgabe der Sicherheitsbehörden. Beim Rechtsterrorismus handelt es sich im strafrechtlichen Sinne um schwerwiegende rechtsextremistisch motivierte Gewaltdelikte, die im Rahmen eines nachhaltig geführten Kampfes durch arbeitsteilig organisierte und verdeckt operierende Gruppen planmäßig begangen werden. Auch wenn es sich bei Taten von allein agierenden Tätern nach der strafrechtliche Definition nicht um Terrorismus handelt, werden diese hier in den Blick genommen. Denn diese Taten zielen wie Terrorismus darauf, Teile der Bevölkerung oder das demokratische Gemeinwesen in Gänze zu bedrohen. Mordanschläge und schwere staatsgefährdende Straftaten Zur Verbreitung ihrer Ideologie nutzten insbesondere Rechtsextremisten die Diskussion über den Flüchtlingszuzug seit dem Jahr 2015. In diesem Zuge hat sich ein Teil der Szene radikalisiert, was sich auch in schweren Gewalttaten niederschlägt. Einen der schwersten Anschläge seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland verübte Tobias R. am 19. Februar 2020 in Hanau, als er neun Menschen tötete und mindestens sechs weitere verletzte. Der Täter suchte unter anderem zwei Shisha-Bars und einen Kiosk auf, welche vor allem von Menschen mit Migrationsgeschichte besucht wurden. Als die Polizei seine Wohnung stürmte, fand sie den Täter und dessen Mutter tot auf. Mutmaßlich tötete R. zuerst seine Mutter und dann sich selbst. Kurz vor dem Anschlag veröffentlichte er auf seiner persönlichen Webseite ein 24-seitiges Manifest. In diesem behauptete er in verschwörungsideologischer Manier, sein Leben lang von einem Geheimdienst verfolgt worden zu sein. Neben diesen Wahnvorstellungen offenbarte er ebenso eine radikale Islamfeindlichkeit, die in Vernichtungsphantasien ganzer islamisch geprägter Staaten gipfelte. Muslime waren in seiner Sicht "unwertes Leben". Die Menschenverachtung, die gepaart war mit einem völkischen Nationalismus, zeigt sich unter anderem am Ende seines Manifestes: "Menschen kommen und gehen. Das was bleibt ist das Volk!" Das Papier dokumentiert, dass die Grenzen zwischen politischer Radikalisierung und psychischer Auffälligkeit fließend sein können. Nach bisherigen Ermittlungen handelte der Täter alleine. 138 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 In einem anderen Fall konnten die Sicherheitsbehörden eine mutmaßliche Täterin in Bayern ergreifen, bevor sie ihre Anschlagspläne realisieren konnte. Susanne G. bereitete ab spätestens Ende Mai 2020 einen Brandanschlag auf Amtsträger oder Muslime vor. Sie beschaffte sich Material zum Bau von Brandsätzen und spähte mögliche Anschlagsopfer aus. Bereits seit Anfang Dezember 2019 hatte sie anonyme Briefe an Mandatsträger, einen muslimischen Verein sowie einen Verein zur Flüchtlingshilfe in Franken geschickt, in denen sie einen Anschlag ankündigte. Die Bundesanwaltschaft erhob vor diesem Hintergrund am 19. Januar 2021 vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München Anklage unter anderem wegen des Vorwurfs der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main sprach am 28. Januar 2021 den Rechtsextremisten Stephan Ernst des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke schuldig und verurteilte ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Ernst hatte mit dem Kasseler Rechtsextremisten Markus H. am 14. Oktober 2015 eine Bürgerversammlung in Lohfelden bei Kassel besucht, in der über die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft informiert und diskutiert wurde. Dort trat Dr. Lübcke als Redner auf, erinnerte an die historische Verantwortung der Bundesrepublik und rechtfertigte die Unterbringung von Schutzsuchenden. Seit der Bürgerversammlung projizierte Ernst seinen Fremdenhass zunehmend auf Dr. Lübcke, den er wegen seiner Haltung zu Flüchtlingen als "Volksverräter" angesehen habe. Am Abend des 1. Juni 2019 schlich sich der Täter auf die Terrasse des Wohnhauses des Regierungspräsidenten und tötete diesen aus kurzer Distanz durch einen gezielten Schuss in den Kopf. Der Mitangeklagte Markus H. wurde vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen, allerdings wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt ist. Die Urteile sind zum Redaktionsschluss dieses Berichts noch nicht rechtskräftig. Ebenfalls ermittelt der Generalbundesanwalt gegen einen weiteren Beschuldigten. Elmar J. aus Ostwestfalen steht im Verdacht, Stephan Ernst die Tatwaffe verkauft zu haben, wobei es bislang keine belastbaren Hinweise darauf gibt, dass Elmar J. in die Anschlagspläne eingeweiht war. Der Kontakt zwischen den beiden soll wiederum durch Markus H. hergestellt worden sein. Neben Migranten, Muslimen und Amtsträgern sind weiterhin Jüdinnen und Juden ein Feindbild von gewaltbereiten Rechtsextremisten. So verübte Stephan B. am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf eine Synagoge in Halle. Dazu wählte er bewusst den höchsrechtsextremIsmus 139 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 ten jüdischen Feiertag Jom Kippur, an dem sich 51 Personen vor Ort zum Gebet versammelt hatten. Er versuchte sich Zutritt zur Synagoge zu verschaffen, um möglichst viele Mitglieder der Gemeinde zu töten. Als dem Täter dies nicht gelang, erschoss er eine zufällig vorbeikommende Passantin und entschied sich, über den misslungenen Anschlag frustriert, die Synagoge zu verlassen und Menschen mit Migrationshintergrund zu töten. Dazu suchte er einen Döner-Imbiss als zweiten Anschlagsort aus und erschoss einen Kunden. Stephan B. filmte das vollständige Tatgeschehen mit einer kompakten Kamera und verbreitete die Aufnahmen auf direktem Wege mittels eines Live-Streams im Internet. Das Oberlandesgericht Naumburg verurteilte den Täter am 21. Dezember 2020 wegen zweifachen Mordes, vielfachen Mordversuches sowie weiterer Delikte zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Es stellte dabei die besondere Schwere der Schuld fest. Das Urteil ist rechtskräftig. Während des Prozesses bekräftigte B. seine rechtsextremistische Gesinnung, insbesondere seinen Antisemitismus. Bemerkenswert ist, dass der Täter sich anscheinend ausschließlich über das Internet radikalisierte. Stephan B. wurde am 21. Dezember 2020 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt 140 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Terrorismus Die Sicherheitsbehörden orientieren sich bei der Verwendung des Begriffs Terrorismus am Straftatbestand der Bildung einer terroristischen Vereinigung (SS 129a Strafgesetzbuch). Demnach handelt es sich bei Rechtsterrorismus um schwerwiegende rechtsextremistisch motivierte Gewaltdelikte, die im Rahmen einer Strategie durch arbeitsteilig organisierte und verdeckt operierende Gruppen planmäßig begangen werden. Der Generalbundesanwalt ließ am 14. Februar 2020 unter Federführung des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg bei 13 Beschuldigten der sogenannten Gruppe S. Durchsuchungen vornehmen, in deren Verlauf zwölf Personen festgenommen wurden. Vier Beschuldigte stammen aus Nordrhein-Westfalen. Einer von diesen beging während der Untersuchungshaft Suizid. Am 4. November 2020 erhob der Generalbundesanwalt vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart Anklage gegen zwölf Personen. Acht davon wird die Gründung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, drei die Beteiligung und einem die Unterstützung daran. Die Gruppe wollte durch Angriffe auf Moscheen und die Tötung oder Verletzung einer möglichst großen Anzahl dort anwesender muslimischer Gläubiger bürgerkriegsähnliche Zustände herbeiführen. Es wurde auch erwogen, gewaltsam gegen politisch Andersdenkende vorzugehen. Die Gruppe fand zuerst virtuell im Internet zusammen. Erst nach einer Radikalisierungsphase traf man sich in der Realwelt und konkretisierte die Planung von Anschlägen. Bereits wenige Tage nach einem Treffen bei einem der Gründungsmitglieder der Gruppe in Minden, Nordrhein-Westfalen, bei der mutmaßlich die Tatplanungen konkretisiert wurden, erfolgten die Exekutivmaßnahmen der Sicherheitsbehörden. Einige Beschuldigte weisen Kontakte zu rechtsextremistischen bürgerwehrähnlichen Gruppierungen auf oder sind Mitglieder davon. Drei der Beschuldigten aus Nordrhein-Westfalen sind sogenannte Reichsbürger, zum Teil mit einer rechtsextremistisch geprägten Biographie. Das zeigt, dass sich Teile der rechtsextremistischen Szene und der Reichsbürgerszene gleichsam im Widerstand sehen und deshalb schwere Gewalttaten als notwendig und gerechtfertigt erachten. Ebenso teilen etliche Reichsbürger die wichtigsten rechtsextremistischen Feindbilder: Muslime, Juden, Flüchtlinge und Politiker. Ob noch weitere Personen zum Kreis der Beschuldigten hinzukommen, ist Gegenstand der weiter laufenden Ermittlungen. Auch in anderen Verfahren zu Rechtsterrorismus kamen im Laufe der Ermittlungen weitere Personen zum Kreis der Beschuldigten hinzu. Im Zusammenhang mit der rechtsterroristischen Gruppe Freital verurteilte das Oberlandesgericht Dresden am 4. Februar 2021 in einem zweiten Strafverfahren drei Angeklagte wegen Mitgliedschaft und einen Angeklagten wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Das Urteil ist zum Redaktionsschluss dieses Berichts noch nicht rechtskräftig. Bereits rechtsextremIsmus 141 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 in einem ersten Verfahren gegen die Rädelsführer und andere Mitglieder der Gruppe Freital hatte das Oberlandesgericht mit Urteil vom 7. März 2018 acht Hauptverantwortliche der terroristischen Vereinigung jeweils zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. In einem weiteren Rechtsterrorismusprozess des Oberlandesgerichtes Dresden wurde am 24. März 2020 das Urteil im Strafverfahren gegen die Gruppe Chemnitz verkündet. Der Staatsschutzsenat verurteilte die acht Angeklagten wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an beziehungsweise Gründung von einer terroristischen Vereinigung zu Freiheitsstrafen zwischen zwei Jahren und drei Monaten sowie fünf Jahren und sechs Monaten. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die acht Männer aus dem Raum Chemnitz sich Anfang September 2018 mit dem Ziel zusammengeschlossen hatten, Schusswaffen zu beschaffen, um unter Inkaufnahme der Tötung von Menschen einen Umsturz der demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland in Gang zu setzen. Die Mitglieder stammten aus der rechtsextremistischen und der Hooligan-Szene. Ein Teil der Gruppierung wurde zudem wegen Landfriedensbruchs verurteilt. Sie hatten am 14. September 2018 im Chemnitz gemeinsam mit anderen gewaltbereiten Personen aus der rechtsextremistischen Szene einen sogenannten Probelauf durchgeführt. Um ihre Handlungsfähigkeit zu testen, wollten sie gewalttätig gegen eine Gruppe von Jugendlichen und gegen eine Gruppe von Migranten vorgehen. Der Angriff wurde nur durch eine schnelle Reaktion der dort anwesenden Polizeikräfte gestoppt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die begangenen oder geplanten schweren Straftaten weisen auf die Gefahr rechtsterroristischer Potenziale hin, die insbesondere im Kontext der flüchtlingsfeindlichen Agitation zu Tage treten. Dabei hat sich die Bandbreite der Tätertypen vergrößert. Rechtsterroristische Ansätze lassen sich immer weniger einem bestimmten rechtsextremistischen Akteur oder einer Szene zuordnen. Ein Teil der identifizierten Tatverdächtigen ist zuvor kaum oder überhaupt nicht durch rechtsextremistische Aktivitäten und Straftaten aufgefallen. Fremdenfeindlichkeit bleibt zwar für schwere Straftaten bis hin zu Rechtsterrorismus das wichtigste Tatmotiv, allerdings verfügen die Täter eher selten über ein gefestigtes umfassendes rechtsextremistisches Weltbild. Stattdessen dominieren diffuse Feindbilder, die die Täter mithilfe von rechtsextremistischen Onlinediskursen individuell entwickeln und dabei verschiedene Diskursstränge kombinieren. 142 rechtsextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Wie die Gruppe S. zeigt, ist nicht auszuschließen, dass sich auch in Nordrhein-Westfalen rechtsterroristische Gruppen bilden. Diesbezüglich bleibt der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen besonders wachsam und arbeitet eng mit anderen Sicherheitsbehörden zusammen. Mitglieder der Gruppe S. beim Prozessauftakt in Stuttgart rechtsextremIsmus 143 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 144 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Linksextremismus lInksextremIsmus 145 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zusammenfassung Der Linksextremismus war im Berichtszeitraum 2020 durch die folgenden Entwicklungen geprägt: Autonome Auch im Berichtszeitraum 2020 waren die Autonomen die maßgeblich öffentlich wahrnehmbaren Akteure des linksextremistischen Spektrums in Nordrhein-Westfalen. Schwerpunkte der Aktivitäten der Autonomen waren wie in den Vorjahren Antifaschismus, Antirepression und der Kampf um sogenannte "Freiräume" sowie das Themenfeld Klimaschutz/Ökologie. Der Antikapitalismus wurde vielfach mit der Corona-Pandemie assoziiert, um die Pandemie als angeblichen Beleg für die vermeintliche Krisenhaftigkeit des Kapitalismus zu instrumentalisieren. Bundesweite Aufmerksamkeit erlangte in dem Zusammenhang etwa das massive Auftreten von COVID-19-Infektionen bei Mitarbeitenden eines fleischverarbeitenden Betriebes in Ostwestfalen. Unter dem Titel "Shut down Schweinesystem!" wandten sich unterschiedliche Akteure gegen die angeblich dem Kapitalismus geschuldeten Arbeitsbedingungen von Leiharbeitenden, die solche Masseninfektionen erst möglich machten. Im Themenfeld Antifaschismus standen im Jahr des Kommunalwahlkampfes insbesondere Aktionen gegen die AfD im Fokus. Neben Protestaktionen gegen Wahlkampfveranstaltungen der AfD war auch deren Bundesparteitag am 28. November 2020 in Kalkar Anlass zu Gegenkundgebungen unter Beteiligung des autonomen Spektrums. Daneben kam es wiederum zu sogenannten Outingaktionen, bei denen die Wohnanschriften und sonstige persönliche Details von vermeintlichen und tatsächlichen Angehörigen des rechten Spektrums vornehmlich durch Angehörige des autonomen Spektrums auf verschiedenen Wegen veröffentlicht wurden. Jenseits von Sachbeschädigungen und im Zuge von Demonstrationen "gegen Rechts" begangenen Körperverletzungsdelikten wurden auch Personen in ihrem privaten Umfeld angegriffen. 146 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Diese Veränderung linksextremistischer Gewalt fügt sich in das Gesamtbild zunehmender Radikalisierungstendenzen im gewaltorientierten Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland ein. Einer Analyse des Bundesamtes für Verfassungsschutz zufolge können diese Tendenzen unter Umständen den Nährboden für die Herausbildung linksterroristischer Strukturen bieten. Gegenwärtig sind die Bedingungen für die Herausbildung terroristischer Strukturen in NRW nicht erfüllt. Langfristig könnten sich aber vereinzelte Akteure, sofern sie den Eindruck gewinnen, dass die Strategie der Entgrenzung nicht verfängt, genötigt sehen, radikalere Mittel in Erwägung zu ziehen. Im rheinischen Braunkohlerevier verbanden sich auch im Jahr 2020 Aktionen im Themenfeld Klimaschutz/Ökologie mit dem Kampf um autonome Freiräume. Während die Besetzerszene im Hambacher Forst weiterhin den - mittlerweile nicht mehr rodungsbedrohten - Wald am Tagebaurand Hambach mit dem Argument des Klimaund Umweltschutzes für sich in Anspruch nimmt, etablierte sich im Keyenberger Wald am Tagebau Garzweiler eine weitere Besetzung. Dogmatischer Linksextremismus An den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen nahm die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) unter eigenem Namen teil und erzielte in Bottrop zwei und in Bochum ein Ratsmandat. Wie bereits in der Vergangenheit traten Mitglieder der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) auch bei den diesjährigen Kommunalwahlen als Angehörige von Wahlbündnissen mit dem Namen "alternativ, unabhängig, fortschrittlich" (AUF) an. Im Vorfeld der Wahl hatten verschiedene dieser Bündnisse und die MLPD versucht, die Darstellung ihrer engen Verflechtungen miteinander in den Verfassungsschutzberichten des Landes Nordrhein-Westfalen gerichtlich untersagen zu lassen. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf lehnte die entsprechenden Eilanträge als unbegründet ab. COVID-19 Die Pandemie hat im Berichtszeitraum insgesamt starken Einfluss auf das Aktionsund Versammlungsgeschehen im Linksextremismus genommen. Einige Versammlungen fanden nicht oder mit geringeren Teilnehmerzahlen statt, andere Aktionen wurden in den virtuellen Raum verlegt. lInksextremIsmus 147 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Anders als Akteure des rechtsextremistischen Spektrums blieben sogenannte Corona-Leugner und Verschwörungserzähler im linksextremistischen Spektrum isolierte Ausnahmeerscheinungen. Weder wurden die Existenz des Virus oder die Pandemiesituation grundsätzlich infrage gestellt, noch gab es nennenswerte Versuche, das Virus als von staatlichen Stellen initiierte Rechtfertigung für Überwachungsmaßnahmen etc. zu deklarieren. Die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen wurde vielmehr überwiegend anerkannt. Eine Instrumentalisierung der Pandemie durch Linksextremisten erfolgte demgegenüber durch die bereits beschriebene Zuweisung der Verantwortung für die Ausbreitung des Virus an den Kapitalismus und den diesen stützenden Staat. So sei auch der Mangel an geeigneten Medikamenten und Impfstoffen auf eine rein profitorientierte Forschung zurückzuführen, die mangels Absatzmärkten keine vorsorgende Forschung betreibe. Mit zunehmender Dauer der einschränkenden Maßnahmen war und ist jedoch eine Abnahme der Akzeptanz gegenüber staatlichen Maßnahmen zu beobachten. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y 148 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 lInksextremIsmus 149 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Im Fokus: Entgrenzungsversuche im Antirassismus und Ansätze linksextremistischer Radikalisierung Für den Berichtszeitraum sind im Linksextremismus die Versuche hervorzuheben, über die Themenfelder Antirassismus und Antirepression Anschluss an nicht extremistische Teile der Gesellschaft herzustellen. Eine Radikalisierung der linksextremistischen Szene, wie sie in einigen anderen Bundesländern festgestellt wird, ist auch in NRW erkennbar, allerdings nicht flächendeckend. Anschluss an den Antirassismus-Diskurs Antirassismus und Antirepression, gemeint ist der Kampf gegen rassistisch begründete Verhältnisse der Ungleichheit und staatliche Unterdrückung, sind klassische Themenfelder im Linksextremismus. Augenfällig ist eine erhöhte Aktivität in diesen Bereichen: Verzeichnete der Verfassungsschutz NRW im Jahr 2019 noch rund 40 öffentliche Veranstaltungen zum Thema Antirassismus, waren es im Jahr 2020 mehr als doppelt so viele. Das Wachstum betrifft gleichermaßen Veranstaltungen, die sich mit der Polizei als vermeintlichem Unterdrückungsorgan auseinandersetzten. Hier waren im Berichtsjahr 22 Veranstaltungen gegenüber lediglich zwei in 2019 festzustellen. Insgesamt fanden im Berichtszeitraum 54 Veranstaltungen mit einer engen Verzahnung von Antirassismus und Antirepression statt. Treiber dieser Entwicklung waren die in den Vereinigten Staaten von Amerika einsetzenden, sich aber bald weltweit ausweitenden Proteste gegen rassistische Polizeigewalt anlässlich des Todes des amerikanischen Staatsbürgers George Floyd im Zusammenhang mit einem Polizeieinsatz am 25. Mai 2020 in Minneapolis/USA. Auch in NRW wurde eine Vielzahl von ebensolchen Protestveranstaltungen unter dem Schlagwort "Black Lives Matter" abgehalten. Die Spitze markierte der Monat Juni, als in mehreren Städten viele Tausend Menschen zusammenfanden, in Düsseldorf sogar bis zu 21.000. An den von zivildemokratischen Initiatoren getragenen Veranstaltungen nahmen vereinzelt auch Linksextremisten teil und bemühten sich bei der Mobilisierung in den sozialen Netzwerken darum, die Unterschiede zwischen den Ländern einzuebnen: Obwohl - so die Verlautbarungen der Szene - die Ausgangsbedingungen zu den Vereinigten Staaten verschieden seien, gebe es auch in Deutschland Tötungen und Diskriminierung seitens einer rassistisch motivierten Polizei. 150 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Aufruf zu einer Protestveranstaltung auf der Plattform Twitter Feindbild Polizei Stellte die linksextremistische Agitation zu Jahresbeginn anlässlich der rechtsterroristischen Anschläge im hessischen Hanau noch auf einen Rassismus ab, der in der gesamten deutschen Gesellschaft verankert sei, wurde dieser nach dem Tod George Floyds in dem Feindbild Polizist verdichtet. Damit wurde die Gesamtgesellschaft diskursiv entlastet und so die Anschlussfähigkeit linksextremistischer Positionen für den öffentlichen Diskurs erhöht. Anlass zur Aktualisierung und Ausschärfung dieser Stoßrichtung boten das parallele Aufkommen von immer neuen Meldungen über Chatgruppen mit rechtsextremistischen Inhalten innerhalb der nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden lInksextremIsmus 151 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 und dem Auftauchen von emotionalisierenden Videos über polizeiliche Festnahmen von Personen mit Migrationshintergrund. Die Clips über Polizeieinsätze in Düsseldorf, Essen, Bielefeld, Herne und Krefeld wurden in den sozialen Medien zum Teil hunderttausendfach angesehen und zeigen verschiedene Bilder, bei denen auch polizeiliche Zwangsmaßnahmen eingesetzt werden mussten. Die Ausschnitte markierten ein klares Hierarchieund Gewaltgefälle und legten daher den Schluss nahe, dass die Intensität der vermeintlich willkürlich einsetzenden polizeilichen Maßnahmen nur auf einen Missbrauch des staatlichen Gewaltmonopols seitens der handelnden Polizisten zurückzuführen sei. Diese Lesart nutzten linksextremistische Gruppierungen im Sinne ihrer Themenfelder, indem sie Hashtags wie #Polizeigewalt oder #Polizeiproblem zu der beginnenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Rassismus mit einem entsprechenden Narrativ unterfütterten. In den Online-Kommentaren oder Aufrufen für an "Black Lives Matter" angelehnte Kundgebungen wurden Polizistinnen und Polizisten gezielt diffamiert: Die Polizei ziehe "die autoritären, die rassistischen, sexistischen und sonst wie menschenverachtenden" Persönlichkeiten an, die im Amt legal Macht ausüben und sogar Menschen töten dürften. Sie seien nichts anderes als "Mörderpack" und "Nazis in Uniform", die insgeheim an dem Umsturz des Staatswesens arbeiteten und jede Form von sozialem Miteinander beargwöhnten - besonders aber würden sie Migranten in ihr Fadenkreuz nehmen: Schon mehrfach hätte die Polizei Personen wegen ihrer zugeschriebenen Herkunft erschossen. Nicht-deutsch aussehende Personen würden im Sinne eines Racial Profiling prinzipiell als Gefahr eingestuft und daher willkürlich kontrolliert und erniedrigt, die Staatsbürgerund Menschenrechte würden ihnen abgesprochen. Wie in den Videos zu sehen sei oder berichtet würde, schrecke die Polizei nicht davor zurück, wegen Nichtigkeiten lebensbedrohlich gegen Betroffene vorzugehen oder Familienfeiern zu stürmen, bei denen sie Schwangere, Kinder und gebrechliche Personen körperlich angehe und mit Pfefferspray attackiere. Im Nachgang würden die Betroffenen kriminalisiert, um sie zum Schweigen zu bringen. Dabei stütze sich die Polizei zunehmend auch auf Onlinepropaganda, die Falschinformationen verbreite und bestehende Ressentiments gegen Personen mit Migrationshintergrund weiter verschärfe. In diesem Zusammenhang formulieren einige linksextremistische Gruppen explizit: "Es ist die Polizei, die unter Generalverdacht gestellt werden muss". Machtmissbrauch und struktureller Diskriminierung durch Polizeibeamte seien kaum Grenzen gesetzt, weswegen sie - und nicht etwa Kriminelle - die wirkliche Gefahr für die Gesellschaft 152 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 darstellten. Aus der Sicht von Linksextremisten gehöre daher die Institution Polizei als Ganzes abgeschafft. Linksextremistische Entgrenzung des Antirassismus Die Kontrolle exekutiver, hoheitlicher Gewalt ist für eine offene Gesellschaft von zentraler Bedeutung, da gerade ihre Rechtsbindung den Unterschied zwischen einem Rechtsund einem Unrechtsstaat markiert. Der freie Diskurs in einer pluralistischen Gesellschaft und die Aufarbeitung von Rassismus sind dazu unerlässlich. Die linksextremistische Agitation geht aber über diffamierend pauschale Darstellungen und radikale, letztlich noch diskursfähige Überlegungen zu alternativen Konzepten innerer Sicherheit hinaus: Sie zielt auf die Delegitimierung und die Überwindung des Staates. Den Hintergrund bildet, wie im Linksextremismus üblich, eine antikapitalistische Lesart gesellschaftlicher Konflikte und des gesamten Staatswesens. In diesem Sinne könne das politische System nur die Interessen des Kapitals widerspiegeln, das sich wiederum seit Jahrhunderten des Rassismus bediene, um das Eigentum einiger Weniger gegen die Vielen zu verteidigen. Dies zeige sich historisch in der Ausbeutung und Versklavung afrikanischer Gesellschaften, heute dagegen in der Plünderung von Rohstoffen sowie der europäischen Grenzsicherung bei gleichzeitigem Waffenexport. Innerhalb des Staates nutze die Politik den Rassismus, um Ungleichheitsverhältnisse zu begründen und durchzusetzen, indem sie die Gesellschaft in Migranten und Deutsche spalte. Im linksextremistischen Verständnis kommt der Polizei dabei die Rolle zu, diese illegitime Ordnung zu verteidigen, weshalb sie als Institution auch abstrakt niemals auf der richtigen Seite stehen könne. Zwischen dem Rassismus von Politik und Polizei bestehe vor diesem Hintergrund nur ein gradueller Unterschied: Riefen die einen bereits offen nach einem Führer, predigten die anderen aus Rücksicht auf das internationale Ansehen der Republik den Rassismus nur verdeckt und echauffierten sich halbherzig über ihre "rassistischen Prügelknaben" in der Polizei. In dieser eindimensionalen Weltsicht handelten Staat und Politik zwangsläufig rassistisch und seien nicht zu reformieren. Die linksextremistische Entgrenzung läuft damit darauf hinaus, dass Rassismus nur mit der gleichzeitigen Überwindung der Institutionen Polizei, Staat und Kapitalismus wirklich aufgehoben werden könne. Linksextremisten versuchen, mit den hier beschriebenen Themenfeldern Anschluss an nicht-extremistische Teile der Gesellschaft herzustellen. Diese Entgrenzungsstrategie lInksextremIsmus 153 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 zielt erstens darauf, Linksextremisten zu gewalttätigen Aktionen zu veranlassen, um dem von Ihnen so betitelten mörderischen Klima in Polizei und Staat entgegenzutreten: "Antirassismus bleibt Handarbeit". Dabei wird Gewalt als legitimer Widerstand gegen die Verhältnisse gerechtfertigt. Zweitens soll weiteres Personenpotenzial in das linksextremistische Aufbegehren gegen den Staat eingebunden werden. Personen, die für die Black Lives Matter-Bewegung empfänglich sind, Bürger mit Migrationshintergrund und Jugendliche, die mit der Polizei in Konflikt geraten, stehen dabei besonders im Fokus der Linksextremisten. Letzteres zeigt sich beispielsweise an der Vereinnahmung von Gewaltausbrüchen gegen die Polizei: Jede Widerstandshandlung gegen Einsatzkräfte wird als ein politischer Protest gegen die Verhältnisse umgedeutet. So führen Autoren auf einer nordrhein-westfälischen Szeneplattform beispielsweise das Konfliktgeschehen in Stuttgart vom 20. Juni 2020, in dem sich mehrere hundert Jugendliche eine Auseinandersetzung mit der Polizei lieferten, auf ein "vorpolitisches Bewusstsein" zurück, in dem sich die Erkenntnis Bahn gebrochen habe, dass die Polizei "nicht ihr Freund und Helfer" sei. In diesem Sinne verstehen Linksextremisten die Black Lives Matter-Bewegung als "praktischen Bullenhass und antikoloniale Power", die es weiter zu schärfen gelte. Deshalb wurden im Nachgang zu dem erwähnten Polizeieinsatz in Bielefeld Plakate am Ort des Geschehens montiert, die unter der Überschrift "Rassismus hat viele Gesichter" Abbildungen der an der Festnahme beteiligten Polizisten zeigen. Drittens streben Linksextremisten damit an, das polizeiliche Handeln durch ein Klima öffentlichen Misstrauens zu behindern, Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu nehmen und Personen aus dem demokratischen Teil der Gesellschaft schrittweise zu radikalisieren. Hierzu bemüht sich die Szene darum, die Erzählung einer generell unverhältnismäßigen Polizeiarbeit fortzuschreiben und mit einschlägigen Videos und Fotos zu unterlegen. Während die Entgrenzungsbemühungen im Linksextremismus in anderen Themenfeldern, zum Beispiel den Klimaprotesten im rheinischen Braunkohlerevier, teils erhebliche Wirkungen entfalten, blieben sie im Antirassismusund Antirepressionskontext bislang dahinter zurück: Weder kam es in Deutschland zu vergleichbaren Konfliktgeschehen wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, noch konnte eine Übernahme linksextremistischer Argumentationsmuster im öffentlichen Diskurs oder bei zivildemokratischen Institutionen und Kampagnen wie "Black Lives Matter", festgestellt werden. Ein nennenswerter Zulauf in linksextremistische Gruppen war ebenfalls nicht zu beobachten. 154 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Aufgreifen im linksextremistisch beeinflussten Teil der Klimabewegung Erzählungen und Methoden der Entgrenzung fanden ebenfalls Nachhall in dem linksextremistisch beeinflussten Teil der Klimabewegung. Ob bei der sogenannten Massenaktion des linksextremistisch beeinflussten Bündnisses Ende Gelände im rheinischen Braunkohlerevier, den Protesten gegen das in Betrieb genommene Kohlekraftwerk Datteln IV oder Aktionen anlässlich der geplanten Umsiedlung der Dörfer Lützerath und Keyenberg - immer wieder versuchten die dortigen Akteure, die Einsatzkräfte der Polizei in Situationen zu bringen, die polizeiliches Handeln in Fotos und Videos als unverhältnismäßig, illegitim und repressiv darstellen. Dazu wurde von Seiten der Protestteilnehmer und Twitter-Tweet zur "Ende Gelände"-Aktion im Herbst 2020 des Unterstützerumfelds in den sozialen Medien ein Gegensatz zwischen den vermeintlich friedlichen Demonstranten und der Polizei aufgebaut: Während die Demonstranten sich für eine bessere Welt einsetzen würden, verkaufe die Polizei um der profanen Ziele willen - "ein Eigenheim auf Kredit, einen unbedeutenden Dienstrang und einen Knüppel" - ihre Seele an Energiekonzerne und Politik. Generell sei der Polizei nichts mehr heilig: Sie räume brutal Gottesdienste und übe mit Pfefferspray, Mehrzweckstock und Hunden "politischen Terror gegen Kinder, Jugendliche und andere Aktivisten" aus. Innerhalb von Ende Gelände wurden im Zuge der sogenannten Massenaktion auch Versatzstücke des linksextremistischen Antirassismus thematisiert. So veröffentlichten Teilnehmer der Aktion auf Twitter, dass die Klimakrise rassistisch sei, weil sich die Konzerne im globalen Süden bereichern würden. Klimagerechtigkeit und Antirassismus gehörten zusammen. Dazu passt, dass sich eine Gruppe der autonomen Antifa bei der Mobilisierung dafür aussprach, alle Kämpfe gegen den Kapitalismus miteinander zu verbinden, um Druck auf das System auszuüben. lInksextremIsmus 155 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Der antirassistische Themenfokus wurde innerhalb der Aktion insbesondere durch den sogenannten "antikolonialen Finger" bedient. Aufgrund dieser Ausrichtung, so legen linksextremistische Aktivisten nahe, sei die Polizei gegen diese Kleingruppe und die sich in ihr engagierenden Personen ohne weiße Hautfarbe mit besonderer Gewalt vorgegangen. Zunehmende Radikalisierung im Linksextremismus Neben immer neuen Strategien der Entgrenzung ist im Linksextremismus seit dem letzten Jahr eine zunehmende Radikalisierung bemerkbar. Ausgangspunkt dazu waren Veränderungen bei der Gewaltausübung, die nicht nur in NRW, sondern im gesamten Bundesgebiet beobachtet wurden. Diese Tendenz hat sich im Berichtszeitraum trotz der COVID-19-Pandemie fortgesetzt. In der statistischen Quantität der politisch motivierten Straftaten ist dieser Wandel kaum zu erfassen. Es gibt eine Veränderung der Deliktqualität, die über eine zahlenmäßige Verschiebung der Kategorien politisch motivierte Straftaten, politisch motivierte Gewaltkriminalität und Terrorismus hinausgeht. Um Radikalisierungstendenzen frühzeitig einzuschätzen, sind deshalb die Umstände einer Tat von besonderer Bedeutung. Insbesondere in Berlin, Sachsen und Hamburg sind vermehrt linksextremistische Gewaltstraftaten zu verzeichnen, die jenseits der Massenmilitanz von im Hintergrund agierenden Kleingruppen auf Grundlage einer professionellen Planung durchgeführt werden. Hierbei geraten zunehmend auch Einzelpersonen als Ziele in den Fokus, werden also auch Straftaten gegen Leib und Leben begangen. Intern stellen ein abnehmendes Hinterfragen von Gewaltanwendung, die Öffnung gegenüber gewaltorientiertem Personenpotenzial und die Abspaltung eines harten Szenekerns zusätzliche Antriebspunkte für eine weitere Radikalisierung dar. In NRW sind solche Tendenzen insbesondere bei den anarchistischen und autonomen Waldbesetzern im Hambacher Forst und vereinzelt in der autonomen Szene zu erkennen. 156 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Entgrenzung und Radikalisierung Im Linksextremismus zielt die Strategie der Entgrenzung darauf, über medienwirksame Themen ideologische Anliegen subtil zu vermitteln und über öffentlichen Druck auf das politische System einzuwirken. Auf diesem Weg sollen Teile der nicht-extremistischen Bevölkerung für gemeinsame Aktionen mobilisiert oder sogar in politisch motivierte Straftaten eingebunden werden. Dazu versuchen die Akteure die Bruchstellen des öffentlichen Diskurses zu besetzen, bestehende Konflikte zu verschärfen und gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu wenden. Gegenüber diesen Versuchen, nicht-extremistische Teile der Bevölkerung zu radikalisieren, bedeutet eine Radikalisierung der gesamten Szene, dass Linksextremisten ihre ideologischen Zielvorstellungen als unmittelbaren Handlungsauftrag begreifen: Da die Akteure die politische Situation als unzumutbar oder als vorrevolutionäre Phase erleben, fühlen sie sich zum Eingreifen und direkten Aktionen ermutigt. Dies offenbart sich in letzter Konsequenz als unmittelbare Aggression gegen Menschen, die vermeintlichen oder tatsächlichen politischen Gegner. Eine Vermittlung an die Öffentlichkeit, das Werben um Bündnispartner und gesellschaftlichen Einfluss, ist damit hinfällig. Gegenwärtig sind die Bedingungen für die Herausbildung terroristischer Strukturen in NRW nicht erfüllt. Langfristig könnten sich aber vereinzelte Akteure, sofern sie den Eindruck gewinnen, dass die Strategie der Entgrenzung nicht verfängt, genötigt sehen, radikalere Mittel in Erwägung zu ziehen. lInksextremIsmus 157 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zusammenschlüsse innerhalb der Partei DIE LINKE Sitz/Verbreitung Sitze in Berlin, Verbreitung deutschlandweit Gründung/Bestehen seit Kommunistische Plattform (KPF): 1989 Sozialistische Linke (SL): 2006 Antikapitalistische Linke (AKL): 2006 linksjugend ['solid]: 2007 Struktur/ Repräsentanz Kommunistische Plattform (KPF): Bundessprecherrat, Bundeskoordinierungsrat, Bundeskonferenz Sozialistische Linke (SL): BundessprecherInnenrat Antikapitalistische Linke (AKL): BundessprecherInnenrat, Länderrat der AKL, Mitgliederversammlung linksjugend ['solid]: Bundesverband, Landesverband, Basisgruppen, Hochschulgruppen (Die Linke/SDS) Mitglieder/Anhänger/ linksjugend ['solid]: Unterstützer 2020 NRW: 1.200 158 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Veröffentlichungen Kommunistische Plattform (KPF): Mitteilungen der Kommunistischen Plattform (monatlich) Sozialistische Linke (SL): "realistisch und radikal" (erscheint unregelmäßig) Antikapitalistische Linke (AKL): Bulletin "aufmüpfig konsequent links" (erscheint unregelmäßig) linksjugend ['solid]: regelmäßige Berichterstattung in der Tageszeitung junge Welt (jW), Web-Angebote und Auftritte in den sozialen Medien Kurzporträt/Ziele Die Kommunistische Plattform bekennt sich zur marxistisch-leninistischen Tradition der ehemaligen DDR und strebt den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft an. Die Sozialistische Linke will den gegenwärtigen, von ihr als "Kapitalismus" bezeichneten, demokratischen Verfassungsstaat durch einen "demokratischen und ökologischen Sozialismus" ersetzen. Sie versteht sich als gewerkschaftlich orientierte Gruppe und gibt ihr Ziel mit der Anknüpfung an "linkssozialistische, links-sozialdemokratische und reformkommunistische Traditionen" an. Die revolutionäre Position der Antikapitalistischen Linken ist unverändert: "Nicht den Kapitalismus reformieren, sondern ihn überkommen!", war das auf dem Bundestreffen 2020 erneut bekräftigte Ziel. Darüber hinaus bekennen sich Mitglieder der Antikapitalistischen Linken anhaltend offen zu ihrer gleichzeitigen Mitgliedschaft in kommunistischen Kleingruppen. lInksextremIsmus 159 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Der Landesverband der linksjugend ['solid] in NRW versteht sich laut dem Leitbeschluss ihrer Landesvollversammlung 2020 als "radikaler, sozialistischer und antikapitalistischer Jugendverband" im Kampf gegen das "neoliberale und prokapitalistische Parteienkartell". Eine an Reformen orientierte Politik explizit zurückweisend, sieht sich die linksjugend ['solid] NRW als Teil einer revolutionären Bewegung zur Überwindung des von ihnen so bezeichneten "kapitalistischen Systems". Finanzierung Mittel der Partei DIE LINKE und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Der Verfassungsschutz NRW beobachtet nicht die Partei DIE LINKE in ihrer Gesamtheit, sondern nur die linksextremistischen beziehungsweise die im Verdacht einer linksextremistischen Bestrebung stehenden Zusammenschlüsse innerhalb der Partei DIE LINKE. Dies sind die Antikapitalistische Linke (AKL), die Kommunistische Plattform (KPF), die Sozialistische Linke (SL) und die linksjugend ['solid]. Gemeinsam ist den genannten Zusammenschlüssen, dass das von ihnen so bezeichnete "kapitalistische System", womit faktisch die gegenwärtige Gesellschaftsordnung eines demokratischen Verfassungsstaates in der Bundesrepublik Deutschland gemeint ist, zugunsten einer sozialistischen Gesellschaftsordnung überwunden werden soll. Während die dogmatische Schärfe, mit der dieses Ziel verfolgt wird, in den einzelnen Zusammenschlüssen unterschiedlich stark ausgeprägt ist, ist das Ziel an sich mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Sie unterliegen deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Bedingt durch die Corona-Pandemie war im Jahr 2020 allgemein ein Rückgang von politischen Aktivitäten der Zusammenschlüsse in der Partei DIE LINKE in NRW zu verzeichnen. 160 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Kommunistische Plattform (KPF) In einem Beitrag einer Bundessprecherin in den Mitteilungen der KPF von April 2020 wurde erneut das verbindende Bekenntnis zu den historischen kommunistischen Staaten herausgestellt. Unter Anspielung auf Systeme wie das der UdSSR und der DDR heißt es: "Wir stehen kompromisslos für AntiDas Zitat verdeutlicht ferner, dass der faschismus und werden nicht müde, Begriff Antifaschismus für die KPF stetig den Zusammenhang von nicht nur mit dem Widerstand gegen Kapitalismus und Faschismus aufzuden Rechtsextremismus, sondern auch zeigen. In puncto Rassismus gibt es untrennbar mit dem Kampf gegen den für uns keine Kleinigkeiten. Und wir von ihr so bezeichneten "kapitalistiwerden niemals die Legitimität des schen Staat" verbunden ist. Auf Basis sozialistischen Versuchs des 20. Jahrdieses ideologischen Konstruktes wird hunderts infrage stellen und niemals der Bundesrepublik Deutschland von die Notwendigkeit eines Systemder KPF regelmäßig eine ideologische wechsels. Der Kapitalismus wird von Kontinuität zur nationalsozialistischen uns niemals als letzte Antwort der GeDiktatur vorgeworfen. schichte akzeptiert werden." Im Jahr 2020 wurde auch die Corona-Pandemie von der KPF in ihr Weltbild eingeordnet. So erklärte man, der "Deckmantel der Krise" werde benutzt, um "die von der Arbeiterklasse erkämpften Rechte dauerhaft außer Kraft zu setzen." Aus Verlautbarungen zum politischen Geschehen war im Berichtszeitraum erneut klar ersichtlich, dass die KPF sich weiterhin grundsätzlich gegen ein "Feindbild Westen" positioniert, darunter die Bundesrepublik Deutschland, die USA und die NATO. Sozialistische Linke (SL) Im Jahr 2020 waren in NRW nur wenige Aktivitäten der SL festzustellen. Aufgrund der Corona-Pandemie musste etwa die Sommerakademie, eine jährlich durchgeführte, ideologisch aufgeladene politische Schulungsveranstaltung der SL, abgesagt werden. Dessen ungeachtet vertrat die SL in ihren Publikationen wie in den Vorjahren einen radikalen Antikapitalismus und strebte strukturelle Veränderungen der bestehenden Gesellschaftsordnung an. Der Einfluss trotzkistischer Strukturen war nach wie vor zu konstatieren. lInksextremIsmus 161 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Antikapitalistische Linke (AKL) Entsprechend ihrer revolutionären Ausrichtung wandte sich die AKL im Berichtszeitraum gegen eine von ihr so bezeichnete überbordende parlamentarische Arbeit und forderte stattdessen mehr Stadtteil-, Betriebsund Bewegungsarbeit. Zu den Kommunalwahlen im Jahr 2020 in NRW hieß es: "Wir müssen immer wieder die Klassenfrage stellen in Verbindung mit dem dringend notwendigen sozialökologischen Umbau der Gesellschaft, der nur mit einer Änderung der Eigentumsverhältnisse zu haben ist." Mit Blick auf die feststellbaren Entgrenzungstendenzen im Linksextremismus ist bemerkenswert, dass der Länderrat der AKL im Jahr 2020 zur Solidarität mit dem linksextremistisch beeinflussten Bündnis Ende Gelände aufgerufen und erklärt hat, viele der eigenen Mitglieder seien bei Ende Gelände aktiv. Die Tendenz einer Entgrenzung zeigt sich auch in der personellen Verflechtung von Extremisten und Aktivisten. 162 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 linksjugend ['solid] Die linksjugend ['solid ] hat ihre revolutionäre, letztendlich die politische Willensbildung der parlamentarischen Demokratie zurückweisende Ausrichtung auch im Jahr 2020 wieder deutlich gemacht: "Sozialist*innen im Parlament haben unserer Ansicht nach explizit nicht die Aufgabe, sich nach den Regeln des Systems zu beteiligen" und "[b] esser das Gesetz brechen als Slogan der Jugendorganisation für die Kommunalwahlen 2020 in NRW den Armen das Rückgrat", heißt es in Beiträgen auf der Website des Landesverbandes zu den Kommunalwahlen in NRW 2020. Parlamentarische Arbeit ist für die linksjugend [' solid] somit lediglich ein strategisches Mittel im Kampf gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Im Kontext der Corona-Pandemie behauptete die linksjugend ['solid], dass Corona erst durch das "kapitalistische System" entstehen konnte, dass die finanziell Schwächsten am stärksten unter der Pandemie leiden und sich folglich die "Klassengegensätze" verschärfen würden. Den "Herrschenden" käme die Pandemie sehr gelegen, da sie darüber hinwegtäusche, dass die Wirtschaftskrise eine Folge kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten sei. Das revolutionäre Selbstverständnis des Verbandes beinhaltet auch ein offenes Bekenntnis zur Zusammenarbeit mit linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen wie der Roten Hilfe und der Interventionistischen Linken (IL). Zudem hat der Verband auch im Jahr 2020 an den Protesten des linksextremistisch beeinflussten Bündnisses Ende Gelände gegen den Braunkohletagebau im Rheinischen BraunDie linksjugend ['solid ] nutzt die Corona-Pandemie für eine grundsätzliche Kritik am "kapitalistischen System" lInksextremIsmus 163 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 kohlerevier teilgenommen. In den sozialen Medien wird nicht zuletzt offenkundig, dass zahlreiche führende Mitglieder parallel in extremistischen Gruppierungen, wie den trotzkistischen Kleingruppen Sozialistische Alternative (SAV) beziehungsweise deren Abspaltung Sozialistische Organisation Solidarität (SOL), organisiert sind. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Kommunistische Plattform Es ist davon auszugehen, dass die KPF ihre orthodox-kommunistische Ausrichtung beibehalten wird. Sozialistische Linke Es bleibt abzuwarten, wie sich die SL in Zukunft entwickelt. Die in ihren Publikationen ausgeführten politischen Mittel zielen auch auf Reform und schrittweise Transformation unter Beibehaltung oder sogar Ausweitung demokratischer Strukturen. Demgegenüber ist die Grundlage der SL weiter ein kommunistisches Weltbild mit der Zielsetzung, eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Antikapitalistische Linke Die AKL besetzt weiterhin zahlreiche für den Linksextremismus typische Themenfelder. Es ist daher davon auszugehen, dass sich dieses in den nächsten Jahren fortsetzt. linksjugend ['solid] Der Landesverband NRW der linksjugend ['solid] hat sich im Jahr 2020 deutlicher extremistisch dargestellt. Insbesondere ist eine Zunahme dogmatisch kommunistischer Ideologieelemente in den politischen Verlautbarungen festzustellen. 164 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 lInksextremIsmus 165 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Sitz/Verbreitung Essen Gründung/Bestehen seit 1968 Struktur/ Repräsentanz Bezirke: Ruhr Westfalen und Rheinland Westfalen Vorsitz: Patrick Köbele unterstützte Jugendorganisation: Sozialistische deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 800 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Eigene Webseite, sozialistische Wochenzeitung-Zeitung unsere Zeit Kurzporträt/Ziele Die DKP versteht sich als politische Nachfolgerin der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Sie bekennt sich als "revolutionäre Partei der Arbeiterklasse" zum Marxismus-Leninismus und strebt die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft an. Finanzierung Überwiegend durch Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Nach Vorstellung der DKP soll die Arbeiterklasse als maßgebende gesellschaftsverändernde Kraft durch einen klassenkämpferisch-revolutionären Akt die kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnisse, den Parlamentarismus und den 166 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 politisch-gesellschaftlichen Pluralismus überwinden. Über die Zwischenstufe des Sozialismus wird eine klassenlose kommunistische Gesellschaft angestrebt, in der alle wesentlichen gesellschaftlichen Gegensätze, insbesondere der zwischen Kapital und Arbeit, aufgehoben sein sollen. Individualgrundrechte haben in diesem Konzept nur noch eine stark eingeschränkte Bedeutung. Damit richtet sich die DKP gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gemäß SS 3 Absatz 1 Nr. 1 des Verfassungsschutzgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum 23. Parteitag in Frankfurt am Main vom 28. Februar bis 1. März 2020 Vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie in Deutschland konnte die DKP ihren Parteitag ohne Einschränkungen durchführen. Im weiteren Verlauf des Jahres hielten sich die Parteimitglieder bei Veranstaltungen an die Vorgaben der Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus. Trotz ausreichender Vorfinanzierung des traditionellen turnusmäßigen Pressefestes der Wochenzeitung unsere Zeit in Dortmund Ende August 2020 verzichtete die Partei frühzeitig auf die Ausrichtung und verschob den Termin auf das Jahr 2021. Bezüglich der personellen Entscheidungen zum Parteitag kam es zur vierten Wiederwahl des Vorsitzenden Patrick Köbele seit 2013 mit 167 von 204 Delegiertenstimmen (81,9 Prozent; in 2018: 85 Prozent). Die ebenfalls seit 2013 amtierende gewählte Stellvertreterin Wera Richter wurde mit 182 von 203 Delegiertenstimmen (89,7 Prozent; in 2018: 87 Prozent) in ihrer Funktion bestätigt. Der zweite Stellvertreter, Hans-Peter Brenner, stellte sich nicht mehr zur Wahl. Der Funktionsposten des zweiten Stellvertreters wurde nicht nachbesetzt. Der Parteivorstand wurde mit 31 Mitgliedern besetzt, davon - wie bereits im Jahr 2018 - elf Frauen. Inhaltlich wurde der Leitantrag mit dem Titel "Unsere Kampffelder im Rahmen der antimonopolistischen Strategie" mit 55 Prozent der Delegiertenstimmen nach Ergänzungen und Überarbeitungen angenommen. Als viertes Kampffeld wurde durch einen Delegiertenbeschluss neben dem Ringen für Frieden, demokratische Rechte und bessere Lebensund Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse die Umweltpolitik aufgenommen. lInksextremIsmus 167 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Kontinuität der uneingeschränkten revolutionären Identität der Partei durch die Wiederwahl von Patrick Köbele unterstrichen wurde. Ausschlussverfahren und Unvereinbarkeitsbeschlüsse in Bezug auf transformatorische Tendenzen haben gezeigt, dass die starke zentralistisch leitende Hand an der Parteispitze gewollt ist. Auch wenn der Leitantrag nicht die überwältigende Zustimmung erhalten hat, scheint im Kern ein gemeinsamer Nenner gefunden zu sein. 24. Bundeskongress der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) Der Bundeskongress fand aufgrund der Pandemie-Warnungen mit weniger Delegierten als im Jahr 2018 am 14. und 15. März 2020 wieder in Eschborn (Hessen) statt. Der Kongress baute auf den 23. Bundeskongress 2018 auf, bei dem die Kampagne "Geld gibt's genug - Zeit, es uns zu holen - in Schulen und Betrieben den Widerstand gegen Sparpolitik und Sozialabbau forcieren! Interessenvertretungen in Schulen und Betrieben etablieren" beschlossen worden war. Die zweijährige Kampagne wurde von den Delegierten als erfolgreich und nachhaltig bewertet. Darauf aufbauend wurden sogenannte Kurzkampagnen, nach eigenen Angaben zur "Erhöhung der Schlagkraft" bei aktuellen politischen Themen, neu ins Handlungskonzept der SDAJ aufgenommen. Neben den Interessenvertretungen in Kampagnenplakat der SDAJ Schulen und Betrieben sollen aktuelle politische Themen erfasst werden, um die "Alternative Sozialismus" breiter bei jungen Menschen bekannt zu machen. Als Handlungsorientierung gilt, dass das System unter Aufzeigung der Grenzen des Systems veränderbar sei. Beispielhaft wird in der Umweltpolitik das Spannungsfeld CO2-Steuer - Klimawandel genannt. Im Themenfeld Antimilitarismus wird auf den Widerspruch zwischen hohen Investitionen in die Rüstung bei gleichzeitig maroden Schulen hingewiesen. 168 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Kommunalwahlen am 13. September 2020 in Nordrhein-Westfalen Die DKP beteiligte sich in Bottrop, Gladbeck, Dortmund, Essen, Gelsenkirchen, Köln, Krefeld, Marl, Recklinghausen und durch Parteimitglieder auf Bündnislisten und offenen Listen der Partei DIE LINKE an den Kommunalwahlen. In Bochum unterstützte die DKP das Wahlbündnis "Soziale Liste". Im Ergebnis erzielten Parteimitglieder in den traditionellen Hochburgen der DKP in Bottrop zwei Ratsmandate und zwei Bezirksvertretungen (unverändert zu 2014) und in Gladbeck ein Ratsmandat (unverändert zu 2014). In Bochum verlor das Wahlbündnis "Soziale Liste" das Ratsmandat. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die DKP gab sich zum Parteitag angesichts einer offen angesprochenen Existenzkrise, vermutlich durch die Stimmverluste zu den Europawahlen und Landtagswahlen im Jahr 2019, die nachfolgende kaderparteiliche Direktive als Zielsetzung ihrer politischen Tätigkeit: "Die Partei ist sich ihrer Notwendigkeit bewusst, will gemeinsam auf die Straße, um in die Klassenkämpfe dieser Zeit einzugreifen, aber muss dazu ihre Positionen schärfen und in der Diskussion möglichst wieder vereinheitlichen. Beides gilt es zu organisieren." Vor dem Hintergrund des der DKP inhärenten ideologischen Dogmas der Krisenhaftigkeit kapitalistischer Systeme und der Corona-Pandemie als Katalysator wendet sich die Partei gegen die von ihr so benannte vermeintliche Abwälzung der Krisenlasten auf die Arbeiterklasse. Friedenspolitische Themenfelder, etwa die Proteste gegen die durch die NATO-Mitgliedschaft bedingte Erhöhung des Wehretats, sind ebenso Angriffspunkte ihrer Politik für den Sozialismus wie die Forderung nach stärkerer Unterstützung der Belegschaften im Gesundheitswesen und eine erhöhte internationale Solidarität vor allem mit Kuba, Russland und China. Für das Jahr 2021 bereitet sich die Partei in elf Bundesländern zur Teilnahme an der Bundestagswahl vor. Dabei wird die Erreichung der erforderlichen Unterstützerunterschriften im Vordergrund stehen. In Nordrhein-Westfalen wurde Anfang November 2020 eine 21-köpfige Landesliste für die Bezirke Ruhr Westfalen und Rheinland Westfalen aufgestellt. lInksextremIsmus 169 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) Sitz/Verbreitung Gelsenkirchen Gründung/Bestehen seit 1982 Struktur/ Repräsentanz Sieben Landesverbände (unter anderem in NRW), zahlreiche Gruppierungen mit nomineller Eigenständigkeit als struktureller Unterbau, darunter der Jugendverband Rebell mit der Kinderorganisation Rotfüchse, und kommunale Wahlbündnisse wie alternativ, unabhängig, fortschrittlich (AUF) Vorsitz: Gabi Fechtner Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 750 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Publikationen: Rote Fahne Magazin Web-Angebote: umfangreiche Internetpräsenz, Rote Fahne News als Online-Nachrichtenmagazin Kurzporträt/Ziele Die 1982 aus dem Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands (KABD) hervorgegangene Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) versteht sich als politische Vorhutorganisation der Arbeiterklasse in Deutschland. Ihr grundlegendes Ziel ist der revolutionäre Sturz der von ihr so bezeichneten Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. 170 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 In einem "17 Punkte Kampfprogramm" führt die Partei aus, dass die Herrschaft der internationalen Monopole gestürzt und der Sozialismus aufgebaut werden müsse. Dies beschränke sich nicht nur auf Deutschland, erklärt die MLPD und konkretisiert im eigenen Parteiprogramm: Der Sozialismus stelle eine Übergangsgesellschaft vom Kapitalismus zum Kommunismus dar, und mit der Diktatur des Proletariats organisiere die Arbeiterklasse den Klassenkampf im Sozialismus. Das Hauptaugenmerk ihrer politischen Arbeit legt die Partei neben der Frauenund Jugendpolitik, die sie mit vermeintlich eigenständigen organisatorischen Gruppen bearbeitet, vorwiegend auf die Betriebsund Gewerkschaftsarbeit. Sie verbindet dies verstärkt mit einer von der Partei als sozialistisch bezeichneten Umweltpolitik und der Beteiligung an sozialen Protesten in einem internationalen sozialistischen Kontext. Dem Anspruch an Internationalität versucht die MLPD durch die 2010 gegründete Internationale Koordinierung revolutionärer Organisationen und Parteien (ICOR) gerecht zu werden. Da sich die MLPD in einer fortdauernden Verfolgungssituation durch den Staat und seine Organe wähnt, agiert sie auf kommunaler Ebene verdeckt. Hier unterstützt die Partei angeblich unabhängige Personenwahlbündnisse wie die Organisation alternativ, unabhängig, fortschrittlich (AUF), die zum Teil personell mit der MLPD verflochten sind. Finanzierung Überwiegend durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Einnahmen aus Vermögen lInksextremIsmus 171 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die MLPD bekennt sich nach wie vor zu den Lehren von Marx, Engels, Stalin und Mao Tse-Tung und verbindet nach eigener Aussage "den Kampf um die Forderungen der Arbeiterund Volksbewegungen mit dem Ziel der internationalen sozialistischen Revolution". Die Zielsetzungen der MLPD sind durch verfassungsfeindliche Aussagen geprägt und lassen sich in den drei Kernpunkten Revolution, Diktatur des Proletariats und Kommunismus zusammenfassen. Die Ziele der MLPD richten sich somit gegen wesentliche Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, weshalb die Partei nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW durch den Verfassungsschutz NRW beobachtet wird. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Corona-Pandemie Im Vordergrund des Handelns der Partei standen im Jahr 2020 die Organisation und Ausrichtung von Demonstrationen, Verteilaktionen und Protestaktionen unter strenger Einhaltung der geforderten und respektierten Auflagen in Bezug auf die Eindämmung der Corona-Pandemie. Öffentliche Demonstrationstermine wie zum 1. Mai (Tag der Arbeit), zum 8. Mai (75 Jahre Tag der Befreiung) und Aktionen im Kontext "200 Jahre Friedrich Engels" am 28. November 2020 wurden zum Teil gerichtlich erstritten. Aufstellung einer Lenin-Statue - Enthüllungszeremonie am 20. Juni 2020 in Gelsenkirchen an der Bundeszentrale "Horster Mitte" der MLPD Nach einem geforderten Baustopp durch die Stadt Gelsenkirchen teilte die MLPD am 5. März 2020 mit, dass das Vorhaben, auf dem parteieigenen Grundstück eine dem 150. Geburtsjubiläum gewidmete Lenin-Statue aufzustellen, durch das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen genehmigt wurde. Eine Spendensammlung unter dem Motto "Welcome to Lenin in Gelsenkirchen" hatte im Vorfeld für die benötigten finanziellen Mittel zur Errichtung der Statue gesorgt. Der ursprüngliche Termin der Enthüllung der Lenin-Statue am 14. März 2020 wurde aufgrund der Corona-Pandemie auf den 20. Juni 2020 verschoben und gemäß der Schutzverordnungen nebst einer Pressekonferenz im reaktivierten Kultursaal ausgerichtet. Bundesweit und auch weltweit stießen der gerichtliche Vorlauf und der 172 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Lenin-Statue in Gelsenkirchen mit Werbeplakat für ein Buch der MLPD anlässlich der Enthüllung Enthüllungstermin mit dem Hinweis, dass es sich um die einzige Lenin-Statue in Westdeutschland handelt, auf eine hohe mediale Resonanz. Im Nachgang zur positiv bewerteten Aufstellung der Lenin-Statue beabsichtigt die Partei eine Marx-Statue aufzustellen und hat bereits eine weitere dementsprechende Spendenaktion initiiert. Zwischenzeitlich hatte die MLPD am 11. März 2020 ferner darüber informiert, dass der Kultursaal Horster Mitte, ein Veranstaltungssaal der MLPD in Gelsenkirchen, bauamtlich durch die Stadt Gelsenkirchen abgenommen und wieder zur Nutzung freigegeben wurde. Vorangegangen waren seit 2018 Klageverfahren gegen die angeordneten erforderlichen Maßnahmen zur Nutzung der parteieigenen Liegenschaft, die die MLPD als unbegründet abgelehnt hatte. Kommunalwahlen am 13. September 2020 in Nordrhein-Westfalen Die MLPD unterstützte aufgrund der parteikonformen politischen Ausrichtung Wahlbündnisse unter dem Namen alternativ, unabhängig, fortschrittlich und in Solingen mit dem Namen Solingen aktiv, die zu den Kommunalwahlen in 2014 Ratsmandate und Bezirksvertretungen erzielt hatten. lInksextremIsmus 173 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Plakatkampagne der MLPD anlässlich der Kommunalwahlen 2020 in NRW Über das Wahlbündnis Linkes Forum (LF) in Radevormwald, das sich 2016 als Trägerorganisation dem internationalistischen Bündnis der MLPD angeschlossen hat, wurde ebenfalls zu den diesjährigen Kommunalwahlen berichtet. Die MLPD und vier der alternativ, unabhängig, fortschrittlich-Wahlbündnisse wandten sich im Berichtszeitraum gegen die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht. In mehreren Eilanträgen forderten sie im Vorfeld zu den Kommunalwahlen die Streichung aus dem Verfassungsschutzbericht über das Jahr 2019 beziehungsweise die Unterlassung der Verbreitung des Berichts. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf sah die Berichterstattung des Verfassungsschutzes über die Wahlbündnisse und ihre Beziehung zur MLPD in seiner Entscheidung aus September 2020 als rechtmäßig an. Die Eilanträge von MLPD und alternativ, unabhängig, fortschrittlich wurden entsprechend abgelehnt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick In der Corona-Pandemie erkennt die MLPD einen weiteren Anlass zur Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse durch das herrschende System und bettet ihre Werbung für den "echten" Sozialismus in diesen Begründungszusammenhang ein. 174 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Es ist daher auch für das Jahr 2021 nicht zu erwarten, dass die MLPD von rechtlich zulässigen, öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen aus Pandemieschutzgründen absehen wird. Als parlamentsorientierte linksextremistische Partei plant die MLPD, im April 2021 zur Landtagswahl in Thüringen und im September 2021 zur Bundestagswahl in allen Bundesländern anzutreten. lInksextremIsmus 175 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Autonome Linksextremisten Sitz/Verbreitung Landesweite Verteilung mit lokalen Schwerpunkten in Ballungszentren Gründung/Bestehen seit Ende der 1970erbeziehungsweise Anfang der 1980er Jahre aus Ausläufern der Studentenbewegung der 1968er-Jahre, der "Sponti-Szene" der 1970er-Jahre und der Punk-Subkultur entstanden Struktur/ Repräsentanz Weitgehend hierarchiefreie Netzwerke mit themenoder aktionsbezogener Ausrichtung; das Internet fungiert dabei als offenes Kontaktmedium, überregionale Treffen, Chatoder Telefonkonferenzen mit Delegierten örtlicher oder thematisch gebundener Zusammenhänge Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 1.020/ Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Hauptsächlich Veröffentlichungen in szenebezogenen Internetportalen, Internetblogs und sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Die autonome Szene als bekannteste Subkultur im Linksextremismus definiert ihre Ziele vorrangig durch Gegenproteste, wohingegen eine gemeinsame Zielsetzung - abgesehen von der Eroberung sogenannter Freiräume - kaum festzustellen ist. Staatliche Strukturen, insbesondere Hierarchien und das staatliche Gewaltmonopol, werden zugunsten eines "selbstbestimmten Lebens" abgelehnt. Gleichzeitig wenden Autonome zur Durchsetzung ihrer Auffassungen zunehmend enthemmte Gewalt gegen Meinungsgegner an und versuchen damit, diese einzuschüchtern und gesellschaftliche Diskurse nach ihren Vorstellungen zu steuern. 176 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Finanzierung Ereignisoder anlassbezogene Finanzierung von Aktionen und Kampagnen durch Solidaritätskonzerte und -partys oder Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Insbesondere die Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols und der rechtsstaatlichen Ordnung durch die linksautonome Szene bei gleichzeitiger Befürwortung von Gewalt zur Erreichung der eigenen politischen Ziele ist nicht vereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Da wegen der Corona-Pandemie kein Anlass für überregionale Großkundgebungen in Nordrhein-Westfalen bestand, stieg die Beteiligung autonomer Linksextremisten an Versammlungen gegen das rechtsgerichtete Spektrum sowie die Bereitschaft zu eigenen Aktionen an. Gegen die Eröffnung des Parteibüros der rechtsextremistischen Partei Der III. Weg im Juli 2020 in Siegen wendeten sich mehrere Demonstrationen mit Beteiligung des linksextremistischen Spektrums und in der Spitze über 1.000 Personen. Es wurden auch Sachbeschädigungen an den Parteiräumlichkeiten verübt. In ähnlicher Weise fanden wöchentliche Kundgebungen gegen die Eröffnung des Thor Steinar-Ladens in Dortmund unter dem Motto "Naziläden dichtmachen!" statt, wobei es auch hier mehrfach zu Sachbeschädigungen an den Geschäftsräumen kam. Instagram-Beitrag über eine Demonstration am 10. Juli 2020 lInksextremIsmus 177 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Daneben haben autonome Antifa-Gruppen im Köln-Bonner Raum erneut die maßgebliche Koordinierung der Mobilisierung gegen einen alljährlich stattfindenden Gedenkmarsch der rechtsextremistischen Szene in Remagen übernommen. Nach den Ereignissen um den im Mai 2020 bei einem Polizeieinsatz in den USA ums Leben gekommenen George Floyd kam es auch in Nordrhein-Westfalen im Rahmen der Black Lives Matter-Proteste zu mehreren Demonstrationen, an denen autonome Linksextremisten maßgeblich beteiligt waren. Kritisiert wurden Polizeieinsätze, die sich aus Sicht der Demonstranten mit überzogener und ungerechtfertigter Härte gegen Personen mit nicht weißer Hautfarbe gerichtet hätten. Die Behandlung dieser Thematik sorgt szeneintern für Differenzen, da sich Protagonisten mit Migrationshintergrund in der autonomen Szene nicht selten unverstanden und unterrepräsentiert fühlen. Aus diesem Grund haben sich punktuell sogenannte Migrantifa-Strukturen gebildet, in denen Personen mit Migrationshintergrund stärker vertreten sein sollen. Der Wirkungsgrad dieses Konzeptes ist bislang jedoch gering. Eine nennenswerte Zusammenarbeit autonomer Antifa-Gruppen mit Migrantifa-Strukturen konnte in Nordrhein-Westfalen nicht beobachtet werden. Festhalten am Feindbild AfD Neben Outing-Aktionen zum Nachteil von AfD-Kandidaten und Personen des rechtskonservativen oder rechtsextremistischen Spektrums kam es vor allem während des Kommunalwahlkampfs zu mehreren Konfrontationen mit Handgreiflichkeiten und Sachbeschädigungen an Immobilien mit AfD-Bezug. Eine Demonstration mit etwa 1.000 Teilnehmenden gegen den AfD-Bundesparteitag am 28. November 2020 in Kalkar, zu der die vom ...ums Ganze! Kommunistisches Bündnis (uG) ins Leben gerufene Kampagne "Nationalismus ist keine Alternative" bundesweit mobilisiert hatte, verlief dagegen störungsfrei. Angriffe auf Privatpersonen Die Rechts-/Links-Konfrontationen von Protagonisten der autonomen Antifa mit Angehörigen und vermeintlich Angehörigen des rechten Spektrums abseits von demonstrativen Veranstaltungen haben sich im Berichtszeitraum in ihrer Stoßrichtung verändert. Hervorgehoben sei der als Überfall auf die Räumlichkeiten der Burschenschaft Rhenania-Salingia geschilderte Zusammenstoß autonomer Linksextremisten mit den dort anwesenden Korporationsmitgliedern am 16. Juni 2020 in Düsseldorf. Am 12. September 2020 ereignete sich auch in Köln ein Überfall auf einen vermeintlichen Angehörigen der rechten Szene, der öffentlich für eine Abschiedsfeier anlässlich seines 178 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Umzugs eingeladen hatte. Eine Gruppe maskierter Personen betrat durch die offenstehende Wohnungstür die Wohnung des Geschädigten, schlug ihn mit Holzlatten und besprühte ihn mit Reizstoff. Der Tathergang dieser und weiterer, der autonomen Szene zugerechneten Übergriffe belegt, dass sich deren gezielte Planung und die Schnelligkeit der Durchführung professionalisiert haben. Dabei wird die Möglichkeit schwerer Verletzungen der Opfer offensichtlich immer öfter in Kauf genommen. Kampf um Freiräume Das Thema Antigentrifizierung bleibt weiterhin ein wichtiges Politikfeld autonomer Linksextremisten. Im September wurde vorübergehend das ehemalige und seit mehreren Jahren leerstehende Haus der Begegnung in Essen besetzt und auf Transparenten ein "Zentrum für antirassistische Politik" gefordert. Auch zur Räumung der Liebigstr. 34 in Berlin am 9. Oktober 2020 kam es in Nordrhein-Westfalen zu mehreren Solidaritätsaktionen. Die Situation zu dem von der Stadtverwaltung Köln beabsichtigten Standortwechsel des dortigen Autonomen Zentrums (AZ Köln) ist weiterhin ungeklärt, nachdem Vertreter des AZ Köln einen Vorschlag für eine räumliche Alternative ausgeschlagen hatten. Dagegen forderte das AZ Köln von der Stadtverwaltung, den Mietvertrag am bisherigen Standort zu verlängern. Als die Stadt diese Forderung nicht innerhalb von vier Wochen beantwortete, wurden - mutmaßlich aus dem Umfeld des AZ - am Kölner Rathaus Farbschmierereien aufgebracht und am Gebäude des SPD-Landesverbandes Plakate mit der Aufschrift "Kein Tag ohne AZ Köln" angebracht. Davon abgesehen war das AZ Köln trotz der Corona-Pandemie auch in diesem Jahr Treffund Anlaufstelle autonomer Linksextremisten und beteiligte sich an der Unterstützung der diesjährigen sogenannten Massenaktionen im Rheinischen Braunkohlerevier. IL nutzt Corona-Pandemie zu antikapitalistischer Agitation Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie war im April und Mai 2020 ein Anstieg von Veröffentlichungen der postautonomen IL auch in Nordrhein-Westfalen zu verzeichnen. Unter anderem wurden Videoformate mit dem Titel "#CoronaTalk" unter Mitwirkung der IL Köln und im weiteren Jahresverlauf mehrere Beiträge der IL Köln und IL Münster veröffentlicht. Dabei wurden die typischen Politikfelder autonomer Linksextremisten - Antikapitalismus, Antirassismus, Antirepression, Antigentrifizierung - mit den Themen Klimaschutz und Corona-Pandemie verknüpft. lInksextremIsmus 179 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Nach Ansicht der IL werde die Pandemiesituation von Regierung und Verwaltungsbehörden zum permanenten Ausnahmezustand umgedeutet und sei ein willkommenes Argument für die einseitige finanzielle Unterstützung marktwirtschaftlicher Interessen durch den Staat. Nach dieser Auffassung dienten die getroffenen Maßnahmen weniger dem persönlichen Schutzbedürfnis der Menschen, sondern sollten in erster Linie das Funktionieren der Bevölkerung als Wirtschaftsfaktor, als Produktivkraft und Konsument von Gütern und Dienstleistungen absichern. Zur Bewältigung negativer Folgen des Klimawandels wird erklärt: "Es muss [...] darum gehen, die Möglichkeit für eine grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft zu eröffnen. Wir werden kaum ungeschoren aus der KlimaPandemie herauskommen. Auch deshalb ist ein radikaler Bruch mit dem Kapitalismus nötiger denn je. Und genau deshalb darf die Idee des Kommunismus nicht aufgegeben werden!" Plakat der IL in Düsseldorf 180 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Aktionen gegen einen Schlachtbetrieb Zu Beginn der Pandemie wurde ein Fleischverarbeitungsbetrieb in Rheda-Wiedenbrück geschlossen, weil zahlreiche Mitarbeiter positiv auf das Corona-Virus getestet worden waren. Die öffentliche Aufmerksamkeit nahm das autonome Spektrum zum Anlass, um eine Kampagne mit dem Namen "Shutdown Schweinesystem!" ins Leben zu rufen. Unterstützer der Kampagne waren autonome Gruppen aus Bielefeld, Köln und Münster. Die Aktionen richteten sich zuerst unmittelbar gegen den Firmeninhaber und sollten danach auf die gesamte Fleischindustrie übertragen werden. Neben einer Demonstration am privaten Wohnsitz der Familie des Firmeninhabers wurden dort zu einem späteren Zeitpunkt Materialien abgelegt, die zur Herstellung eines funktionsfähigen Brandsatzes geeignet waren. Während es tatsächlich nicht zu einem Brandgeschehen kam, trug ein Selbstbezichtigungsschreiben von Autoren mit der Bezeichnung Revolutionäre Aktionszellen (RAZ) die Überschrift "Hurra, Hurra, [...] an der Villa in Rheda-Wiedenbrück hat es gebrannt...". Anarchosyndikalisten fördern die Kampagne gegen einen Spargelbauern Nachdem über Jahre hinweg gewerkschaftlich organisierte Anarchisten in Nordrhein-Westfalen nicht nennenswert in Erscheinung getreten waren, erlangte die Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union (FAU) im Rahmen eines Konfliktes um die Bezahlung von Erntehelfern eines Agrarwirtschaftsbetriebs bei Bonn kurzfristig Aufmerksamkeit auf regionaler Ebene. Die FAU-Ortsgruppe Bonn trat als Vertreterin der aus Rumänien stammenden Erntehelfer auf und initiierte Protestkundgebungen, an denen sich neben den Betroffenen selbst auch Linksextremisten aus dem Großraum Bonn beteiligten. Besetzung im Hambacher Forst Ungeachtet des Rodungsstopps und des Kohlekompromisses setzten die Waldbesetzer im Hambacher Forst ihren Widerstand gegen die Zivilgesellschaft weiter fort. Die dortige Besetzerszene speist sich vorwiegend aus autonomen Linksextremisten des anarchistischen Spektrums. Ihre systemfeindliche Haltung und der Anspruch auf gewaltsame Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung manifestierte sich durch das fortgesetzte Begehen teils schwerster Straftaten gegen Angehörige von Sicherheitsbehörden, Mitarbeitern von RWE, Privatpersonen sowie durch zahlreiche Sachbeschädigungen und Brandstiftungen. lInksextremIsmus 181 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Sticker der IL zu den Protesten im Hambacher Forst Der ursprünglich für die Waldbesetzung handlungsleitende Klimaschutzgedanke trat dabei weitestgehend in den Hintergrund. Die Situation ist mittlerweile vergleichbar mit dem Erkämpfen gesellschaftlich entkoppelter, autonomer Freiräume ohne staatliche Kontrolle in urbanen Räumen. Erwähnenswert war auch eine "Revolutionsfeier" mit der kurdischen PKK nahestehenden Organisationen im Hambacher Forst im Juli 2020. Die Besetzerszene im Hambacher Forst hat ihre Erfahrungen in andere Waldbesetzungen exportiert. Eine Gruppe der Waldbesetzer siedelte zeitweise nach Osthessen in den Dannenröder Wald über, um sich dort an den Protesten gegen den Bau der Autobahn A49 zu beteiligen. Erkennbar waren Aktionsformen, Blockadeund Bautechniken, die zuvor bereits im Hambacher Forst feststellbar waren. So wurden Barrikaden in Form von eingelassenen Metallpfosten und Gräben auf Waldwegen errichtet sowie Krähenfüße und Trittfallen ausgelegt, um eine Annäherung von Polizeibeamten an die zu räumenden Bauten zu erschweren. Waldbesetzer auch aus Nordrhein-Westfalen griffen die zur Räumung eingesetzten Beamten unter anderem mit Steinen und Pyrotechnik an und versuchten durch sogenannte Lock On-Vorrichtungen an Baumhäusern und weiteren Objekten, die Räumung zu erschweren beziehungsweise zu verhindern. 182 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ende Gelände Massenaktion und Besetzung im Keyenberger Wald In der Zeit vom 23. bis zum 27. September 2020 fand im Rheinischen Braunkohlerevier wieder eine sogenannte Massenaktion des linksextremistisch beeinflussten Bündnisses Ende Gelände gegen den Abbau und die Verstromung von Braunkohle sowie die Nutzung von Erdgas als weiterem fossilen Energieträger statt. Bundesweit waren im Vorfeld Informationsveranstaltungen und "Aktionstrainings" durchgeführt worden, wobei auch Objekte der linksextremistischen Szene zur Vorbereitung genutzt wurden. Neben zivildemokratischen Akteuren aus der Klimaschutzbewegung und der IL beteiligten sich im Jahr 2020 weitere überregionale linksextremistische Bündnisse wie uG und Perspektive Kommunismus an den Aktionen. Twitter-Bericht der IL zu der Massenaktion im Rheinischen Braunkohlerevier im September 2020 Aufgrund der Auflagen durch die Corona-Pandemie konnten die Teilnehmerzahlen der Vorjahre jedoch 2020 nicht erreicht werden. In der Spitze beteiligten sich etwa 1.700 Personen an den Aktionen. Organisatorisch anders als in den vergangenen Jahren hatte man sich in zahlreichen kleineren Camps zunächst dezentral versammelt und war von diesen in Kleingruppen zu Einzelaktionen aufgebrochen. Als Folge von Baggerund Gleisbesetzungen, Blockaden von Bahnund anderen Tagebaueinrichtungen sowie Widerstandshandlungen gegen die eingesetzte Polizei kam es zu zahlreichen freiheitsentziehenden Maßnahmen gegen Aktionsbeteiligte. In Erkelenz gelang einer Gruppe von Störern während der Massenaktion die Errichtung mehrerer Plattformen auf Bäumen im Keyenberger Wald. Diese Baumbesetzungen werden seitdem wie im Hambacher Forst ausgebaut, wobei Anzahl und Ausbaugrad der Strukturen derzeit noch weit hinter denen im Hambacher Forst zurückbleiben. Analog zur dortigen Waldbesetzung verstehen sich die Baumbesetzer als Teil einer Bewegung für den Systemwandel, von dem die Klimagerechtigkeitsbewegung nur ein Teil lInksextremIsmus 183 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 sei. Erklärtes Ziel der Besetzung ist die Überwindung kapitalistischer Funktionsweisen und des Staates. Proteste gegen das Kohlekraftwerk Datteln IV Ein weiteres Aktionsziel des linksextremistisch beeinflussten Teils der Klimabewegung war das im Juni 2020 in Betrieb genommene Steinkohlekraftwerk Datteln IV am Dortmund-Ems-Kanal. Neben zivildemokratischen Gruppen mobilisierten auch die IL und das von ihr beeinflusste Bündnis Ende Gelände zu Protesten gegen die Kohleverstromung in Datteln. Abseits von legitimen Protestformen verschafften sich 150 Störer am 2. Februar 2020 Zutritt zum Werksgelände, wobei eine Gruppe zwei Fördertürme besetzt hielt. Bereits am 28. Februar 2020 drangen erneut Personen in das Kraftwerksgelände ein und ketteten sich an Fördertürme und einen Kran. Beide Aktionen führten zu jeweils mehrstündigen Polizeieinsätzen und medialer Aufmerksamkeit. Etwa seit Mitte des Jahres 2020 ließen die Proteste angesichts der erfolgten Inbetriebnahme des Kraftwerkes nach. Inwiefern Datteln IV erneut in den Fokus linksextremistischer Akteure geraten wird, bleibt abzuwarten. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Corona-Pandemie beeinflusste die Aktivitäten der autonomen Szene im Berichtszeitraum vor allem bei der Wahl ihrer Themenschwerpunkte. Im Zuge der Corona-Pandemie verringerten autonome Linksextremisten ihre öffentlichkeitswirksamen Aktionen im Verhältnis zu den Vorjahren. Insbesondere die Einschränkungen bei demonstrativen Veranstaltungen schraubten das Aktionspotenzial zurück. Hingegen waren die Versammlungen von Corona-Leugnern der Anlass für die Beteiligung an Gegenkundgebungen, weil mit Protagonisten des rechten Spektrums direkte politische Gegner an den Demonstrationen gegen die im Rahmen der Corona-Bekämpfung verhängten Maßnahmen teilnahmen. Daneben reagierten Antifa-Gruppen der autonomen Szene weiterhin auf die vom rechten Spektrum und den Tagesgeschehnissen gesetzten Sachverhalte mit zum Teil gewalttätigen Gegenaktionen. Insofern setzte sich das reaktive Verhalten autonomer Linksextremisten auf den Themenfeldern Antifaschismus und Antirassismus wie in Vorjahren fort, ohne eigene Impulse zu entwickeln. Das Tauziehen um den Standort und den Fortbestand des AZ Köln wird sich in diesem Jahr und auch in den Folgejahren fortsetzen. Bereits die vehement vorgetragene 184 lInksextremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Forderung nach einem autonomen Zentrum, ohne einen rechtlichen Anspruch darauf geltend machen zu können, sind Bestandteil des Kampfes um autonome Freiräume ohne staatliche Kontrolle. Ebenso sind die zur Verstärkung dieser Forderung veranstalteten demonstrativen Aktionen und verübten Sachbeschädigungen zu bewerten. Insofern ist auch künftig keine Kompromissbereitschaft seitens der autonomen Szene zu erwarten. Die Waldbesetzung im Hambacher Forst hat den Charakter einer Protestaktion mittlerweile völlig verloren. Den Besetzern geht es nicht mehr um den Widerstand gegen die Abholzung eines Waldbestandes unter Umweltund Klimaschutz-Aspekten, sondern um ein Gegenmodell zur urban oder dörflich geprägten Lebensweise. Am Beispiel der Waldbesetzung soll vielmehr gezeigt werden, dass eine Energiewende und ein vorindustrielles Dasein auf der Basis autonom-anarchistischer Gesellschaftsformen möglich wären. Der dafür erforderliche "Freiraum" wird mit Anwendung von Gewalt dem Staat und damit der Zivilgesellschaft abgetrotzt. Für die Waldbesetzer spielt es keine Rolle mehr, welche Gefahr für Leib und Leben bei der Gewaltanwendung für andere besteht. Nach ihrer Auffassung rechtfertige die Gewalt, die von Staat und kapitalistischen Interessen gegen deren Kritiker ausgeübt wird, Gegengewalt als eine Art von Notwehr. Linksextremistische Unterstützer der Waldbesetzung wie die IL verfolgen wiederum perspektivische Ziele. Ihnen geht es vor allem um die Schaffung vorrevolutionärer Zustände, welche Staat und Gesellschaft mit Blick auf eine künftige Umwälzung unterminieren sollen. Zu diesem Zweck will man auch die Anschlussfähigkeit in Richtung des nichtextremistischen Teils der Gesellschaft ausbauen, um so weitere Bereiche der Gesellschaft zu radikalisieren. lInksextremIsmus 185 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 186 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Auslandsbezogener Extremismus auslandsbezogener extremIsmus 187 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zusammenfassung Im säkularen auslandsbezogenen Extremismus liegt ein deutlicher Schwerpunkt der Beobachtung auf Organisationen mit Bezug zur Türkei. Hierzu gehören im linksextremistischen Bereich unter anderem die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKP-C). Darüber hinaus wird auch die nationalistisch-türkische, rechtsextremistische Ülkücü-Bewegung (sogenannte Graue Wölfe) beobachtet. Die Aktivitäten aller im auslandsbezogenen Extremismus beobachteten Gruppierungen waren im Jahr 2020 bedingt durch die Corona-Pandemie deutlich rückläufig. Die in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die sich selbst Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) bezeichnet, strebte ursprünglich einen eigenen kurdischen Nationalstaat an, der die Gebiete Südostanatoliens (Türkei), den Nord-Irak, Teile des westlichen Iran und Gebiete im Norden Syriens umfassen sollte. Dementsprechend wurden die Aktivitäten der PKK noch im Jahr 2019 wesentlich durch den Angriff der türkischen Truppen auf das nordsyrische Grenzgebiet zur Türkei beeinflusst. Demgegenüber waren im Jahr 2020 deutlich weniger Reaktionen auf die nach wie vor andauernden Kampfhandlungen zu verzeichnen. Auch die von der PKK und ihr nahestehenden Organisationen alljährlich durchgeführten Großveranstaltungen wie das Newroz-Fest und das Kurdistanfestival kamen Corona-bedingt nicht zustande. Stattdessen erging ein Aufruf zur Durchführung kleinerer, dezentraler Veranstaltungen. Die von den traditionellen Großveranstaltungen ausgehende mobilisierende und propagandistische Wirkung unterblieb damit. Die in der Türkei und in Deutschland verbotene DHKP-C verfolgt nach wie vor das Ziel, das bestehende türkische Staatssystem durch eine bewaffnete Revolution zu zerschlagen, um ein sozialistisches System zu errichten. Auf der ideologischen Grundlage 188 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 des Marxismus-Leninismus propagiert die DHKP-C einen bewaffneten Volkskampf unter ihrer Führung. Die Organisation tritt damit für eine revolutionäre Überwindung der türkischen Staatsund Gesellschaftsordnung ein. Bei der Ülkücü-Bewegung handelt es sich um eine heterogene türkisch-rechtsextremistische Bewegung. Das sogenannte pantürkische oder auch als turanistisch bezeichnete Weltbild ist das prägende Ideologieelement der Ülkücü-Bewegung, dessen Ziel die Vereinigung aller Turkvölker im Staat Turan in den Grenzen des ehemaligen Osmanischen Reiches ist. Dies ist mit einem übersteigerten Nationalbewusstsein verbunden, das die türkische Nation sowohl politisch-territorial als auch ethnisch-kulturell als überlegen ansieht. Bereits seit einiger Zeit ist bei der Ülkücü-Bewegung der Versuch erkennbar, nicht-extremistische Teile der Bevölkerung zu beeinflussen und dabei ihre tatsächliche Ideologie zu verschleiern. Das heißt, dass die beschriebene Ideologie zwar weiterhin existiert, nach außen hin aber mit einem betont legalistischen Auftreten kaschiert wird. Für alle drei Organisationen gilt, dass sich die politische Lage in der Türkei und aktuell auch in Nordsyrien auf das Aktionsverhalten der Gruppierungen auswirkt und so auch unmittelbaren Einfluss auf die innere Sicherheit in Nordrhein-Westfalen hat. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y auslandsbezogener extremIsmus 189 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Im Fokus: Entgrenzung der Ülkücü-Bewegung Debatten um Nationalismus und Rassismus konzentrieren sich häufig auf Formen des klassischen Rechtsextremismus. Im Berichtszeitraum geriet allerdings auch die nationalistische Ideologie der Ülkücü-Bewegung, auch Graue Wölfe genannt, in den medialen Fokus. Grund waren zunächst Ausschreitungen in Frankreich im Zusammenhang mit dem Berg-Karabach-Konflikt und anschließend ein per Dekret erlassenes Verbot der Organisation. Die Reaktion der Ülkücü-Bewegung und der zurückhaltende Umgang mit einer auch in Deutschland feststellbaren Verbotsdiskussion bestätigen bisherige Entgrenzungstendenzen. Ausrichtung und Strategie der Grauen Wölfe sind darauf ausgerichtet, Teile der Gesellschaft (zum Beispiel Jugendliche mit türkischen Wurzeln) an sich zu binden, ohne den extremistischen Inhalt der Aussagen und Handlungen erkennbar zu machen. Erkenntnisse aus dem Berichtszeitraum reihen sich in die Bewertung der Vorjahre ein: Graue Wölfe bemühen sich um ein gesetzeskonformes Verhalten. Tatsächlich konnten in den letzten Jahren immer weniger Straftaten in diesem Zusammenhang beobachtet werden. Allerdings vermögen die ideologische Ausrichtung der Bewegung, aber auch die Strategie einzelner Vereine nicht nur Anhänger zu mobilisieren und desintegrativ zu wirken, sondern auch einen jeweiligen Diskurs so zu beeinflussen, dass Gewaltdelikte auch zukünftig nicht ausgeschlossen werden können. Die Ülkücü-Ideologie basiert auf türkisch-ultranationalistischen Vordenkern wie Alparslan Türkes (1917 bis 1997) und Nihal Atsiz (1905 bis 1975). Diese prägten nicht nur das Bild der Überlegenheit des türkischen Volkes, sondern pflegten auch die Leitidee eines (fiktiven) Landes namens Turan, welches sich von Europa bis nach Südostasien ziehen und alle ursprünglich dem Turanstaat zuzuordnenden türkischen Stämme vereinen sollte. Maßgeblicher Bestandteil dieser Denkweise ist die Herabwürdigung und Diskriminierung anderer Völker. Taten und Inhalte dieser Vordenker werden auch heute noch verehrt. Diese nationalistische Ideologie der Ülkücü-Bewegung widerspricht dem nach außen erklärten Ziel der Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e. V. (Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu - ADÜTDF): ADÜTDF-Vereine propagieren danach nach außen, das türkische Brauchtum zu erhalten und gleichzeitig Integration zu fördern. 190 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Vereine der Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e. V. (Avrupa Türk Islam Kültür Dernekleri Birligi - ATIB) fokussieren eine islamisch-religiöse Dimension ihrer Denkund Handlungsweise. Ziel der ATIB ist nach ihrer Eigendarstellung die Verständigung unterschiedlicher Kulturen und die Stärkung der kulturellen und religiösen Identität von Einwanderern in Deutschland. Tatsächlich hat sich die ATIB von der Ülkücü-Ideologie, die gerade eine Überhöhung der türkischen Interessen gegenüber anderen Ethnien zum Inhalt hat, niemals distanziert. Für beide Dachverbände sind vielfältige Freizeitangebote für unterschiedliche Zielgruppen, wie beispielsweise türkische Jugendliche, deutsche Jugendliche mit türkischen Wurzeln, aber auch Erwachsene, wichtig, um den Kern der Ülkücü-Ideologie in geschickter Art und Weise zu kaschieren. So dienen Sportund Fußballangebote als geeigneter Zugang, um beispielsweise Jugendliche an die Ideen und Denkweisen der Ülkücü-Bewegung heranzuführen. In Nordrhein-Westfalen bestehen verschiedene Fußballvereine, die eine Nähe zu den Grauen Wölfen aufweisen - dies zum Teil diskret, aber zuweilen auch öffentlich und erkennbar. Fußballund Sportangebote im Ülkücü-Bereich > Fußball als integraler Bestandteil eines ADÜTDF oder ATIB-Vereins > Finanzielle oder organisatorische Unterstützung eines Fußballvereins > Fußball als ein Freizeitangebot So kann Fußball die Basis für Zugehörigkeit, Solidarität und Freundschaft bilden. Fußballtraining und Turniere können das Gemeinschaftsgefühl Jugendlicher fördern. Im Berichtszeitraum konnte beobachtet werden, dass es in den jeweiligen Fußballvereinen nicht prioritär um die Leitideen der Grauen Wölfe geht, sondern die Symbolik das jeweilige Geschehen nur am Rande begleitet. Grundsätzlich rekrutieren türkisch-rechtsextremistische Fußballvereine Jugendliche nicht für den Kampf gegen den politischen Gegner wie beispielsweise Kurden. Ziel ist vielmehr eine Mobilisierung für ethnisch-nationalistische Themen und Aktivitäten und damit die Distanzierung von demokratischen Grundwerten. Insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auslandsbezogener extremIsmus 191 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 können aktuelle Geschehnisse in der Türkei, aber auch diskriminierende Erfahrungen in Deutschland zur Übernahme ethnischer Zuschreibungen führen, was zu einer weiteren Homogenisierung der Gruppe führt - ethnische Merkmale werden zu Besonderheiten verabsolutiert und rechtfertigen die Pflege von Feindbildern. Mit diesen Feindbildern können türkische Überlegenheitsansprüche gegenüber anderen Volksgruppen leichter vermittelt werden: Ein negatives Meinungsbild von Kurden kann so indirekt an die jüngere Generation weitergegeben werden. Kurden werden seitens Grauer Wölfe prinzipiell als Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und damit als Terroristen stigmatisiert. Ein ähnliches Schema ist auch bei der Bewertung von politischen Funktionsträgern erkennbar, die nicht im Sinne der nationalistischen türkischen Idee argumentieren: Sie werden als Verräter diskriminiert. Die Denkweise der Ülkücü-Bewegung, also unter anderem die Einteilung der Welt in Freund-Feind-Schemata, stellt eine effektive Methode dar, türkische Jugendliche oder deutsche Jugendliche mit türkischen Wurzeln, die bereits Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung erlebt haben, für eine türkisch-nationalistische Idee zu gewinnen. Graue Wölfe können zum Beispiel unter dem Deckmantel des Fußballs türkisch-nationalistische Wertund Gesellschaftsvorstellungen transportieren und somit eine Leitbildfunktion übernehmen. Darauf aufbauend können schrittweise politische und soziale Werte vermittelt werden, die die türkische Identität (beispielsweise Sprache, Ethnie, Geschichte) ideologisieren. Unabhängig davon, dass Fußball nur ein Beispiel für ein attraktives Freizeitangebot ist und insofern auch von Jugendlichen angenommen wird, die durchaus in die Gesellschaft integriert sind, erzielen gemeinsame Freizeiterlebnisse ein Gefühl der Wertschätzung, die in der Wirkung eine Öffnung für die von den Vereinen verbreitete Ideologie bewirken kann. Insgesamt ist feststellbar, dass die Ülkücü-Bewegung nicht mehr einer Subkultur zuzuordnen ist, sondern mit ihrer Ausrichtung und Angebotsvielfalt zumindest nach außen hin eine gewisse Gesellschaftsfähigkeit erreicht und sich somit auch die Anschlussfähigkeit der Bewegung erhöht. Insofern ist hier -- wie auch in anderen Extremismusbereichen -- eine Entgrenzung feststellbar. Da es der Bewegung unter anderem um die Herausbildung einer starken türkisch-nationalistischen Interessenvertretung geht, wird seitens der Szene auch dazu aufgefordert, sich sozial und politisch zu engagieren. Hierbei soll keinesfalls die türkische Identität abgelegt werden, vielmehr geht es darum, türkisch-nationalistische Interessen, also auch den eigenen Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen Völkern, in diversen (auch politischen) Einrichtungen und Institutionen zu vertreten. 192 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Mit der öffentlich artikulierten Abkehr von Gewalt und dem legalistischen Auftreten der Vereine können auch bisher weniger türkisch-nationalistisch eingestellte Personen beeinflusst werden. Aktivitäten und Ideen sind mit den jeweiligen Mutterparteien in der Türkei verknüpft. Ungeachtet ihrer undemokratischen Ausrichtung können Ülkücü-Vereine somit zur Interessenvertretung ganzer Bevölkerungsteile in NRW werden. Internationale Konflikte, Situationen in der Türkei, aber auch sozialgesellschaftliche Debatten können prinzipiell Auslöser für Auseinandersetzungen sein. Auch bei einer derzeit moderat agierenden Ülkücü-Anhängerschaft ist hierbei stets Gewaltpotenzial einzukalkulieren. Sowohl Zielvorstellung als auch Methodik der Ülkücü-Bewegung und damit der Versuch der Einflussnahme auf nicht-extremistische Gruppen können also als Indizien für eine Entgrenzung bewertet werden. Entgrenzungstendenzen sind in vielen Extremismusformen erkennbar. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz begegnet der beschriebenen Entgrenzungsstrategie mit einer themenübergreifenden Analyse tagesaktueller Geschehnisse und Prozesse in der Türkei. auslandsbezogener extremIsmus 193 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe) Sitz/Verbreitung Landesweit mit Schwerpunkten in Ballungszentren Gründung/Bestehen seit 1978 Gründung der Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e. V. (Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu - ADÜTDF), die die ursprüngliche Kernorganisation der Ülkücü-Bewegung darstellt. Die Ülkücü-Bewegung ging aus der Turkistenbeziehungsweise Turanisten-Bewegung des ersten Jahrzehntes des 20. Jahrhunderts hervor. Die ADÜTDF ist die Deutschland-Organisation der türkischen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetci Hareket Partisi - MHP). 1987 Abspaltung und Gründung der Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e. V. (Avrupa Türk Islam Kültür Dernekleri Birligi -- ATIB) von der heutigen ADÜTDF. Die ATIB ist im Gegensatz zu der ADÜTDF nicht direkt einer Partei in der Türkei zuzuordnen. Struktur/ Repräsentanz etwa 70 ADÜTDF-Vereine in NRW etwa sieben ATIB-Vereine in NRW und der Dachverband mit Sitz in Köln Mitglieder/Anhänger/ Freie Szene der Ülkücü-Bewegung: Unterstützer 2020 NRW: 1.100 Vereinsgebundene ADÜTDF-Mitglieder: NRW: 2.000 Vereinsgebundene ATIB-Mitglieder: NRW: 600 194 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Veröffentlichungen ADÜTDF: Zeitschriften (zum Beispiel Bülten), Webseiten, Facebook-, Instagramund Twitter-Profile und -Gruppen, YouTube ATIB: Zeitschrift Referans, Webseiten, Facebook-, Instagramund Twitter-Profile und -Gruppen, YouTube Kurzporträt/Ziele Die heterogene türkisch-rechtsextremistische Ülkücü-Bewegung zeichnet sich durch ihr turanistisches Weltbild aus: Die politische und geschichtliche Bedeutung des Osmanischen Reiches ist narrative Grundlage für die Überlegenheit der türkischen Nation. Zentrales Merkmal der Bewegung ist somit die Idealisierung der eigenen türkischen Identität bei gleichzeitiger Herabwürdigung anderer Volksgruppen und politischer Gegner. Ziel ist die Vereinigung aller Turkvölker in einem Staat, der die Grenzen des ehemaligen Osmanischen Reiches hat. Während die ADÜTDF in ihrer Interpretation der Ülkücü-Ideologie dem Türkentum einen hohen Stellenwert zuschreibt, betont die ATIB den religiösen Aspekt, den Islam als prägendes Leitmotiv. Sowohl Akteure der ADÜTDF als auch der ATIB beziehen sich auf Vordenker, Märtyrer und Schriftsteller der Ülkücü-Ideologie und bedienen sich ihrer Symbolik, wie zum Beispiel dem Wolfsgruß. Finanzierung ADÜTDF: Mitgliedsbeiträge und Spenden ATIB: Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Aufgrund ihres extremistisch-nationalistischen Gedankenguts bestehen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht, dass es sich bei der Ülkücü-Bewegung um eine Gruppierung handelt, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung beziehungsauslandsbezogener extremIsmus 195 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 weise gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richtet und zugleich gegen den im Grundgesetz garantierten Gleichheitsgrundsatz verstößt. Somit erfüllt diese Bewegung mit ihren Gruppierungen die Voraussetzung zur Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und NR. 4 VSG NRW). Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Ereignisse in der Türkei werden wie in den Jahren zuvor zum Leitgegenstand der Ülkücü-Bewegung gemacht. So waren im Berichtszeitraum der Berg-Karabach-Konflikt, die Debatte um Meinungsfreiheit in Frankreich aufgrund der Mohammed-Karikaturen sowie das per Dekret erlassene Verbot der Bewegung in Frankreich und die Verbotsdiskussion in Deutschland wesentliche Themen. Die Corona-Pandemie tangierte die Ülkücü-Bewegung insofern, als sie das Vereinsleben ihrer Mitglieder teilweise vollständig zum Erliegen brachte. Die von der nordrhein-westfälischen Landesregierung verordneten Maßnahmen wurden größtenteils umgesetzt, und zum Teil konnte beobachtet werden, dass die vereinsgebundene Anhängerschaft Nachbarschaftshilfe angeboten hat. Die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie angeordnete Reisewarnung bezüglich der Türkei wurde hingegen stark kritisiert und teilweise als Diskriminierung der türkischen Bevölkerung in NRW gewertet. Im Zuge der Kommunalwahlen in NRW im September 2020 wurde vermehrt über politische Funktionsträger berichtet, die zur Wahl stehen und einen Bezug zur Ülkücü-Bewegung haben oder in ihrer Vergangenheit hatten. Der im Juli 2020 erneut auflodernde Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Berg-Karabach sorgte bei der freien Ülkücü-Szene für Solidaritätsbekundungen gegenüber Aserbaidschan. Über digitale Kanäle wurde nicht nur gegen die armenische Staatsmacht und die armenischen Streitkräfte gehetzt, sondern jedwede Tat aserbaidschanischer Soldaten oder des Regierungspräsidenten systematisch als Erfolg gefeiert, unbeachtlich der Verluste auf armenischer Seite. Am 4. November 2020 wurden die Grauen Wölfe in Frankreich per Dekret verboten. Das Verbot steht nicht nur im Zusammenhang mit der Debatte um Mohammed-Karikaturen, sondern zugleich können die Ausschreitungen zwischen Grauen Wölfen und armenischen Migranten in Frankreich im Rahmen des Berg-Karabach-Konflikts als Auslöser des Verbotserlasses betrachtet werden. Neben Angriffen türkischer Rechtsextremisten in Frankreich soll ein an den Völkermord in Armenien erinnerndes Mahnmal in der Nähe von Lyon mit der Aufschrift "Loup Gris" (Grauer Wolf) und den Initialen des türkischen Staatspräsidenten verunstaltet worden sein. 196 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 In NRW kam es nicht zu Vorkommnissen dieser Art. Mahnmal gegen den Völkermord an den Armeniern in der Nähe von Lyon mit den aufgesprühten Initialien des türkischen Präsidenten und den Wörtern "Loup Gris" Der Antrag des Deutschen Bundestages "Nationalismus und Rassismus die Stirn bieten - Einfluss der Ülkücü-Bewegung zurückdrängen" vom 17. November 2020 reiht sich in die Verbotsdiskussion um die Grauen Wölfe in Deutschland ein. In einer Pressemitteilung vom 20. November 2020 kritisiert die ADÜTDF die Vorwürfe gegenüber ihrer Organisation: In dieser Pressemitteilung wird argumentiert die ADÜTDF lehne Rassismus, Faschismus und alle Formen von Gewalt und Terror gemäß ihrem Glauben und ihrem kulturellen Verständnis ab. Sie würde alle Arten von Aktivitäten und Diskursen, die den sozialen Frieden gefährden könnten, vermeiden. Die ADÜTDF behauptet , dass die im Bundestag getätigten Anschuldigungen darauf abzielen, die soziale und individuelle Würde der türkischen Gesellschaft einschließlich ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie die Verpflichtung der Staatsmacht im Rahmen der Gedankenund Meinungsfreiheit in Deutschland zu schädigen. Aus Sicht des Verfassungsschutzes NRW steht die ideologische Basis und Ausrichtung der ADÜTDF allerdings im Widerspruch zu den Werten einer demokratischen Gesellschaft und dem Gedanken der Völkerverständigung. Auch wenn nach außen hin ein Bild gezeichnet wird, in dem die ADÜTDF sich als nicht integrationsfeindlich darstellt, ist die von ihr auslandsbezogener extremIsmus 197 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 propagierte Ideologie auf eine Überhöhung der Türkischen Ethnie ausgerichtet und damit integrationshemmend. Neben der ADÜTDF wird im Antrag des Deutschen Bundestages auch die ATIB als ein Dachverband der Ülkücü-Bewegung erwähnt. In Presseverlautbarungen wehrte sich die ATIB bereits gegen den Vorwurf, überhaupt der Ülkücü-Bewegung zugeordnet zu werden. Auf ihrer Webseite propagiert die ATIB die Wahrung der kulturellen und religiösen Identität türkischstämmiger Einwanderer in Deutschland und setzt sich gleichzeitig für Völkerverständigung und Akzeptanz der unterschiedlichen Kulturen ein. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht München (Urteil VG München, Urteil vom 23.05.2019 - M 30 K 17.1230) eine Zuordnung der ATIB zur Ülkücü-Bewegung für rechtmäßig erachtet. In der Begründung wird ausgeführt, es mangele an einer eindeutigen Distanzierung der ATIB zur Ülkücü-Bewegung, es existierten historische, ideologische und personelle Verbindungen der ATIB zur ADÜTDF und zur Ülkücü-Bewegung. Letztlich hat die ATIB sich auch nach Einschätzung des Verfassungsschutzes NRW von der Ülkücü-Ideologie, die gerade eine Überhöhung der türkischen Interessen gegenüber anderen Ethnien zum Inhalt hat, niemals distanziert. So sind beispielsweise Bezüge einzelner ATIB-Akteure zu Vordenkern oder Märtyrern der Ülkücü-Bewegung erkennbar. Auf der Facebook-Seite des aktuellen Vorsitzenden der ATIB liket dieser zum Beispiel unter anderem die Facebook-Seite "Bozkurt". Diese Facebook-Seite trägt als Titelbild den MHP-Vorsitzenden, Devlet Bahceli, welcher den Wolfsgruß -- ein eindeutiges Ülkücü-Symbol -- zeigt. Neben den Reaktionen der Dachverbände konnte im Zusammenhang mit der Verbotsdiskussion in sozialen Medien vereinzelt festgestellt werden, dass Einzelpersonen der freien Szene der Ülkücü-Bewegung die Verbotsdebatte als Türkeibeziehungsweise Islamfeindlichkeit auslegen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Weder der Berg-Karabach-Konflikt noch das Verbot der Grauen Wölfe in Frankreich hatten im Berichtszeitraum Einfluss auf die Situation in NRW: Größere öffentliche Veranstaltungen wie Demonstrationen oder Solidaritätskundgebungen waren nicht feststellbar. Dies zeigt einmal mehr, dass sich die strategische Ausrichtung der Ülkücü-Anhängerschaft verändert hat: So agieren vereinsgebundene Mitglieder nach außen wenig auffällig, nicht offen gewaltaffin und aggressiv. Die ADÜTDFund die ATIB-Vereine präsentieren sich vielmehr als legale, demokratische und den jeweiligen gesell198 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 schaftspolitischen Werten angepasste Organisationen.. Instrument ihrer Auseinandersetzung ist verbale Kritik. Über unterschiedliche Vereinsangebote (zum Beispiel Sport, Nachhilfe) gelingt es ihnen, diverse Zielgruppen wie beispielsweise deutsche Kinder, Jugendliche mit türkischen Wurzeln anzusprechen. Ihr übersteigertes Nationalbewusstsein und ihre diskreditierende Haltung gegenüber Andersdenkenden erzielt im Kern allerdings eine integrationshemmende Wirkung. Die freie Ülkücü-Szene ist im Gegensatz zur vereinsgebundenen Anhängerschaft unorganisiert und verstärkt im digitalen Raum aktiv. Über soziale Medien werden Überlegenheitsnarrative gegenüber anderen Menschen geäußert. Tagesaktuelle Geschehnisse werden in rassistischer und antisemitischer Art und Weise kommentiert und in den sozialen Medien verbreitet. Es ist fortwährend feststellbar, dass insbesondere der politische Umgang mit der PKK verurteilt wird. Die Haltung der deutschen Sicherheitsbehörden und der Politik wird als zu zurückhaltend bewertet. In diesem Zusammenhang äußert sich die freie Ülkücü-Szene im Internet äußerst abwertend und diskriminierend gegenüber einzelnen Politikern in Deutschland, die beispielsweise türkische oder kurdische Wurzeln haben. Die Aktivitäten der freien Ülkücü-Szene haben sich zunehmend in den digitalen Bereich verlagert. Entwicklungen in Deutschland, in der Türkei oder auch in der gesamten Welt haben weiterhin Einfluss auf die Lage in NRW: Je nach Emotionalisierungsgrad ist das Mobilisierungspotenzial der gesamten Bewegung hoch und bei Demonstrationsgeschehen stets mit einzukalkulieren. auslandsbezogener extremIsmus 199 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Revolutionäre Volksbefreiungspartei/Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKP-C) Sitz/Verbreitung Türkei, europaweite Verbreitung mit Schwerpunkt Mittelund Westeuropa Gründung/Bestehen seit 1994, hervorgegangen aus der 1978 gegründeten revolutionären Linken (Devrimci Sol - Dev-Sol) Struktur/ Repräsentanz Generalsekretär, Zentralkomitee sowie länderund gebietsverantwortliche Funktionäre. Nach dem Tod von Dursun Karatas im Jahr 2008 wurde offiziell noch kein Nachfolger für das Amt des Generalsekretärs bestimmt. Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 200 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Publikationen "Devrimci Sol" (unregelmäßiges Erscheinen) und "Halk Okulu" (bis 2019 "Yürüyüs") Web-Angebot: Eigener Internetauftritt , Nutzung von sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Die in der Türkei und in Deutschland verbotene Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKP-C) verfolgt das Ziel, das bestehende türkische Staatssystem durch eine bewaffnete Revolution zu zerschlagen, um ein sozialistisches System zu errichten. Auf der ideologischen Grundlage des Marxismus-Leninismus propagiert die DHKP-C einen bewaffneten Volkskampf unter ihrer Führung. Die Organisation tritt 200 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 damit für eine revolutionäre Überwindung der türkischen Staatsund Gesellschaftsordnung ein. Hierzu führt sie in der Türkei auch terroristische Aktionen durch. In Deutschland kann die DHKP-C aufgrund des Verbotes nicht offen agieren. Sie handelt daher über Vereine, deren Satzungen keinen Rückschluss auf die Zugehörigkeit zur Organisation zulassen oder deren Verbindungen zur DHKP-C nur schwer nachweisbar sind. Finanzierung Spenden und Erlöse aus dem Verkauf von Publikationen Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Mit ihrem Bestreben gefährdet die DHKP-C sowohl die innere Sicherheit als auch die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 VSG NRW). Die DHKP-C ist eine Nachfolgeorganisation der in der Bundesrepublik Deutschland seit 1983 verbotenen Devrimci Sol. Seit dem Verbot 1983 werden politische Aktivitäten konspirativ fortgesetzt. Die DHKP-C selbst ist in Deutschland seit dem 1. Februar 2000 rechtskräftig verboten. Im Mai 2002 hat der Rat der Europäischen Union die DHKP-C auf die europäische Liste der Terrororganisationen gesetzt. Der politische Flügel der DHKP-C gibt sich selbst den Namen Revolutionäre Volksbefreiungspartei (Devrimci Halk Kurtulus Partisi - DHKP), während sich der militärische Arm der DHKP-C als Revolutionäre Volksbefreiungsfront (Devrimci Halk Kurtulus Cephesi - DHKC) bezeichnet. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Öffentliche Aktivitäten der linksextremistischen DHKP-C in NRW waren im Berichtszeitraum - wie bereits in den vergangenen Jahren - stark von Ereignissen in der Türkei beeinflusst. Zu Beginn des Jahres 2020 konzentrierten sich die Aktionen von Anhängern der Organisation daher erneut auf die Situation der in türkischen Gefängnissen inhaftierten Sympathisanten aus dem Umfeld der DHKP-C. Besonders der Hungerstreik einiger Mitglieder der DHKP-C-nahen Musikgruppe Grup Yorum in der Türkei wurde seitens der Organisation gezielt genutzt, um in Deutschland die öffentliauslandsbezogener extremIsmus 201 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 che Aufmerksamkeit auf die bis dahin ohne große Resonanz gebliebene Kampagne zur Freilassung der Inhaftierten zu lenken. Der im Frühjahr 2019 begonnene Hungerstreik wurde von zwei Mitgliedern der Grup Yorum und einem weiteren DHKP-C-Anhänger im Januar 2020 in ein sogenanntes Todesfasten umgewandelt. Hierbei handelt es sich um eine verschärfte Form des Hungerstreiks, die nicht selten zum Tod der Beteiligten führt. In der Türkei haben sich Anhänger der DHKP-C in den letzten Jahrzehnten bereits mehrfach dieses Mittels bedient, um einen größeren öffentlichen und vor allem medialen Druck für die eigenen Anliegen zu erzeugen. Solidaritätskundgebungen und Demonstrationen für inhaftierte Aktivisten In Nordrhein-Westfalen wurden im Zuge der Unterstützungskampagne für die inhaftierten Aktivisten mehrere Solidaritätskundgebungen von Sympathisanten der DHKP-C durchgeführt. So fanden im Februar 2020 unter anderem vor dem türkischen Generalkonsulat in Düsseldorf und in der Bielefelder Innenstadt kleinere Kundgebungen für Aktivisten statt, die sich in der Türkei im Todesfasten befinden. Die Teilnehmerzahl bewegte sich jeweils im einstelligen Bereich. Eine nennenswerte öffentliche Resonanz konnte hierdurch nicht erzielt werden. Nachdem sich die gesundheitliche Situation der drei Todesfastenden dramatisch verschlechterte und diese in kurzen zeitlichen Abständen im April 2020 und Mai 2020 an den Folgen des Hungerns verstarben, steigerte die Organisation ihre öffentlichen Aktivitäten in Deutschland. Allerdings blieb es aufgrund der ordnungsrechtlichen Beschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie nur bei kleineren Protestkundgebungen vor diplomatischen Einrichtungen der Türkei im süddeutschen Raum und in NRW. Nennenswerte größere öffentliche Aktionen von Aktivisten und Sympathisanten der DHKP-C in NRW fanden in Form von Demonstrationen im Juli 2020 und AuEinladung zur Gedenkund Protestveranstaltung am gust 2020 in Köln statt. Die Teilnehmer23. August 2020 in Köln-Ehrenfeld 202 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 zahl bewegte sich jeweils im unteren dreistelligen Bereich. Auf Plakaten wurde der im Hungerstreik Verstorbenen gedacht und zur Solidarität mit den Aktivisten aufgerufen, die sich noch im Todesfasten befinden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Kundgebungen und Versammlungen im Rahmen des so genannten "Märtyrergedenkens" und die Solidarisierung mit inhaftierten Gesinnungsgenossen nehmen nach wie vor eine zentrale Stellung im Aktionsverhalten von Aktivisten und Sympathisanten der DHKP-C in Deutschland ein. In diesem Kontext spielt NRW für die Organisation aufgrund seiner geographischen Lage und dem hohen Anteil türkischer und türkischstämmiger Einwohner eine wichtige Rolle. Besonders stark emotionsgeladene Ereignisse wie der Tod von Hungerstreikenden in der Türkei werden gezielt genutzt, um die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren und die Geschehnisse in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Trotz der im Berichtszeitraum grassierenden Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen kommt es auch in NRW immer wieder zu kleinen Kundgebungen und Versammlungen von DHKP-C-Aktivisten. Damit einhergehend ist eine erhöhte Nutzung des Internets und speziell von sozialen Netzwerken hinsichtlich Agitation und Mobilisierung zu verzeichnen. Auf einschlägigen Plattformen und Internetseiten werden, analog zu den Kundgebungen im öffentlichen Raum, die gleichen Themen propagandistisch aufbereitet. Anders als in den vergangenen Jahren fanden 2020 jedoch keine Konzerte der DHKP-C-nahen Musikgruppe Grup Yorum in NRW statt. Deutschland dient der Organisation auch weiterhin als wichtiger Rückzugsund Sammlungsraum sowie Rekrutierungsbasis für neue Aktivisten. Auch wenn aktuell nicht mit einer Aufkündigung des 1999 seitens der DHKP-C für Westeuropa erklärten Gewaltverzichtes zu rechnen ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass von hier aus terroristische Aktivitäten geplant und vorbereitet werden. Eine nachrichtendienstliche Beobachtung der Organisation und deren Unterstützerumfeld sind somit auch zukünftig angebracht und notwendig. auslandsbezogener extremIsmus 203 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) und unterstützende Organisationen Sitz/Verbreitung Nordirak, in Europa ist die Organisation durch wenige weisungsberechtigte Funktionäre mit wechselnden Aufenthaltsorten durch den Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa (KCDK-E) vertreten. Gründung/Bestehen seit November 1978 Struktur/ Repräsentanz Höchste Entscheidungsgremien: Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK, Präsident: Abdullah Öcalan, Co-Vorsitzende: Bese Hozat und Cemil Bayik) und die Generalversammlung Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) Europa: autoritäre Führung mittels Kaderprinzip Deutschland: neun Regionen (Eyalet) 31 Gebiete (Bölge), Nordrhein-Westfalen: zwei Regionen (Nordrhein und Westfalen) mit acht Gebieten mit je einem leitenden Führungsfunktionär, örtliche kurdische Vereine für die Umsetzung von Vorgaben der europäischen Führungsebene und als Treffpunkt und Anlaufstelle für Anhänger der Organisation Dachverband: bis zur Auflösung Ende Januar 2020 Demokratisches Gesellschafszentrum der KurdInnen in Deutschland (Navenda Civaka Demokratik a Kurd le Almanya - NAV-DEM e.V.), danach Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e.V. (Konfederasyona Civaken Kurdistaniyen li Almanya - KON-MED) als neuer Dachverband (bereits im Jahr 2019 gegründet): fünf regionale Föderationen im 204 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Bundesgebiet, die den örtlichen Vereinen übergeordnet sind (NRW: Föderation der freiheitlichen Gesellschaft Mesopotamiens in NRW (Federasyona Civaken Azad yen Mezopotamy li NRW - FED-MED e.V., im Juli 2020 beim Amtsgericht Düsseldorf mit Sitz in Düsseldorf eingetragen) KON-MED bemüht sich, wie bereits sein Vorgänger NAVDEM e.V., mittels einer aktiven Öffentlichkeitsund Kampagnenarbeit als auch durch einen Kontaktaufbau zu politischen Entscheidungsträgern um Unterstützung der PKK und ihrer Anliegen. Die PKK versucht, ihre Politik mithilfe sogenannter Massenorganisationen zu popularisieren. Darin organisiert sie ihre Anhänger nach sozialen Kriterien oder nach Berufsund Interessengruppen: > Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK) mit Sitz in Köln > Islamische Gemeinde Kurdistans (CIK) > Zentralverband der Ezidischen Vereine e.V. (NAV-YEK) mit Sitz in Löhne > Föderation der demokratischen Aleviten e.V. (FEDA) mit Sitz in Dortmund. Diese Organisationen vertreten kurdische Interessen ohne integraler Bestandteil der PKK zu sein. Gleichwohl ist doch klar erkennbar, dass auch in diesen Organisationen Personenpotential aktiv ist, das der PKK-nahen Szene zugeordnet werden kann. auslandsbezogener extremIsmus 205 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Weitere Organisationen: Kurdische Frauenbewegung in Europa (AKKH / TJKE) und Europäischer Jugend-Dachverband Bewegung der revolutionären Jugend (Tevgera Ciwanen Soresger - TCS, in Deutschland maßgeblich für Rekrutierungsaktivitäten zum bewaffneten Kampf in der Türkei, Syrien oder dem Irak verantwortlich). Mitglieder/Anhänger/ NRW: 2.200 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Publikationen: Serxwebun (Unabhängigkeit) (monatlich); Sterka Ciwan (Stern der Jugend) (monatlich); Newaya Jin (Erlebnisse der Frauen) (monatlich); Kurdistan-Report (zweimonatlich); Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik) (täglich) Fernsehen: Sterk TV; Gerila TV Internet: zahlreiche Internetauftritte verschiedener regionaler Organisationen und Gruppierungen sowie mediale Präsenz in unterschiedlichen sozialen Netzwerken mit guten Verknüpfungen untereinander Kurzporträt/Ziele Die PKK, die heute unter der Bezeichnung KONGRA-GEL agiert, strebte ursprünglich einen eigenen kurdischen Nationalstaat an, der die Gebiete Südostanatoliens (Türkei), den Nordirak, Teile des westlichen Iran und Gebiete im Norden Syriens umfassen sollte. Im Jahr 1993 hat das Bundesministerium des Innern ein Betätigungsverbot für die PKK und ihre Nebenorganisationen erlassen. 206 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Obwohl seitens der PKK immer wieder betont wird, man habe die früheren separatistischen Ziele aufgegeben, bemüht sie sich weiterhin um einen länderübergreifenden Verbund aller Kurden im Nahen Osten. Darüber hinaus sind die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Führers Abdullah Öcalan und die Aufhebung des Betätigungsverbots zentrale Ziele. Finanzierung jährliche Spendenkampagne bei den Anhängern, Erlöse aus Zeitschriftenund Devotionalienverkäufen, Eintrittsgelder bei Großveranstaltungen zur logistischen und finanziellen Unterstützung der Organisation, wesentlicher Schwerpunkt der Aktivitäten der PKK in Deutschland Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die PKK ist mit der Verbotsverfügung nach SS 18 Satz 2 VereinsG vom 22. November 1993 durch das Bundesministerium des Innern mit einem Betätigungsverbot belegt. Das Betätigungsverbot erstreckt sich ebenfalls auf sämtliche späteren Umbenennungen der Organisation und umfasst alle 1993 benutzten Symbole als auch neu hinzugekommene Kennzeichnungen der PKK. Mittels Umbenennung verfolgte die PKK das Ziel, den Eindruck einer politischen Neuausrichtung zu vermitteln und sich des Makels einer Terrororganisation zu entledigen. Die PKK ist zudem seit 2002 von der Europäischen Union auf der Liste von Personen, Vereinigungen und Körperschaften verzeichnet, die an Terrorhandlungen beteiligt waren und restriktiven Maßnahmen unterliegen sollen (EU-Terrorliste). In Westeuropa ist seit Ende März 1996 ein Kurswechsel der Organisation zu weitgehend gewaltfreiem Verhalten erkennbar. Die PKK stellt jedoch aufgrund ihrer fortwährenden Bereitschaft, zu aktionsorientiertem und gewaltbereitem Verhalten zurückzukehren, nach wie vor eine Bedrohung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Dies begründet ihre Beobachtung gemäß SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW. Ihre Ziele verfolgt die PKK in den Kampfgebieten nach wie vor mit Waffengewalt. Damit gefährdet die Organisation die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland, auslandsbezogener extremIsmus 207 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 so dass auch aus diesem Grund eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz nach SS 3 Abs. 1 Nr. 3 VSG NRW erforderlich ist. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Aktivitäten der PKK-nahen Organisationen in Deutschland und Nordrhein-Westfalen waren im Jahr 2020 von diversen Faktoren bestimmt. Maßgeblich beeinträchtigt wurde insbesondere das Aktionsgeschehen durch die COVID-19-Pandemie und den daraus folgenden staatlichen Maßnahmen. Darüber hinaus beeinflussten die türkischen Militäroffensiven gegen PKK-Stellungen im Nordirak, die Verschärfung des Kennzeichenverbotes durch das Bundesministerium des Innern, als auch das andauernde generelle PKK-Betätigungsverbot die Aktivitäten. Hier gewinnen mit Hinblick auf Kommunikation, Verbreitung von Informationen und der kurzfristigen Mobilisierungsfähigkeit digitale Medien zunehmend an Bedeutung. Auswirkungen der COVID-19-Pandemie Die staatlichen Einschränkungen zu Beginn der Pandemie veranlassten die PKK ab März 2020 zur Einstellung sämtlicher öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten und zur Schließung örtlicher kurdischer Vereine. In Folge dessen fiel das Aktionsgeschehen in 2020 pandemiebedingt deutlich geringer aus als im Vorjahr. Wichtige und jährlich wiederkehrende Großveranstaltungen fanden in 2020 allenfalls in dezimierter und dezentraler Form statt oder fielen gänzlich aus. Zu den bedeutsamen Großveranstaltungen zählen: > März: Traditionelles kurdisches Neujahrsfest Newroz > Juni: Zilan Frauenfestival > Juli: Internationales Jugendfestival/Kulturfest Mazlum Dogan > September: Internationales Kurdisches Kulturfestival. Gezwungenermaßen konnte das traditionelle kurdische Neujahrsfest Newroz nicht in seiner geplanten Form als Großveranstaltung realisiert werden. Um nicht gänzlich auf das Fest verzichten zu müssen, rief der kurdische Volkskongress KONGRA-GEL im März zu dezentralen und kreativen Veranstaltungen auf: 208 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 "Aufgrund der Corona-Pandemie finden in diesem Jahr keine Massenveranstaltungen zu Newroz statt. Diese Entscheidung war zum Schutz der Bevölkerung unumgänglich. Wir wissen jedoch, dass das Newrozfeuer in den Herzen der Menschen lodert. Unser Volk muss unter den gegebenen Umständen kreative Formen des Feierns finden und sich auf den diesjährigen Kampf vorbereiten. [...] In diesem Rahmen rufen wir unser Volk auf, Newroz mit neuen und kreativen Methoden zu feiern." Im Sommer 2020 kehrte die PKK langsam wieder zu öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten zurück. So wandte sich FED-MED e.V. an nordrhein-westfälische politische Entscheidungsträger, um sich als vermeintlich verlässlicher Ansprechpartner zu positionieren und so insgesamt eine Aufwertung der Organisation zu erreichen. FED-MED e.V. bot seine gesamten Strukturen samt den dazugehörigen Räumlichkeiten in Nordrhein-Westfalen für den gemeinsamen Kampf gegen die Pandemie an. Ebenfalls wurden ab Sommer 2020 die örtlichen Vereine wieder für Mitglieder und Veranstaltungen geöffnet. Graduell wurden vereinzelt auch wieder anlassbezogene Protestkundgebungen durchgeführt. Logo der FED-MED e.V. Das Internationale Kurdische Kulturfestival konnte in 2020 ebenfalls nicht in Form einer Großveranstaltung stattfinden. Das Festival wurde zunächst für Mitte September in Düsseldorf durch FED-MED e.V. angemeldet, jedoch pandemiebedingt durch die Stadt Düsseldorf abgelehnt und untersagt. Außerhalb Nordrhein-Westfalens konnte Anfang September 2020 der traditionelle Lange Marsch der kurdischen Jugend veranstaltet werden. Unter dem Motto "Für die Freiheit Reber Apos! Zusammen Serhildan!" (Reber: in etwa Führer; Apo: verbreitete Bezeichnung für Abdullah Öcalan; Serhildan: Rebellion) startete der Protestmarsch mit Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet in Hannover und endete in Hamburg. Der Marsch verlief großenteils störungsfrei. Am 10. September 2020 kam es in Bardowick (Niedersachsen) zwischen einer Gruppe von Marsch-Teilnehmern und der Bundespolizei zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Auslöser hierfür war die Ausauslandsbezogener extremIsmus 209 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 schließung der Gruppe von der weiteren Zugfahrt durch Zugpersonal, da die Gruppe nicht im Besitz von gültigen Fahrausweisen war und die Tragepflicht eines Mund-Nasen-Schutzes nicht einhielt. Die Gruppe widersetzte sich gewalttätig der hinzugerufenen Polizei. Hier wurden zahlreiche Strafverfahren eingeleitet. Türkische Militäroffensiven Die Angriffe türkischer Truppen auf kurdische Siedlungsgebiete außerhalb der Türkei und die sich daraus ergebenden Kampfhandlungen mit Guerillaeinheiten der PKK dauerten im Berichtszeitraum 2020 an. Der Konflikt zwischen der Türkei und der PKK besteht seit mehreren Jahrzehnten und erstreckt sich neben der Türkei auch auf deren Nachbarstaaten Irak, Iran und Syrien. Der Nordirak - insbesondere das Kandil-Gebirge - gilt als Sitz der PKK-Führung und ist Teil der autonomen kurdischen Region im Irak. Im Jahr 2020 wurde die Lage rund um die Kampfhandlung durch die jüngsten türkischen Militäroffensiven verschärft. Im Rahmen der Luftoffensive "Adlerklaue" und der darauffolgenden Bodenoffensive "Tigerkralle" wurden seit Juni 2020 seitens des türkischen Militärs Angriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak durchgeführt. Angegriffen wurden überwiegend Stellungen im Kandil-Gebirge, nahe der iranischen Grenze im Osten, aber auch im westlich gelegenen Shingal und südlich von Erbil. Als Reaktion auf die Kampfhandlungen im Nordirak richteten Anhänger der PKK zahlreiche demonstrative Veranstaltungen in Nordrhein-Westfalen aus. Diese fanden bis Anfang Juli nahezu täglich vorwiegend in Form von dezentralen Kundgebungen statt. Unter anderem wurde im Juni 2020 eine Protestaktion in Düsseldorf mit einer Teilnehmerzahl im höheren dreistelligen Bereich durchgeführt. Größtenteils verliefen die Veranstaltungen friedlich. Wie bereits im Jahr 2019 gab es auch in 2020 unterstützenden Zuspruch aus dem Lager der deutsch-linksextremistischen Szene. Registriert wurde zum einen eine wahrnehmbare Teilnahme aus der Szene bei Veranstaltungen, zum anderen wurden auch Veranstaltungen durch die deutsch-linksextremistischen Szene angemeldet. Im Vergleich zu thematisch gleichgelagerten Veranstaltungen im Berichtzeitraum 2019 war das Mobilisierungspotenzial in 2020 deutlich geringer. Dies lässt sich unter anderem auf die staatlichen Maßnahmen im Kontext der Pandemie zurückführen. Aufgrund der Beschränkungen war die Umsetzung von Veranstaltungen nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. 210 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Angriffe auf kurdische Siedlungsgebiete wirkten sich darüber hinaus auf die Spendenbereitschaft der Jahresspendenkampagne 2019/2020 aus. Dieser Faktor als auch die Sorge um den Gesundheitszustand und die Haftbedingungen Abdullah Öcalans beeinflussten die Spendenbereitschaft positiv, sodass die diesjährige Kampagne mehr als 16 Millionen Euro erzielte und somit das Vorjahresergebnis leicht übertraf. Verschärfung des Kennzeichnungsverbotes Auch in 2020 war das durch das Bundesministerium des Innern (BMI) verschärfte Verbot des Zeigens von Symbolen aus dem Bereich der PKK und deren nahestehenden Organisationen ein andauerndes Thema. Das BMI konkretisierte zunächst im März 2017 und erneut im Januar 2018 das PKK-Kennzeichnungsverbot. Grundlage dieser Konkretisierung ist das bereits seit dem Jahr 1993 geltende Betätigungsverbot. Inhaltlich umfasst das Betätigungsverbot auch das öffentliche Zeigen von Symbolen der PKK sowie ihrer Unterund Teilorganisationen. Das generelle Betätigungsverbot wurde im Berichtszeitraum anlässlich des 27-jährigen PKK-Verbots ebenfalls in den Fokus der Aktivitäten gerückt. Hierzu rief KON-MED im November zu einem dezentralen Aktionstag unter dem Motto "Unsere Utopie gegen ihre Repression" auf. Bundesweit fanden zahlreiche Versammlungen mit Teilnehmerzahlen im zweistelligen Bereich statt. Aufruf von KON-MED zu einer Kundgebung gegen das PKK-Verbot im November 2020 auslandsbezogener extremIsmus 211 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Nutzung digitaler Medien Die PKK nutzt einen aufwändigen Medienapparat, in welchem digitale Medien (Facebook, Twitter, Instagram, Facebook-Messenger, WhatsApp, etc.) zunehmend an Bedeutung gewinnen. Diese dienen der Kommunikation und weltweiten Verbreitung von Nachrichten und Informationen. Daneben erhöhen sie die kurzfristige Mobilisierungsfähigkeit der PKK-nahen Gruppierungen. Insbesondere die Nutzung sozialer Netzwerke zielt auf die jüngere Anhängerschaft der PKK. Diese werden zur Rekrutierung Jugendlicher für den bewaffneten Kampf, für kurzfristige und flächendeckende Veranstaltungsaufrufe sowie für die Verbreitung von Stimmungsbildern genutzt. Die PKK nutzt ihren Medienapparat auch weiterhin zu Propagandazwecken. Der PKK-Fernsehsender Sterk TV veröffentlichte Anfang Oktober 2020 erneut ein Rekrutierungsvideo. Bereits in 2019 wurde ein in Aachen gedrehtes Video mit dem Titel "Der Weg der Freiheit" hier veröffentlicht. Die türkische Militäroffensive "Adlerklaue" führte zu einer verstärkten Nutzung sozialer Medien. Die kurdische Gemeinschaft brachte im Netz ihren Unmut zum Ausdruck und rief zu kurzfristigen Protestaktionen in Form von dezentralen Kundgebungen und Demonstrationen auf. Auch hier war Zuspruch aus der deutsch-linken Szene deutlich erkennbar, indem auf sozialen Medien interagiert wurde. Neben der Nutzung offener Seiten und Gruppen wird zunehmend in geschlossenen Gruppen beziehungsweise Chatrooms kommuniziert. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Hinblick auf das künftige Aktionsverhalten muss weiterhin aufmerksam beobachtet werden, welche Wechselwirkungen zwischen PKK-Anhängern und nationalistischen/ rechtsextremistischen Türken innerhalb Deutschlands durch politische Ereignisse erzeugt werden. Das Aktionsverhalten der PKK-Anhänger in Nordrhein-Westfalen wird weiterhin im Wesentlichen von den Entwicklungen in den Krisengebieten Syrien und Nordirak abhängen. Die fortdauernden Angriffe der türkischen Truppen auf kurdische Siedlungsgebiete außerhalb der Türkei entfalten ihre Auswirkungen in der kurdischen Gemeinschaft bis in die Städte Nordrhein-Westfalens. Die jüngsten Militäroffensiven in den kurdischen 212 auslandsbezogener extremIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Siedlungsgebieten im Nordirak befeuern wiederholt den historisch gewachsenen und andauernden Konflikt und sind in der Gesamtschau betrachtet auch dazu geeignet, die Sicherheitslage in Deutschland nachhaltig zu beeinflussen. Nicht zuletzt ist die Frage um den gesundheitlichen Zustand Abdullah Öcalans und dessen Haftbedingungen ebenfalls ein wiederkehrendes Thema innerhalb der kurdischen Gemeinschaft. Es muss damit gerechnet werden, dass die PKK wie in der Vergangenheit immer wieder auf medienwirksame Aktionsformen wie zum Beispiel Besetzungsaktionen von Fernsehanstalten, Flughäfen, Parteibüros oder Schiffen zurückgreift. Auch die anlassbezogene direkte gewaltsame Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner ist in Betracht zu ziehen. Bei ihren Handlungsformen wird sich die PKK-Führung hier aber aller Voraussicht nach weiterhin davon leiten lassen, Deutschland als Rückzugsraum nicht zu gefährden. Politische Einflussnahme beziehungsweise Lobbyarbeit ist ein Aktionsschwerpunkt der PKK in Deutschland und verfolgt insbesondere weiterhin das Ziel, die Einstufung als Terrororganisation zu beenden. auslandsbezogener extremIsmus 213 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 214 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Islamismus IslamIsmus 215 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zusammenfassung Vom jihadistischen Salafismus und dem darauf basierenden internationalen Terrorismus geht nach wie vor eine hohe Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland aus. Auch nach dem Verlust seines gesamten Territoriums stellt der sogenannte Islamische Staat (IS) mit seinen im Untergrund weiterhin existenten und sich gegenwärtig reorganisierenden Strukturen eine Bedrohung dar. Trotz der Corona-Pandemie konnte sich der sogenannte IS im Jahr 2020 in seinem Kerngebiet im Irak und in Syrien konsolidieren. Vor diesem Hintergrund versuchen Akteure des sogenannten Islamischen Staates auch international wieder Fuß zu fassen. Mit dem Anschlag in Wien hat der sogenannte IS nach längerer Zeit wieder eine terroristische Aktion in Europa durchgeführt. Der Attentäter veröffentlichte kurz vor seiner Tat ein Bekennervideo. Auch Al-Qaida und ihre Untergruppierungen stellen weiterhin eine Gefahr dar. Al-Qaida-nahe Gruppierungen sind nach wie vor in der Region Idlib im Norden Syriens aktiv. Dort sind auch aus Deutschland/NRW ausgereiste Jihadisten aktiv. Da Al-Qaida grundsätzlich eine global-jihadistische Agenda verfolgt, bleibt sie für Europa gefährlich. Trotz der militärischen Niederlage des sogenannten IS ist die Organisation, ebenso wie Al-Qaida, für extremistische Salafisten und Jihadisten in Deutschland weiterhin attraktiv und anschlussfähig. Es finden sich in den beobachteten Szenen Sympathisanten beider Terrororganisationen. Rückkehrer und Rückkehrerinnen, die sich dem sogenannten IS oder anderen islamistischen Terrorgruppierungen in Syrien oder dem Irak angeschlossen hatten, sowie deren Kinder stellen eine zukünftige Herausforderung und potenzielle Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland dar, auch wenn Corona-bedingt im Jahr 2020 nur vereinzelte Rückführungen nach Deutschland stattgefunden haben. Salafistische Akteure sind in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus gut vernetzt. Die Corona-Pandemie hat die Entwicklung der salafistischen Szene nicht aufgehalten. Es gibt Hinweise auf neue Netzwerke von Akteuren innerhalb der Szene und verstärkte Bemühungen, mehr Anhänger zu gewinnen. Die zunehmende Konsolidierung betrifft sowohl die politisch-salafistischen Netzwerke, als auch jihadistisch orientierte Personengruppen. Die Anschläge in Dresden, Frankreich und Österreich im Herbst 216 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 des Jahres 2020 zeigen, dass die terroristische Gefahr für Europa aus diesem Bereich immer noch allgegenwärtig ist. Auch im nicht-jihadistischen Salafismus waren trotz der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie vielfältige Aktivitäten zu erkennen. Verschiedene Organisationen zeigten sich bestrebt, in die im Berichtszeitraum zu beobachtende Debatte um den legalistischen Islamismus einzugreifen und ihre eigenen Positionen zu rechtfertigen oder zu relativieren. Anhänger der Hizb ut-Tahrir nutzten mehrere Ereignisse, um für ihre Ziele zu mobilisieren. Der rechtsextremistische Anschlag am 19. Februar 2020 in Hanau wurde als Beleg für das Narrativ einer in Deutschland weit verbreiteten Islamfeindlichkeit gedeutet, die hiesigen Muslimen als Weckruf dienen müsse, um sich zusammenzuschließen. Auch die durch die Ermordung eines Lehrers in Frankreich ausgelöste Debatte um den Umgang mit islamistischen Strukturen wurde als weiteres Indiz einer vermeintlichen Bedrohung des Islam gewertet. Auf Kritik stießen insbesondere die Äußerungen des französischen Präsidenten zur Bekämpfung des Islamismus, weshalb auch in Deutschland gegen diesen demonstriert und agitiert wurde. Das am 30. April 2020 verkündete Betätigungsverbot gegen die schiitische Terrororganisation Hizb Allah hatte weniger strukturelle Konsequenzen, bedeutet aber einen erheblichen Rückschlag für deren Unterstützer im Bundesgebiet, da eine propagandistische Betätigung für die Organisation künftig deutlich erschwert wird. Einer bisher zu beobachtenden Argumentation, die versuchte, den politischen Flügel der Hizb Allah als Vertreter legitimer Interessen und politischen Ansprechpartner aufzuwerten, ist damit die Grundlage entzogen worden. Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y IslamIsmus 217 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Im Fokus: Jihadistische Anschläge in Europa Europa ist weiterhin durch islamistischen Terrorismus bedroht. Mit dem militärischen Niedergang des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Jahr 2019 und der langfristigen Schwächung von Al-Qaida war in Europa vielfach die Hoffnung verbunden, dass auch der islamistisch motivierte Terrorismus gebannt werden könnte. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die letzte große Welle islamistischer Anschläge in Europa ereignete sich in den Jahren 2015 und 2016. Damals griff eine Gruppe von Kämpfern des sogenannten IS in Paris zivile Ziele an. Deutschland war erstmals massiv betroffen mit einer Serie von Anschlägen, die im Dezember 2016 in das Attentat von Anis Amri auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin mündete. Auch wenn sich ein solches Ausmaß der Gewalt bisher nicht wiederholte, war das Jahr 2020 wieder von einer Serie islamistisch motivierter Terrorakte geprägt. In Frankreich vollzog sich erneut eine Welle der Gewalt anlässlich des Gedenkens der Attentate auf die Charlie-Hebdo-Redaktion. Die Wiederveröffentlichung der sogenannten Mohammed-Karikaturen führte zu einer Reihe von tödlichen Angriffen auf Zivilisten und mündete am 16. Oktober 2020 in die Enthauptung eines Schullehrers, der die Karikaturen im Unterricht behandelt hatte. In jihadistischen Netzwerken weltweit wurde der Täter als Held und Märtyrer gefeiert. Trauerbekundungen vor der Schule des in Frankreich ermordeten Lehrers 218 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 In Nizza wurden am 29. Oktober 2020 drei Menschen durch einen Einzeltäter in einer Kirche bei einem Messerangriff getötet. Der Angreifer bedrohte die kurz nach der Tat eintreffenden Polizeibeamten und wurde von diesen schließlich niedergeschossen. Auch hier ist von einem jihadistischen Angriff auszugehen, auch wenn der Täter noch nicht zum Tatmotiv vernommen werden konnte. Bereits am 4. Oktober 2020 griff ein als islamistischer Gefährder bekannter Mann in Dresden zwei Männer an, tötete eine Person und verletzte eine andere schwer. In diesem Fall könnte eine homophobe Einstellung das Tatmotiv gewesen sein. Tatmittel war hierbei wiederum ein Messer. Polizeieinsatz während des Attentates in Wien am 2. November 2020 Am 2. November 2020 schließlich verübte ein ebenfalls als islamistischer Akteur bekannter Mann in Wien einen terroristischen Angriff, indem er mit Schusswaffen und Messern bewaffnet durch die Innenstadt zog und vier Personen tötete. Viele andere wurden zum Teil schwer verletzt. Der Attentäter bekannte sich mittels eines Internet-Videos offen zu seiner Tat. Er legte dabei ein eindeutiges Bekenntnis in Form eines Treueeids zum sogenannten IS ab. IslamIsmus 219 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Diese Anschläge belegen, dass die Gefahr durch den islamistisch motivierten Terrorismus in Europa nach wie vor nicht gebannt ist. Die deutschen Sicherheitsbehörden sind gefordert, islamistische Szenen weiterhin im Blick zu behalten und auch die Entwicklungen im Ausland dabei zu berücksichtigen. Obwohl der sogenannte IS militärisch geschlagen worden ist und sein Territorium verloren hat, bestehen im Untergrund und in einigen Regionen Syriens und des Irak Strukturen der Organisation fort. Auch die Propaganda wird - wenn auch niedrigschwelliger - weiterhin in sozialen Netzwerken im Internet verbreitet und konsumiert. Hinzu kommen die Gefangenenlager im Norden Syriens, in denen frühere IS-Kämpfer sowie deren Frauen und Kinder auf engstem Raume zusammengesperrt sind. Das führt zu einem potenziellen Nährboden zur Verfestigung und Ausbreitung der Ideologie innerhalb der Gefangenenlager. Al-Qaida ist durch die ihr nahe stehende terroristische Rebellengruppierung Hai'at Tahrir al-Sham (HTS) auch territorial noch vertreten. So ist in der Region Idlib in Syrien ein Landstrich nach wie vor unter der Kontrolle dieser und anderer syrischer Rebellengruppen, darunter verschiedene Al-Qaida-Ableger. Hier sind unter anderem Personen aus Nordrhein-Westfalen immer noch aktiv. Auch wenn der Fokus dieser Gruppierungen zurzeit eindeutig auf dem regionalen Konflikt mit dem syrischen Regime liegt und nicht auf dem globalen Jihad, geht langfristig von diesem Personenpotenzial eine Gefahr für Europa aus. Denn Al-Qaida verfolgt nach wie vor eine internationale Terroragenda, die explizit die Absicht zu Anschlägen auf westliche Ziele beinhaltet. Durch den militärischen Rückschlag ist der Mythos des sogenannten IS in Europa stark angegriffen. Auch in Deutschland hat die Gruppierung einen Teil ihres vormaligen Nimbus eingebüßt. Dennoch besteht weiterhin eine rege Unterstützerszene, die an ein Wiedererstarken des sogenannten IS glaubt und für die Organisation mobilisierungsfähig bleibt. Während derzeit vor allem das Thema Spendensammlung für inhaftierte Frauen in den Gefangenenlagern im Vordergrund steht, ist zukünftig nicht auszuschließen, dass auch terroristische Anschläge eine größere Rolle spielen werden. 220 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Hierbei ist am ehesten von allein handelnden Tätern auszugehen, die mit einfachen Mitteln wie Fahrzeugen oder Messern vorgehen werden. Wie bereits in der Vergangenheit in der jihadistischen Propaganda postuliert, reichen selbst solche einfach umzusetzenden Anschlagsvorhaben, um das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung nachhaltig zu stören. Insofern bleibt der islamistische Terrorismus weiterhin eine langfristige Gefahr für die innere Sicherheit Europas, Deutschlands und Nordrhein-Westfalens. IslamIsmus 221 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Im Fokus: Betätigungsverbot gegen die Hizb Allah Das Bundesministerium des Innern hat am 30. April 2020 ein Betätigungsverbot gegen die schiitisch-islamistische Hizb Allah erlassen. Damit einher gingen vereinsrechtliche Ermittlungsmaßnahmen gegen vier Vereine im Bundesgebiet, davon zwei Vereine in NRW. Der Hizb Allah ist seither jegliche Betätigung in Deutschland untersagt. Entwicklungen im Vorfeld des Betätigungsverbots Der militärische Arm der Hizb Allah wird schon seit 2013 von der gesamten Europäischen Union (EU) als Terrororganisation eingestuft. Großbritannien stufte die Organisation im März 2019 in ihrer Gesamtheit als terroristisch ein und folgte damit unter anderem dem Beispiel der Niederlande, der USA und Kanadas. Bereits im März 2016 erklärte die Arabische Liga die Hizb Allah zur Terrororganisation. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) urteilte am 16. November 2015, dass sich die Hizb Allah insgesamt gegen den Gedanken der Völkerverständigung richte, unabhängig davon, ob sie im Einzelfall als politische, soziale oder terroristische Struktur in Erscheinung tritt. Bereits im Vorfeld des Betätigungsverbots hatten sich auch hiesige Behörden stärker auf die Hizb Allah fokussiert. Mit Schreiben vom 20. September 2019 erteilte das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gemäß SS 129 b Absatz 1 Satz 3 StGB (Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland) dem Generalbundesanwalt die generelle Ermächtigung zur Verfolgung bereits begangener und zukünftiger Straftaten durch Mitglieder der Vereinigung Hizb Allah und erleichterte damit die juristische Verfolgung von Sachverhalten mit Hizb Allah-Bezug. Zeitgleich stieg das politische Interesse an einem nachhaltigen Vorgehen gegen Aktivitäten der Hizb Allah in Deutschland. Mit Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP sprach sich der Bundestag am 19. Dezember 2019 für ein härteres Vorgehen gegen die Hizb Allah aus. In dem entsprechenden Antrag mit dem Titel "Wirksames Vorgehen gegen die Hisbollah" (Drucksache 19/16046) wurde die Bundesregierung aufgefordert, die Anhänger der schiitischen Terrororganisation mit allen Mitteln des Rechtsstaates zu verfolgen. Dabei sollten unter anderem Geldwäsche bekämpft und eine Terrorfinanzierung von Deutschland aus unterbunden werden. Daneben wurde die Bundesregierung dazu aufgefordert, die bisher vorgenommene Trennung der Organisation in einen politischen und einen militärischen Arm aufzugeben. 222 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Schon vor dem Betätigungsverbot war ersichtlich, dass Hizb Allah-nahe Vereine damit begannen, sich auf die Möglichkeit einer solchen Maßnahme vorzubereiten. So organisierte die "Gemeinschaft libanesischer Emigranten e.V." (GLE) in Dortmund, die am 30. April 2020 im Kontext des Betätigungsverbots durchsucht werden sollte, bereits am 08. Februar 2020 einen Vortrag zu "aufkommenden Fragen in rechtlichen Angelegenheiten". Dabei wurden im Vorfeld des erwarteten Betätigungsverbots Handlungsanweisungen für Hizb Allah-nahe Vereine vorgestellt, die dazu beitragen sollten, deren Ausrichtung zu verschleiern. In diesem Zusammenhang kam zur Sprache, dass sich die entsprechenden Kulturvereine zukünftig nach außen hin nur noch der schiitischen Religionspflege widmen sollten. Die Hizb Allah dürfe in den Räumlichkeiten eines schiitischen Kulturvereins überhaupt kein Thema mehr sein, weshalb Gespräche hierzu nur noch in kleinen und absolut vertrauenswürdigen Kreisen stattfinden sollten. Die Leitung der betreffenden Kulturvereine müsse ab jetzt ausschließlich in der Hand von jungen Menschen liegen, die hier geboren seien und die deutsche Staatsbürgerschaft besäßen, während alle anderen Vereinsmitglieder sich komplett zurückhalten sollten. Dieser Personenkreis sei nicht so leicht angreifbar und könne von den deutschen Behörden nicht unter Druck gesetzt werden. Überhaupt stehe der deutsche Staat unter dem Einfluss Israels und die Hizb Allah sei keine Terrororganisation. Der jungen libanesischen Generation wurde empfohlen, das hiesige Bildungsangebot wahrzunehmen und sich möglichst hochwertig qualifizieren zu lassen, da dies bei der Einbürgerung positiv gesehen werde und auch ein islamischer Staat derartig ausgebildete Bürger dringend benötige. Diese Veranstaltung illustriert anschaulich, dass das Betätigungsverbot für die Hizb Allah-Szene wenig überraschend kam und sie sich bereits im Vorfeld frühzeitig darauf einstellen konnte. Vor diesem Hintergrund ist damit zu rechnen, dass hiesige Hizb Allah-Anhänger zukünftig deutlich konspirativer agieren werden und intensive Maßnahmen ergreifen werden, um ihre extremistischen Aktivitäten vor der Öffentlichkeit verborgen zu halten. Hintergründe zum Betätigungsverbot Der Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat hat mit Verfügung vom 26. März 2020 die Vereinigung Hizb Allah (in Deutschland auch mit Hisbollah, Hezbollah oder Hizbullah bezeichnet) im Geltungsbereich des VereinsG mit einem Betätigungsverbot gem. SS 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 und 3, SS 14 Abs. 1 Satz Var. 1 i.V.m. SS 15 Abs. 1 Satz 1 und SS 18 Satz 2 des Vereinsgesetzes (VereinsG) vom 5. August 1964 (BGBl. I S. 593) beIslamIsmus 223 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 legt. Hintergrund des Betätigungsverbots war insbesondere der Umstand, dass die Tätigkeit der Vereinigung Hizb Allah Strafgesetzen zuwider läuft und sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Nach Bewertung der Verwaltungsund Strafgerichte handelt es sich bei der Hizb Allah um eine internationale terroristische Vereinigung, die das Existenzrecht Israels infrage stellt und zu dessen gewaltsamer Beseitigung aufruft. Das vollziehbare Verbot wurde im elektronischen Bundesanzeiger am 30. April 2020 bekannt gemacht und gilt seit diesem Zeitpunkt. In diesem Zusammenhang kam es in mehreren Bundesländern zu vereinsrechtlichen Durchsuchungsmaßnahmen. Betroffen waren 15 Objekte in Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen, darunter die Räumlichkeiten der Al-Irschad-Moschee in Berlin, die Al-Mustafa-Gemeinschaft in Bremen, das Imam Mahdi Zentrum in Münster und die Vereinsräume der Gemeinschaft libanesischer Emigranten in Dortmund, die als der Hizb Allah zugehörig bewertet werden. In allen Objekten konnten unter anderem Asservate mit zum Teil eindeutigen Hizb Allah-Bezügen sichergestellt werden. Polizeiliche Durchsuchung des Imam Mahdi Zentrums in Münster im Zusammenhang mit dem Verbot der Hizb Allah 224 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Betätigungsverbote werden gegenüber solchen ausländischen Vereinen erlassen, die im Inland nicht über nachweisbare Strukturen verfügen, bei denen allerdings unterhalb der Schwelle förmlicher Strukturen eine Betätigung im Inland nachweisbar ist. Das Ziel eines Betätigungsverbots ist die Unterbindung jeglicher Aktivität des Verbotsadressaten selbst oder zu seinen Gunsten im Inland. Die Rechtsfolgen von Betätigungsverboten sind im Wesentlichen ein Kennzeichenverbot, ein Verbot jeder versammlungsrechtlichen Aktivität, die Vermögensbeschlagnahmung und Einziehung des Vermögens. Verstöße gegen Betätigungsverbote sind strafbar. Das bedeutet, dass künftig auch die Verwendung des Emblems der Hizb Allah als Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation nach SS 86 a StGB untersagt ist. Internationale Reaktionen Die Verbotsentscheidung der Bundesregierung löste ein internationales Medienecho aus. Im Libanon selbst wurden die Maßnahmen in allen libanesischen Zeitungen rezipiert, während zugleich im Fernsehen Aufnahmen der Durchsuchungen übertragen wurden. Die Hizb Allah äußerte sich am 3. Mai 2020 offiziell zu dem Verbot. Generalsekretär Hassan Nasrallah sagte in einer offiziellen Ansprache, der Schritt sei im Zuge des Drucks durch die USA erwartet worden. Deutschland habe bisher jedoch keinerlei Beweise für terroristische Bezüge der Organisation vorweisen können. Es sei daher eine rein politische Entscheidung im Interesse der USA und Israels. Die Hizb Allah verfüge über keinerlei organisatorische Strukturen außerhalb Libanons, um Anhänger der Organisation und des von ihr so bezeichneten Widerstands im Ausland nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Auch international stieß die Maßnahme auf Wiederhall, wobei die daraufhin geäußerten Reaktionen im Wesentlichen von der Haltung gegenüber der Hizb Allah abhingen. Die iranische Regierung, die als wichtigste politische, wirtschaftliche und militärische Stütze der Hizb Allah fungiert, kritisierte das Betätigungsverbot erwartungsgemäß als irrational und bezeichnete es als eine Respektlosigkeit gegenüber dem Libanon und der libanesischen Regierung. Jene Staaten, die der Hizb Allah kritisch gegenüberstehen, äußerten ihre Zufriedenheit über das Betätigungsverbot. US-Außenminister Mike Pompeo begrüßte die Maßnahme und sprach sich generell für harte Maßnahmen gegen Unterstützer der Hizb Allah aus. Der israelische Außenminister Israel Katz dagegen sprach von einem wertvollen und wichtigen Schritt im weltweiten Kampf gegen Terrorismus. Auch IslamIsmus 225 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Saudi-Arabien meldete sich lobend zu Wort und bezeichnete das Verbot ebenfalls als wichtigen Schritt in der internationalen wie auch regionalen Terrorismusbekämpfung. Reaktionen in Deutschland Das Betätigungsverbot für die Hizb Allah wurde in Teilen der schiitischen Szene mit Verärgerung und Vorwürfen aufgenommen, kam für sie aber angesichts der vorherigen öffentlichen Diskussion wenig überraschend. Lediglich mit dem Vollzug im Fastenmonat Ramadan hatte man nicht gerechnet. Allerdings führte die Maßnahme zu einer nachhaltigen Verunsicherung der schiitischen Szene. Die Reaktionen extremistischer Schiiten im Internet und in den sozialen Netzwerken fielen verhalten aus, dennoch waren einige Positionierungen wahrnehmbar. Das Spektrum der Reaktionen reichte dabei von trotzigen "Jetzt Erst-Recht"-Haltungen über Betroffenheit bis hin zu Spott sowie sarkastischen und ironischen Tönen. Am 2. Mai 2020 äußerte sich auch der schiitische Dachverband, die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS), in Form einer Pressemitteilung zu den Durchsuchungen und kritisierte die Vorgehensweise der Sicherheitsbehörden während der Maßnahme, da hier besonders martialische und öffentlichkeitswirksame Mittel eingesetzt worden seien. Eine Distanzierung von der Hizb Allah wurde in diesem Zusammenhang allerdings nicht vorgenommen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Das Verbot der Hizb Allah hat die schiitisch-islamistische Szene zunächst deutlich verunsichert. Es ist davon auszugehen, dass die hiesigen Hizb Allah-Anhänger in Zukunft viel konspirativer agieren und ihre Aktivitäten weniger im Fokus der Öffentlichkeit stattfinden werden. Zudem ist ein Zusammenwachsen der Szene im Angesicht des äußeren Drucks denkbar. Inwiefern mit einer zunehmenden Mobilisierung des schiitisch-islamistischen Spektrums zu rechnen ist, die im Falle einer Zuspitzung der Lage auch in Demonstrationsgeschehen münden könnte, kann bislang nicht abschließend prognostiziert werden, eine solche Entwicklung wäre aber durchaus vorstellbar. Das Betätigungsverbot der Hizb Allah und die daran anknüpfenden Ermittlungsmaßnahmen waren wichtige Schritte bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und stehen für die Wehrhaftigkeit der bundesdeutschen Demokratie. Sie sind zudem ein deutliches Signal dafür, dass antisemitische Agitation und Bestrebungen, die auf eine Vernichtung Israels abzielen, konsequent unterbunden werden. Es bleibt abzuwarten ob es gelingt, die Erkenntnisse zu hiesigen Hizb Allah-Strukturen derart zu verdichten, dass weitere vereinsrechtliche Maßnahmen ermöglicht werden. 226 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Inwiefern ein EU-weites Verbot der Terrororganisation erfolgt, bleibt ebenfalls abzuwarten. Bisher lassen die meisten EU-Länder die Aktivitäten des politischen Arms der Hizb Allah (noch) zu. Vor allem Frankreich mit seinen engen historischen Verbindungen in den Libanon setzte sich bisher für diese Kontinuität weiterhin ein. IslamIsmus 227 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Extremistischer Salafismus Sitz/Verbreitung alle Regionen Nordrhein-Westfalens, Schwerpunkte in den Ballungszentren des Rheinlands und des Ruhrgebiets Gründung/Bestehen seit Ursprung salafistischer Bestrebungen: Historische islamisch-sunnitische Strömungen vor allem Saudi-Arabiens und Ägyptens. Die ideologischen Grundlagen basieren in großen Teilen auf dem sogenannten Wahhabismus. Ursprung jihadistischer Bestrebungen: Mujahidin-Bewegung der 1980er Jahre in Afghanistan In Nordrhein-Westfalen: Ab etwa 2003 erste gezielte deutschsprachige Aktivitäten. Struktur/ Repräsentanz Die extremistische salafistische Szene in Nordrhein-Westfalen ist äußerst heterogen. Im Jahr 2020 werden 14 deutlich erkennbar salafistisch beeinflusste Moscheevereine und vier überregionale Netzwerke beobachtet. Zahlreiche Hauptakteure treten nicht mehr nach außen auf, sondern wirken nur innerhalb der Szenen. Die salafistische Szene insgesamt reicht deshalb über die genannte Größenordnung von 14 Moscheen und vier Netzwerke hinaus. Mitglieder/Anhänger/ Bekannte extremistische Salafisten in NRW: Unterstützer 2020 3.200, davon politisch: 2.430/ gewaltorientiert: rund 770\ 228 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Veröffentlichungen Verbreitung der Ideologie über Web-Angebote und soziale Netzwerke, Vereinsaktivitäten und Vortragsbeziehungsweise Seminarveranstaltungen Kurzporträt/Ziele Der extremistische Salafismus teilt sich ideologisch in eine politische und eine gewaltorientierte/jihadistische Strömung auf. Salafisten vertreten eine anti-demokratische und damit verfassungsfeindliche Ideologie. Sie basiert auf religiösen Versatzstücken, die der islamischen Religion entlehnt sind. Sie streben die Errichtung eines vermeintlich "authentisch-islamischen" Staatssystems an. Politische Salafisten versuchen diese Ziele durch Missionierungsarbeit und den Aufbau von gesellschaftlichen Strukturen, die die Bildung einer Parallelgesellschaft fördern, zu erreichen. Gewaltorientierte Salafisten, die auch als Jihadisten bezeichnet werden, stellen den Jihad im Sinne eines bewaffneten militärischen Kampfes in den Mittelpunkt ihrer Ideologie. Sie sind gewillt, ihre Vision eines islamischen Staatswesens mit Waffengewalt umzusetzen. Der Übergang zwischen den beiden ideologischen Strömungen ist fließend. Finanzierung Spenden aus dem Inund Ausland, wirtschaftliche Betätigung durch den Verkauf von szenetypischen Produkten, Kriminalität Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Anhänger der extremistischen salafistischen Szene verstehen die islamische Religion als Ideologie und die Scharia als gottgegebenes Ordnungsund HerrschaftsIslamIsmus 229 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 system. Dieser Ideologie folgend wird Demokratie als "falsche Religion" und die Teilnahme an Wahlen als "Götzendienst" angesehen. Salafisten folgen damit dem Prinzip der "göttlichen Souveränität": Gesetze können dieser Ideologie folgend nur von Gott ausgehen und niemals von einem von Menschen gewählten Gesetzgeber gemacht werden. Der Salafismus widerspricht aus diesem Grund der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Aus der ablehnenden und offen feindseligen Haltung gegenüber der Gesellschaft und der teilweise hohen Gewaltaffinität resultiert ein großes Konfliktpotenzial, das das friedliche Zusammenleben gefährdet. Von gewaltorientierten Salafisten geht eine tatsächliche Gefährdung für die innere Sicherheit in Deutschland aus. Sie sind bereit, zur Umsetzung ihrer Ziele im Ausland wie auch in Deutschland schwerste Gewalttaten und Anschläge zu verüben und schrecken vor vielfachem Mord nicht zurück. Salafistische extremistische Bestrebungen unterliegen deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Extremistische Salafisten sind in Nordrhein-Westfalen in unterschiedlichen Bereichen und Zusammenhängen aktiv. Im Berichtsjahr waren dabei insbesondere die folgenden Entwicklungen festzustellen: Salafistische Lebenswirklichkeit als Parallelgesellschaft Eine bereits in der Vergangenheit beobachtete Entwicklung stellt die Ausweitung des sogenannten Halal-Sektors in der salafistischen Szene dar. In Nordrhein-Westfalen ließen sich im Berichtszeitraum diverse Aktivitäten der Szene in mit dem Begriff Halal-Sektor zu umschreibenden Lebensbereichen wahrnehmen. Der arabische Terminus Halal bezeichnet alle Handlungen, die nach dem islamischen Recht erlaubt sind. Der Markt für Halal-konforme Produkte und Dienstleistungen ist weltweit sehr groß und umsatzstark. Eine Vielzahl an Anbietern bedient auch in Deutschland die ungebrochene Nachfrage nach entsprechenden Produkten und Dienstleistungen. Diese Aktivitäten erstrecken sich neben dem klassischen Handel mit Fleisch auch auf Bereiche und Themen wie Ernährung, Bekleidung, Fitness, Pilgerreisen (anlässlich der Hadsch und der Umrah), Finanzen, Investitionen in Immobilien im Ausland und allgemeine Lebensführung. Im Hinblick auf die allgemeine Lebens230 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 führung werden unter anderem Kurse zum Erlernen der arabischen Sprache, zur Persönlichkeitsentwicklung sowie Tutorials mit Bezug zu religiösen Fragen angeboten. Durch die Nutzung sozialer Medien und durch die Durchführung von Infotagen, Veranstaltungen und Messen werden Interessierte über die entsprechenden Angebote informiert. Seitens der Anbieter werden Dienstleistungen und Produkte bekannt gemacht, neue Kunden gewonnen und Kontakte geknüpft. Inhaltliche Bezüge der Produkte zur Ideologie des Salafismus oder Islamismus bestehen in der Regel nicht. Es wird allerdings offenbar, dass Betreiber, Vermittler und Veranstalter von Informationsund Beratungsplattformen, Veranstaltungen und Kontaktbörsen vereinzelt im salafistischen Spektrum verwurzelt sind. Diese werden als geeignet angesehen, interessierte Personen ohne extremistische Einstellungen - ähnlich wie bei bekannten salafistischen Missionierungs-Projekten - an das islamistisch-salafistisch geprägte Gedankengut heranzuführen. In solchen Fällen findet eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz statt. Missionierungsnetzwerke Aktivitäten der extremistischen salafistischen Szene im Hinblick auf das Aktionsfeld der Straßenmissionierung sind seit dem Jahr 2017 kaum mehr zu verzeichnen. Ausschlaggebend hierfür scheint das bundesweite Verbot der Missionierungskampagne "Lies!" Ende des Jahres 2016 gewesen zu sein. Es sind Bestrebungen innerhalb der salafistischen Szene NRWs bekannt, im Bereich der sogenannten Streetdawa (Missionierung auf der Straße) wieder Kampagnen zu starten. Pandemiebedingt wurden bislang jedoch keine entsprechenden Aktivitäten festgestellt. Es ist davon auszugehen, dass sich mittelbis langfristig neue, öffentlich tätige Netzwerke in NRW bilden oder aus anderen Bundesländern heraus ihre Aktivitäten in NRW entfalten werden. Hilfsorganisationen Die Sammlung von Geldern und Sachspenden durch sogenannte Hilfsorganisationen ist innerhalb der extremistischen salafistischen Szene ein bedeutendes Tätigkeitsfeld. Zum Akquirieren der Gelder werden unterschiedliche Bezahlwege und -dienste genutzt. Der Geldtransfer ins Ausland erfolgt in der Regel nicht über Banken, sondern im Rahmen von Transporten oder Reisen in die Region. Daneben werden Gelder mithilfe des sogenannten Hawala-Bankings in islamische Länder transferiert. Hierbei handelt IslamIsmus 231 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 es sich um ein informelles System zur Überweisung von Geldern außerhalb des staatlich regulierten Zahlungsverkehrs. Belastbare Erkenntnisse über die Finanzierung salafistischer beziehungsweise jihadistischer Strukturen im Ausland erfordern daher einen hohen Ermittlungsaufwand. Der Verein Ansaar International e.V. (kurz: Ansaar) ist im Jahr 2012 unter dem Namen Ansaar Düsseldorf e.V. (Namensänderung im Jahr 2014) gegründet worden. Vordergründig verfolgt Ansaar den Zweck, humanitäre Hilfe für Muslime weltweit zu leisten. Geschäftsfelder neben dem Kerngeschäft des Spendensammelns sind zuletzt reduziert worden. Der Verein betreibt nur noch ein Ladenlokal und einen Internetshop. Der Verein ist jedoch nach wie vor sehr aktiv und in ganz Deutschland präsent. Das Netz offizieller Sammelstellen, das in den letzten Jahren aufgebaut werden konnte, ist nach wie vor intakt und konnte erneut ausgeweitet werden. Diese Sammelstellen sind über das Bundesgebiet verteilt und teilweise auch im nahen Ausland; eine befindet sich beispielsweise in der Schweiz. Erwähnenswert sind Anzeichen, dass Aktivitäten in die Türkei verlagert beziehungsweise von dort aus durchgeführt werden. Dafür spricht auch eine neue Hauptstelle des Vereins in Istanbul. Ansaar sammelt nach wie vor Spenden über ausländische und elektronische Bankkonten sowie über Bargeldeinnahmen. Es gibt Hinweise darauf, dass Privatpersonen auf ihren eigenen Konten für den Verein sammeln. Im Laufe des Jahres 2020 wurden ebenfalls Spenden über die Konten anderer in Deutschland ansässiger Vereine gesammelt. Darüber hinaus wurden per Live-Übertragung Online-Events durchgeführt, bei denen Gegenstände mit eher ideellem Wert für teilweise hohe Summen versteigert wurden. Die Zusammenarbeit mit weiteren Vereinen in Deutschland spielt im Zusammenhang mit der Akquirierung von Geldern eine bedeutende Rolle. Für das Jahr 2020 sind zum Beispiel das Somalische Komitee und Frauenrechte ANS. Justice zu nennen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang insbesondere der Verein WWR-Help e.V. (World Wide Resistance-Help e.V.). Er wurde im August 2014 gegründet, hat seinen Sitz in Neuss und bezeichnet sich als Hilfsverein zur Unterstützung und Förderung von Kriegsopfern, Kriegshinterbliebenen, Kriegsgefangenen sowie hilfsbedürftigen und notleidenden Menschen in Kriegsund Krisengebieten. In den Vordergrund seiner Außendarstellung stellt Ansaar International die Hilfeleistung für Menschen im Gazastreifen. Aufgrund der nachweislich engen Verknüpfungen wird WWR-Help e.V. als Teilorganisation von Ansaar International bewertet. Darüber hinaus ist eine Ausweitung des Sponsorenund Partnernetzwerks im Umfeld Ansaar International zu beobachten. Durch Finanzströme wird die salafistische Szene in Deutschland mittelbar 232 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 gefördert, da viele als Salafisten bekannte Akteure in diesem Netzwerk aktiv sind. Auch wenn Ansaar schon seit längerer Zeit öffentliche Veranstaltungen mit bekannten extremistischen Salafisten vermeidet, ist keine Abkehr von extremistisch-salafistischen Bestrebungen zu erkennen. Dies legt den Schluss nahe, dass Ansaar International in der salafistischen Szene ein Vakuum füllen konnte, das unter anderem durch den Ausfall der "Lies!"-Kampagne entstanden ist. Gegen den Verein werden seit Anhänger von Ansaar International nutzten mit perfiden Mitteln die Spendenbereitschaft von Muslimen in Deutschland aus dem 10. April 2019 umfangreiche (Facebook-Beitrag) vereinsrechtliche Ermittlungsmaßnahmen durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat geführt. Hierzu wurden mit Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen zahlreiche dem Verein zuzurechnende Objekte durchsucht und Asservate gesichert. Grund für das noch laufende Verfahren sind Hinweise auf Verstöße gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere durch die Weiterleitung von Spendengeldern an die Terrororganisation HAMAS im Gazastreifen. Ein Klageverfahren gegen die Erwähnung in den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzberichten hat der Verein bereits im Oktober 2019 verloren. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat entschieden, dass auch aus materiellen Gründen eine Aufführung als extremistischer Verein gerechtfertigt ist. Die Hilfsorganisation Blue Springs LTD (vormals Afrikabrunnen e.V.) stellt sich seit Beginn als rein humanitäre Hilfsorganisation im extremistischen salafistischen Spektrum dar. Sie widmet sich vordergründig der humanitären Hilfe für Afrika. Zielsetzung ist eigenen Angaben zufolge die Sicherung der Grundversorgung mit Wasser auf dem afrikanischen Kontinent durch den Bau von Brunnen. Darüber hinaus widmete sich Blue Springs LTD in den letzten Jahren verstärkt der Hilfe für notleidende IslamIsmus 233 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Menschen in Syrien. Durch intensive Nutzung der gesamten Bandbreite der sozialen Netzwerke wurde auch im Jahr 2020 eine große Zahl von Spendenaufrufen verbreitet. Unter der Schirmherrschaft von Blue Springs LTD werben vermehrt sogenannte Partnerorganisationen und digitale Spendenteams mit eigenem Namen und Logo um Spendengelder für den Brunnenbau. Die Spendensammler sollen im Anschluss Provisionszahlungen von Blue Springs LTD erhalten. Aufgebaut wie ein Schneeballsystem, versucht Blue Springs LTD durch stetigen Mitarbeiterzuwachs den Kreis an Spendern zu vergrößern, so dass sich ein diffuses und heterogenes Gesamtbild an Spendenteams ergibt. Ebenso hat sich die Spendenakquise insoweit erweitert, dass neben der klassischen Geldspende per Überweisung Gelder über digitale Spendenpools sowie über prozentuale Verkaufserlöse bei muslimischen Bekleidungs-, Dekorationsund Pflegeprodukten erzielt werden sollen. Der salafistische Hauptakteur der Hilfsorganisation hält sich seit 2017 im Ausland auf. Obgleich Blue Springs LTD hauptsächlich in Netzwerken in den sozialen Medien agiert, bestehen weiterhin organisatorische und inhaltliche Bezüge nach ganz Nordrhein-Westfalen. Die Relevanz für die deutsche Szene bleibt konstant hoch. Gefangenenhilfe Eine große inhaltliche Bedeutung für die salafistische Szene hat das Thema Gefangenenhilfe. Durch Propagandaund Unterstützungstätigkeiten für den sogenannten Islamischen Staat und andere jihadistische Organisationen hat sich die Anzahl von Straftätern unter den Salafisten in den vergangenen Jahren vervielfacht. Mit Stand Dezember 2020 waren extremistische Salafisten im hohen zweistelligen Bereich in Haft. Die Gefangenenhilfe hat im Zusammenhang mit den Rückkehrern nach dem militärischen Niedergang des sogenannten Islamischen Staates an Bedeutung gewonnen. Ehemals in jihadistische Kampfgebiete ausgereiste Männer, aber auch viele Frauen mit Kindern befinden sich zurzeit im Irak oder in Nord-Syrien in Internierungslagern oder in Haft. Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit werden perspektivisch nach Deutschland zurückkehren. Rückkehrer aus Kampfgebieten werden in der Regel strafrechtlich verfolgt und erhalten oftmals mehrjährige Haftstrafen. Die große Zahl an Personen, die derzeit angeklagt oder bereits verurteilt sind, wird von Netzwerken betreut, die sich gezielt der Gefangenenhilfe widmen. Gegenwärtig ist die Gefangenenhilfe ebenso wie deren Unterstützung innerhalb der extremistischen salafistischen und jihadistischen Szene als ein bindendes Element zu werten. 234 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Der zum Islam konvertierte ehemalige Linksterrorist Bernhard Falk alias Muntasir billah (deutsch: "siegreich durch Gott") ist seit Jahren im Bereich der Gefangenenhilfe aktiv. Seiner Diktion zufolge handelt es sich bei dem in Haft befindlichen salafistischen Personenkreis um politische muslimische Gefangene. Falk nimmt als selbsternannter Prozessbeobachter bundesweit an Gerichtsverhandlungen teil und sucht Personen in Justizvollzugsanstalten auf, um dem Resozialisierungscharakter der Haft entgegenzuwirken. Zielsetzung seiner Aktivitäten ist die Verankerung der betreuten Personen in der salafistischen Ideologie. Falk ruft in seinen Internetbeiträgen öffentlichkeitswirksam immer wieder zu Solidaritätsbekundungen für die inhaftierten "Brüder und Schwestern" auf. Außerdem fordert er zur Teilnahme an Gerichtsprozessen auf, um die Betroffenen wissen zu lassen, dass die Umma (Gemeinschaft aller Muslime) sie nicht vergessen habe. Da Falk zu Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen in der Regel keinen Zugang mehr erhält, werden diese Besuche teilweise von Personen aus seinem Umfeld, die seine Gefangenenhilfe unterstützen, vertretungsweise durchgeführt. In seinen im Internet veröffentlichten Videos denunziert er Zeugen, Staatsanwälte, Richter, Pflichtverteidiger und Ermittlungsbehörden. Er bedient Aufruf von Bernhard Falk zur Unterstützung Gefangener er sich dabei vornehmlich erauf Facebook fundener Behauptungen und suggestiver Aussagen. Seine umfangreichen Aktivitäten führten dazu, dass Falk seine Reputation bei anderen Akteuren im Bereich der Gefangenenhilfe ausbauen konnte. Dies hatte Aufrufe zur Unterstützung vorrangig finanzieller Art für ihn zur Folge. Obwohl er in der Szene durch sein Auftreten und seine offenen Sympathiebekundungen für Al-Qaida stark polarisiert, überwiegt das gemeinsame Ziel der Betreuung der Gefangenen über die persönlichen Befindlichkeiten einzelner Personenkreise. Aufgrund seines gewachsenen Ansehens innerhalb der extremistischen salafistischen Szene ist davon auszugehen, dass er auch zukünftig die Rolle eines Mentors einnehmen wird. IslamIsmus 235 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Vereinigung Al Asraa - Die Gefangenen, die im Jahr 2015 erstmals in sozialen Netzwerken aktiv wurde, hat sich auf die Betreuung von inhaftierten Muslimen und deren Angehörigen spezialisiert. Bei dieser Vereinigung handelt es sich um eine Organisation, die sowohl aufgrund der Themensetzung als auch im Erscheinungsbild stark der Gefangenenhilfe Ansarul Aseer ähnelt, die im Zuge des Vereinsverbotsverfahrens zu Tauhid Germany im Jahre 2015 verboten wurde. Seit dem Sommer 2020 sind die Aktivitäten von Al Asraa merklich zurückgegangen. Die Vereinigung scheint sich in einem Auflösungsprozess zu befinden. Islamistische nordkaukasische Szene (INS) Das Kaukasische Emirat wurde im Jahr 2007 unter der Führung von Dokku Umarov mit dem Ziel gegründet, die russische Armee mit Gewalt zum Rückzug aus Tschetschenien zu zwingen und im Nordkaukasus einen islamischen Staat zu errichten. Dabei werden auch terroristische Mittel eingesetzt. Deutschland dient den Anhängern der INS primär zur Akquirierung finanzieller und logistischer Unterstützung. Seit dem Zerfall der Strukturen des Kaukasischen Emirats ab 2015 schlossen sich zahlreiche Emire (Anführer) dem sogenannten Islamischen Staat (IS) an. Damit ist eine spürbare Hinwendung zu global-jihadistischen Organisationen (insbesondere zum sogenannten IS) zu beobachten. Die Orientierung der Anhänger zum Salafismus ist deutlich erkennbar. Eine äußerst heterogene Szene in Deutschland betreibt in Nordrhein-Westfalen Propaganda für die Bewegung im Nordkaukasus. Feste Strukturen sind nicht erkennbar, jedoch sind einzelne herausragende Persönlichkeiten in überregionalen Zusammenhängen aktiv. Durch die anhaltende Schwäche und den Machtverlust des sogenannten IS haben seit 2016 die Ausreisen von Tschetschenen aus Nordrhein-Westfalen in die jihadistischen Kampfgebiete deutlich abgenommen. Auch aktuell ist keine neue Ausreisewelle erkennbar. Perspektivisch ist in der kommenden Zeit mit Rückkehrern und einem Anwachsen der tschetschenischen Diaspora in Deutschland zu rechnen. Es besteht ein erhöhtes Radikalisierungspotenzial von Teilen dieser Szene in Nordrhein-Westfalen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Mobilisierungsfähigkeit der salafistischen Szene durch umfangreiche Propaganda ist in Nordrhein-Westfalen als einem Bundesland mit einem in Relation zu anderen 236 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ländern hohen muslimischen Bevölkerungsanteil und vielen urbanen Zentren besonders ausgeprägt. Aus den extremistischen salafistischen Szenen heraus radikalisieren sich weiterhin Einzelpersonen und Personengruppen. Die Anzahl der bekannten Anhänger dieser Szenen war in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen Jahren stark angestiegen, von 1.500 Personen im Jahr 2013 auf aktuell 3.200 Personen Ende 2020. Die noch im letzten Jahr festzustellende De-Fragmentierung der Szene ist in der Form nicht mehr feststellbar. Trotz des durch die Corona-Pandemie bedingten Rückzugs aus der Öffentlichkeit haben sich salafistische Akteure in NRW und darüber hinaus neu gefunden und bauen ihre Netzwerke auf. Zentrales Instrument und Forum bilden dabei soziale Medien. In diesem Zusammenhang ist auch die sich bereits im Vorjahr abzeichnende Stärkung der Rolle von Frauen zu erkennen, die sich vor allem auf die Aktivitäten in Netzwerken in den sozialen Medien erstreckt. Ihre Rolle als Akteurinnen der extremistischen salafistischen und jihadistischen Szene findet immer noch im Hintergrund und nicht in der Öffentlichkeit statt. Die Aktivitäten der Frauen beispielsweise bei der Verbreitung von Propaganda, der Aufrechterhaltung von Netzwerken, der Unterstützung der sogenannten Hilfsorganisationen und Netzwerke der Gefangenenhilfe. Seitens des Verfassungsschutzes wird eine sehr multiple und aktive Szene festgestellt: Neben den lokalen Netzwerken finden sich gesonderte Frauen-Gruppen und eher separierte Netzwerke, die sich zum Beispiel aus Menschen mit einem Migrationshintergrund aus Tschetschenien, Tadschikistan, Syrien oder dem Irak zusammensetzen. Auch Konvertiten spielen nach wie vor eine Rolle. Ein besonders Gefahrenpotenzial geht von Rückkehrern und Haftentlassenen aufgrund ihrer durchlebten Radikalisierung aus. Hierunter finden sich immer wieder Personen, die durch De-Radikalisierungsprogramme nicht zu erreichen sind. Diese Vielfältigkeit ist eine besondere Herausforderung für die nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden. Die Bedeutung des extremistischen Salafismus als eine - allem Anschein nach - attraktive Ideologie für vor allem lebensjüngere Menschen wird voraussichtlich in den kommenden Jahren trotz der Umsetzung einer großen Anzahl an staatlichen Maßnahmen zu dessen Eindämmung fortbestehen. IslamIsmus 237 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 HAMAS Sitz/Verbreitung Hauptsitz der Vereinsstrukturen in Berlin, Aktivitäten auch in Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländern Gründung/Bestehen seit 1987 Struktur/ Repräsentanz Wichtigste Organisation für die Anhänger der HAMAS in Deutschland ist die Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (PGD). Mitglieder/Anhänger/ NRW: 145/ (Teilmenge der MB) Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Englischund arabischsprachiges Web-Angebot der HAMAS-Kernorganisation; arabischund teilweise deutschsprachige Veröffentlichungen der PGD in sozialen Netzwerken Kurzporträt/Ziele Die sunnitische HAMAS (arabisches Akronym für "Bewegung des islamischen Widerstandes") hat sich aus dem palästinensischen Teil der Muslimbruderschaft entwickelt und wurde mit Beginn der ersten Intifada im Jahr 1987 aktiv. Das vorrangige politische Ziel der HAMAS ist die von ihr so benannte Befreiung Gesamtpalästinas und damit die Auflösung Israels als eigenständiger Staat. Im Jahr 2017 veröffentlichte die HAMAS ein neues Grundsatzdokument. Es stellt jedoch keine wesentliche Abweichung gegenüber der ursprünglichen HAMAS-Charta von 1987 dar. Die Organisation zeigt sich in dem neu verfassten Dokument einerseits grundsätzlich dazu bereit, einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 hinzunehmen, und betont, dass sich ihr Widerstand nicht gegen die jüdische 238 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Religion, sondern ausschließlich gegen den Staat Israel richte. Gleichzeitig wird jedoch an einer vollkommenen Befreiung Palästinas vom "Jordan bis zum Mittelmeer" und am bewaffneten Widerstand festgehalten, wobei der "zionistischen Entität" jegliche Anerkennung zu verweigern sei. Das Existenzrecht Israels wird damit nach wie vor negiert, auch wenn moderate HAMAS-Politiker dies in der Vergangenheit unter bestimmten Bedingungen bei Verhandlungen in Aussicht stellten. Die HAMAS befindet sich mitsamt ihrer militärischen Suborganisation, den Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden, auf der durch den Rat der Europäischen Union erstellten EU-Terrorliste und unterliegt damit entsprechenden Sanktionen. Finanzierung In Deutschland: Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die HAMAS ist eine terroristische Organisation, verfügt aber neben ihrem paramilitärischen Arm, den Izz ad-Din Al-Qassam-Brigaden, über eine Partei, ein soziales Hilfswerk und religiöse Organisationen. Sie ist für zahlreiche Selbstmordattentate und Raketenangriffe auf israelisches Gebiet verantwortlich. Die Feindschaft gegenüber Israel wird begleitet von einem virulenten Antisemitismus, der auch in der Charta der HAMAS deutlich zum Ausdruck kommt. Als weiteres Ziel verfolgt die HAMAS die Errichtung eines "islamischen Staates", gestützt auf die extremistische Ideologie der Muslimbruderschaft. Diese Ideologie steht im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung, ihre terroristischen Aktivitäten gegen Israel gefährden auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und die antisemitische Einstellung ist gegen den Gedanken der Völkerverständigung und das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet. Die HAMAS unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. IslamIsmus 239 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Mit der Vorstellung eines Friedensplans, der das Leben von Palästinensern und Israelis verbessern solle, richtete die US-Regierung das Augenmerk der Weltöffentlichkeit zu Beginn des Jahres 2020 auf den bereits seit Jahrzehnten bestehenden Nahostkonflikt. Während die israelische Regierung dem Vorschlag positiv gegenüber stand, lehnten mehrere palästinensische Fraktionen, so auch die HAMAS, den sogenannten "Jahrhundertdeal" kategorisch ab. Tatsächlich wäre die nach dem US-Friedensplan vorgesehene Gründung eines eigenständigen palästinensischen Staates an diverse Bedingungen wie etwa die vollständige Demilitarisierung des palästinensischen Staates inklusive des Gaza-Streifens geknüpft. Auch der von der HAMAS anvisierten "Befreiung" Gesamtpalästinas wäre damit eine Absage erteilt worden, weshalb das HAMAS-Politbüro sich wie erwartet gegen sämtliche Kompromisse in Bezug auf das anvisierte palästinensische Staatsgebiet aussprach und den Friedensplan als Verschwörung gegen die Palästinenser bezeichnete. Im weiteren Verlauf des Jahres 2020 sah sich die HAMAS zunehmend politisch isoliert. Nachdem im August bereits die Vereinigten Arabischen Emirate und Israel eine vollständige Normalisierung ihrer Beziehungen vereinbarten, verkündeten kurz darauf auch das Königreich Bahrain, der Sudan und Marokko die Aufnahme entsprechender diplomatischer Beziehungen zu Israel. Die HAMAS rief dazu auf, sich gegen diese Entwicklung zu stellen und suchte in diesem Punkt den Schulterschluss mit anderen militanten Organisationen. So kam es am 3. September 2020 in Libanons Hauptstadt Beirut zu einem Treffen zwischen Ismael Haniyya, dem Leiter des HAMAS-Politbüros und Ziyad al-Nakhala, dem Leiter des Palästinensischen Islamischen Jihad (PIJ). Wenige Tage später traf Haniyya dann auf Hassan Nasrallah, den Generalsekretär der schiitischen Hizb Allah. Bezüglich des militärischen Konflikts zwischen Israel und der HAMAS ist weiterhin keine langanhaltende Entspannung zu verzeichnen. Trotz einer Ende August 2020 verkündeten Waffenruhe kam es weiterhin zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Im Berichtszeitraum sah sich die HAMAS in Westeuropa mit zunehmenden Problemen konfrontiert. So kam es im November 2020 in Österreich zu umfangreichen Hausdurchsuchungen, die nach Auskunft dortiger Behörden den lokalen Strukturen von Muslimbruderschaft und HAMAS galten. 240 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Hochrangiges Treffen von HAMAS und der Hizb Allah im September 2020 in Beirut In Deutschland waren die Anhänger der HAMAS vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie nicht in der Lage, ihren Aktivitäten in gewohntem Maße nachzukommen. Durch den Wegfall öffentlichkeitswirksamer Veranstaltungen wurden die Sammlung von Spendengeldern und die anvisierte politische Einflussnahme erheblich erschwert. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die HAMAS wurde im Jahr 2020 vor erhebliche Probleme gestellt. Im arabischen Raum erhielt das durch sie als Feind angesehene Israel zunehmende politische Unterstützung. In westlichen Staaten, die der HAMAS als Rückzugsraum dienen, konnte sie im Berichtszeitraum ihr Mobilisierungsund Finanzierungspotenzial nicht ausschöpfen. Es bleibt zu beobachten, ob die europäischen Strukturen der HAMAS langfristig geschwächt werden oder sich diese im kommenden Jahr wie gewohnt organisieren oder gar neue Aktivitäten entfalten und Kooperationen eingehen können. IslamIsmus 241 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Hizb Allah (Partei Gottes) Sitz/Verbreitung Mutterorganisation im Libanon, sympathisierende religiöse Vereine in der libanesischen Diaspora, darunter auch im Bundesgebiet Gründung/Bestehen seit 1982 Struktur/ Repräsentanz Die Anhänger treffen sich in den örtlichen Moscheevereinen, deren Satzungen und Aktivitäten auch nach außen keinen Hizb Allah-Bezug erkennen lassen. Es besteht kein Dachverband. Seit über 20 Jahren ist das Islamische Zentrum (Imam-Mahdi-Zentrum) in Münster eine Plattform und Begegnungsstätte für Hizb Allah-Anhänger in Nordrhein-Westfalen und im Westen Deutschlands. Bezüge zur Hizb Allah sind auch für die Gemeinschaft libanesischer Emigranten in Dortmund (Ahl al-BaitZentrum), die Gemeinschaft Libanesischer Emigranten e.V. in Bottrop (Imam Rida-Zentrum), sowie den Al Mahdi Kulturverein Bad Oeynhausen e.V. nachweisbar. Mitglieder/Anhänger/ NRW: 250 / Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Mehrsprachiges Web-Angebot Kurzporträt/Ziele Die schiitische islamistische Organisation Hizb Allah formierte sich 1982 als Reaktion auf den Einmarsch israelischer Truppen im Libanon. Die Organisation profitierte dabei vor allem von der iranischen Intervention während des libanesischen Bürgerkriegs. 242 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Sie verfügt über einen (para-)militärischen, einen karitativen und einen politischen Zweig. An ihrer Spitze steht der Generalsekretär und Oberbefehlshaber Hassan Nasrallah. Die Hizb Allah ist seit Anfang der 1990 Jahre aktiv im libanesischen Parlament und der Politik vertreten und ist immer wieder auch an Regierungen beteiligt. In einigen Teilen des Libanon (Nordosten und Südlibanon) beherrscht sie das gesamte öffentliche Leben und verfügt über staatsähnliche Strukturen. Mit ihren wohltätigen Einrichtungen, legalen und illegalen Strukturen ist sie ein wichtiger Faktor in der Wirtschaft des Libanon. Militärisch verfügt die Hizb Allah über eine schlagkräftige Truppe, die für Kampfeinsätze geeignet ist. Der militärische Zweig kooperiert dabei eng mit den iranischen Streitkräften für Auslandseinsätze, der sogenannten Quds Force. Die Organisation bestreitet offen das Existenzrecht des Staates Israel und wird für die Durchführung von Anschlägen oder entsprechende Vorbereitungsaktivitäten, insbesondere gegen israelische und jüdische Ziele, verantwortlich gemacht (unter anderem 1992 und 1994 in Buenos Aires, 1992 im Berliner Restaurant Mykonos, 2012 in Burgas). Für Israel ist die Hizb Allah mit ihren militärischen und terroristischen Möglichkeiten eine ständige und immer wieder auch realisierte Bedrohung. Deutschland stellt für die Organisation einen Rückzugsraum dar, der für logistische Unterstützungsleistungen, wie zum Beispiel die Finanzierung und die Rekrutierung neuer Mitglieder genutzt wird. Finanzierung Spenden der Anhänger, mutmaßlich Erlöse aus kriminellen Aktivitäten, im Libanon finanzielle Zuwendungen aus Iran IslamIsmus 243 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Hizb Allah wird als internationale terroristische Vereinigung bewertet, die ideologisch die antidemokratische, von Ayatollah Khomeini aufgestellte und in der Islamischen Republik Iran politisch umgesetzte Doktrin der "Statthalterschaft des Rechtsgelehrten" ("Welayat-e Faqih") teilt, die der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widerspricht. Zudem bestreitet sie das Existenzrecht Israels und bedient antisemitische Klischees, womit sie sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Durch ihre militanten Aktionen gegen Israel gefährdet sie schließlich auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Die Hizb Allah unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Mit finanzieller und logistischer Unterstützung durch Iran strebte die Hizb Allah in den ersten Jahren die Errichtung eines islamisch begründeten Herrschaftssystems nach iranischem Muster auf libanesischem Boden an. Sie wurde zu einer militanten Sammlungsbewegung libanesischer Schiiten, die über ein umfangreiches Waffenarsenal - einschließlich schweren Kriegsmaterials - verfügt. Die Organisation hat sich im weiteren Verlauf auf eine pragmatische, auf die Festigung ihres Einflusses bedachte Linie hin ausgerichtet. Die Hizb Allah ist mittlerweile gesellschaftlich und politisch ein bedeutender Akteur im Libanon. Im Gegenzug musste sie jedoch Teile ihres extremistischen Forderungskataloges aufgeben. Mit ihrer erfolgreichen Teilnahme an den libanesischen Parlamentswahlen und ihrer Integration in den politischen Prozess gelang es der Hizb Allah, sich in der Wahrnehmung der libanesischen Öffentlichkeit als legalistische Organisation zu verstetigen. Ihre Maxime, eine Vernichtung des Staates Israel sowie die Errichtung einer "islamischen Herrschaft" über Jerusalem, sind allerdings bis heute unverändert. Um diese Ziele zu erreichen, bedient sich die Hizb Allah auch terroristischer Mittel. Seit Jahren ist sie für Anschläge im nördlichen Israel verantwortlich und stellt damit eine unmittelbare Bedrohung für den Staat Israel dar. Die Hizb Allah verfügt über eine External Security Organization (ESO), die völlig separat von den übrigen Zweigen der Hizb Allah agiert und aus einem geheimen Sicherheitsdienst, Nachrichtendienst und Einheiten für Überseeoperationen besteht. Aufgrund ihrer engen ideologischen, politischen und militärischen Verbindung mit Iran ist 244 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 die ESO auch als Hizb Allah-Geheimdienst eine potentielle Bedrohung für die innere Sicherheit in Deutschland. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Betätigungsverbot für die Terrororganisation Hizb Allah in Deutschland Der Bundesinnenminister des Innern hat am 30. April 2020 die Betätigung der schiitischen Terrororganisation Hizb Allah (deutsch: Partei Gottes, auch Hisbollah) in Deutschland verboten. Im Zuge vereinsrechtlicher Ermittlungen wurden auch zwei Vereine in NRW wegen möglicher Bezüge zur Hizb Allah durchsucht (siehe dazu Kapitel "Im Fokus"). Tötung von Qasem Sulaimani Am 3. Januar 2020 wurden General Qasem Soleimani, der Kommandeur der den Revolutionsgarden zuzurechnenden iranischen Quds-Einheit, und Abu Mahdi al-Muhandis, der Leiter des irakischen Milizbündnisses "Volksmobilisierung", durch einen amerikanischen Militärschlag in Bagdad getötet. Soleimani hatte viele Jahre militärische Unterstützungsleistungen Irans in anderen Ländern koordiniert, unter anderem für die Assad-Regierung in Syrien, die Hizb Allah im Libanon und für irakische Milizen, die gegen den sogenannten Islamischen Staat kämpften. Er galt in Teilen des schiitischen Spektrums als prominente Symbolfigur des Widerstands gegen Imperialismus und Unterdrückung, namentlich gegen den amerikanischen Einfluss in der Region. Das Ereignis löste auch unter Schiiten in Deutschland Reaktionen und Unmutsäußerungen aus. In einigen schiitischen Moscheen, darunter auch Vereinen in NRW, wurden Gedenkveranstaltungen durchgeführt und das Totengebet für Soleimani und al-Muhandis verrichtet. Al-Quds-Tag 2020 Der Al-Quds-Tag wurde bereits 1979 durch den iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini ausgerufen und soll sich durch weltweite Veranstaltungen am Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan gegen die israelische Präsenz in Jerusalem richten. Faktisch dient die Veranstaltung aber der Delegitimierung des israelischen Staates und negiert mehr oder weniger offen dessen Existenzrecht. IslamIsmus 245 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Mutmaßlich vor dem Hintergrund des Betätigungsverbots der Hizb Allah sagten die Organisatoren des al-Quds-Tags noch am gleichen Tag die für 2020 geplante Veranstaltung in Berlin ab. Diese wäre aufgrund der Corona-Regelungen auch nur in stark eingeschränktem Umfang möglich gewesen. In den vergangenen Jahren kamen am al-Quds-Tag in Berlin bis zu 1.600 Teilnehmer zusammen. Dabei waren teilweise Loyalitätsbekundungen gegenüber Ayatollah Khomeini und die Verwendung von Fahnen der Hizb Allah feststellbar. Als Ersatz für den abgesagten Marsch zum diesjährigen al-Quds-Tag in Berlin am 16. Mai 2020 wurde auf diversen Internetseiten und Foren sowie in den sozialen Medien für einen "Live Quds-Tag" geworben. Dieser Bestand aus einer Online-Konferenz mit Beiträgen aus dem gesamten Bundesgebiet, die live im Internet verfolgt werden konnte. Aufruf in den sozialen Medien zur Online-Teilnahme am "Live Quds-Tag" 246 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Entwicklung im Libanon Im Berichtszeitraum wirkte sich die anhaltende Regierungskrise im Libanon, die durch die gewaltige Explosion im Hafen Beiruts am 4. August 2020 noch verschärft wurde, auch negativ auf das öffentliche Ansehen der Hizb Allah aus. Die Proteste gegen Misswirtschaft, Korruption und Amtsmissbrauch richteten sich gegen eine Regierung, die von der Hizb Allah gestützt wurde. Dementsprechend wurde die Organisation von Teilen der libanesischen Gesellschaft für die verfahrene Situation im Land mitverantwortlich gemacht. Die Hizb Allah zeigte sich deshalb darum bemüht, die Protestbewegung zu schwächen. Vereinzelt soll sie dabei auch gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen sein. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Das Betätigungsverbot für die Hizb Allah bedeutet für ihre Unterstützer in Deutschland zumindest propagandistisch einen Rückschlag, da öffentliche Bekenntnisse zur Organisation nicht mehr möglich sind und die Verwendung ihrer Symbolik strafrechtlich untersagt ist. Ein Eintreten für ihre Ziele und ihre Ideologie ist somit deutlich erschwert und dürfte künftig stärker konspirativ erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass sich das Betätigungsverbot auch auf die Strukturen und die Aktivitäten der hiesigen Hizb Allah-nahen Vereine auswirken wird. Diese werden sich noch intensiver als in der Vergangenheit darum bemühen, Bezüge zur Mutterorganisation zu vermeiden, um nach außen als vermeintlich unpolitische religiöse Vereinigungen zu erscheinen. Gegenwärtig ist nicht davon auszugehen, dass die der Hizb Allah zugerechneten Bestrebungen konkrete Anschlagsplanungen in Europa verfolgen. Es besteht aber eine abstrakte Gefährdung für israelische beziehungsweise jüdische Einrichtungen, die sich deutlich erhöhen würde, falls es zu einer Eskalation der politischen Spannungen zwischen Israel und Iran kommt. In einem solchen Fall wären unter Umständen auch spontane Aktionen von Einzelpersonen vorstellbar. Eine konsequente Haltung gegen die Hizb Allah und ihre Ziele sowie die weitere Aufdeckung der von ihr genutzten Strukturen ist deshalb eine Notwendigkeit für die innere Sicherheit in Nordrhein-Westfalen. IslamIsmus 247 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Hizb ut Tahrir (Islamische Befreiungspartei - HuT) Sitz/Verbreitung Kein Sitz in Deutschland, regionale Schwerpunkte in Nordrhein-Westfalen sind Dortmund, Duisburg, Essen sowie Münster. Gründung/Bestehen seit 1953 Struktur/ Repräsentanz In der Bundesrepublik Deutschland ist die Hizb ut-Tahrir in verschiedene Regionen aufgeteilt, in denen streng voneinander abgeschottete Kleingruppen (Zellen) existieren, die sich durch ein äußerst konspiratives Verhalten auszeichnen. Mitglieder/Anhänger/ NRW: 70/ Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Mehrsprachiges Web-Angebot Kurzporträt/Ziele Die Hizb ut-Tahrir (HuT) wurde 1953 von dem Rechtsgelehrten Scheich Taqi al-Din al-Nabhani, einem ehemaligen Mitglied der ägyptischen und palästinensischen Muslimbruderschaft, gegründet. Es handelt sich um eine pan-islamistische Bewegung, die sich an alle Muslime richtet. Vorrangige Ziele der Organisation sind die Wiedereinführung des 1924 durch die Republik Türkei abgeschafften Kalifats und die Errichtung eines islamischen Staats unter Führung eines Kalifen. Dieser soll die Scharia als Grundlage und Maßstab staatlichen Handelns im Kalifat durchsetzen. Säkulare Staatsformen stehen hierzu im Widerspruch und werden bekämpft. Islam und Demokratie sind für die HuT nicht miteinander vereinbar. 248 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zur Durchsetzung ihrer Ziele versucht die HuT vor allem einflussreiche Persönlichkeiten und Akademiker zu rekrutieren, die ihre herausgehobene gesellschaftliche Position zur gezielten Einflussnahme im Sinne der HuT nutzen sollen. In den meisten mehrheitlich muslimischen Ländern ist die HuT verboten. Seit dem 15. Januar 2003 unterliegt die HuT auch in Deutschland einem Betätigungsverbot. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Das vom Bundesminister des Innern ausgesprochene Betätigungsverbot wurde am 25. Januar 2006 vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 19. Juni 2012 die Klage der HuT gegen das Betätigungsverbot für unzulässig erklärt. Der EGMR sah es als erwiesen an, dass die HuT dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht. Sie habe ferner den Sturz von Regierungen in islamisch geprägten Staaten gefordert. Diese sollten nach Vorstellung der HuT durch ein auf den Regeln der Scharia basierendes Kalifat ersetzt werden, das man allerdings nicht mit Gewalt erkämpfen will. Die HuT kennzeichnet zudem ein besonders stark ausgeprägter Antisemitismus. Juden, aber auch Christen, gelten IP entgegen der mehrheitlich von islamischen Gelehrten vertretenen Meinung als Ungläubige. Ihre Lebensform sei abzulehnen. Mit ihnen solle möglichst kein Kontakt gehalten werden, da sie untereinander ein Bündnis eingegangen seien, um den Islam zu zerstören. Auf Grund der gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ideologie sowie des Antisemitismus der HuT unterliegt diese nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Öffentliche Veranstaltungen der HuT sind im Berichtsjahr 2020 nicht durchgeführt worden. Das Betätigungsverbot wurde dahingehend eingehalten. Nach wie vor finden Treffen in konspirativen Kleingruppen statt, die als entsprechende Schulungszirkel fungieren. Darüber hinaus ist eine erhöhte Aktivität von zahlreichen Gruppierungen in den IslamIsmus 249 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 sozialen Netzwerken zu beobachten, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen. Zu nennen sind hier insbesondere die Bewegungen Realität Islam und Generation Islam. Realität Islam mobilisierte nach dem rechtsextremistisch motivierten Anschlag in Hanau vom 19. Februar 2020 mit einem Aufruf zur Flyer-Verteilaktion. Diese hatte das Ziel, sich gegen die ihrer Ansicht nach in Deutschland vorhandene und von ihr so bezeichnete Assimilationspolitik und Wertediktatur zu stellen und diese zu beenden. Daraufhin konnten insbesondere im Ruhrgebiet vereinzelte Aktionen festgestellt werden. Zielobjekt entsprechender Plakataktionen waren insbesondere Bushaltestellen, Geschäfte des Einzelhandels, Litfaßsäulen oder auch Hauswände. Realität Islam versuchte dabei ihr Flyer von Realität Islam nach dem Anschlag in Hanau bekanntes Opfernarrativ zu propagieren, demzufolge die Mehrheitsgesellschaft der muslimischen Community negativ gegenüberstünde, die Muslime in ihrer religiösen Lebensführung einschränken würde, und die Muslime sich deshalb der HuT anschließen müssten, um ihre legitimen Rechte zu verteidigen. Durch dieses Opfernarrativ, das als Propagandainstrument auch Halbwahrheiten und Falschdarstellungen verwendet und pauschalisiert, werden - sehr wahrscheinlich ganz bewusst - Konfliktlinien zwischen Muslimen einerseits sowie Staat und Gesellschaft andererseits herbeigeredet oder verstärkt und nicht, wie von Realität Islam vorgeblich gefordert, vermieden oder reduziert. Insofern versuchte Realität Islam auch hier 250 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 den inneren Frieden zu beschädigen und leistete damit einer Gefährdung der inneren Sicherheit Vorschub. Der HuT gelingt es immer wieder, aktuelle Reizthemen aufzugreifen und damit gerade junge Menschen anzusprechen. Beispielhaft hierfür steht der Aufruf zum Twittersturm der einschlägigen HuT-nahen Organisation Generation Islam mit dem Hashtag #StopMacron, der sich gegen die vermeintlich islamfeindliche Politik des französischen Staatspräsidenten richtete. Diese Twitter-Kampagne illustriert beispielhaft den Mobilisierungsfaktor der Onlineaktivitäten von Generation Islam und verdeutlicht, dass die Entwicklungen im Ausland auch von hiesigen Islamisten aufgegriffen und zur Mobilisierung instrumentalisiert werden. Aufruf auf dem YouTube-Kanal von Generation Islam zum sogenannten Twitterstorm mit dem Hashtag #STOPMACRON IslamIsmus 251 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 In den Netzwerken der sozialen Medien war anlässlich von religiösen Festlichkeiten wiederkehrend die Forderung nach der Etablierung eines Kalifats durch Sympathisanten der HuT feststellbar. Diese Forderung steht klar im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und zielt auf deren Überwindung ab. Im Berichtszeitraum konnten in Nordrhein-Westfalen zudem vereinzelte Veranstaltungen festgestellt werden, bei denen dreistellige Teilnehmerzahlen erreicht wurden. Derartige Aktionen fanden allerdings in privaten Räumen (Wohnungen, Veranstaltungsräumlichkeiten, Grundstücke, Gärten) statt, so dass sie nicht durch die Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Diese Veranstaltungen wie auch überregionale Treffen von HuT-Sympathisanten zeigen die kontinuierlichen Bemühungen, die Vernetzung der Organisation weiter voranzutreiben. Sowohl Realität Islam als auch Generation Islam nutzen bereits seit mehreren Jahren gezielt die sozialen Medien für die Verbreitung ihrer islamistischen Narrative. Die sozialen Medien bieten aufgrund ihrer Funktionsweisen für beide Organisationen eine geeignete Plattform für Selbstinszenierungen, Identitätsbildungen und Bedrohungsphantasien. Mittels einer gezielten Onlineund/oder Offline-Propaganda wird der Versuch unternommen, entsprechende Nutzer zu lenken und in ihre Netzwerke zu locken. Dabei werden gezielt simplifizierte Weltbilder geschaffen, welche die Gesellschaft in homogene Opferund Feindkollektive einteilen beziehungsweise das Narrativ einer Unterdrückung und Verfolgung des Islam bedienen. Um einer Ausgrenzung der Muslime entgegenzuwirken, müsse man sich - so wird propagiert - zusammenschließen, um sich gemeinsam gegen eine permanente Diskriminierung und Bedrohung zu schützen. Dieses Narrativ dient dazu, die Akzeptanz islamistischer Deutungsmuster zu erhöhen und den Einstieg in einen religiös begründeten Extremismus zu erleichtern. Dabei führt es hin zur Ideologie der HuT, deren Propaganda ebenfalls nicht müde wird zu betonen, dass Muslime weltweit gefährdet seien, und nur ihr Zusammenschluss in einem islamischen Staat unter der Führung eines Kalifen ihnen langfristige Sicherheit bieten könne. Der permanente Verweis seitens Realität Islam und Generation Islam auf echte oder vermeintliche Islamfeindlichkeit und entsprechende Übergriffe dient demnach nicht dazu, die Emanzipation der hiesigen Muslime und die Konsolidierung ihrer religiösen Gemeinschaft zu fördern, sondern zielt vielmehr darauf ab, vor allem junge Muslime von der Gesellschaft zu entfremden und in eine islamistische Subkultur, die der HuT-Ideologie verhaftet ist, einzubinden. 252 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Realität Islam und Generation Islam propagieren die Ideologie der HuT, der dies unter ihrem Namen in Deutschland aufgrund des Betätigungsverbots seit 2003 untersagt ist. Dabei werden die sozialen Medien intensiv für die Verbreitung des Gedankengutes der HuT genutzt und zur Gewinnung neuer Anhänger eingesetzt. Aber auch Veranstaltungen und reale Treffen finden statt und dienen der Gemeinschaftsbildung. Es ist wahrscheinlich, dass Realität Islam und Generation Islam ihre Aktivitäten fortsetzen und ihr Narrativ einer Verfolgung des Islam und der Muslime in Deutschland weiterhin im Sinne der HuT propagieren werden, um so Muslime für das Ziel der Errichtung eines islamischen Kalifats zu gewinnen. Das Bestreben, Muslime gegen Staat und Gesellschaft aufzubringen, kann langfristig zu einer gesellschaftlichen Spaltung beitragen. Die Abgrenzung von der Gesellschaft und die aggressive Ablehnung der Demokratie als ein vermeintlich unislamisches System ist auch zukünftig geeignet, das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft und damit auch die innere Sicherheit zu beeinträchtigen. Bisher ist es nicht zu gewaltsamen Aktivitäten von Anhängern der HuT-Ideologie gekommen und es gibt auch keine Hinweise, dass dies von den Organisationen gefördert würde. Die systematische Abgrenzung von Staat und Gesellschaft sowie das Herbeireden einer vermeintlichen Unterdrückung durch letztere kann aber dazu führen, dass sich einzelne Sympathisanten nicht nur von einer demokratischen Werteund Gesellschaftsordnung abwenden, sondern sich auch in den realen oder virtuellen Netzwerken der szeneeigenen Kommunikationsplattformen weitergehend radikalisieren. IslamIsmus 253 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) Sitz/Verbreitung Vereinsstrukturen seit Dezember 2001 verboten, früherer Hauptsitz in Köln Gründung/Bestehen seit 1984 Struktur/ Repräsentanz Keine offen erkennbaren Strukturen, aber mehrere islamische Gemeinden, die sich weiterhin der Ideologie des Kalifatsstaats verpflichtet fühlen Mitglieder/Anhänger/ NRW: 220 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Mehrere Web-Angebote Kurzporträt/Ziele Im Jahr 1984 gründete in Köln der türkische Prediger Cemaleddin Kaplan (1926 bis 1995) nach Loslösung von der Milli-Görüs-Bewegung den Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (Ädegslami cemiyet ve cemaatleri birligi / ICCB), auch als Kaplan-Verband bezeichnet. Nachdem viele Gemeinden im Laufe der Zeit den ICCB wieder verlassen hatten, proklamierte er im März 1994 den so bezeichneten Kalifatsstaat und ließ sich als Kalifen huldigen. Sein sogenannter Kalifatsstaat war eine am Führerprinzip orientierte und streng hierarchisch gegliederte Organisation. Ziel Kaplans und seines Verbandes war die Erringung der Herrschaft in der Türkei und in letzter Konsequenz die Weltherrschaft für sein Kalifat. Nach dem Tod Cemaleddin Kaplans folgte ihm sein Sohn Metin Kaplan als Kalif nach. Intern kam es jedoch zu Nachfolgestreitigkeiten, in deren Verlauf Metin Kaplans Widersacher 1997 ermordet wurde. 254 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Im Jahr 2000 wurde Metin Kaplan wegen Anstiftung zum Mord zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und nach Verbüßung der Haftstrafe im Oktober 2004 in die Türkei abgeschoben. Dort wurde er wegen Gründung und Leitung einer terroristischen Vereinigung verurteilt und inhaftiert. Aus gesundheitlichen Gründen kam er Ende 2016 vorzeitig aus der Haft frei. Die Anhänger des Kalifatsstaats in Deutschland konnten sich unterdessen nicht auf eine Führung einigen, so dass sich mehrere Fraktionen bildeten, die unterschiedliche Vorstellungen über ihre Ausrichtung und die Person des Kalifen entwickelten. De facto bildet der Kalifatsstaat seitdem keine zusammenhängende Struktur mehr, sondern besteht nur noch aus mehreren bundesweit verteilten Moscheegemeinden, die in unterschiedlichem Grad miteinander vernetzt sind, aber jeweils verschiedenen Fraktionen angehören. Einigender Faktor ist einzig noch das ideologische Vermächtnis des Cemaleddin Kaplan, auf das sich sämtliche Flügel des Kalifatsstaats berufen. Durch diese Zersplitterung hat der Kalifatsstaat stark an Reputation verloren, so dass sich insbesondere viele jüngere Anhänger dem Salafismus zuwandten. Der Salafismus ist für diese besonders attraktiv, da dessen Inhalte ansatzweise bereits in den Lehren Cemaleddin Kaplans zu finden sind. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Der Kalifatsstaat beziehungsweise ICCB propagierte bis zu seinem Verbot durch den Bundesminister des Innern am 8. Dezember 2001 den revolutionären gewaltsamen Umsturz der säkularen demokratischen Ordnung in der Türkei und die Errichtung eines islamischen Kalifats auf der Basis der Scharia an deren Stelle. Bereits im April 1992 rief Cemaleddin Kaplan auf einer Veranstaltung des ICCB den Föderalistischen IslamIsmus 255 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Islamischen Staat Anatolien (AFID) aus. Sich selbst erklärte er zum Emir, also Befehlshaber beziehungsweise Regenten. Seit März 1994 bezeichnete sich der ICCB als Kalifatsstaat, Cemaleddin Kaplan war dessen erster Kalif. Die islamistische Ideologie des Kalifatsstaats war von einer rigorosen Ablehnung der Demokratie und des Säkularismus gekennzeichnet. Darüber hinaus zeigte der Kalifatsstaat eine ausgeprägte Judenfeindlichkeit und eine große Affinität zum bewaffneten Jihad. Daraus resultierte der Aufruf an die Muslime, die kemalistische Regierung der Türkei gewaltsam zu stürzen und dort das Kalifat zu errichten. Damit waren der Kalifatsstaat und sein Kalif in allen Punkten noch deutlich radikaler als die MilliGörüs-Bewegung Necmettin Erbakans, der Kaplan kurzzeitig angehört hatte. Die Ziele des Kalifatsstaats richten sich demnach gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gegen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Diese Bestrebung unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Strukturen des Kalifatsstaats sind 2020 in Nordrhein-Westfalen nur rudimentär, öffentlich wirksame Aktionen nicht erkennbar gewesen. Das Vereinsverbot hatte somit auch 2020 Bestand. Im Internet ist der Kalifatsstaat jedoch nach wie vor präsent. So verbreiten die Anhänger ihre ideologische Sichtweise in den sozialen Medien, auf YouTube und einer eigenen Webseite. Dort werden teilweise regelmäßig Videos zu verschiedenen Themen und Fragestellungen veröffentlicht. Diese andauernde mediale Präsenz im Internet gewährleistet den Fortbestand zumindest rudimentärer Strukturen. Sie erreicht in der islamistischen Szene ein sympathisierendes Personenspektrum und vermittelt auch weiterhin die ideologischen Inhalte der religiös begründeten politischen Weltanschauung Cemaleddin Kaplans. Dies ist gerade für die jüngere Anhängerschaft von Bedeutung und sorgt dafür, dass die islamistische Ideologie des Kalifatsstaats weitergegeben wird. Der nach seiner Haftentlassung in Istanbul lebende Metin Kaplan veröffentlicht für seine Anhänger weiterhin Freitagspredigten im Internet. Trotzdem verliert er aufgrund fortschreitenden Alters und Erkrankung an Einflussmöglichkeiten in Deutschland. Im Jahr 2020 war zudem erkennbar, dass sich auch medienaffine jüngere Anhänger des 256 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Kalifatsstaats, die sich bisher stark für Metin Kaplan eingesetzt hatten, öffentlich von ihm abwandten. Sie kritisierten seinen Führungsstil als Kalif und warfen ihm vor, nur über unzureichendes islamisches Wissen zu verfügen. Zudem werde sein Lebenswandel den Ansprüchen an den Kalifen kaum gerecht, da er selbst sogar in rituellen Fragen gegen die im Kalifatsstaat anerkannten islamischen Bestimmungen verstoße. Kritisches Video zu Metin Kaplan auf der Plattform YouTube Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die antidemokratischen Inhalte der Schriften des Gründers und ersten Kalifen Cemaleddin Kaplan werden von den Anhängern nach wie vor rezipiert und vor allem über die sozialen Medien verbreitet. Auch diese Art der Vermittlung der Kalifatsstaats-Ideologie kann individuelle Radikalisierungsprozesse auslösen oder fördern, zumal diese die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele nicht grundsätzlich ablehnt. Die Konflikte und damit die Fragmentierung innerhalb des Kalifatsstaats scheinen sich noch verstärkt zu haben, da beispielsweise von jüngeren Anhängern harsche Kritik am Verhalten Metin Kaplans geübt wird, obwohl sie der Ideologie des Kalifatsstaats grundsätzlich treu bleiben. Eine Zusammenführung der durch andauernde interne Streitigkeiten entstandenen Strömungen innerhalb der Anhängerschaft ist nicht wahrzunehmen. Damit erscheint auch eine Reorganisation der Organisationsstrukturen des Kalifatsstaats in nächster Zukunft eher unwahrscheinlich. IslamIsmus 257 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Muslimbruderschaft (unter anderem Deutsche Muslimische Gemeinschaft, DMG) Sitz/Verbreitung Bundesweite Strukturen, Hauptsitz der DMG in Berlin Gründung/Bestehen seit 1928 in Ägypten, in Deutschland seit den 1960er Jahren aktiv Struktur/ Repräsentanz Die Muslimbruderschaft (MB) ist eine weltweit agierende Bewegung, der eine Vielzahl von Organisationen zuzurechnen ist. In Deutschland stellt die Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG) die wichtigste Organisation von Anhängern der Muslimbruderschaft dar. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern der Föderation islamischer Organisationen in Europa (FIOE), heute Council of European Muslims (CEM), die als Sammelbecken für Organisationen der Muslimbruderschaft in Europa gilt. Neben der DMG existieren zahlreiche weitere Institutionen und Vereine, die der Ideologie der Muslimbruderschaft zumindest nahestehen, obwohl sie keine oder nur eine sehr lose Anbindung an die DMG-Strukturen aufweisen. In NRW sind Einflüsse der Muslimbruderschaft unter anderem im Islamischen Kulturverein e.V. in Bochum feststellbar. Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 300 / (einschließlich HAMAS) Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Verschiedene Internetseiten und Auftritte in sozialen Medien (auch deutschsprachig) 258 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Kurzporträt/Ziele Die 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft (MB) ist die älteste und einflussreichste islamistische Bewegung. Als pan-islamisch ausgerichtete Organisation ist sie nicht nur in allen arabischen Staaten, sondern in nahezu allen muslimisch geprägten Ländern und darüber hinaus - nach eigenen Angaben in insgesamt 70 Ländern - weltweit vertreten. Die Ideologie der Muslimbruderschaft ist die Basis aller späteren islamistischen Bestrebungen. Das taktische und strategische Vorgehen der verschiedenen regionalen Zweige der MB ist vor allem im Hinblick auf die Frage der Anwendung von Gewalt zur Erreichung des politischen Ziels unterschiedlich. Bis heute nimmt die ägyptische MB gegenüber allen anderen regionalen Zweigen eine führende Rolle ein. Nach der Abspaltung militanter Gruppierungen verzichtet die (ägyptische) MB seit Ende der 1970er Jahre grundsätzlich auf die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Dieser Gewaltverzicht gilt jedoch nicht im Hinblick auf die von ihr propagierte Befreiung Palästinas und somit im Kampf gegen Israel, der insbesondere von der HAMAS, dem palästinensischen Zweig der MB, geführt wird. Die Muslimbruderschaft verfolgt das Ziel, in islamisch geprägten Staaten ein Regierungssystem auf der Grundlage der Scharia einzuführen. Eine säkulare demokratische Verfassungsordnung wird allenfalls als Möglichkeit angenommen, den Übergang zu einer islamischen Ordnung gewaltlos zu gestalten. Dazu wird eine Strategie der "Islamisierung von unten" verfolgt, die zunächst das Individuum anspricht und auf einen Bewusstseinswandel hin zu einem durch die Religion geprägten Leben abzielt. IslamIsmus 259 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die derart geschulten Einzelpersonen sollen dann in die Gesellschaft hineinwirken und dafür Sorge tragen, dass sich diese auf lange Sicht dem Gedankengut der Muslimbruderschaft annähert oder zumindest gewisse Freiräume für die Ideologie der Bewegung entstehen. In Nordrhein-Westfalen ist das Ziel der hiesigen Vertreter der Muslimbruderschaft zunächst die Unterstützung der Bestrebungen der Organisation in den islamisch geprägten Ländern. Um dieses Ziel zu erreichen, wird ein entsprechend moderates Vorgehen an den Tag gelegt. Erkenntnisse über das organisierte Zusammenwirken öffentlicher und nicht öffentlicher MB-naher Strukturen zeigen zudem, dass die Muslimbruderschaft in Nordrhein-Westfalen vor allem durch die DMG repräsentiert wird. Finanzierung Spenden sowie wirtschaftliche Betätigung Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Muslimbruderschaft ist der Ursprung des modernen politischen Islam, einer extremistischen Ideologie, die auch als Islamismus bezeichnet wird. Kernaussage und -forderung des Islamismus ist, dass die politische Herrschaft nur Gott zustehe und der Mensch diese nur als sein Stellvertreter oder Sachwalter auszuüben habe. Dabei müsse der Mensch sich an die von Gott herabgesandten Offenbarungen und die darin gegebenen Bestimmungen halten. Diese finde man im Koran und der Sunna, dem Brauch des Propheten Mohammed. Folglich sind die staatliche Ordnung und die Rechtsprechung an der islamischen Rechtsund Lebensordnung, der Scharia, die auf Koran und Sunna gründet, aufzubauen. In dieser Ordnung kann das Volk zwar am politischen Meinungsbildungsprozess teilhaben, was demokratische Elemente innerhalb der islamischen Ordnung möglich machen würde, aber der Rahmen des politisch Möglichen wäre zwingend durch die Offenbarung Gottes und der daraus entwickelten Scharia gesetzt. In dieser von der Muslimbruderschaft so bezeichneten "islamischen Ordnung" wäre also Gott der 260 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Souverän, nicht das Volk. Dies widerspricht im Grundsatz dem Gedanken der Volkssouveränität und der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Hiesige Vertreter der Muslimbruderschaft äußern sich in der Regel nicht eindeutig extremistisch. Stattdessen stellen sich die MB-nahen Vereine als religiöse islamische Organisationen dar, die für das Recht der Muslime auf Teilhabe in der Gesellschaft eintreten. Dabei vertritt die Muslimbruderschaft nach eigenem Verständnis einen "Islam der Mitte". Dieser grenzt sich in religiöser Hinsicht auf der einen Seite vom religiösen Fundamentalismus und auf der anderen von einem liberalen, westlichen Islam ab. In ideologischer Hinsicht steht er zwischen einem militanten salafistischen Jihadismus einerseits und einem säkularen Islamverständnis andererseits. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass sich auch dieser Mittelweg eindeutig am klassischen Konzept von Scharia orientiert, damit Widersprüche zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufweist und somit selbst als extremistisch zu bewerten ist. Die Muslimbruderschaft fühlt sich nach wie vor einem ganzheitlichen Religionsverständnis verpflichtet, demzufolge der Glaube alle Lebensbereiche regeln sollte, wozu auch die politische und gesellschaftliche Ordnung zählen. Deshalb unterliegt sie nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Das im Auftreten wie auch in der Wortwahl angepasste Vorgehen der MB in Europa, die im Gegensatz zum extremistischen Salafismus die Demokratie und den Westen nicht explizit als Feind bezeichnet, macht es jedoch schwierig, die islamistische Ideologie auf Anhieb zu erkennen. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die DMG verlagerte ihre Aktivitäten im Berichtsjahr 2020 zunehmend in das Internet und war darum bemüht, Erkenntnisse über ihre Verbindungen zur Muslimbruderschaft öffentlich zu relativieren oder gänzlich abzustreiten. IslamIsmus 261 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Pandemieschutzmaßnahmen schränkten die Aktivitäten der DMG stark ein. Auch eine für den 06.06.2020 geplante Jahreskonferenz in Hagen musste deswegen entfallen. Ersatzweise versuchte man, entsprechende Online-Angebote bereitzustellen. Werbung für einen Online-Kurs der Deutschen Muslimischen Gemeinschaft auf Facebook Der Islamische Kulturverein Bochum e. V. stand im Berichtszeitraum aufgrund seiner Bezüge zur Muslimbruderschaft in der öffentlichen Kritik und war bemüht, durch einen Maßnahmenkatalog extremistische Einflüsse zu unterbinden. Die daraufhin durch den Verein initiierten Maßnahmen lassen zwar auf eine Reduzierung der Ein262 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 flussmöglichkeiten von Islamisten schließen, es besteht aber weiterhin die Möglichkeit, dass sie auf die Ausrichtung des Vereins einwirken können. Es bleibt abzuwarten, ob der geäußerte Wunsch zur Reform dazu führt, dass weitere Maßnahmen des Vereins eine nachhaltige Unterbindung extremistischer Tendenzen zur Folge haben. Die DMG war zudem mit ihrem Führungspersonal an einer Konferenz in Istanbul beteiligt. Dort wurde die Umbenennung der Föderation islamischer Organisationen in Europa (FIOE), heute Council of European Muslims (CEM), offiziell beschlossen. Im Jahr 2018 hatte sich bereits die DMG umbenannt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Nach der 2020 eingeleiteten Klage der DMG gegen die Benennung im Verfassungsschutzbericht des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat ist die DMG dazu übergegangen, ihre Verbindungen zur Muslimbruderschaft auch auf anderen Ebenen abzustreiten und eine vermeintliche Transparenz zu schaffen. Nach wie vor war aber auch im zurückliegenden Berichtszeitraum keine ernsthafte und grundlegende Distanzierung von dem Gedankengut der Muslimbruderschaft feststellbar. Es bleibt abzuwarten, ob die öffentlichen Debatten um die Muslimbruderschaft und der daraus resultierende wachsende Druck auf die DMG zu einer internen Diskussion und einer nachhaltigen Auseinandersetzungen mit der extremistischen MB-Ideologie führen werden, die eine glaubhafte Neupositionierung nach sich ziehen könnten. IslamIsmus 263 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Milli Görüs-Bewegung Sitz/Verbreitung Türkei/Deutschland Gründung/Bestehen seit circa 1969 Struktur/ Repräsentanz Parteistrukturen der Saadet Partisi (SP) mit Zentrale in Köln. Darüber hinaus weitere Organisationen, die im Rahmen der Milli Görüs-Bewegung extremistisch in Erscheinung treten: Erbakan Vakfi (Erbakan Stiftung -EV), Sultan-Fatih-Jugend Bielefeld (Sultan Fatih Genclik Bielefeld - BSFG), Ismail Aga Cemaati (IAC) Mitglieder/Anhänger/ NRW: 250 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Mehrere Web-Angebote, Tageszeitung Milli Gazete Kurzporträt/Ziele Die ideologischen Wurzeln der Milli Görüs-Bewegung (MGB) gehen zurück auf den am 27. Februar 2011 verstorbenen türkischen Politiker und ehemaligen Ministerpräsidenten der Türkei Prof. Dr. Necmettin Erbakan. Die Kern-Gedanken dieser Ideologie sind die Schlüsselbegriffe Milli Görüs (Nationale Sicht) und Adil Düzen (Gerechte Ordnung). Sowohl in der Türkei als auch in Deutschland besteht die MGB aus mehreren Komponenten, die von einer gemeinsamen ideologisch-religiösen Ausrichtung und der ideellen Bindung an den türkischen Politiker Necmettin Erbakan zusammengehalten werden. Obgleich alle Vereinigungen der MGB für sich gesehen selbständig und unabhängig voneinander agieren, ist die verfassungsfeindliche Milli Görüs-Ideologie, wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung, das sie alle einigende Band. 264 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ab 2013 etablierten sich in Deutschland neue Strukturen der Milli Görüs-Bewegung in Form von Organisationen, die einen Schwerpunkt auf die politischen Aspekte der Ideologie legen und damit im Gegensatz zu eher religiös ausgerichteten Strukturen stehen. Dies sind insbesondere die Saadet Partisi (SP), die Erbakan-Stiftung sowie die Ismail Aga Cemati (IAC). In seinen ideologischen Vorstellungen ging Erbakan von zwei politischen Ordnungen aus, einer von Menschen geschaffenen und einer von Gott geoffenbarten. Die von Menschen geschaffene Ordnung sei stets mit Fehlern behaftet und führe zu Ungerechtigkeit und zur Unterdrückung der Schwachen durch die Starken, und zwar ungeachtet der konkreten Gestaltung zum Beispiel als Monarchie, sozialistischer Volksdemokratie oder als westlicher Demokratie. Zu diesen "nichtigen Ordnungen" (Batil Düzen) zählte Erbakan unter anderem die ägyptischen Pharaonen, das Römische Reich wie auch sämtliche westlichen politischen Systeme. Zu den Ordnungen, die die göttliche Wahrheit und das Recht repräsentieren, gehören - in dieser zeitlichen Abfolge - die hebräische, christliche und islamische Zivilisation. Diese seien "gerechte Ordnungen" (Adil Düzen), weil sie auf der Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes basieren. Die islamische Zivilisation solle die westliche Zivilisation in der Vorherrschaft ablösen. Dies ist das politische Ziel der von Erbakan gegründeten und bis zu seinem Tode geführten politischen Bestrebung Milli Görüs. Das erste Ziel der Mission von Milli Görüs ist die Durchsetzung der "gerechten Ordnung" in der Türkei. Von dort aus solle die Mission in die Welt hinausgetragen werden. Trotz eines zum Teil martialischen Vokabulars hat die Milli Görüs-Bewegung innerhalb und außerhalb der Türkei ihre Ziele ausschließlich mit politischen Mitteln verfolgt. IslamIsmus 265 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Seit den Parlamentswahlen 2018 ist die SP durch eine Bündnisliste mit zwei Abgeordneten im türkischen Parlament vertreten. Finanzierung Spenden und Mitgliedsbeiträge Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Umsetzung des Adil Düzen-Konzepts als Ziel der politischen Bewegung Milli Görüs ist mit den Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar, da eben diese überwunden werden soll. Darüber hinaus treten antisemitische Einstellungen sowohl in der Schrift Adil Düzen als auch bei Äußerungen Necmettin Erbakans und einiger Milli Görüs-Funktionäre deutlich zu Tage. Die Milli-Görüs-Bewegung unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Entwicklungen der Saadet Partisi Anfang März 2020 fanden in NRW noch mehrere Gedenkfeiern anlässlich des 9. Todestages des Milli Görüs-Gründers Necmettin Erbakan statt. Aufgrund der Beschränkungen zum Pandemieschutz wurden weitere Aktivitäten im Jahresverlauf erheblich reduziert. Die in den letzten Jahren in unregelmäßigen Abständen abgehaltenen Konferenzen, Vortragsund Bildungsveranstaltungen der verschiedenen Regionalverbände der Saadet Partisi sind im Berichtszeitraum aufgrund der CoroFacebook-Beitrag der Saadet Partisi Dortmund zu einer Zoom-Konferenz na-Pandemie zum Teil ausgefallen oder haben nur virtuell per Internet stattgefunden. 266 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Eine Versammlung auf europäischer Ebene, die in der Vergangenheit unter anderem in NRW organisiert worden war, fand im Berichtsjahr nicht statt. Eine organisatorische Kooperation mit islamischen Gemeinschaften türkischer Herkunft war 2020 in NRW nicht festzustellen. Im Verlauf des Jahres hat die SP in der Türkei ihre neue Zentrale in Ankara in Betrieb genommen. Das repräsentative Gebäude war zuvor umfassend renoviert worden. Eine größere Eröffnungsfeier musste pandemiebedingt entfallen. Die Partei warb unter ihren Anhängern massiv dafür, sich durch Spenden an der Finanzierung der neuen Zentrale zu beteiligen. Weitere Organisationen der Milli Görüs-Bewegung Bei der BSFG, der EV und der IAC waren im Berichtszeitraum keine öffentlichen Veranstaltungen in NRW feststellbar. Der 2015 abgeschobene Prediger Nusret Cayir hält den Kontakt zu seinen Anhängern in der IAC über Videozuschaltungen aufrecht und verbreitet dabei seine demokratiefeindlichen Anschauungen - wie beispielsweise die Ablehnung der Gleichstellung von Frauen - auch in Deutschland. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Saadet Partei verfügt trotz der nur geringen parlamentarischen Beteiligung in der Türkei über Strukturen mit Regionalund Ortsvereinen in NRW. Sie steht weiterhin für jenen Flügel der Milli-Görüs-Bewegung, der sich dem politischen Vermächtnis Erbakans verpflichtet sieht. Damit vertritt sie nur einen kleineren Teil der Milli-Görüs-Anhänger, und es erscheint zunehmend unwahrscheinlicher, dass ihr eine erneute politische Mobilisierung der gesamten Bewegung gelingt. Ein zentrales Ziel der hiesigen Strukturen der Saadet Partisi ist hauptsächlich die Weiterverbreitung der politischen Konzepte Erbakans und damit verbunden eine Gewinnung von Mitgliedern. Die Aktivitäten waren jedoch durch die pandemiebedingten Einschränkung des öffentlichen Lebens 2020 stark reduziert. Die virtuellen Aktivitäten stellten keinen adäquaten Ersatz für die entfallenen Veranstaltungen dar, so dass insgesamt ein Rückgang der Aktivitäten zu verzeichnen ist. Auch die Mitgliederzahl stagniert weiterhin. Von einem Aufschwung und einem merklichen Anstieg der Anhängerschaft ist derzeit nicht auszugehen. Dies gilt ebenso für die anderen in Nordrhein-Westfalen aktiven Organisationen der Milli Görüs-Bewegung (IAC, BSFG, EV). IslamIsmus 267 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Türkische Hizbullah (TH) Sitz/Verbreitung Türkei Gründung/Bestehen seit 1979 in Diyarbakir Struktur/ Repräsentanz Mehrere Gemeinden in NRW, die sich jedoch nicht offen zur TH bekennen. In der Türkei steht die Hür Dava Partisi der TH nahe. Mitglieder/Anhänger/ NRW: 100 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Publikationen: Inzar Dergisi (Warnung), Dogru Haber (Richtige Nachricht), mehrere Web-Angebote Kurzporträt/Ziele Anfang der 1980er Jahre bildeten sich unter sunnitischen Kurden in der Türkei Gruppierungen heraus, die für die Errichtung einer auf strikter Befolgung von Koran und Scharia gegründeten, von ihnen so bezeichneten "islamischen Herrschaft" eintraten und sich gegen den säkularen türkischen Staat wandten. Aus einer dieser Gruppierungen entwickelte sich die Hizbullah (Partei Gottes), die vor allem seit Beginn der 1990er Jahre zur Erreichung ihrer politischen Ziele gegen interne Abweichler, gegen die kurdische Separatistenorganisation Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), gegen liberale Journalisten und gegen Vertreter des türkischen Staates Gewalt anwendete. Im Januar 2000 wurde Hüseyin Velioglu, der Anführer der sogenannten Türkischen Hizbullah, in Istanbul bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet. Dieser Vorfall und weitere Exekutivmaßnahmen der türkischen Strafverfolgungsbehörden, bei denen mehrere Funktionäre der 268 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Organisation und zahlreiche Mitglieder festgenommen und inhaftiert wurden, führten zu einer empfindlichen Schwächung der Hizbullah. Zugleich wurde aus Papieren und Videoaufzeichnungen, die in ihren Archiven gefunden wurden, deutlich, in welch großem Ausmaß die Organisation Entführungen, Morde und andere Gewalttaten verübt hatte. Zahlreiche Aktivisten der TH setzten sich daraufhin nach Europa und insbesondere nach Deutschland ab. In der 2004 erschienenen Schrift Kendi Dilinden Hizbullah stellt ihr Verfasser, ein Funktionär der Türkischen Hizbullah, die Verbrechen der Organisation in den 1990er Jahren als Akte der Selbstverteidigung dar. Im Januar 2012 veröffentlichten TH-nahe Internetseiten ein Manifest, das die Gruppe auf eine neue ideologische Grundlage stellte. Darin wird unter anderem klargestellt, dass man die anvisierten Ziele, die immer noch eindeutig islamistisch sind und die Ablehnung einer säkularen Ordnung beinhalten, nur noch gewaltfrei und auf legalem Wege erreichen wolle. In ihrer Zielsetzung verbindet die Türkische Hizbullah eine islamistische mit einer kurdisch-nationalen Agenda. Im ideologischen Hauptwerk Kendi Dilinden Hizbullah sind die Grundprinzipien der TH dargelegt. Die Türkische Hizbullah sieht die Uneinigkeit der islamischen Welt und die Herrschaft nicht-islamischer Regime als Ursache aller gesellschaftlichen und politischen Probleme an. Ihr erklärtes Ziel ist es, dies zu ändern und den Islam zur Herrschaft zu bringen. Zu ihren Feindbildern gehören neben den internen Abweichlern, der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Republik Türkei auch die "imperialistischen" und "zionistischen Mächte", also die westliche Staatengemeinschaft und Israel. Sie werden für die Unterdrückung IslamIsmus 269 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 der Muslime verantwortlich gemacht. Hauptziel der TH ist die Beseitigung des laizistischen Staatssystems in der Türkei und langfristig die Errichtung eines islamistischen Regimes. Finanzierung Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Aus dem Manifest der TH geht hervor, dass das zentrale Ziel der TH nach wie vor die Errichtung einer islamischen Ordnung ist. Regierungen und Staaten, die dem Islam nicht im - aus Sicht der TH - gebotenen Umfang Geltung verschaffen, gehören zum Feindbild. Die TH unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Berichtszeitraum wurde die antisemitische Grundhaltung der TH unter anderem daran ersichtlich, dass deren Pressebüro im Juni 2020 dem Palästinensischen Islamischen Jihad anlässlich des Todes des ehemaligen Leiters der Organisation, Ramadan Shalah, kondolierte und ihre Unterstützung für den palästinensischen "Widerstand" bekundete. In einer Grußbotschaft zum islamischen Opferfest wurde zudem die Ablehnung Israels bekräftigt und Kondolenzbotschaft der Türkischen Hizbullah zur Einheit der Muslime aufgerufen. 270 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 In der Vergangenheit organisierten Vereine in Deutschland, die der TH nahestehen, Veranstaltungen mit kulturellem Anstrich. Durch die Außenwirkung sollten neue Mitglieder geworben werden. Im Berichtszeitraum waren aufgrund der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen keine Aktivitäten mit Außenwirkung feststellbar. Aus Anlass der Pandemie veröffentlichte der TH-Leiter eine Botschaft, in der er dazu aufrief, der Situation etwas Positives abzugewinnen. Die durch die Isolation gewonnene Zeit solle man mit der Familie verbringen und zu Koranlektüre und Gebet nutzen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Organisation nutzt Nordrhein-Westfalen als Rückzugsraum zur Gewinnung neuer Mitglieder, um Spenden zu sammeln und religiöse und kulturelle Treffen zu veranstalten. Die TH verhält sich in Deutschland auch weiterhin in höchstem Maße konspirativ, um nicht in den öffentlichen Fokus zu geraten. Mit einer Abkehr von ihrer politischen Zielsetzung oder von ihrem konspirativen Verhalten wird auch in Zukunft nicht gerechnet. IslamIsmus 271 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Furkan-Gemeinschaft Sitz/Verbreitung Zentrale: Adana (Türkei) Deutschland: Zentren in Dortmund, Hamburg, Berlin und München Gründung/Bestehen seit 1994 Gründung der Furkan Vakfi (Furkan Stiftung) in der Türkei. In NRW seit etwa 2011 vertreten. 2015 Gründung des Furkan Kulturund Bildungszentrums e.V. in Dortmund. Struktur/ Repräsentanz Regionale Vertretungen in Deutschland, hierarchische Gliederung mit Alparslan Kuytul als Gründer an der Spitze Mitglieder/Anhänger/ NRW: 80 Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Zeitschrift Furkan Nesli Dergisi (Magazin der Generation Furkan), Verbreitung von Inhalten über die eigene Internetpräsenz, über Videoplattformen und in sozialen Netzwerken (FurkanTV) Kurzporträt/Ziele Die Furkan Stiftung für Bildung und Dienst (Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) - auch als Furkan-Gemeinschaft bezeichnet - wurde durch Alparslan Kuytul, einen türkischen Bauingenieur und islamischen Rechtsgelehrten, gegründet. Er ist bis heute ihre charismatische Führungsfigur. Die Organisation verfolgt das Ziel, die "Islamische Zivilisation" (Islam Medeniyeti), die wesentlich durch das islamische Recht geprägt sein soll, zu stärken und gegen andere "Zivilisationen" - hier ein Synonym für Staatsund Gesellschaftsordnungen - durchzusetzen. 272 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zur Umsetzung bemüht sich die Bewegung um eine Stärkung der Ummah (Gemeinschaft der Muslime) sowie die Ausbildung und Schulung einer Vorreiter-Generation (Öncü Nesil). Sie soll als gesellschaftliche Avantgarde auf das Ziel hinwirken. Zentrum der Furkan-Gemeinschaft ist Adana (Türkei), der Wohnort Kuytuls. Die Furkan-Gemeinschaft hat Ableger in zahlreichen Städten der Türkei und in Europa, darunter auch Deutschland. Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden, Eintrittsgelder, Erlöse aus Veranstaltungen Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Anhänger der Furkan-Gemeinschaft orientieren sich auch in Deutschland vor allem an den Lehren Alparslan Kuytuls, der in den Medienangeboten der Bewegung omnipräsent ist. Sein zentrales Anliegen ist die Rückkehr zu einer "Islamischen Zivilisation". Diese soll sich ausschließlich an Koran und Sunna (prophetische Tradition) orientieren und Gott das ihm zustehende Recht zur Herrschaft einräumen. Die Furkan-Gemeinschaft geht davon aus, dass die Demokratie die Rechte Gottes vereinnahme und die Teilhabe am politischen Prozess zu Kompromissen zwinge, die im Widerspruch zu Gottes Gesetzen stünden. Solche Kompromisse dürften nach Kuytuls Verständnis jedoch keinesfalls eingegangen werden. Aus dieser Auffassung resultiert eine prinzipielle Ablehnung der Demokratie, die sich auch im Verbot der Teilnahme an Wahlen widerspiegelt. Dieses politische Religionsverständnis lehnt demnach die Herrschaft des Volkes, also die Demokratie, ab und strebt eine Herrschaft Gottes an, die auf der Scharia basieren soll. Somit stellt die Furkan-Gemeinschaft eine islamistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung dar und unterliegt deshalb nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Als religiöse Erneuerungsbewegung richtet sich die Furkan-Gemeinschaft zunächst vor allem an Muslime. Sie ruft diese dazu auf, ihren Glauben aktiv zu leben und aus einer religiösen Motivation heraus als Vorreiter-Generation zu wirken, indem sie auf die IslamIsmus 273 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Verwirklichung der "Islamischen Zivilisation" hinarbeitet. Zu diesem Zweck sollen nicht nur Kenntnisse über den Islam, sondern auch in modernen Wissenschaften erlangt und vertieft werden. Den Einsatz von Gewalt verneint Kuytul nicht prinzipiell, schließt ihn zum jetzigen Zeitpunkt jedoch aus. Ihm erscheine die Anwendung von Gewalt im Augenblick lediglich für die Befreiung muslimischer Länder gerechtfertigt. In diesem Zusammenhang wird auch der Westen, der die Muslime an der Verwirklichung der "Islamischen Zivilisation" hindere, zum Feindbild stilisiert. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Von besonderer Relevanz für die Furkan-Gemeinschaft war der Freispruch ihres Leiters Alparslan Kuytul von Terrorvorwürfen in der Türkei. Im November 2020 wurde dies auch von hiesigen Anhängern begeistert aufgenommen. Facebook-Beitrag der Furkan Gemeinschaft zum Freispruch ihres Leiters Kuytul 274 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Furkan-Gemeinschaft bietet weiterhin verschiedene Bildungsangebote an, um die von ihr propagierte Vorreiter-Generation auszubilden und im Hinblick auf die von Alparslan Kuytul verkündeten Ideen und Ansichten zu schulen. Die hiesigen Furkan-Anhängerinnen und -Anhänger sind gut vernetzt und pflegen intensive Kontakte zu Furkan-Gruppen in anderen Bundesländern sowie zur Mutterorganisation in der Türkei. Trotz der Einschränkungen durch die Pandemie-Schutzbestimmungen war die Furkan-Gemeinschaft im Jahr 2020 bemüht, im Rahmen der Möglichkeiten auch weiterhin Veranstaltungen durchzuführen und die Anhänger in die Gemeinschaft einzubinden. Über die sozialen Medien konnten zudem neue Mitglieder gewonnen werden, was besonders in der Zeit des Pandemieschutzes von Bedeutung war, da eine klassische Missionierungsarbeit im öffentlichen Raum nur mit Einschränkungen erfolgen konnte. Um ihre oft jüngeren Sympathisanten medial zu erreichen, ist die Furkan-Gemeinschaft auf Facebook, YouTube und Instagram vertreten, wobei diese Plattformen zur Verbreitung der eigenen Ideologie und Weltsicht instrumentalisiert werden. Dort nimmt man sich gesellschaftlich relevanter Themen und Ereignisse an und interpretiert diese aus der eigenen islamistischen Perspektive. Im Berichtszeitraum war insbesondere eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des legalistischen Islamismus erkennbar, da die Furkan-Gemeinschaft in den Medien als Vertreter dieser Strömung genannt worden war. Im Anschluss bezogen Funktionäre der Furkan-Gemeinschaft in einem im Internet veröffentlichten Podcast Stellung zum Begriff des legalistischen Islamismus. Podcast der Furkan-Gemeinschaft zum Begriff des legalistischen Islamismus IslamIsmus 275 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Sie beklagten eine verzerrte Darstellung ihrer Organisation und kritisierten besonders die Definition des Islamismus durch den Verfassungsschutz. Unter Verweis auf Artikel 4 des Grundgesetzes betonten sie, dass eine Propagierung ihrer Weltanschauung nicht kriminell sei. In dieser Darstellung wurde korrekt wiedergegeben, dass das Eintreten für eine bestimmte Ideologie nicht strafbewehrt ist, selbst wenn diese extremistisch ist. Die Furkan-Funtionäre verkannten dabei jedoch das gesetzlich verankerte Konzept der streitbaren Demokratie. Dieses geht davon aus, dass das Grundgesetz eine Bindung an bestimmte Werte aufweist und sich der Staat zu diesen Werten bekennt, die auch als freiheitliche demokratische Grundordnung bezeichnet werden. Konkret bedeutet dies, dass sich nach den Erfahrungen der Weimarer Republik der demokratische Rechtsstaat gegen extremistische Bestrebungen wehren kann und muss, wenn diese aktiv gegen seine Werteordnung eintreten. Die Furkan-Funktionäre betonen in ihrem Video zugleich, dass die "islamische Weltanschauung" ihrer Meinung nach beinhalte, dass sich Gott zu allen Lebenslagen geäußert habe, was impliziert, dass auch die politische und gesellschaftliche Ordnung letztlich durch ihn bestimmt seien. Sie machen damit deutlich, dass sie den Islam nicht nur religiös verstehen, sondern eine politisierte Glaubensauffassung vertreten. Die Furkan-Gemeinschaft kann demnach mit Recht dem legalistisch-islamistischen Spektrum zugerechnet werden, das zwar gewaltfrei auftritt, aber eindeutig gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung agitiert. Des Weiteren wird in dem Video besonders eine Stigmatisierung durch den Verfassungsschutz NRW beklagt, der behauptet habe, dass Islamisten, die sich an Recht und Gesetz halten, gefährlicher seien als jihadistische Gewalttäter. Die Aussage des Verfassungsschutzes bezog sich darauf, dass legalistisch agierende extremistische Bestrebungen eher das Potenzial besitzen, langfristig und nachhaltig die freiheitliche demokratische Grundordnung zu unterminieren, als terroristische salafistische Jihadisten, denn die Gewalttaten der Jihadisten verschaffen diesen weder Zustimmung noch gesellschaftlichen Einfluss. Ihre Propaganda erreicht zwar einige Menschen, doch bleiben sie - auch gewollt - von der Gesellschaft isoliert. Geschickt agierende legalistische islamistische Bestrebungen können dagegen viel eher unauffällig gesellschaftliche Positionen einnehmen und Diskurse in ihrem Sinne beeinflussen. Dadurch ist deren Wirkung gesellschaftlich und politisch langfristig wesentlich nachhaltiger. 276 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Angebote und Aktivitäten der Furkan-Gemeinschaft in Deutschland sind im Berichtszeitraum auch in der virtuellen Welt weiter feststellbar. Wie die Furkan-Gemeinschaft zukünftig in der Öffentlichkeit agiert, wird sich erst im Anschluss an eine Normalisierung des öffentlichen Lebens nach der Corona-Pandemie zeigen. Durch die Entlassung des Gründers und geistigen Oberhauptes Alparslan Kuytul aus türkischer Haft hat sich das Engagement seiner Anhängerschaft gesteigert, und die Gemeinschaft kann ihre Ressourcen wieder vollständig für die Etablierung ihrer Gruppierung einsetzen. Kuytul ist seit seiner Haftentlassung erneut sehr stark in den sozialen Medien vertreten und kann seinen Anhängern in der Türkei und im Ausland wieder seine Ideologie vermitteln. Vor diesem Hintergrund ist erkennbar, dass sich hiesige Furkan-Anhänger neuerdings weniger mit den Entwicklungen in der Türkei, dafür aber stärker mit der Wahrnehmung ihrer Organisation in Deutschland und dem zunehmenden öffentlichen Bewusstsein um deren extremistische Prägung auseinandersetzen. IslamIsmus 277 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Palästinensischer Islamischer Jihad (Harakat al-Jihad alIslami fi-l-Filastin - PIJ) Sitz/Verbreitung Zentrale in Damaskus, militante Aktivitäten im Gaza-Streifen und im Westjordanland, Unterstützer in der globalen palästinensischen Exilgemeinde Gründung/Bestehen seit 1981 Struktur/ Repräsentanz In Deutschland keine offiziellen Strukturen, aber Personenzusammenschlüsse, die dem PIJ ideologisch nahestehen Mitglieder/Anhänger/ NRW: Einzelmitglieder/ Unterstützer 2020 Veröffentlichungen Offizieller Internetauftritt und Internetauftritt des militärischen Flügels Kurzporträt/Ziele Die Bewegung des Islamischen Jihad in Palästina wurde 1981 durch ehemalige Mitglieder der Muslimbruderschaft, die sich in ihren militanten Aktivitäten gegen Israel durch die Islamische Revolution in Iran inspiriert fühlten, gegründet. Die Organisation musste 1987 in den Libanon ausweichen, wo sie bis heute bestehende, enge Kontakte zu Iran knüpfte und ihre Kämpfer durch die Hizb Allah militärisch geschult wurden. Bis heute sind dem PIJ zahlreiche Anschläge auf Israel zuzuschreiben, die in vielen Fällen zivile Opfer forderten. Der wichtigste Zweig des PIJ sind die al-Quds-Brigaden (Sarayat al-Quds), die dessen militärischen Arm darstellen. Darüber hinaus unterhält der PIJ auch ihm nahestehende soziale und karitative Vereinigungen, die Personen an die 278 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ziele der Organisation heranführen und ideologisch festigen sollen. Ziel des PIJ ist die von ihm so bezeichnete Befreiung Palästinas durch die Vernichtung Israels und die Etablierung einer islamischen Gesellschaftsordnung. Der bewaffnete Kampf gegen den "zionistischen Feind" wird als religiöse Pflicht verstanden. Zu diesem Zweck setzt die Organisation ausschließlich auf die Anwendung von Gewalt. Im Gegensatz zur HAMAS ist der PIJ nicht zu Verhandlungen mit Israel bereit und strebt auch keine politische Repräsentanz an. Zu den Mitgliederzahlen liegen keine verlässlichen Zahlen vor, sie dürften im Nahen Osten aber im mittleren vierstelligen Bereich liegen. Deutschland dient dem PIJ als Rückzugsraum, militante Aktivitäten finden hier nicht statt. Die hiesigen Anhänger waren vor ihrer Migration nach Deutschland überwiegend in den karitativen Zweigen aktiv und dürften sich hier auf die finanzielle und propagandistische Unterstützung des PIJ konzentrieren. Ideologisch treten sie aber dennoch für die gewaltsame Befreiung Palästinas ein. Finanzierung Finanzielle Unterstützung vor allem durch Iran Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Aufgrund der Ablehnung des Existenzrechts Israels und seines bewaffneten Kampfes gegen den israelischen Staat unterliegt der PIJ nach SS 3 Abs. 1 Nr. 3 und 4 VSG NRW der nachrichtendienstlichen Beobachtung als Bestrebung, die durch Anwendung von Gewalt die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet und sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet. IslamIsmus 279 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Sein Eintreten für eine islamistische Ordnung qualifiziert den PIJ als Bestrebung, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet und bietet nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 VSG NRW eine weitere Beobachtungsgrundlage. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Erstmals Netzwerkstrukturen des PIJ in NRW erkennbar Im Berichtszeitraum war in Nordrhein-Westfalen erstmals online und in direkten Kontakten ein Netzwerk aus Sympathisanten des PIJ feststellbar, das vor allem aus Personen mit palästinensischem Hintergrund besteht, die überwiegend während der letzten Jahre aus Syrien zugewandert sind. Sie waren dort hauptsächlich im sozialen Zweig der Bewegung aktiv. Die Sympathisanten des PIJ zeigen sich teilweise offen gegenüber anderen militanten Palästinenserorganisationen wie etwa der säkularen Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP). Die größte ideologische Nähe besteht jedoch zur islamistischen HAMAS. Teilweise ist erkennbar, dass hiesige PIJ-Sympathisanten Anbindung an bereits etablierte HAMAS-Strukturen suchen. Entwicklung im Nahen Osten Im Nahen Osten war der PIJ weiterhin militärisch aktiv und versuchte durch Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen die Bevölkerung Israels zu terrorisieren. Im Juni 2020 starb der langjährige Leiter des PIJ, Ramadan Shalah. Er hatte der Organisation über 20 Jahre vorgestanden, bis er im Jahr 2018 aufgrund seiner sich verschlechternden Gesundheit das Amt an seinen Nachfolger Ziyad al-Nakhala übergeben musste. Sein Tod führte zu Kondolenzbekundungen zahlreicher regionaler Organisationen, die das Anliegen des PIJ unterstützen, wie etwa die Hizb Allah, die HAMAS und die Muslimbruderschaft. 280 IslamIsmus Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Video des Trauermarschs für den verstorbenen Leiter der PIJ Ramadan Shalah Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Berichtszeitraum konnten erstmals erwähnenswerte Aktivitäten von Unterstützern des PIJ festgestellt werden. Es ist davon auszugehen, dass diese auch in Nordrhein-Westfalen ihre israelfeindliche Haltung zum Ausdruck bringen und sie sich in diesem Sinne engagieren werden. Für die Zukunft ist zu prüfen, inwiefern es den PIJ-Sympathisanten gelingen wird, eigenständige Strukturen aufzubauen, oder ob sie sich zur Förderung ihres Hauptziels - des Kampfes gegen Israel - langfristig auf bereits bestehende und funktionierende Netzwerke der HAMAS stützen. IslamIsmus 281 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 282 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Extremismus im Internet extremIsmus Im Internet 283 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Extremismus im Internet Die Möglichkeiten, die das Internet bietet, haben insbesondere im letzten Jahrzehnt zu einem tiefgreifenden Wandel in der Art geführt, wie Extremisten kommunizieren, mobilisieren, ihre Ideologien verbreiten und sich radikalisieren. Sie nutzen Live-Chats, Videoplattformen, Online-Foren und soziale Medien für die Außendarstellung und organisieren sich untereinander unter anderem über Messenger-Plattformen. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz passt seine Arbeitsweisen laufend und dynamisch an diese Entwicklungen an und betrachtet die Beobachtung extremistischer Online-Aktivitäten als einen seiner zentralen Schwerpunkte. Für alle extremistischen Akteure und Gruppierungen in Nordrhein-Westfalen bildet das Internet mittlerweile eine grundlegende Plattform für den gegenseitigen Austausch und die Verbreitung der eigenen extremistischen Propaganda. Extremisten nutzen das Internet zur Kommunikation, Ideologisierung, Radikalisierung und Mobilisierung. Neben diesen grundlegenden Gemeinsamkeiten beim Einsatz digitaler Medien unterscheiden sich Rechtsund Linksextremisten, Islamisten und Extremisten mit ausländischen Bezügen jedoch in Details bei der Wahl von Online-Anwendungen und -Diensten sowie bei der konkreten Nutzung. Kommunikation Der virtuelle Raum steht mittlerweile im Zentrum der rechtsextremistischen Propaganda und des gegenseitigen Austausches. Seine Nutzung hat die rechtsextremistische Szene erheblich verändert und noch stärker digitalisiert. Neben realweltlichen Angeboten für das gemeinschaftliche Erleben - darunter Demonstrationen und Kameradschaftsabende - ist eine virtuelle Ebene hinzugekommen. Die Einschränkungen während der Corona-Pandemie haben diese Entwicklung weiter vorangetrieben. Grundsätzlich lassen sich drei Typen virtueller Plattformen unterscheiden, auf denen sich Rechtsextremisten bewegen: > Populäre Plattformen, die von Extremisten für ihre Zwecke genutzt werden und die ursprünglich für andere Zwecke entwickelt wurden. Hierzu zählen Facebook und WhatsApp. 284 extremIsmus Im Internet Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 > Ultraliberale Plattformen, die vor allem die Redefreiheit in den Vordergrund ihres Konzepts stellen und dadurch auch extremistische Inhalte dulden. Als Beispiele können hier die Twitter-Alternative Gab.ai oder Imageboards wie 4chan oder 8kun genannt werden. > Plattformen von Extremisten für Extremisten, wie die Dating-Plattform WhiteDate. Von Rechtsextremisten genutzte Partnerbörse "WhiteDate" Dabei werden sämtliche technischen Kommunikationsmöglichkeiten, die frei zugänglich sind und über die ein Kontakt zu Gleichgesinnten möglich ist, durch die rechtsextremistische Szene genutzt. Unter den sozialen Medien hat die größte Bedeutung nach wie vor Facebook, auch wenn rechtsextremistische Inhalte und Kommentare vom Betreiber zunehmend gelöscht und Nutzer gesperrt werden. Für die Verbreitung rechtsextremistischer Botschaften und die Vernetzung besitzt Facebook aber aufgrund seiner großen Reichweite weiterhin eine herausragende Bedeutung. Indessen gewinnen auch immer mehr alternative Plattformen an Bedeutung. "Deplatforming" - das konsequente Löschen von rechtsextremistischen Inhalten und Profilen durch Plattformbetreiber - sorgt dafür, dass immer mehr Rechtsextremisten sich nach Alternativen umschauen und von etablierten Portalen abwandern. Das konsequente Vorgehen der Plattformbetreiber erschwert es Rechtsextremisten zunehmend, ihre menschenverachtenden Botschaften mit großer Reichweite zu verbreiten. Als Reaktion auf diese Entwicklung veröffentlichte der führende Kopf der Identitären Bewegung, Martin Sellner, deshalb im Juli 2020 eine Strategie zur "digitalen Guerilla". Er fordert extremIsmus Im Internet 285 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 darin die Szene auf, neben den großen Plattformen weitere Konten bei alternativen Plattformen anzulegen und seinen Profilen dort zu folgen. Diese Strategie haben zahlreiche Rechtsextremisten aufgegriffen. Durch dieses Deplatforming verschwinden die Inhalte nicht automatisch, sie wechseln häufig nur das Portal, büßen dabei allerdings an Reichweite ein. Die auf zahlreichen Plattformen verstreuten rechtsextremistischen Gruppen und Foren sind schwerer im Blick zu behalten. Zu den Alternativen zählen Chat-Applikationen der Gamer-Szene wie Discord-Server sowie soziale Netzwerke wie Gab und Imageboards wie 8kun. Ebenfalls zählt Bitchute dazu - vergleichbar mit der Videoplattform YouTube, allerdings mit so gut wie keinen Einschränkungen mit Blick auf extremistische Inhalte. Plattformübergreifender Aufruf von Martin Sellner zur Strategie einer "digitalen Guerilla" Bei den alternativ genutzten Portalen hat kaum eine Plattform in den letzten Jahren für die rechtsextremistische Szene so an Bedeutung gewonnen wie Telegram. Seit zwei Jahren lässt sich ein rasanter Anstieg rechtsextremistischer Inhalte feststellen. Einige deutschsprachige Kanäle mit rechtsextremistischen Inhalten verfügen über 120.000 Mitglieder. Täglich werden mehrere Zehntausend neue Inhalte produziert, geteilt und veröffentlicht. Diverse rechtsextremistische Parteien und Gruppierungen rufen offen dazu auf, Telegram zu nutzen. So findet sich beispielsweise auf einem Telegram-Kanal des Duisburger Kreisverbandes von Die Rechte ein Foto, auf dem ein an der Straße aufgestelltes Banner mit der bezeichnenden Aufschrift "Was YouTube löscht, Facebook sperrt und WhatsApp nicht kann, all das geht in Telegram!" zu sehen ist. In Telegram-Gruppen können sich Nutzer im direkten Kontakt austauschen, sowohl mit anderen Mitgliedern, als auch mit Administratoren solcher Gruppen. Viele dieser Grup286 extremIsmus Im Internet Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 pen haben Mitgliederzahlen im dreistelligen Bereich, selten mehr als tausend Nutzer. Linksextremisten nutzen das Internet ebenfalls, um sich zu vernetzen. Sie dokumentieren beispielsweise ihre Aktivitäten und bewerben Veranstaltungen. Kurznachrichtendienste wie Twitter werden dazu genutzt, Unterstützende für oft klandestin geplante und Banner von der Partei Die Rechte in Duisburg öffentlichkeitswirksam durchgeführte Aktionen zu mobilisieren. In Form von "Live-Tickern" werden dabei auch Standorte von politischen Gegnern oder Polizeikräften veröffentlicht, um Szeneangehörigen die Möglichkeit zu geben, ihre Aktionsplanungen anzupassen und situationsbezogen zu reagieren. Datenschutz und Datensicherheit sind für die linke Szene bei der Nutzung des Internets von herausgehobener Bedeutung. Regelmäßig werden sensibilisierende Hinweise zu diesem Thema veröffentlicht. Die Szene betreibt Websites in der Regel über anonymisierte Server, erstellt Beiträge und Kommentare unter Nutzung von Anonymisierungsdiensten und nutzt zur Korrespondenz E-Mail-Adressen von anonymisierenden Anbietern. Innerhalb des extremistischen Salafismus und des Jihadismus verlagerte sich die Verbreitung von Propaganda im letzten Jahrzehnt ebenfalls zunehmend in das Internet und die sozialen Medien. Die Verbreitung von Propagandainhalten sowie die Kommunikation, die Kontaktanbahnung bis hin zur Anschlagssteuerung wurden durch die Nutzung der sozialen Medien erleichtert. Innerhalb der Szenen werden hauptsächlich die Plattformen Facebook, Instagram, WhatsApp und Telegram genutzt. Vor allem die App Telegram ist innerhalb der salafistischen Szene aufgrund ihrer leichten Zugänglichkeit erste Wahl. Der extremistische Salafismus und der Jihadismus sind in Deutschland extremIsmus Im Internet 287 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 heute ohne soziale Medien schon wegen der grundlegend geänderten Kommunikationsgewohnheiten in der Gesellschaft und damit auch in der Szene sowie wegen der auf diesem Wege zu erzielenden deutlich höheren Reichweite nicht mehr denkbar. Im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus lässt sich ebenfalls eine steigende Nutzung des Internets feststellen. Insbesondere soziale Medien gewinnen mit Blick auf eine digitale Vernetzung an Bedeutung. Hierbei muss zwischen den unterschiedlichen Plattformen und deren divergierenden Darstellungsformen unterschieden werden. Auf der Ebene der legalistischen Organisationen mit ihren Telegram-Kanal mit Handlungsempfehlungen für die Szeneangehörigen örtlichen Vereinen und überregional aktiven Organisationen, wird neben bestehenden Websites vorwiegend auf Facebook zurückgegriffen. Einzelpersonen und kleinere Untergruppierungen nutzen für ihre Zwecke vermehrt Bloggingund Messenger-Dienste wie beispielsweise Twitter, Instagram, Telegram, WhatsApp und Snapchat. Darüber hinaus kommen Plattformen wie Flickr zum Ablegen größer Datenpakete beispielsweise mit Videos und Bildern zum Einsatz. Die Messenger-Dienste und Plattformen dienen vorrangig einer beschleunigten Kommunikation und weltweiten Verbreitung von Nachrichten und Informationen. Ereignisse, die den Phänomenbereich betreffen und bewegen, werden über die sozialen Medien im Internet geteilt und breitflächig in die Community getragen. Tagesaktuelle Belange werden diskutiert und kommentiert. Die Art und Weise der Informationsverbreitung ist dabei regelmäßig polemisch und es werden immer wieder einzelne Inhalte aus dem Zusammenhang heraus besonders betont, um die Stimmung beim Empfängerkreis nach der eigenen Interessenlage zu steuern. Ideologisierung Es existiert eine große Vielfalt an rechtsextremistischen Angeboten im Internet, die jeweils unterschiedliche Zielgruppen ansprechen und auf ihrem jeweiligen Niveau abholen. Es gibt Formate für "Einsteiger" und für "Fortgeschrittene". Wer sich der Szene nähert, wird mit eher niedrigschwelliger rechtsextremistischer Propaganda konfrontiert und allmählich in die rechtsextremistische Erlebniswelt hineingezogen. Dies geschieht nicht selten über den Konsum einschlägiger YouTube-Kanäle oder den Eintritt in bestimmte Gruppen in sozialen Medien. Einige rechtsextremistische YouTuber erreichen mehr als 100.000 Abonnenten. Eine vergleichsweise hohe Breitenwirkung 288 extremIsmus Im Internet Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 erzielt etwa die Thematisierung von vermeintlicher oder tatsächlicher Kriminalität von Menschen mit Migrationshintergrund und des Zuzugs von Flüchtlingen. Rechtsextremisten verfolgen damit das Ziel, Ressentiments gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund zu schüren. Die Online-Veröffentlichungen erreichen mitunter ein wesentlich größeres Publikum als realweltliche politische Aktivitäten. Eine neue und besonders aufwendige Form der Verbreitung der Propaganda wählte 2020 der Verein Ein Prozent, der das Jump-and-Run-Computerspiel "Heimat Defender: Rebellion" entwickeln ließ. Während man sich als Spieler genretypisch hüpfend und laufend durch verschiedene Level bewegt, verkörpert man unterschiedliche rechtsextremistische Charaktere der Neuen Rechten, wie beispielsweise Martin Sellner, führender Kopf der Identitären Bewegung. Über das kostenlose Spiel werden teilweise offen, teilweise versteckt menschenfeindliche Botschaften transportiert. Auch im extremistischen Salafismus wird das Internet für die Ideologisierung genutzt. Durch die leichte Zugänglichkeit zu den einschlägigen Kommunikationsplattformen, die zugrundeliegenden Algorithmen und die weit verbreitete Nutzung von Broadcasting-Kanälen in der App Telegram erhalten Sympathisanten des extremistischen Salafismus fortlaufend Meldungen und Vorschläge zum Abonnieren neuer Profile und Kanäle. Somit werden die zumeist jungen Konsumenten nach und nach an extremistische und jihadistische Inhalte herangeführt. Ein Grund für die gestiegene Nutzung von Online-Plattformen im auslandsbezogenen Extremismus ist auch die Corona-Pandemie. Mit der Erweiterung der Internetnutzung bestand so weiterhin die Möglichkeit, schnell und zielgerichtet Informationen zu verbreiten und auszutauschen. In den letzten Monaten haben sich neben den etablierten Plattformen der sozialen Medien auch neue Wege der Kommunikation eingespielt. Immer häufiger werden Veranstaltungen online durchgeführt, um Präsenzveranstaltungen zu ersetzen. Dabei wird oftmals auf Zoom oder vergleichbare technische Möglichkeiten für Videokonferenzen zurückgegriffen. Für Veranstaltungen, die in dieser Art stattfinden, werden die Teilnehmenden persönlich eingeladen, aber auch über Youtube-Kanal zur Verbreitung salafistischer Inhalte extremIsmus Im Internet 289 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Werbung in den oben bereits erwähnten Netzwerken gewonnen. Ein gleiches Vorgehen ist bei den Messenger-Diensten festzustellen. Neben den öffentlich zugänglichen Bereichen findet Kommunikation in geschlossenen, privaten Gruppen statt. Bei diesen Veranstaltungen werden Themen präsentiert und diskutiert. Inhaltlich zielen sie darauf ab, den Teilnehmerkreis für die Belange der Szene zu sensibilisieren. Auf diese Weise wird in "sanfter Form" ideologisiert. Radikalisierung Das Internet ist ein Katalysator für Radikalisierung. Virtuelle Propaganda ist kaum mit Kosten verbunden und schafft eine erhebliche Breitenwirksamkeit durch den großen Empfängerkreis. Zudem entsteht durch die Logik der sozialen Medien - es wird vor allem das vorgeschlagen, was sowieso schon gefällt - eine sogenannte Filterblase, in der Gegen-Narrative von den Nutzern kaum bis gar nicht mehr wahrgenommen werden. Bereits vorhandene extremistische Einstellungen finden im Internet häufig Bestätigung und Verstärkung. In diesem Sinne agieren beispielsweise die Twitter-Accounts rechtsextremistischer Gruppierungen wie NS Rheinland und der Freie Widerstand Oberhausen. Letzterer ist seit 2013 aktiv und geht auf die frühere Kameradschaftsszene in Oberhausen zurück. Nahezu täglich verbreitet der Kanal negative Nachrichten zum Beispiel über vermeintliche Missbräuche des Asylrechts und die Kriminalität von Migranten und er verunglimpft demokratisches Engagement, um fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren und demokratiefeindliche Einstellungen zu bestärken. So kommentierte der Account Fremdenfeindlicher Twitter-Beitrag des Freien Widerstands Oberam 16. November 2020 einen hausen Zeitungsartikel über vermeintliche islamische Parallelgesellschaften mit revolutionärer Rhetorik: "Dieser Staat wird niemals handeln, dafür müssen schon andere Kräfte her!" Aktuell folgen dem Account etwas mehr als 1.000 andere Twitter-Accounts. Bei den Followern handelt es sich über290 extremIsmus Im Internet Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 wiegend um Personen aus dem rechtsextremistischen Parteienspektrum sowie aus der neonazistischen Kameradschaftsszene. Insbesondere geschlossene Gruppen können als Echokammern fungieren, in denen sich die Nutzer in ihren menschenverachtenden Positionen gegenseitig bestätigen und bestärken. Dies kann zu einer sich immer weiter verstärkenden Spirale der Radikalisierung führen. Im Februar 2020 nahmen die bayerischen Sicherheitsbehörden einen jungen Erwachsenen fest, der zuvor in der internationalen rechtsextremistischen Chatgruppe Feuerkrieg Division (FKD) Gewalttaten angekündigt hatte. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung wurden Waffen und rechtsterroristische Manifeste gefunden. Das Landgericht Nürnberg-Fürth verurteilte den Rechtsextremisten im Dezember 2020 wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu zwei Jahren Haft. Derartige Chatgruppen in sozialen Medien oder in Messenger-Diensten ermöglichen eine ungestörte Anbahnung, Kontaktaufnahme und Kommunikation. Die Gruppenmitglieder kennen sich in der Regel ausschließlich aus dem virtuellen Raum. Ihre Gruppenziele legen sie oftmals fest, noch bevor ein reales Kennverhältnis zwischen den handelnden Personen zustande kommt. Aus diesen virtuellen Gruppen können sich auch rechtsterroristische Gruppierungen entwickeln, die bereit sind, schwere staatsgefährdende Straftaten zu begehen. Im Februar 2020 haben die Sicherheitsbehörden in Deutschland - darunter auch in Nordrhein-Westfalen - die Gruppe S zerschlagen. Deren Mitglieder sind inzwischen wegen der Bildung einer terroristischen Organisation angeklagt. Sowohl die Anwerbung als auch die wesentliche Kommunikation der Mitglieder erfolgte über mehrere Gruppen auf dem Messenger-Dienst Telegram. Die Anwendung von Gewalt steht selten am Anfang einer extremistischen Karriere. Vielmehr ist sie das Ergebnis einer Radikalisierung, die immer häufiger auf Internetplattformen ihren Anfang nimmt. Die Radikalisierung des Attentäters von Halle, Stephan B., zeigt dies eindrücklich. Er hat sich ausschließlich an seinem heimischen Computer insbesondere auf Imageboards radikalisiert. Er beging dann am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle und tötete im weiteren Verlauf zwei Menschen. Neben der Gefahr, die von rechtsterroristischen Gruppen ausgeht, bilden alleinhandelnde Täter, die sich im Internet ohne Anbindung an eine extremistische Gruppe radikalisieren, eine besondere Gefahr. Im Linksextremismus kommt anonymen Chatgruppen, Foren, Blogs und den sozialen Medien zwar keine dem Rechtsextremismus vergleichbare Bedeutung für die Radikalisierung zu. Das Netz wird aber vor allem operativ genutzt oder dient zu ersten extremIsmus Im Internet 291 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Kontaktaufnahmen mit potenziellen neuen Szeneanhängern. Diesen folgen vergleichsweise schnell realweltliche Kontakte. Im Nachgang zu Aktionen linksextremistischer Akteure werden im Netz oft Selbstbezichtigungsschreiben mit Begründungen der Aktionen veröffentlicht. Im Zusammenhang mit einer festzustellenden Verrohung der Sprache oder sogenannter Hatespeech ist vor allem eine Abwertung und tendenzielle Entmenschlichung von politischen Gegnern oder Angehörigen staatlicher Organe, insbesondere der Sicherheitsbehörden, zu konstatieren. Die Verbreitung islamistischer und jihadistischer Propagandainhalte erfolgt mit hoher Schlagzahl. Die Erfolgschancen von Radikalisierern und deren Botschaften werden damit erheblich gesteigert und die Inhalte an ein breites Publikum herangetragen. Den Widerspruch zwischen einem vermeintlich authentischen und rückwärtsgewandten islamischen Leben und der Nutzung modernster Kommunikationstechnologie blenden sowohl Propagandisten als auch Konsumenten aus. Die klaren und unmissverständlich formulierten Botschaften greifen das aktuelle politische Geschehen auf und passen dieses in einem der eigenen Ideologie angepassten Sinne an: Beim möglichen Radikalisierungsprozess dient vor allem das Motiv der Rache für vermeintliches Unrecht gegen Muslime weltweit als Legitimationsmuster. Eine vermeintliche Ausgrenzung, Demütigung und Unterdrückung der Muslime durch Staat und Gesellschaft wird im Sinne der Ideologie verstärkt. Dies initiiert emotionale Reaktionen wie Kränkung, Wut und daraus resultierend eine Abwendung von der Gesellschaft. Auf diese Weise gelingt es, gerade junge Menschen im Sinne der extremistisch-salafistischen und jihadistischen Ideologie zu beeinflussen. Hierbei erschwert der fließende Übergang zwischen eher popkulturellen Elementen und tatsächlich extremistischer Propaganda bis hin zu einem eigenen "Lifestyle" die Abgrenzung zwischen klar erkennbarem Extremismus und Elementen einer Jugendkultur. Die verwendeten eigenen Phrasen und Symbole sowie doppeldeutige Botschaften sind sowohl Grundlagen jugendlichen Protests als auch ideologisch motivierter Extremisten. Diese Botschaften fügen sich nahtlos in die Struktur und Wirkungsweise aktueller sozialen Medien ein. Mobilisierung Das Internet ist auch ein rechtsextremistischer Tatort. Insbesondere versuchen Rechtsextremisten, die als Feinde ausgemachten politischen Gegner mit den Möglichkeiten des Internets einzuschüchtern. In den vergangenen Jahren hat das Instrument der sogenannten Feindesliste zugenommen. Dabei handelt es sich in der Regel um Webseiten, auf denen Menschen mit ihren personenbezogenen Daten aufgelistet werden. Dazu zählen Personen, die sich öffentlich gegen Rechtsextremismus, für eine 292 extremIsmus Im Internet Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 humanitäre Flüchtlingspolitik oder beispielsweise für einen interreligiösen Dialog ausgesprochen haben. Sie gelten damit aus Sicht der rechtsextremistischen Szene als Feinde. Die Online-Veröffentlichung der Listen dient vor allem dazu, eine Drohkulisse aufzubauen und den politischen Gegner einzuschüchtern. Nicht ausgeschlossen ist, dass Rechtsextremisten die veröffentlichten Daten nutzen, um Straftaten zu begehen. Mittlerweile sind über zehn solcher Listen im Internet bekannt, die zum Teil über 20.000 Personen benennen. Die Möglichkeiten des Internets erleichtern die Erstellung und Verbreitung von Bedrohungen und erschweren die Strafverfolgung der Urheber. Insofern werden Rechtsextremisten auch in Zukunft weiter auf dieses Mittel setzen. Ende 2018 richtete sich eine Welle von Droh-E-Mails an zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens. In den E-Mails drohten die Absender den Adressaten mit Mord und Sprengstoffanschlägen. In Nordrhein-Westfalen waren mehrere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie Vereinsvorsitzende betroffen. Auch wenn den Drohungen bislang keine Taten folgten, sind die Schreiben aus Sicht der Rechtsextremisten ein Erfolg. Sie verbreiten ein Klima der Einschüchterung unter Personen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Die Sicherheitsbehörden haben bundesweit mittlerweile Kenntnis von mehreren hundert Droh-E-Mails, die unter verschiedenen Absenderadressen wie beispielsweise "NationalSozialistische Offensive", "NSU 2.0", "Staatsstreichorchester" und "Wehrmacht" verschickt wurden. Die Polizei verhaftete im April 2019 den damals 32-jährigen Andre M. aus Schleswig-Holstein, der mehr als hundert solcher elektronischer Nachrichten verschickt hatte. Das Landgericht verurteilte ihn im Dezember 2020 wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat zu vier Jahren Freiheitsstrafe und Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung. Die Serie der Droh-E-Mails setzte sich allerdings fort. Der Verfasser einer Mail mit dem Absendernamen "Staatsstreichorchester" bezeichnet Andre M. als "Kollegen". Der Kontakt zwischen beiden ist mutmaßlich über ein Forum im Darknet zustande gekommen. Im Juli und September 2020 nahm die Polizei Durchsuchungen bei Personen aus Bayern und Baden-Württemberg vor, die verdächtigt wurden, ebenfalls Drohnachrichten mit einschlägigen Absenderadressen wie "NSU 2.0" versandt zu haben. Nach bisherigem Erkenntnisstand handelt es sich um rechtsextremistische Trittbrettfahrer. Die Goyim Partei Deutschland verfolgte das Ziel, rechtsextremistische Propaganda über das Internet zu verbreiten und insbesondere Jüdinnen und Juden einzuschüchtern. Die 2016 gegründete Gruppierung betrieb eine Internetseite, auf der sie Texte, Bilder und Videos veröffentlichte, mit denen unter anderem der Holocaust geleugnet und Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes verharmlost oder gebilligt wurden. Besonders stach die zutiefst herabwürdigende antisemitische Propaganda extremIsmus Im Internet 293 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 hervor, die auch zur Tötung von Jüdinnen und Juden aufrief. Der Generalbundesanwalt ließ wegen des Verdachts der Bildung einer rechtsextremistischen kriminellen Vereinigung am 16. Juli 2020 zwei Beschuldigte festnehmen, die als Rädelsführer gelten. Bei weiteren sechs Beschuldigten fanden Durchsuchungen statt, davon bei einer Person aus Nordrhein-Westfalen. Der Vereinigung wird vorgeworfen, dass ihr Zweck und ihre Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten nach SS 130 StGB (Volksverhetzung) ausgerichtet sei. Um im Netz keinen rechtsfreien Raum zuzulassen, haben sich in Nordrhein-Westfalen die Landesanstalt für Medien, das Landeskriminalamt (LKA), die Zentralund Ansprechstelle Cybercrime der Staatsanwaltschaft NRW (ZAC NRW) sowie einzelne Medienhäuser zusammengeschlossen. Unter dem Motto "Verfolgen statt nur löschen" soll ein Zeichen gegen Rechtlosigkeit und Rücksichtslosigkeit im Netz gesetzt werden. Seit 2018 hat das LKA in Nordrhein-Westfalen im Zusammenhang mit dem Projekt 760 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im Linksextremismus haben sogenannte "Outing-Aktionen" eine wichtige Bedeutung. Von der Szene als Rechtsextremisten ausgemachte Personen sollen durch Veröffentlichung persönlicher Daten In einer online veröffentlichen Publikation, die im Stil des Verfassungsschutzöffentlich sozial berichtes des Bundes gestaltet ist, werden als Rechtsextremisten ausgemachte Personen geoutet geächtet werden. Zumindest implizit wird damit auch zur Gewalt aufgerufen. Tatsächlich kommt es immer wieder zu Fahrzeugbränden, Sachbeschädigungen an Wohnhäusern und körperlichen Angriffen auf "geoutete" Personen. In Veröffentlichungen der Szene wird immer wieder auch ausdrücklich zur Gewalt angestachelt und versucht, diese als politisches Mittel zu legitimieren. So kann man zum Beispiel in einer online veröffentlichten Publikation der Besetzerszene im Hambacher Forst von Anfang 2021 lesen: " [...] Wir haben gezeigt, dass wir trotz RWEs Abwehrmaßnahmen weiterhin angreifen können. Der angsterfüllte Versuch sich hinter 294 extremIsmus Im Internet Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Festungsmauern zu verschanzen ist sinnlos. Es wird immer Lücken geben, durch die ein Brandsatz fliegen kann." Ausführliche Texte zum Thema Gewalt sind typisch für die linksextremistische Szene. Im Wesentlichen wird hier allerdings das reproduziert, was auch in Druckwerken veröffentlicht wird. Entscheidende Faktoren für eine Radikalisierung einzelner Personen sind in der Regel jedoch weiterhin der persönliche Kontakt beziehungsweise die Einbindung in die Szene. Islamistische Propaganda und Radikalisierung hat sich - nicht zuletzt aufgrund staatlicher Maßnahmen und bereits beschriebener Verdrängungseffekte - zunehmend ins Internet und in die sozialen Medien verlagert. Deren Nutzung ist gerade für junge Menschen - ungeachtet ihrer Herkunft - heute eine Selbstverständlichkeit. Sie tritt gleichberechtigt neben die Kommunikation in der realen Welt. Im Zuge der Corona-Pandemie haben die Aktivitäten in den sozialen Netzwerken noch einmal deutlich zugenommen. Die sozialen Netzwerke wurden in der Vergangenheit jedoch nicht nur zu Propagandazwecken benutzt. Vielmehr wurden über soziale Medien Kontakte zu jungen Muslimen angebahnt, um diese zu radikalisieren, in Anschlagsabläufen zu instruieren und über Messenger-Dienste bei der Tat zu begleiten. Somit sind das Internet und die sozialen Medien eine zentrale Plattform für Radikalisierung, Rekrutierung, Kommunikation und Steuerung von Jihadisten sowie zur Planung und "Vermarktung" von Anschlägen geworden. Im auslandsbezogenen Extremismus begünstigt der mobile Zugang zu sozialen Netzwerken ein schnelles und unkompliziertes Mobilisieren der Community für Veranstaltungen und spontane Aktionen und Demonstrationen. Er ermöglicht aber auch eine zeitnahe Sensibilisierung mit Themen aus der jeweiligen Szene. Aufrufe können unkompliziert geteilt werden und erreichen schnell einen deutlich größeren Personenkreis, als dies über die Verbreitung in den örtlichen Strukturen möglich wäre. Vorrangig werden im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus die sozialen Netzwerke genutzt, um die kurzfristige Mobilisierungsfähigkeit der einzelnen Gruppierungen zu beschleunigen. In einzelnen Fällen konnten auch schon Aufrufe zur Rekrutierung Jugendlicher für den bewaffneten Kampf beobachtet werden. Ob für Kommunikation, Ideologisierung, Radikalisierung oder Mobilisierung: Die Möglichkeiten des Internet werden von Extremisten im breiten Umfang genutzt. Extremistische Online-Aktivitäten wird der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz daher auch zukünftig intensiv und umfassend im Blick behalten. extremIsmus Im Internet 295 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 296 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Scientology Organisation (SO) scIentology organIsatIon (so) 297 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Scientology Organisation (SO) Kennzeichnung Strukturen und Organisationen, deren Verfassungsfeindlichkeit bereits erwiesen ist, werden im Folgenden im Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Verfassungsfeindlichkeit zwar noch nicht erwiesen ist, aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte einen Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen, werden die betroffenen Organisationen in Kursivdruck gesetzt. Beispiel: Partei X, Partei Y Sitz/Verbreitung Zentrale in Los Angeles (USA), Repräsentanzen in Deutschland unter anderem in Berlin, Hamburg, München, Hannover, Frankfurt am Main, Stuttgart und Düsseldorf (Niederlassung des Scientology Kirche Düsseldorf e.V. und Repräsentanz des Celebrity Centre Rheinland Scientology Kirche e.V.) Gründung/Bestehen seit Gründung der Church of Scientology im Jahr 1953 durch Lafayette Ronald Hubbard (auch L. Ron Hubbard oder LRH) in den USA, Niederlassungen in Deutschland seit den 1970er Jahren Struktur/ Repräsentanz Die SO ist streng hierarchisch organisiert. Nachfolger des 1986 verstorbenen Gründers L. Ron Hubbard ist David Miscavige, der die Organisation bis heute als Vorsitzender des Religious Technology Centers (RTC) steuert. 298 scIentology organIsatIon (so) Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Repräsentanzen in Deutschland gliedern sich in sieben sogenannte Kirchen (Orgs), mehrere kleinere Missionen und zwei Celebrity Centres in München und Düsseldorf. Letztere sollen insbesondere prominente Persönlichkeiten für die SO gewinnen. Missionen unterscheiden sich von den Orgs im Wesentlichen darin, dass hier nur grundlegende Dienstleistungen angeboten werden. Große, repräsentative Orgs mit überregionaler Bedeutung werden als Ideale Orgs bezeichnet. Sie sollen möglichst alle Dienstleistungen unter einem Dach anbieten. In Deutschland befinden sich Ideale Orgs in Berlin, Hamburg und Stuttgart. Die SO bezeichnet sich selbst als Kirche. In Deutschland ist sie jedoch als solche nicht anerkannt. Die Orgs sind daher als eingetragene Vereine (e.V.) organisiert, auch wenn sie den rechtlich nicht geschützten Begriff Kirche zum Bestandteil ihrer Vereinsnamen gemacht haben. Mitglieder/Anhänger/ NRW: circa 350 Unterstützer 2020 Die SO selbst nennt deutlich höhere Mitgliederzahlen. Veröffentlichungen Internationale Zeitschriften: Impact, Scientology News, Celebrity, Source, Freewinds, OT-Universe, The Auditor und Advance. Deutschsprachige Zeitschriften: Freiheit und Kompetenz. Diverse durch New Era Publications verlegte Sachbücher und Romane von L. Ron Hubbard. Broschüren "Wie man sich selbst & andere gesund hält" und "Der Weg zum Glücklichsein" scIentology organIsatIon (so) 299 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Kurzporträt/Ziele Die Ziele der SO basieren auf den bis heute verbindlichen Lehren ihres Gründers L. Ron Hubbard, insbesondere auf seinem 1950 veröffentlichten Grundlagenwerk Dianetik. Sie strebt eine scientologische Gesellschaft an, in der an die Stelle des Demokratieprinzips und der Grundrechte ein auf der bedingungslosen Unterordnung des Einzelnen beruhendes, totalitäres Herrschaftssystem unter scientologischer Führung tritt. Die Expansion ist eines der bedeutendsten Ziele der SO, zu dessen Erreichung sie versucht, Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu nehmen. Dabei agiert sie häufig verborgen unter dem Deckmantel einer ihrer zahlreichen Nebenund Tarnorganisationen oder Kampagnen, deren Zugehörigkeit zur SO auf den ersten Blick meist nicht erkennbar ist. Beispiele hierfür sind: > Der Weg zum Glücklichsein (The Way To Happiness), > Sag NEIN zu Drogen, sag JA zum Leben (deutscher Ableger der Foundation for a drug-free world), > Jugend für Menschenrechte (Youth for Human Rights), > Foundation for a drug-free world (Kampagne gegen Drogenmissbrauch), > Narconon (Organisation zur Rehabilitation von Suchtkranken), > Criminon (Verein zur Resozialisierung von Strafgefangenen), > Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM), auf internationaler Ebene: Citizens Commission On Human Rights (CCHR). 300 scIentology organIsatIon (so) Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Hochwertig gestaltete Broschüren werden in Innenstädten und Fußgängerzonen verteilt, per Post versandt oder an gut zugänglichen Orten wie Beratungsbüros, Geschäften und Praxen ausgelegt, um Kontakt zu potenziellen Neumitgliedern herzustellen. Oftmals geschieht dies mit Zustimmung der Verantwortlichen, weil diesen der Zusammenhang mit der SO nicht bewusst ist. Gleichzeitig wird im digitalen Raum versucht, vor allem junge Menschen zu erreichen. Sowohl im Internet als auch an Informationsständen werden zudem oft kostenlose Persönlichkeitsoder Stresstests mit dem Ziel angeboten, die Teilnehmer anschließend an (kostenpflichtige) Kurse zur Behebung von vermeintlichen Defiziten heranzuführen. Weiterhin versucht die SO, ihre Einflussmöglichkeiten durch Unterwanderung der Wirtschaft zu vergrößern. Hierzu nutzt sie den eigenen Wirtschaftsverband World Institute of Scientology Enterprises (WISE) sowie eigene Organisationsund Managementstrategien. Durch geschicktes und verdecktes Marketing nähert sie sich Firmen, insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen. Auf diese Weise soll sukzessive die Infiltration der Wirtschaft voranschreiten und der Einfluss der Organisation ausgebaut werden. Der SO zugehörige Wirtschaftsunternehmen sind häufig dem Immobiliensektor oder der Beratungsbranche zuzurechnen. Bekannt sind aber auch Einrichtungen, die Dienstleistungen auf dem Nachhilfemarkt anbieten und damit gezielt den Kontakt zu jungen Menschen suchen. Diese geben meist an, Lerntechniken von Applied Scholastics anzuwenden. Applied Scholastics ist Teil der Association for Better Living and Education (ABLE), einer Nebenorganisation der SO. scIentology organIsatIon (so) 301 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Finanzierung Kostenpflichtige Kurse und Vertrieb entsprechender Kursmaterialien; daneben wird regelmäßig Druck auf die Mitglieder ausgeübt, teils erhebliche Geldbeträge an die SO zu spenden. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die SO als gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebung ist seit 1997 Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. In Nordrhein-Westfalen erfolgt die Beobachtung auf der Grundlage des SS 3 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen. Scientologen teilen die Gesellschaft in Nichtabberierte und Abberierte (Nicht-Scientologen) auf. Letztere sind nach ihren Vorstellungen in einzelnen Rechten einzuschränken. Diese Einschränkungen betreffen wesentliche Grundund Menschenrechte wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung, zudem wird eine Gesellschaft ohne allgemeine und gleiche Wahlen angestrebt. Zur Erreichung ihrer Ziele versucht die Organisation, Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu nehmen. Mit der Entscheidung des OVG Münster vom 12. Februar 2008 ist die Rechtmäßigkeit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz festgestellt worden. Das Gericht bestätigte die Auffassung des Verfassungsschutzes, dass die Lehre der Scientology Kirche Deutschland e.V. (SKD) und der Scientology Kirche Berlin e.V. (SKB) eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellt. Nach wie vor besitzen die Schriften des Gründers L. Ron Hubbard zur Schaffung einer Gesellschaft nach scientologischen Vorstellungen Gültigkeit. Sie werden von der SO in Deutschland auch weiterhin in großem Umfang verbreitet. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum In Nordrhein-Westfalen stagniert die Mitgliederzahl auf einem im Vergleich zu früheren Jahren überschaubaren Niveau. Seit einigen Jahren ist jedoch zu beobachten, dass die SO mit gezielten Maßnahmen versucht, ihr Image aufzubessern und neue Mitglieder zu gewinnen. So wurde nur wenige Monate nach der Eröffnung der dritten Idealen Org in Deutschland Ende 2018 gegenüber den Medien angekündigt, in Düsseldorf eine wei302 scIentology organIsatIon (so) Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 tere Ideale Org zu eröffnen. Der geplante Eröffnungstermin - bis Ende 2020 - konnte jedoch nicht gehalten werden. Auch in 2020 landeten Druckerzeugnisse von SO-Tarnorganisationen in den Briefkästen nordrhein-westfälischer Bürgerinnen und Bürger. Flyer der SO für das Buch "Dianetik" Die Broschüre "Der Weg zum Glücklichsein" fanden einige nordrhein-westfälische Bürgerinnen und Bürger in ihren Briefkästen Die Scientology Organisation griff das Thema "Corona" in der Broschüre "Wie man sich selbst & andere gesund hält" auf scIentology organIsatIon (so) 303 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die Corona-Pandemie beschleunigte jedoch den schon in den letzten Jahren zu beobachtenden Trend der Verlagerung der Angebote der SO ins Internet deutlich. So wurden seit dem Frühjahr zahlreiche Webinare und Onlinekurse angeboten, weil ein Besuch der Einrichtungen nicht mehr oder nur mit Einschränkungen möglich war. Zudem konnte sich die SO während der Pandemie geschickt als Wohltätigkeitsorganisation inszenieren, indem sie im Rahmen ihrer "Stay Well"-Kampagne im Internet vor allem Informationsmaterialien zur Gesundheitsund Hygieneprävention anbot, die erst bei genauem Hinsehen einen Bezug zur SO erkennen ließen. Solche Materialen wurden parallel ebenfalls auf klassischem Weg verbreitet, insbesondere durch die sogenannten "Ehrenamtlichen Geistlichen", die beispielsweise die Broschüre "Wie man sich selbst & andere gesund hält" in verschiedenen Ladengeschäften (zum Beispiel Gastronomie, Kioske) auslegten - vermutlich war auch hier den meisten Inhabern der Bezug zur SO nicht bewusst. Das online abrufbare TVund Streaming-Angebot Scientology Network strahlte 2020 ein "Stay Well"-Onlinekonzert mit zahlreichen Künstlern mit Verbindung zur SO, zum Beispiel dem bekennenden Scientologen Chick Corea, aus. "Stay Well"-Konzert auf der Website der Scientology Organisation 304 scIentology organIsatIon (so) Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Bewertung, Tendenzen, Ausblick An der Gefahreneinschätzung zur Organisation, die nach einer Klage der SO durch das OVG Münster im Jahr 2008 formuliert wurde, hat sich nichts geändert. Die SO wendet nach wie vor die gleichen Mittel zur Erreichung ihrer Ziele an. Zur Imagepflege und Mitgliederwerbung setzt sie verstärkt auf das Internet. Es ist anzunehmen, dass die SO ihre Onlineaktivitäten und -angebote weiter intensivieren wird. Die Corona-Pandemie wirkt diesbezüglich als Katalysator. Ob dies letztlich zu einer Vergrößerung der Mitgliederzahlen führt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. scIentology organIsatIon (so) 305 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 306 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Spionageabwehr, Cyberabwehr und Wirtschaftsschutz spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 307 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zusammenfassung Fremde Mächte setzen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und damit auch gegenüber Nordrhein-Westfalen in weiter zunehmendem Maße verdeckte Mittel ein, um ihre Interessen zu verfolgen. Die Bedrohungslage ist komplex und dynamisch. Wegen seiner zentralen Stellung in der EU, seiner außenpolitischen Bedeutung und seiner Mitgliedschaft in der NATO ist Deutschland weiterhin Ziel politischer und militärischer Spionage. Ausländische Staaten interessieren sich für Haltungen, Verhandlungspositionen oder außenpolitische Zielsetzungen der Bundesregierung, um für das eigene Vorgehen einen Informationsvorsprung generieren zu können. Darüber hinaus steht Deutschland aufgrund seiner Wirtschaftskraft, seiner innovativen Unternehmen und Forschungseinrichtungen im Fokus ausländischer Nachrichtendienste. Neben klassischen nachrichtendienstlichen Methoden wird in zunehmendem Maße mit Cyberangriffen versucht, Unternehmensund Forschungs-Know-how zu erlangen und der eigenen Wirtschaft damit Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Im Bereich der Cyberangriffe haben die Angreifer ihre Methoden weiter professionalisiert. Durch Kombination gezielter Kontaktaufnahmen in sozialen Netzwerken und hohen technischen Fähigkeiten gelingt es ihnen, in die Netze von Unternehmen einzudringen und unbemerkt Daten auszuleiten. Nicht selten werden Unternehmen erst durch einen Hinweis des Verfassungsschutzes auf die Angreifer aufmerksam. Proliferationsrelevante Staaten versuchen darüber hinaus weiterhin in hohem Maße, militärisch nutzbare Produkte unter Umgehung der hiesigen Exportkontrolle zu beschaffen. Abnehmer sind inzwischen neben Massenvernichtungswaffenund Raketenprogrammen auch militärisch ausgerichtete Weltraumprogramme. Mehr als in früheren Jahren sieht sich die Spionageabwehr zudem mit Fällen von Staatsterrorismus konfrontiert, die sich oftmals gegen Oppositionelle richten und eine besonders ernst zu nehmende Gefährdungsdimension aufweisen. Die Anwendung solcher staatlich gesteuerten Gewalt ergänzt die weiterhin bestehenden Bestrebungen vieler Staaten, mit Hilfe der eigenen Nachrichtendienste Oppositionsgruppen in Deutschland zu unterwandern und auszuspähen. 308 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Eine ebenfalls steigende Intensität ist auch im Bereich der Einflussnahme festzustellen. Hier versuchen ausländische Akteure, durch verdeckte konventionelle und unkonventionelle Methoden beispielsweise die politische oder gesellschaftliche Willensbildung zu beeinflussen und den jeweiligen Zielstaat so zu destabilisieren. Solche Versuche der Einflussnahme müssen nicht immer direkt von fremden Nachrichtendiensten ausgehen, sie stellen gleichwohl sicherheitsgefährdende Bestrebungen gegen die Bundesrepublik Deutschland dar. Angesichts der weiter anhaltenden Bedrohungslage durch Wirtschaftsspionage und Cyberattacken bleiben der präventive Wirtschaftsschutz und die Sicherheitsberatung von Unternehmen der sogenannten geheimschutzbetreuten Wirtschaft wichtige Aufgaben des Verfassungsschutzes. Der Wirtschaftsschutz verstärkt dabei nicht nur die allgemeine Öffentlichkeitsarbeit fachlich, sondern intensiviert zudem die Kontakte zur Wissenschaft und Forschung sowie zur öffentlichen Verwaltung. Die Sicherheitspartnerschaft gegen "Wirtschaftsspionage, Sabotage und Wirtschaftskriminalität NRW", deren Geschäftsführung weiterhin beim nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz liegt, profitiert von der Expertise der einzelnen Partner und konnte den Austausch auch durch die Aufnahme des Verbandes der Wirtschaftsförderungsgesellschaften NRW als weiteres Mitglied intensivieren. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 309 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Im Fokus: Unternehmen und Institutionen im Fokus staatlicher Hacker Im Jahr 2020 hat die Cyberabwehr des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes eine Vielzahl von Cyberangriffen untersucht sowie potentielle Opfer informiert und sensibilisiert. Die Akteure hinter den staatlich gestützten Hackerangriffen agieren hochprofessionell. Ihr Vorgehen wird von den Opfern oftmals nicht bemerkt. Cyberangriffe werden von fremden Staaten nicht nur für politische Spionage eingesetzt, sie dienen auch als Mittel, um sich Wissen und Technologien anzueignen und die heimische Forschung und Wirtschaft zu unterstützen. Darüber hinaus sind Cyberangriffe Teil von Operationen zur Einflussnahme und werden in Konfliktsituationen zur Sabotage eingesetzt. Seit rund 15 Jahren lässt sich im Internet eine bestimmte Art von Hackergruppierungen beobachten. Die Angriffe dieser Gruppierungen werden mit großem technischem Know-how durchgeführt. Obwohl nur selten ein direktes monetäres 310 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Interesse erkennbar ist, verfügen die Angreifer über große finanzielle und personelle Ressourcen. Aufgrund zahlreicher weiterer Indikatoren wird davon ausgegangen, dass fremde Staaten diese Gruppierungen unterhalten und steuern. Als Begriff für dieses Angriffsphänomen hat sich die Bezeichnung "Advanced Persistent Threat" (APT) etabliert. Die Auswahl der Opfer erfolgt anhand strategischer Interessen der angreifenden Staaten. In Nordrhein-Westfalen waren im Jahr 2020 insbesondere Unternehmen und Institutionen aus den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung von APT-Angriffen betroffen. Eine Vielzahl der Angriffe diente dem Ziel, Know-how und Technologien auszuspionieren. Daneben erfolgten Cyberangriffe auch zur Kompromittierung von IT-Infrastruktur, um diese für spätere Angriffe zu nutzen. Advanced Persistent Threat - Fortgeschrittene andauernde Bedrohung Der Ablauf von Angriffen zeigt die gute Organisation der Angreifer. Nicht selten sind hierbei behördliche Organisationsstrukturen erkennbar. Für jedes Ziel wird ein individueller Angriffsplan erstellt. Die einzelnen Phasen des Angriffs werden oft in Arbeitsteilung von verschiedenen, spezialisierten Teams ausgeführt. Typische Phasen eines APT-Angriffs Ausnutzung von Sicherheitslücken Nachrichtendienste fremder Staaten verfügen über nahezu alle erforderlichen Ressourcen, um Sicherheitslücken in fremden IT-Systemen zu detektieren und auszunutzen. Bei strategisch wichtigen und hochwertigen Zielen kommen primär sospIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 311 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 genannte Zero Day Exploits zum Einsatz. Hierbei werden bisher nicht öffentlich bekannte Schwachstellen ausgenutzt. Mit Hilfe von Netzwerk-Scans können Angreifer auch IT-Systeme mit weiteren Schwachstellen identifizieren und mit Schadsoftware dort eindringen. Anbahnung über soziale Netzwerke Als zielsichere Angriffsmethode auf primäre Angriffsziele hat sich wie in den Vorjahren der Weg über Beschäftigte erwiesen. Diese werden mit Methoden des sogenannten Social Engineering manipuliert. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden dazu verleitet, in gutem Glauben Dokumente zu öffnen oder Webseiten zu besuchen, welche zuvor durch die Angreifer präpariert wurden. Bei Ausführung der für die Anwendenden unverdächtigen Arbeitsschritte wird unbemerkt und ohne weiteres Zutun die Schadsoftware der Angreifer auf dem Computer des Unternehmens installiert. Diese Software ermöglicht den Angreifern, aus der Ferne und ohne das Überwinden weiterer Sicherheitseinrichtungen auf das Netzwerk des Opfers zuzugreifen. Ist eine Verbindung auf diese Weise etabliert, können Netzwerkspezialisten den weiteren Angriff übernehmen. Sie sind darauf trainiert, im Netzwerk des Angegriffenen weitere Rechner zu infizieren und umfangreiche Zugriffsrechte zu erlangen. Spezialisten wählen anschließend relevante Daten aus, die aus dem Netz des Opfers abgezogen werden. Während der gesamten Angriffsphase wird sichergestellt, dass der Betrieb im Netzwerk der angegriffenen Organisation nicht gestört wird, und es wird darauf geachtet, dass deren Sicherheitssysteme keinen Alarm schlagen. Nach dem Angriff verwischen die Angreifenden ihre Spuren, halten sich häufig aber für spätere Angriffe noch eine Hintertür im Netzwerk des Opfers offen. 312 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Fallbeispiel: Mitarbeiter im Visier der Angreifer In vielen Hochtechnologiefeldern ist es üblich, dass einzelne Personen von Personalvermittlern kontaktiert werden und ihnen Angebote zum Arbeitsplatzwechsel unterbreitet werden. Als ein Mitarbeiter eines namhaften Unternehmens von einem Headhunter auf seinem Mobiltelefon angerufen wird, erscheint ihm dies deshalb nicht ungewöhnlich. Nach einem kurzen Gespräch kündigt der vermeintliche Vermittler an, ein lukratives Job-Angebot zu übermitteln. Kurze Zeit später geht das Dokument im WhatsApp-Konto des Mitarbeiters ein. Als er versucht, es auf seinem Mobiltelefon zu öffnen, bricht der Vorgang mit einer Fehlermeldung ab. Am nächsten Tag meldet sich der Headhunter erneut und stellt außergewöhnliche Verdienstmöglichkeiten bei attraktiven Arbeitsbedingungen in Aussicht. Allerdings müsse unmittelbar eine Rückmeldung zum weiteren Interesse an dem unterbreiteten Angebot erfolgen. Kurzerhand transferiert der Mitarbeiter das am Vortrag empfangene Dokument in seinen dienstlichen E-Mail-Account. Nach einer kurzen Bestätigung zur Nutzung einer besonderen Formatvorlage kann er die Datei auf seinem Firmen-PC öffnen. Da das Angebot seinen Vorstellungen nicht entspricht, sagt er dem Headhunter ab. Danach gerät der Vorgang in Vergessenheit. Später stellt sich heraus, dass mit dem Öffnen des Dokuments ein Fernzugang im Firmen-PC des Mitarbeiters eingerichtet wurde. Über diesen Zugang war es den Angreifern möglich, sich im Unternehmensnetz weiter auszubreiten und sensible Daten auszuleiten. Der Datendiebstahl wurde erst bemerkt, als sich die Angreifer längst wieder zurückgezogen hatten. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 313 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Angriffe über Drittsoftware In einigen Fällen gelingt es Angreifern, Schadsoftware durch die Manipulation legitimer Software-Updates zu verbreiten oder einen Zugang zum Zielnetzwerk durch Drittsoftware zu erhalten. Diese Art der Angriffe ist aus nachrichtendienstlicher Sicht sehr aufwendig und birgt ein enormes Risiko der Enttarnung. Gleichzeitig ermöglicht diese Methode aber den Zugriff auf eine große Anzahl von Opfersystemen. Der Schutz vor derartigen Angriffen ist äußerst schwierig, da die meisten Anwender Herstellern von Drittsoftware und Distributoren von Software-Updates grundsätzlich vertrauen. Fallbeispiel: Updates mit Schadsoftware Nach Meldungen von IT-Sicherheitsdienstleistern und dem FBI warnten im August 2020 das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz vor der Schadsoftware GOLDENSPY. Die Spionagesoftware installierte sich über eine Update-Funktion der kommerziellen chinesischen Steuersoftware Intelligent Tax, die auch GoldenTax genannt wird. Ausländische Unternehmen mit Geschäftsbeziehungen nach oder in China können verpflichtet werden, die Software als Finanzverwaltungssoftware zur Abwicklung von Steuerpflichten zu nutzen. Die Schadsoftware öffnete auf den betroffenen Systemen eine Hintertür, über die die Angreifer auf Dokumente im Opfernetz zugreifen konnten. Nach Bekanntwerden der Vorfälle in der internationalen Presse deinstallierte sich die Schadsoftware selbst nahezu spurlos von den Opfersystemen. Die Cyberabwehr des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes geht davon aus, dass auch Unternehmen in Nordrhein-Westfalen zu den Opfern des Spionageangriffs zählten. Die Dimensionen derartiger Angriffe wurden beispielsweise im Jahr 2017 deutlich. Updates der ukrainischen Buchhaltungssoftware MeDoc hatten die Schadsoftware NotPetya verteilt, die innerhalb kürzester Zeit weltweit zu Ausfällen von Computernetzwerken und immensen wirtschaftlichen Schäden führte. Im Dezember 2020 wurden Angriffe über Updates der Software Orion des Unternehmens Solarwinds bekannt. Durch die starke Verbreitung der Software war es Angreifern gelungen, eine sehr große 314 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zahl von Computersystemen mit einer zur Spionage geeigneten Schadsoftware zu infizieren. Durch die Angriffe waren insbesondere auch US-amerikanische Behörden betroffen. Anstieg der Zahlen und pandemiebedingte Bedrohungslage Die fortschreitende Digitalisierung von Gesellschaft und Industrie vergrößert die Angriffsfläche für Cyberattacken. APT-Gruppierungen schränken bei Spionageangriffen die Funktionsfähigkeit der Opfersysteme nicht ein und bleiben daher oftmals unentdeckt. Dies ist ein grundlegender Unterschied zu Angriffen im Bereich der Cyber-Kriminalität. Cyberkriminelle schränken in der Regel die Nutzbarkeit von IT-Systemen bewusst ein, um für die Freigabe der Systeme des Opfers ein Lösegeld zu erpressen. Auch ohne ein ersichtlich monetäres Interesse der Angreifenden verursachen Spionageangriffe langfristig Schäden, da durch den illegalen Wissenstransfer für die Opfer unterschiedliche wirtschaftliche Nachteile im Wettbewerb entstehen können. Von der Cyberabwehr NRW untersuchte APT-Kampagnen APT-Angriffe können oftmals nur an spezifischen technischen Parametern oder typischen Kommunikationsmustern erkannt werden. Die Cyberabwehr des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes geht in Zusammenarbeit mit dem BundesspIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 315 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 amt für Verfassungsschutz Hinweisen zu Angriffskampagnen nach und warnt branchenspezifisch Unternehmen und Institutionen vor akuten und perspektivischen Gefahren. Dass es sich bei derartigen Cyberangriffen nicht nur um wenige Einzelfälle handelt, zeigt die Zunahme der untersuchten Cyberangriffe im Berichtszeitraum. Der weltweite Wettlauf um die Entwicklung und Verteilung eines Corona-Impfstoffes hat insbesondere im Forschungsund Pharma-Sektor die Gefahr staatlich gesteuerter Cyberangriffe erhöht. Der Verfassungsschutz hat daher in Nordrhein-Westfalen mögliche Hersteller von Impfstoffen für die Gefahren sensibilisiert. Aufgrund weitgehender Fälschungsund Verschleierungsmöglichkeiten können Cyberangriffe in der Regel keinem bestimmten Akteur oder Land unmittelbar zugeordnet werden. Die individuelle Vorgehensweise der Angreifer, die eingesetzten Werkzeuge sowie die Auswahl der Zielbranchen lassen jedoch Rückschlüsse auf mögliche Urheber zu. In Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2020 Aktivitäten von Hackergruppierungen beobachtet, die mit großer Wahrscheinlichkeit China, Russland, Nordkorea und dem Iran zugeordnet werden können. China Die chinesischen Geheimdienste verfügen vermutlich seit mehr als zehn Jahren über spezialisierte Einheiten, die im nationalen und internationalen Interesse der Volksrepublik China Cyberangriffe gegen strategische Ziele in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik durchführen. Im Juli 2020 berichteten US-amerikanische Medien über chinesische Cyberangriffe gegen den Vatikan und die katholische Diözese Hong-Kong. In den Bereichen Wirtschaft und Forschung werden chinesischen Hackern Cyberangriffe auf bestimmte Sektoren zugeordnet. Es handelt sich oft um Bereiche, die China im Rahmen der strategischen Zielsetzung "Made in China 2025" als Schlüsselindustrien identifiziert hat. Der Handelsstreit zwischen den USA und China verstärkt darüber hinaus das Streben Chinas, die heimische Wirtschaft von ausländischen Lieferketten unabhängig zu machen. Auch in Nordrhein-Westfalen haben sich im Berichtszeitraum Indizien für vermutlich aus China gesteuerte Cyberangriffe zum Zwecke der Wirtschaftsspionage ergeben. Von den mutmaßlich aus China gesteuerten Angriffen waren insbesondere Unternehmen in dem Sektor "Werkstoffe und Materialien" betroffen. Russische Föderation Cyberangriffe, die staatlichen Akteuren in Russland zugeordnet werden, reichen bis in das Jahr 2007 zurück. Es gilt als nahezu sicher, dass die russischen Dienste über schlagkräftige Cyber-Gruppierungen verfügen. Seit Beginn des russisch-ukrainischen Konfliktes im Jahr 2014 sprechen Indizien dafür, dass Russland Cyberangriffe als Teil 316 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 einer hybriden Kriegsführung nutzt. Cyberangriffe führten in der Ukraine sowohl zu Stromausfällen als auch zu Ausfällen in der Industrie. Der bereits erwähnte Cyberangriff mit der Schadsoftware NotPetya im Jahr 2017 führte sogar zu Produktionsausfällen in Deutschland. Neben Cyberangriffen zum Zwecke der Sabotage besteht der Verdacht, dass Russland Cyberangriffe zum Zwecke der Spionage und Einflussnahme nutzt. Im Jahr 2020 stellte der Generalbundesanwalt einen Haftbefehl gegen einen russischen Staatsbürger aus, der in Russland als Angehöriger des russischen Militärgeheimdienstes GRU an dem Cyberangriff auf den Deutschen Bundestag im Jahr 2015 beteiligt gewesen sein soll. In Nordrhein-Westfalen konnten im Jahr 2020 verschiedene Angriffe gegen Institutionen, Hochschulen und zivilgesellschaftliche Organisationen beobachtet werden, für die es Hinweise auf einen russischen Ursprung gibt. Darüber hinaus ergaben sich Hinweise auf Angriffsversuche gegen verschiedene Unternehmen, die vermutlich zur Gewinnung von Infrastruktur für Cyberangriffe auf andere Ziele dienten. Nordkorea Cyberangriffe mit nordkoreanischer Urheberschaft werden nach bisherigen Erkenntnissen durch den militärischen Geheimdienst des Landes durchgeführt. Die ersten Cyberangriffe begannen vor über zehn Jahren und wurden insbesondere mit politischen Sanktionen und der Beschaffung von Devisen in Verbindung gebracht. Seit einigen Jahren können vermehrt Hinweise auf zielgerichtete Operationen zum Zwecke der Spionage festgestellt werden. In Nordrhein-Westfalen ergaben sich im Jahr 2020 insbesondere Indizien für Spionageangriffe gegen Unternehmen in den Bereichen Rüstung, Pharmazie sowie Luftund Raumfahrt. Iran Cyber-Gruppierungen, die vermutlich im staatlichen Auftrag des Irans agieren, werden bereits seit dem Jahr 2013 beobachtet. Neben weltweiten Spionageangriffen der Gruppierungen auf Ziele in den Bereichen Politik, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft wurden auch Cyberangriffe auf Exil-Oppositionelle bekannt. Presseberichte im Jahr 2020 zeigten auf, wie eine mutmaßlich iranische Cybergruppierung die verschlüsselte Kommunikation von Einzelpersonen über Messenger-Dienste wie WhatsApp und Telegram mitlesen konnte. In Nordrhein-Westfalen sensibilisierte die Cyberabwehr insbesondere Hochschulen vor einer langjährigen APT-Kampagne, die unter dem Namen "Silent Librarian" bekannt ist und sich gegen Universitätsbibliotheken richtet. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 317 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Spionage, politische Einflussnahme ausländischer Staaten und Proliferation Die Spionageabwehr sieht sich mit wachsenden Herausforderungen konfrontiert. Die Zahl der in Deutschland und NRW agierenden Nachrichtendienste hat zugenommen. Ihre Aufklärungsinteressen werden vielfältiger. Entwicklungen im Bereich der klassischen Spionage Neben klassischen Zielbereichen wie Politik, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft sind bei immer mehr Staaten illegitime Einflussnahmeversuche, beispielsweise auf politische Entscheidungsprozesse oder die jeweilige Diaspora, zu erkennen. Methodisch ist das nachrichtendienstliche Vorgehen einiger Staaten deutlich robuster geworden. Häufiger als noch vor einigen Jahren wird Gewalt eingesetzt, um eigene Ziele zu erreichen. Maßnahmen der klassischen Spionage werden dabei zunehmend durch Cyberangriffe flankiert, die nicht mehr nur gegen wirtschaftliche und politische Ziele gerichtet sind, sondern auch der Bekämpfung oppositioneller Organisationen und Einzelpersonen dienen. In Nordrhein-Westfalen bilden die nachrichtendienstlichen Aktivitäten der Russischen Föderation, der Volksrepublik China, der Islamischen Republik Iran und der Türkei weiterhin den Schwerpunkt. Darüber hinaus agieren aber auch Nachrichtendienste anderer Staaten mit zum Teil hoher Intensität in NRW. Grundsätzlich geht die Spionageabwehr dabei jedem Hinweis auf strafrechtlich relevante oder statuswidrige nachrichtendienstliche Aktivitäten nach. Im Bereich der klassischen Spionage steht NRW als bevölkerungsreichstes Bundesland und Heimat vieler Menschen mit Migrationsgeschichte sowie als wichtiger Wirtschaftsund Wissenschaftsstandort im Fokus ausländischer Nachrichtendienste. Insbesondere oppositionelle Organisationen und Personen werden von mehreren Staaten intensiv aufgeklärt und mit teils gewaltsamen Mitteln bekämpft, wie entsprechende Vorfälle und Gerichtsprozesse mit Bezügen zur Russischen Föderation und der Islamischen Republik Iran im Berichtsjahr dokumentieren. Versuche der politischen Einflussnahme Die Einflussnahmeversuche ausländischer Staaten sind oft eng mit den Aufklärungszielen und -aktivitäten ihrer Nachrichtendienste verknüpft. Sie müssen dabei allerdings nicht immer unmittelbar durch nachrichtendienstliches Personal gesteuert 318 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 werden. So bedienen sich ausländische Staaten zusätzlich staatlicher oder staatsnaher Organisationen. Dabei kann es sich um Vereine, Verbände, Medien oder Institute handeln. In den meisten Fällen geht es darum, ein regierungsfreundliches politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Umfeld im Ausland zu schaffen und Kritik an der eigenen Regierung und Politik zu unterbinden. Gängige Mittel hierzu sind Vereinnahmungsversuche politischer oder wirtschaftlicher Entscheidungsträger, die Beeinflussung der öffentlichen Meinung über die Medien oder die Kontrolle und Beeinflussung der hier lebenden Diaspora. In der Regel wird dabei sowohl mit Anreizen als auch mit Druckmitteln gearbeitet. Beispielsweise wird dem Gegenüber bei regierungskritischem Verhalten mitunter mit der Verschlechterung der bilateralen Beziehungen gedroht. Russische Föderation Nachrichtendienste sind ein fester Bestandteil der russischen Sicherheitsarchitektur. Sie dienen dem Machterhalt der russischen Regierung und der offensiven Durchsetzung russischer Interessen in der Außenund Sicherheitspolitik genauso wie im wirtschaftlichen Sektor. Dabei sind alle Bereiche, in denen sich die Russische Föderation betroffen sieht, potentielle Aufklärungsziele der russischen Dienste. In Deutschland gilt dies beispielsweise für die von der EU gegen Russland verhängten Sanktionen, in deren Kontext sich die russischen Dienste für die Haltung der Bundesregierung interessieren. Insgesamt hat die Bedeutung der russischen Auslandsspionage seit der Abkühlung der politischen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der westlichen Staatengemeinschaft zugenommen. Häufig gehen Aktivitäten russischer Nachrichtendienste von sogenannten Legalresidenturen aus, die innerhalb der diplomatischen und konsularischen Vertretungen angesiedelt sind. Deren Mitarbeiter sind regelmäßig als reguläre Diplomaten abgetarnt, weshalb ihre Kontakte mitunter gar nicht erkennen können, dass es sich um Angehörige eines Nachrichtendienstes handelt. Neben klassisch nachrichtendienstlichen Methoden steht die Russische Föderation auch im Verdacht, staatsterroristische Mittel insbesondere gegen als oppositionell oder staatsfeindlich definierte Personen einzusetzen. Im Fall der Tötung eines georgischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft im Kleinen Tiergarten in Berlin im August 2019 erhob der Generalbundesanwalt im Juni 2020 Anklage gegen den mutmaßlichen Täter und bezeichnete die Tat in diesem Zusammenhang als "Auftragsmord staatlicher russischer Stellen". Der Gerichtsprozess zu diesem Fall hat im Oktober 2020 vor dem Berliner Kammergericht begonnen. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 319 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Bei einem weiteren Fall handelt es sich um die Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny mit einem Kampfstoff der Nowitschok-Gruppe im August 2020. Bundeskanzlerin Merkel erklärte hierzu am 2. September 2020, dass sich jetzt sehr schwerwiegende Der Prozess zum Anschlag im Kleinen Tiergarten begann mit erhöhten Sicherheitsvorkehrungen im Oktober 2020 Fragen stellen, "die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss". Im Dezember 2020 veröffentlichten unter anderem deutsche Medien und nichtbehördliche Investigativnetzwerke gemeinsame Rechercheergebnisse zur möglichen Täterschaft des FSB im Fall Nawalny. Nachrichtendienste der Russischen Föderation Die folgenden russischen Nachrichtendienste, deren Zuständigkeiten sich im Einzelfall überschneiden können, sind auch in Deutschland aktiv: > FSB - Ziviler Inlandsnachrichtendienst Der FSB ist unter anderem für die zivile und militärische Spionageabwehr sowie für die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität zuständig. > SWR - Ziviler Auslandsnachrichtendienst Der SWR ist vorrangig für die Auslandsaufklärung in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie zuständig. > GRU - Militärischer Auslandsnachrichtendienst Aufgabe des GRU ist die Aufklärung des gesamten militärischen Bereichs. Neben der NATO gehört dazu auch die Bundeswehr. Im Bereich der staatlichen Einflussnahmeversuche nutzten russische Stellen im Berichtsjahr vor allem die Corona-Pandemie als Thema. Öffentlich inszenierte Hilfslieferungen unter dem Slogan "From Russia with Love" an das von der Corona-Pande320 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 mie stark betroffene Italien sollten dabei eine angebliche Handlungsunfähigkeit der EU betonen und gleichzeitig die Hilfsbereitschaft und das gute Krisenmanagement der Russischen Föderation vor Augen führen. Die weitere Entwicklung in der Pandemie oder die Herstellung möglicher Impfstoffe waren wiederholt Themen, die russische Medien propagandistisch ausschlachteten. Volksrepublik China Die chinesische Regierung verfolgt weiterhin nachdrücklich das Ziel, sich als führende weltpolitische Macht zu etablieren. Wichtigste Grundlage hierfür ist eine langfristig angelegte, auf Expansion ausgerichtete strategische Außenwirtschaftspolitik. Dazu gehören unter anderem die auch "Neue Seidenstraße" genannte "Belt and Road Initiative" (BRI), die zentral gesteuerten "Fünf-Jahres-Pläne" für die chinesische Wirtschaft, Direktinvestitionen im Ausland sowie eine enge staatliche Kontrolle der international agierenden chinesischen Unternehmen, die zur engen Zusammenarbeit mit den chinesischen Sicherheitsbehörden verpflichtet sind und unternehmensinterne Parteizellen betreiben müssen. Nachrichtendienste der Volksrepublik China Die folgenden chinesischen Nachrichtendienste sind auch in Deutschland aktiv: > MSS - Ministry of State Security Das Ministerium für Staatssicherheit ist insbesondere für die Bekämpfung von Gefahren für die öffentliche Ordnung zuständig. > MID - Military Intelligence Directorate Das MID ist zuständig für die äußere Sicherheit und sammelt insbesondere Informationen über fremde Streitkräfte. > MPS - Ministry of Public Security Aufgabe des Polizeiministeriums mit eigener nachrichtendienstlicher Einheit ist die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und die Überwachung von Medien und Internet. > Büro 610 Das Büro 610 ist dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) unterstellt. Es beobachtet und verfolgt regimekritische Bewegungen im Inund Ausland. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 321 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zur Durchsetzung ihrer Ziele und zum eigenen Machterhalt sind die chinesischen Nachrichtendienste von essentieller Bedeutung. Sie sind dabei in klassisch nachrichtendienstlicher Weise aktiv und verfügen über umfangreiche Befugnisse. In Deutschland agieren die Dienste aus Legalresidenturen heraus. Es werden aber auch zentral aus China gesteuerte Operationen zur Informationsbeschaffung genutzt. Ansatzpunkte hierfür liefern Aufenthalte von Zielpersonen in China oder soziale Netzwerke wie LinkedIn, die zur ersten unverfänglich wirkenden Kontaktanbahnung genutzt werden. Darüber hinaus sind die chinesischen Dienste umfassend in Einflussnahmeaktivitäten des chinesischen Staates eingebunden. In politischer und militärischer Hinsicht sind die EU und Deutschland nach wie vor zentrale Aufklärungsziele. Dies gilt in erheblichem Maße auch für alle relevanten wirtschaftlichen Aspekte wie zum Beispiel europäische oder deutDer deutschlandund europaweite Ausbau der 5G-Netze sche Positionen rund um das Thema weckt im besonderen Maße auch nachrichtendienstliches 5G-Netze. Interesse Nordrhein-Westfalen steht insbesondere wegen seiner innovativen kleinen und mittleren Unternehmen sowie seiner Hochschulen und Forschungseinrichtungen im Interesse Chinas, das versucht, mittels klassischer Spionage, Cyberangriffen oder Direktinvestitionen technologische Lücken zu schließen. Dabei können wirtschaftliche Anreize insbesondere in strukturschwachen Regionen oder Städten oftmals erste Einfallstore zur Schaffung langfristiger wirtschaftlicher Abhängigkeiten darstellen. In Folge enger wirtschaftlicher Bezüge erwartet China von seinen Kooperationspartnern, dass diese sich nicht in die "inneren Angelegenheiten" Chinas einmischen, sich also in der Öffentlichkeit nicht kritisch äußern, sondern konformes Verhalten zeigen oder gar im Sinne Chinas agieren. Solche Einflussnahmeaktivitäten sind dazu geeignet, hiesige politische oder wirtschaftliche Akteure zu vereinnahmen oder die Freiheit von Wissenschaft und Forschung einzuschränken. Neben politischen, wirtschaftlichen und militärischen Aufträgen konnte die Spionageabwehr auch im Berichtsjahr beobachten, dass die chinesischen Nachrichtendienste mit der Aufklärung und Bekämpfung der chinesischen Opposition in Nordrhein-West322 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 falen befasst sind. Dies gilt insbesondere für die durch China als "Fünf Gifte" bezeichneten Bewegungen. Dazu zählen die ethnischen Minderheiten der Tibeter und Uiguren, die Demokratiebewegung, die Befürworter der Eigenstaatlichkeit Taiwans sowie die Anhänger der Falun-Gong-Bewegung. Teil der Strategie umfassender staatlicher Kontrolle und Steuerung ist weiterhin die Einflussnahme der chinesischen Nachrichtendienste auf die chinesische Auslandsgemeinde. Chinesische Unternehmen, Studentenorganisationen und Vereine stehen hier im Fokus und sollen sich linientreu verhalten. Daneben zielen die Einflussnahmeaktivitäten auf die öffentliche Meinung. So bedient sich China beispielsweise eigener Thinktanks oder Medien, die teilweise nachrichtendienstlich genutzt werden. Beispielweise wurde im Berichtsjahr versucht, über die Verbreitung von Fake News und den Einsatz von Diplomaten und sonstigen staatlichen Stellen, die Deutungshoheit über die Entstehung und den Verlauf der Corona-Pandemie zu gewinnen. Ebenso stach das Bestreben hervor, jede deutsche Kritik am Vorgehen Chinas in Hongkong möglichst im Keim zu ersticken, beziehungsweise solcher Kritik die "tatsächlich zutreffende" Bewertung der Vorkommnisse gegenüberzustellen. Islamische Republik Iran Schwerpunkte der Aktivitäten iranischer Nachrichtendienste in NRW sind die Ausforschung und Bekämpfung oppositioneller Organisationen und Personen. Das nachrichtendienstliche Vorgehen erfolgt dabei teilweise unabhängig von Organisationsgrößen, Reichweite oder tatsächlichen Einflussmöglichkeiten der betroffenen Akteure auf politische oder gesellschaftliche Entwicklungen im Iran. Einzelpersonen, die sich beispielsweise offen im Internet negativ über die iranische Regierung äußern, können so in den Fokus geraten, wie die Entführung und spätere Hinrichtung eines in Frankreich lebenden iranischen Aktivisten und Bloggers im Berichtsjahr gezeigt hat. Neben der Bekämpfung der iranischen Exil-Opposition beschaffen die iranischen Nachrichtendienste Informationen aus den Bereichen Politik, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft. Iran versteht sich als Regionalmacht im Nahen und Mittleren Osten. Allianzen und Feindschaften sowie die daraus entstehenden Konflikte wirken weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus bis nach Deutschland und Nordrhein-Westfalen. Dabei verfolgt Iran eine ausgeprägte antiwestliche und antiisraelische Stoßrichtung. Die intensivsten nachrichtendienstlichen Aktivitäten gehen in NRW vom iranischen zivilen Inund Auslandsnachrichtendienst, dem Ministry of Information and Security (MOIS), aus. Dieser agiert sowohl von der Zentrale in Teheran aus als auch über örtliche Legalresidenturen. Daneben sind Angehörige und Unterstützer der sogenannten spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 323 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Quds Force Brigade (QF) in Nordrhein-Westfalen tätig, eine auf Auslandsoperationen spezialisierte Einheit der Revolutionsgarde. Die iranischen Nachrichtendienste bedienen sich unterschiedlicher Methoden, um ihre Ziele zu erreichen. Die Rekrutierung und Steuerung menschlicher Quellen wird zur Unterwanderung oppositioneller Strukturen und zur Ausforschung oder Lokalisierung von Einzelpersonen genutzt. Dabei stellen familiäre Bezüge oder Reisen insbesondere von Doppelstaatlern in den Iran ein erhöhtes nachrichtendienstliches Risiko dar. Familiäre Verbindungen werden regelmäßig als Druckmittel gegen Zielpersonen der iranischen Sicherheitsbehörden eingesetzt. Personen mit deutscher und iranischer Staatsangehörigkeit können sich bei Einreise zudem einem Zugriff der iranischen Behörden vor Ort kaum entziehen. Neben einem explizit nachrichtendienstlichen Risiko besteht hierbei verstärkt die Gefahr, dass Iran Doppelstaatler bei Einreisen willkürlich inhaftiert, um sie als politisches Druckmittel zu nutzen. Das Auswärtige Amt erweiterte im November 2020 seine Reisewarnungen zu Iran in diesem Punkt. Neben klassischen nachrichtendienstlichen Methoden und einer weiteren Intensivierung und Professionalisierung von Cyberangriffen bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass sich Iran in den letzten Jahren in Europa wieder verstärkt staatsterroristischer Mittel bedient. Die Entführung und spätere Hinrichtung des oben genannten iranischen Bloggers ist hierfür ebenso ein Beispiel wie die im direkten Auftrag des MOIS durchgeführten Anschlagsplanungen auf den Jahreskongress der oppositionellen "Volksmodjahedin Iran-Organisation" (MEK) im Jahr 2018. In dieser Sache wurde ein an der Iranischen Botschaft in Wien als Diplomat akkreditierter hauptamtlicher MOIS-Mitarbeiter am 4. Februar 2021 von einem belgischen Gericht wegen der Planung eines terroristischen Anschlages und der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung zur Höchststrafe von 20 Jahren Haft verurteilt. Seine beiden Mitangeklagten wurden zu 15 bzw. 18 Jahren Haft verurteilt. Der Diplomat hatte u. a. den für den Anschlag vorgesehenen Sprengstoff im Diplomatengepäck nach Deutschland geschleust und an die Mitangeklagten übergeben. Die Staatsanwaltschaft sprach von einem historischen Urteil, weil das erste Mal seit der islamischen Revolution im Iran 1979 ein iranischer Regierungsmitarbeiter wegen staatsterroristischer Aktivitäten verurteilt wurde. Für zusätzliche Dynamik haben im Berichtsjahr die gezielten Tötungen des iranischen Generals Qasem Soleimani durch einen US-Drohnenangriff im Januar 2020 sowie des iranischen Nuklearwissenschaftlers Mohsen Fakhrizadeh im November 2020 gesorgt. Vor diesem Hintergrund sowie mit Blick auf die Amtsübernahme der neu gewählten US-Administration und einer damit einhergehenden möglichen Rückkehr 324 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 zu Verhandlungen mit dem Iran ist zu erwarten, dass die weitere Entwicklung dynamisch bleibt. Türkei Der türkische Inund Auslandsnachrichtendienst Milli Istihbarat Teskilati (MIT) stellt ein zentrales Element der türkischen Sicherheitsarchitektur dar. Er dient der Regierung unter Staatspräsident Erdogan und der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zur Durchsetzung der Regierungspolitik, Sicherstellung der inneren Sicherheit sowie der Vorbereitung politischer Entscheidungen durch Informationsbeschaffung. Der Nachrichtendienst verfügt insgesamt über schätzungsweise 9.000 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weltweit. Er besitzt weitreichende Exekutivbefugnisse. Seit einer Reform im Jahr 2017 ist er direkt dem Amt des Staatspräsidenten unterstellt. In mehreren diplomatischen Vertretungen der Türkei in Deutschland, unter anderem auch in Nordrhein-Westfalen, unterhält der MIT sogenannte Legalresidenturen. Die dort tätigen hauptamtlichen Beschäftigten des MIT erstellen Berichte zu den für den türkischen Nachrichtendienst relevanten Beobachtungsbereichen. Kernaufgabe des Dienstes war im Berichtsjahr weiterhin die Aufklärung Oppositioneller. Dabei gehören Deutschland und insbesondere Nordrhein-Westfalen mit seiner großen türkischen Diaspora zu prioritären Zielen außerhalb der Türkei. Im Fokus stehen Gruppierungen und Organisationen, die von der türkischen Regierung als extremistisch oder terroristisch definiert werden. In erster Linie sind dies die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die nach ihrer Führungsfigur Fetullah Gülen benannte Gülen-Bewegung. Darüber hinaus besteht ein großes Aufklärungsinteresse an Vereinigungen und Einzelpersonen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher Opposition zur gegenwärtigen türkischen Regierung stehen. Bei in Nordrhein-Westfalen lebenden Angehörigen der oben genannten Organisationen sowie regierungskritischen, oppositionellen Einzelpersonen besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass diese in den operativen Fokus des MIT geraten. Entsprechende Ausforschungsbemühungen dienen stets dem Ziel, Strukturen und Aktivitäten der Zielpersonen beziehungsweise -organisationen aufzuklären. Dabei muss damit gerechnet werden, dass in NRW gewonnene Erkenntnisse gegen die betroffenen Personen eingesetzt werden, beispielsweise bei Vernehmungen anlässlich einer Einreise in die Türkei. Dies ist besonders heikel für Reisende, die sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzen, wie zahlreiche Verhaftungen und Einreiseverweigerungen in jüngster Vergangenheit zeigen. Ein Druckmittel können auch in der spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 325 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Türkei lebende Verwandte von in Nordrhein-Westfalen lebenden Zielpersonen sein, da türkische Stellen auf diese leichteren Zugriff haben. Neben der Aufklärung oppositioneller Bestrebungen aller Art versuchen türkische Stellen in Nordrhein-Westfalen, auch über die türkische Diaspora hinaus, politischen und gesellschaftlichen Einfluss zu nehmen. Neben den in Nordrhein-Westfalen ansässigen Konsulaten bieten dem türkischen Staat hierzu insbesondere Organisationen wie die Union of International Democrats (UID), die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) oder die ultranationalistische Ülkücü-Bewegung (auch Graue Wölfe genannt) vielfältige Möglichkeiten. Die weitläufigen Netzwerke dieser Organisationen dienen nicht nur der Meinungsbildung im Sinne der Regierungspartei AKP, sie stellen zudem ein großes Personenpotential möglicher Zuträger und Hinweisgeber für den türkischen Nachrichtendienst dar. Eine aktive Steuerung oder Führung durch in Deutschland operierende hauptamtliche Mitarbeiter des MIT ist dabei nicht erforderlich, da Hinweise und Informationen über Dritte oder bei Heimatbesuchen übermittelt werden können. Proliferation Unter Proliferation wird die Weiterverbreitung atomarer, biologischer oder chemischer Massenvernichtungswaffen (ABC-Waffen) sowie entsprechender Trägermittel (Raketen und Drohnen) beziehungsweise der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dazu erforderlichen Know-hows verstanden. Neben diesen klassischen Bereichen nehmen seit einiger Zeit illegale Beschaffungsbemühungen für militärische Raumfahrtprogramme fremder Staaten zu ("Space/Counter-Space"). Weltraumgestützte Technik kann beispielsweise für die Zerstörung gegnerischer Kommunikationssatelliten oder den Einsatz eigener Satelliten als Waffe militärisch genutzt werden. In ihren Auswirkungen können solche Szenarien im Konfliktfall vergleichbar mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen sein. Bei proliferationsrelevanten Staaten ist zu befürchten, dass sie Massenvernichtungswaffen oder militärisch ausgerichtete Raumfahrtprogramme in kriegerischen Konflikten einsetzen oder zur Durchsetzung politischer Die Weltraumtechnik gewinnt im Bereich der Ziele mit ihrem Einsatz drohen. Trotz des teils Proliferation zunehmend an Bedeutung erheblichen technologischen Fortschritts sind 326 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 proliferationsrelevante Staaten zum Aufund Ausbau ihrer Programme nach wie vor auf den Erwerb von Produkten und Know-how angewiesen. Unternehmen und Universitäten in Nordrhein-Westfalen standen deshalb im Berichtsjahr weiterhin im Fokus diverser Proliferationsstaaten. Dies sind primär Pakistan, Iran, Nordkorea und Syrien. Inzwischen müssen zudem Russland und China als neue "Proliferationsakteure" bezeichnet werden. Beide Länder sind im Bereich "Space/Counter-Space" intensiv um Beschaffung deutscher Technologie bemüht. Abseits dieses Bereichs sind ebenfalls teils nachrichtendienstlich gesteuerte Einkaufsversuche unter Umgehung von Sanktionsund Embargomaßnahmen festzustellen. Nach wie vor bedienen sich Proliferationsstaaten umfangreicher Beschaffungsnetzwerke, mit denen sie versuchen, die Exportkontrolle zu umgehen. Über Tarnfirmen und durch falsche Angaben über die eigentliche Endverwendung sollen proliferationsrelevante Hintergründe verschleiert und Geschäftspartner und Exportkontrollbehörden in Deutschland getäuscht werden. Zu diesem Zweck beschaffen Proliferationsstaaten zudem gezielt sogenannte "Dual-use"-Güter; das sind Waren, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Zur Aufklärung und Abwehr proliferationsrelevanter Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen arbeitet die Spionageabwehr eng mit den Sicherheitsund Kontrollbehörden des Bundes zusammen. Darüber hinaus sensibilisiert der Verfassungsschutz NRW Unternehmen und Forschungseinrichtungen. In einem vertraulichen Austausch wird auf Beschaffungsmethoden und die Gefahren illegaler Lieferungen hingewiesen. Dabei steht die Spionageabwehr für eine individuelle und bedarfsgerechte Beratung zur Verfügung. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 327 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Wirtschaftsschutz und Geheimschutz in der Wirtschaft Der Schutz nordrhein-westfälischer Unternehmen vor Wirtschaftsspionage war auch im Jahr 2020 ein wichtiger Aufgabenbereich des Verfassungsschutzes. Unter Wirtschaftsspionage versteht man die Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen und Betrieben, die von Nachrichtendiensten fremder Staaten gelenkt oder unterstützt wird. Zu unterscheiden ist diese von Konkurrenzausspähung, die umgangssprachlich auch als Industriespionage beziehungsweise Betriebsoder Werksspionage bezeichnet wird. Von dieser spricht man, wenn die Ausforschung eines Unternehmens durch einen Wettbewerber erfolgt. Eine eindeutige Zuordnung zu einer der Formen illegaler Informationsbeschaffung wird zunehmend schwieriger. Insbesondere in Fällen, in denen Angreifer die mit der Globalisierung einhergehende Digitalisierung der Kommunikation für ihre Zwecke missbrauchen, fehlen häufig Anhaltspunkte dafür, wer hinter einem Angriff steht. Regierungsnahe Hackergruppen, die letztlich jedoch für jeden zahlungskräftigen "Kunden" arbeiten, erschweren eine genaue Zuordnung zusätzlich. Wirtschaft in NRW > rund 714.000 in der Mehrzahl kleine und mittlere Unternehmen > darunter viele sogenannte Hidden Champions, die in ihrer Branche zu den Marktführern gehören > Hochtechnologiestandort mit vielen leistungsstarken und innovativen Unternehmen > Bruttoinlandsprodukt im hohen dreistelligen Milliardenbereich Ein besonderes Augenmerk lag im Jahr 2020 erneut auf dem Schutz der sogenannten Kritischen Infrastruktur. Dazu gehören beispielsweise Unternehmen der Energieund Wasserwirtschaft, der Finanzbranche, der IT-Infrastruktur und der Pharmaindustrie, die im von der Pandemie geprägten Berichtsjahr eine besondere Bedeutung hat. Als kritisch in diesem Sinne gelten alle Branchen, bei denen sich Störungen nicht nur auf das Unternehmen selbst, sondern auf das gesellschaftliche Gefüge oder wesentliche Funktionen von Staat oder Wirtschaft auswirken. Dass Kritische Infrastrukturen verletzbar sind, und welche teilweise gravierenden Auswirkungen Angriffe haben können, 328 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 macht der Hackerangriff auf die Universitätsklinik Düsseldorf im September 2020 deutlich. Dieser und vergleichbare Fälle zeigen aber auch, wie wichtig präventive Maßnahmen zur Verringerung des Gefahrenpotentials sind. Bei allen Versuchen, das tatsächliche wirtschaftliche Schadensbild durch die genannten Angriffe zu erfassen, kann es sich nur um Näherungen handeln. Jedoch lässt die Mehrzahl der vorliegenden Studien einheitliche Größenordnungen und Tendenzen erkennen. Der Bitkom-Verband geht in seiner Studie aus dem Jahr 2019 beispielsweise von einem jährlichen Schadensvolumen in Höhe von 102,8 Milliarden Euro aus. Rechnet man diesen Betrag unter Berücksichtigung von Indikatoren wie Unternehmenszahl und Wirtschaftskraft auf die Länder herunter, dürfte für die Unternehmen in Nordrhein-Westfalen ein Schaden in Höhe von ungefähr 23 Milliarden Euro realistisch sein. Die Ausspähung und der Diebstahl von Know-how ist für die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen in der Regel wesentlich. Geraten Konstruktionspläne für ein neues Bauteil beispielsweise in die Hände von Wettbewerbern, kann dies im schlimmsten Fall die Insolvenz für das betroffene Unternehmen zur Folge haben. Bringt die Konkurrenz in der Folge ein Produkt zuerst auf den Markt, bleiben erwartete Gewinne aus und jahrelange intensive Entwicklungsarbeit wird mit einem Schlag zunichte gemacht. Die Experten des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsschutzes standen auch im Jahr 2020 insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen beratend bei der Entwicklung von Sicherheitsund Notfallkonzepten zur Seite. Herausforderungen durch die Corona-Pandemie Schon vor Beginn der Corona-Krise mussten Unternehmen in Deutschland und Nordrhein-Westfalen zunehmend damit rechnen, Opfer von Wirtschaftsspionage und Cyberangriffen zu werden. Das belegen nahezu alle vorliegenden Erkenntnisse und Studien. Die Zunahme der Bedrohungsund Schadenslagen war insbesondere in den letzten Jahren rasant. Durch die Folgen der Pandemie wird die Situation für Unternehmen jedoch noch weiter verschärft. Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt, aber auch die einzelnen Unternehmen sind in dieser besonderen Situation noch verletzlicher als zu "normalen" Zeiten. Spione, Saboteure und Kriminelle wissen das und versuchen die unsichere und in manchen Bereichen instabile Lage mit zum Teil speziell an die Lage angepassten Angriffsmethoden zu ihrem Vorteil zu nutzen. Um möglichst weitgehend arbeitsfähig zu bleiben, haben große Teile der Wirtschaft ihre Arbeitskräfte zumindest zeitweise ins Home-Office ausgelagert. Häufig mussten dafür schnell Lösungen gefunden werden und Sicherheitsaspekte traten bisweilen spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 329 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 gegenüber der grundsätzlichen Arbeitsfähigkeit erst einmal in den Hintergrund. Die im Home Office eingesetzten Rechner, Verbindungen und Plattformen waren und sind daher in vielen Unternehmen noch deutlich schlechter geschützt als bei entsprechenden Arbeitsplätzen im Unternehmensnetzwerk. Bereits veröffentlichte Zahlen und Studien zum Gesamtanstieg von Angriffen seit dem Beginn der Krise deuten plausibel darauf hin, dass dies zusammen mit dem in Teilen deutlich gesenkten Schutzniveau insgesamt zu einer gestiegenen Bedrohungslage geführt hat. Die durch die Corona-Krise forcierte Digitalisierung und der Einsatz neuer Formen der unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit bieten für Unternehmen aber auch eine große Chance, das Thema Sicherheit direkt von Anfang an mitzudenken und umzusetzen. Die Mehrkosten, die für die eingebaute Sicherheit anfallen, stehen in keinem Verhältnis zu den möglichen Schäden, die durch Cyberangriffe und Spionage entstehen können und tatsächlich auch entstehen. Präventiver Wirtschaftsschutz Die Corona-Pandemie im Berichtsjahr war auch für die Präventionsarbeit des Wirtschaftsschutzes eine besondere Herausforderung. Präsenzvorträge bei Veranstaltungen waren mit Blick auf Zeiten und Teilnehmende nur in einem eng beAufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen hat der Wirtschaftsschutz überwiegend in Online-Formaten sensibilisiert 330 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 grenzten Rahmen möglich. Die Anzahl der Veranstaltungen bewegte sich daher im niedrigen zweistelligen Bereich mit einer Gesamtteilnehmerzahl von rund 1.250 Personen. Im Laufe des Jahres hatten die Sicherheitsberater des Wirtschaftsschutzes zunehmend die Möglichkeit, bei rein digitalen Veranstaltungsformaten und bei Hybridveranstaltungen, einer Kombination aus Präsenz und digitaler Präsentation, als Referenten teilzunehmen. Sie unterstützten beispielweise Multiplikator-Veranstaltungen von Unternehmen und den Handelskammern. Zudem nutzten sie digitale Bühnen bei den erstmals komplett virtuell durchgeführten Messen it-sa und "Public IT-Security 2020". Im letztgenannten Vortrag stand das weiterhin sehr relevante Thema Social Engineering im Mittelpunkt. Gemeinsame Cyber-Security-Übung von Bayern und NRW Im Rahmen der Kooperation "Digital Dialog" der Bayerischen Staatsregierung und der Landesregierung Nordrhein-Westfalen haben der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz, das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration sowie das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz im August 2020 an zwei Tagen eine gemeinsame Cyber-Security-Übung durchgeführt. Gemeinsame Cyber-Security-Übung der Wirtschaftsschutze Bayern und Nordrhein-Westfalen spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 331 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Das extern geleitete, praxisorientierte Planspiel auf der Grundlage reeller Szenarien hat die Übenden in die Rolle eines Unternehmens versetzt, das von einem Cyberangriff betroffen ist. Die sich immer weiter zuspitzende Lage musste aus der Perspektive der Unternehmensleitung und unter Berücksichtigung der Bereiche Sicherheit und IT sowie notwendiger Stabsfunktionen bewältigt werden. Die strategische Simulationsübung diente somit vorrangig dazu, notwendige Prozesse, Strukturen und Kommunikationserfordernisse in einer solchen Krisenlage nachzuvollziehen. Die Erfahrungen mit und die Erkenntnisse aus der Übung haben das Verständnis der Experten des Wirtschaftsschutzes in beiden Ländern für Unternehmen und deren Prozesse in aktiven Cyberlagen erweitert. Insofern trägt die Übung zur weiteren Verbesserung der Beratungsleistung des Wirtschaftsschutzes bei. Geheimschutzbetreute Wirtschaft Den Unternehmen der Geheimschutzbetreuten Wirtschaft stand der Wirtschaftsschutz NRW auch im Jahr 2020 beratend zur Seite. Es handelt sich dabei um Unternehmen, die mit sicherheitsempfindlichen Aufträgen betraut wurden. Die Unternehmen selbst sowie deren Beschäftigte müssen deshalb die speziellen Anforderungen und Verfahren des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (SÜG) durchlaufen und fortlaufend erfüllen. Der Verfassungsschutz arbeitet in diesem Aufgabenfeld eng mit dem für die geheimschutzbetreute Wirtschaft in der Regel federführenden Bundesministerium für Wirtschaft und Energie zusammen. In diesem Kontext führt er gesonderte Einzelfallberatungen und Sensibilisierungsgespräche vor Ort durch und ermittelt bei Verdacht auf Verletzung von Geheimschutzvorschriften. Trotz der pandemiebedingten Einschränkungen war es in vielen Fällen möglich, die Beratungen in einem jeweils kleinen Teilnehmerkreis durchzuführen. Der Verfassungsschutz unterstützte weiterhin den "Arbeitskreis der Sicherheitsbevollmächtigten in NRW" (ArGe SiBe) bei der Ausund Weiterbildung Sicherheitsbevollmächtigter. Sicherheitspartnerschaft NRW Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz hat in der seit dem Jahre 2001 bestehenden "Sicherheitspartnerschaft gegen Wirtschaftsspionage und Wirtschaftskriminalität" in Nordrhein-Westfalen weiterhin die Geschäftsführung. Mitglieder sind das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen, die Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft West e.V. und die Industrieund Handelskammern in Nordrhein-Westfalen e.V.. Als neuestes Mitglied gehört zudem der Verband der Wirtschaftsförderungsgesellschaften NRW, in dem die kommunalen Wirtschaftsförderungsämter und -gesellschaften zusammengeschlossen sind, dem Gremium an. Er nahm im Jahr 2020 erstmals an den Sitzungen der Koordinierungsgruppe teil. 332 spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Ziel der Partnerschaft ist es, die Schäden durch Wirtschaftsspionage, Wirtschaftskriminalität und Konkurrenzausspähung zu reduzieren, die gegenseitige Kooperationsbereitschaft und den Informationsaustausch zu erhöhen und die Sensibilität der Wirtschaft in Bezug auf das Gefahrenpotential zu erhöhen. In einer vernetzten Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat, die den kontinuierlichen Austausch, gegenseitige Information, Beratung und Unterstützung, aber auch gemeinsame Projekte und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten umsetzt, sollen die gemeinsamen Ziele erreicht werden. Die Sicherheitspartnerschaft profitiert dabei von der Expertise der einzelnen Partner. Das Ministerium des Innern bringt dabei sowohl das spezifische Wissen des Verfassungsschutzes zur Wirtschaftsspionage als auch das der Polizei zur Wirtschaftskriminalität ein. Kontakt zum Wirtschaftsschutz Unternehmen und andere Institutionen, die an den Sensibilisierungsangeboten des Verfassungsschutzes interessiert oder Opfer von Spionageoder Sabotageattacken geworden sind, können unter wirtschaftsschutz@im1.nrw.de Kontakt zum Wirtschaftsschutz aufnehmen. Als Inlandsnachrichtendienst obliegt der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen dem Opportunitätsprinzip und kann ein Maximum an Vertraulichkeit zusichern. spIonageabwehr, cyberabwehr und wIrtschaftsschutz 333 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 334 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Präventionsarbeit und Aussteigerprogramme präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 335 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zusammenfassung Die Präventionsarbeit des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen war auch im Jahr 2020 vielseitig, umfassend und passgenau. Sie war trotz der Herausforderungen, die das Coronavirus mit sich brachte, weiterhin erfolgreich. Mit einer Vielzahl neuer Formate und besonderer sorgfältiger Regelungen bei notwendigen persönlichen Beratungen, Abstimmungen oder der Netzwerkarbeit konnten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und ihre Partner trotz der pandemiebedingten Beschränkungen ihre Arbeit fortsetzen. Insbesondere die Angebote des niedrigschwelligen Programms Wegweiser im Bereich der Islamismusprävention und die Qualifizierungen der Trainerinnen und Trainer-Ausbildung VIR wurden durch viele Online-Veranstaltungen aufrechterhalten. Die Begleitung in den drei staatlichen Aussteigerprogrammen Spurwechsel, API und Left konnte unter Einhaltung der Hygienevorgaben, beispielsweise durch Wahrnehmung von Terminen im Freien, konsequent weitergeführt werden. Damit sind die Programme weiterhin verlässliche Partner in der Sicherheitsarchitektur des Landes Nordrhein-Westfalen geblieben. Der Verfassungsschutz hat trotz erschwerter Bedingungen neben dem politischen Raum auch weiterhin Bürgerinnen und Bürger und Behörden über extremistische Bestrebungen, deren Propagandaaktivitäten, die Wege des Einstieges und sonstiges Agieren informiert und umfangreiche Angebote für Veranstaltungen oder Kontaktstellen unterbreitet. Mit seiner Sensibilisierungsarbeit hat er im Berichtsjahr zudem über aktuelle und neue Phänomene der Gefährdungen für die Demokratie aufgeklärt. In Vorträgen wurde aufgegriffen, welche demokratiefeindlichen Verlautbarungen im Zusammenhang mit den Protesten gegen Corona-Schutzmaßnahmen offenkundig und wie die polarisierenden Gruppen durch die Verbreitung von Verschwörungsmythen gestärkt wurden. Mit typischen Beispielen wurde gezeigt, wie aktuelle extremistische Milieus und Akteure unterschiedlicher Herkunft ihren Protest auf der Straße oder virtuell zum Ausdruck bringen, unterstützt durch "entgrenzte" Symbole und verfälschte Anleihen an rechtsstaatliche und demokratisch legitimierte Forderungen. Die durch langjährige Präventionsarbeit des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes entstandenen Netzwerke konnten weiter ausgebaut und die Zusammenarbeit verstärkt werden. Die vielschichtigen Aktivitäten mit relevanten Akteuren in der Präventionsarbeit anderer Länder, des Bundes und internationaler Institutionen sowie mit Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft und mit verschiedenen Ämtern 336 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 in den kommunalen Bereichen sind im Berichtsjahr fortgesetzt und weiter intensiviert worden. Als besonders wertvoll haben sich die intensiven Kooperationen und Verknüpfungen der Beteiligten im Zusammenhang mit der Rückkehr von Personen aus ehemaligen Kriegsgebieten und in der Zusammenarbeit mit den Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen erwiesen. Das im Jahr 2020 nunmehr landesweit ausgebaute Programm Wegweiser wird weiter stark nachgefragt. Gerade im Zusammenhang mit dem offensichtlich islamistisch motivierten Mord an einem Lehrer in Paris waren aufgrund großer Unsicherheiten bei Lehrkräften in Nordrhein-Westfalen die Bewertungen und Einschätzungshilfen der Wegweiser besonders gefragt. An einigen Schulen war es zu teilweise irritierenden, die schreckliche Tat scheinbar rechtfertigenden Reaktionen von Schülerinnen oder Schülern gekommen. Beim Prozess der Programmerweiterung durch eine Onlinekomponente konnten weitere wichtige Meilensteine, wie die Schulung der Online-Beraterinnen und -Berater, bereits begonnen werden. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 337 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Im Fokus: Symbolische Entgrenzung - Prävention und neue Uneindeutigkeiten Neue Einstiegsmuster und Strategien von Extremisten zeichnen sich durch eine bewusste Uneindeutigkeit aus - so werden Symbole aus anderen Kontexten angeeignet und verfremdet. Für die Präventionsarbeit bedeutet dies stärker als bisher über verdeckte Radikalisierungen und Verschiebungen an den demokratischen Rändern des politischen Diskurses aufzuklären. Die Corona-Proteste haben gezeigt, wie Extremisten versuchen, gesellschaftliche Konflikte und Krisen für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Dabei findet eine Anpassung an Themen und Auftreten der Zielgruppen statt, um die Akzeptanz der eigenen Inhalte zu verbessern. Eine stetige und vor allem aktuelle Präventionsarbeit ist daher besonders wichtig. Eine gesetzliche Kernaufgabe des Verfassungsschutzes ist die Aufklärung über Gefährdungen für die freiheitliche Demokratie. In jeder Vortragsveranstaltung und beispielsweise bei Schulungen von Multiplikatoren thematisieren die Experten des Verfassungsschutzes insbesondere die jeweils aktuellen Veränderungen und Entwicklungen. Sie bieten Informationen darüber, wie man neue Extremismusformen erkennen kann, und erklären, wie sie diese Symbole einsetzen. Die Angebote vermitteln den Teilnehmenden dabei nicht nur theoretisches Hintergrundwissen, sondern auch praktisches Handwerkzeug bis zur Vorstellung von Handlungsoptionen im eigenen Umfeld. Entgrenzung als Strategie Der Verfassungsschutz begegnet damit der mit dem Begriff Entgrenzung beschriebenen Strategie von Extremisten zur Ansprache neuer Zielgruppen. Sie greifen beispielsweise aktuelle Krisen auf und knüpfen dabei an eigene Themen an. Eigene Erzählungen werden damit in die Öffentlichkeit getragen. Ein Beispiel ist die sogenannte PEGIDA-Bewegung, bei der Rechtsextremisten und nicht extremistisch orientierte Demonstranten gemeinsam aufgetreten sind. Im Hambacher Forst haben Linksextremisten den Klimaschutz mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbunden. Islamisten nutzen den Deckmantel des Kampfes gegen Islamfeindlichkeit, um Raum für die eigene Ideologie zu schaffen. Nach außen wirkt dies immer wieder wie ein Schulterschluss zwischen Extremisten und Demokraten. Auch die Proteste gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zeigen in vielen Fällen ein buntes Bild. Auf den ersten Blick überraschend 338 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 wehen Reichsflaggen und Regenbogenfahnen scheinbar einträchtig nebeneinander. Für Außenstehende wird nicht deutlich, ob dabei etwas Neues zusammenwächst oder lediglich Wegschauen beziehungsweise Nichtwissen die Ursachen sind. Flaggen, Symbole und Transparente deuten bei den Corona-Protestveranstaltungen auf eine heterogene Zusammensetzung der Teilnehmenden hin Bedeutung von Symbolen Symbole wecken Emotionen und verbinden. Wer sich unter der gleichen Fahne versammelt, vertraut darauf, zur gleichen Gruppe zu gehören, ohne dass dies immer ausdrücklich ausgesprochen werden muss. Häufig genügen Formen und Farben als Identifikationsmerkmale. Wie beispielsweise beim Fußball ergibt sich die Bedeutung einer Farbkombination alleine aus dem Kontext, in dem sie verwendet wird. Das Gleiche gilt für Symbole. Es ist ein erheblicher Unterschied, ob das Hakenkreuz auf einer Fahne zu sehen ist oder in einem hinduistischen Tempel. In dem einen Fall steht es für den Nationalsozialismus, in dem anderen für Reinkarnation. Es hat auch gruppenpsychologische Ursachen, wenn Symbole sehr unterschiedlicher, sich teilweise widersprechender politischer Ansichten gemeinsam zu sehen sind. Gruppen bilden sich über gemeinsame Themen wie beispielsweise Proteste gegen einschränkende Corona-Schutzmaßnahmen. Die persönlichen Motive und Hintergründe präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 339 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 sind zwar unterschiedlich, gemeinsam ist jedoch das Gefühl, nicht verstanden und gehört zu werden. Die Frustration hierüber verstärkt die Abgrenzung zwischen Demonstranten und der Öffentlichkeit und führt zu einer höheren Bereitschaft, in der eigenen Gruppe Verhalten und Positionen zu tolerieren, die man sonst nicht teilen würde. Es bietet sich eine Plattform, auf der der eigene Unmut Ausdruck finden kann. Instrumentalisierung durch Extremisten Teilweise berechtigte Sorgen und Meinungen werden auf diese Weise durch Extremisten instrumentalisiert. Sie erhalten Aufmerksamkeit, weil sie aus Sicht der nicht extremistischen Teilnehmenden an Demonstrationen wenigstens zuhören und die eigenen Standpunkte klar und deutlich hörbar vertreten. Die Polarisierung führt zu einer Gruppenbildung und bringt Personen zusammen, die im Übrigen nicht unbedingt viel gemeinsam haben. Bei der Wirkung von Bildern und Symbolen fallen im Islamismus unter anderem die Facebook-Seiten der beiden Gruppierungen Generation Islam und Realität Islam ins Auge. Beide stellen in den Vordergrund, dass der Islam als Ganzes und die Muslime von vielen Seiten bedroht seien und diskriminiert würden. Insbesondere das Kopftuch als Symbol für eine gläubige Muslimin nimmt großen Raum ein, unter anderem mit Schilderungen, dass Musliminnen aufgrund ihres Kopftuchs benachteiligt würden. Dies wird mit der Botschaft verbunden, dass Frauen standhaft in ihrem Glauben bleiben sollen. Vorwürfe der Diskriminierung von Muslimen reichen dabei so weit, dass auch eine Gleichsetzung mit der Situation von Juden im Dritten Reich nicht gescheut wird. Oder ein Bild zu einem Video über muslimische Uiguren in China wird mit dem Begriff "KZ" überschrieben. Extremisten verbinden das Tragen des Kopftuches mit dem Vorwurf einer generellen Benachteiligung von Muslima Auffällig ist auch das aggres340 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 sive Vokabular, mit der die Bedrohung des Islam beschrieben wird. Bilder von prominenten Personen oder auch Wissenschaftlern, die sich angeblich gegen den Islam stellen, werden mit dem Begriff Islamhasser betitelt. Es wird von einer Dämonisierung und Kriminalisierung des Islam, von einer Assimilationsagenda, Verschwörungstheorien und Angriffen auf die muslimische Community gesprochen, und auf diese Weise werden Feindbilder erzeugt und verfestigt. Konsequenzen für die Präventionsarbeit Die Beispiele zeigen, dass überkommene Der Begriff "KZ" wird bewusst in einem anderen Kontext Kategorien nicht weiterhelfen. Das Feld verwendet und für die eigenen Zwecke umgedeutet des Extremismus ist wie die Gesellschaft selbst weniger eindeutig geworden. Die Übergänge von radikalisiertem Protest zu verfassungsfeindlichem Extremismus sind fließender. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz richtet seine Präventionsarbeit daran aus und entwickelt sie fortlaufend weiter. Konkret bedeutet dies eine permanente Anpassung sowohl der Ansprache relevanter Zielgruppen, als auch der zu erklärenden extremistischen Symbole. Im Mittelpunkt steht ein intensiver Austausch über Fachgrenzen hinweg. Gute Prävention ist nicht aber nur fachlich kompetent, sondern auch empathisch: Bei zunehmender Entgrenzung kommt es darauf an, nicht pauschal zu verurteilen, sondern zu verstehen, warum sich jemand an den Rand gedrängt fühlt und in welchem Kontext Worte oder Symbole verwendet werden. Die Informationsangebote der Prävention leisten mit ihrer aktuellen Darstellung der Entwicklungen, Hintergründe und Agitationsformen einen Beitrag dafür, undifferenzierte Pauschalkritik an Protestbewegungen, die ein Umkippen in den Extremismus befördern kann, zu vermeiden. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 341 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Übergreifende Konzepte und Vernetzung Prävention gegen Extremismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die umso erfolgreicher ist, je mehr relevante Akteure zusammenarbeiten und sich austauschen. Der Verfassungsschutz NRW ist daher an zahlreichen Arbeitsgruppen und Netzwerken beteiligt und bringt seine Expertise ein. Zu den Partnern gehören unter anderem andere Ressorts der Landesregierung und des Bundes, die Kommunen und die Wissenschaft. Integriertes Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus und Rassismus Die Evaluierung des Handlungskonzepts im Jahr 2020 bestätigte im Wesentlichen die Notwendigkeit der vernetzten Präventionsarbeit und stellt die Weichen für eine weitere Optimierung. Neue Aspekte ergeben sich beispielsweise aufgrund der jüngeren Entwicklungen im rechtsextremistischen Spektrum, die insbesondere durch das Phänomen der Entgrenzung geprägt sind. Eine Weiterentwicklung des integrierten Handlungskonzepts auf der Grundlage der Evaluation wurde von der Landesregierung im Sommer 2020 beschlossen. Mit 165 Einzelmaßnahmen aus unterschiedlichen Ressorts der Landesregierung und in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Trägern ist das Integrierte Handlungskonzept das zentrale Koordinierungsinstrument der Präventionsarbeit im Bereich Rechtsextremismus. Die beteiligten Ministerien stimmen sich in einer interministeriellen Arbeitsgruppe ab. Der Austausch mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren erfolgt im Landesnetzwerk gegen Rechtsextremismus. Die Kooperation zwischen Staat und Zivilgesellschaft ist ein Prinzip des Konzepts seit dem Jahr 2016 und ein wichtiger Erfolgsfaktor. Rund zwei Drittel der Maßnahmen sind Polizei und Verfassungsschutz zugeordnet. Der Verfassungsschutz verantwortet 22 Maßnahmen im Bereich der Primärprävention, also klassische Aufklärungsund Informationsformate für spezielle Zielgruppen und die breite Öffentlichkeit, sowie der Sekundärprävention. Zu den letzteren zählen die Programme "VIR" und "Kommunen gegen Extremismus", die durch Extremismus gefährdete Personen in den Blick nehmen. Mit dem Aussteigerprogramm "Spurwechsel" bietet der Verfassungsschutz seit zwanzig Jahren zudem einen erfolgreichen Beitrag in der Tertiärprävention. 342 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Prävention auf drei Ebenen In Wissenschaft und Praxis wird die Präventionsarbeit nach den Zielgruppen eingeteilt, an die sich die jeweilige Präventionsmaßnahme richtet. So wird zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention unterschieden. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz bringt seine Erkenntnisse in den Bereichen Rechtsextremismus und Islamismus gezielt in allen drei genannten Feldern der Prävention ein. Die primäre Prävention zielt auf die demokratische Öffentlichkeit ab ("Verfassungsschutz durch Aufklärung"). Sekundäre Prävention nimmt Personengruppen in den Blick, die eine Nähe zum extremistischen Denken und Handeln haben. Entsprechende Jugendliche befinden sich meist in einer Annäherungsphase an extremistische Szenen. Tertiäre Prävention richtet sich an Personen, die fest in einer extremistischen Szene verankert und in ihr aktiv sind. Maßnahmen der tertiären Prävention sind insbesondere Aussteigerprogramme. Die Übergänge zwischen diesen drei Präventionsbereichen sind fließend, die Unterscheidung ist aber wichtig, weil wirksame Präventionsmaßnahmen passgenau auf die jeweilige Zielgruppe ausgerichtet sein müssen. Interministerielle Arbeitsgruppe "Salafismusprävention als gesamt-gesellschaftliche Aufgabe" Die interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG) "Salafismusprävention als gesamt-gesellschaftliche Aufgabe" hat mit ihrer Einrichtung im Jahr 2016 ein Handlungskonzept implementiert, das sich ganzheitlich mit dem gewaltbereiten Salafismus befasst. Jede Lebensphase und jeder Sozialraum eines jungen Menschen wie Schule, Ausbildung oder Erwerbsleben werden unter den Gesichtspunkten von Prävention in den Blick genommen. Jugendliche, junge Erwachsene und ihr Umfeld sollen erreicht und in ihrer Resilienz gegen Extremismus gestärkt werden. Um diesen ganzheitlichen Ansatz umzusetzen, wird das Handlungskonzept unter Einbindung aller zuständigen Landesministerien, zivilgesellschaftlicher Akteure und der Wissenschaft in einem landesweiten Expertennetzwerk fortlaufend weiterentwickelt. Gleichzeitig wird ein Austausch präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 343 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 über alle Präventionsund Deradikalisierungsmaßnahmen ermöglicht. Über die IMAG wurden zum Beispiel Sensibilisierungsangebote, Beratungen sowie Qualifizierungen erweitert und die Vernetzung der verschiedenen Akteure vorangetrieben. Dabei hat sich die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure und wissenschaftlicher Expertisen bewährt. Um auf aktuelle Entwicklungen und Veränderungen im gewaltbereiten Salafismus eingehen zu können, werden über die IMAG kontinuierlich neue Tätigkeitsfelder, Zielgruppen sowie Programme und Projekte zur Präventionsstärkung und Demokratieförderung erarbeitet. Unterarbeitsgruppen der IMAG werden entsprechend weiterentwickelt beziehungsweise neu gegründet. Die Arbeitsgruppe bezieht immer wieder neue Akteure ein, um dem ganzheitlichen Ansatz gerecht werden zu können. Aktuell gibt es in der IMAG fünf Unterarbeitsgruppen, die sich mit den Themen Arbeit mit Eltern, geschlechtergerechte Präventionsangebote für junge Frauen und Mädchen, salafistische Radikalisierung und Gefährdung von und durch Minderjährige mit dem Fokus auf Rückkehrende aus Kriegsgebieten, Zusammenhänge zwischen der Flüchtlingssituation und einer potentiellen Radikalisierung sowie europäische Präventionskonzepte beschäftigen. Unter anderem wurden Handlungsleitfäden zum Umgang mit Rückkehrenden unter Einbindung von Polizei, Jugendschutz und zivilgesellschaftlichen Experten erarbeitet. Um auf die besonderen Bedürfnisse von jungen Frauen und Mädchen einzugehen, wurde eine Informationssammlung zur geschlechtsspezifischen Prävention erstellt. In Arbeit ist zudem eine Broschüre, die Informationen zum Thema Frauen und Mädchen im Islamismus für Fachkräfte aufbereitet. Da Eltern in der Präventionsarbeit eine sehr wichtige Rolle spielen, hat die Unterarbeitsgruppe Elternarbeit das Projekt "Salafismusprävention durch Elternarbeit" ins Leben gerufen. Da sich extremistische Ideologien wie der gewaltbereite Salafismus entsprechend der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen immer wieder dynamisch verändern, passt sich die Arbeit der IMAG kontinuierlich daran an. CoRE-NRW - Connecting Research on Extremism in North Rhine-Westphalia Das wissenschaftliche Netzwerk CoRE-NRW wurde im Jahr 2016 gegründet, um den extremistischen Salafismus zu erforschen. Seitdem wurde es fortlaufend weiterentwickelt. Expertinnen und Experten analysieren Bedingungen und Formen extremistischer Radikalisierung und beschäftigen sich mit wirksamen Gegenmaßnahmen. Das Netzwerk fördert den interdisziplinären Austausch zwischen Wissenschaft, Praxis 344 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 und Zivilgesellschaft. Ein wichtiges Instrument dafür sind die Angebote der Webseite core-nrw.de. Die Federführung bei CoRE-NRW hat das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW (MKW). Die Koordinierung des Netzwerks erfolgt durch das Friedensund Konfliktforschungsinstitut BICC in Bonn. Das MKW fördert in diesem Rahmen derzeit acht Forschungsprojekte , von denen sieben im Herbst 2020 neu gestartet sind. Mit den neuen Forschungsvorhaben wurde CoRE-NRW thematisch und strukturell erweitert. Zum extremistischen Salafismus tritt die Erforschung des Rechtsextremismus als Schwerpunkthema hinzu. Die CoRE-NRW-Projekte untersuchen salafistische Milieus, Radikalisierungspfade unterschiedlicher Phänomene, Präventionsarbeit und -diskurse, (neu)rechte Politikprogrammatik sowie rechte Mobilisierung und Gewalt. Von der Verknüpfung der Expertisen der Sicherheitsbehörden, der Wissenschaft und weiterer Präventionsfachleute durch CoRE-NRW profitieren alle Beteiligten. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen bringt sich mit seinem Wissen zu Extremismus und Prävention in das Netzwerk ein und erhält im Gegenzug wichtige Impulse für die eigene Präventionsarbeit. Erkenntnisse aus Praxis und Forschung können gebündelt werden und wiederum in die Forschung einfließen. Im Oktober 2020 erschien der erste CoRE-NRW Forschungsbericht. Er gibt eine breite Übersicht über den aktuellen Stand der Extremismusforschung in Nordrhein-Westfalen und stellt daneben ausgewählte Projekte außerhalb des Landes vor. Das diesjährige CoRE-NRW Netzwerktreffen fand online unter dem Titel "Demokratiefeindlichkeit, Menschenhass, Gewaltbereitschaft - Rechtsextremismus und Islamismus im Fokus der Extremismusforschung NRW" statt. Diese Themen sind auch vor dem Hintergrund aktueller Anschläge in Frankreich, Österreich und Deutschland wichtige Aspekte in Präventionsarbeit und Forschung. Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Prävention tauschten sich phänomenübergreifend über aktuelle Entwicklungen im Extremismus aus. Projekt "Kommunen gegen Extremismus" Insbesondere kleinere, kreisangehörige Kommunen benötigen gelegentlich Hilfestellung, um Extremismus bereits in der Entstehung zu erkennen und ihm entgegenzuwirken. Für diesen Bedarf bietet der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz zusammen mit dem polizeilichen Staatsschutz seit 2014 das Projekt "Kommunen gegen Extremismus" an. Diese Zusammenarbeit und der damit verbundene vertrauensvolle Informationsaustausch zu unterschiedlichen Formen von Extremismus wird von den Ansprechpartnern der Kreise, Städte und Gemeinden regelmäßig genutzt. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 345 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Das Projekt ist als Pilot im Kreis Mettmann gestartet. In den folgenden Jahren wurde es auf den Rhein-Kreis Neuss, den Rhein-Erft-Kreis, den Rhein-Sieg-Kreis, die Kreise Paderborn und Düren sowie die kreisfreien Städte Mönchengladbach und Remscheid ausgedehnt. Die Einbeziehung weiterer Kommunen ist beabsichtigt. Internationale Zusammenarbeit Der Austausch mit europäischen Partnern fand in 2020 in erster Linie mit Koordinatoren des PREVENT-Programms des Vereinigten Königreiches statt. Im Rahmen des Twinning Programms fand im März 2020 in der Britischen Botschaft in Berlin ein Arbeitstreffen zur Extremismusprävention gemeinsam mit anderen deutschen Präventionsakteuren und Vertretern der englischen und schottischen Regierung statt. Das Treffen " Twinning Event" gab den Vertreterinnen und Vertretern des Verfassungsschutzes Nordrhein Westfalen Gelegenheit, die zurückliegenden Arbeitstreffen und den Gegenbesuch im September 2019 in Schottland zu evaluieren und zu bewerten. Nach der Pandemie soll der Austausch mit weiteren "Twining Partnern" im Bereich Extremismusprävention in Großbritannien fortgesetzt werden, um mögliche Inspirationen und Strategien für das Land Nordrhein Westfalen zu erkunden. Bei den Aussteigerprogrammen kommt es insbesondere im Bereich Islamismus verstärkt zu Anfragen aus dem Ausland, die auf einen fachlichen Austausch im Bereich der Ausstiegshilfe für Extremistinnen und Extremisten abzielen. Das API hat sich als Teil des von der Europäischen Union geförderten Radicalisation Awareness Network (RAN) etabliert. RAN unterstützt den Wissenstransfer europäischer Praktiker auf dem Feld der Deradikalisierungsarbeit. Vertreterinnen und Vertreter der nordrhein-westfälischen Aussteigerprogramme beteiligen sich an Fachdiskursen auf internationalen Konferenzen und bringen dort ihre Erfahrungswerte ein. Die Nutzung digitaler Austauschplattformen bieten dabei neue Vernetzungsmöglichkeiten auf internationaler Ebene. Projekt Rückkehrkoordinierender Bei der Rückkehr von Menschen nach Nordrhein-Westfalen, die in die Kampfgebiete des sogenannten Islamischen Staates (IS) ausgereist waren, sind verschiedene staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure involviert. Das Projekt Rückkehrkoordinierender (RKK) sorgt für die notwendige Vernetzung und Abstimmung aller Behörden und Organisationen und nimmt dabei insbesondere den Aspekt einer möglichen Deradikalisierung in den Blick. 346 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Alle Rückkehrenden aus jihadistischen Kampfgebieten stellen mindestens ein abstrakt hohes Risiko für die innere Sicherheit Deutschlands dar. Oft haben Rückkehrende einen kompletten Radikalisierungsprozess durchlaufen. Sie konnten Kampferfahrungen sammeln, sind im Umgang mit Waffen geschult oder sie verfügen über Kennverhältnisse zu anderen Radikalisierten. Dabei ist die Gruppe der Rückkehrenden sehr heterogen: Sie reicht von Kleinkindern bis zu radikalisierten oder traumatisierten Jugendlichen und Erwachsenen. Einige hängen unverändert der jihadistischen Ideologie an, andere sind desillusioniert und benötigen Unterstützung für eine gesellschaftliche Reintegration. In enger Abstimmung mit dem Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (LKA) wurde ein ganzheitliches, koordiniertes und standardisiertes Verfahren im Umgang mit Rückkehrfällen erarbeitet. Der RKK bildet darin ein entscheidendes Bindeglied zwischen den Sicherheitsbehörden und den weiteren Beteiligten, vor allem den Kommunen. Er bildet eine sinnvolle Ergänzung innerhalb der nordrhein-westfälischen Sicherheitsarchitektur, ist Knotenpunkt für den aufkommenden Informationsbedarf unterschiedlicher kommunaler Behörden und betreibt ein zielgerichtetes Schnittstellenmanagement. Bei einer anstehenden Rückkehr wird der RKK frühzeitig in das sicherheitsbehördliche Verfahren eingebunden und ist fester Teilnehmer der fallbezogenen Konferenzen des LKA. Dies ermöglicht dem RKK, weit vor der tatsächlichen Rückkehr proaktiv auf kommunale Akteure zuzugehen, um diese bei der Umsetzung von spezifischen Maßnahmen zu unterstützen. Außerdem ist der RKK in ein landesweites Präventionsund Deradikalisierungsnetzwerk eingebunden. Der RKK arbeitet beispielsweise eng mit den 25 dezentralen Wegweiser-Beratungsstellen und dem Aussteigerprogramm Islamismus (API) sowie weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren in Nordrhein-Westfalen zusammen. Auf lokaler Ebene kann der RKK bei Bedarf sogenannte "Runde Tische" initiieren, um alle von einem Rückkehrfall betroffenen Institutionen miteinander zu vernetzen und die Sozialund Jugendämter oder die Schulbehörden mit Experten für die Themen Radikalisierung und Deradikalisierung zusammenzubringen. Dies schafft Handlungssicherheit und hilft bei der Einschätzung potenzieller Herausforderungen. Verbindungsbeamter im Justizvollzug Die Funktion des Verbindungsbeamten (VB) im Justizvollzug wurde den Leiterinnen und Leitern "Sicherheit und Ordnung" der 36 Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen im Oktober 2018 erstmals von den Ministerien des Innern und der Justiz vorgestellt. Im Januar 2019 hat der Verbindungsbeamte dann seine Arbeit aufgenommen. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 347 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Der VB ist organisatorisch im für Prävention und Aussteigerprogramme zuständigen Referat im Verfassungsschutz NRW angesiedelt. Auf der einen Seite ist er Ansprechpartner der Justizvollzugsanstalten zu allen Angelegenheiten, die den Verfassungsschutz betreffen, auf der anderen Seite ist er in der Sicherheitsbehörde selbst zu allen Themen rund um den Justizvollzug ansprechbar. Der VB bündelt somit den phänomenübergreifenden Informationsaustausch in beide Richtungen. Er klärt die Ansprechpartner im Justizvollzug zu den Aufgabenbereichen des Verfassungsschutzes auf und sensibilisiert für Entwicklungen in den einzelnen Extremismusbereichen. Zudem vermittelt er Inhaftierte, die aus dem Extremismus aussteigen wollen, an die Aussteigerprogramme Spurwechsel, API und left des Verfassungsschutzes. Arbeitsgremien auf Bundesebene Der Verfassungsschutz NRW ist über die Landesgrenzen hinaus mit anderen Präventionsakteuren vernetzt und steht im Austausch mit entsprechenden Behörden von Bund und Ländern. Im Bereich des Islamismus nehmen Vertreterinnen und Vertreter aus NRW an mehreren Arbeitsgremien auf Bundesebene teil. Der Ansatz der Deradikalisierung erfordert einen ressortund behördenübergreifenden inhaltlichen Austausch, der seit 2009 in der Arbeitsgruppe (AG) Deradikalisierung im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum des Bundes (GTAZ) stattfindet. Die AG Deradikalisierung ist eine Austauschund Kooperationsplattform für die Expertinnen und Experten der im Bereich der Deradikalisierung zuständigen Bundesund Landesbehörden. Sie verfolgt unter anderem das Ziel einer länderübergreifenden Abstimmung und Klärung von Grundsatzfragen, der Erstellung von Bedarfsanalysen und der Erarbeitung praxisorientierter Standards für die Deradikalisierungsarbeit. Derzeit nehmen das Bundesinnenministerium, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das Bundeskriminalamt, die Landessicherheitsbehörden und alle staatlichen Aussteigerprogramme an regelmäßigen Arbeitssitzungen teil. Die Federführung dieser AG hat die Beratungsstelle Radikalisierung des BAMF, die seit 2012 die bundesweite Schnittstelle im Feld der Deradikalisierung bildet. Der Verfassungsschutz NRW ist in fast allen wesentlichen Arbeitsbereichen vertreten, die innerhalb von fünf Unterarbeitsgruppen (UAG) Fallarbeit, Angewandte Wissenschaft, Polizei, Verfassungsschutzverbund und Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft in regelmäßigen Arbeitssitzungen vertieft bearbeitet werden. Durch weitere bedarfsorientierte Formate, wie beispielsweise Workshops, Arbeitskreise und Netzwerktreffen werden zusätzliche spezielle Fragestellungen und Themenbereiche aufgegriffen. 348 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Insbesondere das nordrhein-westfälische Aussteigerprogramm Islamismus (API) gibt hier auf der Grundlage seiner langjährigen Praxiserfahrung fruchtbare Impulse. Das API leitet zudem die wichtige UAG Fallarbeit, die der Erarbeitung konkreter und praxisnaher Ergebnisse dient und bestimmt so die Entwicklung der GTAZ AG Deradikalisierung wesentlich mit. Die UAG Fallarbeit unterteilt sich in die vier Arbeitspakete Ideologische Aufarbeitung, Risikomanagement, Zielgruppen und Fallakquise. Die Unterarbeitsgruppen und Arbeitspakete sind mit Praktikern aus dem Bereich der Ausstiegsbegleitung besetzt, um den Bezug zur täglichen Ausstiegsarbeit sicherzustellen und die Arbeitsergebnisse möglichst anwendbar zu gestalten. Alle Verantwortlichen von behördlichen Länderprogrammen sind zudem über die Beratungsstelle Radikalisierung im BAMF in ein breites Netzwerk mit den jeweiligen zivilgesellschaftlichen Strukturen eingebunden. Der Verfassungsschutz NRW bringt dabei vor allem seine langjährigen Erfahrungen aus dem Programm Wegweiser ein. Das Bundesministerium des Innern (BMI) lädt jährlich zur einem Bund-Länder-Treffen zu Deradikalisierung im Phänomenbereich Islamismus ein, an dem der Verfassungsschutz NRW teilnimmt. In der Sitzung 2020 standen die prioritären künftigen Herausforderungen für die Deradikalisierungsarbeit im Vordergrund. Darüber hinaus ist der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen im Gesprächskreis der Arbeitsund Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention des Deutschen Jugendinstituts in Halle (Saale) vertreten. In diesem Gremium stellt die Arbeitsund Forschungsstelle aktuelle Forschungsprojekte aus den Themenfeldern Jugend, Demokratie und Extremismus vor, um sie mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Präventionspraxis zu diskutieren und Impulse für die weitere Ausrichtung der Projekte zu gewinnen. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 349 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Präventionsprogramm Wegweiser - Gemeinsam gegen Islamismus Das Landespräventionsprogramm Wegweiser setzt ganz am Anfang einer möglichen Radikalisierung an und ermöglicht den "Ausstieg vor dem Einstieg". Mit insgesamt 25 regionalen Standorten ist Wegweiser nun landesweit und flächendeckend in ganz Nordrhein-Westfalen ausgebaut. Wegweiser ist dezentral organisiert und wird von zivilgesellschaftlichen und kommunalen Trägern in Beratungsstellen vor Ort umgesetzt: Das vom Land NRW finanzierte Programm richtet sich vor allem an Kinder, Jugendliche und junge Menschen, die bereits mit der salafistischen Szene sympathisieren oder in diese abzurutschen drohen. Das Programm berät zudem passgenau und individuell das soziale Umfeld dieser Zielgruppe (zum Beispiel Familienangehörige, Freunde, Lehrkräfte) und führt Sensibilisierungen in Schulen, Behörden und sonstigen Organisationen durch. Außerdem sind die Beratungsstellen für alle Personen, die Fragen zum Islamismus und zu den Themen extremistischer Salafismus und Radikalisierung haben, ansprechbar. Die Beratungsarbeit wird von zivilgesellschaftlichen oder kommunalen Trägern als örtlichen Beratungsstellen durchgeführt. Sie betreiben die jeweilige Beratungsstelle vor Ort und stellen qualifiziertes Personal ein. Jede Beratung ist grundsätzlich freiwillig, vertraulich und kostenlos. Der Verfassungsschutz finanziert die Beratungsstellen und nimmt eine vom konkreten Beratungsfall unabhängige allgemeine Steuerungsfunktion wahr. Individuelle Hilfe für Betroffene In drei Vierteln der Kontakte kann direkt mit Jugendlichen oder Kindern gesprochen werden. Sie fühlen sich vor allem während der Zeit der Pubertät häufig unverstanden und sind einer Vielzahl von Fragen und Problemen ausgesetzt. In dieser Phase ihres Lebens sind die jungen Menschen für einfache Antworten islamistischer Extremisten besonders empfänglich. Daher ist es besonders zu Beginn der Beratungsarbeit durch Wegweiser wichtig, dass die jungen Menschen vor allem gute Zuhörerinnen oder Zuhörer finden, die sich Zeit für sie nehmen. Viele finden damit nach längerer Zeit zum ersten Mal ein Gegenüber, das wirklich zuhört und ihre Sorgen und Ängste ernst nimmt. Die Wegweiser-Beratung muss fachlich sehr breit aufgestellt sein. Daher 350 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 haben die Wegweiser-Beraterinnen und -Berater unterschiedliche berufliche und fachliche Hintergründe. Neben Kenntnissen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik als Basis sind ausgeprägte interkulturelle und interreligiöse Kompetenz, Fachwissen über den Islam und Islamismus sowie Mehrsprachigkeit unerlässlich. Bei der konkreten Fallbegleitung gilt es zunächst, in ersten Gesprächen zu klären, ob und welche Problemlagen und Veränderungsbedarfe bei der oder dem Jugendlichen vorliegen. Diese können reichen von Konflikten mit den Eltern, Ausgrenzungserfahrungen, anstehenden Schulverweisen und Einsamkeit über Anzeigen wegen Kleinkriminalität bis hin zu massiven Ängsten und fehlenden Lebensperspektiven. Die Beraterinnen und Berater nehmen die Jugendlichen in ihrer Lebenswelt an, auch indem sie das Kernproblem losgelöst von vermeintlichen Konfliktlagen identifizieren. Dabei gilt: Jeder Fall ist ein Einzelfall und alle Details verdienen Aufmerksamkeit. Die Eingabe der Postleitzahl auf der Wegweiser-Website genügt, um die nächstgelegene Beratungsstelle zu finden präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 351 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Bei der Begleitung werden in gemeinsamen Terminen die individuellen Problemaspekte analysiert, die eine Radikalisierung begünstigen können. Daran anknüpfend werden die jeweiligen Ressourcen der Jugendlichen lokalisiert, um diese gezielt zu fördern. Im weiteren Verlauf der Begleitung müssen die Jugendlichen in einem sehr hohen Maß zur Eigeninitiative und Selbstwirksamkeit motiviert werden, damit es zu Zielvereinbarungen kommen kann. Das Umfeld wird eingebunden, und mit den Jugendlichen werden verbindliche Aufgaben festgelegt. Gemeinsam mit den Betroffenen bewertet die Beraterin oder der Berater diese Vereinbarungen und Ziele regelmäßig und bespricht auch die Reaktionen des Umfeldes. Zielvereinbarungen werden angepasst, wenn es erforderlich ist. Auf diese Weise werden verschiedene Lösungsund Handlungsstrategien erarbeitet und erprobt. Der gesamte Prozess richtet sich nach dem Bedarf der oder des Jugendlichen und kann auch in eine längere Begleitung münden. Jede Wegweiser-Beratungsstelle ist vor Ort in ein umfassendes Netzwerk weiterer Organisationen eingebunden, um optimal auf das Fachwissen unterschiedlichster Akteure zurückgreifen zu können. Auf diese Weise kann Wegweiser insbesondere die spezielle Expertise von Sozialverbänden, kommunalen Ämtern, Familienberatungsstellen, Jobcentern, Migrantenselbstorganisationen, Vereinen und Polizei einbinden. Die Beraterinnen und Berater begleiten, beraten und unterstützen die Betroffenen beim Kontakt und der Zusammenarbeit mit diesen Akteuren. Information und Sensibilisierung Neben der individuellen Fallarbeit informieren die Wegweiser-Beratungsstellen in Behörden, Schulen und sonstigen Organisationen. Sie weisen auf gesonderte Veranstaltungen über den Islamismus allgemein sowie seine Erscheinungsformen, Anwerbestrategien und Propagandaaktivitäten hin, stehen aber auch für besondere, jeweils auf die konkrete Zielgruppe zugeschnittene Vortragsveranstaltungen und Workshops zur Verfügung. So erreicht Wegweiser eine breite Sensibilisierung und erhöht die gesellschaftliche Wachsamkeit, jeweils mit dem Ziel, dass besorgniserregende Veränderungen einzelner Personen in ihrer konkreten Umgebung schnell bemerkt und dann von Fachleuten geprüft und bewertet werden können. Dafür ist es besonders förderlich, dass mit Wegweiser sehr frühzeitig und ortsnah kompetente Beratung bereitsteht. Durch die jüngsten Gewalttaten unter anderem in Frankreich und die damit einhergehende Frage, inwieweit das Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit auch an deutschen Schulen zu Problemen führen kann, haben sich Schulen zunehmend an den Verfassungsschutz und die Wegweiser-Beratungsstellen gewendet. Es wurde berichtet, dass etwa Schülerinnen oder Schüler die Teilnahme 352 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 an Gedenkminuten verweigert oder islamistische Attentate befürwortet haben. Um möglichen Unsicherheiten im Umgang mit dieser Thematik bei Lehrkräften und Schulsozialarbeit zu begegnen, haben sich Wegweiser-Beraterinnen und -Berater noch stärker und gezielt aktiv an Schulen gewendet und ihre Beratung und Aufklärung zu Fragestellungen rund um diese Thematik angeboten. Kontakt zu Wegweiser Informationen zu den Wegweiser-Beratungsstellen vor Ort und die jeweiligen Hotlines sind unter www.wegweiser.nrw.de zu finden. Die zentrale Wegweiser-Hotline ist unter 0211 871 2728 (montags bis freitags von 8:00 bis 18:00 Uhr) oder per Mail unter info@wegweiser.nrw.de erreichbar und vermittelt auf Wunsch Ansprechpartner vor Ort. Die Hintergründe bei Beratungsfällen und die von Schulen oder anderen Institutionen angefragten Themen haben seit längerem gezeigt, dass neben dem extremistischen Salafismus verstärkt auch andere islamistische Organisationen bei der Wegweiser-Arbeit eine Rolle spielen. Aufgrund dieser Bedarfe bieten die Standorte daher Beratung und Informationen zum gesamten Spektrum des Islamismus an. Um dies zu verdeutlichen, wird im Jahr 2021 der Programmname an das Beratungsangebot angepasst und das Programm in "Wegweiser - Gemeinsam gegen Islamismus" umbenannt. Erfolge des Wegweiser-Programms Nach den pandemiebedingten Einschränkungen im Frühjahr 2020 gab es wieder einen stetigen Anstieg bei den Personen, die durch das Programm erreicht werden konnten. Vom Start 2014 bis zum Ende des Berichtsjahres wurden 1.050 direkt betroffene Personen beraten. Rund ein Viertel davon waren Frauen beziehungsweise Mädchen. In 57 Prozent aller Beratungen waren Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren und in knapp 15 Prozent der Fälle Kinder unter 14 Jahren betroffen. Hinzu kommt eine Vielzahl an Beratungsgesprächen, die durch das Umfeld direkt betroffener Personen angefragt wurden. Die Wegweiser-Standorte haben über 24.000 allgemeine Anfragen (beispielsweise Vorträge, Sachverhalte mit Einzelfallbezug) und 4.500 Sensibilisierungsmaßnahmen (beispielsweise Workshops für Schülerinnen und Schüler) bearbeitet. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 353 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Zwischen 80 und 90 Prozent der Beratungsfälle haben einen positiven Verlauf genommen. Gemeinsam mit Betroffenen und dem sozialen Umfeld konnten unterschiedliche Probleme bearbeitet und neue Perspektiven erschlossen werden, von der Umsetzung von Zielvereinbarungen bis beispielsweise zur Erarbeitung neuer Lebensperspektiven für die Betroffenen. Konkret kann das bedeuten, dass beispielsweise Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz initiiert wurden, die zu einer Ausbildungszusage geführt haben. Oder der Betroffene hat auch einfach nur ein neues Hobby gefunden und sich beispielsweise in einem Fußballverein oder für einen Zeichenkurs angemeldet. Positive Entwicklungen dieser Art haben zur Folge, dass sich extremistische Einstellungen nicht weiter verfestigen oder nicht mehr handlungsleitend sind. Wegweiser Online Mit Wegweiser Online wird eine niedrigschwellige, digitale Komponente des Präventionsprogramms Wegweiser auf den Weg gebracht. In einem komplexen Vergabeverfahren wurde 2020 ein Schulungsanbieter ausgewählt, der begonnen hat die Beraterinnen und Berater von Wegweiser speziell für die Anforderungen der Online-Beratung fortzubilden. 2021 wird die modulare Schulungsreihe fortgesetzt. Künftig soll es möglich sein, Wegweiser-Angebote zeitund ortsunabhängig über das Internet in Anspruch zu nehmen. Insbesondere einer jüngeren Zielgruppe soll damit der Kontakt zum Präventionsangebot erleichtert werden. Die Beraterinnen und Berater können für eine anonyme und vertrauliche Beratung im Netz kontaktiert werden. Umgesetzt wird das zusätzliche Angebot durch die 25 bestehenden Wegweiser-Beratungsstellen. Die Beraterinnen und Berater werden in den sozialen Medien zusätzlich als Wegweiser-Ansprechpartner erkennbar sein. Geplant ist, aktuelle Trends bei Jugendlichen und ihrem sozialen Umfeld aufzugreifen, an öffentlichen Diskussionen teilzunehmen oder diese zu initiieren, um junge Menschen zu erreichen und Meinungsbilder einzuholen. Das Web-Angebot soll im stetigen Dialog mit den Nutzerinnen und Nutzern weiterentwickelt werden. Für die Auseinandersetzung mit dem Medium Internet als Katalysator von Extremismus, Falschnachrichten und Hass werden die Beraterinnen und Berater künftig auch Medienkompetenzworkshops im Schulbereich anbieten. Das Internet ist in der Zeit der Corona-Pandemie auch bei islamistischen Akteuren als Medium noch weiter in den Fokus gerückt. Einer entsprechenden Online-Radikalisierung wird Wegweiser Online ein Angebot entgegensetzen, von dem besonders eine jüngere Zielgruppe profitieren kann. 354 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Qualifizierung zur Qualitätssicherung Ein für die Wegweiser-Beraterinnen und -Berater entwickelter Qualifizierungslehrgang begleitete die Beratungsarbeit auch im Berichtsjahr. Zahlreiche Fortbildungen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten ermöglichen Weiterbildung und Qualitätssicherung. Verschiedene Lerneinheiten vermittelten beispielsweise ein tieferes Verständnis der Bedeutung des Wegweiser-Programms. Zudem konnten sich beispielsweise Beraterinnen und Berater, die einen Studienhintergrund im Bereich der Sozialen Arbeit haben, gezielt in den Themenbereichen Islam und Islamismus qualifizieren und spezialisieren. Evaluation des Wegweiser-Programms Das Präventionsprogramm Wegweiser wird ab Anfang des Jahres 2021 von einem externen Institut wissenschaftlich evaluiert. Dabei soll die Arbeit der Wegweiser-Standorte im Hinblick auf ihre verschiedenen Arbeitsbereiche analysiert werden. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Evaluation sollen mögliche Handlungsempfehlungen zur Optimierung des Programms entwickelt werden. Die Evaluation soll sich über einen Zeitraum von 18 Monaten erstrecken und mit einem Evaluationsbericht abschließen. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit In der Aachener Grenzregion können sich mit Blick auf die Extremismusprävention Beratungsfälle ergeben, die über die Ländergrenzen hinaus reichen. So leben und bewegen sich viele Menschen in Aachen und der deutschsprachigen Gemeinschaft in Ost-Belgien (DG) grenzüberschreitend. Soziale Räume vieler Bewohner, wie beispielsweise der Schulbesuch, Aktivitäten in Sportvereinen oder die tägliche Arbeit, erstrecken sich auf Gebiete beiderseits der Grenze. Daher wurde im Jahr 2017 ein Staatsvertrag über die Zusammenarbeit zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen, der DG und der Stadt Aachen geschlossen. Die Stadt Aachen ist auf deutscher Seite Wegweiser-Träger und die DG betreibt einen nach NRW-Vorbild eingerichteten Wegweiser-Standort im belgischen Eupen. Die erfolgreiche Kooperation beider Seiten konnte auch im Jahr 2020 fortgeführt und intensiviert werden. Zudem wurde der Dialog mit der Region Flandern zur erfolgreichen Bekämpfung des gewaltbereiten Salafismus im Jahr 2020 vertieft. Die Wegweiser-Beratungsstelle in Köln und das flämische Pendant aus Antwerpen tauschten sich auf Grundlage einer in 2019 geschlossenen Kooperationsvereinbarung weiter aus. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 355 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 VIR - Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen Im VIR-Projekt fand im Jahr 2020 die achte Trainerinnenund Trainer-Ausbildung statt. Insgesamt hat der Steuerungskreis des Projekts inzwischen rund 140 Fachkräfte zu VIR-Trainerinnen und -trainern qualifiziert. Darüber hinaus standen zwei Fortbildungen in Bonn und in Münster im Mittelpunkt sowie die jährliche VIR-Vernetzungstagung, die online stattfand und die Arbeit der Fußball-Fanprojekte in den Blick nahm. VIR im Überblick Das Qualifizierungskonzept VIR (VeränderungsImpulse setzen bei Rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen) umfasst zehn Bausteine, darunter Übungen zur motivierenden Gesprächsführung, ein Modell, das Veränderungsphasen aufzeigt (Transtheoretisches Modell der Veränderung), und Grundlagen zum Thema Rechtsextremismus (Rechtslage, "Erlebniswelt Rechtsextremismus", Einund Ausstiegsprozesse). Das VIR-Qualifizierungskonzept ist ein Kommunikationstraining für Personen, die beruflich oder ehrenamtlich mit rechtsorientierten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen im Kontakt sind - also mit jungen Menschen, die sich der rechtsextremistischen Szene annähern, aber noch nicht fest in ihr verankert sind. VIR ist ein Konzept der sekundären Extremismusprävention und bietet mit der VIR-Ausbildung und der VIR-Fortbildung zwei Qualifizierungsformate für unterschiedliche Zielgruppen an. Die viertägige VIR-Ausbildung bildet Teilnehmende zu VIR-Trainerinnen und -Trainern aus, die im Anschluss selbst VIR-Trainings in ihren Arbeitsfeldern beziehungsweise ihren Regionen im Tandem durchführen können. Die dreitägige VIR-Fortbil356 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 dung ist für Fachkräfte konzipiert, die die Methoden in der eigenen Praxis anwenden möchten, zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Schulsozialarbeit, aus Einrichtungen und Angeboten der Jugendhilfe, in Sportvereinen, in Justizvollzugsanstalten sowie Lehrkräfte. Präventionsansatz Bei VIR-Qualifizierungen geht es um die Kommunikation mit Zielgruppen, bei denen man in Alltagssituationen Impulse setzt, die zur Veränderung motivieren und den Veränderungsprozess fördern. VIR setzt auf Kurzinterventionen wie "Tür und Angel"-Gespräche oder Kurzberatungen mit einer Dauer von zehn bis 60 Minuten. Typische Situationen sind Pausengespräche in der Schule, Gespräche im Jugendzentrum oder zwischen Strafgefangenen und Beschäftigten in einer Justizvollzugsanstalt. Trainerinnenund Trainer-Ausbildung in Bonn Die VIR-Ausbildung in Bonn fand im Juni 2020 im Gustav-Stresemann-Institut statt. Teilgenommen haben Fachkräfte aus Bereichen wie Streetwork, Jugendhilfe, Ausstiegsbegleitung für Rechtextremisten sowie Polizei und Strafvollzug. Die insgesamt rund 140 VIR-Trainerinnen und -Trainer sind überwiegend in Nordrhein-Westfalen tätig, darüber hinaus in elf weiteren Bundesländern. So fand 2020 erstmals eine VIR-Fortbildung in Flensburg statt. Auf Initiative der Bund-Länder-Arbeitstagung der staatlichen Aussteigerprogramme hat der VIR-Steuerungskreis eine Fortbildung in Bonn speziell für dieses Arbeitsfeld durchgeführt. Eine weitere Fortbildung fand in Münster statt, an der Fachkräfte aus den Bereichen Bewährungshilfe, Schule, Ausstiegsbegleitung, Fußballfanprojekte und des Präventionsprogramms Wegweiser teilnahmen. Nach jeder VIR-Qualifizierung wird eine anonyme Befragung der Teilnehmenden durchgeführt, um das VIR-Konzept fortlaufend weiterzuentwickeln und den Bedürfnissen der Teilnehmenden entsprechend anzupassen. Die kontinuierlich positiven Rückmeldungen bestätigen, dass sich die Grundstruktur und Methodenauswahl der Veranstaltungen bewährt haben. Neue Entwicklungen im Bereich Rechtsextremismus werden aufgegriffen und in das VIR-Konzept integriert. Die große Praxisnähe präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 357 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 bestätigen gerade Teilnehmende immer wieder, die in den Aussteigerprogrammen in NRW und in anderen Bundesländern tätig sind. VIR-Vernetzungstagung: Fanarbeit im Blickpunkt Die jährliche VIR-Vernetzungstagung fand im November 2020 aufgrund der Pandemielage zum ersten Mal online statt. So konnten sich bundesweit VIR-Trainerinnen und -Trainer zu ihrer Arbeit und aktuellen Entwicklungen im Rechtsextremismus austauschen. Das Treffen fand in Kooperation mit dem Fanprojekt Dortmund und der Landesarbeitsgemeinschaft der Fanprojekte statt. Johannes Bagus und Florian Hansing vom Fanprojekt Dortmund stellten ihre Netzwerkarbeit mit Vereinen und der Stadt Dortmund vor. Patrick Arnold, Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) der Fanprojekte in NRW, berichtete von seiner Arbeit auf Landesebene und nahm die Schnittstellen des Fußballs mit Gewalt und Rechtsextremismus in den Blick. Die LAG Fanprojekte mit Sitz in Bochum ist eine gemeinsame Fachstelle aller nordrhein-westfälischen Fanprojekte. Die Arbeit des BVB-Lernzentrums stellte dessen Leiter Johannes Böing vor - das Lernzentrum verbindet politische Bildung, zum Beispiel zu den Themen Diskriminierung und Zivilcourage, mit dem Lernort Stadion. In einem Impulsvortrag beleuchtete der Verfassungsschutz NRW auf der Vernetzungstagung drei aktuelle Aspekte zum Thema Rechtsextremismus: Verschwörungsmythen im Kontext der Corona-Pandemie, die Bedeutung von Frauen in dieser Szene und des Kampagnenthemas "Antifeminismus" sowie, anlässlich der Präsidentschaftswahl in den USA, die Biographie des prominenten amerikanischen Aussteigers Derek Black. Akteure Im VIR-Projekt arbeiten staatliche und zivilgesellschaftliche Stellen eng zusammen: Es wird gemeinsam getragen vom Arbeitskreis der Ruhrgebietsstädte gegen rechtsextreme Tendenzen bei Jugendlichen (AK-Ruhr), von der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinderund Jugendschutz NRW und dem Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (Aussteigerprogramm "Spurwechsel"). VIR wird fachlich begleitet durch das LWL-Landesjugendamt Westfalen. Die ginko Stiftung für Prävention in Mülheim/Ruhr, an deren Fortbildungskonzept MOVE (Motivierende Kurzintervention) sich VIR anlehnt, hat das Projekt unterstützt. 358 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Um den fachlichen Austausch im VIR-Netzwerk weiter zu stärken, erscheint seit Juli 2020 zweimal jährlich der VIR-Newsletter, der Entwicklungen im Projekt und Aspekte aus dem Themenfeld Rechtsextremismus beleuchtet sowie auf aktuelle Publikationen hinweist, zum Beispiel auf neu erschienene Autobiografien von Aussteigern aus dem Rechtsextremismus. VIR auf Kongressen und Tagungen Ein Vertreter des VIR-Steuerungskreises stellte das Projekt im September 2020 bei zwei Gelegenheiten an der Technischen Hochschule Köln vor: in einem Blockseminar zu Methoden der Extremismusprävention und auf der Tagung "Neue/extreme Rechte in der sozialen Arbeit". Zudem war VIR auf dem Deutschen Präventionstag vertreten, der im September 2020 online stattfand. Das zu diesem Zweck erstellte Erklärvideo, das Akteure, Ziele und Methoden des Projekts skizziert, steht auf der VIR-Website zur Verfügung. Eine Projektpräsentation war auch für den Bundeskongress Kinderund Jugendarbeit in Nürnberg geplant, der kurzfristig im Internet stattfinden musste. Die VIR-Präsentation soll 2021 nachgeholt werden. Darüber hinaus hat der VIR-Trainer Dr. Bünyamin Werker (Universität zu Köln) das VIR-Konzept in einem Fachaufsatz beleuchtet, der Bezugspunkte zur kulturellen Bildung in den Mittelpunkt stellt. Der Beitrag "Potenziale der Kulturellen Bildung in der Rechtsextremismusprävention. Die Fortbildung 'Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen' (VIR)" ist im November 2020 im Sammelband "Gesellschaftspolitische Dimensionen der Kulturellen Bildung", hrsg. von Susanne Keuchel und Bünyamin Werker (transcript Verlag), erschienen. Informationen zum Projekt Weitere Informationen zum VIR-Projekt und Kontaktmöglichkeiten zu Trainerinnen und Trainern sind unter www.vir.nrw.de abrufbar. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 359 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Aussteigerprogramme Die drei staatlichen Aussteigerprogramme Spurwechsel (Rechtsextremismus), API (Islamismus) und left (Linksextremismus) sind Kernelemente der intervenierenden Extremismusprävention. Der Verfassungsschutz NRW befasst sich in seinen Aussteigerprogrammen mit Personen, deren Radikalisierung in islamistischen, rechtsextremistischen oder linksextremistischen Denkund Aktionsstrukturen bereits fortgeschritten ist. Für Szeneangehörige, die den Willen haben, sich aus ihrem extremistischen Umfeld zu lösen, bieten die Aussteigerprogramme Unterstützung bei ihrem Ausstieg. Die Aussteigerprogramme leisten landesweit einen wesentlichen Beitrag zur inneren Sicherheit, indem sie zielgerichtete Maßnahmen der Deradikalisierung umsetzen. Um einen möglichst nachhaltigen Ausstieg aus extremistischen Szenen zu erzielen, bieten die Programme darüber hinaus professionelle Unterstützung bei der Eingliederung beziehungsweise Wiedereingliederung in die demokratische Gesellschaft. Kontaktangebote und proaktive Personenakquise Jede Person, die den Willen hat, sich aus der extremistischen Szene zu lösen, kann unbürokratisch Kontakt zu den Aussteigerprogrammen aufnehmen. Möglich ist dies über die Telefonhotline, die jeweilige E-Mail-Adresse oder über die allgemeine Erreichbarkeit des Verfassungsschutzes. Die Zahl der Personen, die sich aus eigener Initiative an eines der Aussteigerprogramme wenden, steigt seit Gründung der Programme stetig. Die Programme warten aber nicht nur, bis Betroffene auf sie zukommen. Ein wichtiger Teil der Arbeit der Ausstiegsbegleiterinnen und Ausstiegsbegleiter ist die proaktive Fallakquise, das aktive Zugehen auf Extremistinnen und Extremisten, um für einen Ausstieg zu werben. Als vorteilhaft erweist sich dabei die Anbindung der Aussteigerprogramme an den Verfassungsschutz. Sie sind damit über Entwicklungen in den extremistischen Szenen und bei deren Mitgliedern auch durch einen direkten Kontakt zur Polizei stets auf dem aktuellen Stand und gehen bei Hinweisen zu ersten Distanzierungen auf die Szeneangehörigen zu. Grundsätzlich sind Freiwilligkeit und Gesprächsbereitschaft Voraussetzungen für die Aufnahme in eines der drei Aussteigerprogramme. Wenn Gerichte die Teilnahme an einem Aussteigerprogramm im Zusammenhang mit einem Urteil als Auflage oder 360 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Weisung anordnen, ohne dass sich die angeklagte Person entsprechend geäußert hat (sogenannter Zwangskontext), kann die Ausgangslage für die Aufnahme in eines der Programme schwierig sein. Bei Personen, die in einem solchen Kontext in eines der Programme gelangen, ist zumindest zu Beginn der Begleitung nicht von einer ernsthaften Ausstiegsbereitschaft auszugehen. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen jedoch, dass der Kontakt mit dem Team der Aussteigerprogramme und die vielen Gespräche bei Extremistinnen und Extremisten trotz des Zwangskontextes Impulse für Veränderungsprozesse und letztlich den Ausstieg geben können. Zahlreiche Fälle, die mit einer solchen Ausgangslage an die Programme vermittelt wurden, haben sich tatsächlich zu längerfristigen Begleitungen und nachhaltigem Ausstieg entwickelt. Sowohl im konkreten Ausstiegsprozess als auch bei der Fallakquise greifen die Aussteigerprogramme auf ein weitreichendes Netzwerk aus Sicherheitsbehörden sowie relevanten Präventionsakteuren und Hilfesystemen zurück. Die Kontakte reichen von der kommunalen bis zur Landesund Bundesebene. Multiplikatorinnen und Multiplikatoren unterstützen die Programme mit Hinweisen auf Extremistinnen und Extremisten, die Distanzierungstendenzen aufzeigen, und machen Szeneangehörige auf die Existenz der Programme aufmerksam. Sie bilden eine Brücke zum Programm, wenn Personen eine eigenständige Kontaktaufnahme selbst nicht wagen oder diese, zum Beispiel aufgrund einer Haftsituation, nur erschwert möglich ist. Ausstiegsbegleitung im Justizvollzug Mögliche Klientinnen und Klienten werden regelmäßig auch in den nordrhein-westfälischen Haftanstalten angesprochen. Das Hilfsangebot der Aussteigerprogramme richtet sich an inhaftierte Personen mit Bezügen zu extremistischen Milieus und umfasst die Begleitung während der Haftzeit, die intensive Vorbereitung auf eine anstehende Haftentlassung sowie die engmaschige Begleitung im Anschluss. Die Programme profitieren dabei insbesondere von der guten Zusammenarbeit mit den Bereichen Polizei und Justiz. Die Haftsituation stellt für die meisten Betroffenen eine extreme Belastung dar. Viele stellen wegen im Strafvollzug hervorgerufener Irritationen ihre bisherige Lebensweise ganz oder teilweise in Frage. Aussteigerprogramme können in solchen Situationen mit ihren Hilfsangeboten ansetzen. Es wird dabei jedoch immer klargestellt, dass die Programme grundsätzlich weder Einfluss auf laufende Ermittlungen, noch auf Gerichtsverfahren nehmen. Sie sorgen auch nicht für Hafterleichterungen. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 361 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 In den drei Aussteigerprogrammen liegt der Anteil der in Haft begleiteten Personen bei rund einem Drittel Ablauf der Begleitung Den Kern der Begleitung des Ausstiegs bilden regelmäßige persönliche Gespräche, in denen zunächst der individuelle Hilfebedarf ermittelt und die Problemlagen gemeinsam aufgearbeitet werden. Ein wesentlicher Bestandteil des oft langjährigen Ausstiegsprozesses ist die systematische Aufarbeitung der ideologisch geprägten Haltung. Dies beinhaltet zum Beispiel historische, theologische, politische oder kulturelle Themen, aber auch den Verlauf des eigenen Einstiegsund Radikalisierungsprozesses. Die kritische Auseinandersetzung mit der extremistischen Vergangenheit zielt darauf ab, Impulse für Reflexionsund Bewusstwerdungsprozesse zu setzen, die ausstiegswilligen Personen zu einem selbstbestimmten Leben in der demokratischen Gesellschaft verhelfen. Personen, die sich aus einer extremistischen Szene lösen möchten, sehen sich in der Regel mit vielfältigen Problemlagen konfrontiert. Arbeitslosigkeit, Suchterkrankungen, psychische Belastungen durch traumatisierende Erfahrungen oder die Herausforderung, den Alltag plötzlich alleine bewältigen zu müssen, können Stolpersteine beim Aufbau eines Lebens außerhalb extremistischer Strukturen darstellen. Die Aussteigerprogramme des Verfassungsschutzes sorgen daher neben der ideologischen 362 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Aufarbeitung extremistischer Einstellungen auch für die notwendige soziale Stabilisierung der Teilnehmenden. Die Ausstiegsbegleitung bietet individuelle Hilfestellungen zur eigenständigen Bewältigung des Alltags und bestehender Problemlagen. Die Aussteigenden sollen befähigt werden, eigene Zukunftsperspektiven zu entwickeln, neue Lösungsideen mit der nötigen Unterstützung zu erarbeiten und diese schrittweise umzusetzen. Dabei gilt, dass die Ausstiegsbegleitung lediglich zu einer Veränderung anregen oder andere Wege aufzeigen kann, die Veränderung des Verhaltens und der Einstellungen jedoch in der Verantwortung der Betroffenen selbst verbleibt. Herausforderungen durch die Pandemie Das Jahr 2020 war aufgrund der COVID-19-Pandemie insbesondere von Einschränkungen unmittelbarer persönlicher Kontakte geprägt. Das stellte für die Aussteigerprogramme eine besondere Herausforderung dar, weil Ausstiegsarbeit auf persönlicher Beziehungsarbeit basiert. Die Programme haben sich den erschwerten äußeren Umständen angepasst und die nötigen Maßnahmen ergriffen, um die Begleitung während der anhaltenden Pandemie fortzusetzen. Dabei war es das Ziel, den begleiteten Personen eine verlässliche Konstante und den erforderlichen Halt in der ungewohnten Ausnahmesituation zu geben. Die persönlichen Gespräche fanden unter strikter Einhaltung der Hygieneregeln statt und wurden zusätzlich mit verstärktem telefonischem Kontakt begleitet. Aufgrund der gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie rückten teilweise neue Themen in den Fokus. Die Begleitung bot ausreichend Raum für den nötigen Austausch und darüber hinaus für Unterstützung im Umgang mit der Pandemie. Teams der Aussteigerprogramme In den vergangenen Jahren wurden die Aussteigerprogramme kontinuierlich personell verstärkt und in ihrer fachlichen Expertise auf eine breitere Basis gestellt. Die Ausstiegsprozesse werden durch speziell ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begleitet, die über besonderes Fachwissen zu den extremistischen Szenen verfügen. Vielfältige berufliche Vorerfahrungen und Kenntnisse aus den Bereichen Polizei, Verfassungsschutz, Justiz, Islam-, Rechtsund Politikwissenschaft sowie Psychologie, Pädagogik und Soziale Arbeit schaffen optimale Voraussetzungen dafür, dass die Begleitung durch die Aussteigerprogramme individuell auf die Bedarfe der ausstiegswilligen Personen ausgerichtet werden kann. Daran arbeiten in den Programmen Frauen und Männer unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Profession und Konfession sowie mit diversem sprachlichen und kulturellen Hintergrund mit. Dies schafft eine Grundlage für passgenaue Methoden der Deradikalisierung und der sozialen Stabilisierung. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 363 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Websites der Aussteigerprogramme API: www.api.nrw.de Spurwechsel: www.spurwechsel.nrw.de left: www.left.nrw.de Spurwechsel - Aussteigerprogramm Rechtsextremismus Personen, die auf freiwilliger Basis zu einer Distanzierung aus dem rechtsextremistischen Umfeld und einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in der Szene bereit sind, können sich seit dem Jahr 2001 an das Aussteigerprogramm Spurwechsel wenden. Das Programm richtet sich an Frauen und Männer mit einer Altersspanne von der Strafmündigkeit bis ins hohe Erwachsenenalter. Wesentlicher Aspekt für die erfolgreiche Arbeit von Spurwechsel ist die herausgehobene Strukturqualität des Programms. Dies bestätigt auch die im Jahr 2015 extern durchgeführte wissenschaftliche Evaluation von Spurwechsel. In den untersuchten Fällen haben Befragte angegeben, insbesondere ein staatliches Aussteigerprogramm als starke Institution im Zusammenhang mit Deradikalisierungsarbeit zu schätzen. Die Befragten vertrauten Spurwechsel hinsichtlich guter Zugänge zu anderen Behörden oder Institutionen sowie der zuverlässigen und guten Ressourcenund Personalausstattung. In den vergangenen Jahren hat sich das Team von Spurwechsel insgesamt mit über 420 Personen aus der rechten Szene beschäftigt und mehr als 200 Personen in ihrem Ausstiegsprozess begleitet. In 185 Fällen konnte nach einem Zeitraum von durchschnittlich drei Jahren die Begleitung erfolgreich abgeschlossen werden. Weitere 26 Personen wurden an andere Beratungsstellen vermittelt, weil der Schwerpunkt des Hilfebedarfs nicht auf der Deradikalisierung lag. Rund 50 Personen werden in der Regel gleichzeitig durch Spurwechsel begleitet. 364 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Die ideologisch fundierten Rollenbilder der rechtsextremistischen Szene spiegeln sich im Programm Spurwechsel auch in den Geschlechteranteilen der Teilnehmenden wider. Prägend für die Rollenverteilung in der Szene ist das rechtsextremistische Selbstbild des Mannes, in dessen Fokus vor allem die Männlichkeit steht. Frauen hingegen nehmen meist eine nachgeordnete Rolle in der Szene ein. So ist es nicht überraschend, dass 92 Prozent der Teilnehmenden bei Spurwechsel männlich sind und lediglich 8 Prozent weiblich. Im Durchschnitt sind Personen bei ihrer ersten Kontaktaufnahme zu Spurwechsel etwa 32 Jahre alt. Zu aktuellen Entwicklungen und Bearbeitungsschwerpunkten steht Spurwechsel regelmäßig im Austausch mit den Ländern und dem Bund und beteiligt sich an verschiedenen übergreifenden Arbeitsgruppen zu Standards und Entwicklungen in der Ausstiegsarbeit. Kontakt zu Spurwechsel E-Mail: kontakt@spurwechsel.nrw.de Telefon: 0211/837 1906 Website mit Kontaktformular: www.spurwechsel.nrw.de API - Aussteigerprogramm Islamismus Das API besteht seit 2014 und unterstützt Personen, die den Willen haben, sich aus ihrem islamistischen Umfeld zu lösen. Das Programm ermöglicht ihnen einen sicheren und nachhaltigen Ausstieg aus der Szene. Zur Zielgruppe des API gehören Personen mit einer tendenziell hohen Sicherheitsrelevanz, deren Radikalisierung bereits weit fortgeschritten ist. Als Teil der behördlichen Sicherheitsstruktur in Nordrhein-Westfalen gewährleistet das API auch die Begleitung von Personen aus dem gewaltbereiten terroristischen Bereich. An dem Programm nehmen zu einem großen Anteil Personen teil, die wegen terroristischer Straftaten eine Haftstrafe verbüßen oder verbüßt haben. Darunter befinden sich zahlreiche Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus jihadistischen Kriegsgebieten. Die überwiegende Zahl der im API betreuten Personen ist im polizeilichen Kontext als "relevante Person" oder "Gefährder" präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 365 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 eingestuft. Einen anderen Teil bilden gewaltbereite Anhänger und Sympathisanten der islamistischen Szene in Deutschland. Die Zahl der Kontaktaufnahmen hat sich im Bereich Islamismus seit dem Jahr 2014 vervielfacht. Das API hat sich bereits mit über 200 Personen aus der islamistischen Szene befasst und begleitet gleichzeitig zwischen 50 und 60 Hilfesuchende intensiv in ihrem Ausstiegsprozess. Knapp 20 Personen konnten nach Kontaktaufnahme mit dem API an bestehende Hilfesysteme vermittelt werden, da sie einen anders gelagerten Unterstützungsbedarf hatten. Bei etwa 30 der aktuellen Begleitungen konnte das API bereits eine deutliche Distanzierung von der extremistischen Ideologie und Szene feststellen. Es ist zu erwarten, dass ein Großteil dieser Fälle kurzbis mittelfristig positiv abgeschlossen werden kann. In über 20 Fällen ist ein positiver Fallabschluss bereits gelungen. Als fester Bestandteil der bundesweiten Arbeitsgruppe (AG) Deradikalisierung im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) verfügt das API über gute Kontakte zu Bundesund Landesbehörden und somit auch zum bundesweiten Präventions-Beratungsnetzwerk. In der AG Deradikalisierung findet seit 2009 ein ressortund behördenübergreifender inhaltlicher Austausch zum Ansatz der Deradikalisierung im Bereich Islamismus statt. Die AG dient als zentrale Austauschund Kooperationsplattform, die sich mit Trends und Herausforderungen im Bereich der Deradikalisierung befasst. Sie erarbeitet praxisorientierte Standards für die Fortentwicklung geeigneter Präventionsmaßnahmen. Kontakt zum API E-Mail: kontakt@api.nrw.de Telefon: 0211/837 1926 Website mit Kontaktformular: www.api.nrw.de left - Aussteigerprogramm Linksextremismus/auslandsbezogener Linksextremismus Um Personen aus dem deutschen und auslandsbezogenen Linksextremismus einen nachhaltigen Ausstieg aus der extremistischen Szene zu ermöglichen, wurde im Jahr 2018 das Aussteigerprogramm left ins Leben gerufen. Dabei nimmt der 366 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 nordrhein-westfälische Verfassungsschutz bundesweit eine Vorreiterrolle im Bereich der tertiären Linksextremismus-Prävention ein. Left bietet Ausstiegshilfe für deutsche Linksextremistinnen und Linksextremisten (wie die gewaltbereiten Autonomen Szenen), als auch für Linksextremistinnen und Linksextremisten mit Auslandsbezug (wie PKK oder DHKP-C). Als jüngstes der drei Aussteigerprogramme wurde left in die Infrastruktur der bestehenden Aussteigerprogramme integriert. Seitdem erreichen das Programm immer wieder Anfragen und Hinweise aus dem bestehenden Netzwerk zu möglichen Klientinnen und Klienten. Die Erfahrungen bestätigen, dass bei der Zielgruppe des Programms ebenfalls Bedarf für ein Aussteigerprogramm besteht. Bis Ende 2020 hat sich left bereits mit über 40 Personen befasst, für die Hinweise auf einen möglichen Distanzierungswillen aus der Szene des deutschen Linksextremismus, als auch aus der linksextremistischen Szene mit Auslandsbezug vorlagen. Left begleitet durchschnittlich 20 Personen dauerhaft in ihrem Ausstiegsprozess. Obwohl das Programm erst seit 2018 besteht, können bereits jetzt bei einigen Klientinnen und Klienten positive Entwicklungsschritte festgestellt werden. Dass ein großes Interesse an der Programmstruktur von left besteht, zeigen die vielen Anfragen aus anderen Bundesländern, der Wissenschaft und den Medien. Der länderübergreifende Austausch wurde in den Aussteigerprogrammen Spurwechsel und API durch die jährliche Bund-Länder-Arbeitstagung der staatlichen Aussteigerprogramme bereits verstetigt. Die erste von left initiierte Tagung im Bereich Linksextremismus ist für das Jahr 2021 vorgesehen. Darüber hinaus bleiben die staatlichen Programme beim jährlichen Praxisund Erfahrungsaustausch der behördlichen und zivilgesellschaftlichen Ausstiegshilfen im stetigen Dialog mit den Nichtregierungsorganisationen. Kontakt zu left E-Mail: kontakt@left.nrw.de Telefon: 0211/837 1931 Website mit Kontaktformular: www.left.nrw.de präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 367 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Fachtagungen und Kongresse Veranstaltungen mit größerem Publikum waren in weiten Teilen des Jahres 2020 aufgrund der Pandemielage nur eingeschränkt oder nicht möglich. Das hat sich auch auf Fachtagungen, Studientage und Kongresse mit Beteiligung des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen ausgewirkt. Soweit Präsenzveranstaltungen nicht durchführbar waren, fanden sie mitunter als Online-Konferenzen statt. Bei Fachtagungen und Kongressen, die den Extremismus in den Blick nehmen, tritt der Verfassungsschutz teilweise selbst als Veranstalter auf oder bringt sich in Form von Messeständen und Vorträgen ein. Solche Tagungen und Messen sind stets auch ein Forum für den Austausch zwischen Behörden, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Tagungsreihe "Radikalisierung! Stammtischparolen - Extremismus - Gewalt" Seit 2015 veranstalten die Landeszentrale für politische Bildung und das Ministerium des Innern NRW gemeinsam die Tagungsreihe "Einstiegsprozesse in den Rechtsextremismus und Islamismus". Das Konzept wurde für zwei Veranstaltungen im März 2020 fortentwickelt, die unter dem Titel "Radikalisierung! Stammtischparolen - Extremismus - Gewalt" in Kooperation mit der Feuerwehr Düsseldorf stattfanden. Teilgenommen haben rund 100 Führungskräfte der Feuerwehr. Im Mittelpunkt der Veranstaltungen stand neben aktuellen Entwicklungen des Rechtsextremismus und Islamismus auch der Umgang mit Stammtischparolen im Alltag. Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer (Universität Duisburg-Essen) nahm Charakter und Wirkung solcher Parolen unter die Lupe und erprobte mit den Teilnehmenden Gegenstrategien. Zwei Fachvorträge beschäftigten sich mit ideologischen Mustern, Strategien und Erscheinungsformen von Rechtsextremismus und Islamismus. Den Abschluss bildete jeweils ein Gespräch mit einem Aussteiger aus dem Rechtsextremismus, das durch das Prisma-Projekt im Verfassungsschutz NRW ermöglicht wurde. Landeszentrale, Innenministerium und die Feuerwehr Düsseldorf wollen die Kooperation weiterführen. Auch die Tagungsreihe "Einstiegsprozesse", die sich schwerpunktmäßig an pädagogische Fachkräfte richtet, soll 2021 fortgesetzt werden. Dies war im Jahr 2020 aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich. Online-Studientag zum Umgang mit (Rechts-)Extremismus Alle eineinhalb Jahre veranstalten das Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) in Hamm, das Innenministerium NRW, das Medienzentrum Hamm und die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Arnsberg den Thementag 368 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 "Sensibilisierung für den Umgang mit (Rechts-)Extremismus in Schule und Unterricht". Teilnehmende sind alle Lehramtsanwärterinnen und -anwärter am ZfsL. Die Veranstaltung im November 2020 musste kurzfristig in ein Online-Format übertragen werden. Dieses umfasste drei Phasen: die Sensibilisierung für aktuelle Entwicklungen anhand multimedialer Beispiele, acht Workshops und abschließende Reflexionsrunden in den Kernseminaren des ZfsL. In einem der Workshops stellte ein Mitarbeiter der Wegweiser-Beratungsstelle in Dortmund dieses Präventionsprogramm gegen Islamismus vor, in einem weiteren berichtete ein Vertreter des Prisma-Projekts aus seinen Erfahrungen mit Aussteigergesprächen im schulischen Kontext. Weitere Workshops nahmen die Themen Antisemitismus oder Anti-Diskriminierung im Fußball in den Blick. Teilgenommen haben etwa 170 Personen. Neben den Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern sowie den Fachkräften der Lehrerausbildung am ZfsL Hamm haben zwei Schulkurse das Programmangebot teilweise verfolgt und in den Unterricht eingebunden. 25. Deutscher Präventionstag Der 25. Deutsche Präventionstag (DPT) zum Schwerpunktthema "Smart Prevention - Prävention in der digitalen Welt" sollte ursprünglich im Mai in Kassel stattfinden. Er wurde jedoch aufgrund der Corona-Pandemie auf den 28. und 29. September 2020 verschoben und wegen der Beschränkungen für Großveranstaltungen erstmals als rein digitales Format durchgeführt. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen stellte auf zwei Projektseiten im DPT-Infopool seine allgemeine Präventionsund Öffentlichkeitsarbeit sowie das Projekt Prisma vor. Zwei Video-Interviews mit Teilnehmerinnen der Prisma-Aussteigergespräche sowie einem VIR-Trainer vermittelten den Besucherinnen und Besuchern des Kongresses einen persönlichen Eindruck von den beiden Projekten. Am virtuellen Messestand des Verfassungsschutzes stand zudem umfangreiches eigenes Informationsmaterial zum Download zur Verfügung. Gamescom 2020 An der im Jahr 2020 erstmals rein digital stattfindenden Computerund Videospielemesse Gamescom beteiligte sich der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz mit einem virtuellen Messestand. Er nutzte die Plattform, um das wenige Tage zuvor veröffentlichte Videospiel "Leons Identität" ausführlich vorzustellen. Zuschauerinnen und Zuschauer erhielten über ein Making-Of-Video exklusive Einblicke in die Entstehung des Spiels. Sie konnten zudem eine intensive Auseinandersetzung zum Thema "Politische Kommunikation mit Games: Vorbild für Verbände & Institutionen?" auf einem digitalen Podium des Gamescom Congress verfolgen, bei der ebenfalls unter anderem das Projekt "Leons Identität" im Zentrum des Interesses stand. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 369 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Vorträge und Fortbildungen Im persönlichen oder beruflichen Umfeld mit Extremismus und Radikalisierungstendenzen konfrontiert zu werden kann verunsichern. Der Verfassungsschutz klärt im Kontext von Extremismus auf und unterstützt bei der Vermittlung von Hilfsangeboten. Geschultes Fachpersonal sensibilisiert im Rahmen von Vorträgen und Fortbildungen zu extremistischen Bestrebungen und Ideologien. Mit Informationen über aktuelle Entwicklungen extremistischer Szenen, deren Strategien und Propaganda richtet sich der Verfassungsschutz entsprechend seinem gesetzlichen Auftrag an die Öffentlichkeit, an Politik sowie an Fachkräfte aus allen Tätigkeitsfeldern, die Interesse an Aufklärung über das Thema Extremismus haben. Diese Tätigkeitsfelder finden sich beispielsweise in den Bereichen Schule, Jugendund Sozialarbeit, Polizei und Justiz sowie in Unternehmen. Schwerpunkte Rechtsextremismus und Islamismus Die "COVID-19-Pandemie" und die sich daraus ergebenden Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus und zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung beeinflussten auch die Sensibilisierungsarbeit des Verfassungsschutzes. Die seit dem Jahr 2017 in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Schule und Bildung angebotenen Module "Herausforderung extremistischer Salafismus - Angebote für Schule und Jugendarbeit" konnten im Berichtsjahr nicht durchgeführt werden. Andere Vortragsund Fortbildungsangebote wurden unter der Einhaltung von Hygieneauflagen vor Ort oder im Rahmen von Online-Formaten durchgeführt. Schwerpunkte der Vorträge und Fortbildungen, die stattfinden konnten, lagen wie in den vorhergehenden Jahren auf den Phänomenbereichen Rechtsextremismus und Islamismus. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes wirkten bei insgesamt 186 Veranstaltungen zu allen Extremismusbereichen sowie zum Wirtschaftsschutz und zur Spionageabwehr mit eigenen Fachbeiträgen mit und sensibilisierten unterschiedliche Zielgruppen. Insgesamt wurden rund 9.000 Menschen erreicht. Zum Thema Rechtsextremismus gab es im Berichtsjahr insgesamt über 100 Veranstaltungen. Dabei standen die Methoden und Strategien im Vordergrund, derer sich Rechtsextremisten bedienen, um speziell junge Menschen für ihre Ideologie zu gewinnen, und die sich insbesondere unter dem Titel "Erlebniswelt Rechtsextremismus" 370 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 zusammenfassen lassen. Im Berichtsjahr wurden verstärkt Verschwörungsmythen verbreitet, auch in rechtsextremistischen Kampagnen gegen die Beschränkungsmaßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie. Diese waren vielfach antisemitisch aufgeladen. Beispiele dieser Mythen, ihre Funktionen und Bedeutung für den Rechtsextremismus waren ein wichtiges Thema der Aufklärungsarbeit. Die meisten Veranstaltungen richteten sich an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Seit vielen Jahren laden insbesondere Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) Referentinnen und Referenten des Verfassungsschutzes NRW für Vorträge und Workshops zum Thema Rechtsextremismus ein. Die ZfsL bilden Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter aus. Soweit es die Pandemielage zuließ, fanden 2020 Präsenzveranstaltungen mit den ZfsL statt, zum Teil mit einer Workshop-Phase, in denen die Teilnehmenden rechtsextremistische Medien wie Videos, Musik oder Jugendzeitschriften in Kleingruppen analysierten. Zudem entwickelte und erprobte der Verfassungsschutz ein Online-Format, um die Auseinandersetzung mit der Erlebniswelt Rechtsextremismus in Gruppen mit bis zu 200 Teilnehmenden auch dann fortführen zu können, wenn dies in Präsenz nicht möglich war. Online-Fortbildungen fanden mit den ZfsL Bochum, Hamm, Recklinghausen und Solingen statt. Weiterhin hat der Verfassungsschutz Informationsveranstaltungen für Auszubildende der Berufsfeuerwehr Düsseldorf und für Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Führungskräfte der Dortmunder Stadtwerke (DSW21) durchgeführt. Sensibilisierung des Personals in Sicherheitsbehörden Neben Vorträgen zum Thema Rechtsextremismus für Beschäftigte der Justizvollzugsanstalten wurden vor allem Informationsveranstaltungen für Polizistinnen und Polizisten durchgeführt. Dazu gehörten die regelmäßigen Fortbildungen am Landesamt für Ausbildung und Fortbildung der Polizei in NRW. Zielgruppe waren Polizistinnen und Polizisten aus den Hundertschaften, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des polizeilichen Staatsschutzes sowie in der zweiten Jahreshälfte 2020 insbesondere die durch die Polizeibehörden benannten Extremismusbeauftragten. Auf deren Initiative gab es darüber hinaus eine Reihe von Veranstaltungen für Führungskräfte des Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste NRW in Duisburg sowie für Bedienstete aus Polizeipräsidien und Kreispolizeibehörden. Seit November 2020 sensibilisiert der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz das eigene Personal in für alle Beschäftigten obligatorischen Veranstaltungen zum Themenfeld Rechtsextremismus und Rassismus. Anlass dafür waren konkrete Hinweise, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Sicherheitsbehörden in NRW präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 371 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 an Chatgruppen mit fremdenfeindlichen, zum Teil den Nationalsozialismus verherrlichenden Inhalten beteiligt hatten. Die Veranstaltungen zielen vor allem auf eine Schärfung des Bewusstseins für rechtsextremistische Propaganda in sozialen Netzwerken ab und dabei insbesondere für Formen, in denen Menschenverachtung hinter einer modernen und scheinbar seriösen Fassade präsentiert wird. Auch anhand von Beispielen zu konkreten Erfahrungen wurde und wird deutlich gemacht, dass jede Form des Rassismus für Betroffene Diskriminierung und Verletzung bedeutet. Das Erkennen und die richtige Einordnung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus waren zentrale Inhalte der Sensibilisierungsveranstaltungen auch für die eigenen Beschäftigten des Verfassungsschutzes NRW Prävention in den Bereichen Justiz, Schule und Lehre Vortragsveranstaltungen zum Thema Islamismus wurden im Jahr 2020 wieder in sehr unterschiedlichen Institutionen durchgeführt. Der Strafvollzug ist dabei im Zusammenhang mit der Arbeit des Verbindungsbeamten Justizvollzug des Verfassungsschutzes und der Relevanz für die Aussteigerprogramme besonders bedeutsam. Bei einer zweitägigen Fortbildung mit dem Titel "Islam, Islamismus und Justizvollzug" für 372 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Bereichsleitungen aus Justizvollzugsanstalten wirkte der Verfassungsschutz mit einem Beitrag zu aktuellen Entwicklungen im Islamismus und zu Radikalisierungsfaktoren im Zusammenhang mit Justizvollzug mit. Mit der Vorstellung der Arbeit des Aussteigerprogramms Islamismus und des Verbindungsbeamten Justizvollzug konnten konkrete Unterstützungsangebote im Bereich von Justizvollzugsanstalten aufgezeigt werden. Bei Aufklärungsveranstaltungen der Islamismusprävention im Schulbereich zeigte sich erneut die besondere Rolle der Wegweiser-Standorte. Wegweiser-Beraterinnen und Berater ergänzten die Vortragsinhalte des Verfassungsschutzes mit fundierten und praxisnahen Beiträgen. Sie berichteten beispielsweise über Hintergründe, die Jugendliche in die Beratung führten, und über konkrete Auswirkungen für das Familienund Schulleben. An diesen Praxisberichten setzten Schilderungen von Lehrerinnen und Lehrern zu eigenen Erfahrungen mit Islamismus im Schulalltag an. Die Zusammenarbeit mit den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung in NRW (ZfsL) ist ein Beispiel für eine erfolgreiche Einbindung der Wegweiser-Beratungsstellen und des Verfassungsschutzes bei der Aufklärungsarbeit im Schulkontext. Wie in den vergangenen Jahren wirkte der Verfassungsschutz erneut an einem Seminar für Studierende des Masterstudiengangs "Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft" an der Ruhr-Universität Bochum mit. Auf der Grundlage der Darstellung aktueller Entwicklungen im Islamismus und der Vorstellung des Wegweiser-Programms erarbeiteten die Studierenden in Gruppenarbeit erfolgreich Ansätze und Faktoren für eine mögliche Evaluation des Wegweiser-Programms. Dabei war der unterschiedliche fachliche Hintergrund der Teilnehmenden wie beispielsweise aus den Bereichen der sozialen Arbeit und Polizei sehr förderlich. Das seit dem Jahr 2017 bestehende Angebot "Herausforderung extremistischer Salafismus - Angebote für Schule und Jugendarbeit" des Ministeriums des Innern in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Schule und Bildung musste im Berichtsjahr ausgesetzt werden. Die sich dynamisch entwickelnde Pandemielage erlaubte es nicht, die Präsenzveranstaltungen mit externen Anbietern und jeweils größeren Schülerzahlen durchzuführen. Sobald es die Lage zulässt, sollen wieder kostenfreie Module zur Aufklärung über die Gefahren des extremistischen Salafismus wie Theaterstücke, Lesungen und Workshop abrufbar sein. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 373 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Kompetenter Ansprechpartner für die Wissenschaft Neben klassischen Vortragsund Workshop-Formaten steht der Verfassungsschutz wissenschaftlichen Instituten immer wieder für Fachgespräche zur Verfügung. Studierende, Promovierende und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Studiengängen und Lehrstühlen gehen dabei in den Austausch mit den Experten des Verfassungsschutzes, die ihre Erkenntnisse zu Hintergründen, Strategien und Netzwerkstrukturen sowie ihre Erfahrungen in der Präventionsarbeit darstellen und zu diesen diskutieren. Die Expertise und die Erfahrungen fließen somit in wissenschaftliche Arbeiten und Projekte ein und unterstützen unter anderem Studien zu Radikalisierungsfaktoren. Projekt Prisma - Prävention durch Dialog Prisma ist ein Projekt des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, das sich mit der Biografie von Personen befasst, die im Extremismus verhaftet waren. Aussteiger und Aussteigerinnen aus dem Rechtsextremismus, dem Islamismus und dem auslandsbezogenen Extremismus arbeiten das von ihnen Erlebte bei Veranstaltungen mit Schülerinnen und Schülern und unterschiedlichen Multiplikatoren und Multiplikatorinnen auf. Die Veranstaltungen bieten den Teilnehmenden einen hohen Erkenntniswert, da die Aussteiger und Aussteigerinnen sehr persönlich über ihre Lebenswege, ihre Einstiegsmotivationen, Erfahrungen in der Szene und andere einschneidende Erlebnisse berichten. Bei den Veranstaltungen wird auf eine wertschätzende und sensible Atmosphäre besonderer Wert gelegt. Erfahrene Moderatorinnen und Moderatoren leiten die Gespräche. Durch die persönliche Schilderung entstehen wertvolle Impulse sowohl für die Teilnehmenden als auch die Aussteigenden selbst, die ihren Werdegang reflektieren. Im Jahr 2020 wurden 20 Veranstaltungen an Schulen oder in anderen Zusammenhängen durchgeführt. Die geringere Anzahl gegenüber dem Vorjahr ist auf die Auswirkungen Faltblatt zur Veranstaltungsreihe der Corona-Pandemie zurückzuführen. "Prisma" 374 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Als Pilot wurde das Projekt im Jahr 2019 um den intensiven Austausch der Aussteigenden mit Insassen in Justizvollzugsanstalten erweitert. Dieser Ansatz wurde 2020 mit sehr großem Erfolg weitergeführt. Die Reaktionen der Teilnehmenden waren durchweg positiv. Insassen stellten die Erlebnisse der Aussteigenden in einen Zusammenhang mit der eigenen Biografie. Die Gespräche führten teilweise zu einer erkennbar kritischen Reflexion extremistischer Einstellungen. Dabei herrschte stets eine wertvolle und wertschätzende Gesprächsatmosphäre, in der die Beteiligten zum Nachdenken gebracht wurden und neue Denkanstöße erhielten. Weitere Veranstaltungen in dieser Form sind geplant. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 375 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Digitale Angebote und Veröffentlichungen Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz verbreitet seine Inhalte über unterschiedliche Kanäle und in Formaten, die auf die jeweiligen Zielgruppen zugeschnitten sind. Die Spannbreite reicht von innovativen digitalen Medien und Plattformen bis zu klassischen gedruckten Publikationen sowie Aufsätzen in wissenschaftlichen Sammelbänden und Zeitschriften. Leons Identität Das Videospiel "Leons Identität" wurde in einer Kooperation der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei, des Ministeriums des Innern NRW und eines erfahrenen Entwicklerstudios kreiert und bündelt die unterschiedlichen Expertisen und das Know-how der Beteiligten. Die Motivation zur Entwicklung dieses Piloten beruht unter anderem auf den positiven Erfahrungen und dem intensiven Austausch mit den Besucherinnen und Besuchern am Stand des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes auf der Videospielmesse Gamescom. Das Computerspiel "Leons Identität" verbindet die Vermittlung von Medienkompetenz mit Extremismusprävention 376 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Das Spiel soll jungen Menschen helfen, rechtsextremistische Ideologien zu erkennen, ihre eigene politische Urteilsfähigkeit schulen und zugleich die Medienkompetenz der jungen Zielgruppe fördern. Leons Identität klärt über extremistische Mechanismen und deren toxischen Einfluss auf die Gesellschaft auf. Es soll zur Reflexion anregen und stellt ein wichtiges Gegennarrativ zu extremistischer Propaganda dar. Mit dem Videospiel wird die Neue Rechte als gefährliche Strömung des Rechtsextremismus adressiert, die über den Weg einer Entgrenzung Abgrenzungsreflexe gegenüber dem Rechtsextremismus überwinden und neue junge Zielgruppen in der gesellschaftlichen Mitte für ihre Positionen einnehmen will. Leons Identität ist ein detektivisches Abenteuerspiel mit dem Fokus auf der Erforschung einer Spielwelt, die in jedem Detail interaktiv ist. Spielort ist das Zimmer eines vermissten Jugendlichen namens Leon. Der Spieler schlüpft in die Rolle von Jonas, der sich Sorgen um seinen Bruder Leon macht. Jonas versucht, Spuren und Hinweise zum mysteriösen Verschwinden zu finden. Dabei zeichnet er Leons langsames Abdriften in die rechtsextremistische Szene nach. Das Spiel soll unterschiedliche Zielgruppen möglichst passgenau ansprechen und auch Personen einen Zugang ermöglichen, die bislang wenig Nähe zum Bereich der politischen Bildung hatten. Es ist niedrigschwellig und intuitiv angelegt und soll in erster Linie als Spiel wahrgenommen und angenommen werden. Eine eigene Website ergänzt Leons Identität. Sie schlägt eine Brücke in die reale Welt. Dort finden interessierte Spielerinnen und Spieler weitere Informationen zum Spiel und seinen Inhalten sowie Möglichkeiten, valide Quellen zu sichten. Die ergänzenden Informationen eignen sich als Grundlage für eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Thema, beispielsweise im Unterricht oder in Diskussionsformaten. Die begleitende Website verknüpft die fiktiven Inhalte des Spiels mit vertiefenden Informationen und validen Quellen präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 377 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Leons Identität wurde am 21. August 2020 auf einer gemeinsamen Pressekonferenz durch Innenminister Herbert Reul und den Chef der Staatskanzlei Nathanael Liminski vorgestellt. Pressekonferenz zur Vorstellung von Leons Identität in Düsseldorf Seit seiner Veröffentlichung erfährt "Leons Identität" eine breite mediale Beachtung und ausführliche Berichterstattung. Das Spiel stößt sogar international auf Interesse und Verbreitung. Die Resonanz der Spielerinnen und Spieler ist überwiegend positiv. Schon kurz nach der Veröffentlichung gab es erste Videos auf der Plattform YouTube, die das Spiel vorführen und kommentieren, sogenannte Let's Plays. Erklärungen und Kommentare des jüngeren Bruders Jonas im Spiel regen zu Gesprächen über das Gesehene und Erlebte und zur Reflektion an. Zu Leons Identität gibt es zudem bereits zahlreiche positive Rückmeldungen in Form von Beiträgen und eigenen Webseiten im didaktischen und pädagogischen Umfeld regionaler und bundesweit etablierter Bildungseinrichtungen. Diese sind häufig verbunden mit der Empfehlung, dass sich das Spiel hervorragend für den Einsatz in Lernkontexten eigne und "wie für den Unterricht gemacht sei". Eine Umsetzung wird aktuell geprüft. Doch auch innerhalb der rechtsextremistischen Szene hat "Leons Identität" einen Nerv getroffen und sorgt dort für Aufmerksamkeit, ausführliche Kommentare und entsprechende Berichterstattung. 378 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Möglichkeiten zum Download Leons Identität kann > über die eigene Website leon.nrw.de für alle gängigen Betriebssysteme (Windows, MacOS, Linux) > seit September 2020 über die Spieleplattform Steam heruntergeladen werden. Das Spiel hat eine offizielle Altersfreigabe ab 12 Jahren. Videound Social-Media-Kampagne "Jihadi fool" Mit der Kampagne "Jihadi fool" wendet sich der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz an ein breites Publikum mit einem Schwerpunkt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen und lädt zur Auseinandersetzung mit salafistischer Internetpropaganda und Extremismus ein. Mit Humor und Satire soll Aufmerksamkeit erzielt und mit Hintergrundvideos sensibilisiert werden. Die Videos sowie begleitende Inhalte wurden und werden seit August 2019 auf den Plattformen YouTube, Facebook, Instagram und zeitweise Twitter veröffentlicht und beworben. Jihadi fool im Netz Die Videos und weitere Inhalte der Kampagne sind online abrufbar unter > YouTube. youtube.com/c/jihadifool > Facebook: facebook.com/Jihadifool/ > Instagram: instagram.com/jihadifool/ > Twitter: twitter.com/jihadifool Die Kampagne soll zur Diskussion über das Thema Islamismus und zum Teilen auf den jeweiligen Plattformen animieren. Sie soll im Sinne primärer Prävention einen weiten, online aktiven Personenkreis für das Thema sensibilisieren. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 379 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz stellt mit der Kampagne der vielfältigen Online-Propaganda extremistischer Salafisten und Islamisten eigene Narrative im Netz entgegen. Die Videos erklären, woran man Extremismus erkennt, was genau am extremistischen Salafismus beziehungsweise Islamismus problematisch und warum die Demokratie schützenswert ist. Der Verfassungsschutz begleitet das Projekt dabei unter anderem mit islamwissenschaftlicher und pädagogischer Expertise. Die erste Phase der Kampagne erstreckte sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten. In dieser Zeit wurden 35 Der verantwortliche Art Director Sketchund 17 Der dazugehörige Zeilenabstand ist ideal. Wissensfolgen in gleichDie "Hintergründlich"-Videos klären anschaulich über die verschiedenen Formen des Extremismus auf 380 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 mäßigen Abständen auf den Plattformen veröffentlicht. Das Videoformat "Jihadi fool" zeigt dabei mit dem Stilmittel der Satire die Absurdität von Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus auf. Unter der Bezeichnung "hinter.gründlich" bezieht sich das ergänzende Wissensformat inhaltlich auf den Comedy-Kanal. Es informiert, erklärt und begegnet der Internetpropaganda von Extremisten mit Fakten. Nach Bewertung der ersten Phase wurde die Kampagne bis zum Ablauf des Jahres 2020 verlängert. Damit wurden von den beauftragten Filmprofis weitere 16 Comedyund 8 Hintergrundfolgen produziert und das begleitende Social-Community Management über den erweiterten Zeitraum fortgesetzt. Bis Ende Dezember 2020 konnten mehr als 4,2 Millionen Nutzerkontakte mit den Inhalten der Kampagne auf allen bespielten Plattformen verzeichnet werden. Vom Start der Kanäle bis zum Ende des Berichtsjahrs gab es rund 4,65 Millionen Videoaufrufe. Produktionsset für das Comedy-Format 19.000 Abonnenten und über 87.000 Interaktionen wie Kommentare und Likes sowie das Teilen von Inhalten zeugen von einer regen inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Angebot. Einzelne Videos wurden von Drittanbietern auf ihren eigenen Plattformen und Kanälen veröffentlicht und erreichten dort zusätzlich mindestens rund zwei Millionen Aufrufe. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 381 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Schon vor einer abschließenden Ausund Bewertung der Kampagne zeichnet sich ab, dass die Altersgruppe der 18bis 34-Jährigen mit rund 90 Prozent den größten Zuschaueranteil hatte und damit die vorrangige Zielgruppe sehr gut erreicht worden ist. Bei den YouTube-Bewertungen (Mag ich/Mag ich nicht) lagen die positiven Rückmeldungen unbeachtlich der zum Teil satirisch provokanten Inhalte der Sketche bei rund 95 Prozent. Die Zustimmungsrate zum Wissensformat lag nur knapp darunter. Die Kommentare zu den Videos bei YouTube (Sentiment) waren mit deutlich über 90 Prozent durchgängig positiv bis neutral. Besonders hervorzuheben ist, dass die Besucherinnen und Besucher in den Kommentarspalten des Kanals weiterhin untereinander über die angesprochenen Themen diskutierten. Die Videos der Kampagne werden über das offizielle Projektende hinaus online abrufbar bleiben. Der Verfassungsschutz prüft, wie sich insbesondere die Hintergrundformate in Zukunft für die pädagogische Arbeit beispielsweise an Schulen optimal nutzen lassen. Zudem wird an Konzepten gearbeitet, sie in einen erweiterten Präventionskontext einzubinden. Aufsätze in Fachpublikationen Ein Aufsatz aus dem Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen knüpft an der Fachdebatte an, ob und unter welchen Voraussetzungen Gespräche mit Aussteigern aus extremistischen Gruppierungen Impulse für die Prävention setzen können. Der Beitrag geht von der Praxis und den Qualitätsstandards des Prisma-Projekts aus, das seit dem Jahr 2000 besteht und seit 2017 teilweise im Verfassungsschutz NRW angesiedelt ist. In diesem Kontext haben mehrere hundert Aussteigergespräche mit Jugendlichen und Multiplikatorinnen und Multiplikatoren stattgefunden. Am Beispiel des Rechtsextremismus nimmt der Aufsatz neun exemplarische Aspekte des Radikalisierungsprozesses in den Blick und zeigt, dass die Erinnerungen von Aussteigerinnen und Aussteigern, wie sie in Prisma-Veranstaltungen zur Sprache kommen, typische Muster dieses Prozesses offenlegen und keiner Klischeebildung Vorschub leisten. Der Aufsatz erscheint 2021 in dem von Armin Pfahl-Traughber (Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung) herausgegebenen "Jahrbuch für Extremismusund Terrorismusforschung". Im Juli 2020 erschien zudem das "Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich. Phänomenübergreifend", das von Brahim Ben Slama und Uwe Kemmesies (Bundeskriminalamt) herausgegeben wird. Der Verfassungsschutz NRW hat sich an einem Aufsatz beteiligt, der der Evaluation von Praxisansätzen der Extremismusprävention nachgeht. Der Beitrag ist unter Federführung von Kurt Möller (Hoch382 präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 schule Esslingen) und in Zusammenarbeit mit Jan Buschbom (Violence Prevention Network) entstanden. Wegweiser - pädagogischer Ansatz kompakt erklärt Die Broschüre "Wegweiser - Ressourcen aktivieren, Expertisen bündeln" bietet einen Überblick über die Arbeit der Wegweiser-Beratungsstellen und beleuchtet diese insbesondere aus einem pädagogischen Blickwinkel. Auch wenn Radikalisierungsprozesse sehr individuell sind und Beratungskonstellationen in diesem Kontext sehr unterschiedlich verlaufen, werden bestimmte wiederkehrende Ansätze der Wegweiser-Arbeit beschrieben und erklärt. Die Hinwendungsprozesse aus dem Blickwinkel der Beratungspraxis darzustellen, stellt einen Mehrwert der Broschüre dar. präVentIonsarbeIt und aussteIgerprogramme 383 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 384 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Über den Verfassungsschutz über den Verfassungsschutz 385 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Über den Verfassungsschutz Verfassungsschutz ist nach dem Grundgesetz eine Aufgabe der Länder und des Bundes. Verfassungsschutzbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen ist das Ministerium des Innern. Die für den Verfassungsschutz zuständige Abteilung im Ministerium nimmt ihre Aufgaben gesondert von der Polizeiorganisation wahr. Die Verfassungsschutzbehörden der einzelnen Bundesländer sind gesetzlich dazu verpflichtet, untereinander und mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu kooperieren, wobei das Bundesamt die Aufgaben einer Zentralstelle auf Bundesebene übernimmt. Der Verfassungsschutz verfügte im Jahr 2020 über rund 18,9 Millionen Euro, das sind rund 900.000 Euro mehr als im Vorjahr. Davon waren rund 10,1 Millionen Euro für die Prävention vorgesehen, etwa 300.000 Euro mehr als im Jahr davor. Zudem waren dem NRW-Verfassungsschutz für das Berichtsjahr 514 Stellen zugewiesen. Aufgaben Der Verfassungsschutz hat die Aufgabe, bereits im Vorfeld von konkreten Gefährdungslagen Informationen zu verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu beschaffen, zu sammeln und auszuwerten. Dazu gehören insbesondere Aktivitäten, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder darauf abzielen, die Amtsführung von Verfassungsorganen des Bundes oder eines Landes ungesetzlich zu beeinflussen. Des Weiteren betrifft dies Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind oder sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht. Dabei verfolgt der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz mit den zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln eine Dreifachstrategie aus Früherkennung, Frühwarnung und Prävention. Als Frühwarnsystem hat der Verfassungsschutz die Aufgabe, mögliche verfassungsfeindliche Bestrebungen zu identifizieren, deren Ursachen zu analysieren, Entwicklungen zu prognostizieren und Politik, Verwaltung und Gesellschaft darüber zu informieren. Er wirkt ferner daran mit, drohenden politischen und wirtschaftlichen 386 über den Verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Schaden durch illegitime oder illegale Aktivitäten fremder Mächte in Deutschland zu verhindern. Als Früherkennungssystem unterstützt der Verfassungsschutz andere Behörden bei der rechtzeitigen Erkennung von Gefahren, die im Einzelfall aus derartigen Bestrebungen erwachsen; dazu gehört es auch, extremistische Personen zu erkennen, die potenziell Gewalt anwenden könnten. Im Rahmen der Prävention schafft der Verfassungsschutz einerseits durch Aufklärung der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Gefahren des Extremismus, um die Demokratie von innen heraus zu stärken (primäre Prävention). Andererseits bietet er durch gezielte Angebote Schutz vor dem Einstieg in extremistische Szenen (sekundäre Prävention) und unterstützt den Ausstieg aus ihnen (tertiäre Prävention). Diese personenbezogenen Präventionsmaßnahmen werden vor allem durch das Wegweiser-Programm und die Aussteigerprogramme realisiert. Schließlich sensibilisiert der Verfassungsschutz auch die Wirtschaft vor den Gefahren durch Spionage und Sabotage, um so deren Eigenschutzmechanismen zu aktivieren. Die aktuellen Schwerpunkte der nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbehörde liegen weiterhin in der Aufklärung und Bekämpfung des Rechtsextremismus und des gewaltorientierten extremistischen Salafismus. Mit den Ereignissen in und um den Hambacher Forst rücken zudem autonome und gewaltorientierte Linksextremisten stärker in den Fokus. Von zunehmender Bedeutung für die nachrichtendienstliche Bearbeitung sind zudem sicherheitsgefährdende Aktivitäten türkischer Organisationen und Cyberangriffe ausländischer Nachrichtendienste. Kontrolle des Verfassungsschutzes Die Aufgaben und Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde sind im Verfassungsschutzgesetz NRW (VSG NRW) definiert. Zugleich ist dort geregelt, durch wen und wie ihr Handeln kontrolliert wird, denn eine rechtliche und politische Kontrolle der Verwaltung sind konstitutive Merkmale des Rechtsstaates. Dies gilt auch für den Verfassungsschutz. Da die Angelegenheiten des Verfassungsschutzes aufgrund ihrer besonderen Geheimhaltungsbedürftigkeit in der Regel nicht öffentlich im Parlament oder seinen Ausschüssen beraten werden können, gibt es für die Kontrolle besondere Stellen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG). Der Landtag Nordrhein-Westfalen bestimmt zu Beginn jeder Wahlperiode die Anzahl der Mitglieder des PKG und wählt diese aus seiner Mitte. Das PKG überwacht umfassend die Tätigkeit über den Verfassungsschutz 387 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 des Verfassungsschutzes. Für die Kontrolle der Telekommunikationsüberwachungsund Finanzermittlungsmaßnahmen des Verfassungsschutzes bestellt das PKG in jeder Legislaturperiode die sogenannte G 10-Kommission. Diese ist, anstelle eines Richters, auch für die Genehmigung dieser Maßnahmen zuständig. Verarbeitung personenbezogener Daten Zur Erfüllung der übertragenen Aufgaben dürfen Verfassungsschutzbehörden unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen personenbezogene Daten erheben und verarbeiten. Die Verfassungsschutzbehörde Nordrhein-Westfalens nutzt dazu eigene Dateien sowie das "Nachrichtendienstliche Informationssystem und Wissensnetz" (NADIS WN), auf das die Verfassungsschutzbehörden der Länder und des Bundes gemeinsam Zugriff haben. Erfasst werden insbesondere Daten zu Personen, über die Erkenntnisse im Zusammenhang mit politischem Extremismus vorliegen. Getrennt davon werden Daten gespeichert zu Personen, die wegen ihres Umgangs mit Verschlusssachen oder ihrer Tätigkeit in einem sicherheitsempfindlichen Bereich einer Sicherheitsüberprüfung unterliegen. Die Durchführung solcher Überprüfungen erfolgt mit Zustimmung der Betroffenen und macht rund 90 Prozent aller NADIS-Einträge aus Nordrhein-Westfalen aus. Öffentlichkeitsarbeit Eine informierte, aufgeklärte Öffentlichkeit ist eine Grundvoraussetzung, um die Gesellschaft vor extremistischen Bestrebungen zu schützen. Daher versteht der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen den Leitspruch "Verfassungsschutz durch Aufklärung" als einen wesentlichen Arbeitsauftrag. Damit Bevölkerung, Politik und Medien Anzeichen für Extremismus frühzeitig erkennen können, leistet der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz intensive Aufklärungsarbeit und bietet eine breite Palette verschiedener Informationsmittel an. Dazu gehören Vorträge und Tagungen, Broschüren und ein Informationsangebot im Internet. Einen umfassenden Aufklärungsbeitrag, der alle verfassungsschutzrelevanten Themen umfasst, liefert der jährliche Verfassungsschutzbericht. Die Mitglieder des nordrhein-westfälischen Landtags sind die ersten Adressaten des jährlichen Berichts. Die Jahresberichte dienen Behörden und anderen öffentlichen Stellen als Nachschlagewerke zum Extremismus in NRW. Sie werden zudem von der Öffentlichkeit stark nachgefragt. 388 über den Verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Informationen zu aktuellen Schwerpunktthemen finden sich in Berichten und Broschüren, die über die Internetseite des Ministeriums des Innern unter www.im.nrw/verfassungsschutz abrufbar und kostenfrei bestellbar sind. über den Verfassungsschutz 389 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Index Ansaar International 232 ff. Kennzeichnung Ansarul Aseer 236 Antisemitismus 369, 371 Strukturen und Organisationen, deren API 346, 347, 348, 360, 365 Verfassungsfeindlichkeit bereits erApplied Scholastics 301 wiesen ist, werden im Folgenden im APT 311 Fettdruck gekennzeichnet. Soweit die Arbeiterpartei Kurdistans Verfassungsfeindlichkeit zwar noch (PKK) 192, 204 ff. nicht erwiesen ist, aber hinreichend Arcadi-Magazin 102 f., 134, 137 gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte Arcadi-Online 137 einen Verdacht auf verfassungsfeindArcadi-Verlag 102, 137 liche Bestrebungen begründen, werAssociation for Better Living and den die betroffenen Organisationen in Education 301 Kursivdruck gesetzt. ATIB 191 ff. Aufbruch Deutschland 2020 74, 76 Beispiel: Partei X, Partei Y Aufbruch Leverkusen e. V. 74 ff. Aussteigergespräche 382 Aussteigerprogramme 348, 357, 360, 372 Ausstiegsbegleitung 357 A Auszubildende 371 Autonome Aktive Aktivisten Advanced Persistent Threat 311 Düsseldorf 108 AG Deradikalisierung 348, 366 Autonome Linksextremisten 176 ff. Aktionsgruppe Dortmund-West 107 Al Asraa 236 B Al Mahdi Kulturverein Bad Oeynhausen e.V. 242 Balladenabende 116 Al-Qaida 216 ff. Berg-Karabach-Konflikt 196, 198 al-Quds-Brigaden (Sarayat al-Quds) 278 Besetzerszene im Hambacher Forst 147 Al-Quds-Tag 245 Besorgte Bürger Herne 127, 132 alternativ, unabhängig, fortschrittlich Bewegung des Isamischen Jihad (AUF) 147, 170 ff. in Palästina 278 Antikapitalistische Linke (AKL) 158 ff. BICC 345 Ansaar Düsseldorf e. V. 232 BlickpunktTV 66 390 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Blood and Honour (B&H) 112 Deutsche Kommunistische Blue Springs LTD 233 f. Partei (DKP) 166 ff. Borbecker Jungs 130 Deutsche Muslimische Gemeinschaft Bruderschaft Deutschland 126 ff. (DMG) 258 ff. Bülten 195 Deutsche Stimme 66 Büro 610 321 DHKP-C 367 Dianetik 300 C Die Rechte 61, 68 f., 88 ff., 286 Die Sippe NRW und Hooligans Celebrity Centre Rheinland Europe United 126 ff. Scientology Kirche e. V. 298 Diplomaten 319 Chris Ares 113 Diskriminierung 372 Church of Scientology 298 Division Germania 113 Combat 18 (C18) 12, 60, 112, 117 Division Ostwestfalen 109 CoRE-NRW 344 Dortmundecho 88, 97 Corona-Pandemie 48, 196 "Dual-use"-Güter 327 Corona-Rebellen Düsseldorf 123, 129 Council of European Muslims E (CEM) 258, 263 Criminon 300 Ehrenamtliche Geistliche 304 Cyberabwehr 310 Ein Prozent e.V. 102, 137, 289 Cyberangriffe 308, 310 Ende Gelände 155, 162, 163 Entgrenzung 338, 342 D Erbakan Vakfi (Erbakan Stiftung - EV) 264 f. David Miscavige 298 Ereignisverschwörung 50 Defend Ruhrpott 101 Erlebniswelt Rechtsextremismus 113, 370 Defensive West 126 Ethnopluralismus 98, 99 Delegitimierung des Staates 54 Evaluation 355 Demokratisches Gesellschafszentrum der Ewiger Bund 122 KurdInnen in Deutschland (Navenda Civaka External Security Organization 244 Demokratik a Kurd le Almanya - Extremismusbeauftragte 371 NAV-DEM e.V.) 204 ff. Extremismusforschung 345 Deradikalisierung 349, 360 Extremismusprävention 356, 360 Der Flügel 61, 78 ff. Extremistischer Der III. Weg 82 ff., 177 Salafismus 228 ff., 287, 289 Der Weg zum Glücklichsein 300 Deutsche Depeschen Bild und Tonagentur/ddb 122 Index 391 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 F G Fake News 49 Gefährder 365 FAU-Ortsgruppe Bonn 181 Geheimschutzbetreute Wirtschaft 332 Föderalistischen Islamischen Staat Gemeinsames Terrorabwehrzentrum 366 Anatolien (AFID) 255 f. Gemeinschaft der Gesellschaften Föderation der freiheitlichen Gesellschaft Kurdistans (KCK) 204 Mesopotamiens in NRW (Federasyona Gemeinschaft FreiVest 97 Civaken Azad yen Mezopotamy li NRW - Gemeinschaft libanesischer FED-MED e.V.) 205, 209 Emigranten in Dortmund (Ahl Föderation der Türkisch-Demokratischen al-Bait-Zentrum) 242 Idealistenvereine in Europa e. V. (Almanya Gemeinschaft Libanesischer Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri FederaEmigranten e.V. in Bottrop (Imam syonu - ADÜTDF) 190 ff. Rida-Zentrum) 242 Föderation islamischer OrganisaGeneration Islam 250 ff., 340 tionen in Europa (FIOE) 258, 263 Geschlechtergerechte PräventionsForschung 345 angebote 344 Foundation for a drug-free world 300 Gesonderte Veranstaltungen 352 Frauenrechte ANS. Justice 232 GOLDENSPY 314 Freie Arbeiterinnenund ArbeiterGoyim Partei Deutschland 293 Union (FAU) 181 Graue Wölfe 190 ff. Freies Netz Süd 82 GRU 320 Freier Widerstand Oberhausen 290 Gruppe Chemnitz 142 Freiheitliche demokratische Gruppe Freital 141 f. Grundordnung 48 Gruppe S. 60, 131, 141 ff., 291 Freundeskreis Rhein-Sieg 107 Grup Yorum 201, 202, 203 Freundeskreis UN e. V. 136 GTAZ 366 FSB 320 Furkan-Gemeinschaft 272 ff. H Furkan Kulturund Bildungszentrums e.V. in Dortmund 272 Hai'at Tahrir al-Sham (HTS) 220 Furkan Nesli Dergisi 272 Hakenkreuz 339 Furkan Stiftung für Bildung und Dienst Halle, Anschlag 57, 61, 139, 291 (Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi) 272 HAMAS 233, 238 ff. FurkanTV 272 Hammerskins 110 ff. Furkan Vakfi (Furkan-Stiftung) 272 Hanau, Anschlag 57, 60, 138, 151, 217, 250 Heimat Defender: Rebellion 102, 289 Hizb Allah (Partei Gottes) 13, 217, 222 ff.,240 242 ff. 392 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Hizb ut Tahrir (Islamische K Befreiungspartei - HuT) 248 ff. Hungerstreik 201 ff. Kalifatstaat (Hilafet Devleti) 254 ff. Huttroper Jungs 130 Kameradschaft Aachener Land (KAL) 94 I Kameradschaft Hamm (KS Hamm) 94 Kameradschaften 88, 104 Ideale Orgs 299 Kampf der Nibelungen (KdN) 114 ff. Identitäre Aktion Deutschland (IA) 107 Kaukasisches Emirat 236 Identitäre Bewegung 98 ff , 137, 285, 289 Kommission für Verstöße der Ideologische Aufarbeitung 349 Psychiatrie gegen Menschenrechte IL Köln 179 (KVPM) 300 IL Münster 179 Kommunen gegen Extremismus 345 Imam-Mahdi-Zentrum 242 Kommunistische Plattform (KPF) 158 ff. INS 236 Konflikt zwischen Aserbaidschan und Integriertes Handlungskonzept 342 Armenien 196 Interdisziplinärer Austausch 344 Kongress der kurdisch-demokraInterministerielle Arbeitsgruppe 343 tischen Gesellschaft Kurdistans in Internationale Zusammenarbeit 346 Europa (KCDK-E) 204 Intervention 360 Königreich Deutschland (KRD) 121 Interventionistische Linke KON-MED 204 ff., 209, 211 (IL) 163, 179 ff. Kritische Infrastruktur 328 Islamische Gemeinschaft der schiitischen Kurdische Frauenbewegung in Gemeinden Deutschlands (IGS) 226 Europa (AKKH / TJKE) 206 Islamischen Kulturverein e.V. Kurdistan-Report 206 in Bochum 258, 262 Islamischer Staat (IS) 17, 216 ff., 346 L Islamische Republik Iran 323 Islamismus 53, 340, 350 Landesnetzwerk gegen Ismail Aga Cemaati (IAC) 264 f. Rechtsextremismus 342 left 348, 360, 366 f. J Legalresidenturen 319 Lehrerinnen 373 Jihadismus 287 Lies! 231, 233 Jihadisten 295 linksautonome Szene 177 Jugend für Menschenrechte 300 linksjugend ['solid] 158 ff. Junge Patrioten Essen 108 f. L. Ron Hubbard 298 Justizvollzug 347, 361 Justizvollzugsanstalten 371, 373 Index 393 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 M NS Rheinland 290 NSU 2.0 61 Makss Damage 84 Marxistisch-Leninistische Partei O Deutschlands (MLPD) 170 ff. Medienkompetenz 354 Oidoxie 113 Menschenfeindlichkeit 57 Online-Beratung 354 MID 321 Militäroffensiven 208, 210, 212 P Milli Görüs-Bewegung 254, 264 ff. Milliyetci Hareket Partisi 194 Palästinensische Gemeinschaft in MIT 325 Deutschland e.V. (PGD) 238 MOIS 323 Palästinensischer Islamischer Jihad Mönchengladbach steht auf 126 ff. (Harakat al-Jihad al-Islami MPS 321 fi-I-Filastin - PIJ) 240, 270, 278 ff. MSS 321 Partei der Nationalistischen Muslimbruderschaft (MB) 258 ff. Bewegung 194 PEGIDA 49, 57 N PEGIDA NRW 126 Perspektive Kommunismus 183 Nachrichtendienste 318 PKK 182, 192, 199, 325, 367 Narconon 300 Popular Front for the Liberation of Nationaler Rap 113, 116 Palestine (PFLP) 280 Nationaler Widerstand Populismus 55 Dortmund (NWDO) 94 Prävention 338, 350 Nationales Bündnis Ruhrgebiet 69 PREVENT-Programm 346 National Socialist Black Metal 113 Primus 102 Nationalsozialismus 372 Prisma 368, 369, 374, 382 Neonazis 66, 68, 104 ff. Proliferation 308, 326 Neue freie Politik 206 Pro NRW 74 ff., 131 Neue Rechte 98 ff., 134, 137 Prototyp 102, 113, 137 Neuer Deutscher Standard Publicatio e. V. 137 (NDS) 102, 113 Neue Rechte 78 Q Newaya Jin 206 NPD 66 ff. QAnon 55 f. NRW stellt sich quer 76, 126 ff. Qasem Soleimani 245 NSDAP 67, 83 Quds-Einheit 245 N. S. Heute 134 f. Quds Force 324 394 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Querdenker-Bewegung 56, 56, 71, 129 Sag NEIN zu Drogen, sag JA zum Leben 300 Salafismus 350 R Salafistische Milieus 345 Schwesternschaft Deutschland 131 Radicalisation Awareness Network 346 Scientology Kirche Berlin Radikalisierung 360 e. V. (SKB) 302 Radikalisierungspfade 345 Scientology Kirche Deutschland RAN 346 e. V. (SKD) 302 Rassismus 371 Scientology Kirche Düsseldorf e. V. 298 Realität Islam 250 ff., 340 Scientology Network 304 Rebell 170 Scientology Organisation (SO) 298 ff. Rechtsextremismus 53, 345, 382 Sekundärprävention 357 Rechtsextremistische Medien 371 Sezession 79 f. Rechtsextremistische Sicherheitspartnerschaft 309 Mischszene 61, 74, 126 ff. Sicherheitsüberprüfungsgesetz 332 Rechtsextremistische KampfSkinhead-Szene 111 sportevents 104 Sleipnir 113 Rechtsextremistische Skinheads 110 Smart Violence 113 Rechtsrock 104, 113 Social Engineering 312 Rechtsterrorismus 138 ff. Solingen aktiv 173 Reconquista 134, 136 Somalisches Komitee 232 Referans 195 Sozialistische Alternative (SAV) 164 Reichsbürger 52, 55 ff. 141 Sozialistische deutsche Reichsbürger und Selbstverwalter 118 ff. Arbeiterjugend (SDAJ) 166 ff. relevante Person 365 Sozialistische Linke (SL) 158 ff. Revolutionäre Aktionszellen (RAZ) 181 Sozialistische Organisation Revolutionäre VolksbefreiungsSolidarität (SOL) 164 partei/-Front (Devrimci Halk Kurtulus Spendenkampagne 207 Partisi-Cephesi - DHKP-C) 200 ff. Spionage 308, 318 Rote Fahne Magazin 170 Spionageabwehr 318 Rote Hilfe 163 Spurwechsel 348, 358, 360, 364 Rotfüchse 170 staatenlos.info e. V. 122 Rückkehrkoordinierender 346 Staatsschutz 371 Russische Föderation 319 Staatsterrorismus 308 "Stay Well"-Kampagne 304 S Sterk TV 212 Steeler Jungs 64, 109, 126 ff. Saadet Partisi (SP) 264 ff. Strafvollzug 361 Index 395 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Sturmbrigade 44 60, 105 V Sturmwehr 113 Subkulturell geprägter Vaterländischer Hilfsdienst 122 Rechtsextremismus 110 ff. Verband der islamischen Vereine und Sultan-Fatih-Jugend Bielefeld Gemeinden e.V. (Islami cemiyet ve ce(Sultan Fatih Genclik Bielefeld maatleri birlii / ICCB) 254 ff. - BSFG) 264 Verbindungsbeamter SWR 320 Justizvollzug 347, 372 Symbole 338 Verbot der Grauen Wölfe 198 Systemverschwörung 50 Verbotsdiskussion um die Grauen Wölfe 197 T Vereinte deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) 120 Tauhid Germany 236 Vereinte Völker und Stämme 60 Tertiärprävention 360 Verfassungsgebende Versammlung Tevgera Ciwanen SoreSger - TCS, 206 (VV) 121 f. The Way To Happiness 300 Verschwörungsmythen 48, 371 Todesfasten 202, 203 VIR-Projekt 356, 358 Tremonia Kollektiv 107 Völkischer Nationalismus 138 Turanisten-Bewegung 194 Volksgemeinschaft Türkei 325 Niederrhein (VGN) 108 Türkische Hizbullah (TH) 268 ff. Volkskongress Kurdistans Twinning 346 (KONGRA-GEL) 204 ff. Volksmobilisierung 245 U Volksrepublik China 321 UAG Fallarbeit 349 W Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe) 188 ff., 194 ff., 326 Wegweiser 347, 349, 350, 357, 369, 383 ...ums Ganze! Kommunistisches Wegweiser Online 354 Bündnis (uG) 178, 183 Welayat-e Faqih 244 Unabhängige Nachrichten (UN) 134, 136 Wirtschaftsschutz 309, 328 Union der Türkisch-Islamischen KulturWirtschaftsspionage 328 vereine in Europa e. V. (Avrupa Türk Islam Wissenschaft 344, 374 Kültür Dernekleri Birligi - ATIB) 191, 194 ff. Wolfsbrigade 44 60, 105 unsere Zeit 166 f. Wolfsgruß 198 World Institute of Scientology Enterprises (WISE) 301 WWR-Help e. V. 232 396 Index Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Y Youth for Human Rights 300 Z Zero Day Exploits 312 Zivilgesellschaft 345 Index 397 Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 Hinweis Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlbewerberinnen und Wahlbewerbern oder Wahlhelferinnen und Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für die Landtags-, Bundestagsund Kommunalwahlen sowie für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. 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