Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport - Verfassungsschutz - Verfassungsschutzbericht 2022 Impressum Herausgeber: Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport Presseund Öffentlichkeitsarbeit Lavesallee 6 30169 Hannover Telefon: 0511 120-6258 Telefax: 0511 120-6555 E-Mail: pressestelle@mi.niedersachsen.de Internet: www.mi.niedersachsen.de Redaktion: Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Büttnerstraße 28 30165 Hannover Telefon: 0511 6709-217 E-Mail: oeffentlichkeitsarbeit@mi.niedersachsen.de Internet: www.verfassungsschutz.niedersachsen.de Redaktionsschluss: Januar 2023 Layout und Gestaltung: Bonifatius GmbH Druck [?] Buch [?] Verlag, Paderborn Druckerei: Druckerei Flock, Köln-Marsdorf Verfassungsschutzbericht 2022 Liebe Bürgerinnen und Bürger, schauen wir auf das vergangene Jahr zurück, so überschattet der völkerrechtswidrige Angriffskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Ukraine alles andere. Einen Krieg auf unserem Kontinent, mehr noch einen brutalen Angriffskrieg auf eine unabhängige Nation in Europa hatten die meisten von uns nicht mehr für möglich rechnen müssen und die möglicherweise gehalten. Wir alle wurden von Russland und weiter zunehmen wird, je länger der Krieg Wladimir Putin eines Besseren belehrt. Die in der Ukraine andauert. Bilder, die uns bis heute aus der Ukraine erreichen, die vielen Toten und das große Auch deutsche Unternehmen und EinrichLeid der Menschen, sind furchtbar und nur tungen der Kritischen Infrastruktur (KRIschwer zu ertragen. Vor allem die ZivilbevölTIS), wie zum Beispiel Energieversorger und kerung leidet unter diesem brutalen Krieg, Krankenhäuser, sind potenzielle Ziele von der jetzt schon mehr als ein Jahr andauert. Cyberangriffen. Der Schutz der KRITIS muss Rund acht Millionen Frauen, Männer und daher höchste Priorität haben. Ausfälle dieKinder wurden aus der Ukraine vertrieben ser Einrichtungen haben unmittelbare und und fanden Schutz in ganz Europa - auch in gravierende Auswirkungen auf uns, unser Niedersachsen. alltägliches Leben und unsere Wirtschaft. Der Verfassungsschutz ist hier schon seit Weltweit hat Putins Angriffskrieg für graJahren präventiv aktiv und sensibilisiert vierende Veränderungen gesorgt. Insbeprivate Unternehmen und Behörden der sondere außenund sicherheitspolitisch Landesund Kommunalverwaltung für beswirkt sich diese Zäsur bis heute auf unser sere Schutzmaßnahmen vor Spionageund aller Leben aus. Europa ist im Angesicht Sabotageangriffen. Dazu dient auch ein dieses völkerrechtswidrigen Krieges insbeenger Austausch der zuständigen Stellen sondere in Sicherheitsfragen noch enger mit den entsprechenden Einrichtungen des zusammengerückt. Bundes und der Länder. Auch die innere Sicherheit Deutschlands und Feststellbar ist, dass die Aktivitäten bekanndie der Bundesländer ist hiervon betroffen. ter russischer Propagandaund DesinDer Verfassungsschutz stellte im verganformationsakteure in den vergangenen genen Jahr verstärkte Aktivitäten auf dem Monaten noch einmal intensiviert wurden Feld der Spionage und bei Cyberangriffen bzw. Desinformationskampagnen genefest. Eine Gefahr, mit der wir auch weiterhin rell zugenommen haben. Dafür nutzten 2 staatliche russische Stellen ganz besonders In diesen sicherheitspolitisch schwierigen die Sozialen Medien. Ziel dieser DesinforZeiten ist unser Verfassungsschutz von mationskampagnen ist es, die Bevölkerung enormer Bedeutung. Die Menschen in Niein Deutschland und in anderen Ländern, dersachsen können sich sicher sein, dass wir zu verunsichern und unseren demokratidas gesamte Spektrum der extremistischen schen Rechtsstaat durch eine Beeinflussung Entwicklungen im Blick haben. des öffentlichen Diskurses systematisch zu destabilisieren. Dabei stellen wir fest, dass der Rechtsextremismus in Deutschland weiterhin die größte In einigen Teilen unserer Bevölkerung Bedrohung für unsere Gesellschaft ist. Auch verfangen die Narrative der russischen wenn bundesweit die Bedeutung der rechtsPropaganda. Gerade zu Beginn des extremistischen Parteien abnimmt, bleibt Angriffskrieges gegen die Ukraine kam es die Wirkmacht rassistischer, antisemitischer zu vermehrten prorussischen Demonstraund fremdenfeindlicher Positionen davon tionen. Im weiteren Verlauf des Krieges unberührt. Sie kommt in anderen, zum Teil schwächte sich dieses zwar ab, aber unterfluiden und temporären Organisationsund schiedliche extremistische politische PosiAktionsformen zum Ausdruck und wird tionen wurden miteinander vermischt. Wir damit ein Stück weit unberechenbarer. können beobachten, wie RechtsextremisVertreterinnen und Vertreter der Neuen ten, Reichsbürgerinnen und Reichsbürger Rechten wie z. B. die Organisation "Identisowie Delegitimiererinnen und Delegitimietäre Bewegung" bilden eine ideologische rer des Staates versuchten und weiterhin Allianz, die besonders durch das Internet versuchen, unterschiedlichste Versammluneine hohe Durchschlagskraft hat. Gerade gen für sich und ihre Zwecke zu nutzen. in der Vermischung der rechtsextremen Dabei geht es vor allem darum, VerschwöSzenen mit Reichsbürgerinnen und Reichsrungstheorien zu verbreiten. Zusammen mit bürgern sowie Delegitimiererinnen und Querdenkenden sowie Corona-Leugnenden Delegitimierern zeigt sich ein besonderes kam es im Zusammenhang mit der LandGefährdungspotenzial. tagswahl zu gezielten Beleidigungen und einer Ablehnung politischer RepräsentanDie bundesweiten Festnahmen und Durchtinnen und Repräsentanten. Demokratische suchungsmaßnahmen gegen mehr als 50 Prozesse sind grundlegend infrage gestellt Mitglieder einer mutmaßlichen terroristiworden. Die Störaktionen wurden zudem schen Vereinigung aus der Reichsbürgerszevon extremistischen Akteuren als Bühne ne legen offen, welches Gewaltpotenzial verwendet, um neben Unmutsbekundunund welcher Handlungswille bei diesen radigen auch extremistische Inhalte zu verbreikalisierten Personen vorhanden ist. ten und den deutschen Rechtsstaat offen zu verunglimpfen. 3 Umso wichtiger ist es, diese PersonengrupDie veränderte Weltlage spiegelt sich pe konsequent strafrechtlich zu verfolgen ebenfalls in vermehrten Aktionen der und zu entwaffnen. Das Waffenrecht setzt linksextremistischen Szene wider. Gerade hier noch zu hohe Hürden, und ich begrüße Rüstungsunternehmen sind seitdem verausdrücklich die Bestrebungen, die entsprestärkt in ihren Fokus geraten. Zudem ist chenden Verfahren im Rahmen der angeder Klimaschutz von hoher Bedeutung für kündigten Verschärfung des Waffenrechts das linksextremistische Spektrum. Linksexzu vereinfachen. tremisten, vornehmlich Postautonome wie die "Interventionistische Linke" (IL) versuDie bislang vorliegenden Erkenntnisse zu chen, Einfluss auf die Klimaschutzbewedem Fall bestätigen die Analyse des Niegung zu nehmen, um diese für ihre eigenen dersächsischen Verfassungsschutzes, dass Interessen zu instrumentalisieren und zu wir es mit der Herausbildung einer neuradikalisieren. en gewaltorientierten Mischszene zu tun haben. Reichsbürgerideologien, rechtsextreZudem versuchen Linksextremisten die mistische Narrative und Verschwörungstheangespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt orien aus dem Bereich der Delegitimierung und die Wohnraumumgestaltungen für sich des Staates sind von den Beschuldigten zu nutzen. Es muss daher künftig weiter mit klar geäußert worden. Sie zeigen, dass die linksextremistischen Übergriffen auf ImmoGrenzen zwischen den Phänomenbereichen bilienunternehmen und ihre Mitarbeitenden zunehmend verschwimmen. gerechnet werden. Diese Mischszene nutzt insbesondere VerAuch beobachten wir weiter mit Sorge, dass schwörungstheorien als Scharnierfunktion. sich junge Menschen noch immer durch An dem vorliegenden Fall zeigt sich sehr jihadistische Terroristinnen und Terroristen deutlich, dass von dieser Mischszene eine radikalisieren lassen. Durch eine internatioreale Gefahr ausgeht. nale Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden gelang es in den vergangenen Jahren, Der Verfassungsschutz wird diesem Persoviele Anschlagsplanungen rechtzeitig aufnenpotenzial daher in Zukunft besonders zudecken und dadurch Schlimmeres zu viel Aufmerksamkeit widmen und die Szene verhindern. Gerade aufgrund der aktuell weiterhin intensiv im Blick behalten. Gerade wieder ansteigenden Gefahr müssen wir auch, weil deren Narrativ in Teilen der Bevölbeim islamistischen Terrorismus weiterhin kerung, die bislang nicht diesen Phänomensehr wachsam bleiben. Wir werden bei der bereichen zuzurechnen waren, Wirkung Bekämpfung, aber auch in unseren Aufkläzeigt und Zustimmung findet. rungsaktivitäten nicht nachlassen. 4 Insbesondere die salafistische Szene geneBeset zungsak tionen oder spontanen riert auf verschiedenen Online-Plattformen Gewaltausbrüchen. Gerade bei der "Arbeisehr aktiv durch professionell gestalteterpartei Kurdistans" sind Rekrutierungen te, auf den ersten Blick oftmals nicht als für die Guerilla oder den Funktionärsappaex tremistisch erkennbare Inhalte eine große rat, Geldbeschaffung und Propaganda an Reichweite - und rückt damit insbesondere der Tagesordnung. in den Fokus von jungen insbesondere muslimischen Menschen. Mit dieser von den Alle extremistischen Bestrebungen verbinlegalistischen Islamisten wie der Muslimdet der Wille, die aktuellen und sicherlich bruderschaft übernommenen Strategie der auch künftigen Krisen in der Welt für sich gesellschaftlichen Durchdringung soll langzu nutzen, um sich in der Mitte der Gesellfristig Anschluss an gesellschaftliche Prozesschaft zu etablieren, diese zu infiltrieren und se und Themen gefunden werden. so unsere Demokratie zu destabilisieren. Dies zu verhindern bedarf nicht nur eines Der nicht islamistische Extremismus mit starken Verfassungsschutzes und weiterer Auslandsbezug zeigt sich in Deutschland Sicherheitsbehörden, sondern hier müssen bei den hier lebenden Anhängerinnen wir als demokratische Gesellschaft aufund Anhängern als starke ideologische stehen und alle gemeinsam jeden Tag für Kontroverse. In Niedersachsen werden vor unsere freiheitliche demokratische Grundallem türkische und kurdische Organisaordnung einstehen. tionen beobachtet, die ideologisch dem Rechtsoder Linksextremismus zuzuordnen sind und im ständigen Widerstreit stehen. Politische Ereignisse in der Türkei und den kurdisch besiedelten Grenzregionen in SyriDaniela Behrens en und im Irak führen hier oft unmittelbar Niedersächsische Ministerin zu enormem Demonstrationsgeschehen, für Inneres und Sport 5 Sehr geehrte Leserinnen und Leser, das vergangene Jahr hat wieder ganz deutlich gezeigt, dass Extremismus nicht unabhängig von gesellschaftlich relevanten Ereignissen und deren Auswirkungen betrachtet werden kann. Entwickelte sich der Extremismus in Niedersachsen in den letzten Jahren noch stark im Zeichen der Corona-Pandemie, so bedeutete der brutale unterschiedlichen extremistischen StrömunAngriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gen: von traditionellen Rechtsextremisten mit den damit verbundenen wirtschaftliüber Vertreter der Neuen Rechten und chen, sozialen und politischen Folgen eine Anhänger der Reichsbürgerszene bis hin zu erneute Zäsur - für uns als Gesellschaft und Personen aus dem Spektrum der sogenannin der Folge auch für Gefahren durch und ten Coronaleugner und Querdenker. Für Entwicklungen im Extremismus. Rechtsextremisten und Reichsbürger bilden die in der heterogenen Protestbewegung Im Rechtsextremismus haben die steigengrassierenden Verschwörungstheorien zwar de Inflation, die Sorgen um die EnergiesiAnsatzpunkte zur ideologischen Einflusscherheit und die Herausforderungen bei nahme; sie konnten das Geschehen aber zu der Versorgung und Unterbringung von keinem Zeitpunkt dominieren. Vor allem in vertriebenen und geflüchteten Menschen den sozialen Medien zeigt sich jedoch, dass das Demonstrationsgeschehen, die Mobideren Narrative verbreitet werden und damit lisierungsfähigkeit und die Aktionsinhalte Einfluss auf Teile der Protestbewegung wesentlich beeinflusst. Im tradierten Rechtsgenommen wird. extremismus wirkten die Krisen und ihre Auswirkungen als Katalysator in Bezug auf die Der russische Angriffskrieg und die darbereits in den Jahren zuvor beschriebenen aus resultierenden Auswirkungen auf die Trends: Marginalisierung der neonazistisch deutsche Energieversorgung und massive geprägten Parteien "Nationaldemokratische Preissteigerungen werden von den extrePartei Deutschlands" (NPD) und "Die Rechmistischen Teilen der Proteste gleichfalls te" und eine wachsende Heterogenität der zur Delegitimierung des Staates genutzt. neonazistischen Szene. Es wird versucht verfassungsfeindliche Agitation durch diese neuen Themenfelder zu Bei den Protesten gegen die Maßnahmen verbreiten. zur Eindämmung der Corona-Pandemie wie auch in deren virtuellem Umfeld zeigDen Phänomenbereich "Verfassungsschutzte sich eine Vermischung von Personen aus relevante Delegitimierung des Staates" 6 kennzeichnet die fundamentale Ablehnung Intervention Russlands in die Gebiete der des demokratischen Systems der BundesreUkraine zwar ab und solidarisierte sich mit publik Deutschland, ohne dass ein extremisder Bevölkerung der Ukraine, nicht aber mit tisches Alternativmodell, etwa ein ethnisch dem ukrainischen Staat. Zudem gab sie nicht homogener Nationalstaat, angestrebt wird. nur Russland, sondern auch den USA und Auf Zustimmung trifft diese destruktivdamit verbunden der NATO eine Mitschuld extremistische Position insbesondere bei für die Eskalation in diesem Krieg. Nach der Reichsbürgern, die ihren radikalisierenden Bewilligung eines 100 Milliarden Euro SonEinfluss auf das Demonstrationsgeschehen dervermögens für die Bundeswehr dürften ausdehnen konnten. vor allem Rüstungsunternehmen als "Profiteure" dieser Gelder verstärkt in den Fokus Eine neue Dimension des Phänomens stellt auch von Linksextremisten geraten. die am 07.12.2022 aufgedeckte Gruppierung aus dem Reichsbürgermilieu dar, deren Die salafistische Szene macht nach wie vor Ziel es war, den "Systemsturz" der Buneinen Großteil der niedersächsischen Isladesrepublik Deutschland unter Einsatz von misten aus. Auch wenn die Anhängerzahlen Waffengewalt herbeizuführen. Unter den erstmals rückläufig sind, ist die Szene zuletzt 25 verhafteten Beschuldigten befanden sich deutlich aktiver geworden. Dabei haben sich drei Personen aus Niedersachsen. Die bislang wieder populäre deutschsprachige Predivorliegenden Erkenntnisse bestätigen unsere ger etabliert, die die salafistische Ideologie Analyse, dass wir es mit der Herausbildung in verständlicher jugendgerechter Sprache einer neuen gewaltorientierten Mischszene verbreiten. Die "Deutschsprachige Muszu tun haben. Die Beschuldigten äußerten limische Gemeinschaft" in Braunschweig Reichsbürgerideologien, rechtsextremisti(DMG Braunschweig) nimmt eine zentrale sche Narrative und VerschwörungserzählunRolle in der überregionalen Vernetzung gen aus dem Bereich der Delegitimierung salafistischer Aktivitäten ein, indem sie des Staates. An dem Fall zeigt sich sehr diese Prediger einlädt und deren Auftritte deutlich, dass von dieser Mischszene, die über ihre vielfältigen Online-Kanäle einer Verschwörungstheorien als Scharnierfunktigroßen Zahl an Zuschauenden zugänglich on nutzt, eine reale Gefahr ausgeht. macht. Auch gab es wieder vermehrt Literaturverteilaktionen und andere salafistische Während im linksextremistisch-dogmatiMissionierungskampagnen. Insbesondere schen Spektrum - wie es die "Deutsche die intensive Nutzung der populären PlattKommunistische Partei" (DKP) verkörpert formen in den Sozialen Medien ermöglicht - insbesondere die Rolle des Westens und den salafistischen Onlineangeboten eine somit der USA und damit verbunden die sehr hohe Reichweite, insbesondere auch der NATO stark kritisiert wurde, lehnte bei sehr jungen Menschen, was die Gefahr die autonome Szene Niedersachsens die weiterer Radikalisierung birgt. 7 Dem Bereich des internationalen islamisBrandstiftungen oder Sachbeschädigungen tischen Terrorismus fehlt momentan ein werden kann. Allen voran die PKK zeigt mobilisierender Bezugspunkt, wie es der trotz propagierter grundsätzlich friedlicher Bürgerkrieg in Syrien und im Irak war. DenLinie und Gewaltverzicht für Europa, dass noch spricht die nach wie vor sehr aktive sie nach wie vor in der Lage ist, ihre AnhänPropaganda der islamistischen Terrororgagerschaft spontan zu mobilisieren und zu nisationen auch gezielt Menschen in den emotionalisieren. Es zeigte sich schon Ende westlichen Ländern an. Die Aufrufe und 2022, dass sich vor dem Hintergrund der konkreten Anleitungen zur Durchführung am 14. Mai 2023 stattfindenden türkischen von Terroranschlägen ermöglichen jeder Parlamentsund Präsidentschaftswahlen die einzelnen Person, eine Gewalttat zu verüwiderstreitenden Positionen erheblich verben, ohne in ein entsprechendes Netzwerk stärken werden. eingebunden zu sein. Vor dem Hintergrund des russischen Neuerdings ist im gesamten islamistischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben Spektrum eine Annäherung an den legadie Verfassungsschutzbehörden des Bundes listischen Islamismus festzustellen. Geraund der Länder im Verbund einen besonde die Online-Veröffentlichungen in allen deren Fokus auf die mit diesem Konflikt in islamistischen Bereichen lehnen sich stark Zusammenhang stehenden nachrichtenan den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs dienstlichen Aktivitäten, Cyberoperationen an und propagieren zunehmend identitäre sowie Propaganda-, Desinformationsund Narrative mit dem Ziel der Abgrenzung von Einflussnahmebemühungen in Deutschland der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Auch gerichtet. salafistische Akteure verfolgen inzwischen teilweise eine Strategie der gesellschaftliNeben der Aufdeckung breit angelegter chen Einflussnahme, z. B. durch gezieltes Desinformationsund Propagandaaktivitäkaritatives Engagement. ten russischer Medien und Cyber-Akteure stand insbesondere der Schutz Kritischer Politische Ereignisse in der Türkei führen Infrastrukturen (KRITIS) im Zentrum der weiterhin regelmäßig dazu, dass DeutschMaßnahmen der Sicherheitsbehörden. Nieland - das seit vielen Jahren in erster Linie dersachsen verfügt über ein umfassendes von den extremistischen Gruppierungen mit und komplexes Netz an KRITIS, das für Auslandsbezug als sicherer Rückzugsraum die Funktionsfähigkeit des Landes unvergesehen wird - spontan und nachhaltig zichtbar ist. Dazu zählen u. a. Stromund zum Austragungsort massiven DemonstraGasversorgung, Telekommunikation, Vertionsgeschehens, spontaner gewaltsamer kehr ss ysteme, Gesundheit s ver sorgung Auseinandersetzungen und von Straftaund Teile der öffentlichen Verwaltung. ten wie Blockadeaktionen, Besetzungen, Der Ausfall der Fernsteuerung tausender 8 Windenergieanlagen macht deutlich, welchen Stellenwert der Schutz der KRITIS vor Sabotage und Cyberangriffen einnimmt. Diese kursorische Darstellung aktueller Entwicklungen in den Phänomenbereichen zeigt, welche Dynamik und welche Herausforderungen gesellschaftsund weltpolitische Ereignisse für die Arbeit des Verfassungsschutzes erzeugen. Dirk Pejril Niedersächsischer Verfassungsschutzpräsident 9 Themenübersicht Themenübersicht 01 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen 02 Rechtsextremismus 03 Linksextremismus 04 Islamismus 05 Extremismus mit Auslandsbezug 06 Prävention 07 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr 08 Geheimschutz 09 Wirtschaftsschutz 10 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) 11 Anhang 10 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1. Der Verfassungsschutz in Niedersachsen 1.1 Verfassungsschutz und Demokratie ............................................18 1.2 Gesetzliche Grundlagen ............................................................ 20 1.3 Hauptaufgaben des Verfassungsschutzes ....................................21 1.4 Organisation ..............................................................................21 1.5 Informationsgewinnung ............................................................ 22 1.6 Kontrolle ................................................................................... 23 1.7 Verfassungsschutz als Nachrichtendienst .................................... 24 1.8 Beschäftigte .............................................................................. 25 1.9 Haushalt ................................................................................... 26 1.10 Mitwirkungsaufgaben des Verfassungsschutzes ......................... 26 1.11 Gemeinsames Informationsund Analysezentrum Polizei und Verfassungsschutz Niedersachsen (GIAZ-Niedersachsen) ............. 28 1.12 Informationsverarbeitung .......................................................... 29 1.13 Auskunftsersuchen von Bürgerinnen und Bürgern ...................... 31 1.14 Presseund Öffentlichkeitsarbeit ............................................... 32 1.15 Kontaktdaten ............................................................................ 35 1.16 Anmerkungen zum Inhalt des Verfassungsschutzberichtes .......... 36 2. Rechtsextremismus 2.1 Mitglieder-Potenzial .................................................................. 40 2.2 Einführung .................................................................................41 2.3 Aktuelle Entwicklungen im Rechtsextremismus .......................... 45 2.4 Rechtsextremistische Musikszene ............................................... 55 2.5 Neonazistische Szene ................................................................ 68 2.6 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) ..................................... 78 2.7 Junge Alternative (JA) Niedersachsen ......................................... 87 2.8 "Der Flügel" innerhalb der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) ........................................................................................ 93 2.9 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) .................... 100 2.10 Die Rechte .............................................................................. 108 11 Inhaltsverzeichnis 2.11 Völkische Personenzusammenschlüsse / Völkische Siedler in Niedersachsen ............................................ 113 2.12 Reichsbürger & Selbstverwalter .................................................122 3. Linksextremismus 3.1 Mitglieder-Potenzial .................................................................136 3.2 Einführung ...............................................................................136 3.3 Aktuelle Entwicklungen im Linksextremismus ............................138 3.4 Autonome/Postautonome und sonstige gewaltbereite Linksextremisten .....................................................................143 3.5 Anarchisten.............................................................................. 176 4. Islamismus 4.1 Mitglieder-Potenzial ................................................................ 184 4.2 Islamismus ...............................................................................185 4.3 Salafismus ................................................................................198 4.4 Salafismus in Niedersachsen .....................................................214 4.5 Internationaler islamistischer Terrorismus ................................. 220 4.6 Islamistischer Terrorismus in Deutschland und Niedersachsen .. 236 4.7 Muslimbruderschaft (MB) ........................................................ 244 4.8 Tablighi Jama'at (TJ, Gemeinschaft der Missionierung und Verkündung) .......................................................................... 248 4.9 Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) .................................................... 250 4.10 Hizb Allah (Partei Gottes) ........................................................ 254 4.11 Islamisches Zentrum Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus ........................................... 258 12 Inhaltsverzeichnis 5. Extremismus mit Auslandsbezug 5.1 Mitglieder-Potenzial ................................................................ 266 5.2 Einführung .............................................................................. 266 5.3 Aktuelle Entwicklungen im Extremismus mit Auslandsbezug ......267 5.4 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).................................................270 5.5 Ülkücü-Bewegung ................................................................... 286 6. Extremismusprävention 6.1 Extremismusprävention ........................................................... 296 6.2 Vortragsund Informationsveranstaltungen ............................. 298 6.3 Ausstellung "Gemeinsam gegen Rechtsextremismus"............... 300 6.4 Informationsmaterialien ............................................................301 6.5 Veranstaltungen ...................................................................... 303 6.6 Landesprogramm für Islamismusprävention "Kompetenzforum Islamismusprävention Niedersachsen" (KIP NI).......................... 305 6.6.1 Struktur .................................................................................. 305 6.6.2 Arbeitsschwerpunkte .............................................................. 308 6.6.3 Arbeitsgruppen ....................................................................... 309 6.6.4 Jahresveranstaltung .................................................................. 311 6.6.5 KIP NI-Internetseite .................................................................. 313 6.7 Aktion Neustart .......................................................................314 6.8 Kontaktdaten ...........................................................................318 7. Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr 7.1 Spionageaufkommen in Niedersachsen .....................................322 7.2 Proliferation .............................................................................326 7.3 Cyberabwehr ...........................................................................327 7.4 Hilfe für Betroffene ..................................................................331 13 Inhaltsverzeichnis 8. Geheimschutz 8.1 Geheimschutz ......................................................................... 334 8.2 Entwicklungen im Bereich der Sicherheitsüberprüfungen ..........335 8.3 Neues Sicherheitsüberprüfungsgesetz .......................................337 8.4 Beratung von Landesbehörden in Fragen des Geheimschutzes ...337 9. Wirtschaftsschutz 9.1 Einleitung ............................................................................... 342 9.2 Aufgaben und Arbeitsweise .................................................... 344 9.3 Unternehmen der Kritischen Infrastruktur (KRITIS) .................... 346 9.4 Sicherheitstagung für geheimschutzbetreute Unternehmen ...... 347 9.5 20. Wirtschaftsschutztagung des Niedersächsischen Verfassungsschutzes................................................................ 349 9.6 Kontaktdaten ...........................................................................351 10. Politisch motivierte Kriminalität (PMK) 10.1 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) - Vorbemerkung .......... 354 10.2 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) mit extremistischem Hintergrund - rechts ......................355 10.3 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) mit extremistischem Hintergrund - links ..................................................................357 10.4 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) mit extremistischem Hintergrund - ausländische Ideologie und religiöse Ideologie .. 358 14 Inhaltsverzeichnis 11. Anhang 11.1 Definition der Arbeitsbegriffe .................................................. 368 11.2 Niedersächsisches Verfassungsschutzgesetz ..............................378 11.3 Verbote neonazistischer Vereinigungen ..................................... 414 11.4 Verbote von Reichsbürgervereinigungen .................................. 418 11.5 Verbote linksextremistischer Vereinigungen .............................418 11.6 Übersicht über Verbotsmaßnahmen des BMI gegen extremistische Bestrebungen mit Bezug zum Ausland im Zeitraum Januar 1990 bis Dezember 2022 ............................ 419 11.7 Abkürzungsverzeichnis .............................................................421 11.8 Personenund Stichwortverzeichnis ..........................................428 11.9 Ortsverzeichnis (Niedersachsen) ................................................437 11.10 Verzeichnisanhang zum Verfassungsschutzbericht 2022 ........... 438 11.11 Bilderverzeichnis ..................................................................... 444 15 01 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen Der Verfassungsschutz in Niedersachsen 1.1 Verfassungsschutz und Demokratie Im Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland wurde nach den Erfahrungen mit der Zerstörung der Weimarer Repu blik das Prinzip der wehrhaften Demokratie verankert. Elemente sind insbesondere die Unabänderlichkeit elementarer Verfassungsgrundsätze (Artikel 79 Abs. 3 GG) und die Möglichkeit, Parteien unter engen Voraussetzungen von der staatlichen Finanzierung ausschließen (Artikel 21 Abs. 3 GG) oder in Gänze verbieten zu können (Artikel 21 Abs. 2 GG). Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) von 1952 (BVerfGE 2,1) und zum Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) von 1956 (BVerfGE 6, 300) die Wesensmerkmale der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes bestimmt, die in SS 4 Abs. 3 des Niedersächsischen Verfassungsschutzgesetzes (NVerfSchG) aufgezählt sind: f das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, f die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, f das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, f die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, f die Unabhängigkeit der Gerichte, f der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft und f die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte. 18 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder bezeichnen seit 1974 einheitlich politische Bestrebungen als ex tremistisch, die sich gegen diese Wesensmerkmale oder gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten. Ihre Beobachtung dient dem Schutz der Verfassung. Da die Verfassungsschutzbehörden im Vorfeld konkreter Gesetzesverstöße tätig werden und frühzeitig verfassungsfeindliche Bestrebungen erkennen sollen, werden sie als ein "Frühwarnsystem" des demokratischen Rechtsstaates bezeichnet. Zwischen den Extremismusphänomenen Rechtsund Linksextremismus und dem Islamismus gibt es fundamentale Unterschiede. Der Islamismus setzt, im Gegensatz zu tragenden Prinzipien der europäischen Aufklärung, auf religiös-orthodoxe Ordnungsmodelle und zielt damit auf eine gegen den "Westen" gerichtete kulturelle Identität. Rechtsund Linksextremismus unterscheiden sich ideengeschichtlich in ihrer Einstellung zum menschenrechtlichen Gleichheitsgebot. Während Linksextremisten aufgrund der ökonomischen Kräfteverhältnisse ausschließen, dass die Gleichheit der Menschen in einer parlamentarischen Demokratie realisiert werden kann, leugnen Rechtsextremisten das in Artikel 3 GG verankerte Gleichheitsprinzip. Linksextremisten hingegen verabsolutieren das Gleichheitspostulat und schränken damit die universelle Gültigkeit der Freiheitsund Individualrechte ein. Trotz dieser Unterschiede lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, wie sie für den modernen politischen Extremismus typisch sind: f Extremisten verfügen über ein geschlossenes Weltbild, das weder reflektiert noch fortentwickelt wird. In ihrem quasireligiösen Politikverständnis glauben sie, unfehlbar im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. f Aus diesem Absolutheitsanspruch heraus entwickeln sie ein Freund-Feind-Raster, das die Welt holzschnittartig in Gut und Böse einteilt und keine Differenzierung zulässt, um die als "Feinde" Gebrandmarkten kompromisslos zu bekämpfen. f Nicht der Einzelne, sondern die Gemeinschaft steht im Mittelpunkt. Individuelle Freiheitsrechte werden den Interessen des Kollektivs untergeordnet. f Extremisten haben ein Bild vom Menschen, wonach nicht alle Menschen über die gleiche Würde verfügen (Artikel 1 GG). 19 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen Es gilt das Primat der Ideologie, die mit Politik gleichgesetzt wird. Aus diesem Verständnis von Politik als einer alle Lebensbereiche regelnden Weltanschauung lehnen Extremisten den demokratischen Pluralismus ab. Zu demokratischen Prinzipien wie Meinungs-, Presseund Parteienvielfalt haben sie lediglich ein taktisches Verhältnis. Ihr gemeinsames Ziel ist die Überwindung der bestehenden, von Individualrechten geprägten Ordnung. Dahinter steht zumeist das Streben nach Sicherheit und Überschaubarkeit der Welt, in der der Mensch nicht länger vereinzelt ist. Extremismus ist auch eine zum Teil mit messianischem Eifer vertretene Reaktion auf die Komplexität moderner westlicher Gesellschaften. In diesem Weltbild wird die Gegenwart als desolat empfunden oder diffamiert, um die extremistische Alternative unter Leitung eines "Führers", einer "Partei" oder eines "religiösen Wächterrates" als einzigen Ausweg erscheinen zu lassen. Wer sich aus Sicht der Extremisten dagegen stellt, hat keinen Anspruch auf Toleranz, sondern muss bekämpft werden - nach Auffassung gewaltbereiter Extremisten notfalls auch mit Gewalt. 1.2 Gesetzliche Grundlagen Verfassungsschutz ist Ländersache. Als Folge der föderalen Struktur der Bundesrepublik bestehen bundesweit sechzehn sich teilweise in Aufbau und Befugnissen unterscheidende Verfassungsschutzgesetze. Dem Bund wiederum obliegt die ausschließliche Gesetzgebung über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern (vergl. Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b GG). Diese ist im "Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz - Bundesverfassungsschutzgesetz" geregelt. Weitere Befugnisse für den Verfassungsschutz folgen aus dem "Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses - Artikel 10-Gesetz - G10", welches die Telekommunikationsund Briefüberwachungsbefugnisse der Verfassungsschutzbehörden bundeseinheitlich regelt. Die Aufgaben und Befugnisse des Niedersächsischen Verfassungsschutzes ergeben sich aus 20 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen dem Niedersächsischen Verfassungsschutzgesetz1 (NVerfSchG). Das NVerfSchG gliedert sich in fünf Teile. Der erste Teil bestimmt Zuständigkeiten und Aufgaben, der zweite das Beobachtungsobjekt. Der Begriff des Beobachtungsobjektes gehört zu den zentralen Begriffen der bundesdeutschen Verfassungsschutzbehörden. Der dritte Teil, der sich wiederum in vier Kapitel gliedert, regelt die eigentliche Datenverarbeitung. Neben Regelungen zum Minderjährigenund Kernbereichsschutz finden sich dort Regelungen über die Eingriffsbefugnisse (siehe Kapitel 1.5), die Auskunftsersuchen sowie über die Zusammenarbeit mit der Polizei und anderen Behörden. Der vierte Teil des NVerfSchG regelt die parlamentarische Kontrolle, der fünfte enthält die sogenannten Schlussvorschriften. Vor dem Hintergrund der unverändert hohen extremistischen Bedrohungen wurden die Befugnisse des Verfassungsschutzes in Niedersachsen im Jahr 2021 punktuell angepasst (NVerfSchG vom 02.08.2021, Nds. GVBl. S. 564). So wurden u. a. die Voraussetzungen für die Datenerhebung bei Minderjährigen ab 14 Jahren vereinfacht. Zudem kann der vorübergehende, auf maximal ein Jahr begrenzte Einsatz von Vertrauenspersonen nicht mehr ausschließlich nur bei Verdachtsobjekten, sondern auch bei Beobachtungsobjekten erfolgen. Des Weiteren wird durch die landesrechtliche Umsetzung einer in der Abgabenordnung vorgesehenen Befugnis die Kontostammdatenabfrage auch dem Niedersächsischen Verfassungsschutz ermöglicht. Außerdem wurde der Auskunftsanspruch gemäß SS 30 NVerfSchG angepasst (siehe hierzu Ziff. 1.13). 1.3 Hauptaufgaben des Verfassungsschutzes Hauptaufgabe des Verfassungsschutzes ist nach SS 3 NVerfSchG die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische 1 Siehe Kapitel 11.2. 21 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, f sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland für eine fremde Macht, f Bestrebungen in der Bundesrepublik Deutschland, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, f Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Artikel 9 Abs. 2 GG) oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Artikel 26 Abs. 1 GG) gerichtet sind. Zu den Kernaufgaben gehört auch die Information und Aufklärung der Öffentlichkeit über extremistische Bestrebungen. Ebenso gehören gesetzlich geregelte Mitwirkungspflichten (siehe Kapitel 1.10) zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes. 1.4 Organisation Verfassungsschutzbehörde ist das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport (SS 2 Abs. 1 NVerfSchG). Das Ministerium unterhält hierzu eine gesonderte Abteilung (Verfassungsschutzabteilung), die ausschließlich die der Verfassungsschutzbehörde obliegenden Aufgaben wahrnimmt. Diese Abteilung wird durch die Verfassungsschutzpräsidentin oder den Verfassungsschutzpräsidenten geleitet. 1.5 Informationsgewinnung Der Verfassungsschutz gewinnt die zur Erfüllung seiner Aufgaben re levanten Informationen überwiegend aus offen zugänglichen Quellen, die grundsätzlich auch jeder Bürgerin und jedem Bürger zur Verfügung stehen, wie z. B. aus dem Internet, aus Zeitungen, Zeitschriften, Flugblättern, Programmen und Broschüren. Darüber 22 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen hinaus können - im Rahmen gesetzlich festgelegter Befugnisse und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - die im Gesetz abschließend aufgeführten nachrichtendienstlichen Mittel eingesetzt und besondere Auskunftsverlangen zur Informationsbeschaffung durchgeführt werden. Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln gehören z. B. der Einsatz von verdeckt arbeitenden Vertrauenspersonen (VP), Observationen, verdeckte Bildund Tonaufzeichnungen und sonstige verdeckte Ermittlungen. Die näheren Voraussetzungen für den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel und die Durchführung der Auskunftsverlangen sind in den SSSS 14 bis 19 sowie 20 und 21 NVerfSchG geregelt. Der Verfassungsschutzbehörde stehen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben ausdrücklich keine polizeilichen Befugnisse zu, d. h. sie darf insbesondere niemanden festnehmen, keine Durchsuchungen durchführen und keine Gegenstände beschlagnahmen (SS 5 Satz 1 NVerfSchG). Von den nachrichtendienstlichen Mitteln wurden im Berichtszeitraum im Wesentlichen verdeckte Bildaufzeichnungen, verdeckte Ermittlungen, Observationen und Vertrauenspersonen (VP) eingesetzt. Eingriffe in das Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis sind wegen der besonderen Schwere des Eingriffs in das Grundrecht des Artikels 10 GG (Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis) nur unter besonders hohen Voraussetzungen und unter Beachtung strenger Verfahrensvorschriften möglich, die im Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz - G 10) geregelt sind. 2 Übrigens: Die Anzahl der G 10-Maßnahmen lag im Berichtszeitraum im einstelligen Bereich. 1.6 Kontrolle Die Tätigkeit des Niedersächsischen Verfassungsschutzes unterliegt einer vielfältigen Kontrolle. Dazu gehören Kontrollen durch den internen behördlichen Datenschutzbeauftragten und externe Kontrollen durch die Landesbeauftragte für den Datenschutz Niedersachsen (LfD). Einzelmaßnahmen wie Personenspeicherungen sind gerichtlich nachprüfbar. 2 Siehe hierzu auch das folgende Kapitel 1.6. 23 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport ist nach SS 34 NVerfSchG verpflichtet, den Ausschuss für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes (AfAV) des Niedersächsischen Landtages umfassend über seine Tätigkeit als Verfassungsschutzbehörde zu unterrichten. Die parlamentarische Kontrolle erfolgt unbeschadet der Rechte des gesamten Landtages und seiner sonstigen Ausschüsse. Bei Eingriffen in das Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis entscheidet die sogenannte G 10-Kommission3 (SS 3 des Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des Artikel 10-Gesetzes). Im Rahmen der Novellierung des NVerfSchG im Jahr 2016 wurden weitere Zuständigkeiten der Kommission geschaffen. Sie entscheidet als weisungsunabhängige Stelle auch über die Notwendigkeit und Zulässigkeit sämtlicher durch den Niedersächsischen Verfassungsschutz eingesetzten eingriffsintensiven nachrichtendienstlichen Mittel, z. B. längerfristige Observationen oder verdeckt angefertigte Bildaufzeichnungen außerhalb von Wohnungen (SS 14 Abs. 1 i.V.m. SS 21 Abs. 3 NVerfSchG). Diese Kontrollfunktion ist dem Richtervorbehalt des Niedersächsischen Polizeiund Ordnungsbehördengesetzes (NPOG) bzw. der Strafprozessordnung (StPO) vergleichbar. 1.7 Verfassungsschutz als Nachrichtendienst Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder verstehen sich als Nachrichtendienste. Sie sind gesetzlich auf die Beschaffung und Auswertung von Informationen beschränkt. Im Gegensatz zu Geheimdiensten unterliegen sie der Kontrolle durch unabhängige Instanzen und unterrichten die Öffentlichkeit über wesentliche Ergebnisse ihrer Arbeit. Als Geheimdienste hingegen werden staatliche Organisationen fremder Mächte verstanden, die nicht nur politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich oder militärisch bedeutsame Nachrichten beschaffen und für ihre Auftraggeber auswerten, sondern auch aktive Handlungen zur Störung oder Beeinflussung "politischer Gegner" im Inund Ausland vornehmen. Dabei streben sie ein Höchstmaß an Geheimhaltung an. 3 Die G10-Kommission besteht aus einer oder einem Vorsitzenden (mit Befähigung zum Richteramt) und zwei Beisitzenden, von denen einer auch die Befähigung zum Richteramt haben muss. Die Mitglieder werden vom Ausschuss für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zu Beginn der Wahlperiode bestellt. 24 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen 1.8 Beschäftigte Der vom Niedersächsischen Landtag verabschiedete Haushaltsplan für den Einzelplan 03 (Ministerium für Inneres und Sport) bestimmt durch die Ausweisung von Planstellen im Stellenplan und Beschäftigungsvolumen sowie durch die Festlegung von Rahmenbedingungen für die Personal-Gesamtkosten (Personalkostenbudget), in welchem Umfang der Niedersächsische Verfassungsschutz Personal beschäftigen darf. Für das Haushaltsjahr 2022 sind im Stellenplan des Niedersächsischen Verfassungsschutzes 292 Planstellen für Beamtinnen und Beamte ausgewiesen (2021: 289). Darüber hinaus ermöglicht das Personalkostenbudget für das Haushaltsjahr 2022 die Finanzierung von 62 Beschäftigungsmöglichkeiten für Tarifpersonal (2021: 62). Das Beschäftigungsvolumen umfasst demgegenüber die Summe der vollbeschäftigten und der auf Vollzeit umgerechneten teilzeitbeschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und wird im Haushaltsplan als Vollzeiteinheiten (VZE) ausgedrückt. Es umfasst im Haushaltsjahr 2022 insgesamt 314,32 Vollzeiteinheiten (VZE) (2021: 332,99 VZE). Entwicklung der Beschäftigten zum Beginn des Haushaltsjahres Stellen VZE 400 300 280 260 240 268,24 280,68 332,99 269,22 314,32 273,97 280,13 334,13 317,46 220 288 286 286 354 298 298 351 351 351 200 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 25 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen 1.9 Haushalt Im Haushalt der niedersächsischen Verfassungsschutzbehörde waren im Haushaltsjahr 2022 für Personalausgaben 19.735.000 Euro (2021: 20.499.000 Euro) und für Sachausgaben 6.641.000 Euro (2021: 4.935.000 Euro) veranschlagt. Damit ergab sich ein Ausgabevolumen von 26.376.000 Euro (2021: 25.434.000 Euro). 1.10 Mitwirkungsaufgaben des Verfassungsschutzes Neben ihren Beobachtungsund Aufklärungspflichten nimmt die Verfassungsschutzbehörde zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der Sicherheit des Bundes und der Länder auch die in SS 3 Abs. 4 NVerfSchG geregelten Mitwirkungsaufgaben wahr. In diesem Rahmen wird geprüft, ob den Verfassungsschutzbehörden zu bestimmten, von den anfragenden Behörden aufgrund der verschiedenen Rechtsgrundlagen (z. B. Staatsangehörigkeitsgesetz, Waffengesetz etc.) übermittelten Personen Erkenntnisse vorliegen, die bei durch die anfragenden Behörden zu treffenden Entscheidungen (z. B. Einbürgerungsanträge, Gewährung von waffenrechtlichen Erlaubnissen etc.) eine sicherheitsbezogene Relevanz aufweisen. Im Jahr 2022 hat die Anzahl der Anfragen im Mitwirkungsbereich mit 205.580 erstmals die Marke von 200.000 Anfragen im Jahr überschritten. Dies verdeutlicht den steigenden Bedarf nach der Einbringung von Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden in Verwaltungsverfahren. Die Einführung der Regelanfrage im Waffenrecht hat ein großes Echo bei einer Vielzahl von Akteuren hervorgerufen und auch auf Landesebene wurde ein entsprechender Bedarf erkannt. Mit der Regelanfrage bei der Einstellung von Polizeibewerberinnen und -bewerbern kann die Einstellungsbehörde beim Niedersächsischen Verfassungsschutz auf der neu geschaffenen Grundlage von SS 108a NBG entsprechende Erkenntnisse abfragen und im Rahmen ihrer Einstellungsentscheidung berücksichtigen. Betrachtet man die einzelnen Anwendungsbereiche der Regelabfrage, so kann festgestellt werden, dass die Anfragen für den Bereich Waffe/Jagd von 94.525 Anfragen im Jahr 2021 auf 81.736 im Jahr 26 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen 2022 zurückgegangen sind. Diese Abnahme liegt vor allem auch darin begründet, dass aufgrund optimierter Kommunikationswege und einer besseren technischen Anbindung weniger sogenannte Doppelanfragen, also die mehrfache Abfrage einer Person, anfallen. Die Zahl der Anfragen, denen eine sicherheitsbezogene Relevanz zugrunde liegt und die manuell bearbeitet werden müssen, ist mit 762 im Vergleich zum Vorjahr (2021: 794) erneut gesunken. Somit werden trotz der steigenden Anzahl von Anfragen prozentual weniger Anfragen mit sicherheitsbezogener Relevanz verzeichnet. Im Durchschnitt waren lediglich 0,37 Prozent aller Anfragen dieser Kategorie zuzurechnen. Innerhalb der unterschiedlichen Anfragen gibt es allerdings eine große Varianz: So weisen im Bereich Waffe/Jagd lediglich 0,1 Prozent aller Anfragen eine solche sicherheitsbezogene Relevanz auf. Neben dem Rückgang der Anfragezahlen im Waffenbzw. Jagdrecht ist der Anstieg der Anfragen im Bereich des Aufenthaltsgesetzes signifikant: Im Rahmen der Erteilung von Aufenthaltstiteln wurden 71.371 Anfragen gestellt (2021: 56.752). Zur Erlangung eines Entwicklung der Mitwirkungsaufgaben 200.000 150.000 100.000 50.000 196.384 205.580 165.695 82.429 99.865 85.419 43.144 46.173 61.412 0 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 27 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen Visums erreichten den Niedersächsischen Verfassungsschutz 14.144 Anfragen (2021: 9.726). Der Grund für die Erhöhung liegt in der Beendigung vieler Corona-Maßnahmen, die die Rückkehr zu einem geordneten Verfahrensablauf in den Ordnungsämtern und wieder vermehrte Reisebewegungen ermöglichten. Weitere anfragenstarke Aufgabengebiete sind folgende: f Beteiligung in Einbürgerungssachen (16.585 Anfragen) f Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach Atomgesetz (6.648 Anfragen) f Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach Luftsicherheitsgesetz (4.825 Anfragen) f Zuverlässigkeitsüberprüfungen für Bewachungspersonal (4.709 Anfragen) 1.11 Gemeinsames Informationsund Analysezentrum Polizei und Verfassungsschutz Niedersachsen (GIAZ-Niedersachsen) Das "Gemeinsame Informationsund Analysezentrum Polizei und Verfassungsschutz Niedersachsen" (GIAZ-Niedersachsen), ist bereits seit 2005 ein fester Bestandteil innerhalb der Sicherheitsarchitektur des Landes Niedersachsen. Das GIAZ gewährleistet einen kontinuierlichen, konstruktiven und schnellen Informationsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz in einem festgelegten Rahmen. Angelehnt an die Arbeit der gemeinsamen Zentren auf Bundesebene, finden auch in Niedersachsen, unter Beachtung des Trennungsgebotes und der einschlägigen Datenübermittlungsvorschriften, sowohl wöchentliche als auch anlassbezogenen Lagebesprechungen statt. Diese Form des Austausches optimiert die Zusammenarbeit in den wichtigsten Bereichen der Extremismusund Terrorismusbekämpfung und stellt somit eine entscheidende Voraussetzung für die effektive Beobachtung und Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus dar. Zu den Aufgaben des GIAZ-Niedersachsen gehören die Zusammenführung und Bewertung von polizeilichen und nachrichtendienstlichen Informationen aus den Themenfeldern: 28 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen f Islamismus und Extremismus mit Auslandsbezug, f Rechtsextremismus und demokratiefeindliche/sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates/PMK - nicht zuzuordnen (NZ) f Linksextremismus sowie f aktuelle, anlassbezogene Schwerpunkte. Basierend auf der langjährigen Zusammenarbeit im GIAZ, hat sich daneben auch der direkte Austausch auf Ebene der Sachbearbeitung etabliert. 1.12 Informationsverarbeitung Der Niedersächsische Verfassungsschutz ist - wie die anderen Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder auch - gesetzlich befugt, die zur Aufgabenerfüllung erforderlichen personenbezogenen Daten zu erheben und in Akten und Dateien zu speichern. Das NVerfSchG und Dienstvorschriften regeln detailliert die Datenverarbeitungsbefugnisse. Deren Beachtung unterliegt der Kontrolle durch die Landesbeauftragte für den Datenschutz Niedersachsen (LfD) und dem bzw. der in der Verfassungsschutzbehörde bestellten behördlichen Datenschutzbeauftragten. Aufgrund der in SS 6 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) normierten Verpflichtung zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterrichtung unterhalten die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern eine beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eingerichtete gemeinsame Datenbank, das Nachrichtendienstliche Informationssystem (NADIS). Alle teilnehmenden Behörden dürfen dort nach Maßgabe der jeweiligen eigenen rechtlichen Befugnisse personenbezogene Daten speichern sowie auf den gesamten NADIS-Datenbestand zugreifen und Daten abrufen. NADIS ist ein Aktenfundstellensystem, in dem nur der Name der gespeicherten Person, die zu ihrer Identifizierung erforderlichen Merkmale wie z. B. Wohnanschrift, Staatsangehörigkeit, Kraftfahrzeug sowie die speichernde Behörde und deren nach einem einheitlichen Aktenplan vergebenen Aktenzeichen enthalten sind. Nicht gespeichert ist der Inhalt der jeweiligen Information, die Anlass zur Vergabe des Aktenzeichens gewesen ist. 29 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen Benötigt eine Verfassungsschutzbehörde zur eigenen Aufgabenerfüllung die Informationen einer anderen Verfassungsschutzbehörde über eine gespeicherte Person, so fragt sie in der Regel auf elektronischem Wege bei ihr an. Der Informationsübermittlung ist eine Relevanzprüfung durch die speichernde Stelle vorgeschaltet. Die im NADIS gespeicherten personenbezogenen Daten beziehen sich nicht nur auf Personen, die verfassungsfeindliche, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Aktivitäten (SS 3 Abs. 1 NVerfSchG) entfaltet haben. Im NADIS werden auch Angaben zu Personen erfasst, bei denen eine Sicherheitsüberprüfung mit dem Ergebnis einer Ermächtigung zum Umgang mit Verschlusssachen durchgeführt wurde oder die als konkrete Zielpersonen terroristischer oder geheimdienstlicher Aktivitäten gelten. Vom Niedersächsischen Verfassungsschutz waren am 31.12.2022 folgende personenbezogene NADIS-Speicherungen veranlasst (Vorjahreszahlen in Klammern): f im Zusammenhang mit Sicherheitsüberprüfungen und Mitwirkungsaufgaben 118.326 (128.478), f im Zusammenhang mit originären Aufgaben des Verfassungsschutzes im Bereich Extremismus, Terrorismus, Spionageabwehr 3.771 (5.138). Entwicklung der NADIS-Speicherungen SÜ und Mitwirkung Phänomenbezogen 130.000 120.000 110.000 100.000 90.000 80.000 70.000 60.000 50.000 40.000 30.000 5.489 4.942 5.228 8.473 5.595 4.561 5.792 3.771 5.138 128.478 118.326 80.688 69.460 73.226 63.093 75.250 74.341 71.530 20.000 10.000 0 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 30 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen 1.13 Auskunftsersuchen von Bürgerinnen und Bürgern Die Verfassungsschutzbehörde erteilt betroffenen Personen auf Antrag unentgeltlich Auskunft über die zu ihrer Person gespeicherten Daten; seit der Gesetzesänderung vom 07.07.2021 (Nds. GVBl. S. 483) bedarf es hierzu jedoch der Darlegung eines konkreten Sachverhalts und eines besonderen Interesses an der Auskunft (SS 30 NVerfSchG). Im Jahr 2022 wurden 81 Auskunftsersuchen (2021: 210) beantwortet. In neun Fällen hatte der Verfassungsschutz keine Erkenntnisse gespeichert. Zwei Anfragenden wurde der einer Erfassung zugrundeliegende Sachverhalt uneingeschränkt mitgeteilt. In 14 Fällen wurde den Auskunftsersuchenden der ihrer Erfassung zugrundeliegende Sachverhalt eingeschränkt mitgeteilt und im Übrigen gemäß SS 30 Abs. 3 NVerfSchG an die Landesbeauftragte für den Datenschutz Niedersachsen (LfD) verwiesen. 56 Auskunftsersuchen haben auch nach wiederholter Aufforderung zur Nachlieferung die gesetzlichen Anforderungen nicht erfüllt. Entwicklung der Auskunftsersuchen 500 400 300 200 100 450 294 283 295 195 210 319 133 81 0 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 Eine nur eingeschränkte Auskunft bzw. die Ablehnung einer Auskunftserteilung erfolgt aufgrund der Ablehnungsgründe aus SS 30 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1 bis 4 NVerfSchG. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Offenlegung von Informationen Rückschlüsse auf die Identität von Vertrauenspersonen zur Folge haben würde. Auch Erkenntnisse, die der niedersächsischen Verfassungsschutzbehörde von einer anderen Verfassungsschutzbehörde übermittelt werden, 31 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen dürfen nur mitgeteilt werden, wenn die übermittelnde Behörde zustimmt (SS 30 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 NVerfSchG i.V.m. SS 6 Abs. 1 S. 2 BVerfSchG). Jede einzelne Erkenntnis zur Person der Antragstellerin bzw. des Antragstellers wird einer Prüfung unterzogen, sodass in einigen Fällen auch eine eingeschränkte Auskunft erteilt wird, da Ablehnungsgründe gegen die Mitteilung einzelner Erkenntnisse sprechen können. 1.14 Presseund Öffentlichkeitsarbeit Die freiheitliche Verfassung zu schützen, bedeutet nicht nur, ex tremistische Aktivitäten zu beobachten, sondern auch die Öffentlichkeit darüber zu informieren, sodass extremistische Ideologien von den Bürgerinnen und Bürgern als verfassungsfeindlich erkannt werden können. Diese Information ist eine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabe. Gemäß SS 3 Abs. 3 NVerfSchG klärt die Verfassungsschutzbehörde die Öffentlichkeit auf der Grundlage ihrer Auswertungsergebnisse durch zusammenfassende Berichte und andere Maßnahmen über verfassungsfeindliche Bestrebungen und sicherheitsgefährdende bzw. geheimdienstliche Tätigkeiten auf. Zu den zusammenfassenden Berichten zählt insbesondere der jährlich erscheinende Niedersächsische Verfassungsschutzbericht (SS 33 Abs. 2 NVerfSchG). Mit seinen Analysen und Bewertungen hilft der Verfassungsschutz zu verhindern, dass extremistische Aussagen bei der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden treffen. Die Aufklärung über Extremismus soll die Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzen, sich selbst für die Demokratie einzusetzen. Neben dem Niedersächsischen Verfassungsschutzbericht werden die "Informationen des Niedersächsischen Verfassungsschutzes" herausgegeben. Diese als PDF-Dokument zweimonatlich versendete Broschüre richtet sich insbesondere an Polizei-, Justizund kommunale Ordnungsbehörden, aber auch an Mitglieder von Gremien des Niedersächsischen Landtages und Nachrichtendienste. Die Broschüre informiert über aktuelle Themen des Niedersächsischen Verfassungsschutzes. Die Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit sowie der Prävention werden in den Organisationsbereichen Presseund Öffentlichkeitsarbeit 32 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen sowie dem fachübergreifend arbeitenden Bereich der Prävention (siehe Kapitel 6 dieses Berichts) des Niedersächsischen Verfassungsschutzes koordiniert. Beide Bereiche arbeiten eng zusammen und bieten der Öffentlichkeit u. a. Informationen über f Rechtsextremismus, f Linksextremismus, f Extremismus mit Auslandsbezug, f Islamismus und f Präventionsmaßnahmen. Der Bereich der Presseund Öffentlichkeitsarbeit ist auch Ansprechpartner für Medienvertreterinnen und -vertreter und Bürgerinnen und Bürger in allen Fragen zum Extremismus. Die Bürgerund Presseanfragen an die Verfassungsschutzbehörde spiegeln thematisch alle Arbeitsfelder des Verfassungsschutzes wider. Dabei wird häufig eine Einschätzung erbeten, ob beschriebene Phänomene als extremistisch zu werten sind. Neben den Anfragen von Medien und Bürgern wird z. B. Unterstützung erbeten von Schülerinnen und Schülern, Studierenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die für ihre Arbeiten auf Informationen oder Dokumente des Niedersächsischen Verfassungsschutzes zurückgreifen möchten. Häufig werden auch Hinweise auf extremistische Flyer, Plakate oder Internetveröffentlichungen aufgenommen und an die entsprechenden Fachbereiche weitergeleitet. Neben einer Weiterleitung an den jeweiligen Extremismusfachbereich bzw. die Polizei kommt auch eine Beratung mit dem Fachbereich Prävention in Betracht bzw. die Einschaltung einer zivilgesellschaftlichen Organisation oder einer Sozialbehörde. Sowohl bei den Medienkontakten als auch bei allen anderen Anfragen dominierte auch 2022 der Komplex "Rechtsextremismus". Mit Abstand folgen Themen des Islamismus, des Linksextremismus und Fragen zur Organisation, den gesetzlichen Grundlagen, den Befugnissen oder der Verfahrensweise des Verfassungsschutzes. Der Schwerpunkt der Themensetzung wird maßgeblich durch den jeweils aktuellen öffentlichen Diskurs mitbestimmt. 33 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen Die fortschreitende Digitalisierung macht sich nicht nur in vielen Aspekten des alltäglichen Lebens bemerkbar, sondern beeinflusst ferner die Wahl der genutzten Medien und die damit einhergehende Informationsaufnahme. Auch extremistische Inhalte und Propaganda können so ungefiltert die Meinungsbildungsprozesse beeinflussen und Desinformationen können sich viel schneller verbreiten. Die Gefahr, Desinformationen zu rezipieren und zu verbreiten, betrifft Jung und Alt. Neben Lebenserfahrung spielt Medienkompetenz eine wichtige Rolle bei der Informationsaufnahme im Internet und damit auch für den Meinungsbildungsprozess. Daher ist es wichtig, Nutzerinnen und Nutzer auch online über Gefahren von extremistischen Inhalten aufzuklären und sie für diese zu sensibilisieren. Social Media als Teil der Öffentlichkeitsarbeit Aufgrund deren zunehmender Etablierung im Alltag entschied sich der Niedersächsische Verfassungsschutz für eine Präsenz in den sozialen Netzwerken. Wir leiten dies auch aus der Verpflichtung nach SS 3 Abs. 3 NVerfSchG ab, die Bürgerinnen und Bürger über extremistische Entwicklungen aufzuklären und zu informieren. Seit Herbst 2019 nutzt der Niedersächsische Verfassungsschutz offizielle Behörden-Accounts zur Presseund Öffentlichkeitsarbeit. Den Anfang machten die Social Media-Plattformen Facebook und Twitter. Die Social Media-Accounts sollen die eigene Präventionsund Aufklärungsarbeit einer breiteren und jüngeren Zielgruppe zugänglich machen. Gleichzeitig wollen wir so den direkten und offenen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern fördern und als direkter Ansprechpartner im Social Web zur Verfügung stehen. Zuletzt startete Ende 2020 der behördliche Instagram-Account. Design, Benennung und inhaltliche Ausrichtung der Accounts sollen den Verfassungsschutz als direkten Ansprechpartner für alle Fragen rund um Extremismus sichtbarer machen. Im Mittelpunkt der Aktivitäten in Social Media steht das Ziel, die Bürgerinnen und Bürger mit transparenter Kommunikation über extremistische Inhalte und Propaganda aufzuklären und ihre Sinne diesbezüglich zu schärfen. Daneben werden Veranstaltungen des Verfassungsschutzes präsentiert und öffentlichkeitswirksam begleitet sowie Stellenausschreibungen beworben. 34 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen Die bisher veröffentlichten Social Media-Beiträge orientieren sich an den Inhalten des jeweils aktuellen Verfassungsschutzberichts oder beziehen sich auf aktuelles politisches Tagesgeschehen. Zudem nutzt der Niedersächsische Verfassungsschutz Social Media, um sich mit Text-, Bildund Videoformaten stärker in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Social Media lebt vom Dialog und vom Diskurs. Wir möchten Sie daher motivieren, unsere Accounts durch Fragen und einen regen Austausch mitzugestalten. Unsere Social Media-Profile erreichen Sie unter: Facebook: https://www.facebook.com/Verfassungsschutz.Niedersachsen Instagram: https://www.instagram.com/verfassungsschutz.nds/ Twitter: https://twitter.com/LfV_NI 1.15 Kontaktdaten Für Fragen steht der Bereich der Presseund Öffentlichkeitsarbeit beim Niedersächsischen Verfassungsschutz unter folgenden Kontaktdaten zur Verfügung: Telefon: 0511 6709-217 E-Mail: oeffentlichkeitsarbeit@mi.niedersachsen.de Der Niedersächsische Verfassungsschutz informiert zudem umfassend unter der Internetadresse www.verfassungsschutz.niedersachsen.de über Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes und aktuelle Entwicklungen des politischen Extremismus sowie der Spionageabwehr mit der Schwerpunktsetzung auf Niedersachsen. Insbesondere in der Rubrik "Aktuelle Meldungen" und "Termine" werden zeitnah Berichte und Analysen veröffentlicht und Veranstaltungen des Niedersächsischen Verfassungsschutzes angekündigt. 35 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen Auch auf der Internetseite des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport www.mi.niedersachsen.de (Service/Publikationen) sind die Verfassungsschutzberichte der letzten Jahre sowie die Broschüren und Flyer des Niedersächsischen Verfassungsschutzes veröffentlicht. 1.16 Anmerkungen zum Inhalt des Verfassungsschutzberichtes Umfang der Berichterstattung Im folgenden Bericht wird ausschließlich über solche Bestrebungen berichtet, bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte einen Verdacht oder eine Bewertung als extremistisch rechtfertigen. Hinweis zur Rechtschreibung Im Bericht wird die deutsche Rechtschreibung entsprechend der aktuell gültigen Auflage des Dudens verwendet. Sofern in Zitaten davon abgewichen wird, liegt es daran, dass die Originalschreibweise der dem Zitat zugrundeliegenden Quelle übernommen wurde. Daneben können in Zitaten auch Namen anders geschrieben sein, als im übrigen Bericht. Ein gesonderter Hinweis auf die Abweichung erfolgt jedoch nicht. 36 Der Verfassungsschutz in Niedersachsen 37 02 Rechtsextremismus Rechtsextremismus 2.1 Mitglieder-Potenzial4 Den strukturellen Veränderungen im organisierten Rechtsextremismus haben die Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern mit einem neuen Kategoriensystem Rechnung getragen. Insbesondere die Grenzen zwischen der subkulturellen und der neonazistischen Szene haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr aufgelöst. Der Neonazismus ist zunehmend strukturloser geworden und vermischt sich zusehends mit dem subkulturellen Bereich. Ideologische und organisatorische Unterschiede sind immer schwerer auszumachen. Seit dem Jahr 2017 erfolgt deshalb die Kategorisierung nach Parteien, nach parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen und als weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial. Rechtsextremismus-Potenzial Bundesrepublik Deutschland5,6 2021 In Parteien 11.800 f "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 3.150 f "Die Rechte" 500 f "Der III. Weg" 650 f Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien7 7.500 In parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen 8 8.500 Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial 9 15.000 Summe 35.300 4 Die Zahlenangaben sind zum Teil geschätzt und gerundet. 5 Die Zahlen des Berichtsjahres des Mitglieder-Potenzials für die Bundesrepublik Deutschland lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Daher werden nur die Zahlen des Vorjahres genannt. 6 Das Rechtsextremismus-Potenzial wird in drei Kategorien ausgewiesen: 1: Parteien, 2: parteiunabhängig und 3: unstrukturiert. 7 Unter dem sonstigen rechtsextremistischen Personenpotenzial in Parteien werden die Mitglieder der Jugendorganisation "Junge Alternative" (JA) (Verdachtsfall) und die Anhänger des formal aufgelösten Personenzusammenschlusses "Der Flügel" (Verdachtsfall) gezählt. 8 Hierzu zählen im Berichtsjahr der Teil von insgesamt 1.150 rechtsextremistischen "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern", der in überregionalen Strukturen organisiert ist, sowie das Personenpotenzial der Beobachtungsobjekte "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD), "COMPACT-Magazin GmbH", "PI-NEWS", "Institut für Staatspolitik" (IfS) (Verdachtsfall), "Antaios-Verlag" (Verdachtsfall) und "Ein Prozent e.V." (Verdachtsfall). 9 Hierzu zählt im Berichtsjahr der Teil von insgesamt 1.150 rechtsextremistischen "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern", der keiner festen Struktur zuzurechnen ist. 40 Rechtsextremismus Nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften10 33.900 Davon gewaltbereite Rechtsextremisten 11 13.500 Rechtsextremismus-Potenzial Niedersachsen12 2021 2022 In Parteien 900 755 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 220 200 "Die Rechte" 50 30 "Der III. Weg" 10 10 Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien13 620 515 In parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen14 320 320 Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial15 590 590 Summe 1.810 1.665 Nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften 1.730 1.610 Davon gewaltbereite Rechtsextremisten16 880 880 2.2 Einführung Eine in sich geschlossene rechtsextremistische Ideologie gibt es nicht. Vielmehr werden mit dem Begriff Rechtsextremismus Ideologieelemente erfasst, die in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlicher Stoßrichtung der weltanschaulichen Überzeugung von einer Ungleichwertigkeit der Menschen Ausdruck verleihen. Die Begriffe sind nicht als Prüfliste zu verstehen, bei 10 Die Mehrfachmitgliedschaften im Bereich der Parteien und der parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen wurden vom gesamten Personenpotenzial abgezogen. 11 Aufgrund des Wandels innerhalb der rechtsextremistischen Szene wird die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten seit 2010 gesondert ausgewiesen. 12 Das Rechtsextremismus-Potenzial wird in drei Kategorien ausgewiesen: 1: Parteien, 2: parteiunabhängig und 3: unstrukturiert. 13 Für 2022 werden unter dem sonstigen rechtsextremistischen Personenpotenzial in Parteien die Mitglieder der AfD-Teilorganisationen "Junge Alternative" (JA) und "Der Flügel" gezählt. Die AfD selbst ist Verdachtsobjekt. 14 Hierunter wird auch das Personenpotenzial der "Identitären Bewegung Deutschland" (IBD) gezählt. 15 Die derzeit 50 rechtsextremistischen "Reichsbürger und Selbstverwalter" finden sich in den Kategorien 2 und 3. 16 In der Gesamtzahl sind auch gewaltbereite Neonazis und NPD-Mitglieder enthalten. 41 Rechtsextremismus deren vollständigem Erfüllen man erst von rechtsextremistischer Einstellung spricht. Vielmehr lässt eine zustimmende Haltung zu den einzelnen Begriffen Ansätze eines rechtsextremistischen Weltbildes erkennen. Zu nennen sind im Einzelnen: f Aggressive menschenverachtende Fremdenfeindlichkeit, f Antisemitismus, f Rassismus, f Unterscheidung von "lebenswertem" und "lebensunwertem" Leben, f Überhöhung des eigenen Volkes bei gleichzeitiger Abwertung anderer Nationen und Völker (Nationalismus), f Vorstellung einer rassisch verstandenen homogenen Volksgemeinschaft (Volksgemeinschaftsdenken), f Individualrechte verneinendes, dem Führerprinzip verpflichtetes Kollektivdenken (völkischer Kollektivismus), f Behauptung "natürlicher" Hierarchien (Biologismus), f Betonung des Rechts des Stärkeren (Sozialdarwinismus), f Ablehnung demokratischer Regelungsformen bei Konflikten, f Übertragung militärischer Prinzipien auf die zivile Gesellschaft (Militarismus), f Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus (Geschichtsrevisionismus), f Forderung nach strikter räumlicher und kultureller Trennung verschiedener Ethnien (Ethnopluralismus), f Antifeminismus und Frauenfeindlichkeit. Im Folgenden stellen wir einige Ideologieelemente ausführlicher dar, insbesondere die zentralen Begriffe des Rechtsextremismus: Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus. Fremdenfeindlichkeit Mit "fremdenfeindlich" wird die Ablehnung all dessen bezeichnet, was als fremd bewertet und aus der Gesellschaft ausgegrenzt wird. Die Merkmale variieren: Ausländer, Juden, Muslime und Obdachlose können ebenso Opfer fremdenfeindlicher Ablehnung und Aggression werden wie Menschen mit Behinderungen und Homosexuelle. 42 Rechtsextremismus Fremdenfeindliche Positionen sind bei jeder rechtsextremistischen Organisation nachweisbar; sie bilden das Grundelement rechtsextremistischen Denkens. Antisemitismus Der Antisemitismus tritt im Rechtsextremismus in verschiedenen Varianten in Erscheinung. Antisemitische Positionen werden sowohl religiös als auch kulturell und rassistisch begründet. Häufig korrespondieren sie mit verschwörungstheoretischen Ansätzen. Vor dem historischen Hintergrund der systematischen Judenvernichtung durch den Nationalsozialismus (Holocaust) sind antisemitische Einstellungsmuster ein Gradmesser für die Verfestigung eines rechtsextremistischen Weltbildes. Sie zeugen von ideologischer Nähe zum historischen Nationalsozialismus und treten häufig in Verbindung mit revisionistischen Positionen auf. Antisemitische Positionen sind ein Kennzeichen fast aller rechtsextremistischen Organisationen. Rassismus Die in Deutschland gebräuchliche Verwendung des Begriffes Rassismus nimmt Bezug auf die Rassenideologie des Nationalsozialismus, die die "Selektion" und Vernichtung von Millionen Menschen biologisch begründete. Rassisten leiten aus den genetischen Merkmalen der Menschen eine naturgegebene soziale Rangordnung ab. Sie unterscheiden zwischen "wertvollen und minderwertigen menschlichen Rassen". Neonazismus Der Begriff Neonazismus, eine Abkürzung für Neooder neuer Nationalsozialismus, der häufig fälschlicherweise als Synonym für Rechtsextremismus verwendet wird, steht für Bestrebungen, die sich weltanschaulich auf den historischen Nationalsozialismus beziehen. Hierzu zählen in erster Linie die neonazistischen Kameradschaften. Innerhalb der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) ist der neonazistische Flügel ständig stärker geworden, seitdem sich die Partei gegenüber Freien Nationalisten geöffnet hat. Ausdruck dieser Entwicklung sind die Eintritte zahlreicher führender Protagonisten der Neonaziszene, die zudem Führungsämter in der NPD übernommen haben. 43 Rechtsextremismus Faschismus Die ebenfalls als Synonym für rechtsextremistische Bestrebungen verwendeten Begriffe faschistisch oder neofaschistisch sind in zweifacher Hinsicht ungeeignet. Zum einen handelt es sich um Kampfbegriffe aus den Zeiten des Kalten Krieges, mit denen die Bundesrepublik Deutschland von der DDR in die Tradition des Nationalsozialismus gerückt worden war. Zum anderen verbindet sich mit diesen Begriffen die Vorstellung vom italienischen Faschismus Mussolinis, der als antidemokratische Bewegung ohne Rassismus vom deutschen Nationalsozialismus erheblich abwich. Geschichtsrevisionismus Der Begriff Geschichtsrevisionismus bezeichnet die Leugnung oder Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen und der deutschen Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Revisionistische Positionen sind in unterschiedlicher Ausprägung bei nahezu allen rechtsextremistischen Organisationen nachweisbar. Sie sind ideologisches Bindeglied zwischen den verschiedenen Strömungen des Rechtsextremismus und zugleich ein wichtiges Element der historischen Identitätsstiftung. Der Revisionismus will den historischen Nationalsozialismus zumindest tendenziell rehabilitieren und die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland delegitimieren. Antifeminismus und Frauenfeindlichkeit Insgesamt ist ein tradiertes, rückwärtsgewandtes Frauenbild im Rechtsextremismus vorherrschend, aus welchem sich ein entschiedener Antifeminismus ableitet. Das Frauenbild bzw. die Geschlechterrollen werden dabei in erster Linie durch männliche Akteure definiert. Eine explizite Frauenfeindlichkeit zeigt sich in der Regel dort, wo Frauen den ihnen zubzw. vorgeschriebenen Tugenden und Verhaltensweisen vermeintlich nicht entsprechen. Die im Rechtsextremismus vertretenen Ideologien stehen in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zur Selbstbestimmung von Frauen. Dadurch ergibt sich in weiten Teilen ein Widerspruch zu den gesellschaftlichen Realitäten. Werden Rechtsextremisten mit diesem Widerspruch konfrontiert, führt dies zwangsläufig zu antifeministischen und frauenfeindlichen Reflexen. 44 Rechtsextremismus Antifeministische Einstellungen sind allen rechtsextremistischen Ausprägungen zu einem gewissen Grad inhärent. Dies basiert im Wesentlichen auf der grundlegenden Ablehnung gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse. Sichtbare Emanzipation und die sichtbare Präsenz von Frauen im öffentlichen und politischen Diskurs werden daher von Rechtsextremisten als Gegenentwurf zum Verständnis von Geschlechterrollen empfunden. Gleichwohl bildet Antifeminismus kein zentrales Ideologieelement rechtsextremistischer Weltanschauung. Vielmehr ist diese Einstellung eine Folge des Widerspruchs, in dem die eigene Utopie mit der realen gesellschaftlichen Entwicklung steht. Eine Erscheinungsform des Antifeminismus zeigt sich in dem Phänomen der "Incels"17, die ein Männlichkeitsbild repräsentieren, das unfreiwillig einer sozial und sexuell enthaltsamen Lebensweise unterworfen ist. Die eigenen Positionen drücken sich in fremdenfeindlichen Überzeugungen und in Selbstmitleid bis hin zu der Bekräftigung und Anwendung von Gewalt gegen Frauen aus. 2.3 Aktuelle Entwicklungen im Rechtsextremismus Die Entwicklung des Rechtsextremismus in Niedersachsen stand 2022 erneut im Zeichen der Corona-Pandemie, aber ab Ende Februar auch unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und den damit verbundenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen. Steigende Inflation, kritische Energiesicherheit und die Herausforderungen bei der Versorgung und Unterbringung von vertriebenen und geflüchteten Menschen haben das Demonstrationsgeschehen, die Mobilisierungsfähigkeit und die Aktionsinhalte wesentlich beeinflusst. Im tradierten Rechtsextremismus wirkten die Krisen und ihre Auswirkungen als Katalysator in Bezug auf die bereits in den Jahren zuvor beschriebenen Trends: Marginalisierung der neonazistisch geprägten Parteien "Nationaldemokratische Partei 17 Der Begriff "Incel" entstammt einer Verkürzung der englischen Begriffe "Involuntary celibate", die in etwa mit "unfreiwillig zölibatär" zu übersetzen sind. Hierbei handelt es sich nicht um ein ausschließlich rechtsextremistisches Phänomen. 45 Rechtsextremismus Deutschlands" (NPD) und "Die Rechte", wachsende Heterogenität der neonazistischen Szene und rückläufige Konzertaktivitäten. Der NPD gehören nach kontinuierlichen Verlusten in Niedersachsen mittlerweile nur mehr 200 Mitglieder an, zu Hochzeiten im Jahr 2007 waren es noch 680. Aus dem Mitgliederverlust resultieren organisatorische und strukturelle Probleme. Die NPD ist in den meisten Landesteilen faktisch nicht mehr präsent oder wahrnehmbar. Eine Ausnahme bildet der im Parteibesitz befindliche "Hof Finkenberg" in Eschede (Landkreis Celle).18 Perspektivisch könnte die NPD die Liegenschaft für ein strategisches Zusammenspiel mit anderen neonazistischen Kräften unter ihrer Führung nutzen. Eine Entwicklung zu einem Gemeinschaftsoder Bildungszentrum von überregionaler Bedeutung zeichnet sich derzeit aber nicht ab. Die Sicherheitsbehörden werden das Geschehen in Eschede gleichwohl im engen Kontakt mit den örtlichen Behörden weiterhin aufmerksam verfolgen und analysieren. Auch die mit der neonazistischen Szene verflochtene Partei "Die Rechte" hat in Niedersachsen einen deutlichen Mitgliederverlust zu verzeichnen. Nach einem leichten Zuwachs im Vorjahr kommt sie aktuell nur noch auf 30 Mitglieder. Eine Ursache dürfte die Selbstauflösung des letzten aktiven Kreisverbandes Braunschweig/ Hildesheim sein. Für den Zustand der personell und organisatorisch ausgezehrten Partei auf Bundesebene ist es kennzeichnend, dass der Kreisverband Braunschweig/Hildesheim, von dem innerparteilich keinerlei programmatische oder organisatorische Impulse ausgegangen sind, zuletzt einen der organisatorischen Schwerpunkte gebildet hatte. Sowohl die Partei "Die Rechte" als auch die NPD suchen die Kooperation mit Angehörigen der neonazistischen und der subkulturellen Szene. Solche aktionistischen Allianzen sind aus der Not heraus geboren. Alle Beteiligten versuchen auf diese Weise, ihrer Mitgliederund Mobilisierungsschwäche entgegenzuwirken. Auch die neonazistische Szene, die noch vor wenigen Jahren mit Kameradschaften in fast allen Regionen Niedersachsens präsent war, hat Anhängerpotenzial verloren und ist im Zuge dessen immer heterogener geworden. Die verbliebenen Szeneangehörigen müssen über 18 Siehe hierzu auch Kapitel 2.9 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ", Abschnitt "Aktivitäten der NPD in Niedersachsen". 46 Rechtsextremismus größere räumliche Distanzen Kontakt pflegen, um die Szeneaktivitäten überhaupt nur aufrechtzuerhalten. Die Nachwuchsgewinnung leidet unter der lückenhaften Präsenz in der Fläche. Eine gewisse Ausnahme bildet lediglich der südöstliche niedersächsische Raum, wo die intensivste Vernetzung zu beobachten ist. Als Fazit kann für Niedersachsen festgehalten werden, dass sich der in traditionellen Strukturen organisierte Neonazismus - NPD, die Partei "Die Rechte", neonazistische Kameradschaften - in einer Abwärtsspirale bewegt. Die Bemühungen der handelnden Akteure, die Proteste im Rahmen der Pandemie, des Ukraine-Krieges oder anlässlich steigender Inflation und Energiepreise zu nutzen, konnten diesen Trend nicht stoppen. Dennoch zeigt sich bei den Protesten wie auch in deren virtuellem Umfeld eine Vermischung von Personen aus unterschiedlichen extremistischen Strömungen: von traditionellen Rechtsextremisten über Vertreter der Neuen Rechten und Anhänger der Reichsbürgerszene bis hin zu Personen aus dem Spektrum der sogenannten Corona-Leugner und Querdenker. Die Dimension und die Radikalisierung des Protestgeschehens können nur nachvollzogen werden, wenn die diversen Informationsund Kommunikationsmöglichkeiten des Internets in die Analyse einbezogen werden. Für Rechtsextremisten und Reichsbürger bilden die im heterogenen Protestmilieu grassierenden Verschwörungstheorien zwar Ansatzpunkte zur ideologischen Einflussnahme; sie konnten das Geschehen aber zu keinem Zeitpunkt dominieren. Vor allem in den Sozialen Medien zeigt sich jedoch, dass ihre Narrative verbreitet werden und damit Einfluss auf Teile des Protestmilieus genommen wird. Die Proteste selbst dienen in der Gesamtschau aber nicht als Sprachrohr von Rechtsextremisten und Reichsbürgern, sie dienen vielmehr der Vernetzung und dem ideologischen Austausch. Die unterschiedlichen Szenen vermischen sich zunehmend und befruchten sich gegenseitig. Nicht nur Rechtsextremisten und Reichsbürger beeinflussen das Protestmilieu, so werden die Verschwörungstheorien des verfassungsschutzrelevanten Teils des Protestmilieus auch von Angehörigen anderer extremistischer Szenen übernommen. Bei diesem Teil des Protestmilieus muss von einem Extremismus eigener Art (Extremismus sui generis) gesprochen werden. Personen, die dem Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" 47 Rechtsextremismus zugeordnet werden, kennzeichnet die fundamentale Ablehnung des demokratischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, ohne dass sie ein reichsbürgertypisches und/oder rechtsextremistisches Alternativmodell, etwa eine Volksgemeinschaft oder einen ethnisch homogenen Nationalstaat, anstreben. Diese destruktiv-extremistische Position der fundamentalen Ablehnung trifft insbesondere bei den Anhängern der Reichsbürgerszene auf Zustimmung, die ihren radikalisierenden Einfluss auf das Demonstrationsgeschehen mit Fortdauer der Proteste ausdehnen konnten. Neben Corona treten zunehmend andere Themenfelder in den Fokus der Proteste. Insbesondere der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die deutsche Energieversorgung und die Preissteigerung werden von den extremistischen Teilen der Proteste gleichfalls zur Delegitimierung des Staates genutzt. Neben legitimer Kritik wird von Teilen des Protestmilieus versucht, ihre verfassungsfeindliche Agitation über diese neuen Themenfelder zu verbreiten. Die Möglichkeit eines da raus resultierenden "Wut-Winters" wurde von radikalen Teilen der Szene und auch von rechtsextremistischen Akteuren kontinuierlich herbeigesehnt. In Niedersachsen hat sich jedoch keine weitere Radikalisierung der Protestformen gezeigt. Den Resonanzraum Internet wissen auch neurechte Strömungen, die vom Komplex des neonazistischen und gewaltbereiten Rechtsextremismus zu unterscheiden sind, propagandistisch zu nutzen. Neurechte Strömungen betreiben unter Beibehaltung der institutionellen Formen des demokratischen Rechtsstaats eine Umwertung seiner normativen Grundlagen. Eine ideologische Allianz, zu der Internet-Plattformen wie PI-News, Organisationen wie die "Identitäre Bewegung" ebenso wie neurechte Autoren und Verlage gehören, ist bemüht, die Diskurshoheit zu erringen und Begriffe zu bestimmen, indem z. B. der Islam mit Islamismus systematisch gleichgesetzt oder der Begriff Flüchtling mit ausschließlich negativen Assoziationen verwendet wird. Die ausgiebig genutzte Möglichkeit, entsprechende Positionen über das Internet zu verbreiten, hat den Wirkungsradius und die Wirkmacht neurechter Akteure deutlich vergrößert. Neurechte Ideologen greifen bestehende Vorurteile auf und versuchen, diese zu verstärken. Sozialwissenschaftler bezeichnen diese Entwicklung als "Radikalisierung von Ressentiments". 48 Rechtsextremismus Die Vertreter der Neuen Rechten19 sind bemüht, eine aufgeheizte, zum Teil hasserfüllte Stimmung, wie sie sich in vielen Foren und Chatgruppen zeigt, mit verschwörungstheoretischen Erklärungsansätzen vom vermeintlich drohenden Volkstod oder einem angeblich geplanten Bevölkerungsaustausch ideologisch zu kanalisieren. Ihre Argumentation in Kategorien der Ungleichwertigkeit ist ungleich subtiler als die offen rassistische, sozialdarwinistische und antisemitische Propaganda der Neonazis. Hinter dem von ihnen vertretenen ethnopluralistischen Ansatz verbirgt sich erst bei genauerer Betrachtung ein Homogenitätsdenken, das Individualrechte und die realen gesellschaftlichen Verhältnisse negiert. In neurechten Theorien bildet die ethnische Zugehörigkeit die zentrale Bezugsgröße und nicht die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte. Konsequenterweise wird die Einzelperson nach ihrer ethnischen Gruppenzugehörigkeit und nicht nach ihrer Individualität bewertet. Zwischen den Ethnien wiederum bestünden Rangunterschiede, wie sich am Beispiel abwertender Äußerungen, insbesondere über arabische und türkische Muslime, nachweisen lässt. In einer Gesamtbetrachtung entlarvt sich der ethnopluralistische Ansatz somit als ein kulturrassistisches Konstrukt. Die Szene der "Reichsbürger und Selbstverwalter" stagniert in Niedersachsen bei 900 Personen, darunter 50 Rechtsextremisten. Sie stellt keine homogene Bewegung dar und setzt sich vielmehr aus autark handelnden Einzelpersonen sowie aus kleinen Gruppen zusammen, die sich in ihrem Wesen zum Teil deutlich unterscheiden. Das Spektrum erstreckt sich über esoterisch geprägte Gruppierungen, über völkisch-traditionalistisch geprägte Gruppen bis hin zu rechtsextremistisch ausgerichteten Zusammenschlüssen. Dass innerhalb der Szene ein gewisses Gewaltpotenzial vorhanden ist, haben in der Vergangenheit mehrere Fälle gezeigt, bei denen es zu Gewaltandrohungen und zur Ausübung tatsächlicher körperlicher Gewalt durch Reichsbürger gekommen ist. Exemplarisch seien hier die Schusswechsel von Reichsbürgern mit der Polizei in Bayern und Sachsen-Anhalt genannt, bei denen am 19.10.2016 im bayerischen Georgensgmünd (Landkreis Roth) ein Polizeibeamter von einem Reichsbürger erschossen wurde. Auch in Niedersachsen ist es bereits 19 Siehe hierzu auch Kapitel 2.6 "Identitäre Bewegung Deutschland". 49 Rechtsextremismus vorgekommen, dass sich Reichsbürger mit körperlicher Gewalt, zum Teil auch unter Einsatz von Waffen, gegen staatliche Maßnahmen gerichtet haben. Eine neue Dimension des Phänomens stellt jedoch die am 07.12.2022 aufgedeckte Gruppierung aus dem Reichsbürgermilieu dar, deren Ziel es war, den "Systemsturz" der Bundesrepublik Deutschland unter Einsatz von Waffengewalt herbeizuführen. Bei den Durchsuchungsmaßnahmen in elf Bundesländern sowie in Italien und Österreich wurden 25 Haftbefehle vollstreckt, die gegen 22 Beschuldigte und drei Unterstützer verhängt worden waren. Unter den verhafteten Beschuldigten befanden sich drei Personen aus Niedersachsen. Hintergrund ist ein Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung gegen insgesamt 54 Beschuldigte. Das Ermittlungsverfahren findet im Jahr 2023 seine Fortsetzung und wird möglicherweise weitere exekutive Maßnahmen nach sich ziehen. Die bislang vorliegenden Erkenntnisse zu dem Fall bestätigen die Analyse des Niedersächsischen Verfassungsschutzes 20, wonach sich zunehmend eine neue gewaltorientierte Mischszene herausbildet. Reichsbürgerideologien, rechtsextremistische Narrative und Verschwörungserzählungen aus dem Bereich der Delegitimierung des Staates sind von den Beschuldigten klar geäußert worden. Sie zeigen, dass die Grenzen zwischen den Phänomenbereichen zunehmend verschwimmen. Diese Mischszene nutzt dabei insbesondere Verschwörungstheorien als Scharnierfunktion. An dem vorliegenden Fall zeigt sich sehr deutlich, dass von dieser Mischszene eine reale Gefahr ausgeht. Den Verfassungsschutz wird deshalb die Frage beschäftigen, in welche Richtung sich das dahinterstehende Personenpotenzial entwickelt. Fazit: Die bereits in den letzten Jahren beschriebene strukturelle Veränderung des Rechtsextremismus schreitet weiter voran. Tradierte Organisationsformen, die die Wahrnehmung des Rechtsextremismus 20 Siehe hierzu die Internetseite des Niedersächsischen Verfassungsschutzes, "Aktuelle Meldungen" vom 21.12.2021, "Analyse des Niedersächsischen Verfassungsschutzes: Die Vermischung von Corona-Leugnern, Reichsbürgern und Rechtsextremisten führt zu einer gefährlichen Radikalisierung der Corona-Leugnerund Querdenken-Bewegung" (zuletzt aktualisiert am 17.01.2022). 50 Rechtsextremismus jahrelang bestimmt haben, verlieren zunehmend an Bedeutung. Der Strukturwandel ist wesentlich auf veränderte Kommunikationsformen und damit einhergehende veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen zurückzuführen. Die Wirkmacht rassistischer, antisemitischer und fremdenfeindlicher Positionen bleibt davon unberührt. Sie kommt in anderen, zum Teil fluiden und temporären Organisationsund Aktionsformen zum Ausdruck und wird damit unberechenbarer. Allein die Sozialisierung von potenziellen Gewalttätern in traditionellen rechtsextremistischen Organisationen steht nicht mehr im Vordergrund. Mindestens von ebenso großer Bedeutung sind Radikalisierungsprozesse, die sich unter dem Einfluss des Internets vollziehen. Sie können mit den Begriffen Enthemmung (ausufernder Hass) und Entgrenzung (Aufweichung der Grenzmarkierung zwischen nicht-extremistischem und extremistischem Protest) beschrieben werden. Die Sicherheitsbehörden stehen vor der Herausforderung, ihr prognostisches Instrumentarium und ihre Aufklärungsmethodik dieser Entwicklung permanent anzupassen. Auf der anderen Seite wird der demokratische Rechtsstaat von ex tremistischen neurechten Strömungen herausgefordert, die darauf ausgerichtet sind, seine normativen Grundlagen zu unterminieren, ohne auf das Mittel der physischen Gewalt zurückzugreifen. Das veränderte Kommunikationsund Informationsverhalten ist auch für diese Strömungen ein entscheidender Faktor, um in die Gesellschaft hineinzuwirken und den vorpolitischen Raum zu besetzen. Neurechte Autoren geben Vorurteilen und Ressentiments einen ideologischen Legitimationsrahmen. Präventionsmaßnahmen müssen deshalb bereits auf der Einstellungsebene, bei der Vorurteilsbildung ansetzen, wenn die Verbreitung von demokratiefeindlichen Positionen eingehegt werden soll, die im schlimmsten Fall zu einem Kreislauf von Hasspropaganda und Gewaltanwendung führen kann. Bei der Analyse des neuen Beobachtungsfeldes "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" wird der Frage nachzugehen sein, ob Rechtsextremisten und Reichsbürger der fundamentalen Systemablehnung und der destruktiv-gewaltbereiten Form dieses Extremismus eine ideologische Stoßrichtung geben können. Einflussversuche und eine Vermischung der Szene mit Rechtsextremisten und Reichsbürgern sind bereits jetzt zu 51 Rechtsextremismus konstatieren. Insbesondere die gewaltbereiten Teile der Bewegung zeigen sich für die Übernahme von reichsbürgertypischen und teils rechtsextremistischen Ideologien offen. Die ersten Erkenntnisse aus dem Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts gegen eine mutmaßlich terroristische Vereinigung aus dem Reichsbürgermilieu und die daraus erfolgten Exekutivmaßnahmen im Dezember 2022 weisen in diese Richtung. "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" Die Corona-Pandemie hat sich im Jahr 2022 fortgesetzt, wobei der Protest gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie insbesondere im Frühjahr noch erhebliche Demonstrationspotenziale mobilisieren konnte. Die teils aufgeheizte Stimmung auf den Demonstrationen nahm mit den Lockerungen der Schutzmaßnahmen im Sommer ab und damit auch die Zahl der Demonstrationen. Erst gegen Ende des Jahres erfuhren die weiterhin stattfindenden Demonstrationen von Impfgegnern, Querdenkern und Corona-Leugnern wieder größeren Zulauf. Eine befürchtete Radikalisierung der Protestformen und ein damit einhergehender "Wut-Winter" sind jedoch ausgeblieben. Die Protestszene verfolgte die Strategie, auf die zurückgehende Brisanz der Pandemie zu reagieren und neue Themen einzubinden. Vermehrt wurden der Ukraine-Krieg, die Sanktionen gegen Russland und die daraus resultierende Steigerung der Energiekosten thematisiert. Die Themen der Proteste wurden lediglich erweitert, während sowohl die Organisatoren als auch die Protestierenden in weiten Teilen identisch blieben. Bereits vorhandene und verschwörungstheoretisch begründete Feindbilder wurden den neuen Themen angepasst, um sich dieser langfristig und auch nach Ende der Corona-Pandemie bedienen zu können. Bundesweit versuchten Rechtsextremisten und Reichsbürger wiederholt, die Demonstrationen für ihre eigenen Ziele zu nutzen. In Niedersachsen hat sich die Teilnahme von Rechtsextremisten und Reichsbürgern auf den Demonstrationen verstetigt, um eine Entgrenzung zu forcieren und neue Personenpotenziale zu erschließen. Insgesamt sind Rechtsextremisten noch immer nicht prägend für die Demonstrationen, allerdings fallen zunehmend Berührungsängste der Organisatoren und auch der Teilnehmenden. Gleiches gilt für entsprechende Chatgruppen in Sozialen Medien. Die Toleranz 52 Rechtsextremismus gegenüber radikalen Äußerungen führt dazu, dass im Internet sowohl extremistische Informationsangebote als auch antisemitisch konnotierte Verschwörungstheorien widerspruchslos akzeptiert und letztlich übernommen werden. In den virtuellen Filterblasen sozialer Medien mit lediglich gleichgesinnten Nutzern werden eigene Sichtweisen bestätigt und nicht mehr kritisch hinterfragt. Die inzwischen etablierten Einflüsse der unterschiedlichen extremistischen Szenen bilden dabei zunehmend eine Mischszene heraus. Durch verschiedene, vor allem in einschlägigen virtuellen Gruppen und Netzwerken verbreitete Verschwörungstheorien, werden fortlaufend die bereits bestehenden Feindbilder für neue Ereignisse verantwortlich gemacht, um die eigenen Ziele voranzutreiben. Es wird dazu aufgerufen, die "staatlichen Verschwörer" bzw. das "korrupte System" zu stürzen. Das extremistische Personenpotenzial der Szene, aber auch andere Anhänger der Proteste befinden sich zum Teil tief in virtuellen, verschwörungstheoretisch geprägten Filterblasen, in denen vermehrt reichsbürgertypische Argumente und rechtsextremistische Narrative verbreitet werden. Diese Menschen informieren sich lediglich in sogenannten alternativen Medien und kommunizieren nur noch über bestimmte soziale Netzwerke wie den Messenger-Dienst Telegram. Für diese Menschen wird es in der Folge zunehmend schwieriger, sich von den verbreiteten Fake-News und Verschwörungstheorien abzuwenden. In ihrer Rhetorik ist immer wieder von einem "Tag X" die Rede, an dem die öffentliche Ordnung gekippt und ein gewaltsamer Umsturz herbeigeführt werden soll. Als Rechtfertigung ihres Verschwörungsglaubens wird von "Corona-Diktatur" gesprochen und der Bundesregierung vorgeworfen, sie stehe nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Um das eigene "wehrhafte" Verhalten als einen angeblich legitimen Widerstand zu rechtfertigen und sich selbst als Opfer eines vermeintlichen Unrechtsstaates zu inszenieren, ist wiederholt die Relativierung des DDR-Regimes ("DDR 2.0") wie auch des historischen Nationalsozialismus festzustellen. Impfverweigerer bezeichnen sich etwa als "die neuen Juden" und stigmatisieren sich vermeintlich selbst durch das Tragen eines gelben Davidsterns mit der Aufschrift "ungeimpft" bzw. "nicht geimpft". Die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine werden ebenfalls umgedeutet und als Plan einer verschworenen 53 Rechtsextremismus "Elite" dargestellt, die die deutsche Wirtschaft zerstören wolle und einen Genozid am deutschen Volk plane. Gerade die radikalen Teile des Protestmilieus zeigen sich zunehmend anfällig für Narrative anderer extremistischer Szenen. Dies im Zusammenspiel mit den Anknüpfungsversuchen von Rechtsextremisten und Reichsbürgern sorgt für eine zunehmende personelle und ideologische Vermischung. Insbesondere die Kooperation verschiedener Szenen stellt die deutschen Sicherheitsbehörden vor besondere Herausforderungen. Bei klandestin vorbereiteten Umsturzversuchen und terroristischen Anschlagsplanungen zeigen sich diese Schnittmengen aus unterschiedlichen extremistischen Strömungen. So wurde die geplante Entführung des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach maßgeblich durch Verschwörungstheorien über die Corona-Pandemie legitimiert und von Personen aus eben jener Mischszene geplant. Angesichts der sich inzwischen verstetigten Kooperation radikalisierter Personen besteht hier weiterhin ein Gefährdungspotenzial. Der Niedersächsische Verfassungsschutz hat die Entwicklungen von Beginn an sehr genau beobachtet. In der fortlaufenden Analyse des Verdachtsobjektes "Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates" wird in Niedersachsen auch der neu entstandenen Mischszene Rechnung getragen. Zu dieser zählen aktuell neben Rechtsextremisten und Reichsbürgern auch sogenannte Corona-Leugner und Querdenker, wobei die COVID-19-Pandemie und ebenso der Ukraine-Krieg lediglich als willkommene Mobilisierungsthemen dienen, um der eigenen grundsätzlichen Demokratiefeindlichkeit Ausdruck zu verleihen. Insbesondere radikalisierte Einzelpersonen und Gruppen vernetzen sich weiterhin untereinander, und es steigt die Gefahr der Herausbildung weiterer klandestiner Gruppierungen. Auf der Grundlage von Verschwörungstheorien werden der Bundesrepublik Deutschland sowie den Bundesländern und deren Vertretern ihre Rechtmäßigkeit abgesprochen und Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abgelehnt. In dieser Mischszene besteht für Extremisten auch jenseits der Gründung terroristischer Gruppierungen eine Möglichkeit, Einfluss auf noch nicht radikalisierte Personen zu nehmen und die Entgrenzung des Extremismus weiter voranzutreiben. Verschwörungstheorien haben hierbei eine Scharnierfunktion und bilden das gemeinsame Fundament für die ideologisch unterschiedlichen Teilgruppen. Der Zugang, etwa 54 Rechtsextremismus über den Messenger-Dienst Telegram, ist niedrigschwellig. Die Inhalte dienen als Bindeglied zwischen Extremisten und Nichtextremisten. Zum Teil werden die Inhalte auch von politischen Parteien aufgegriffen, um die geäußerten Sorgen und Ängste noch zu schüren und nach Möglichkeit in die eigenen Bahnen zu lenken. 2.4 Rechtsextremistische Musikszene Gründung/ 1980er Jahre Bestehen seit Struktur/ Heterogenität der organisatorisch nicht gefestigten subkulturellen Repräsentanz rechtsextremistischen Szene; eine Ausnahme bilden die "Hammerskins" mit einem festen hierarchischen Aufbau; viele Szeneangehörige im jugendlichen Alter Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: 590 Unterstützer Veröffentlichungen Publikationen: CD-Veröffentlichungen, Fanzines; Web-Angebote: Online-Versände, Bekanntmachung von Konzertterminen über Foren, Veröffentlichungen von Videos Kurzportrait/Ziele Der subkulturelle Bereich im Rechtsextremismus ist hauptsächlich von szenetypischer Musik und einem damit verbundenen - nicht selten gewaltorientierten - Lebensstil geprägt. Dabei zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, dass die subkulturelle Szene an eigenständiger Bedeutung verloren hat. Sichtbar wird dieser Wandel vor allem in dem fast vollständigen Verschwinden rechtsextremistischer Skinheads aus dem öffentlichen Straßenbild, die in den 1980er und 1990er Jahren die gewaltbereite rechtsextremistische Szene maßgeblich geprägt hatten. Zu beobachten sind stattdessen informelle, eher strukturlose Gruppen oder Personenzusammenschlüsse, die kaum regelmäßige Aktivitäten entfalten, die keinen festen Mitgliederstamm haben und die nur sporadisch auf sich aufmerksam machen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen des Rechtsextremismus sind daher fließend und verschwommen, sodass eine Unterscheidung nach trennscharfen Kriterien immer schwieriger wird. Rechtsextremistische Einstellungsmuster sind von größerer Bedeutung als die organisatorische 55 Rechtsextremismus Anbindung an eine bestimmte Gruppierung. In der von Männern dominierten Szene spielen Frauen eine untergeordnete Rolle, auch wenn diese nicht zu vernachlässigen ist und in ihrer Bedeutung für die subkulturelle Szene nicht unterschätzt werden darf. Die fremdenfeindliche Grundeinstellung von subkulturell geprägten Rechtsextremisten kommt dabei unreflektiert, häufig spontan und gewaltsam zum Ausdruck. Sie wird ausgelebt und nicht ideologisch im Sinne eines politischen Ansatzes überhöht. Eine wichtige Rolle spielt hier die rechtsextremistische Musik mit ihrer aufputschenden Wirkung. Sie vermittelt Feindbilder, aber keinen politischen Ansatz. Rechtsextremistische Musik ist zugleich ein wesentlicher Faktor für die Ausprägung eines Gemeinschaftsgefühls bei den Szeneangehörigen. Rechtsextremistische Parteien nutzen rechtsextremistische Bands und Liedermacher, um ihre Veranstaltungen für ein jüngeres Publikum attraktiver zu gestalten. In Niedersachsen allerdings ist auch aufgrund der politischen wie organisatorischen Schwäche der rechtsextremistischen Parteien eine derartige Feststellung nicht zu treffen. Allgemein hat die Musik jedoch den Zweck, rechtsextremistische Ideologie - auch an Außenstehende - zu vermitteln. Die Liedinhalte formulieren in plakativer, häufig hetzerischer Form die rassistische, fremdenfeindliche und antisemitische Einstellung der Szeneangehörigen. Die Bandbreite rechtsextremistischer Musik erstreckt sich von Black Metal über Schlager bis zu Balladenmusik. Daneben haben die Stilrichtungen Rap und Hip-Hop an Akzeptanz gewonnen, insbesondere bei Angehörigen der "Identitären Bewegung". Den größten Zuspruch innerhalb der subkulturellen Szene erfährt unverändert die Stilrichtung Rock against Communism (RAC). Finanzierung Verkauf von rechtsextremistischen Tonträgern sowie Handel mit Devotionalien, darunter Kleidung, die mit rechtsextremistischen Aussagen bedruckt ist. Handel und Verkauf dienen teilweise ausschließlich wirtschaftlichen Interessen, während Einnahmen aus Musikveranstaltungen mitunter Aktivitäten finanzieren. 56 Rechtsextremismus Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Beobachtungswürdigkeit ergibt sich aus der fremdenfeindlichen Grundeinstellung und aus der Gewaltanwendung oder der Bereitschaft zur Gewalt, die für subkulturell geprägte Rechtsextremisten einen Ausdruck von Männlichkeit und Dominanz darstellt. Gewalt wird insbesondere unter Alkoholeinwirkung zuweilen hemmungslos, brutal und meistens spontan ausgelebt. Auch die Liedtexte rechtsextremistischer Musik fördern gewaltorientierte Aktivitäten; sie transportieren Gewaltphantasien, Aufrufe zu Gewalt oder vermitteln Feindbilder. Von eingängigen oder aufputschenden Melodien getragen können die Liedtexte eine suggestive Wirkung entwickeln. Hiermit richten sich subkulturell geprägte Rechtsextremisten gegen die im Grundgesetz verbrieften Freiheits-, Gleichheitsund Menschenrechte (Art. 1 - 4 GG) sowie gegen den demokratischen Rechtsstaat (Art. 20 GG). Damit sind sie verfassungsfeindlich; ihre Beobachtung richtet sich nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Rechtsextremistische Musikszene Rechtsextremistische Musik ist für die subkulturelle Szene von einem hohen werbestrategischen Stellenwert. Gleiches gilt für die neonazistische Szene und für die rechtsextremistischen Parteien NPD, "Die Rechte" und "Der III. Weg". Musik bietet einen ersten leicht zu konsumierenden Zugang zu rechtsextremistischen Themen und Weltbildern. Damit ist rechtsextremistische Musik ein wesentlicher Faktor für die Ausprägung eines Gemeinschaftsgefühls bei den Szeneangehörigen und dient darüber hinaus dem Zweck, rechtsextremistische Ideologien - auch an Außenstehende - zu vermitteln. In einem Interview für die 1. Ausgabe 2022 des Szene-Fanzines "Frontmagazin" erklärte der in Meppen ansässige rechtsextremistische Musiker Daniel Giese auf die Frage, welchen Wert die Musik für den "alltäglichen politischen Kampf" habe: "Sie hat nach wie vor einen großen Wert, auch wenn sich die Umstände und Zeiten ständig ändern ... Bedenkt man neben der Politisierung nur einmal die Freundschaften, Verbindungen, Beziehungen und Kontakte, die sich weltweit durch die Musik entwickelt haben, ist das enorm." (Interview mit Daniel Giese, Frontmagazin Ausgabe Nr. 1/2022) 57 Rechtsextremismus Aufgrund der allgemeinen staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie konnte die rechtsextremistische Musikszene auch im Jahr 2022 dieser Funktion im Veranstaltungswesen nur bedingt nachkommen. Dagegen weist die Anzahl der Zugriffe auf rechtsextremistische Musikvideos im Internet sowie die Präsenz rechtsextremistischer Musik in den Sozialen Medien darauf hin, dass die Verbreitung der Musik weit über das registrierte rechtsextremistische Personenpotenzial hinausreicht. Besonders angesprochen fühlen sich Jugendliche, die ihre soziale Situation in den Liedtexten widergespiegelt finden und die nach Integration in eine Gruppe Gleichgesinnter streben. Die Konfrontation mit rechtsextremistischer Musik kann den Beginn einer Entwicklung markieren, in deren Verlauf sich Jugendliche zunehmend mit der rechtsextremistischen Szene identifizieren. Die Auseinandersetzung mit der rechtsextremistischen Musik ist deshalb seit mehreren Jahren ein Schwerpunkt der präventiven Verfassungsschutzarbeit. 21 In der rechtsextremistischen Musikszene dauert das Aufgreifen einzelner Themenkomplexe, die als zentrale Elemente der rechtsextremistischen Ideologie zu verstehen sind, fort. Die nachfolgenden Beispiele dokumentieren, dass diese Einschätzung auch für Neuproduktionen Bestand hat. Anzumerken ist dabei, dass mittels sprachlicher Unschärfe ein größerer Spielraum für die Interpretation einzelner Aussagen gelassen wird. Diese Vorgehensweise dient den Szeneangehörigen als Möglichkeit, Verbote und Indizierungsentscheidungen zu erschweren. Zentral stehen häufig systemund kapitalismuskritische Aussagen, die mit antisemitischen oder fremdenfeindlichen Botschaften verbunden werden. Auf dem Tonträger "Kapitel Zwei" (2022) der sächsischen Band "Entropie" werden in dem Lied "Ad Absurdum" beispielsweise die Begriffe "schnöder Mammon" und "Puppenspieler" als antisemitisch konnotierte Begriffe für die angebliche jüdische Einflussnahme auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen verwendet: 21 Siehe Kapitel 6 "Prävention". 58 Rechtsextremismus "80 Millionen schwimmen mit dem Strom, die oberen 1000 werden dafür belohnt. In Nadelstreifen auf dem Festbankett, hinter verschlossenen Türen fressen sie sich fett. Die vielen Milliarden, von fremdem Geld, verteilen sie großzügig in der ganzen Welt. Ihre Gesetze sichern ihren Stand, Rechtsbeugung global hinter vorgehaltener Hand. Der schnöde Mammon dieser Welt, wie ein Puppenspieler hält die Menschlein er arm und dumm, Regierungen ad absurdum." Die Band "B-Werk" veröffentlichte auf der CD "Das Ende naht" (2022) das Lied "Bewahre deine Identität", mit dem die Ablehnung von Globalisierung und Migrationsbewegungen sowie des grundgesetzlich verbrieften Gleichheitsgebotes aus Artikel 3 Abs. 1 des GG zum Ausdruck gebracht werden. Darin heißt es: "Die neue Weltordnung zieht die Zügel weiter an, Replacement Migration als Waffe gegen unsere Art. Wir sind ein Dorn im Auge für ihr Gleichheitsdogma, tagtäglich üben sie am Volke Hochverrat." Die Produzenten solcher Musik lassen Tonträger vor der Veröffentlichung durch Rechtsanwälte auf mögliche Rechtsverstöße überprüfen, um Indizierungsmaßnahmen, strafrechtliche Verfahren und damit einhergehende finanzielle Verluste zu vermeiden. Strafrechtlich relevante CDs, deren Anteil weniger als zehn Prozent beträgt, werden bis auf wenige Ausnahmen im Ausland produziert. Nach wie vor erscheinen Tonträger, die nur szeneintern und nicht über offen zugängliche Szenevertriebe verkauft werden. Da eine Strafverfolgung hier fast nicht möglich ist, äußern die Bandmitglieder in den Texten offen ihr fremdenfeindliches, antisemitisches und rassistisches Gedankengut. Häufig wird offen zu Gewalt gegen die von der Szene als Feinde betrachteten Personen aufgerufen oder sie werden anderweitig bedroht. Derartige Tonträger werden von der Bundeszentrale für Kinderund Jugendmedienschutz (BzKJ)22 regelmäßig geprüft und ggf. als jugendgefährdend und möglicherweise strafrechtlich relevant bewertet und indiziert. 22 Ehemals Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM), Umbenennung zum 01.05.2021. 59 Rechtsextremismus Immer häufiger werden neue Tonträger kurz nach ihrer Veröffentlichung in Download-Portalen oder in sozialen Netzwerken im Internet angeboten und gratis zur Verfügung gestellt. Diese Entwicklung bietet zwar einerseits die Möglichkeit, über die Szene hinaus einen größeren Verbreitungsgrad von rechtsextremistischer Musik zu erreichen. Andererseits führt das kostenfreie Herunterladen aus dem Internet zu finanziellen Einbußen der betroffenen Bands und Musiker, die wiederum befürchten, weniger CDs zu verkaufen und die Produktionskosten nicht mehr decken zu können. Hierzu veröffentlichten im Jahr 2022 mehrere rechtsextremistische Produzenten und Musiker, darunter die niedersächsische Band "Gassenraudi", folgende gemeinsame Erklärung: "Ihr fallt Bands und den Labels in den Rücken! ... Neue Musik auf Saugseiten oder Kanälen ... hochzuladen ist wirklich das Letzte!" (Veröffentlicht auf dem Telegram-Kanal der Band, abgerufen am 18.10.2022) Um dem entgegenzuwirken und dem Nutzerverhalten insbesondere der jungen Hörerschaft entgegenzukommen, versuchen rechtsextremistische Musiker über kostenpflichtige Streaming-Dienste ihre Tonträger zu verbreiten. Bei mehreren gängigen Anbietern solcher Dienste finden sich daher Veröffentlichungen rechtsextremistischer Musiker. Dieses erleichtert den Zugang zu einschlägiger Musik und trägt zu einer Vertrautheit mit der Perspektive des Rechtsextremismus auf diverse Themenfelder bei. War früher die Teilnahme an rechtsextremistischen Musikveranstaltungen häufig der Einstieg in die rechtsextremistische Szene, genügt heute das weitreichende Angebot der Streaming-Dienste und Videoportale aus, ohne dass es hierfür zunächst eines Kennverhältnisses zu Szeneangehörigen bedarf. Die Anzahl rechtsextremistischer Musikgruppen hat sich bundesweit in den letzten Jahren kaum verändert. Dabei handelt es sich nicht um einen permanent gleichbleibenden Kreis von Musikgruppen. Viele Bands bestehen nur für kurze Zeit. Mitunter finden sich Mitglieder rechtsextremistischer Bands unter neuem Namen einmalig für Musikprojekte zusammen. Wegen der in der Corona-Pandemie stark eingeschränkten Auftrittsmöglichkeiten verlagerten 60 Rechtsextremismus sie den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten in die Produktion neuer Tonträger. Bundesweit fanden 35 rechtsextremistische Konzerte (2021: 18) statt. Deren regionaler Schwerpunkt lag in Sachsen. In Niedersachsen gab es lediglich zwei Balladenabende. 23 Mit der Rücknahme der Beschränkungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie konnte, insbesondere in der zweiten Jahreshälfte, ein zahlenmäßiger Anstieg von Musikveranstaltungen festgestellt werden. Diese Steigerung lässt darauf schließen, dass in den nächsten Jahren wieder ein annähernd vorpandemisches Niveau zu erwarten ist. Die in Deutschland zumeist konspirativ organisierten rechtsextremistischen Musikveranstaltungen werden durchschnittlich von 100 bis 150 Personen besucht. Die Ankündigungen für diese Konzerte erreichen in der Regel nur Szeneangehörige, sodass eine Werbewirkung für Interessierte ohne Szenebezug nahezu ausgeschlossen ist. Der Trend zu rechtsextremistischen Großveranstaltungen mit Musikdarbietungen namhafter Szenebands und Wortbeiträgen einschlägiger Redner hat sich im Zuge der Corona-Pandemie nicht fortsetzen können. Derartige Veranstaltungen sind als politische Kundgebungen angemeldet und lassen sich daher nur schwer verhindern. Wegen des erhöhten Organisationsaufwandes und des finanziellen Risikos sind die Organisatoren in diesen Fällen bereit, die Veranstaltung bei den Ordnungsbehörden anzumelden und die staatlichen Auflagen, bis hin zu einem generellen Alkoholverbot, einzuhalten. Eine solche politische Kundgebung sollte die vierte Auflage des "Schild & Schwert"-Festivals in Ostritz (Sachsen) sein. Die bereits seit dem Jahr 2020 geplante Veranstaltung war erstmalig in das Folgejahr und von dort in das Jahr 2022 verschoben worden. Wegen angedrohter staatlicher Maßnahmen entschied sich der Veranstalter von der Durchführung abzusehen, zugleich kündigte er erneute Planungen für das Jahr 2023 an. Rechtsextremistische Musik in Niedersachsen Im Jahr 2022 waren drei niedersächsische Musikgruppen aktiv. 23 Siehe Abschnitt "Rechtsextremistische Konzerte und Liederabende in Niedersachsen". 61 Rechtsextremismus "Stahlgewitter" / "Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten" / "Zillertaler Virenjäger" Unter dem Namen "Zillertaler Virenjäger" veröffentlichte Daniel Giese zusammen mit anderen Rechtsextremisten den Tonträger "Endzeit Party". Die Liedtexte greifen aktuelle Themen auf, die aus einer rechtsextremistischen Perspektive zynisch dargestellt werden. In dem Lied "Untergang" bringt Giese etwa seine Ablehnung demokratischer Grundprinzipien zum Ausdruck: "In den schönen freien Wahlen, die man euch garantiert, entscheidet stets die Mehrheit, doch die wird manipuliert. Sie spucken auf die Wahrheit, lügen euch ins Angesicht, wer denen noch eine Stimme gibt ist eh nicht mehr ganz dicht. Hey alter Mann, das ist krank, Irrenhaus ein Leben lang. Das ist wirklich kranker als krank, der pure Untergang." Veröffentlichungen seiner Bandprojekte werden regelmäßig auf Videoportalen hochgeladen und von den Nutzern positiv kommentiert. Der nachfolgende Kommentar auf einem Videoportal zu dem Lied "Fahrt zur Hölle", welches ebenfalls auf dem zuvor genannten Tonträger erschienen ist, verdeutlicht den Personenkult, der um Giese betrieben wird: "Bin immer wieder froh von Gigi zu hören. Hoffentlich kommt bald die nächste Stahlgewitter" [sic!]. (veröffentlicht von einem User auf Youtube.com, abgerufen am 01.12.2022) Die verschiedenen Projekte Gieses finden seit vielen Jahren große Beachtung in der rechtsextremistischen Szene. Dies betrifft sowohl die durchaus versierten musikalischen Darbietungen als auch die rechtsextremistischen Texte, die sich zuweilen an der Grenze der Strafbarkeit bewegen. "Hannes" / "Kategorie C" / "Nahkampf" Die Bands "Nahkampf" und "Kategorie C" waren personenidentische Projekte um den Sänger Hannes Ostendorf aus Lilienthal (Landkreis Osterholz), der diese zum Ende des Jahres 2019 vermeintlich 62 Rechtsextremismus aufgelöst hatte. Während die Texte der Band "Kategorie C" oftmals eher unpolitisch sind und der Fußballbezug sowie die Gewaltbereitschaft von Hooligans im Vordergrund stehen, bilden bei den Texten der Band "Nahkampf" politische Themen den Schwerpunkt. Seit der Beendigung der beiden Bandprojekte ist Ostendorf als Liedermacher "Hannes" in der rechtsextremistischen Musikszene aktiv, wobei seine Auftritte oftmals weiterhin als Auftritte von "Kategorie C" beworben werden. Der szeneinterne Bekanntheitsgrad der Band wird dafür genutzt, eine weitreichende Werbewirkung für die Veranstaltungen zu erzielen. Dennoch nehmen an den Liederabenden selten mehr als 50 Personen teil. Nachdem Ostendorf entgegen der verkündeten Bandauflösungen zunächst im Jahr 2021 aufgrund des 33-jährigen Jubiläums seines Projektes "Nahkampf" einen neuen Tonträger veröffentlicht hatte, nahm er 2022 auch die Gründung seiner Band "Kategorie C" vor 25 Jahren zum Anlass, ein neues Album herauszugeben. Unter dem Namen "Kategorie C" erschien der Tonträger "Ruf der Götter", der in neuer Bandzusammensetzung eingespielt wurde. Hierfür arbeitete er zum wiederholten Mal mit Nico Roth, einem rechtsextremistischen Musiker aus Rheinland-Pfalz, zusammen. Die Liedtexte behandeln die nordische Mythologie sowie deren Götter und weichen damit sehr von den eigentlichen Kernthemen der Band ab. Dieses kommentiert das rechtsextremistische Fanzine "Frontmagazin" in seiner Ausgabe 2 des Jahres 2022 wie folgt: "Allerdings hat dieses Album nicht unbedingt etwas mit Kategorie C zu tun ... Natürlich zieht der Name ... und [das] war gewiss auch der Sinn und Zweck, aber so wirklich passend ist es nicht." Unter dem Namen "Hannes und Achim" veröffentlichte Ostendorf gemeinsam mit einem Szeneangehörigen aus dem Raum Wolfsburg den Tonträger "Mut zur Freiheit". Erneut versuchte Ostendorf den Schulterschluss zur Reichsbürgerund Querdenkerszene. Zusammen mit dem Mitbegründer der niedersächsischen Band "Stahlgewitter", Frank 63 Rechtsextremismus Kraemer aus Nordrhein-Westfalen, veröffentlichte Ostendorf hierfür das Lied "Steh auf". Es soll Demonstrationsteilnehmende in ihrer Ablehnung der staatlich veranlassten Corona-Schutzmaßnahmen bestärken sowie die Radikalisierung und Politisierung der Szene unterstützen. In den Sozialen Medien wurde das Stück als "motivierende Begleitmusik für den Bürgerprotest, der sich jeden Montag in ganz Deutschland in Form von Spaziergängen manifestiert", beworben. Des Weiteren war Ostendorf als Gastsänger auf Tonträgern befreundeter rechtsextremistischer Musiker vertreten, so etwa auf dem Album "Zurück zu den Wurzeln" der Band "The Hoizers", einem Projekt des oben genannten Nico Roth. Während die Anzahl der Live-Auftritte Ostendorfs rückläufig war, verlagerte sich der Schwerpunkt seiner überwiegend von wirtschaftlichen Interessen geleiteten Aktivitäten im Jahr 2022 in die Sozialen Medien. Auf seinem Telegram-Kanal bewirbt er wiederholt Produkte aus seinen Online-Versänden und präsentiert Videos zu einigen seiner Musikproduktionen. Mit dem im November 2022 veröffentlichten Video zu dem Lied "Obdachlos" prangert Ostendorf die Lebenssituationen wohnungsloser Menschen in Deutschland an und macht die Regierung dafür verantwortlich. Mit den Textzeilen "Alle dürfen kommen, helfen der ganzen Welt. Nur der dumme Deutsche hat am Ende kein Geld." bedient er die in der rechtsextremistischen Szene verbreitete Ansicht einer vermeintlichen Bevorzugung von Flüchtlingen und Asylbewerbern durch den Staat. Neben seinen Musikprojekten betreibt Ostendorf weiterhin zwei eigene Online-Versände, bei denen Tonträger und Merchandising-Artikel seiner aktiven und inaktiven Musikprojekte angeboten werden. Darüber hinaus veröffentlicht er seine Produktionen auf verschiedenen Streaming-Diensten und Videoportalen. Auch diese Angebote unterstreichen den Eindruck, dass sein Hauptinteresse in der Gewinnoptimierung liegt. Ostendorf greift auf seine Stellung innerhalb der rechtsextremistischen Szene zurück, die er durch seine langjährige Zugehörigkeit und die Mehrzahl seiner musikalischen Projekte erlangt hat. Im Kern seines Handelns stehen die Selbstinszenierung und die Vermarktung seiner Produktpalette. 64 Rechtsextremismus "Gassenraudi" Die aus dem Raum Braunschweig stammende Musikgruppe veröffentlichte 2022 in den Sozialen Medien unter dem Titel "Wohnzimmerkonzert" eine etwa 20-minütige Aufzeichnung einer Bandprobe. Der Sänger der Band trat zudem am 09.07.2022 bei einem Balladenabend in Braunschweig als Solist auf. Der von der Band im Jahr 2020 veröffentlichte Tonträger "Niemals nur Zaungast! 5 1/2 Jahre" wurde im Mai 2022 von der BzKJ indiziert und in die Liste der jugendgefährdenden Medien aufgenommen. Rechtsextremistische Konzerte und Liederabende in Niedersachsen Die Strategie zur Durchführung rechtsextremistischer Konzerte hat sich gegenüber den Vorjahren nicht geändert. Konzerte finden wie bisher vornehmlich in kleineren Orten statt. Raumanmietungen erfolgen häufig unter dem Vorwand, eine von Musikdarbietungen umrahmte Geburtstagsfeier durchführen zu wollen. Einige Veranstalter sind als Reaktion auf Exekutivmaßnahmen der Polizei dazu übergegangen, mit Ausweichstätten zu planen. Im Eventualfall werden Besucher dann per SMS oder Messenger-Diensten über einen Zwischentreffpunkt zur Ausweichstätte umdirigiert. Mit solch umfangreichen Vorplanungen versuchen die Veranstalter, ihr Geschäftsrisiko zu reduzieren. In Niedersachen hat auch im Jahr 2022 kein Konzert stattgefunden, jedoch ein Liederabend am 09.07.2022 in Braunschweig. Ein weiterer Balladenabend fand am 05.11.2022 im Raum Hildesheim statt. Maßgeblichen Einfluss auf dieses Ergebnis hat, wie bereits in den vergangenen zwei Jahren, die Corona-Pandemie, durch die eine Durchführung organisierter rechtsextremistischer Musikveranstaltungen erschwert bzw. verhindert wurde. Auch nach Beendigung der staatlich angeordneten Beschränkungen für Veranstaltungen waren lediglich Treffen im näheren Bekanntenkreis von Szeneangehörigen festzustellen. Bei derartigen Zusammenkünften stehen musikalische Darbietungen nicht im Vordergrund. Den gleichen geringen Stellenwert haben Auftritte von Balladensängern im Rahmen einer politischen Veranstaltung, wie denen der NPD am 17.06.2022 und 02.10.2022 in Eschede. 24 24 Siehe Kapitel 2.9 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD)". 65 Rechtsextremismus Rechtsextremistische Vertriebe Die Nachfrage der rechtsextremistischen Szene nach Tonträgern, Druckerzeugnissen und Bekleidung sowie weiteren szenetypischen Artikeln wird durch rechtsextremistische Vertriebe bedient, die insbesondere über das Internet ein permanent aktualisiertes Angebot bereithalten. Die unverändert hohe Zahl an Vertrieben zeigt, dass der subkulturelle Bereich fester Bestandteil des Rechtsextremismus ist. Wichtige deutsche Vertriebe sind "PC Records" und "OPOS Records" (beide Sachsen) sowie "Rebel Records" (Brandenburg). Die Betreiber sind oft zugleich Mitglieder rechtsextremistischer Bands oder treten als Veranstalter rechtsextremistischer Konzerte in Erscheinung, bei denen sie ihr Warenangebot offerieren. Strafrechtlich relevante oder indizierte Produktionen befinden sich im Angebot ausländischer Vertriebe. Zu nennen sind "ISD Records" und "NSM 88". Das Angebot umfasst beispielsweise Tonträger der Bands "Landser" (Berlin) und "Race War" (Baden-Württemberg), deren Mitglieder in Deutschland wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung am 22.12.2003 bzw. am 22.11.2006 verurteilt worden sind. Niedersächsische Vertriebe In Niedersachsen sind lediglich die Online-Versände "Kategorie C" und "Hungrige Wölfe" ansässig. Sie bieten ausschließlich Tonträger und Merchandising-Artikel der Musikprojekte von Hannes Ostendorf an. Ehemalige niedersächsische Vertriebe spielten bereits in den vergangenen Jahren in der Szene eine eher untergeordnete Rolle, weil sie Produktionen weniger namhafter Musikbands vertrieben und damit auch einen geringeren Umsatz verzeichneten. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die subkulturelle Szene verlangt kein stringentes politisches Engagement, sondern stellt in erster Linie ein Angebot zur Freizeitgestaltung dar. Zu diesem Bereich des Rechtsextremismus liegt die Zugangsschwelle für jüngere Personen mit einer fremdenfeindlichen Grundeinstellung am niedrigsten. Rechtsextremistische Musik erfüllt einerseits die Funktion, potenzielle neue Anhänger anzusprechen, andererseits trägt sie zu einer Radikalisierung innerhalb der rechtsextremistischen Szene bei. Mit den Liedtexten werden zumeist 66 Rechtsextremismus rassistische, antisemitische und antidemokratische Ideologien proklamiert. Rechtsextremistische Musikveranstaltungen fördern das Gemeinschaftsgefühl von Szeneangehörigen insbesondere gegenüber der als feindlich empfundenen Umwelt. In der Vergangenheit wurde in den Liedtexten vorrangig die NS-Zeit glorifiziert. Heute ist bei neuen Produktionen eher ein Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen festzustellen. Die rechtsextremistische Musikszene hat die Einschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie zur Steigerung der Produktion von Tonträgern genutzt. Ein zentrales Thema hierbei ist die szenetypische Systemkritik. Es ist der Versuch, mit der eigenen rechtsextremistischen Weltsicht an ein aktuelles politisches Thema anzuschließen. Dabei folgt die Szene einem gängigen Muster, wonach ein tagesoder gesellschaftspolitisches Ereignis herangezogen wird, um die eigene Sicht darauf zu propagieren und mit systemkritischen Aussagen zu verknüpfen. Zugleich wird die Mehrheitsgesellschaft blinden Gehorsams bezichtigt, wodurch das elitäre Selbstverständnis, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein, unterfüttert wird. Zum anderen bestandenen in der Corona-Pandemie erhebliche Einschränkungen bei der Durchführung von Veranstaltungen mit Live-Musik. Ein Wiederanstieg der Aktivitäten auf ein vorpandemisches Niveau in den nächsten Jahren ist zu erwarten. Die rechtsextremistische Musikszene in Niedersachsen ist weitgehend inaktiv. Erwähnenswert ist der Sänger Daniel Giese, dessen verschiedene Projekte seit vielen Jahren große Beachtung in der rechtsextremistischen Szene finden. Um den gestiegenen Ansprüchen der Hörerschaft zu genügen, sind kostspielige Produktionen in professionellen Tonstudios sowie aufwändig gestaltete Booklets erforderlich. Videound Download-Portale lassen hingegen die Verkaufszahlen von Tonträgern und damit die Einnahmen der Bands und Vertriebe zurückgehen. Hierdurch reduziert sich auch das finanzielle Potenzial der rechtsextremistischen Szene. Sie folgt einem gesellschaftlichen, insbesondere im jugendlichen Milieu festzustellenden Trend nach schneller Konsumierbarkeit von Musikproduktionen. Diese Entwicklung steht zugleich für einen generell leichteren Zugriff auf rechtsextremistische Musik, da hierfür keine szeneeigenen Zugangsmöglichkeiten genutzt werden müssen. Hieraus erwächst 67 Rechtsextremismus für den Verfassungsschutz die Aufgabe, sich präventiv mit den Inhalten und Hintergründen der Musik der rechtsextremistischen Szene auseinanderzusetzen. 25 2.5 Neonazistische Szene Sitz/Verbreitung Niedersachsenweit; Schwerpunkte in den Regionen Braunschweig, Hannover/Hildesheim, Osnabrück, Südniedersachsen/Harz Gründung/ 1970er Jahre Bestehen seit Struktur/ Örtlich und regional unterschiedlich ausgeprägte Strukturen Repräsentanz in Form von Aktionsgruppen, informellen Netzwerken, Kameradschaften oder Kreisverbänden der Partei "Die Rechte"; hinzu kommen überwiegend virtuelle Präsenzen Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: 220 Unterstützer Veröffentlichungen Web-Angebote: Internetseiten, Blogs, Profile in sozialen Netzwerken und Kurznachrichtendiensten; Zeitschriften, Broschüren, Aufkleber, Flugblätter Kurzportrait/Ziele Kennzeichnend für die neonazistische Szene in Niedersachsen ist die Verzahnung mit subkulturell geprägten Rechtsextremisten sowie mit der in Parteien organisierten rechtsextremistischen Szene. Der allgemeinen Entwicklung folgend, die durch ein Abrücken von starren Organisationsstrukturen gekennzeichnet ist, sind Neonazis in den verschiedenen Landesteilen Niedersachsens zumeist in überregionale rechtsextremistische Netzwerke eingebunden. 25 Siehe Kapitel 6 "Prävention". 68 Rechtsextremismus Die Bandbreite der Aktivitäten reicht von der Durchführung öffentlichkeitswirksamer Propaganda-, Gedenkoder Störaktionen über die Veranstaltung von Balladenabenden und Zeitzeugenvorträgen bis zur Teilnahme an Demonstrationen oder szeneinternen Großveranstaltungen im gesamten Bundesgebiet. Im Mittelpunkt der Agitation steht die angeblich drohende und vermeintlich zum "Volkstod" führende "Überfremdung", die durch die anhaltende Flüchtlingssituation nochmals verstärkt worden sei. Gleichzeitig versuchen Neonazis, an die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und die Energiepreise anzuknüpfen. Finanzierung Beiträge der Anhänger, Vermarktung und Verkauf rechtsextremistischer Devotionalien wie T-Shirts o. Ä. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit In ideologischer Hinsicht eint die neonazistische Szene das unterschiedlich ausgeprägte Bekenntnis zum historischen Nationalsozialismus. Ziel ist die Überwindung des bestehenden demokratischen Systems. An dessen Stelle soll ein am Führerprinzip ausgerichteter Staatsaufbau treten, dessen Grundlage eine rassistisch verstandene Volksgemeinschaft bildet. Hiermit richtet sich die neonazistische Szene gegen die im Grundgesetz verbrieften Freiheits-, Gleichheitsund Menschenrechte (Art. 1 - 4 GG) und ist damit verfassungsfeindlich (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG). Die neonazistische Szene sieht sich als eine politisch-soziale Bewegung, die auf stetigen Aktivismus setzt und nicht auf parlamentarische Erfolge. Bestimmend für diese langfristig angelegte Strategie ist eine national-revolutionäre antiparlamentarische Ausrichtung. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die neonazistische Szene in Niedersachsen ist weiterhin geprägt von einer Heterogenität, die gleichermaßen personell und strukturell wie auch aktionistisch zum Ausdruck kommt. Einerseits bestehen Gruppierungen, die durchaus um politische Wahrnehmung mittels öffentlichkeitswirksamer Aktionen wie Flugblattverteilungen, 69 Rechtsextremismus Kundgebungen oder Demonstrationsteilnahmen bemüht sind, während sich ihre Anhängerzahlen im niedrigen einstelligen Bereich bewegen. Andererseits existieren auch Szenen, die zwar über teilweise deutlich höhere Anhängerzahlen verfügen, deren Aktivitäten jedoch nahezu ausschließlich Binnenwirkung entfalten. Zur Verbesserung personeller und organisatorischer Möglichkeiten dienen überregionale Netzwerke. Allerdings ist deren Bedeutung recht gering. Denn das dahinterstehende reale Personenpotenzial fällt im Vergleich zur Größe des jeweiligen Einzugsbereichs oftmals deutlich ab. Personelle und strukturelle Zwänge sind die Ursache für Kooperationen mit der NPD und deren Jugendorganisation "Junge Nationalisten" (JN), aber auch mit den neonazistisch geprägten Parteien "Die Rechte" und "Der III. Weg". Darüber hinaus sind die Übergänge zur subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene teilweise fließend. Eigenständige Strukturen und Aktionen der neonazistischen Szene in Niedersachsen waren im Berichtsjahr kaum zu verzeichnen. Im Hinblick auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hegen Angehörige der neonazistischen Szene eher Sympathien für die Ukraine, weil sich diese in einem Kampf um nationale Souveränität befindet. Dennoch verdeutlicht beispielweise Sascha Krolzig, Funktionär der Partei "Die Rechte" aus Nordrhein-Westfalen, in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "N.S. Heute" die eigene nationalistische Position: "Doch wir sollten nun nicht damit anfangen, In Kategorien, wie 'pro-ukrainisch' oder 'pro-russisch' zu denken - als Nationalisten sind wir 'pro-deutsch', und das ist alles, um was es wirklich geht." (Sascha Krolzig in der Zeitschrift "N.S. Heute", Ausgabe Nr. 29, Mai/Juni 2022) Organisationsübergreifende Zusammenarbeit Organisationsund parteiübergreifende Entwicklungen werden an personellen Zusammenschlüssen wie "Oskars Osna" oder "Harzrevolte" deutlich. Beide Gruppierungen weisen enge Verbindungen zu den Strukturen der JN auf. Über Auftritte in Sozialen Medien wie Facebook oder Instagram wird versucht, insbesondere Jugendlichen und jungen Erwachsenen zielgruppenspezifisch die eigene 70 Rechtsextremismus Deutung von Heimat, Gemeinschaft und Nation als gesellschaftlichen Gegenentwurf zu vermitteln. "Wer offene Grenzen und Einwanderung fordert, begeht Verrat in doppelter Hinsicht. Denn er zerstört neben den kulturellen Eigenarten seines Volkes auch die der Einwanderer. Die Welt wird durch sein Handeln nicht bunter, sondern monotoner. Somit ist er nichts weiter als ein verblendeter Handlanger des globalen Kapitalismus. ... Schließt euch Gemeinschaften an und seht, wie jeder einzelne von euch an und mit dieser wachsen kann. Jeder Deutsche ist willkommen. Der Grundkonsens muss stimmen. Und dieser kann nur Deutschland sein." (Instagram-Profil "Oskars Osna", Eintrag vom 06.06.2022) Die virtuellen Aktivitäten werden ergänzt um realweltliche Angebote wie Kameradschaftsoder Liederabende, Wanderungen und Ausflüge oder dem gemeinsamen Besuch von Demonstrationen und Vortragsveranstaltungen. Beispielsweise beteiligte sich die Gruppierung "Harzrevolte", die hauptsächlich im Landkreis Harz (Sachsen-Anhalt), aber auch im niedersächsischen Landkreis Goslar aktiv ist, regelmäßig und teilweise exponiert an Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen, die Energiepreissteigerungen oder den propagandistischen "Schwarze Kreuze"-Aktionen im Zusammenhang mit der Kampagne "Deutsche Opfer - Fremde Täter". In ideologischen Schulungen, etwa zur Metapolitik oder zum Umgang mit Sicherheitsbehörden, vermitteln die im Großraum Osnabrück ansässigen "Oskars Osna" ihren Angehörigen und Sympathisanten theoretische Grundlagen für den politischen Aktivismus. Ihre Ziele werden klar benannt: "Alternativen zum BRD-Alltag schaffen" und "Die Hegemonie unserer Gegner brechen". Akzelerationismus Neben organisationsgebundenen oder in netzwerkähnliche Strukturen eingebundenen Rechtsextremisten stellen insbesondere überwiegend digital aktive Einzelpersonen eine besondere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden dar. Imageboards, Messengeroder Chatgruppen, in denen rassistische, fremdenfeindliche, misogyne oder homophobe Inhalte geteilt werden, führen in erster Linie männliche Rechtsextremisten aus verschiedenen Landesund 71 Rechtsextremismus Erdteilen zusammen und bilden mitunter den Resonanzraum für Radikalisierungsverläufe. In diesem Kontext zu nennen ist das Phänomen des Akzelerationismus, der darauf abzielt, durch rechtsextremistische Gewalt-, Amokoder Terrortaten bestehende gesellschaftliche Konflikte zu verstärken, um letztlich einen Zusammenbruch des gesellschaftlichen und politischen Systems herbeizuführen. Die Tatsache, dass sich von dieser Form des Rechtsextremismus bereits Kinder und Jugendliche angesprochen fühlen, erfordert neben zielgerichteten Herangehensweisen im Rahmen der Prävention auch eine Anpassung sicherheitsbehördlicher Maßnahmen zur frühzeitigen Erkennung entsprechender Vorbereitungshandlungen. Exemplarisch für diese Entwicklung ist das Verfahren beim Generalbundesanwalt gegen Mitglieder der Gruppierung "Atomwaffen Division Deutschland" (AWD) bzw. deren Ableger "Sonderkommando 1418" (SKD). Die jahrelangen Ermittlungen wegen des Verdachts der Gründung, Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung führten schließlich zu Durchsuchungsmaßnahmen am 06.04.2022 in zahlreichen Bundesländern. Hiervon betroffen waren auch zwei in Niedersachsen wohnhafte Rechtsextremisten. Ein Beispiel für Radikalisierungsverläufe von rechtsextremistischen Einzeltätern ist der geplante Anschlag eines 16-jährigen Schülers aus Essen (Nordrhein-Westfalen), der sich bereits Waffen und Sprengstoff beschafft und in Anlehnung an vorausgegangene rechtsterroristische Taten in Oslo (Norwegen), Christchurch (Neuseeland) und Halle (Sachsen-Anhalt) ein Manifest verfasst hatte. Nach seiner Verhaftung am 16.05.2022 muss sich der Jugendliche vor dem OLG Düsseldorf wegen des Vorwurfs der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat verantworten. Zu dem gleichen Vorwurf zusammen mit Verstößen gegen das Waffenund Sprengstoffgesetz und der versuchten Gründung einer terroristischen Vereinigung ist ein Gerichtsverfahren gegen einen Anhänger der AWD aus Spangenberg (Hessen) vor dem OLG Frankfurt anhängig. Der zur Tatzeit 19 Jahre alte Mann soll u. a. Sprengkörper selbst hergestellt haben, um diese für Anschläge im Sinne der Ideologie der AWD zu verwenden. Außerdem habe er versucht, über das Internet mögliche Unterstützer zu rekrutieren. 72 Rechtsextremismus Nordadler Mit Urteil vom 31.08.2022 hat das Bundesverwaltungsgericht die Klage eines einzelnen Mitgliedes gegen das Verbot der rechtsextremistischen Gruppierung "Nordadler" zurückgewiesen. Das durch den Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat im Jahr 2020 ausgesprochene Verbot der Vereinigung ist damit rechtskräftig. Eventuelle Nachfolgebestrebungen können nun strafrechtlich verfolgt werden. Bei der Gruppierung "Nordadler", zu deren Protagonisten auch zwei Personen aus Niedersachsen zählten, handelte es sich um eine rechtsextremistische Vereinigung, die ihre nationalsozialistische und antisemitische Ideologie überwiegend im Internet propagierte. Zur Rekrutierung neuer Anhänger sowie zur Verbreitung ihrer Ziele nutzte sie neben einer eigenen Internetseite auch zahlreiche offene und geschlossene Chatgruppen auf diversen Online-Plattformen und in Sozialen Medien wie Discord, Instagram und Telegram. Darüber hinaus fanden realweltliche Treffen ihrer Anhänger statt. Charakteristisch für die Gruppierung war vor allem die Wesensverwandtschaft zum Nationalsozialismus. Ihre Mitglieder nutzen nationalsozialistische Symbole und Begriffe, propagierten die Wiedererrichtung des NS-Staates und glorifizierten die SS, Adolf Hitler und führende Repräsentanten des historischen Nationalsozialismus. Kennzeichnend waren weiterhin ein stark ausgeprägter Antisemitismus und eine kämpferisch-aggressive Grundhaltung, die etwa in Gewaltphantasien zum Ausdruck kam. Demonstrationen Demonstrationen waren für die neonazistische Szene lange Zeit das wichtigste Mittel, ihr ideologisches Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen und sich gleichzeitig als Bewegung zu präsentieren. Demonstrationen können als Indikator für die thematische Schwerpunktsetzung und die Mobilisierungsfähigkeit der rechtsextremistischen Szene angesehen werden. Die Bereitschaft zur Demonstrationsteilnahme hat in den letzten Jahren allerdings stark nachgelassen. Von der Demonstrationsmüdigkeit betroffen ist auch der Gedenkmarsch in Dresden (Sachsen), der jedes Jahr aus Anlass der Bombardierung der Stadt durch die Alliierten im Februar 1945 stattfindet und der für die neonazistische Szene bislang von großer Bedeutung 73 Rechtsextremismus war. Unter den rund 800 Teilnehmenden der Veranstaltung am 13.02.2022 waren aus Niedersachsen sowohl Mitglieder der NPD/JN als auch Angehörige der neonazistischen Szene. Die Demonstrationen zum "Tag der Arbeit" am 1. Mai, die traditionell für die rechtsextremistische Szene bedeutsam sind, hatten nach den Einschränkungen in der Corona-Pandemie erstmals wieder einen leichten Zuwachs zu verzeichnen. Insgesamt nahmen rund 900 Personen an den verschiedenen Veranstaltungen im Bundesgebiet teil. An der mit 250 Teilnehmenden zahlenmäßig größten Demonstration der Partei "Der III. Weg" in Zwickau (Sachsen) unter dem Motto "Ein Volk will Zukunft! - Heimat bewahren! Überfremdung stoppen! Kapitalismus zerschlagen!" beteiligten sich aus Niedersachsen aufgrund der landesweit wenig ausgeprägten Strukturen der Partei erwartungsgemäß nur Einzelpersonen. Zu der von den Parteien "Die Rechte" und NPD/JN gemeinsam angemeldeten Demonstration "Heraus zum nationalen Tag der Arbeit" am 01.05.2022 in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) reisten neben niedersächsischen Mitgliedern der JN und der Partei "Die Rechte" auch Angehörige der neonazistischen Szene aus den Bereichen Braunschweig, Hannover, Hildesheim und dem Harz an. In Niedersachsen beteiligten sich Angehörige der neonazistischen Szene an verschiedenen Demonstrationen und Kundgebungen der NPD/JN bzw. der Partei "Die Rechte", die überwiegend in Braunschweig stattfanden. Rechtsextremistische Festivals und Netzwerkbestrebungen Den Stellenwert ehemals teilnehmerstarker Demonstrationen hatten zwischenzeitlich Großveranstaltungen übernommen, die jedoch im Berichtsjahr aufgrund der Corona-Pandemie nicht stattfinden konnten. Exemplarisch für die nach wie vor bestehende Attraktivität und die damit einhergehende Professionalisierung größerer Veranstaltungen mit Event-Charakter sind die zuletzt im Jahr 2019 zum wiederholten Mal in Ostritz (Sachsen) durchgeführten und von dem bekannten Neonazi und stellvertretenden NPD-Bundesvorsitzenden Thorsten Heise aus Thüringen organisierten "Schild & Schwert"-Festivals. An den zweitägigen Veranstaltungen unter dem Titel "Schild & Schwert - Sommerfestival", die neben Politikforen, Verkaufsund Infoständen auch eine "Tattoo-Convention", 74 Rechtsextremismus Kampfsportvorführungen sowie Konzerte bekannter rechtsextremistischer Bands umfassten, nahmen in der Spitze rund 700 Angehörige der neonazistischen und subkulturellen Szene teil. Das Veranstaltungskonzept ist der Versuch, Politik, Ideologie und rechtsextremistischen Lifestyle miteinander zu verbinden. Am 24.09.2022 veranstaltete das NPD-Presseorgan "Deutsche Stimme" in Eisenach (Thüringen) den ersten "Netzwerktag", an dem sich Angehörige verschiedener rechtsextremistischer Organisationen und Strömungen beteiligten, um der in weiten Teilen des traditionellen Rechtsextremismus festzustellenden strukturellen und organisatorischen Schwäche zu begegnen. Unter dem Motto "Spaltung überwinden" sollten Möglichkeiten zur Bildung einer organisationsübergreifenden "Querfront" gegen die Regierung und letztlich das demokratische System ausgelotet werden. Unter den insgesamt etwa 70 Teilnehmenden der Veranstaltung befanden sich auch Vertreter der neonazistischen Szene wie Patrick Schröder (FSN-TV) und Sascha Krolzig (Partei "Die Rechte" und Herausgeber des Magazins "N.S. Heute"). Kampfsport Kampfsport und der dazugehörige Lifestyle haben sich innerhalb der rechtsextremistischen Szene zu einem identitätsstiftenden Faktor mit organisationsübergreifender Anziehungskraft entwickelt. Dies gilt insbesondere für einen bestimmten Teil des Neonazismus, der sich selbst als Avantgarde versteht. In Kampfsportseminaren werden Angehörige der rechtsextremistischen Szene auf lokaler Ebene mit den Grundtechniken verschiedener Kampfsportarten vertraut gemacht, die ihnen in professionell organisierten KampfsportEvents vorgeführt werden. Ursprung und Mittelpunkt dieser Entwicklung ist die 2013 ins Leben gerufene Veranstaltung "Kampf der Nibelungen", die nach stetig wachsenden Teilnehmerzahlen im Jahr 2019 erstmals von einer Versammlungsbehörde verboten wurde. Gegen das durch die Stadt Ostritz (Sachsen) ausgesprochene Verbot des Kampfsportturniers hatten die Veranstalter eine Fortsetzungsfeststellungsklage geführt, die am 07.09.2022 mit der Abweisung durch das Verwaltungsgericht Dresden (Sachsen) endete. Das Gericht bestätigte in seinem Urteil die von der Verbotsbehörde 75 Rechtsextremismus vorgebrachte Auffassung, dass bei der Veranstaltungsreihe "Kampf der Nibelungen" nicht sportliche Aspekte im Vordergrund stehen würden, sondern die Vorführung von Kampftechniken sowie die Kampfertüchtigung als Einstieg in den physischen politischen Kampf. Letztlich habe die Veranstaltung darauf abgezielt, dem Besucherkreis Gewaltkompetenzen zur Überwindung des politischen Systems zu vermitteln. Die Bestätigung des Verbots, gegen das noch Rechtsmittel eingelegt werden können, bedeutet einen erheblichen Rückschlag für die Veranstalter in ihren Bemühungen um eine Professionalisierung und Kommerzialisierung des Kampfsports und für die gewaltgeneigte rechtsextremistische Szene insgesamt wegen des Verlusts einer identitätsstiftenden Veranstaltung. Die für Mai 2023 mit Unterstützung der Veranstalter des "Kampfs der Nibelungen" in Ungarn geplante "European Fight Night" wird diesen Wegfall nicht kompensieren können. "Heldengedenken" Um eine Glorifizierung der Wehrmacht geht es beim sogenannten Heldengedenken, das regelmäßig im November aus Anlass des Volkstrauertages stattfindet. Angehörige der "Oskars Osna" posierten am 13.11.2022 mit Fackeln an einem Denkmal im Landkreis Melle, um "derer zu gedenken, welche im Krieg um Deutschland ihr Leben ließen." Mit einem im Internet veröffentlichten Videobeitrag dokumentierten Angehörige der Ortsgruppe Bremen der rechtsextremistischen Bruderschaft "Nordic 12" ihren mit zehn Mitgliedern durchgeführten Fackelaufzug an einem Ehrenmal in Lemwerder (Landkreis Wesermarsch), bei dem sie einen Kranz mit der Aufschrift "Ehre wem Ehre gebührt" niederlegten. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die bereits seit einigen Jahren anhaltende personelle und aktionistische Stagnation der neonazistischen Szene dauerte auch im Jahr 2022 an. Ausschlaggebend sind Attraktivitätsverlust und mangelnde Anschlussfähigkeit infolge einer unzeitgemäßen und vergangenheitsbezogenen ideologischen Verengung auf den historischen Nationalsozialismus. Gruppierungen stellten ihre Aktivitäten ein, 76 Rechtsextremismus verzichteten auf politisch geprägte Aktionen, reduzierten diese auf ein öffentlich nicht wahrnehmbares Maß oder sind lediglich noch virtuell präsent. Die Entstehung neuer Gruppierungen war hingegen nur in wenigen Einzelfällen zu beobachten. Durch das Fehlen einer Koordinierung oder Steuerung der politischen Aktivitäten vollzieht sich die Entwicklung der neonazistischen Szene in Niedersachsen uneinheitlich. Dies spiegelt sich einerseits in der reinen Größe der Gruppierungen und zumeist losen Netzwerken wider, andererseits in der von den verbliebenen lokalen oder regionalen Strukturen unterschiedlich praktizierten Zusammenarbeit untereinander. Kooperationen über teilweise große räumliche Entfernungen sind ebenso feststellbar wie verschiedene Konstellationen mit Personen und Strukturen anderer Spektren. So sind in zahlreichen Fällen Schnittmengen zu den Parteien "Die Rechte", "Der III. Weg" sowie zur NPD oder zu deren Jugendorganisation "Junge Nationalisten" (JN) zu beobachten, die zur Aufrechterhaltung eines wahrnehmbaren Aktionsniveaus mittlerweile von elementarer Bedeutung sind. Daneben bestehen Kontakte zu überwiegend subkulturell geprägten Bruderschaften wie "Nordic 12", "Brigade 8" und "Blood Brother Nation" oder zur rechtsextremistisch beeinflussten Hooliganszene. Nur durch diese Kooperationen scheint es der neonazistischen Szene derzeit möglich, das grundsätzlich schwindende Mobilisierungspotenzial oberflächlich zu kompensieren. Ungeachtet dessen dürfte von der Neonaziszene weiterhin die Vorstellung von einer rassistisch verstandenen homogenen Volksgemeinschaft als idealtypischer, zeitlos moderner Gegenentwurf zur liberalen und multikulturellen Gesellschaft gesehen und propagiert werden. Anhänger der neonazistischen Szene werden deshalb auch künftig versuchen, die daraus resultierenden fremdenfeindlichen und rassistischen Überzeugungen verschärft in den gesellschaftlichen Diskurs zur Flüchtlingsund Einwanderungsthematik einfließen zu lassen. Es besteht hierdurch die Gefahr einer weiteren Radikalisierung auch über die rechtsextremistische Szene hinaus, die in Gewalttaten gegen Asylsuchende und Flüchtlingsunterkünfte, politische Gegner, aber auch gegen Helferinnen und Helfer sowie gegen Politikerinnen und Politiker münden kann. 77 Rechtsextremismus 2.6 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) Gründung/ Oktober 2012; als eingetragener Verein mit Sitz in Paderborn Bestehen seit (Nordrhein-Westfalen) seit August 2014: "Identitäre Bewegung Deutschland e. V." Struktur/Repräsentanz Bundesweit diverse Regionalund Ortsgruppen Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: 40 Unterstützer Veröffentlichungen Wechselnde Internetpräsenzen mit zunehmend verstärkter Nutzung von alternativen Plattformen und Messenger-Diensten. Die einzelnen Regionalund Ortsgruppen sind nach weitreichenden Löschungen nur noch vereinzelt und oftmals unter neuem Namen in den gängigen Sozialen Medien präsent. Kurzportrait/Ziele Die "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) ist eine aktivistische Gemeinschaft im europäischen Rechtsextremismus, deren Vertreter auch in Niedersachsen lokale Untergruppen gebildet haben. Die IBD ist in einer netzwerkähnlichen Struktur organisiert und basiert auf Personenzusammenschlüssen vor allem jüngerer Menschen. Ideologisch wird die IBD dem Umfeld der Neuen Rechten26 zugeordnet und gehört zu einem intellektuell geprägten Spektrum im organisierten Rechtsextremismus, das sich auf die antidemokratischen Theoretiker der "Konservativen Revolution" beruft. Belege hierfür sind ihre programmatischen Positionierungen und ihr ideologisches Konzept der "ethnokulturellen Identität", aber auch diverse europaweite Kontakte zu Personen und Organisationen der Neuen Rechten. Im Gegensatz zu den Denkzirkeln der Neuen Rechten führt die IBD jedoch auch konkrete Aktionen durch und verbreitet diese anschließend medial aufbereitet im Internet. Fin anzierung Die IBD finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und dem Verkauf von Artikeln im Internetshop der Organisation. Die eigene Vermarktung erfolgt über das Internet. 26 Die mit dem Begriff Neue Rechte bezeichnete ideologische Strömung beruft sich auf die "Konservative Revolution", eine intellektuelle Strömung antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik. Der Begriff wird aber nicht einheitlich verwendet. Manche Autoren erfassen mit diesem Begriff den um Theoriebildung bemühten Teil des Rechtsextremismus in seiner Gesamtheit. 78 Rechtsextremismus Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) versteht sich als Ableger der "Identitären Bewegung Österreich" (IBÖ) und der Anfang des Jahres 2021 verbotenen französischen Jugendorganisation "Generation Identitaire" (GI). Bei der GI handelte es sich um die Jugendorganisation des "Bloc identitaire", welcher die Nachfolgeorganisation der aufgrund rassistischer und gewalttätiger Aktivitäten im Jahr 2002 verbotenen Gruppierung "Unite radicale" darstellte. Begründet wurde das offiziell am 03.03.2021 durch das französische Innenministerium verkündete Verbot der GI u. a. mit dem martialischen, paramilitärischen Auftreten der Organisation. Die GI diente der IBD insbesondere in ihrer Gründungsphase als Vorbild für eigene Aktivitäten. Erkennungszeichen der IBD ist weiterhin das Lambda, der elfte Buchstabe des griechischen Alphabets, in einem Kreis. Das Symbol war im antiken Griechenland das Erkennungsmerkmal der Spartaner, die u. a. im 5. Jahrhundert v. Chr. gegen die Invasion der Perser kämpften. In Anlehnung an den US-amerikanischen Kinofilm "300" wird der Bezug zu den Soldaten des spartanischen Heeres hergestellt, die auf ihren Schilden das Lambda trugen. Die Mitglieder der IBD sehen sich in der Tradition der Spartaner und tragen dies mit der Verwendung des Lambdas öffentlich zur Schau. Logo der IBD Die IBD betrachtet sich als Bestandteil einer europaweiten Bewegung. Ihr Ziel ist es, die europäische Jugend im Kampf für die ihrer Meinung nach bedrohte Freiheit und kulturelle Identität zu vereinen. Ihre vornehmliche Aufgabe sieht die IBD folglich in der Verteidigung und Bewahrung von "Heimat, Freiheit, Tradition". An erster Stelle stehe hierbei der Erhalt der "ethnokulturellen Identität", die durch einen befürchteten "demographischen Kollaps" sowie durch angebliche "Massenzuwanderung" und "Islamisierung" bedroht sei. Das Konzept der "ethnokulturellen Identität" bezeichnet dabei einen völkischen Nationalismus bzw. Regionalismus im europäischen Kontext. In Anlehnung an den Franzosen Alain de Benoist, der einer der maßgeblichen Vordenker der Neuen Rechten in Europa ist, wird darunter eine ethnische, religiöse und kulturelle Prägung von Gemeinschaften und ganzen Völkern verstanden, durch die allein sich die Identität des Einzelnen definiere. 79 Rechtsextremismus Die IBD richtet sich deshalb vehement gegen Multikulturalismus und propagiert einen europäischen Ethnopluralismus. Dieser begründet die vermeintlich zu verteidigenden kulturellen und zugleich vermeintlich naturgegebenen Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen im Sinne eines kulturellen Rassismus und fordert dementsprechend die strikte räumliche und kulturelle Trennung unterschiedlicher Ethnien. Die Positionen der IBD sind vor allem von einer zum antimuslimischen Rassismus tendierenden Islamfeindlichkeit geprägt. Die IBD behauptet eine Unvereinbarkeit und Feindschaft der Muslime mit der einheimischen Bevölkerung und schreibt ihnen unabänderliche Wesensmerkmale (frauenfeindlich, unehrlich, machtbesessen usw.) pauschal zu. Ethnische Zugehörigkeiten werden auf diese Weise kulturalisiert und religiös überhöht, auch um an bestehende fremdenund islamfeindliche Ressentiments in der Bevölkerung anknüpfen zu können. Hiermit richtet sich die IBD gegen die im Grundgesetz verbrieften Freiheits-, Gleichheitsund Menschenrechte (Art. 1 - 4 GG) und ist damit verfassungsfeindlich (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG). Seit die IBD im September 2014 ihre Kampagnenfelder auf das Thema "Asylsuchende" ausgeweitet hat, ist eine weitere Radikalisierung festzustellen. Nach Meinung der "Identitären" sind Asylsuchende in ihrer großen Mehrzahl "aggressive Kolonisatoren, die die indigene Bevölkerung immer weiter verdrängen und nicht integrierbar sind". Im Zuge der Asylpolitik der Bundesregierung fokussierte sich die IBD unter Initiierung der Kampagne "Großer Austausch" fortan auf dieses Themenfeld. Im Jahr 2016 wurde die Kampagne mit der Forderung nach "Remigration" weitergeführt und wiederholt mit dem Hinweis auf eine angeblich gestiegene Bedrohungslage durch "Kriminelle und Terroristen" im Zuge der vermeintlichen "Islamisierung" Deutschlands und Europas verbunden. Gegen die Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte die IBD bereits 2017 Klage erhoben. Das Verwaltungsgericht (VG) Köln wies am 13.10.2022 die Klage der IBD ab und bestätigte die bisherige Beobachtungswürdigkeit. Nach dem Urteil des Gerichts liegen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung vor (VG Köln 13 K 4222/18): 80 Rechtsextremismus "Es finden sich einige Äußerungen, die die Menschenwürdegarantie verletzen. Das in den Äußerungen zutage geförderte Volksverständnis widerspricht dem im Grundgesetz zum Ausdruck kommenden Verständnis und ist geeignet, Zugehörige einer anderen Ethnie auszugrenzen und als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Es tritt das Ziel zutage, Migranten - insbesondere außereuropäische - auszugrenzen und verächtlich zu machen. Es handelt sich bei der Vielzahl der Äußerungen erkennbar nicht (mehr) um bloße Entgleisungen einzelner Funktionsträger, Mitglieder oder Anhänger des Personenzusammenschlusses, die sich von der Linie des Klägers abheben würden. Aus dem Grundtenor der zitierten Aussagen lässt sich ableiten, dass das Volksverständnis und die ausländerfeindliche Agitation Ausdruck eines generellen Bestrebens des Klägers ist." Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die "Identitäre Bewegung" (IB) wurde in den vergangenen Jahren insbesondere durch die Sperrung ihrer Kanäle auf den gängigen Social Media-Plattformen empfindlich getroffen. Nach der Löschung ihrer Facebook-Profile und dem Entfernen der IBD-Internetseite aus den Suchmechanismen bei Google erfolgte 2020 die Löschung zahlreicher Konten der IB (inklusive Untergruppen) beim Messenger-Dienst Twitter. Als Grund wurden Verstöße gegen die Richtlinien in Bezug auf gewalttätigen Extremismus genannt. Auch das Videoportal YouTube löschte mehrere Konten der IB. Davon war auch Martin Sellner betroffen. Der 33-jährige Österreicher ist nicht nur Führungsfigur und ideologischer Vordenker der deutschsprachigen IB, sondern zugleich ihr bekanntestes Gesicht. Die anschließenden Versuche, auf alternativen Plattformen wie dem Messenger-Dienst Telegram oder dem Videoportal BitChute ein ähnlich großes Publikum zu erreichen, sind bislang fehlgeschlagen. Auch im Jahr 2022 konnte die IB keine erfolgreiche Strategie entwickeln, um den fortschreitenden Öffentlichkeitsund damit verbundenen Aufmerksamkeitsverlust aufzuhalten bzw. umzukehren. Die IB nutzt die eigene Medienagentur "Okzident Media", das Finanzdienstleistungsunternehmen "Schanze Eins" und den IBDShop "Phalanx Europa", um die Kommunikationsfähigkeit sicherzustellen und ideologisch nahestehende Nachrichteninhalte online zu verbreiten. Dennoch ist die Verbreitung ihrer Ideologie durch die Löschungen erheblich eingeschränkt worden. Der durch fortlaufende Sperrungen erzwungene Wechsel auf kleinere, alternative Kommunikationsplattformen, wird zum Großteil nur noch vom Kern der 81 Rechtsextremismus Anhängerschaft wahrgenommen. Darüber hinaus erschwert diese Entwicklung die Rekrutierung neuer Interessenten und Mitglieder. Eine weitere Schwächung erfuhr die IB, als 2021 vom österreichischen Parlament ein Verbot des öffentlichen Verwendens ihrer Zeichen und Symbole beschlossen wurde. Neuausrichtung bei Aktionsformen und Namensgebung Um dem schleichenden Bedeutungsverlust zu begegnen, befindet sich die IB seit Ende 2021 in einer Phase der Transformation. Bewusst wurde bei früheren Aktionen auf Maskierungen verzichtet. Um offen "Gesicht zu zeigen" und möglichst einen militanten Eindruck zu vermeiden. Neuerdings verwenden Aktivisten in der Regel Schlauchschals zur Vermummung, um die Identifizierung der Beteiligten zu erschweren. Ziel der anonymen Ausführung ist einerseits der Schutz vor Outing-Aktionen der linken Szene und andererseits der Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung. Zu Beginn dieser Neuausrichtung wurde auch auf die Verwendung der klassischen Lamb daSymbolik und bekannter Slogans der IB verzichtet, um einen direkten Bezug zur "Identitären Bewegung" zu verschleiern. Inzwischen wird wieder offener zur IB Bezug genommen, wenngleich das Mittel der Maskierung bestehen bleibt. "Direkt nach der erzwungenen Ruhepause durch das Prozeßfeuerwerk gegen die IB und meine Person folgte die Überwölbung der rechten Aktivitäten durch die 'Coronakrise'. Identitäre Strukturen nutzen diese Zeit neben dem repräsentativen Aktivismus auf Demos für eine Transformation und taktische Anpassung. Diese äußert sich sichtbar in einer Wiederkehr der Maske. Befördert durch die 'Vermummungsgebote' bei Coronademos und getrieben durch die nackten Kosten zermürbender Strafverfahren, zeigt sich der identitäre Aktivismus im deutschsprachigen Raum seit einiger Zeit maskiert." (Martin Sellner, Beitrag auf der Internetseite der Zeitschrift "Sezession" vom 21.02.2022, abgerufen am 10.11.2022) Einhergehend mit der Neuausrichtung wurden deutschlandweit die Ortsund Regionalgruppen umbenannt, um eine regionale Verwurzelung zu betonen und auch um den IB-Ursprung zu verdecken. Im niedersächsischen Umfeld sind im Berichtszeitraum mehrere Gruppen aktiv. Im Großraum Hannover nennt sich der lokale IB-Ableger "Sturmfeste Hannover". 82 Rechtsextremismus Deutlicher Rückgang an öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Niedersachsen Während in den Vorjahren viele der bundesweiten öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten oder Kampagnen der IB in Niedersachsen stattgefunden haben, sind diese im Jahr 2022 deutlich zurückgegangen. Neben vereinzelten Stickerund Plakatklebeaktionen kam es lediglich in Braunschweig zwischen Februar und Mai 2022 zu drei identischen Aktionen an zwei Schulen und an der Technischen Universität. Hier ließen mit einem weißen Schlauchschal vermummte Aktivisten mittels Helium-Luftballon eine Musikbox zur Decke schweben. Die Musikbox spielte währenddessen szenetypische, "identitäre" Rapmusik. Im Innern des Luftballons befanden sich Zettel mit gängigen IB-Slogans, die sich nach dem Platzen möglichst breit verteilen sollten. Die Teilnahme von Mitgliedern der IB in Niedersachsen bei impfkritischen Demonstrationen fanden ohne sichtbare IB-Symbolik statt. Kampagne "Gedankenverbrecher" Bereits 2021 wurden im Internet Aktivitäten einer Gruppierung bzw. einer Kampagne unter dem Namen "Gedankenverbrecher" bekannt. Laut Eigendarstellung lehnt sich die Gruppierung gegen einen als "Big Brother" bezeichneten Überwachungsstaat auf. Dieser habe mittels der Einschränkungen zur Pandemiebekämpfung den ersten Schritt zu einer Neugestaltung der bestehenden Weltordnung eingeleitet. Ziel sei die "Abschaffung der Völker und Kulturen" sowie die "Einrichtung einer Weltregierung". Diese angebliche Neugestaltung wird als "Great Reset" bezeichnet. Die Kampagne wirbt darum, sich den "Gedankenverbrechern" anzuschließen und den "Widerstand gegen Big Brother weiter voran zu treiben". 27 Anhand der Aktivitäten der Gruppierung in den Sozialen Medien konnte schnell eine enge personelle und organisatorische Verbindung zur IB festgestellt werden. So wurden die Inhalte der Kampagne massiv durch Accounts der IB verbreitet und geteilt. Daneben orientieren sich die Aktionen der "Gedankenverbrecher" stark an dem gängigen Vorgehen der IB. In den ersten Monaten des Jahres 2022 wurde die Kampagne noch fortgesetzt. 27 Internetseite der Kampagne "Gedankenverbrecher", abgerufen am 10.11.2022. 83 Rechtsextremismus Die Kampagne "Gedankenverbrecher" soll gezielt Personen ansprechen, die den Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie kritisch gegenüberstehen. Konkret werden die Maßnahmen als Handeln eines Unrechtsstaates bezeichnet und so der Versuch unternommen, den Staat und das politische System in Gänze zu delegitimieren. In einem Instagram-Profil zu der Kampagne heißt es, dass "wir Tag für Tag Untergangsszenarien hören, die uns gefügig machen sollen". Weiter ist dort zu lesen, dass der Staat aktiv seine Bürger bekämpfe und bewusst Existenzen vernichte. Die Kampagne macht zudem deutlich, dass die IB durchaus bereit ist, sich Verschwörungstheorien und Narrative der sogenannten Corona-Leugner-Szene zu eigen zu machen bzw. diese zu verbreiten, sofern sie als Mittel zur Verächtlichmachung und Ablehnung des politischen Systems nützlich und nutzbar erscheinen. Kampagne "Aktion Solidarität" Der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine hat innerhalb der IB zu großen Diskussionen geführt. Nach außen gibt man sich neutral. Die verschiedenen Positionen zeigen sich aber beispielsweise darin, dass einerseits der Krieg grundsätzlich bedauert und die Kriegsschuld vorrangig bei Russland gesehen wird. Andererseits wird Russland oftmals als Getriebener geschildert und eine zentrale Mitschuld des Westens am Krieg gesehen. "Für Europa ist das Ganze eine Katastrophe, weil in einer deglobalisierten Welt, da sich die Wirtschaft regionalisiert, kommt es darauf an, für das eigene Land eine Versorgungssicherheit an Nahrungsmitteln und an Rohstoffen, insbesondere Energie, sicherzustellen. Und der einzige Partner, der das für Europa billig und sicher liefern kann, ist Russland. Und Europa ist nun, nicht zuletzt auch durch den Westen und die NATO, in einen Krieg gestolpert." (Martin Sellner, Beitrag in seinem Kanal auf der Videoplattform odysee vom 13.05.2022, abgerufen am 10.11.2022) Wenngleich prorussische Argumentationsmuster und die Weiterverbreitung russischer Falschinformationen deutlich erkennbar sind, argumentiert die IB stets, dass man vorrangig im deutschen oder auch im europäischen Interesse handle. Am 29.08.2022 versuchten Mitglieder der IB auf das Gelände der Anschlussstelle der Gas-Pipeline Nord Stream 2 in Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern) zu gelangen, um nach eigenen Angaben, "die Leitung eigenständig 84 Rechtsextremismus anzuschließen, um die Gaskrise zu beenden." Es wurde ein Banner mit der Aufschrift "Nord Stream aufdrehen" präsentiert. Ein in den Farben Blau und Weiß gehaltenes Logo der "Aktion Solidarität" zeigte einen angewinkelten Handschlag in einem Kreis. Dies stellt eine klare Abwandlung des eigentlichen IB-Logos (schwarzes Lambda auf gelbem Grund) dar. Auch bei weiteren Demonstrationen im Jahr 2022 kam das neue Aktionslogo zum Einsatz. Logo der "Aktion Solidarität" Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die Aktionen und aktuellen Kampagnen der IB bestehen im Kern aus der ideologisch-programmatischen Forderung nach dem Erhalt der "ethnokulturellen Identität" und zeigen in der begleitenden Darstellung im Internet unverkennbar fremdenfeindliche Positionen bis hin zu völkisch-nationalistischen Haltungen. Die IB stellt Menschen mit Migrationshintergrund und Einwanderer ungeachtet ihrer Individualität als homogenen Block dar, dessen Handlungen zentral durch die ethnische Herkunft bestimmt sind. Diesem vermeintlich homogenen Block wird unterstellt, einheitliche Interessen zu verfolgen, die stets gegen die autochthone Bevölkerung bzw. die deutsche Nation gerichtet sind sowie eine demographische Übernahme eben dieser anzustreben. Ideologisch verfolgt die IB weiterhin einen Ethnopluralismus, der Menschen aufgrund kultureller Zugehörigkeiten klassifiziert und bewertet. Der Einzelne wird nicht als Individuum, sondern als Teil eines Kollektivs wahrgenommen, dem bestimmte unabänderliche Merkmale und Eigenschaften zugeschrieben werden. Im Sinne eines volksgemeinschaftlichen Denkens wird hierbei die Identität eines Menschen aufgrund seiner ethnischen Herkunft definiert. Die Identität eines Volkes bzw. einer Nation ist demnach vor allem durch die jeweiligen kulturellen Eigenheiten und Errungenschaften geprägt. Den ideologischen Bezugsrahmen bieten rechtskonservative Theoretiker der Weimarer Republik wie Ernst Jünger, Carl Schmitt und Oswald Spengler, die zu den antiliberalen und antiegalitären Denkzirkeln der "Konservativen Revolution" gezählt werden. So steht im Mittelpunkt der identitären Ideologie ein kollektivistisches Begriffsverständnis von "Freiheit, Heimat, Tradition", das primär auf Ausgrenzung, Abwertung und Ungleichheit setzt und sich kategorisch gegen die Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richtet. 85 Rechtsextremismus Die Aktionen und Veranstaltungen der IB sind in den letzten Jahren hingegen wenig geeignet, ein größeres Publikum anzusprechen oder eine größere mediale Aufmerksamkeit zu generieren. Diese Entwicklung zeichnet sich auch hinsichtlich der personellen Struktur ab. Die IB Niedersachsen vermag es derzeit kaum, junge Menschen als potenzielle Interessenten bzw. Aktivisten anzuwerben. Gleichzeitig entwachsen die langjährigen und gefestigten Akteure allmählich der aktionsund abenteuerorientierten jugendlichen Generation, die das Selbstverständnis der IB geprägt hat. Die IB Niedersachsen befindet sich derzeit in einem langsamen Zerfallsprozess. Es wurden im Berichtszeitraum nur wenig Aktionen durchgeführt, deren Öffentlichkeitswirksamkeit zudem stark begrenzt blieb. Auch aktive Maßnahmen zur Gegensteuerung, wie die Umbenennung auf lokaler Ebene oder die Vermummung bei Aktionen, haben bisher keine grundsätzliche Trendumkehr eingeläutet. Die wesentlichen ideologischen Inhalte der IB bestehen fort. Die ethnokulturelle Identität sieht die IB durch den Multikulturalismus bedroht, weshalb diese weiterhin mit der Schwerpunktsetzung auf die Themen Migration und Islam versucht, gesellschaftlich anschlussfähig zu sein und den öffentlichen Diskurs in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Islamfeindlichkeit der IB stützt sich insbesondere auf Narrative über kulturell bedingte Bildungsdefizite bestimmter Migrantengruppen oder der Ethnisierung von sexueller Gewalt. Das stetige Wiederaufgreifen dieser Themenkomplexe zeugt von einem Stillstand innerhalb der ideologischen Entwicklung der IB bzw. von einer Erfolglosigkeit im Aufgreifen neuer Ansätze. Hierfür steht beispielhaft die Kampagne "Gedankenverbrecher", die nicht unter dem Label der IB durchgeführt wurde. Die Kampagne folgt auf den letztlich gescheiterten Versuch, sich an den Protesten von sogenannten Corona-Leugnern und Querdenkern zu beteiligen und diese für eigene Zwecke zu nutzen. Die IB suchte hier die Nähe, als erkennbar wurde, dass Teile des Spektrums den Staat und seine Institutionen ablehnen bzw. delegitimieren. Nach zunächst vereinzelter Teilnahme an Versammlungen dieser Protestszene nahm die IB jedoch schließlich Abstand hiervon. Am Ende wirkten die politische und soziale Heterogenität der Corona-Leugner-Szene sowie deren mediales Image als verschwörungsaffine Wirrköpfe abschreckend 86 Rechtsextremismus auf die sich als elitär und intellektuell verstehende IB. Dennoch zeugen Kampagnen wie "Gedankenverbrecher" und die "Aktion Solidarität" von einer grundsätzlichen Bereitschaft, das eigene Themenspektrum situationsbezogen zu erweitern. Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass eine inhaltliche und thematische Erweiterung nicht das grundlegende Problem der mangelnden öffentlichen Reichweite kompensieren wird. 2.7 Junge Alternative (JA) Niedersachsen Gründung/ Auflösung am 04.11.2018; Neugründung am 25.04.2021 Bestehen seit Struktur/ Landesverband Repräsentanz Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: 15 Unterstützer Veröffentlichungen Präsenz in den Sozialen Medien, eigene Internetseite, Online-Shop (www.patria-laden.de) des Bundesverbands Kurzportrait/Ziele Die "Junge Alternative" (JA) Niedersachsen ist eine eigenständige, dem Bundesverband der Jungen Alternative für Deutschland untergeordnete politische Vereinigung und fungiert als offizielle Jugendorganisation der "Partei Alternative für Deutschland" (AfD). Nach der Bekanntgabe, dass die JA Niedersachsen mit Wirkung vom 03.09.2018 Beobachtungsobjekt des Niedersächsischen Verfassungsschutzes ist, wurde der Landesverband am 04.11.2018 aufgelöst. Als eine Art dezentrale Strategie der AfD Niedersachsen unternahmen einzelne Kreisverbände den Versuch, regionale Jugendgruppen ohne einheitliche Organisationsbezeichnung zu etablieren. Erst gegen Ende des Jahres 2020 wurden die Bemühungen um eine Neugründung des niedersächsischen Landesverbandes der JA intensiviert und am 25.04.2021 vollzogen. 87 Rechtsextremismus Die Ideologie der JA basiert auf einem ethnisch-kulturellen Volksbegriff, der dem Volksbegriff des Grundgesetzes entgegensteht. Ebenso finden sich islam-, einwanderungsund asylfeindliche Positionen wieder. Als Jugendorganisation versucht die JA Einfluss auf die Mutterpartei zu nehmen, um politische Inhalte mitzubestimmen. Gleichzeitig wirkt sie unterstützend, indem der Wahlkampf von AfD-Kandidaten in Form von Veranstaltungen und dem Anbringen von Plakaten betrieben wird. Finanzierung Die JA Niedersachsen finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Für die Beobachtungswürdigkeit ist der ethnisch-kulturelle Volksbegriff der JA von zentraler Bedeutung. Mit ihm soll primär das Ziel des Erhalts des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand zum Ausdruck gebracht werden. Dieser ethnisch-kulturelle Volksbegriff ist jedoch mit der Menschenwürde nach Art. 1 GG nicht vereinbar. Die Staatsangehörigkeit spielt als Zugehörigkeitsmerkmal zum Volk nur eine untergeordnete Rolle, denn deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund unterscheiden sich für die JA von ethnisch Deutschen. Es wird ein Weltbild propagiert, in dem ethnisch "Fremde" (vor allem Einwanderer, Asylbewerber, Geflüchtete und Menschen muslimischen Glaubens) abgewertet und ausgegrenzt werden. Sie werden pauschal als Gefahr und kriminelle Bedrohung dargestellt, vor der sich die Gesellschaft schützen muss. Dies steht in einem Konflikt mit dem Gleichheitsprinzip nach Art. 3 Abs. 3 GG. Im Kontext der Einwanderung spricht die JA nicht von Integration, sondern stets von Assimilation und meint damit eine vollständige Anpassung unter Aufgabe der eigenen kulturellen Identität. Jedoch können auch vollständig assimilierte deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund nie den gleichen Stellenwert wie ureingesessene Deutsche erreichen. Diese Kategorisierung von Menschen in unterschiedliche Klassen stellt implizit eine rassistisch begründete Ungleichwertigkeit von Menschen aufgrund ethnischer Merkmale dar. Die JA konstruiert somit eine Vision einer in sich geschlossenen ethnisch-homogenen Gesellschaft. Das Verwaltungsgericht Köln bekräftigt in seinem Urteil vom 08.03.2022 die Unvereinbarkeit des Volksbegriffes der JA mit dem des Grundgesetzes: 88 Rechtsextremismus "Die mit dem Volksbegriff des Grundgesetzes unvereinbare Auffassung der JA kommt bereits in ihrem Parteiprogramm - dem sog. 'Deutschlandplan' - unverkennbar zum Ausdruck." (VG Köln, Urteil vom 08.03.2022 - VG 13 K 326/21, Rn. 240) Der Deutschlandplan gilt als politisches Programm und "Wertekompass" der JA. Er wurde auf dem 11. Bundeskongress am 15.10.2022 in Apolda (Thüringen) durch das Programm "Jugend, die vorangeht!" erneuert. In diesem wird auf explizite Ausformulierungen größtenteils verzichtet, was im Hinblick auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln als taktische Entscheidung gewertet werden kann. Logo der Jungen Alternative Neugründung des niedersächsischen Landesverbandes Nachdem sich die JA Niedersachsen am 04.11.2018 auflöst hatte, mehrten sich Ende des Jahres 2020 die Indizien, dass eine bis dahin verfolgte dezentrale Strategie durch die Neugründung eines einheitlichen JA-Landesverbandes abgelöst werden könnte. Am 25.04.2021 gab der niedersächsische Landesverband der AfD schließlich bekannt, dass sich die JA Niedersachsen neu gegründet hat: "Für den Landesverband der #AfD war es eine Herzensangelegenheit die Neugründung der JA Niedersachsen zu unterstützen. Nach (zu) langer Pause hat sich heute die JA Niedersachsen gegründet." (Facebook-Eintrag des AfD-Landesverbandes vom 25.04.2021) Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Während des Landesparteitages der AfD Niedersachsen am 28.05.2022 in Hannover wurde ein Antrag zur Tagesordnung angemeldet, der auf die Nichtanerkennung der JA-Neugründung als offizielle Jugendorganisation der Partei zielte. Demnach sei es die Angelegenheit des Landesparteitages, über die Anerkennung einer Jugendorganisation zu entscheiden. Die Neugründung der JA Niedersachsen sei hingegen unter der Mitwirkung des damaligen Landesvorstandes erfolgt und somit nichtig. Dieses Vorhaben verdeutlicht die innerparteilichen Machtkämpfe in der AfD Niedersachsen, die ebenfalls die JA zum Streitpunkt machen. Sogenannte gemäßigte Kräfte des niedersächsischen AfD-Landesverbandes wollen einen 89 Rechtsextremismus parallel existierenden Zusammenschluss junger AfD-Mitglieder als offizielle Jugendorganisation der AfD in Niedersachsen etablieren. Als Reaktion auf die Nichtanerkennung bekam die JA Niedersachsen Zuspruch vom damaligen JA-Bundesvorsitzenden Carlo Clemens: "Ich stehe zur JA Niedersachsen und halte es für ein furchtbares Signal, dass die Jugendorganisation heute als Bauernopfer für machtpolitische Muskelspiele herhalten musste. ... Werde beim Bundesvorstand der @AfD Beschwerde über die Nicht-Anerkennung der nach Satzung offiziellen und einzigen Jugendorganisation einlegen. Lasst uns über den Kurs der Partei streiten - aber nicht auf dem Rücken von jungen Menschen, die sich aufopfern für die Sache!" (Twitter-Eintrag des damaligen JA-Bundesvorsitzenden Carlo Clemens vom 28.05.2022) Weiteren Rückhalt erfuhr die JA Niedersachsen durch den thüringischen AfD-Landessprecher Björn Höcke. Seiner Ansicht nach gelte die Verankerung der JA in der Parteisatzung auch für Niedersachsen. Auf dem Bundeskongress der JA am 15.10.2022 unterstützte schließlich der AfD-Bundesvorsitzende den niedersächsischen JA-Landesverband und betonte: "Wir brauchen eine starke JA Niedersachsen!" (AfD-Bundessprecher auf dem JA-Bundeskongress am 15.10.2022 in Apolda, Instagram-Eintrag der JA Niedersachsen vom 15.10.2022) Der JA-Bundeskongress kann als wegweisend bewertet werden. Das sogenannte solidarisch-patriotische Lager konnte seinen Einfluss weiter ausbauen, was für eine inhaltlich-ideologische Fortführung der völkisch-nationalistischen Positionen spricht. Auch mehrere Vertreter der JA Niedersachsen reisten zum Bundeskongress an. Ihr Landesvorsitzender wurde erneut in den Bundesvorstand gewählt und in seinem Amt als stellvertretender Schriftführer bestätigt. Weiter beachtenswert ist vor allem das Selbstverständnis des JA-Bundeskongresses als eine Art Vernetzungstreffen der Neuen Rechten. Die JA lud Gäste unterschiedlicher politischer Vorfeldorganisationen ein, die sich mit einem eigenen Stand präsentieren konnten. Diese Gäste spiegeln ein nahezu vollständiges Abbild der außerparlamentarischen Neuen Rechten in ihrem gesamten Spektrum wider. Neben dem Publizisten Götz Kubitschek mit seinem "Verlag Antaios" und 90 Rechtsextremismus dem "Institut für Staatspolitik" war auch die "Identitäre Bewegung" mit ihrer Bekleidungsmarke "Phalanx Europa" und ihrem Hausprojekt "Castell Aurora" vertreten, ebenso wie das Online-Bildungsprojekt "GegenUni", die Zeitschrift "COMPACT" oder der Spieleentwickler "Kvltgames". Die JA sieht sich selbst als Teil der "Mosaik-Rechten" und öffnet sich nicht nur dem politischen Vorfeld, sondern betrachtet sich als wichtiger Bestandteil eines "großen Ganzen": "Als Parteijugend des patriotischen Widerstandes sind wir Teil eines größeren Mosaiks. Wir sind stolz, dass viele Vertreter, von Verlagen über Medien bis zu Bürgerinitiativen auf unserem Kongress anwesend sind." (Twitter-Eintrag der "Jungen Alternative für Deutschland" vom 15.10.2022) Die Verbindungen zum neurechten politischen Vorfeld sind auch innerhalb der JA Niedersachsen zu beobachten. Sie reichen von der Weiterverbreitung entsprechender Inhalte über das Werben für Vorfeldorganisationen bis zur Moderation eines Online-Formats. Wie der Bundesverband hat auch die JA Niedersachsen einen neuen Vorstand gewählt. Auf dem Landeskongress am 25.09.2022 wurden vakante Vorstandspositionen besetzt. Zugleich wurde mit dem "JA-Niedersachsenplan" ein Forderungspapier formuliert, das sich an den niedersächsischen AfD-Landesverband richtet. In diesem stellt die JA ihre thematischen Schwerpunkte heraus, die die zukünftige AfD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag berücksichtigen soll. Im Zusammenhang mit der Landtagswahl am 09.10.2022 leisteten JA-Mitglieder Wahlkampfhilfe für zwei Landtagskandidaten der AfD. In Rotenburg/ Wümme wurde am 17.09.2022 die Direktkandidatur eines niedersächsischen JA-Mitgliedes unterstützt. Es wurden Flyer verteilt und ein Infostand organisiert. Neben der JA Niedersachsen waren auch Anhängerinnen und Anhänger der JA aus Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt anwesend. Am 30.09.2022 wurde ein Aktionswochenende in Osnabrück veranstaltet, bei dem JA-Mitglieder aus Hessen und Thüringen zugegen waren. Abseits der Unterstützung einer Landtagskandidatur fand eine Vortragsveranstaltung unter der Beteiligung eines Mitglieds aus dem JA-Bundesvorstand statt. 91 Rechtsextremismus Darüber hinaus war die JA Niedersachsen im Berichtszeitraum mit einem Infostand am bundesweiten Aktionstag "Gesund ohne Zwang" am 05.03.2022 in Hannover vertreten. Außerhalb Niedersachsens konnte die Teilnahme einzelner JA-Mitglieder am Sommerfest der JA Sachsen-Anhalt am 20.08.2022 sowie an der Großdemonstration unter dem Motto "Unser Land zuerst!" am 08.10.2022 in Berlin festgestellt werden. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die "Junge Alternative" macht einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff zu ihrem ideologischen Kern, der in einem Konflikt zum Grundgesetz steht. Sie wertet Minderheiten ab und spricht ihnen die grundsätzliche Gleichwertigkeit ab. In Niedersachsen zeigte die JA vor allem im Kontext der Landtagswahl einen erhöhten Aktivitätsgrad, wie es die organisierten Wahlkampfveranstaltungen unter Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern anderer JA-Landesverbände zeigen. Mit dem an die niedersächsische AfD-Landtagsfraktion adressierten Forderungspapier sind wiederum inhaltliche Äußerungen und Standpunkte zu vernehmen. Die Vorstandsfunktion des niedersächsischen JA-Landesvorsitzenden im Bundesverband weist auf eine eindeutige Unterstützung der völkisch-nationalistischen Ideologie des auf Bundesebene überlegenen "solidarisch-patriotischen" Lagers hin. Eine Distanzierung von rechtsextremistischen Positionen ist jedenfalls nicht zu erkennen. Die Verbundenheit zum neurechten politischen Vorfeld konnte beim Bundeskongress beobachtet werden. Diese Synergie geht über die bloße Vernetzung hinaus. Die JA betrachtet sich als Teil eines Gesamtbildes, das sich aus verschiedenen Medien, Organisationen, Initiativen etc. zusammensetzt. Dass die Jugendorganisation in Niedersachsen durchaus umstritten ist und als mögliche Gefahr für die Gesamtpartei gesehen wird, offenbarte der Antrag einiger AfD-Mitglieder beim Landesparteitag am 22.05.2022, die Neugründung der JA nicht anzuerkennen. Das eindeutige Bekenntnis des AfD-Bundessprechers zur JA Niedersachsen lässt jedoch die Schlussfolgerung zu, dass eine rückwirkende Nichtanerkennung als unwahrscheinlich einzuschätzen ist. Dennoch bringt die angespannte Gesamtsituation um die JA Niedersachsen und die Haltung des AfD-Landesverbandes in dieser Frage ein gewisses Konfliktpotenzial mit sich, auch im Hinblick auf 92 Rechtsextremismus ein verstärktes Auftreten einer konkurrierenden AfD-Jugendorganisation. Dahingehend muss die weitere Entwicklung der JA Niedersachsen kontinuierlich bewertet werden. 2.8 "Der Flügel" innerhalb der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) Gründung/ März 2015; formale Auflösung am 30.04.2020 Bestehen seit Struktur/ Personenzusammenschluss/innerparteiliche Sammlungsbewegung Repräsentanz ohne offizielle Strukturen/strukturelle Organisation, Funktionsträger und Ansprechpartner auf Landesund Bundesebene bis zur formalen Auflösung Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: k. A. 28 Unterstützer Ve röffentlichungen Eigene Website, Online-Versandhandel, offizielle Kanäle in den Sozialen Medien (bis zum 30.04.2020), Gruppen in den sozialen Medien Kurzportrait/Ziele Die bundesländerübergreifende Sammlungsbewegung "Der Flügel" ist ein Personenzusammenschluss innerhalb der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD). Ein eigener Internetauftritt, ein Online-Shop, mehrere Gruppen in den sozialen Netzwerken, die abgehaltenen zentralen "Flügel"-Veranstaltungen mit den "Kyffhäusertreffen" sowie ernannte Funktionsträger und Ansprechpartner in den Bundesländern zeugen von bestehenden Strukturen und einer Professionalität, die weit über einen lediglich losen Zusammenschluss hinausgehen. 28 Auf Landesebene werden die Mitglieder des "Flügels" unter dem sonstigen rechtsextremistischen Personenpotenzial in Parteien gezählt. Eine gesonderte Ausweisung des Personenpotenzials des "Flügels" erfolgt nicht; siehe Kapitel 2.1, "Mitglieder-Potenzial". 93 Rechtsextremismus Als Gründungsdokument des "Flügels" kann die sogenannte Erfurter Resolution betrachtet werden. Die Verfasser attestieren darin der AfD eine fehlerhafte Entwicklung und erachten deshalb den Zusammenschluss des "Flügels" als notwendig. Das ideologische Zentrum des "Flügels" bildet ein völkischer Nationalismus, der auf ein ethnisch-homogenes Gesellschaftsbild abzielt. Fremdenund islamfeindliche Aussagen stützen diese Ideologie eines völkischen Nationalismus und werden durch antipluralistische sowie geschichtsrevisionistische Äußerungen ergänzt. Im Januar 2019 wurde "Der Flügel" vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zum Verdachtsfall erhoben und am 12.03.2020 als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung eingestuft. Infolgedessen forderte der AfD-Bundesvorstand die Auflösung des innerparteilichen Personenzusammenschlusses, welche formal zum 30.04.2020 erfolgte. Der Niedersächsische Verfassungsschutz bestimmte den "Flügel" am 19.03.2020 zum Beobachtungsobjekt. Finanzierung Spenden, Online-Versandhandel Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die völkisch-nationalistische Ideologie des "Flügels", die von seinen Anhängerinnen, Anhängern, Funktionärinnen und Funktionären vertreten wird, zeichnet ein ethnisch-homogenes Gesellschaftsbild. Das Konzept von Volk und Zugehörigkeit bietet politisch AndersdenLogo des Flügels kenden und in ethnischer wie in kultureller Hinsicht "fremden" Menschen in der vom "Flügel" propagierten Gesellschaft keinen Platz. Diese Anschauung geht mit fremdenund islamfeindlichen, antisemitischen und antipluralistischen Positionen einher und steht in einem eindeutigen Widerspruch zur Menschenwürde sowie dem Demokratieund Rechtsstaatsprinzip. Es existiert demnach eine Konstruktion von Feindbildern auf ethnisch-kultureller, aber auch auf politischer Ebene. Dies äußert sich auf der einen Seite primär als Agitation gegen Geflüchtete, Migranten und Menschen muslimischen Glaubens, auf der anderen Seite als ablehnende Haltung gegenüber politischen Parteien, politischem Meinungspluralismus oder der Bundesregierung. Der Parlamentarismus wird von zentralen "Flügel"-Akteuren wie Björn Höcke aus Thüringen strikt abgelehnt. Das vom "Flügel" 94 Rechtsextremismus vertretene Politikverständnis stellt vielmehr einen "wahren Volkswillen" ins Zentrum, der die politische Ordnung bestimmen soll und der sich in einer Gegenposition zu einer repräsentativen Demokratie befindet. Hinzu kommen immer wieder Äußerungen von "Flügel"-Angehörigen, die auf eine Verharmlosung des historischen Nationalsozialismus abzielen und dabei von geschichtsrevisionistischen Fragmenten ergänzt werden. Darüber hinaus ist die Sammlungsbewegung im rechtsextremistischen Spektrum vernetzt. Die zunehmende Professionalisierung des "Flügels" fördert seinen innerparteilichen Einflussund Machtgewinn. Die auf Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen gerichteten Ansichten des "Flügels" sind in ihrer Gesamtheit nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar. Der Niedersächsische Verfassungsschutz hat deshalb am 19.03.2020 die innerparteiliche Sammlungsbewegung "Der Flügel" zum Beobachtungsobjekt gemäß SS 6 Abs. 2 NVerfSchG bestimmt. Formale Auflösung und Abwahl des "Flügel"-geprägten Landesvorstandes Nachdem "Der Flügel" im Januar 2019 vom BfV zum Verdachtsfall erhoben wurde und die Einstufung als erwiesenermaßen extremistische Bestrebung am 12.03.2020 folgte, forderte der AfD-Bundesvorstand die Auflösung des innerparteilichen Personenzusammenschlusses. In einem Beschluss vom 21.03.2020 heißt es wörtlich: "Der Bundesvorstand erwartet als Ergebnis des morgigen 'Flügel'-Treffens eine Erklärung darüber, dass sich der informelle Zusammenschluss 'Flügel' bis zum 30.04.2020 auflöst." (Beschluss des AfD-Bundesvorstandes vom 21.03.2020) Die beiden "Flügel"-Leitfiguren Björn Höcke und Andreas Kalbitz konstatierten daraufhin in einer Pressemitteilung, dass prinzipiell nichts aufgelöst werden kann, "was formal nicht existiert". Um jedoch "die Einheit der Partei zu wahren", wurden alle dem "Flügel" zugehörigen Personen bis zum 30.04.2020 gebeten, "ihre Aktivitäten im Rahmen des Flügels einzustellen."29 Die Reaktion eines niedersächsischen "Flügel"-Anhängers auf dem Messenger-Dienst 29 Pressemitteilung des "Flügels" vom 27.03.2020. 95 Rechtsextremismus Twitter lässt jedoch darauf schließen, dass die Ideologie des "Flügels" weiterhin in der AfD aufrechterhalten bleibt: "'#DerFlügel wird jetzt bald Geschichte sein, aber der Geist des Flügels wird lebendig sein in dieser @AfD. Halten wir an diesem Geist fest, bewahren wir die Einheit der AfD!' Danke @ BjoernHoecke für fünf großartige gemeinsame Jahre!" (Twitter-Eintrag vom 26.04.2020) Dass die Idee des "Flügels" auch nach der formalen Auflösung weiter vorhanden ist und weitreichende Pläne bestehen, dessen Strukturen wiederzubeleben, offenbarte ein geheim abgehaltenes Treffen in Niedersachsen. Am 20.02.2021 versammelten sich in Verden etwa 20 AfD-Mitglieder, die dem "Flügel" angehören oder diesem zumindest nahestehen. Bei dem Treffen zeigten die Teilnehmenden ihre Absicht, die offiziell aufgelösten Strukturen des "Flügels" in Niedersachsen zu reaktivieren. Konkret ging es um Parallelstrukturen, die an den Kreisverbänden vorbei agieren sollten. Wie konspirativ dabei im Hinblick auf die formale Auflösung des "Flügels" vorzugehen sei, veranschaulicht der Wortbeitrag eines damaligen Mitglieds des AfD-Landesvorstandes: "Wir nennen es natürlich nicht so, wie es früher hieß, wir nennen das dann irgendwie anders." (Aussage eines damaligen Mitglieds des Landesvorstandes am 20.02.2021 in Verden) Bei dem Treffen wurden sogenannte Regionalkoordinatorinnen und Regionalkoordinatoren benannt, die als "gewählte Vertreter des patriotischen Lagers"30 fungieren sollten. Ziel war es, die neu geschaffenen Strukturen jenseits der offiziellen Parteigliederungen zu organisieren und auszubauen. Zentrales Anliegen war die Koordination und Mobilisierung der "Flügel"-nahen Parteimitglieder, um politische Mehrheiten zu erzielen, aber auch um die eigene Position innerhalb des Landesverbandes zu stärken. Anschließend wurde die Reaktivierung der "Flügel"-Strukturen in Niedersachsen von einem damaligen Mitglied des AfD-Landesvorstandes verkündet: 30 WDR vom 10.06.2021, "Recherchen von WDR und NDR: AfD-Flügel baut offenbar Strukturen wieder auf". 96 Rechtsextremismus "Ich beglückwünsche uns, dass wir die alten Flügel-Strukturen wieder reaktiviert haben." (Aussage eines damaligen Mitglieds des Landesvorstandes am 20.02.2021 in Verden) Das primäre Ziel, eine zahlenmäßige Überlegenheit von "Flügel" nahestehenden Parteimitgliedern innerhalb des niedersächsischen AfD-Landesverbandes sicherzustellen, konnte nicht erreicht werden: Auf dem Landesparteitag der AfD Niedersachsen am 28.05.2022 Hannover wurde der "Flügel"-geprägte Landesvorstand abgewählt und auch die Listenplätze zur niedersächsischen Landtagswahl am 09.10.2022 wurden vorwiegend mit AfD-Politikerinnen und -Politikern des sogenannten gemäßigten Lagers besetzt. Vorausgegangen waren andauernde Machtkämpfe zwischen den innerparteilichen Lagern, aber auch Konflikte im Lager des formal aufgelösten "Flügels" selbst. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Trotz seiner formalen Auflösung und fehlender organisatorischer Strukturen lässt sich in Niedersachsen weiterhin ein Bezug von Anhängerinnen und Anhängern des "Flügels" zu Ereignissen in Niedersachsen feststellen. Während unter der Nennung des "Flügels" keine Treffen mehr abgehalten werden, wirken noch immer ihm ideologisch nahestehende Personen in der Gesamtpartei. Diese Personen nehmen nach wie vor Einfluss auf Veranstaltungen und prägen das Gesamtbild der Partei. Dies konnte in erster Linie beim bundesweiten Aktionstag "Gesund ohne Zwang" am 05.03.2022 in Hannover beobachtet werden. Bei der Kundgebung, die sich gegen die staatlich angeordneten Corona-Schutzmaßnahmen richtete, konnte die Teilnahme von Anhängerinnen und Anhängern des "Flügels" bzw. ihm nahestehenden Personen festgestellt werden. Insgesamt verzeichnete die Veranstaltung etwa 150 bis 170 Teilnehmende, die sich aus Anhängerinnen und Anhängern der AfD wie auch aus Kritikerinnen und Kritikern der Corona-Schutzmaßnahmen zusammensetzten. Gleichermaßen sind bundesweit Fortsetzungsaktivitäten des "Flügels" zu verzeichnen, an denen sich auch Niedersachsen beteiligten, so beim "2. Preußenfest" des AfD-Kreisverbandes Saalekreis am 16.09.2022 in Schnellroda (Sachsen-Anhalt). Neben den "Flügel"-Identifikationsfiguren Björn Höcke und Andreas Kalbitz waren 97 Rechtsextremismus weitere bundesweit bekannte Anhänger des "Flügels" als Redner vertreten. Erwähnenswert ist, dass die Veranstaltung in unmittelbarer Nähe zum Sitz des "Instituts für Staatspolitik" (IfS) und des "Verlags Antaios" stattfand. Das IfS sowie der "Verlag Antaios" sind eng mit dem Vordenker der Neuen Rechten, Götz Kubitschek, verbunden, der wiederum das "2. Preußenfest" eröffnete. Bereits in der Vergangenheit konnte die Kooperation zwischen dem IfS und Björn Höcke sowie anderen Akteuren des "Flügels" festgestellt werden. Ähnliches gilt für die Vernetzung von Anhängerinnen und Anhängern des "Flügels" mit dem Magazin "COMPACT": u. a. gemeinsame Auftritte und Interviews verdeutlichen die enge Verzahnung. Beim diesjährigen "COMPACT"-Sommerfest am 27.08.2022 in Stößen (Sachsen-Anhalt) waren dem "Flügel" nahestehende Personen zu Gast, ebenso wie der ideologische Vordenker der "Identitären Bewegung" im deutschsprachigen Raum, der Österreicher Martin Sellner. Auf dem Bundesparteitag der AfD vom 17. bis 19.06.2022 in Riesa (Sachsen) stellte eine Debatte anlässlich der Streichung des Vereins "Zentrum" (früher: "Zentrum Automobil") von der Unvereinbarkeitsliste der AfD die Bedeutung des gemeinsamen Wirkens von "Flügel" und Vorfeldorganisationen, vorwiegend im Bereich der Neuen Rechten, heraus. Die Unvereinbarkeitsliste umfasst Parteien, Vereine und weitere Organisationen, deren Mitglieder nicht in die AfD eintreten dürfen. Höcke betonte in diesem Zusammenhang, dass Partei und Vorfeld einander bedingen und benötigen. Politisch-gesellschaftliche Umwälzungen ließen sich nur gemeinsam verwirklichen. Die Streichung von der Unvereinbarkeitsliste habe dementsprechend auch eine symbolische Wirkung: "Wir sind die Partei, aber die Partei ist nicht alles, sondern wir brauchen die freien Blogger, die freien Medien, die alternativen Gewerkschaften usw. Zusammen können wir den Kampf um dieses Land gewinnen. Aber nur zusammen. Deswegen stehen wir zusammen." (Björn Höcke auf dem AfD-Bundesparteitag in Riesa) Dem Antrag stimmte letztlich eine Mehrheit der Delegierten zu. Die Debatte um den sich selbst als Gewerkschaft bezeichnenden Verein "Zentrum" veranschaulicht auf der einen Seite die Bemühungen des formal aufgelösten "Flügels", das Zusammenwirken mit dem 98 Rechtsextremismus politischen Vorfeld zu intensivieren, auf der anderen Seite kann sie als Machtdemonstration gewertet werden, da der "Flügel" auch ohne organisatorische Strukturen Mehrheiten generieren kann und dadurch einen unmittelbaren Einfluss auf Grundsatzentscheidungen der Gesamtpartei ausübt. In der Gesamtschau muss der Bundesparteitag zweifellos als Erfolg der "Flügel"-Kräfte eingeordnet werden, die mehrere Vorstandsposten mit eigenen Kandidatinnen und Kandidaten besetzten konnten. Bewertung, Tendenzen, Ausblick "Der Flügel" vertritt die Ideologie eines völkischen Nationalismus, der auf die Entfremdung der Bevölkerung von zentralen Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgelegt ist. Auch nach seiner formalen Auflösung zum 30.04.2020 konnten Fortsetzungsaktivitäten des "Flügels" beobachtet werden. In Niedersachsen schlossen sich am 20.02.2021 "Flügel"-nahe AfD-Mitglieder zusammen, um konkret die Strukturen des "Flügels" aufleben zu lassen. Im Jahr 2022 fand mit dem "2. Preußenfest" weiterhin eine Veranstaltung mit niedersächsischer Beteiligung statt, die sich aufgrund des zusammenkommenden Personenkreises sowie des Organisationsteams eindeutig dem formal aufgelösten "Flügel" zuordnen lässt. Die Zusammenarbeit zwischen den Kräften des "Flügels" und dem neurechten politischen Vorfeld ist nach wie vor von enormer Relevanz, um gemeinschaftlich die politischen und gesellschaftlichen Visionen umzusetzen. In Niedersachsen verlor der "Flügel" durch die Abwahl des von ihm geprägten Landesvorstandes insgesamt an Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten, um die politische Ausrichtung der AfD in Niedersachsen zu steuern. Allerdings wird vor allem auf Bundesebene deutlich, dass der "Flügel" bzw. das dahinterstehende Personennetzwerk auch ohne formale Organisationsstruktur versucht, seine Macht innerhalb der Gesamtpartei zu manifestieren und sogar auszubauen. Der Bundesparteitag im sächsischen Riesa hat gezeigt, wie der formal aufgelöste "Flügel" die inhaltlich-politische Ausrichtung und auch personelle Entscheidungen der Partei mitbestimmt. Insgesamt muss jedoch konstatiert werden, dass die Grenzen zwischen "Flügel" und Gesamtpartei immer weiter verschwimmen. Daher gilt es, die landesund bundesweiten Entwicklungen fortlaufend zu 99 Rechtsextremismus bewerten, um ggf. ein Erstarken struktureller Fortsetzungsbestrebungen oder ein zunehmendes Hineinwirken in die Gesamtpartei im Blick zu behalten, sodass eine differenzierte Gesamteinschätzung getroffen werden kann. 2.9 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Sitz/Verbreitung Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Sitz des Bundesverbandes: Berlin Sitz des Landesverbandes: Oldenburg Junge Nationalisten (JN) Sitz des Bundesverbandes: Berlin Sitz des Landesverbandes Nord: ohne Angabe Gründung/ 1964; 1969 der Jugendorganisation Bestehen seit Struktur/ Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Repräsentanz Bundesvorsitzender: Frank Franz Landesvorsitzender: Manfred Börm; wenige handlungsfähige Unterbezirke in Niedersachsen Junge Nationalisten (JN) Bundesvorsitzender: Sebastian Weigler Landesvorsitzender Nord: nicht bekannt Mitglieder/ Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Anhänger/ Niedersachsen: 200 Unterstützer Junge Nationalisten (JN) Niedersachsen: 10 Veröffentlichungen Bund: Deutsche Stimme (DS) (monatlich); Stimme Deutschlands (unregelmäßig); Web-Angebote auf Bundesund Landesebene sowie in sozialen Medien 100 Rechtsextremismus Kurzportrait/Ziele Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ist eine rechtsextremistische Partei, die die Demokratie in Deutschland beseitigen will. Sie propagiert offen und aggressiv fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Positionen. Ihre von völkisch-rassistischen Vorstellungen geleitete Programmatik weist eine ideologische und sprachliche Nähe zur Ideologie der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) auf. Finanzierung Staatliche Parteienfinanzierung, Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die NPD lehnt die freiheitliche Demokratie ab und will diese beseitigen. Dies betrifft auch einzelne, aber wesentliche Prinzipien und Grundwerte unserer Verfassung. So negiert die Partei die im Grundgesetz vertretene Idee, dass jeder Mensch als Individuum und ohne Vorbedingungen eine Würde besitzt. Die NPD spricht Menschen nur eine Würde als Teil eines nationalen Kollektivs zu. In dem 2010 verabschiedeten Parteiprogramm "Arbeit - Familie - Vaterland" proklamiert sie die Volksgemeinschaft: "Die Würde des Menschen als soziales Wesen verwirklicht sich vor allem in der Volksgemeinschaft. Erst die Volksgemeinschaft garantiert die persönliche Freiheit." In konsequenter Umsetzung dieser völkisch-nationalen Grundordnung will die NPD alles "Fremde" aus der "Solidargemeinschaft aller Deutschen" entfernen. Hiermit richtet sich die NPD insbesondere gegen die im Grundgesetz verbrieften Menschenrechte (Art. 1 GG) und gegen das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 GG). Damit ist die Partei verfassungsfeindlich und erfüllt die Voraussetzungen für eine Beobachtung nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG. Die NPD ist verfassungsfeindlich31 Der von den Innenministern und -senatoren der Bundesländer am 03.12.2013 beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eingereichte 31 Siehe auch Kapitel 11.1, Abschnitt "Verbot verfassungsfeindlicher Organisationen/ Verfassungswidrigkeit". 101 Rechtsextremismus Antrag auf Verbot der NPD und ihrer Unterorganisationen wurde am 17.01.2017 vom Zweiten Senat des Gerichts zurückgewiesen (BVerfGE 2 BvB 1/13). In dem Urteil hatte das BVerfG zwar die Verfassungsfeindlichkeit der NPD bestätigt, aber kein Verbot ausgesprochen. In dem Urteil wurde ausgeführt: "Die NPD arbeitet auch planvoll und mit hinreichender Intensität auf die Erreichung ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ziele hin. Allerdings fehlt es (derzeit) an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, die es möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt, weshalb der Zweite Senat des BVerfG den zulässigen Antrag des Bundesrates auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit und Auflösung der NPD und ihrer Unterorganisationen (Art. 21 Abs. 2 GG) mit heute verkündetem Urteil einstimmig als unbegründet zurückgewiesen hat." In seiner weiteren Urteilsbegründung verwies das Gericht darauf, dass es dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten sei, Sanktionsmöglichkeiten für verfassungsfeindliche Parteien zu schaffen. Infolgedessen beschloss der Bundestag im Sommer 2017 die Änderung von Art. 21 Abs. 3 GG wie folgt: "Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen." Mit Schriftsatz vom 19.07.2019 reichten die drei Verfassungsorgane Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung den Antrag auf Ausschluss der NPD von der Parteienfinanzierung beim BVerfG ein. In dem Antrag wird ausführlich begründet, dass die NPD die parlamentarische Demokratie verachtet und ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Anhänger nach darauf ausgerichtet ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Nach einem Ausschluss von der Parteienfinanzierung würde dann auch die steuerliche Begünstigung der Partei entfallen. Aktivitäten der NPD Zur Durchsetzung ihrer Ziele hatte der ehemalige Bundesvorsitzende Udo Voigt 1996 eine "Drei-Säulen-Strategie" ("Kampf um die 102 Rechtsextremismus Straße, Kampf um die Köpfe, Kampf um die Parlamente") entwickelt, die 2004 mit dem "Kampf um den organisierten Willen" zu einem Vier-Säulen-Konzept ausgebaut wurde. Zurzeit deutet jedoch vieles darauf hin, dass die bisherige Strategie nicht fortgeführt wird. Hintergrund dürfte die anhaltende Krise der Partei sein, in der sie sich seit Jahren befindet. Hatte die NPD bei Wahlerfolgen in der Vergangenheit noch von den Protestbewegungen gegen die Sozialreformen der Bundesregierung profitiert, verschob sich ab 2014 der thematische Schwerpunkt in Richtung "Asylmissbrauch" und "Überfremdung". Auf Grundlage des Positionspapiers "Wille - Gemeinschaft - Tat" und infolge der seit der Bundestagswahl 2017 anhaltenden Schwäche als Wahlpartei, versucht die NPD, sich verstärkt als Weltanschauungspartei auszurichten. So hatte der stellvertretende Bundesvorsitzende Thorsten Heise 2018 innerhalb der Partei den sogenannten völkischen Flügel ausgerufen, dem auch einige niedersächsische Funktionäre angehören. Der Bundesvorsitzende Franz erklärte nach dem Bundesparteitag im Hinblick auf den Kampf um die Parlamente, dass "die NPD in Zukunft nicht mehr als die Wahlpartei geplant ist, wie wir sie aus den letzten Jahren kennen". Die mangelnde Kampagnenfähigkeit der Partei lässt auch den "Kampf um die Straße" in den Hintergrund rücken. Im Berichtsjahr organisierte sie nur wenige eigene kleinere Veranstaltungen, wie z. B. den Trauermarsch am 08.05.2022 in Demmin (Mecklenburg-Vorpommern) oder beteiligte sich an rechtsextremistischen Großdemonstrationen anderer Veranstalter (u. a. "Dresden Gedenken"). Mitglieder ihrer Jugendorganisation, der "Jungen Nationalisten" (JN), unterstützten eine gemeinsame Demonstration zum 1. Mai mit der Partei "Die Rechte" in Dortmund (Nordrhein-Westfalen). In Niedersachsen haben schon seit Jahren keine Demonstrationen mehr stattgefunden. Bundesparteitag der NPD in Hessen Am 14. und 15.05.2022 fand im hessischen Altenstadt der erste Bundesparteitag der NPD seit 2019 statt. Die rund 150 Delegierten bestätigten den Bundesvorsitzenden Frank Franz in seinem Amt, der sich damit gegen seinen Herausforderer Lennart Schwarzbach aus Hamburg durchsetzen konnte. Schwarzbach, der die parteiinterne Opposition der sogenannten Traditionalisten anführte, erhielt nur halb so viele Stimmen wie Franz. Dessen Stellvertreter wurden Thorsten Heise (Thüringen), Sebastian Schmidtke (Thüringen) und der ehemalige Parteivorsitzende Udo Voigt (Berlin). Der neue Vorsitzende der NPD-Jugendorganisation, Sebastian Weigler aus Braunschweig, der eine Rede zur Lage der JN hielt, wurde als Beisitzer erstmals in den Bundesvorstand gewählt. 103 Rechtsextremismus Haupttagesordnungspunkt neben den Vorstandswahlen war die strategische Neuausrichtung der Partei und eine mögliche Umbenennung. Für den Antrag zur Änderung der Satzung stimmte zwar eine Mehrheit von 100 Delegierten, allerdings wurde die erforderliche Zweidrittelmehrheit für eine Satzungsänderung knapp verfehlt. In einer Stellungnahme zu dem Ergebnis der Abstimmung sagte der Bundesvorsitzende Franz, dass er sich durch die hohe Zustimmung trotzdem bestärkt fühle, um die aus seiner Sicht erforderlichen Neuerungen und Strukturreformen anzugehen. Der Bundesvorsitzende Franz hatte bereits 2019 aufgrund der anhaltenden personellen und organisatorischen Probleme der NPD versucht, eine Diskussion um eine Neuorientierung anzustoßen, u. a. den Aufbau eines vorpolitischen Raumes, die Professionalisierung der Medienarbeit und die Konzentration auf die kommunalpolitische Arbeit sowie eine Namensänderung. Im Zuge dessen wurde das Parteiorgan "Deutsche Stimme" ausgegliedert und in ein Monatsmagazin umgewandelt. Eine Neuaufstellung der parteieigenen Medien, etwa die YouTube-Kanäle "avos TV" und "Nationaldemokraten", konnte der NPD zumindest keinen spürbaren Aufschwung verleihen. Die Strategiediskussion wurde durch die fortwährenden Wahlniederlagen der Partei immer wieder angefacht. Bei der Bundestagswahl am 26.09.2021 erzielte die NPD nur noch 0,1 Prozent der Zweistimmen (2017: 0,4 Prozent). Bei den Kommunalwahlen in Niedersachsen am 12.09.2021 erreichte sie lediglich zwei Mandate. Bundesweit kam die Partei im vergangenen Jahr auf 107 kommunale Mandate. Aufgrund der schlechten Erfolgsaussichten, die sich nach Meinung des Parteivorsitzenden Franz auch in absehbarer Zeit nicht verbessern werden, solle sich die NPD von einer Wahlpartei zu einer "Heimatbewegung" wandeln. Die NPD müsse vermehrt die Pro bleme und Sorgen der Menschen vor Ort aufgreifen sowie lokalen (Protest-)Bewegungen die nötige Infrastruktur zur politischen Arbeit anbieten. Diese Diskussion führte letztlich zum Vorschlag des Parteivorsitzenden für eine Namensänderung in "Die Heimat". "Netzwerktag" der "Deutschen Stimme" in Thüringen und Brandenburg Am 10.09.2022 fand im thüringischen Eisenach unter dem Titel "Spaltung überwinden" der erste sogenannte Netzwerktag des 104 Rechtsextremismus NPD-Organs "Deutsche Stimme" (DS) statt. An der Veranstaltung nahmen rund 70 Personen teil, darunter Vertreter der NPD und der Partei "Die Rechte" sowie ehemalige Mitglieder der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) und ein Vertreter der rechtsextremistischen Kleinstpartei "Freie Sachsen". Das Tagungsprogramm umfasste neben drei Diskussionsveranstaltungen auch den Punkt "Projektvorstellung und Ideenbörse", wo sich u. a. der "Sturmzeichen-Verlag", das Internetformat "FSN-TV" und das Magazin "Aufgewacht" der "Freien Sachsen" präsentierten, ebenso wie das europaweite rechtsextremistische Parteiennetzwerk "Allianz für Frieden und Freiheit" ("Alliance for Peace and Freedom", APF). Ergänzt wurde das Programm um den Auftritt der rechtsextremistischen Liedermacherin Karin Mundt aus Schleswig-Holstein. Ein zweiter "Netzwerktag" fand am 10.12.2022 in Brandenburg statt. Aktivitäten der "Junge Nationalisten" (JN) Die "Jungen Nationalisten" (JN) verstehen sich als europaweit vernetzte, sozialrevolutionäre und nationalistische Jugendbewegung. Durch politische Aktionen und ideologische Schulungen festigen die Mitglieder der JN ihre rechtsextremistische Weltanschauung. Sie grenzen sich damit von der modern auftretenden "Identitären Bewegung" aus dem Spektrum der sogenannten Neuen Rechten ab und nehmen zugleich eine Scharnierfunktion zur neonazistischen Szene ein. Der 29-jährige Sebastian Weigler aus Braunschweig wurde auf dem Bundeskongress der JN am 09.04.2022 in Marlishausen (Thüringen) einstimmig zum neuen Bundesvorsitzenden gewählt. Weigler solle "nun mit neuem Elan für die kommenden Jahre die JN zu siegreichen Taten führen". Er bringe "die nötige Erfahrung über die Führung und Leitung mit, um seiner Position als Bundesvorsitzender gerecht zu werden und unserer Jugendbewegung als Motor zu dienen." Der bisherige JN-Vorsitzende Paul Rzehaczek war nicht mehr zur Wahl angetreten. Die JN umfassen bundesweit derzeit etwa 280 Mitglieder. Sebastian Weigler ist seit Jahren innerhalb der JN und NPD tätig. Er ist Beisitzer im Landesvorstand der NPD Niedersachsen und war bereits 2014 in den Aufbau des JN-Stützpunktes Braunschweig involviert. Aufgrund der personellen und organisatorischen Schwäche schlossen sich im März 2018 unter dem Vorsitz von Weigler die 105 Rechtsextremismus JN-Verbände Bremen, Hamburg und Niedersachsen zum Landesverband Nord zusammen. Erst zwei Monate zuvor hatten sich die "Jungen Nationaldemokraten" im Zuge einer Neuorientierung in "Junge Nationalisten" umbenannt, nachdem die NPD 2017 ein desolates Zweitstimmenergebnis bei der Bundestagswahl einfuhr und selbst in eine tiefe Krise fiel. Weigler gilt als guter Organisator, Redner und Netzwerker, ist dabei allerdings nicht immer unumstritten. Dennoch hat er sich als Führungskraft bekannt gemacht und steht für eine inhaltliche Neuausrichtung der JN. Zudem ist er innerhalb der rechtsextremistischen Szene gut vernetzt und verfügt insbesondere über Kontakte zu Neonazis und zur Partei "Die Rechte". Aktivitäten der NPD in Niedersachsen Der niedersächsische Landesverband unterhält neun Unterbezirke, von denen die meisten lediglich auf dem Papier existieren. Zum Jahresende 2022 hatte die Partei nur noch 200 Mitglieder. Landesvorsitzender ist seit diesem Jahr der 72-jährige Manfred Börm aus Handorf (Landkreis Lüneburg). Bei den Kommunalwahlen 2021 hatte Börm als einziger seine beiden Mandate für die NPD verteidigen können. Von den ehemals 2016 erzielten 16 kommunalen Mandaten in Niedersachsen sind der Partei damit nur noch zwei geblieben. Zu der niedersächsischen Landtagswahl am 09.10.2022 trat die NPD mangels Erfolgsaussichten gar nicht erst an. Der Landesverband hatte Anfang 2019 das Anwesen eines NPD-Mitglieds in Eschede (Landkreis Celle) gekauft, um darauf nach eigenem Bekunden ein Gemeinschaftszentrum unter der Bezeichnung "Nationales Niedersachsen" zu errichten. In der Folgezeit gab es auf dem "Hof Finkenberg", wie bereits in den Jahren zuvor, sowohl Veranstaltungen als auch Arbeitseinsätze in Form von Sanierungsund Renovierungsarbeiten. Am 18.06.2022 wurde in der Ortschaft Eschede ein Infotisch betrieben. Auf dem "Hof Finkenberg" fanden zwei Sonnenwendfeiern am 17.06.2022 und 21.12.2022 statt sowie ein "Politisches Herbstfest" am 02.10.2022, bei dem neben einer Buchvorlesung und einem Vortrag über die "Verbindung zwischen Volk, Kultur und ihrem notwendigen Brauchtum" auch ein "Sportwettkampf für Frau, Mann und Kind" sowie der musikalische Beitrag des rechtsextremistischen Liedermachers "Fylgien" aus Berlin angeboten wurden. 106 Rechtsextremismus Aktivitäten der "Jungen Nationalisten" (JN) in Niedersachsen Der im August vorgenommenen Neugründung des Stützpunktes Hannover folgten keine weiteren öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Nach der Wahl Weiglers zum Bundesvorsitzenden gestaltete sich die Suche eines Nachfolgers für die JN Niedersachsen offensichtlich schwierig. Dies zeigt sich u. a. darin, dass die Schwäche des JN-Landesverbandes, Veranstaltungen und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten zu organisieren, nicht kompensiert werden konnte. Der JN-Landesverband Nord berichtete lediglich über Aktionen anlässlich des sogenannten Heldengedenkens zum Volkstrauertag sowie über eine Wanderung in der Lüneburger Heide am 01.11.2022. Ein entsprechender Bericht findet sich auf der bundesweiten Internetseite der "Jungen Nationalisten" (JN), ebenso wie ein "Erfahrungsbericht" eines Teilnehmers beim sogenannten Gemeinschaftstag der JN am 24.10.2022 "im Süden von Deutschland", in dessen Rahmen man auch neue "Anwärter" nach Ablauf einer sechsmonatigen Bewährung vereidigt habe. Bewertung, Tendenzen, Ausblick. Die NPD befindet sich weiterhin in einer für sie schwierigen Situation. Zwischen der AfD auf der einen Seite und den weltanschaulich stärker akzentuierten, von Neonazis geprägten Parteien "Die Rechte" und "Der III. Weg" (in Niedersachsen nur Einzelpersonen) auf der anderen Seite fällt es der NPD zunehmend schwer, sich am rechten Rand des politischen Spektrums zu positionieren. Die seit Jahren ausbleibenden Wahlerfolge und der Verlust von Mandaten auf Kommunalund Landesebene bedeuten für die NPD eklatante finanzielle Verluste. In deren Folge hat die Partei an personeller und organisatorischer Substanz verloren und zugleich ihre Kampagnenfähigkeit eingebüßt. Auch der nicht gelöste Grundkonflikt über die künftige Ausrichtung lähmt die Partei. Die Gegner des Reformkurses um den Hamburger Lennart Schwarzbach werfen dem Bundesvorstand "einen Anpassungskurs" sowie "die Aufgabe des eigentlichen inhaltlichen Profils auf Kosten des politischen Erfolges" vor. Durch die Wahl Weiglers in den Parteivorstand dürfte eine zuvor von den JN angedrohte Abspaltung, falls der alte Kurs beibehalten werden sollte, abgewendet sein. 107 Rechtsextremismus Mit den Netzwerktagen verfolgt die NPD ihre spätestens seit dem letzten Bundesparteitag im Mai offen proklamierte Strategie, weniger als Partei, sondern vermehrt als "Netzwerker, Dienstleister, punktueller Bündnispartner und regionaler Motor von Bürgerprotesten" aufzutreten. Ein Beispiel hierfür ist die Gründung der NPD-nahen Kleinstpartei "Freie Sachsen". Aufgrund dieser parteiintern umstrittenen Strategie war der traditionelle Flügel beim Netzwerktag gar nicht vertreten, und die JN nur mit einer Person. Die Teilnahme mehrerer unterschiedlicher Akteure aus dem Bereich des Rechtsextremismus verdeutlicht ein Vernetzungsinteresse. Dass es darüber hinaus zu einer tatsächlichen Zusammenarbeit der insgesamt nach wie vor heterogenen Szene kommt, ist jedoch fraglich. Die Bemühungen des niedersächsischen Landesverbandes konzentrierten sich auf Veranstaltungen im eigenen Objekt in Eschede, die jedoch wie in den Vorjahren keine größere Resonanz erzeugten und immer wieder von Gegendemonstrationen begleitet wurden. Der "Hof Finkenberg" kann als Ankerpunkt der NPD und ihrer politischen Arbeit in Niedersachsen betrachtet werden, auch wenn die Partei in den meisten Landesteilen faktisch nicht mehr präsent oder wahrnehmbar ist. Der schleichende Niedergang wird dadurch aber nicht aufgehalten. Eine Entwicklung zu einem Gemeinschaftsoder Bildungszentrum von überregionaler Bedeutung zeichnet sich derzeit nicht ab. Das diesjährige "politische Herbstfest", ehemals auch von der NPD als "Erntedankfest" bezeichnet, stellt hier keine Ausnahme dar, sondern reiht sich ein in eine Kette ähnlicher, jährlich wiederkehrender Veranstaltungen (Sonnenwendfeiern u. a.). 2.10 Die Rechte Sitz/Verbreitung Sitz des Bundesverbandes: Dortmund (Nordrhein-Westfalen); Sitz des Landesverbandes: Braunschweig Gründung/ 2012 (Bundesverband); Bestehen seit 2013 (Landesverband) Struktur/ Bundesvorsitzender: Christian Worch ; Landesvorsitzender: Martin Repräsentanz Kiese; neun Landesverbände im Bundesgebiet; 108 Rechtsextremismus Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: 30 Unterstützer Veröffentlichungen Internetangebote: Die vorrangige Außendarstellung erfolgt für den Bundesverband über die eigene Internetseite und in den Sozialen Medien Twitter und Telegram. Kurzportrait/Ziele Die Partei "Die Rechte" wurde im Mai 2012 in Hamburg von Mitgliedern der ehemaligen "Deutschen Volksunion" (DVU) und dem langjährigen Neonazi Christian Worch gegründet. Den Posten des Bundesvorsitzenden übernahm Christian Worch selbst. Im September 2012 folgte die Gründung des mitgliederstärksten Landesverbandes Nordrhein-Westfalen durch ehemalige Mitglieder der im August 2012 verbotenen neonazistischen Kameradschaften Aachen, Dortmund und Hamm. Die ehemaligen Kameradschaftsführer übernahmen im Landesvorstand und in den Kreisverbänden die Führungsfunktionen und setzten unter dem Schutz des Parteienprivilegs ihre bisherigen Aktivitäten fort. Zudem traten der Partei vereinzelt NPD-Mitglieder bei. Anfang Januar 2023 lösten sich der Kreisverband Dortmund und ebenso der Landesverband Nordrhein-Westfalen der Partei "Die Rechte" auf. Die ehemaligen Mitglieder wechselten zum NPD-Landesverband Nordrhein-Westfalen und versuchen eine Neuausrichtung unter dem Namen "Die Heimat". Auch in Niedersachsen kommen der Großteil der Führungsebene und ein relevanter Teil der Mitglieder aus der neonazistischen Szene. Die Nutzung des Parteienprivilegs, vor allem die Anmeldung und Durchführung öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten zur Verbreitung neonazistischer Propaganda, erfolgt in Niedersachsen uneinheitlich. Den Schwerpunkt dieser Aktivitäten bildet die fremdenfeindliche Agitation gegen die Asylund Flüchtlingspolitik, die vermeintliche Islamisierung Deutschlands sowie die angeblich politisch gewollte Volksvermischung. Hinzu kommt die Kritik an vermeintlich staatlicher Repression zum Nachteil der Partei und ihrer Anhänger sowie die Beteiligung an Protesten gegen die staatlichen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Finanzierung Mitgliedsbeiträge, Spenden, Einnahmen aus Veranstaltungen 109 Rechtsextremismus Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Der Einfluss führender Neonazis im Bundesvorstand sowie im Landesverband Nordrhein-Westfalen, von dem die Partei "Die Rechte" dominiert wurde, veränderte den Charakter der Partei, die bei ihrer Gründung das nach eigenem Bekunden "sprachlich wie inhaltlich modernisierte und ergänzte" frühere Programm der ehemaligen DVU zur Grundlage genommen hatte. 32 "Die Rechte" steht seitdem hinsichtlich ihrer Ideologie, ihrer Aktivitäten und der führenden Personen in der Kontinuität der verbotenen neonazistischen Kameradschaften. Ihre Agitation ist von Demokratieund Fremdenfeindlichkeit und der Verherrlichung des Nationalsozialismus bestimmt. Im Parteiprogramm fordert "Die Rechte" zur "Wahrung der Deutschen Identität" auf. Demnach gelte es, "übermäßige fremde Einflüsse" wie "die Amerikanisierung" zurückzudrängen und einen europäischen Verbund zu schaffen, "in dem jedes Volk nach seiner eigenen, natürlich gewachsenen Ordnung leben kann". Die Partei folgert, dass "alle Anstrengungen für die Bewahrung des deutschen Charakters unseres Vaterlands" sinnlos würden, "wenn es Politikern im Bund mit der Meinungsindustrie gelänge, Deutschland in einem Vielvölkerstaat beziehungsweise einer 'Europäischen Union' aufzulösen." Hiermit richtet sich "Die Rechte" insbesondere gegen die im Grundgesetz verbrieften Menschenrechte (Art. 1 GG) sowie gegen das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 GG). Damit ist die Partei verfassungsfeindlich und erfüllt die Voraussetzungen für eine Beobachtung nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG. Darüber hinaus vertritt die Partei einen unverhohlenen Antisemitismus. Im Europawahlkampf 2019 hatte "Die Rechte" durch die Verwendung eines inhaltlich an eine NS-Parole angelehnten Plakates mit der Aufschrift "ZIONISMUS STOPPEN: ISRAEL IST UNSER UNGLÜCK! SCHLUSS DAMIT!" antisemitische Motive verbreitet. Darüber hinaus hat die Partei sich in den letzten Jahren mit der verurteilten Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck-Wetzel solidarisiert. 32 Bei der Gründung der Partei hatte der Bundesvorsitzende Christian Worch "Die Rechte" als "weniger radikal als die NPD", aber "radikaler als die REPs und die PRO-Bewegung" beschrieben (Internetseite von Christian Worch). 110 Rechtsextremismus Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Partei "Die Rechte" veranstaltete am 30.04.2022 den "Fortress Europe Kongress" (deutsch: Festung-Europa-Kongress) im Raum Dortmund (Nordrhein-Westfalen) mit Vertretern aus sechs europäischen Ländern. In der Einladung hieß es: "In Zeiten von multikulturellen Verwerfungen, der Zerstörung völkischer Identitäten und antinationalen Bestrebungen der Globalisten, ist es für uns europäische Nationalisten umso wichtiger zusammenzuhalten. Der Kampf, den wir führen, ist essentiell für jedes stolze, freie und weiße europäische Volk." Zu den weiteren Aktivitäten zählten u. a. eine Demonstration zum 1. Mai, an der auch Angehörige der "Jungen Nationalisten" (JN) teilnahmen, sowie eine Kundgebung am 23.08.2022 anlässlich des 10. Jahrestages des Verbots der "Kameradschaft Dortmund". An beiden Veranstaltungen beteiligten sich auch Anhänger der Partei aus Niedersachsen. Aktivitäten der niedersächsischen Parteigliederungen In Niedersachsen gingen Aktivitäten der Partei "Die Rechte" hauptsächlich vom Kreisverband Braunschweig/Hildesheim aus, der zu Beginn des Jahres seine bisherigen Aktivitäten konsequent fortsetzte. Im Rahmen einer "Frühlingsoffensive" wurden Infotische, Flugblattverteilungen, Demonstrationen und sogenannte Spaziergänge der "Schutzzonenkampagne" durchgeführt. Am 19.02.2022 organisierte die Partei eine Kundgebung in Braunschweig unter dem Motto "Corona zwang die Narren nieder - Die Rechte bringt die Freiheit wieder", an der sich 48 Angehörige der rechtsextremistischen Szene beteiligten, darunter auch Personen aus Nordrhein-Westfalen und Thüringen. Der Landesvorsitzende Martin Kiese trug ein Kostüm des "rosaroten Panthers", vermutlich in Anspielung auf die rechtsterroristische Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU)33. Darüber hinaus waren niedersächsische Angehörige der Partei "Die Rechte" unter den Demonstrierenden des rechtsextremistischen Trauermarsches am 22.01.2022 in Magdeburg (Sachsen-Anhalt). 33 Die sich im November 2011 selbstenttarnten Mitglieder des NSU hatten in ihren Bekennervideos Filmausschnitte mit der Figur des "Paulchen Panther" aus der Zeichentrickserie "Der rosarote Panther" verwendet. 111 Rechtsextremismus Die Aktivisten der Partei nahmen zudem an einer Anti-Corona-Demonstration in Braunschweig am 14.01.2022 teil, ohne diese jedoch nennenswert beeinflussen zu können. Am 08.07.2022 verkündete der Kreisverband Braunschweig/Hildesheim seine sofortige Auflösung. Hintergrund war eine polizeiliche Durchsuchungsmaßnahme bei einem parteinahen Aktivisten, der im Verdacht stand, im März 2021 eine Brandstiftung gegen das Antifa-Cafe in Braunschweig begangen zu haben. Die Auflösung des Kreisverbandes sei laut dem Bundesvorsitzenden Worch "Blödsinn" und nur aus der "Angst" geschehen, dass gegen den ganzen Kreisverband (oder dessen Vorstand) wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt werden könnte. Als Folge der Selbstauflösung beteiligten sich bei der letzten Kundgebung am 23.07.2022 in Braunschweig nur acht Personen. Auch eine für den 30.07.2022 auf Sylt (Schleswig-Holstein) angemeldete Kundgebung des Kreisverbandes Braunschweig/Hildesheim, fand nicht mehr statt. Ebenso wurde ein vom Landesvorsitzenden Martin Kiese für den 13.11.2022 angemeldetes "Heldengedenken" in Braunschweig kurzfristig abgesagt. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Der Wirkungsbereich der Partei "Die Rechte" in Niedersachsen erweist sich bereits seit Jahren als eher begrenzt und ist seit der Auflösung des Kreisverbandes Braunschweig/Hildesheim nur noch rudimentär vorhanden. Durch den damit verbundenen Mitgliederschwund dürfte es für den Landesvorsitzenden Martin Kiese schwierig werden, neue Parteistrukturen aufzubauen. Auf Bundesebene kann der Verlust von Führungsund Identifikationspersonen nicht kompensiert werden. Auch die erneute Wahl von Christian Worch im Jahr 2021 zum Parteivorsitzenden ist letztlich Ausdruck einer personellen und strukturellen Schwäche der Partei. Die Wahl von Kiese und dem ehemaligen Landesvorsitzenden Holger Niemann als Beisitzer im Bundesvorstand ist ähnlich zu bewerten. 112 Rechtsextremismus 2.11 Völkische Personenzusammenschlüsse / Völkische Siedler in Niedersachsen Sitz/Verbreitung Niedersachsenweit; regionaler Schwerpunkt im Großraum Lüneburg-Uelzen-Lüchow-Dannenberg. Gründung/ In unterschiedlichen Ausprägungen bereits seit Jahrzehnten. Bestehen seit Struktur/ Örtlich und regional unterschiedlich ausgeprägte Strukturen Repräsentanz in Form von lokal agierenden Gruppierungen und Personenkreisen. Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: k. A.34 Unterstützer Veröffentlichungen Zeitungen, Zeitschriften, Internet Kurzportrait/Ziele Unter dem Sammelbegriff "Völkische Personenzusammenschlüsse/Völkische Siedler" werden in Niedersachsen rechtsextremistische völkische Gruppierungen und Personenkreise (Familien-/ Siedlerverbände) gefasst, die abseits der urbanen Zentren eine naturorientierte, ländliche und kleinbäuerliche Lebensweise auf der Basis einer völkisch-nationalistischen Ideologie mit rassistischen und antisemitischen Elementen pflegen und die innerhalb ihres kinderreichen Familienund Freundeskreises nach völkischen Denkund Verhaltensmustern und neuheidnischen Riten leben. Die völkisch-nationalistische Ideologie richtet sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und ist in ihrer Wirkungsweise geeignet, deren Schutzgüter erheblich zu beinträchtigen. Finanzierung Beiträge der Anhänger und Mitglieder. 34 In Niedersachsen werden völkisch orientierte Personen unter dem Rechtsextremismus-Potenzial in parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen gezählt. Eine gesonderte Ausweisung des Personenpotenzials der "Völkischen Personenzusammenschlüsse/ Völkischen Siedler" erfolgt nicht; siehe Kapitel 2.1, "Mitglieder-Potenzial". 113 Rechtsextremismus Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit "Völkische Personenzusammenschlüsse/ Völkische Siedler in Niedersachsen" sind gefestigte Rechtsextremisten, die sich an der vom Nationalsozialismus propagierten "Volksgemeinschaft", die als "geschichtlich gewachsene Blutsgemeinschaft" idealisiert wird, orientieren. Dies umfasst nach völkischem Denkmuster die Ausgrenzung anderer Ethnien (Blut-und-Boden-Ideologie). Ziel ist der Erhalt der als besonders widerstandsfähig verstandenen "germanisch-nordischen Rasse" und die Verhinderung einer Durchmischung mit anderen Ethnien zum Wohle der "Volksgemeinschaft". Die Grundlagen des völkischen Denkens werden bereits in den frühen Lebensjahren gelernt. Völkische Familien und Freundeskreise haben einen prägenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen. Diesen wird während der Fahrten, Lager und Wanderungen ein völkisch-nationalistisches Leitbild für das Erwachsenenalter vermittelt, das insbesondere der Festigung der Gemeinschaft dienen soll. Um ihre "Volksgemeinschaft" wirtschaftlich unabhängig und weitgehend ungestört leben zu können, bevorzugen völkische Siedler dünnbesiedelte Landstriche. Junge Paare oder Familien erwerben in diesen Regionen zu günstigen Konditionen Resthöfe und Bauernhäuser und restaurieren diese gemeinsam mit Freunden und Verwandten. Der Großraum Lüneburg-Uelzen-Lüchow-Dannenberg ist eine Schwerpunktregion für völkisch orientierte Familien in Niedersachsen. Völkische Familien sind dort seit vielen Generationen ansässig oder haben ihren Lebensmittelpunkt in diese Region verlagert. Die engen familiären Verbindungen reichen zum Teil in die Zeiten gemeinsamer Mitgliedschaft in den verbotenen Organisationen "Wiking-Jugend" und "Heimattreue Deutsche Jugend e. V." (HDJ) zurück. Deren völkische und rassistische Positionen gehören zu den grundlegenden Elementen rechtsextremistischer Ideologie. Folgerichtig sind viele Personen aus dem Bereich der völkischen Siedler zugleich Mitglieder in diversen rechtsextremistischen Organisationen. Im Vordergrund steht für sie aber das Bestreben, zu der von ihnen abgelehnten Gesellschaftsordnung eine völkische Gegenwelt zu schaffen, in der sie nach ihren Normen der völkisch-kulturellen Homogenität leben. 114 Rechtsextremismus Die Verfassungsfeindlichkeit "Völkischer Personenzusammenschlüsse/Völkischer Siedler in Niedersachsen" zeigt sich in ihrer fundamentalen Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nach SS 4 Abs. 3 NVerfSchG. Sie richtet sich gegen den demokratischen Rechtsstaat (Art. 20 GG) und in Teilen gegen die im Grundgesetz verbrieften Freiheits-, Gleichheitsund Menschenrechte (Art. 1 - 4 GG). Ebenfalls widerspricht sie dem Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 GG) und dem Gedanken des friedlichen Zusammenlebens der Völker (Art. 26 GG). Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Völkischer Jugendbund veranstaltet Sommerlager In der Zeit vom 30.07. bis 07.08.2022 führte die völkische Organisation "Der Sturmvogel - Deutscher Jugendbund" unter dem Leitsatz "Der Fröhlichkeit die Türen auf"35 ein Sommerlager mit vermutlich bundesweiter Beteiligung auf dem "Immenhof" in der Gemeinde Bispingen (Landkreis Heidekreis) durch. Auf dem "Immenhof" hatte zuvor vom 24. bis 26.06.2022 ein Treffen zur geplanten Gründung einer Siedlungsgemeinschaft stattgefunden, an dem etwa 60 Personen mit Verbindungen zu Reichsbürgern, Verschwörungsideologen und zur völkisch geprägten "Anastasia-Bewegung" teilgenommen haben. Der "Immenhof" selbst steht beim Amtsgericht Soltau zur Versteigerung an. An dem Sommerlager im Dorf Hützel nahmen etwa 30 bis 40 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen acht und 25 Jahren teil. Auf dem Grundstück wurden sechs Zelte, zwei Gemeinschaftszelte und ein Fahnenmast mit einer gehissten Fahne der Organisation festgestellt. Das Programm umfasste neben dem Musizieren und körperlicher Betätigung auch eine ideologische Schulung. Die Teilnehmenden trugen eine Kluft aus Rock und Bluse bzw. aus Hose und Hemd mit "Sturmvogel"-Emblem auf dem linken Ärmel. Im Rahmen des Sommerlagers führte eine vierköpfige Mädchengruppe in "Sturmvogel"-Kluft und mit Wimpelstab am 02.08.2022 in der Lüneburger Fußgängerzone eine öffentlichkeitswirksame 35 Der Leitsatz des Lagers: "Der Fröhlichkeit die Türen auf" ist Titelzeile eines Liedes von Hans Baumann (1914-1988), einem ehemaligen Mitglied der Reichsführung der Hitlerjugend. 115 Rechtsextremismus Musikdarbietung auf. Presseberichten zufolge gaben die Mädchen an, aus Kiel, Leipzig, Rostock und Uelzen zu kommen und in der Tradition des historischen "Wandervogels" zu stehen, womit eine unpolitische Betätigung assoziiert werden sollte.36 Völkische Aktivitäten in den Bereichen Bildung, Erziehung und Schule Völkische Siedler sind darauf ausgerichtet, ihre rechtsextremistische Weltanschauung auf Kinder und Jugendliche zu übertragen. Dieser generationenübergreifende Ansatz nimmt insbesondere in völkischen Familien einen hohen Stellenwert ein. Zur völkisch ausgerichteten Lebensweise gehört deshalb auch die Befassung mit pädagogischen Themen. Die Herstellung einer Gruppenkonformität ist dabei als übergeordnetes Ziel zu werten. Diese soll dazu dienen, die eigenen Kinder gegen die als schädlich empfundenen gesellschaftlichen Einflüsse zu immunisieren und sie im Sinne des eigenen extremistischen Weltbildes charakterlich zu festigen. Im Fall von schulpflichtigen Kindern ergibt sich daraus zwangsläufig ein Spannungsverhältnis zwischen der familiären bzw. außerschulischen Sozialisierung einerseits und der insbesondere im schulischen Lehrplan vorgesehenen Vermittlung demokratischer und pluralistischer Wertvorstellungen andererseits. Die Institution Schule ist aus (rechts-)extremistischer Perspektive oftmals ein Indoktrinationsinstrument des verhassten Staates bzw. ein Ort, an dem dieser den Schülerinnen und Schülern gezielt seine "Agenda" von Toleranz, Multikulturalismus und Liberalismus beibringt. Gleichzeitig ist eine elterliche Einflussnahme auf die in staatlichen Schulen vermittelten Inhalte nur schwer möglich. Angesichts dieser kaum lösbaren Konfliktsituation erscheint es für viele extremistisch geprägte Erziehungsberechtigte folgerichtig, ihre Kinder dem staatlichen Schulbetrieb nach Möglichkeit zu entziehen. Im Berichtszeitraum sind diesbezüglich verschiedene Strategien und Vorgehensweisen völkischer Akteure festgestellt worden. So gab es in Einzelfällen Versuche der ideologischen Einflussnahme auf Schulen in freier Trägerschaft. 36 Als "Wandervogel" wird eine Jugendbewegung bezeichnet, die um 1900 entstanden ist und die den Beginn der Jugendbewegung in Deutschland darstellt. Ziel der Bewegung in dieser Zeit war es, mit Gruppen von Gleichaltrigen zu wandern. 116 Rechtsextremismus Freie Schulen verfügen mitunter über geringere Kontrollmechanismen, was Lerninhalte, Lehrkörper und Anwesenheitspflichten betrifft. Aufgrund einer in der Regel geringeren Schülerzahl bieten sie gleichzeitig im Rahmen der Elternarbeit häufig ungleich höhere Beteiligungsund Einflussmöglichkeiten als staatliche Schulen. In diesem Umfeld ist es etwa völkischen Siedlern eher möglich, ihre Ideologie subtil innerhalb der Elternund Lehrerschaft einzustreuen oder durch unterschiedliches Engagement in die schulischen Strukturen einzubringen. Mittelfristig kann dies zu einer Normalisierung bzw. Akzeptanz völkischer Ideologie führen. Innerhalb der Schulgemeinschaft lässt sich so ein Status erlangen, der es erleichtert, Einfluss auf bestimmte Lerninhalte und Unterrichtsabläufe zu nehmen. U. a. wurde versucht, völkische bzw. rechtsextremistische Schriften in den Schulalltag zu integrieren. Aus dem völkischen Spektrum sind auch vermehrt Bemühungen festzustellen, Kinder gänzlich dem regulierten Schulbetrieb bzw. dessen Strukturen zu entziehen und diese privat als sogenannte Freilerner zu unterrichten. Eine herausgehobene Rolle sowohl in der Argumentation als auch in der Zielsetzung von Bildung, Erziehung und Schule spielen für völkische Siedler die Schriften der "Anastasia-Bewegung" und ein daraus abgeleitetes Pädagogikkonzept. Im Zentrum der Buchreihe steht die Idee der Gründung von autarken Familienlandsitzen und deren Zusammenschluss. Die in den Büchern hergeleitete Ideologie besteht im Wesentlichen aus der fundamentalen Ablehnung der modernen Gesellschaft bzw. ihrer als überaus schädlich empfundenen Begleiterscheinungen (Drogenkonsum, Kapitalismus, Krieg, Prostitution usw.). Als Gegenmodell wird das Idealbild einer natürlichen und naturverbundenen Lebensweise entworfen. Gesellschaftlicher Pluralismus wird strikt abgelehnt, ethnische Homogenität und "Reinheit" hingegen als das naturgewollte Idealbild präsentiert. Darüber hinaus enthalten die Schriften zahlreiche eindeutig antisemitische Passagen. In der Gesamtbetrachtung bietet die Buchreihe diverse Anknüpfungspunkte für die völkische Blut-und-Boden-Ideologie. In den "Anastasia"-Büchern sind die Themen Bildung und Erziehung von zentraler Bedeutung. Bereits in "unseren" Kindern sei "alles Wissen angelegt", dessen Entfaltung aber durch die Einflüsse der modernen Welt verhindert werde. Diese vermeintliche Erkenntnis dient Anhängern der "Anastasia-Bewegung" als Fundament eigener Pädagogikkonzepte. Die relevanteste pädagogische Umsetzung der "Anastasia"-Ideologie ist das sogenannte Schetinin-Konzept. Im Jahr 1997 gründete der mittlerweile verstorbene russische Staatsbürger Michail Petrowitsch Schetinin in der südrussischen Stadt Tekos eine von der "Anastasia"-Buchreihe inspirierte Schule. Das Pädagogikkonzept umfasst weder Lehrpersonal im engeren Sinn noch konkrete 117 Rechtsextremismus Unterrichtsfächer. Kinder sind nach diesem Konzept sowohl Schüler als auch Lehrer. Insgesamt soll eine ganzheitliche Schulbildung entstehen, die sich auf die nach Schetinin elementaren - aus den Lehren der "Anastasia-Bewegung" abgeleiteten - Lebensbereiche erstreckt. Die Schetinin-Pädagogik hat mittlerweile auch in Deutschland viele Unterstützer. Sie wird nicht zuletzt durch weitreichenstarke Multiplikatoren aus völkischen Kreisen, aber auch aus der Szene der "Staatsdelegitimierer" (Corona-Leugner, Querdenker usw.) verbreitet und beworben. Im Bereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates"37 bildet die aktive Ablehnung des staatlich organisierten Schulsystems ebenfalls ein zentrales Element. Nicht nur die vermittelten Inhalte, auch die Corona-Schutzmaßnahmen, mit denen die Schülerinnen und Schüler während der Pandemie konfrontiert waren, stoßen in diesem Milieu teilweise auf erheblichen Widerstand. In den vergangenen Monaten richtete sich dieser konkret gegen einzelne Schulen und Schulvertreter sowie gegen politische Entscheidungsträger und Wissenschaftler. Im Milieu der Corona-Leugner und Querdenker ist deshalb ein verstärktes Interesse bzw. eine vermehrte Sympathie für alternative Konzepte und Methoden in Bezug auf Bildung, Erziehung und Schule zu erkennen, auch hinsichtlich der Schetinin-Pädagogik. Daraus ergeben sich wiederum Schnittmengen und Kontakte zum völkischen Spektrum. In Niedersachsen sind bislang keine an der "Anastasia-Bewegung" bzw. an der Schetinin-Pädagogik angelehnte Schulgründungen oder -gründungsversuche bekannt geworden. Allerdings wurden auch in Niedersachsen Seminare und Schulungen sogenannter FreilernenIni tiativen festgestellt, die stark an der Schetinin-Pädagogik orientiert sind. Ein wesentliches Ziel dieser Schulungen besteht darin, die Teilnehmenden in die Lage zu versetzten, ihre Kinder eigenständig bzw. zu Hause unterrichten zu können. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Zusammenhang mit der Bildung rechtsextremistischer Netzwerke sind die durch mediale Berichterstattung wiederholt in den 37 Siehe Kapitel 2.3 "Aktuelle Entwicklungen". 118 Rechtsextremismus Blickpunkt gerückten sogenannten völkischen Siedler als ein eigenständiges Phänomen zu betrachten. Aus den bisher zugänglichen Informationen ist abzuleiten, dass eine trennscharfe Zuordnung des aktiven Personenpotenzials zu einzelnen Organisationen nicht zielführend ist, um das gesamte Spektrum völkischer Akteure, den wechselseitigen Austausch und die Vernetzung untereinander sowie ideologische Gemeinsamkeiten umfassend analysieren zu können. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wurde das Sammelbeobachtungsobjekt "Völkische Personenzusammenschlüsse/ Völkische Siedler in Niedersachsen" eingerichtet. Es umfasst einen Personenkreis, den der völkische Siedlungsgedanke, das Engagement in rechtsextremistischen Zusammenschlüssen und eine gemeinsame Vergangenheit - u. a. in den verbotenen völkisch-rassistischen Organisationen "Heimattreue Deutsche Jugend e. V." (HDJ) und "Wiking Jugend" (WJ) - miteinander verbindet. Diesen Personenkreis eint, dass die Indoktrination im völkischen Sinne innerhalb der Familien stark ausgeprägt ist. Dadurch entsteht ein geschlossenes System, aus dem eine Abkehr auch den Bruch mit der Familie bedingt. Eingeweihte Kreise versuchen, über verschiedene Ansatzpunkte ihr Gedankengut zu verbreiten, indem man sich in Vereinsstrukturen oder anderen lokalen Strukturen betätigt. Durch ihre umfängliche Brauchtumsund Gemeinschaftspflege (Sonnenwendfeiern, Fahrten, Wanderungen, Oster-, Pfingst-, Sommer-, Winterund Jahreswechsellager sowie Tanzveranstaltungen und Theateraufführungen) tragen sie zur breiten Vernetzung innerhalb der rechtsextremistischen Szene bei und fördern gleichzeitig eine "gleichgeartete Gattenwahl" als "Gewähr für gleichgeartete Kinder". 38 Idealisiert wird die Großfamilie als "Keimzelle der Volksgemeinschaft" mit überdurchschnittlich vielen Kindern, weil Kinderreichtum als Garant für den Fortbestand der "deutschen Volksgemeinschaft" angesehen wird. Im Rahmen vorgeblich unpolitischer Freizeitangebote werden junge Menschen rechtsextremistisch indoktriniert. 38 Vgl. das "Sittengesetz" der völkischen Organisation "Die Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." (AG-GGG), das zusammen mit dem "Artbekenntnis" in jeder Ausgabe der "Nordischen Zeitung" abgedruckt ist. Unter Punkt 19 heißt es wörtlich: "Das Sittengesetz in uns gebietet gleichgeartete Gattenwahl, die Gewähr für gleichgeartete Kinder." 119 Rechtsextremismus Abgelegene Orte eigenen sich besonders für Vernetzungsund Schulungszentren sowie für erlebnisorientierte Lager, Fahrten und Wanderungen, die abseits der urbanen Zentren überwiegend ungestört durchgeführt werden können. Die Lager sind eine Mischung aus Märschen und Mutproben, Überlebensund Kampftraining. Bereits ab einem Alter von sieben Jahren ("lagerfähigem Alter") werden Kinder und Jugendliche indoktriniert und Eigenschaften wie Disziplin, Treue, Kameradschaft, Pflichtbewusstsein, Abhärtung und Stärke trainiert. Das Erleben von Gemeinschaft und das Kennenlernen von Gleichgesinnten werden nachhaltig gefördert. Ein durch völkische Familien angestrebter Entzug von Kindern und Jugendlichen aus dem staatlichen Schulbetrieb könnte zu einer weiteren Abschottung der Familienverbünde und damit einhergehend zu einer Festigung rechtsextremistischer Einstellungsmuster beitragen. Darüber hinaus besteht der Grundsatz der Wehrhaftigkeit, die mit einer Affinität zur Selbstverteidigung, zum Kampfsport und zu Waffen einhergeht. Gerade im ländlichen, waldund wiesenreichen Raum bestehen Jagdgemeinschaften. Eine Vielzahl der dort lebenden völkischen Siedler ist daher im Besitz von waffenrechtlichen Erlaubnissen. Siedlungsprojekte sind in der rechtsextremistischen Szene immer wieder diskutiert und initiiert worden. Über die regionalen Ansätze hinaus ist es bislang aber zu keiner flächendeckenden Realisierung gekommen. Siedlungsbestrebungen liegen dann vor, wenn Akteure aus dem rechtsextremistischen Spektrum gezielt versuchen, Rückzugsräume für eine - häufig bäuerlich ausgerichtete Lebensgestaltung - zu schaffen, indem dünnbesiedelte Regionen durch Zuzug und/oder ideologische Prägung vereinnahmt werden. Der ländliche Raum eignet sich aufgrund niedriger Immobilienpreise und seiner teilweisen Abgeschiedenheit für ein derartiges Lebensmodell in besonderer Weise. Zugleich bilden diese Regionen die zentralen Aktionsund Rückzugsorte von völkischen Siedlern. In einer Gesamtbetrachtung haben "Völkische Personenzusammenschlüsse/Völkische Siedler" keinen prägenden Einfluss auf die ideologische Entwicklung des Rechtsextremismus. Allerdings können sie mit ihren ausgrenzenden Positionen zur Belastung für das gesellschaftliche Zusammenleben auf lokaler Ebene werden. Präventionsansätze müssen deshalb unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure 120 Rechtsextremismus auf die jeweilige Situation vor Ort zugeschnitten sein. Dem Verfassungsschutz obliegt es, zu beobachten und zu analysieren, ob sich aus dem Zusammenwirken völkischer Siedler dynamische Netzwerkstrukturen von überregionaler Bedeutung herausbilden. 2.12 Reichsbürger & Selbstverwalter Sitz/Verbreitung Niedersachsenweit Gründung/ In unterschiedlichen Ausprägungen bereits seit Jahrzehnten. Bestehen seit 1985 Gründung der ersten konkreten Reichsbürgergruppierung, der "Kommissarischen Reichsregierung" (KRR) in Berlin. Struktur/ Örtlich und regional unterschiedlich ausgeprägte Strukturen Repräsentanz in Form von lokal agierenden, autark handelnden Einzelpersonen und Gruppierungen; hinzu kommen überwiegend virtuelle Präsenzen. Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: 900 Unterstützer davon etwa 50 Rechtsextremisten Veröffentlichungen Web-Angebote: Internetseiten, Blogs, Profile in sozialen Netzwerken; Broschüren, Aufkleber, Flugblätter, Formularschreiben Kurzportrait/Ziele "Reichsbürger und Selbstverwalter" sind Gruppierungen oder Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen. Dabei berufen sie sich u. a. auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht. Den demokratisch gewählten Repräsentanten sprechen sie die Legitimation ab oder sie definieren sich in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend und sind deshalb bereit, Verstöße gegen die Rechtsordnung zu begehen. Finanzierung Beiträge der Anhänger und Mitglieder, teilweise Vermarktung und Verkauf von Reichsbürgerutensilien wie Autokennzeichen, Ausweise, Dokumente o. Ä. 121 Rechtsextremismus Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Als "Reichsbürger und Selbstverwalter" werden Einzelpersonen und informell organisierte Gruppierungen sowie virtuelle Netzwerke bezeichnet, deren zentrales organisationsübergreifendes bzw. personenübergreifendes Ideologieelement die fundamentale Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland als Staat, seiner gesamten Rechtsordnung und deren Repräsentanten ist. Diese Überzeugung ist eng verknüpft mit einem verschwörungsideologischen Weltbild und der Vorstellung, die Bundesrepublik Deutschland sei kein souveräner Staat. Über diese verbindenden Ideologieelemente hinaus, stellt sich die Szene der "Reichsbürger und Selbstverwalter" als äußerst heterogen und uneinheitlich dar. "Reichsbürger" sind überzeugt, weiterhin und ausschließlich Angehörige eines "Deutschen Reiches" zu sein und nicht Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Je nach Gruppierung oder Person werden unterschiedliche historische Bezugspunkte, insbesondere die Jahre 1871, 1914 und 1937, für die "Reorganisation des Deutschen Reiches" angeführt. Gemeinsam ist allen der Rückgriff auf einen historischen und undemokratischen deutschen Staat sowie auf Grenzverläufe als Hoheitsgebiet, die deutlich über das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland hinausgehen. An die Stelle der aktuellen Staatsform und seiner institutionellen Ordnung soll eine eigene selbsternannte "Reichsregierung" treten, die in Zukunft die Regierungsgeschäfte für Deutschland führen soll. Bei den "Selbstverwaltern" handelt es sich um eine Gruppe von zumeist Einzelpersonen, die im Gegensatz zu "Reichsbürgern" nicht vom Weiterbestehen des Deutschen Reiches überzeugt sind. Die "Selbstverwalter" behaupten, sie könnten durch eine Erklärung ihrerseits oder durch den Rückgriff auf ein selbstdefiniertes Naturrecht aus der Bundesrepublik Deutschland austreten oder sie verneinen deren Existenz komplett. Einige "Selbstverwalter" gehen so weit, eigene Staatsgebilde auszurufen und ihr Haus oder Grundstück als souveränes Staatsgebiet zu proklamieren. Die Grenzen zwischen "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" sind fließend und bei vielen Personen vermischen sich Argumentationsmuster aus beiden Bereichen. Eine scharfe Trennung ist daher in der Praxis häufig nicht möglich. Aus der fundamentalen Ablehnung des Staates, seiner Behörden und Institutionen heraus sehen "Reichsbürger und Selbstverwalter" 122 Rechtsextremismus sich nicht an die Gesetze der Bundesrepublik gebunden, erkennen die geltende Rechtsordnung nicht an und leisten Widerstand gegen ordnungsgemäßes behördliches Handeln. Damit sind hinreichend tatsächliche Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen der "Reichsbürger und Selbstverwalter" vorhanden. Diese sind vor allem in der grundsätzlichen Ablehnung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu sehen. Dabei vertreten nicht alle "Reichsbürger und Selbstverwalter" per se rechtsextremistische Ansichten und können so nur zum Teil dem Phänomenbereich Rechtsextremismus zugeordnet werden. Ausgehend von Verschwörungstheorien kommen bei einem Teil der "Reichsbürger und Selbstverwalter" Ideologieelemente des Rechtsextremismus wie Antisemitismus, Rassismus und völkische Vorstellungen zum Tragen. Diese begründen in ihren jeweiligen Ausprägungen ebenfalls hinreichend tatsächliche Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen. Im Ergebnis richten sich "Reichsbürger und Selbstverwalter" gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, insbesondere gegen das Demokratieprinzip und den demokratischen Rechtsstaat (Art. 20 GG) sowie in Teilen gegen die im Grundgesetz verbrieften Freiheits-, Gleichheitsund Menschenrechte (Art. 1 - 4 GG). Sie sind damit verfassungsfeindlich und erfüllen die Voraussetzungen für eine Beobachtung nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Aufgrund ihrer fundamentalen Ablehnung des Rechtsstaates zeichnen sich "Reichsbürger und Selbstverwalter" durch ein besonderes Maß an Renitenz gegenüber staatlichen Institutionen und Maßnahmen aus. Angefangen mit dem massenhaften Versand von Schriftstücken per E-Mail, Fax oder auf dem Postweg (sogenannte Vielschreiberei) über Beleidigungen und Bedrohungen bis zu gewalttätigen Verhaltensweisen versuchen "Reichsbürger und Selbstverwalter" auf Behörden und deren Mitarbeitende einzuwirken, um staatliche Maßnahmen zu verhindern oder zu erschweren. Die Entrichtung von Steuern, Gebühren und Abgaben verweigern "Reichsbürger und Selbstverwalter" regelmäßig. Die Aktivitäten der Szene gipfeln in der Errichtung verschiedener "Regierungen", "Verwaltungen" bis hin zur Ausrufung eigener Königreiche oder Staaten. Hierzu zählen auch die von "Reichsbürgern und 123 Rechtsextremismus Selbstverwaltern" angeblich "reaktivierten" oder "reorganisierten" Gemeinden. So bezeichnen sie Ortschaften, wenn sie diese für unabhängig erklären bzw. eine eigene Verwaltung für diese Gemeinden beanspruchen. Einige "Reichsbürger" zeichnen sich zudem durch die Erstellung und Verwendung von Phantasiedokumenten aus. Es wird versucht, eigene selbst produzierte "Reichsführerscheine" oder "Reichspersonenausweise" im offiziellen Rechtsverkehr zu verwenden. Der Verkauf solcher fiktiven Dokumente stellt zudem für einzelne Personen aus der Reichsbürgerszene eine lukrative Einnahmequelle dar. Die Reichsbürgerszene insgesamt verfügt über ein außerordentlich hohes Sendungsbewusstsein und vertritt ihre Ideologie offensiv nach außen. Zur Verbreitung ihrer Ideen und um andere Menschen für die eigene Sache zu gewinnen, greifen sie vorzugsweise auf das Internet zurück. Dabei dienen vor allem umfangreiche selbst erstellte Websites und Soziale Medien als Verbreitungsplattformen für die eigenen Inhalte. In letzter Zeit werden zunehmend auch Messenger-Dienste wie Telegram genutzt. Lokale Stammtische und andere niedrigschwellige persönliche Treffen dienen ebenfalls dazu, andere Menschen an die Reichsbürgerideologie heranzuführen und sich untereinander zu vernetzen. Unter "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" ist seit vielen Jahren eine ausgeprägt pro-russische Haltung verbreitet. In der Kommentierung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zeigt sich die Heterogenität der Szene deutlich. Es überwiegt ein Bild von Russland, mit einem vermeintlich starken Staatsoberhaupt, militärischer Potenzialität und nationalistischen Interessen, welches "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" als idealtypisches Staatsgebilde gilt. Zudem ist die kritiklose Übernahme russischer Staatspropaganda in diesen Kreisen verbreitet. Im Gegensatz dazu wird in einem Video der Internetpräsenz "staatenlos.info", die dem Reichsbürgermilieu zuzuordnen ist, das transnationale Verteidigungsbündnis NATO als schwach und jüdischen Interessen unterworfen dargestellt. Hierin spiegelt sich der Antisemitismus der Reichsbürgerszene wider. 39 39 Vgl. "Was ist, wenn Putin die Ukraine nicht angreift?", in: "staatenlos.info"; abgerufen auf "rutube.ru" am 18.11.2022. 124 Rechtsextremismus Gewaltpotenzial und Verhältnis zu Waffen Bei einem Teil der "Reichsbürger und Selbstverwalter" führt die absolute Ablehnung der Legitimität staatlichen Handelns als weitere Eskalationsstufe zu aggressiven und gewalttätigen Verhaltensweisen gegenüber Gerichten, Behörden und insbesondere Polizeibeamten. Immer wieder haben "Reichsbürger" körperliche Gewalt angedroht und tatsächlich auch ausgeübt. Exemplarisch seien hier die Schusswechsel von "Reichsbürgern" mit der Polizei in Bayern und Sachsen-Anhalt genannt, bei denen am 19.10.2016 im bayerischen Georgensgmünd (Landkreis Roth) ein Polizeibeamter durch einen "Reichsbürger" erschossen wurde. Auch in Niedersachsen haben sich "Reichsbürger" bereits mit körperlicher Gewalt, zum Teil auch unter Einsatz von Waffen, gegen staatliche Maßnahmen zur Wehr gesetzt. Beispielhaft hierfür ist das Verhalten einer Familie aus dem Landkreis Hameln-Pyrmont, die in den Jahren 2018 und 2019 wiederholt mit Behördenvertretern in Konflikt geraten war. Zwei Familienmitglieder wurden im Februar 2020 wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, gefährlicher Körperverletzung und versuchter Gefangenenbefreiung zu Freiheitsstrafen verurteilt. Aus der staatsablehnenden Grundhaltung der "Reichsbürger und Selbstverwalter" lässt sich ableiten, dass sich derartige Widerstandshandlungen wiederholen dürften. Angehörige der Reichsbürgerszene weisen allgemein eine Affinität zu Waffen auf. Durch die Bereitschaft von "Reichsbürgern und Selbstverwaltern", ihren eigenen Staatsvorstellungen teilweise auch mit Gewalt Nachdruck zu verleihen bzw. sich bestehendem Recht und Gesetz zu widersetzen, stellt der Waffenbesitz eine potenzielle Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat und dessen Repräsentanten dar. Um das Gefahrenpotenzial zu minimieren, werden waffenrechtliche Erlaubnisse, soweit rechtlich möglich, entzogen, sobald eine Zugehörigkeit zur Reichsbürgerszene bekannt wird. Eine waffenrechtliche Erlaubnis setzt voraus, dass der Erlaubnisinhaber die erforderliche waffenrechtliche Zuverlässigkeit besitzt. Diese Zuverlässigkeit ist jedoch im Fall einer Zugehörigkeit zur Reichsbürgerszene und der darin immanenten Ablehnung des geltenden Rechts zu verneinen. In Niedersachsen wurden aus diesem Grund bereits mehreren Personen die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen. Die Überprüfung von Personen mit einer entsprechenden Genehmigung, die zugleich Bezüge zur Reichsbürgerideologie aufweisen, erfolgt fortlaufend und 125 Rechtsextremismus wurde seit der normierten Regelabfrage im Waffenrecht intensiviert. Bundesweit wurden unter Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörden seit 2016 bei "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" mehr als 1.000 waffenrechtliche Erlaubnisse eingezogen oder widerrufen. Reichsbürgergruppierungen in Niedersachsen Die Reichsbürgerbewegung in Niedersachsen ist in sich äußerst heterogen und durch wenig greifbare Strukturen oder Organisationen geprägt. Gemeinsame ideologische Überzeugungen und Argumentationsmuster dienen als einende Klammer innerhalb des Reichsbürgermilieus. Als bekannteste Gruppierung mit Strukturen in Niedersachsen gilt weiterhin die am 04.05.2004 in Hannover gegründete "Exilregierung Deutsches Reich" aus dem Raum Hildesheim. Diese vertritt unter der Leitung ihres selbsternannten "Reichskanzlers" Norbert Rudolf Schittke die Ansicht, dass es "nur einen deutschen Staat, das Deutsche Reich in den Grenzen vom 31.12.1937"40 geben könne und das "Deutsche Reich" somit fortbestehe. Der Bundesrepublik Deutschland wird die staatliche Souveränität und Legitimation abgesprochen; diese sei lediglich ein "provisorisches (besatzungsrechtliches!) Selbstverwaltungskonstrukt". 41 Die Organisation trat in den letzten Jahren nicht mehr öffentlich in Erscheinung. Ihr Wirken beschränkt sich auf den mit aktuellen Beiträgen versehenen Internetauftritt. Am 28.06.2022 nahmen rund zehn Personen an einer Veranstaltung der Reichsbürgergruppierung "Königreich Deutschland" in Bramsche (Landkreis Osnabrück) teil. Für die Vortragsveranstaltung mit dem Titel "Einführungsvortrag 'Gemeinwohlstaat der Zukunft'" hatten vorab etwa 40 Personen ein Teilnahmeinteresse bekundet. Das "Königreich Deutschland" versteht sich als "völkerrechtskonformer neuer deutscher Staat" und wirbt u. a. damit, dass die "Bürger" des "Königreichs" von der Steuerpflicht gegenüber der Bundesrepublik Deutschland befreit sind. Durch sogenannte Gemeinwohlkassen soll die Finanzierung des "Königreichs" erfolgen. Dessen 40 Internetseite der Organisation "Exilregierung Deutsches Reich" ("Die Entstehung der 'Bundesrepublik Deutschland', 'BRD'"). 41 Frühere Internetseite der Exilregierung Deutsches Reich ("Die Entstehung der 'Bundesrepublik Deutschland', 'BRD'"). 126 Rechtsextremismus eigenverwaltetes "Staatsgebiet" entstehe durch den Aufbau lokaler, autarker Strukturen mit der Bezeichnung "Gemeinwohldörfer". In Niedersachsen sind bisher nur sehr vereinzelt Aktivitäten der Gruppierung "Königreich Deutschland" zu verzeichnen. Bereits im Jahr 2021 hatte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) den Betreibern der "Gemeinwohlkassen" die Anbahnung, den Abschluss und die Abwicklung von Bankund Versicherungsgeschäften untersagt. Der aus Sachsen-Anhalt stammende Hauptprotagonist der Organisation, deren Betätigungsfeld vor allem in den ostdeutschen Bundesländern zu verorten ist, sieht sich mit dem Vorwurf der Bereicherung bzw. der finanziellen Benachteiligung der Einzahlenden in die "Gemeinwohlkassen" konfrontiert. Im September 2022 sprach das Landgericht Oldenburg einen Anhänger der Reichsbürger-Szene wegen Schuldunfähigkeit frei und entschied, den Mann in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen, da er für die Allgemeinheit als gefährlich eingeschätzt wurde. Der unter der selbst gegebenen Bezeichnung "SHAEF-Commander" agierende Reichsbürger geriet in das Blickfeld der Ermittlungsbehörden, nachdem er bundesweit zur angeblichen Durchsetzung der alliierten Gesetzgebung willkürliche Todesurteile verhängte und diese auf einschlägigen Internetseiten veröffentlichte. Die Reichsbürgergruppierung "S.H.A.E.F."42 bezieht sich auf eine historische Institution, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges eingerichtet wurde, und verbindet die sogenannten S.H.A.E.F.-Gesetze mit der unter Reichsbürgern verbreiteten Vorstellung, Deutschland sei weiterhin ein von den Alliierten besetzter, nicht souveräner Staat. Die vom Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat am 19.03.2020 verbotene und aufgelöste Reichsbürgervereinigung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) 43 ist im Berichtsjahr auch in Niedersachsen weiterhin aktiv gewesen. Vor dem Verbot war der Verein insbesondere durch verbal-aggressive Schreiben aufgefallen, die sich 42 Die Abkürzung S.H.A.E.F. steht für "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces". Mit diesem Begriff wurde von 1943 bis Juli 1945 das Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Nordwestund Mitteleuropa bezeichnet. 43 Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Pressemitteilung vom 19.03.2020: "Bundesinnenminister Seehofer verbietet mit 'Geeinte deutsche Völker und Stämme' erstmals Reichsbürgervereinigung". 127 Rechtsextremismus hauptsächlich an Vertreter von Ämtern und Ministerien gerichtet hatten. Die Vereinsmitglieder drohten Amtsträgern mit "Inhaftierung" und "Sippenhaft" und setzten hohe fiktive Strafgebühren fest, für die die Amtsträger persönlich haften sollten. Auf der eigenen Internetseite wurde die Bundesrepublik Deutschland als minderwertige Staatsform und als Handelskonstrukt diskreditiert. Angestrebt wurde stattdessen ein alternatives, angeblich "naturstaatliches" Rechtssystem. Auf die fortgesetzten Aktivitäten im Zusammenhang mit den "Geeinten deutschen Völkern und Stämmen" folgten im Mai 2022 exekutive Maßnahmen gegen Führungspersonen und Mitglieder. Davon betroffen waren auch zwei Personen aus Niedersachsen. Ihnen und den weiteren Beschuldigten wurde vorgeworfen, gegen das Vereinigungsverbot gem. SS 85 StGB verstoßen zu haben. Sowohl Führungspersonen als auch Mitglieder agierten fortgesetzt im Namen der Organisation. Neben Durchsuchungsbeschlüssen erließ das Amtsgericht Lüneburg einen Haftbefehl gegen eine Frau aus Hannover, die als Führungsperson der "Geeinten deutschen Völker und Stämme" gilt und in dieser Funktion auch nach dem Verbot bundesweit aktiv gewesen ist. Das Gerichtsverfahren vor dem Landgericht Lüneburg endete im November 2022 mit einer Verurteilung wegen Volksverhetzung und einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Gegen dieses Urteil hat die beklagte Reichsbürgerin das Rechtsmittel der Revision eingelegt. Am 07.12.2022 mündete ein Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung in Exekutivmaßnahmen gegen insgesamt 54 beschuldigte Personen. Die Gruppe hatte sich die gewaltsame Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung zum Ziel gesetzt. Hierzu gab es klandestine Vorbereitungshandlungen, um an einem "Tag X" den Bundestag zu erstürmen. Die Bundesregierung sollte beseitigt und durch eine neue Regierung unter der Verantwortung eines der Hauptbeschuldigten aus Hessen zu ersetzt werden. Als geistiges Fundament der Gruppe dienten im Reichsbürgermilieu verbreitete verschwörungsideologische Erzählungen, mit denen die Nichtanerkennung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Repräsentanten behauptet wird. Bei den Durchsuchungsmaßnahmen in elf Bundesländern sowie in Italien und Österreich wurden 25 Haftbefehle vollstreckt, 128 Rechtsextremismus die gegen 22 Beschuldigte und drei Unterstützer verhängt worden waren. Im Rahmen der Durchsuchungen wurden zahlreiche Asservate beschlagnahmt, deren fortdauernde Auswertung in das Verfahren weiter einfließen wird. Unter den verhafteten Beschuldigten waren drei Personen aus Niedersachsen, die in Hannover, Vechelde (Landkreis Peine) und Alfeld (Landkreis Hildesheim) ansässig waren und nach der beabsichtigten Regierungsübernahme einflussreiche Positionen übernehmen sollten. Das Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts findet im Jahr 2023 seine Fortsetzung und wird möglicherweise weitere exekutive Maßnahmen nach sich ziehen. Neben diesen Organisationen existieren in Niedersachsen lokale Ableger und Vernetzungsstrukturen für deutschlandweit aktive Reichsbürgerorganisationen wie "Bismarcks Erben", das "Amt für Menschenrecht", die "Verfassungsgebende Versammlung" und den "Vaterländischen Hilfsdienst" ("Ewiger Bund"). Diverse überregionale Kleinoder Kleinstgruppen aus der Reichsbürgerszene verfügen zudem über Anhänger in Niedersachsen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang das "Indigene Volk Germaniten", dass über sogenannte Missionen die eigene Ideologie im Rahmen von Vortragsveranstaltungen zu verbreiten versucht. Die Gruppierung zeigt reichsbürgertypisches Verhalten auch durch die Ausstellung pseudo-behördlicher Dokumente. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Seit Anfang des Jahres 2017 wird in Niedersachsen die Szene der "Reichsbürger und Selbstverwalter" in ihrer Gesamtheit beobachtet. In den ersten Jahren zeigte sich auch in Niedersachsen eine deutliche Zunahme der Aktivitäten der Reichsbürgerszene. Die Mehrheit der dabei handelnden Personen gehörte bereits seit Längerem dem Reichsbürgerspektrum an. Vor etwa zwei Jahren hat sich diese Entwicklung umgekehrt. Dieser Trend hat sich im Jahr 2022 nicht fortgesetzt. Das erfasste Personenpotenzial ist seitdem eher rückläufig. Der Rückgang des Personenpotenzials lag insbesondere daran, dass sich der Anfangsverdacht gegenüber einigen Personen nicht bestätigt hatte bzw. Personen sich von der Szene wegen des behördlichen, medialen und öffentlichen Drucks wieder abgewandt hatten. Daher handelt es sich nicht um einen fest umrissenen Personenkreis. Vielmehr agieren bis dahin nicht als "Reichsbürger und Selbstverwalter" 129 Rechtsextremismus bekannte Personen im Sinne der ideologischen Ausrichtung, u. a. durch die anhaltende Versendung von Schriftstücken an diverse Empfänger oder durch die Begehung von Straftaten wie Beleidigung, Belästigung, Bedrohung, Betrug, Urkundenfälschung oder durch Widerstandshandlungen und Gewaltdelikte. Wird ein weitgefasster Maßstab angelegt, liegt die Gesamtzahl der in Niedersachsen auffällig gewordenen "Reichsbürger und Selbstverwalter" weiterhin bei etwa 900 Personen. Von "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" im engeren Sinne ist in Niedersachsen von wenigen hundert auszugehen. Die in Niedersachsen wohnhaften "Reichsbürger und Selbstverwalter" stellen keine homogene Bewegung dar. Sie setzen sich vielmehr aus autark handelnden Einzelpersonen sowie aus kleinen Gruppen zusammen, die sich in ihrem Wesen zum Teil deutlich unterscheiden. Das Spektrum erstreckt sich von esoterisch geprägten Gruppierungen über völkisch-nationalistisch geprägte Gruppen bis hin zu rechtsextremistisch ausgerichteten Zusammenschlüssen. Eine strategische Vernetzung der verschiedenen Gruppen oder Einzelpersonen ist bisher ebenso wenig zu erkennen wie eine gezielte Steuerung. Gemessen an dem Gesamtpotenzial an "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" liegt der Anteil an Personen mit einem geschlossenen rechtsextremistischen Weltbild bei etwa fünf Prozent. Die Verbreitung von rechtsextremistischen Ideologiefragmenten und Narrativen ist jedoch bei einem größeren Teil der "Reichsbürger" festzustellen. Insgesamt lebt die Szene der "Reichsbürger und Selbstverwalter" in einer Parallelwelt geprägt von Verschwörungstheorien, die sich verfestigt und gegenüber der Außenwelt weitgehend verschließt. Wie schon im letzten Jahr spielten auch 2022 die Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie für die Szene der "Reichsbürger und Selbstverwalter" in Niedersachsen eine wichtige Rolle. Insbesondere die damit einhergehende Verbreitung von Verschwörungserzählungen in Messenger-Diensten und sozialen Netzwerken hat zu einer erhöhten Dynamik geführt. Der "Kampf gegen die Corona-Maßnahmen" wurde von vielen "Reichsbürgern" in der eigenen Kommunikation, z. B. in Schreiben, Aussagen in Sozialen Medien und bei Demonstrationen, aufgegriffen und mit der eigenen Ideologie verbunden. Als Argument führen viele "Reichsbürger" an, die Bundesrepublik Deutschland sei kein 130 Rechtsextremismus legitimer Staat, weshalb sämtliche Beschränkungsmaßnahmen keine Rechtsgrundlage besäßen und mithin nicht zu befolgen seien. In einschlägigen Kanälen auf Messenger-Diensten und bei entsprechenden Gruppen in den Sozialen Medien vermischen sich zunehmend Reichsbürgerthesen mit allgemeinen Verschwörungserzählungen und Protestaufrufen gegen die staatlichen Beschränkungsmaßnahmen. Angetrieben von der Dynamik des Protestgeschehens gegen die Corona-Politik haben sich in den Sozialen Medien und bei Messenger-Diensten diverse Mischszenen aus Anhängerinnen und Anhängern der Reichsbürgerideologie und weiteren, auch nicht ex tremistischen Personen aus dem Umfeld der Corona-Leugnerinnen und Corona-Leugner und Anhängerinnen und Anhänger anderer Verschwörungstheorien herausgebildet. Ebenso haben "Reichsbürger" wiederholt an lokalen Demonstrationen gegen die Corona-Politik in Niedersachen teilgenommen. Gerade zu dem stark radikalisierten Teil dieser Protestbewegung bestehen deutliche ideologische Schnittmengen. Der Glaube an ähnliche, im Kern oft antisemitische, globale Verschwörungserzählungen und die Überzeugung, das deutsche Volk oder der deutsche Staat seien nicht souverän, dient als verbindendes Element über die Szenegrenzen hinweg. Eine zunehmende Entgrenzung der Reichsbürgerszene in ideologischer und personeller Hinsicht ist die Folge. Viele "Reichsbürger" vertreten neben eindeutigen Reichsbürgerthesen auch antidemokratische oder den Staat delegitimierende Verschwörungserzählungen und Argumentationen aus der Corona-Leugner-Szene. Im Laufe des Jahres konnte der beginnende Wandel in der thematischen Ausrichtung des hieran anknüpfenden Protestgeschehens beobachtet werden. Analog zur medialen Berichterstattung verliert die Corona-Pandemie bei "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" an Bedeutung. Aktuelle Themen, die weite Teile der Gesellschaft beschäftigen, wie etwa steigende Inflationsraten und Energiekosten oder Sorgen im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ergänzen das bisherige Hauptthema. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit den Themen steht weniger im Mittelpunkt als die Absicht, mit flexiblen Inhalten aktuelle gesellschaftliche Umbrüche und staatsbzw. demokratieferne Haltungen in der Gesellschaft aufzugreifen, um weitere Anhänger für das eigene ablehnende Handeln zu gewinnen. Ein 131 Rechtsextremismus ideologisch kohärentes Weltbild ist bei einem Teil der "Reichsbürger und Selbstverwalter" nicht vorhanden. Gleichzeitig werden Reichsbürgerthesen und Argumente in vielen im Zuge des Protestgeschehens neu entstandenen digitalen Kommunikationskanälen häufiger ohne Widerspruch geteilt und verbreitet. Diese stärkere Entgrenzung und Vernetzung über den Phänomenbereich hinaus führt dazu, dass eine alleinige Zuordnung von neu erfassten Personen zum Bereich der "Reichsbürger und Selbstverwalter" teilweise nicht sinnvoll erscheint. In Anbetracht dieser Entwicklungen steht zu befürchten, dass Personen aus dem radikalisierten Umfeld demokratiefeindlicher Proteste mit einer hohen Affinität zu Verschwörungserzählungen, Anschluss in der Reichsbürgerszene finden und dort ein geschlossenes extremistisches Weltbild entwickeln. Durch die weitere Verbreitung der Reichsbürgerideologie sowie durch das ausgeprägte Sendungsbewusstsein und das gleichbleibend hohe Aktivitätsniveau von "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" ist die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland erheblichen Beeinträchtigungen ausgesetzt. Verallgemeinernde Aussagen über eine etwaige gewalttätige Ausrichtung in Bezug auf dieses Personenpotenzial lassen sich wegen der Heterogenität der Szene nicht treffen. Gleichwohl besteht jederzeit die Möglichkeit, dass einzelne Personen vor allem im Umgang mit Behördenmitarbeitenden oder als Reaktion auf staatliche Maßnahmen zu Gewalt greifen, um ihre Anliegen durchzusetzen. Hinweise auf gezielte kriminelle oder gar terroristische Handlungen von einzelnen "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" liegen derzeit nicht vor. Gleiches gilt für den gezielten Aufbau von (verdeckt operierenden) Gruppen zum koordinierten Angriff auf staatliche Einrichtungen oder Mitarbeitende. Der Niedersächsische Verfassungsschutz bietet mehrere Präventionsund Informationsangebote zum Thema "Reichsbürger und Selbstverwalter" an. Neben Vorträgen hält der Niedersächsische Verfassungsschutz ein Faltblatt mit dem Titel "Reichsbürger und Selbstverwalter" vor, das auf der Webseite des Niedersächsischen Verfassungsschutzes zum Download zur Verfügung steht. 132 Rechtsextremismus 133 03 Linksextremismus Linksextremismus 3.1 Mitglieder-Potenzial44 Linksextremismus-Potenzial Bundesrepublik Deutschland 45 2021 Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten 25.500 Autonome und sonstige gewaltbereite Linksextremisten 46 10.300 sowie Anarchisten 47 Summe 35.800 Nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften 34.700 Davon gewaltorientierte Linksextremisten 10.300 Linksextremismus-Potenzial Niedersachsen 48 2021 2022 Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten 425 415 Autonome und sonstige gewaltbereite Linksextremisten 800 810 sowie Anarchisten 49 Summe 1.225 1.225 44 Die Zahlenangaben sind zum Teil geschätzt und gerundet. 45 Die Zahlen des Berichtsjahres des Mitglieder-Potenzials für die Bundesrepublik Deutschland lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Daher werden nur die Zahlen des Vorjahres genannt. 46 In die Statistik sind nicht nur tatsächlich als Täter/ Tatverdächtige festgestellte Personen einbezogen, sondern auch solche Linksextremisten, bei denen lediglich Anhaltspunkte für Gewaltbereitschaft gegeben sind. Erfasst sind nur Gruppen, die feste Strukturen aufweisen und über einen längeren Zeitraum aktiv waren. Das Mobilisierungspotenzial der "Szene" umfasst zusätzlich mehrere tausend Personen. 47 Das Mitglieder-Potenzial umfasste auch bisher schon die Anarchisten, ohne diese ausdrücklich zu nennen. 48 Die für den Bund eingefügte Fußnote gilt entsprechend auch für Niedersachsen. Auf den Abzug von Mehrfachmitgliedschaften in Höhe von circa zwei Prozent wie beim Bund ist verzichtet worden. 49 Das Mitglieder-Potenzial umfasste auch bisher schon die Anarchisten, ohne diese ausdrücklich zu nennen. 136 Linksextremismus 3.2 Einführung Für die Ideologie des deutschen Linksextremismus sind die beiden ideengeschichtlichen Grundströmungen des 19. Jahrhunderts, Marxismus und Anarchismus, von fundamentaler Bedeutung. Linksextremisten greifen die in der amerikanischen Menschenrechtserklärung von 1776 und die in der Französischen Revolution von 1789 proklamierten Werte Freiheit und Gleichheit in radikaler Zuspitzung auf und wollen den demokratischen Rechtsstaat z. T. auch auf revolutionärem und gewaltsamem Wege überwinden, um ihn durch eine klassenlose bzw. herrschaftsfreie Gesellschaft zu ersetzen. Kommunistische Gruppierungen wollen das bestehende politische System zerschlagen und streben über die Errichtung einer Diktatur des Proletariats unter Führung einer "proletarischen Avantgarde" das Absterben des Staates und seinen Ersatz durch eine klassenlose Gesellschaft an. Marxistisch-Leninistische Organisationen wie die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP), die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD), aber auch die extremistischen Teile der Partei "DIE LINKE." halten daher an der Idee einer Revolution der Arbeiterklasse fest. Demgegenüber propagieren anarchistische Gruppierungen die Überwindung des bestehenden politischen Systems auf dem Wege massenhaften zivilen Ungehorsams50 und "vorbildhafter" Selbstorganisation. Da Anarchisten generell den Staat, seine Institutionen und Repräsentanten ablehnen, streben sie unmittelbar nach einer erfolgreichen Revolution eine herrschaftsfreie Gesellschaft an. Linksextremistische Organisationen stimmen in der Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung der bestehenden Verhältnisse überein, die das internationale Zusammenwirken aller revolutionären Kräfte erfordert (Internationalismus). Kommunismus und Anarchismus unterscheiden sich in der Bewertung der Freiheitsrechte. Überdeckt der übersteigerte Gleichheitsbegriff kommunistisch ausgerichteter Organisationen die individuellen Freiheitsrechte, lehnen anarchistische Gruppierungen staatliche Organisationen, Machtstrukturen und Hierarchien generell ab. Beide orientieren sich an der Utopie einer klassenbzw. herrschaftsfreien Ordnung, 50 Ziviler Ungehorsam ist insbesondere bei den "gewaltfreien" Anarchisten der Verstoß gegen ein Gesetz aus Gewissensgründen; dabei wird bewusst in Kauf genommen, dafür bestraft zu werden. 137 Linksextremismus d. h. an dem Ideal von der vollkommenen Befreiung des Menschen von allen gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, religiösen und kulturellen Zwängen. Anarchisten, die in ihrem konkreten politischen Handeln diesen utopischen Entwurf vorzuleben versuchen, verneinen auf Machtstrukturen beruhende Zwischenstadien zur Realisierung dieser klassenlosen Gesellschaft wie die von Kommunisten angestrebte Diktatur des Proletariats. Das westliche Gesellschaftsmodell, d. h. die soziale Marktwirtschaft sowie der demokratische Rechtsstaat und die ihn repräsentierenden Mächte, allen voran die USA und ihre Verbündeten sowie westlich geprägte Bündnissysteme wie die NATO und die Europäische Union (EU), stehen für den Gegenentwurf zum ideologischen Weltbild der Linksextremisten und sind so eines ihrer zentralen Feindbilder. Die linksextremistische Kritik konzentriert sich vor allem auf die (internationalen) Großkonzerne, die NATO und ihre Führungsmacht, die USA. Die Verantwortung für internationale Konflikte und Krisen verorten sie im Westen. Die wechselweise als kapitalistisch oder neoliberal bezeichnete westliche Wirtschaftsordnung wird grundsätzlich als Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgelehnt. Linksextremisten wollen dem ihrer Meinung nach "entfesselten Kapitalismus" Einhalt gebieten und fordern, wie z. B. die "Interventionistische Linke" (IL) auf ihrer Internetseite, "Make capitalism history!". 3.3 Aktuelle Entwicklungen im Linksextremismus Die Entwicklung des Linksextremismus wurde auch im Berichtsjahr 2022 von der autonomen Szene bestimmt. Als Reaktion auf die bereits seit den 1990er Jahren zunehmende interne Kritik an der Theorieferne, der Unorganisiertheit und der Selbstbezogenheit der autonomen Bewegung sind Teile von ihnen weiter bestrebt, der Ideologie-, Organisationsund Bündnisfrage mehr Raum zu geben. Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren bundesweit verschiedene sich als postautonom verstehende Bündnisse entstanden. 138 Linksextremismus Um an das demokratische Spektrum anschlussfähig zu sein, greifen "Autonome", insbesondere "Postautonome", Themen auf, die wie der Klimaschutz bis weit in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähig sind und viele Menschen zum zivilgesellschaftlichen Engagement herausfordern. Dabei wähnen sie sich im Einklang mit der Mehrheitsgesellschaft. Vor diesem Hintergrund ist eine zunehmende Entgrenzung des Linksextremismus in die Mitte der Gesellschaft bei gleichzeitiger Erosion der Abgrenzung des demokratischen Spektrums gegenüber Linksextremisten erkennbar. Insofern ist der mittlerweile auch im Rechtsextremismus konstatierte Prozess einer Entgrenzung im Linksextremismus bereits Realität. Im Gegensatz zum demokratischen Protest, der frei ist von systemüberwindenden Forderungen, basiert der linksextremistische auf ideologischen Grundannahmen, für die eine prinzipielle Gegnerschaft zum politischen System der Bundesrepublik und seiner Wirtschaftsordnung kennzeichnend ist. Linksextremisten dienen Themen wie "Antifaschismus", "Antirepression", "Antigentrifizierung", "Antimilitarismus" "Antirassismus" oder insbesondere in der jüngsten Zeit der Einsatz für den Klimaschutz daher vor allem als Plattform für ihren Kampf gegen den demokratischen Rechtsstaat. Auch niedersächsische Linksextremisten sind in diesen Themenfeldern aktiv, wobei der "Kampf gegen den Faschismus" und derjenige gegen den "Kapitalismus" für sie zwei Seiten einer Medaille sind und aus diesem Grunde auch im Vordergrund stehen. Denn erst wenn der Kapitalismus als "Wurzel allen Übels" überwunden ist, lassen sich ihrer Auffassung nach "Faschismus" und alle anderen gesellschaftlichen Probleme lösen. Neben der Corona-Pandemie, die noch zu Beginn des Jahres das öffentliche Leben bestimmte, stand das Jahr 2022 vor allem im Zeichen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und seinen Folgen. Während im linksextremistisch-dogmatischen Spektrum - wie es die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) verkörpert - insbesondere die Rolle des Westens und somit der USA und damit verbunden die der NATO stark kritisiert wurde, lehnte die autonome Szene Niedersachsens die Intervention Russlands in die Gebiete der Ukraine zwar ab und solidarisierte sich mit der Bevölkerung der Ukraine, nicht aber mit dem ukrainischen Staat. Zudem gab sie 139 Linksextremismus nicht nur Russland, sondern auch den USA und damit verbunden der NATO eine Mitschuld für die Eskalation in diesem Krieg. Die linksextremistisch motivierten Übergriffe auf Rechtsextremisten bzw. diejenigen, die Linksextremisten dafür halten, bildeten auch 2022 einen Schwerpunkt der linksextremistischen Aktivitäten. Vor allem der Überfall von acht bis zehn Vermummten auf einen thüringischen Rechtsextremisten in Hannover ragte dabei heraus. Solche Ereignisse zeigen, dass die Hemmschwelle von Linksextremisten zur Anwendung von Gewalt - auch gegenüber Menschen - weiterhin niedrig ist. Darüber hinaus thematisiert die autonome Szene auch künftig den Klimaschutz und versucht, an die nichtextremistische Klimaschutzbewegung anschlussfähig zu werden. An dieser Stelle ist eine zunehmende Entgrenzung des Linksextremismus in Teile der Klimaschutzbewegung nicht zu übersehen. Beispielhaft sei hier nur die "Fridays for Future"-Bewegung (FFF) genannt.51 Im Bereich des parteigebundenen Linksextremismus setzte sich die zunehmende politische Bedeutungslosigkeit der orthodox marxistisch-leninistisch ausgerichteten Parteien DKP und "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) auch 2022 fort. Weder die DKP noch die MLPD traten zur Wahl zum 19. Niedersächsischen Landtag am 09.10.2022 an. Neben kontinuierlich schwachen Wahlergebnissen von deutlich unter einem Prozent leiden beide Parteien seit Jahren unter einer massiven Überalterung ihrer Mitglieder und einer Stagnation der Mitgliederzahlen auf niedrigem Niveau. Sowohl die DKP als auch die MLPD sind in der niedersächsischen Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar und spielen für die Beurteilung des linksextremistischen Gesamtpotenzials nur eine untergeordnete Rolle. Die zwei offen extremistischen Zusammenschlüsse in der Partei "DIE LINKE.", die "Kommunistische Plattform" (KPF) und die "Antikapitalistische Linke" (AKL), streben nach wie vor, wenn auch in unterschiedlicher Ausführung und Intensität, die Überwindung der Logo der KPF 51 Siehe im Einzelnen Kapitel 3.4, Abschnitt "Klimaschutz". 140 Linksextremismus bestehenden politischen Ordnung der Bundesrepublik an und wollen diese durch ein sozialistisches bzw. kommunistisches System ersetzen. Um dieses Ziel zu erreichen, versuchen sie Einfluss auf das politische Profil der Partei "DIE LINKE." und deren inhaltliche Ausrichtung zu nehmen. So beteiligen sich ihre Mitglieder beispielsweise mit eigenen Delegierten an den Parteitagen der Partei "DIE LINKE." und bringen sich dort mit eigenen Anträgen ein. Diese Vorgehensweise dient ihnen dazu, die Deutungshoheit bei bestimmten Themen, wie dem Umgang mit der SED-Diktatur, zu erlangen. Aus diesem Grunde geht der Niedersächsische Verfassungsschutz davon aus, dass die beiden extremistischen Zusammenschlüsse der Partei "DIE LINKE." auch 2023 versuchen werden, Einfluss auf ihre Partei in Niedersachsen auszuüben. Ausblick Das Jahr 2023 scheint nach jetzigem Stand ein Jahr ohne überregionale Großereignisse zu werden, denn es finden weder Wahlen in Niedersachsen noch Gipfeltreffen mit internationalem Charakter in Deutschland oder dem nahen europäischen Ausland statt. Aus diesem Grunde verfügt die linksextremistische Szene 2023 in Niedersachsen bislang über kein öffentlichkeitswirksames Großereignis wie einen G7oder G20-Gipfel, mit dem sie planbar überregionale Aufmerksamkeit generieren könnte bzw. das sie für ihre systemüberwindenden Ansätze nutzen könnte. Vor dem Hintergrund des Wahlerfolges der in Teilen rechtsextremistischen "Alternative für Deutschland" (AfD) bei der Wahl zum 19. Niedersächsischen Landtag und dem Auftreten rechtsextremistischer Gruppierungen wird der "Antifaschismus" auch 2023 eine zentrale Rolle für die linksextremistische Szene in Niedersachsen spielen. Daneben werden vor allem der Klimaschutz und die Gentrifizierung52 von großer Bedeutung für das linksextremistische Spektrum sein. Sofern die Klimaschutzbewegung weiterhin hohe gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit erfährt, werden Linksextremisten 52 Siehe im Einzelnen Kapitel 3.4, Abschnitt "Antigentrifizierung". 141 Linksextremismus versuchen, Einfluss auf einzelne Gruppierungen dieser Bewegung zu nehmen, um sie für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Dabei könnten sie auf offene Ohren von Klimaaktivisten treffen, denen der Ausstieg aus den fossilen Energiequellen zu langsam voranschreitet. Setzt sich die Wohnraumumgestaltung so massiv wie bisher fort und bleibt die Lage auf dem Wohnungsmarkt weiterhin so überhitzt und angespannt wie in den letzten Jahren, muss auch künftig mit Übergriffen auf Immobilienunternehmen und ihre Mitarbeitenden gerechnet werden. Vor allem die Übernahme des Immobilienunternehmens Deutsche Wohnen durch den Wohnungsbaukonzern Vonovia könnte die Spannungen weiter verschärfen, nimmt doch durch das dadurch entstandene größte private Immobilienunternehmen Europas die Konzentration auf dem Wohnungsmarkt weiter zu. Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24.02.2022 hat auch das Thema "Antimilitarismus" in der linksextremistischen Szene wieder an Bedeutung gewonnen. Nach der Bewilligung eines 100 Milliarden Euro Sondervermögens für die Bundeswehr dürften vor allem Rüstungsunternehmen wie der auch im niedersächsischen Unterlüß aktive Konzern Rheinmetall als "Profiteure" dieser Gelder verstärkt in den Fokus auch von Linksextremisten geraten. Die Entwicklungen des Jahres 2022 zeigen, dass in Niedersachsen weiterhin Gewalttaten durch die linksextremistische Szene verübt werden. Aus diesem Grunde muss auch 2023 damit gerechnet werden, dass die Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt - auch gegenüber Menschen - gering sein wird. Insgesamt ist davon auszugehen, dass sich die Radikalisierung der linksextremistischen Szene in Niedersachsen 2023 auf gleichbleibend hohem Niveau bewegen wird. Nicht unwichtig für die weitere Zukunft des Linksextremismus in der Bundesrepublik und in Niedersachsen dürfte die Entwicklung innerhalb der postautonomen Szene sein. Vor allem in der "Interventionistischen Linken" (IL) sind Auflösungserscheinungen nach dem Austritt mehrerer Ortsgruppen aus dem Bündnis nicht zu 142 Linksextremismus übersehen. Sollte sich diese Tendenz fortsetzen, könnte das postautonome Projekt zumindest an seine Grenzen stoßen, wenn nicht sogar obsolet werden. 3.4 Autonome/Postautonome und sonstige gewaltbereite Linksextremisten Sitz/Verbreitung Landesweite Präsenz mit Schwerpunkten in Braunschweig, Göttingen, Hannover, Lüneburg, Oldenburg und Osnabrück Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: 770 Sympathisanten Publikationen "autonomes Blättchen", Hannover (unregelmäßig) Finanzierung Finanzierung von Aktionen und Kampagnen durch Spenden sowie Solidaritätsveranstaltungen, keine Mitgliedsbeiträge Kurzportrait/Ziele Das Ziel autonomer Gruppierungen ist es, den Staat und seine Institutionen auch gewaltsam abzuschaffen und durch eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" zu ersetzen. Die autonome Bewegung kennt dabei keine mit kommunistischen Organisationen vergleichbare einheitliche und dogmatische Ideologie. Ihr Weltbild setzt sich vielmehr aus kommunistischen und anarchistischen Elementen zusammen. Die verschiedenen Gruppen der autonomen Bewegung finden sich über Aktionsund Themenfelder zusammen, die sich zu einem erheblichen Teil an aktuellen politischen Ereignissen und Problemfeldern orientieren. Diese Vorgehensweise soll dazu beitragen, den autonomen Widerstand öffentlich besser zu vermitteln, um so bis in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähig zu werden. 143 Linksextremismus Gegenwärtig sind die Themenfelder "Antifaschismus", "Antirepression", "Antigentrifizierung" und "Antimilitarismus" und vor allem der Klimaschutz für das autonome Spektrum in Niedersachsen von Bedeutung. Die autonome Szene sieht sich seit mehreren Jahren mit der Problematik konfrontiert, dass sie aufgrund interner Streitigkeiten, mangelnder Organisationsfähigkeit und einer oftmals brüchigen Vernetzung nur unzureichend agieren kann. Um diesem Umstand etwas entgegenzusetzen, haben sich bundesweit sogenannte postautonome Zusammenhänge etabliert, die mit langfristigen Bündnisstrukturen versuchen, die "Autonomen" aus der auch von ihnen selbst beklagten Krise zu holen. Für Niedersachsen sind dabei vor allem die "Interventionistische Linke" (IL) und das Bündnis "...ums Ganze! Kommunistisches Bündnis" (uG) relevant. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Gemeinsames Ziel aller autonomen Gruppierungen ist es, den Staat und seine Institutionen auch gewaltsam abzuschaffen und durch eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" zu ersetzen. Hiermit richten sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und sind demnach verfassungsfeindlich (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG). "Postautonome" Autonome Gruppierungen sind nicht wie kommunistische Organisationen von einer einheitlichen Ideologie geprägt. Sie verknüpfen vielmehr Elemente kommunistischer und anarchistischer Weltbilder miteinander. "Autonome" im klassischen Sinne verstehen sich zwar auch als undogmatische Linke und streben wie die Vertreter der orthodoxen bzw. dogmatischen K-Gruppen53 die sozialistische Revolution an, beantworten die "Organisationsfrage" aber anders. Sie lehnen eine staatliche Ordnung und jegliche Form von Machtund Herrschaftsstrukturen wie Hierarchien ab und sprechen sich für die Selbstorganisation des Zusammenlebens aus. 53 Der Begriff "K-Gruppen" ist eine Sammelbezeichnung für politische Gruppierungen wie den "Kommunistischen Bund Westdeutschlands" (KBW) oder die MLPD, die sich seit dem Ende der 1960er Jahre am Marxismus-Leninismus maoistischer Prägung orientieren und sich die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel gesetzt haben. 144 Linksextremismus Schon seit Jahren leidet die autonome Szene sowohl bundesweit als auch in Niedersachsen unter internen Streitigkeiten, einer hohen Fluktuation und mangelnder Motivation ihrer Akteure. So existieren autonome Gruppierungen oft nur kurzfristig: sie benennen sich entweder um, fusionieren oder lösen sich ganz auf. Verantwortlich dafür sind vor allem ungelöste Organisationsdebatten und eine theoretische Orientierungslosigkeit. Diese Entwicklung hat die "Autonomen" in eine schon seit Jahren andauernde substanzielle inhaltliche und strukturelle Krise gestürzt. Teile der autonomen Szene reflektieren diese Missstände schon seit Längerem und versuchen, für konkrete Projekte Gruppenstrukturen und Netzwerke aufzubauen. Diese sich oft als postautonom bezeichnenden Gruppierungen verstehen sich nach wie vor als "Autonome", auch wenn sie sich in einigen Punkten von diesen unterscheiden. Ihre Politik ist langfristiger angelegt und verfolgt eine Strategie der kleinen Schritte. Sie wollen sich organisieren, vernetzen und betreiben innerhalb des autonomen Spektrums eine strategische Bündnisorientierung mit einer breiten Öffnung ins demokratische Spektrum und zu bislang unpolitischen Bevölkerungsschichten. Dort wollen sie für einen Bruch mit dem Kapitalismus und den ihn nach Meinung der "Autonomen" schützenden demokratischen Rechtsstaat werben. Ideologisch orientieren sie sich an marxistisch-leninistischen und anarchistischen Weltbildern. Sie verzichten aber bewusst auf eine exakte ideologische Festlegung und somit auf eine dogmatische Interpretation der marxistischen und anarchistischen Klassiker. Diese ideologische Unverbindlichkeit macht es ihnen möglich, sich auf der Basis von Minimalkonsensen bis weit in orthodoxe, aber auch in nichtextremistische Kreise zu vernetzen. So wollen sie in einem langfristigen Prozess die herrschenden Verhältnisse überwinden und eine kommunistische Gesellschaft errichten. "Postautonome" greifen deshalb aktuelle politische (Krisen-)Themen auf, die bis in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähig sind und versuchen, über deren gezielte Zuspitzung möglichst viele Personen zu erreichen und mittelfristig zu radikalisieren. "Interventionistische Linke" (IL) Die IL ist zurzeit das bedeutendste und größte postautonome Bündnis. Sie entstand 1999 als eine "strategische Verabredung" 145 Linksextremismus undogmatischer Linksextremisten verschiedener Strömungen. In sogenannten Beratungstreffen fanden sich Gruppierungen und Einzelpersonen zusammen, um Überlegungen anzustellen, wie die Handlungsfähigkeit und Wahrnehmbarkeit der "radikalen Linken" in der Bundesrepublik Deutschland erhöht werden könne. Ab 2004 wurden diese Treffen gezielt für linksextremistische Logo der IL Gruppen aus dem postautonomen Spektrum geöffnet. Es entstand ein bundesweit agierendes Netzwerk aus linksextremistischen Gruppierungen und Einzelaktivisten, dem in geringem Maße auch nichtex tremistische Personen angehörten. Dem folgte ab 2010 eine intensive Organisationsdebatte, die die Umstrukturierung der IL von einem Netzwerk zu einer Organisation mit einem von der IL herausgegebenen "Zwischenstandspapier" vom 11.10.2014 abschloss. Um an das demokratische Spektrum anschlussfähig zu scheinen, geben sich ihre Akteure ideologisch bewusst undogmatisch. Zugleich bemühen sie sich um ein gemäßigteres äußeres Erscheinungsbild, als es sonst in der autonomen Szene üblich ist. So sind ihre Protagonisten beispielsweise bei Demonstrationen bereit, auf szenetypische Kleidung, dogmatische Parolen und die Anwendung von Gewalt zu verzichten. Dabei handelt es sich jedoch um ein rein taktisches Verhalten, hinter dem sich eine latent vorhandene Militanz verbirgt. Aus diesem Grund kann die IL eine Scharnierfunktion zwischen dem gewaltorientierten linksextremistischen Spektrum, den dogmatischen Linksextremisten und dem demokratischen Protest einnehmen. Das ermöglicht ihr, Bündnisse bis in die Mitte der Gesellschaft zu schmieden und Mobilisierungserfolge zu erzielen. Zugleich unterstreicht diese Entwicklung zum einen die Bedeutung des Netzwerkes für die gesamte linksextremistische Szene, deren Erfolg bei Protestveranstaltungen zu einem nicht unerheblichen Teil von der Organisationsfähigkeit der IL abhängt und zum anderen die zunehmende Entgrenzung des Linksextremismus bis ins demokratische Spektrum. Ihre verfassungsfeindliche Ausrichtung bringt die IL u. a. in ihrem seit 2014 gültigen Selbstverständnis zum Ausdruck. Darin macht sie deutlich, dass es ihr nicht um grundgesetzkonforme reformerische 146 Linksextremismus Veränderungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems geht, sondern um die revolutionäre Überwindung des demokratischen Rechtsstaates: "Wir wollen eine radikale Linke, die aktiv nicht nur gegen die Zumutungen und Grausamkeiten, sondern gegen den Kapitalismus insgesamt kämpft, die dabei immer wieder neue Allianzen sucht, die Brüche vertieft und Chancen ergreift, die lieber Fehler macht und aus ihnen lernt, anstatt sich im Zynismus der reinen Kritik zu verlieren. Wir wollen eine radikale Linke, die auf den revolutionären Bruch mit dem nationalen und dem globalen Kapitalismus, mit der Macht des bürgerlichen Staates und allen Formen von Unterdrückung, Entrechtung, Diskriminierung orientiert. Kurz: Wir wollen eine neue, gesellschaftliche radikale Linke, die um politische Hegemonie ringt und Gegenmacht organisiert." (Internetseite der IL, 10.11.2022) Was die IL vom demokratischen Rechtsstaat und seinen Regeln, insbesondere vom Parlamentarismus hält, verdeutlicht sie in einer Stellungnahme zur Bundestagswahl 2021: "Für uns ist aber auch klar: Der Sozialismus kann nicht auf parlamentarische Mehrheiten und reformistische Kleckerstrategien zählen. Die Strategie linker Regierungen ist eine Sackgasse, denn der Weg der Reformen ist zu begrenzt und die Antworten auf den globalen Kapitalismus ohnehin nicht innerhalb der Nationalstaaten zu finden. Die grundsätzliche Ausrichtung auf Kapitalinteressen ist in die DNA aller bürgerlicher Staaten einprogrammiert. Daran kann keine Regierungskonstellation und kein Parteiprogramm Grundsätzliches ändern. Wer als Antikapitalist:in auf eine Systemüberwindung per Wahl und Regierungspolitik hofft, wird enttäuscht werden... Denn am Ende entscheidet die Straße." (Internetseite der IL, 22.11.2021) Gegenwärtig bestehen offiziell noch in 24 deutschen Städten 54 sowie in Graz (Österreich) Ortsgruppen der IL, zwei davon in Niedersachsen (Göttingen und Hannover). Die IL folgt eigentlich dem Prinzip, wonach pro Stadt nur eine Ortsgruppe bestehen soll. In Göttingen ist diese Ausrichtung jedoch bislang nicht angenommen worden. Dort sind die aus der Spaltung der "Antifaschistischen Linken International" (A.L.I.) hervorgegangene Gruppierung "Sozialistische 54 An folgenden deutschen Standorten gibt es IL-Ortsgruppen: Aschaffenburg, Berlin, Bielefeld, Bremen, Darmstadt, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Göttingen, Halle, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Karlsruhe, Kiel, Köln, Leipzig, Lübeck, Mannheim, Marburg, Norderstedt, Nürnberg, Rostock, Stuttgart, Tübingen. 147 Linksextremismus Perspektive" (SP), sowie die "Basisdemokratische Linke" (BL) weiterhin eigenständige Mitglieder der IL. Bündnis "...ums Ganze! Kommunistisches Bündnis" (uG) Ein weiteres postautonomes Bündnis mit niedersächsischer Beteiligung stellt das Bündnis uG dar. In ideologischer Abgrenzung zur weitgehend antiimperialistisch ausgerichteten IL ist das Bündnis uG dem antideutschen Lager zuzurechnen.55 Folgt man der Selbstdarstellung des Bündnisses, so wurde es 2006 gegründet, um "linksradikale Gesellschaftskritik überregional zu organisieren und handlungsfähig zu machen". Nach eigener Aussage geht es dem Bündnis uG dabei nicht nur um eine "Kritik, für die es weder Institutionen noch Parlamente noch feste Verfahren" gebe, sondern auch um die "Kritik gesellschaftlicher Herrschaft als ganzer".56 Für das Bündnis uG besteht die Herausforderung "immer wieder darin, diese verrückte Logik des kapitalistischen Alltags theoretisch und praktisch aufzubrechen", um die gegenwärtige Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung durch eine herrschaftsfreie kommunistische Gesellschaft zu ersetzen. Wie diese Gesellschaftsform konkret aussehen soll, bleibt jedoch, wie so oft im Linksextremismus, äußerst diffus. Das Bündnis uG ist derzeit in zehn deutschen Städten57 sowie in Wien (Österreich) organisiert. In Niedersachsen wirkt die Gruppierung "Redical [M]" als "eine kommunistische und antinationale Gruppe" aus Göttingen im Bündnis uG mit. Aus Braunschweig ist die Gruppierung "In/Progress" im Jahr 2022 dem Bündnis uG beigetreten. Logo der Gruppierung "In/Progress" Mittlerweile hat es den Anschein, als wenn das postautonome Projekt, zumindest was die IL betrifft, an seine Grenzen stößt. So ist 55 Zur Erläuterung der Begriffe "antiimperialistisch" und "antideutsch" siehe die Ausführungen im folgenden Abschnitt "Antiimperialisten und Antideutsche". 56 Internetseite des Bündnisses uG, 30.11.2021. 57 In folgenden deutschen Städten gibt es Gruppierungen, die im Bündnis uG organisiert sind: Berlin, Braunschweig, Bremen, Dresden, Frankfurt am Main, Göttingen, Köln, Marburg, München, Münster. 148 Linksextremismus das "Zwischenstandspapier" der IL bis heute noch nicht erkennbar weiterentwickelt worden. Stieg die Anzahl ihrer Ortsgruppen in den letzten Jahren zunächst kontinuierlich, so nimmt sie seit 2020 ab. Neben den Ortsgruppen aus Freiburg, Kassel, München und Münster hat sich nunmehr auch die Heilbronner Ortsgruppe aufgelöst bzw. ist aus der IL ausgetreten. In ihrer Austrittserklärung übt z. B. die IL Münster massive Kritik. So wirft sie der IL vor, sie habe "... versucht, die eigene Ratlosigkeit und den Ideenverlust durch eine große, vermeintlich schlagkräftige, nach innen funktionstüchtige Organisation zu ersetzen ...", um dann zu dem vernichtenden Fazit zu gelangen: "Wir wollten eine Organisierung neuen Typs und haben eine Organisation bekommen, die ihre Politik eher als Verwaltung denn als Suche nach radikalen Antworten versteht." (Internetseite münster alternativ vom 30.11.2021) Auch in Niedersachsen ist diese Entwicklung wahrnehmbar. Unter der Überschrift "Die A.L.I. trennt sich - unser Neustart im Jahr 2021" hat die Göttinger linksextremistische Gruppierung "Antifaschistische Linke International" (A.L.I.) Ende Dezember 2021 auf ihrer Website ihren Austritt aus der IL bekannt gegeben. In ihrer Austrittserklärung kritisiert die A.L.I., dass sich in der IL "... in den letzten Jahren Tendenzen verstärkt [hätten], die eine parteiförmige Organisation aufbauen wollen und in der strittige Fragen durch Abstimmungsstatuten oder ausgelagerte Kleingruppen mehr verwaltet als produktiv diskutiert werden." (Internetseite der A.L.I. vom 21.12.2021) Zugleich beschwert sich die A.L.I. darüber, dass ihnen ihre "Bündnispartner*innen die Solidarität entzogen [hätten]" als sie "von Seiten der Polizei und von Neonazis Gewalt" erfahren hätten und beklagen, "immer, wenn es zu inhaltlichen Auseinandersetzungen kam, knallte es zwischen uns." Aus diesen Gründen kommt die A.L.I. zu der Erkenntnis, dass sich die "Differenzen in unserer Gruppe ... nicht mehr in gemeinsame Praxis überführen" lassen und zieht daraus den Schluss: 149 Linksextremismus "Unser Organisationsverständnis ist nun nicht mehr mit den aufgebauten Abstimmungsmodi in der iL vereinbar. Unser Politikstil findet in der iL keinen Platz mehr. Wir werden also in Zukunft nicht mehr in der iL organisiert sein." (Internetseite der A.L.I. vom 27.12.2021) Diese Trennung von der IL betrifft aber nur einen Teil der A.L.I., denn die A.L.I. hat sich im Streit über die Zugehörigkeit zur IL gespalten. Während ein Teil der alten A.L.I. unter diesem Namen unabhängig von der IL weiterbesteht, macht ein anderer Teil unter der Bezeichnung "Sozialistische Perspektive" in der IL weiter. Im Gegensatz zur IL scheinen die rückläufigen Tendenzen beim Bündnis uG vorerst gestoppt zu sein. Die Anzahl der im Bündnis uG organisierten Gruppen in Deutschland hat sich 2022 nicht weiter reduziert, sondern vielmehr von acht auf zehn erhöht. "Antideutsche" und "Antiimperialisten" Die sogenannten Antideutschen bildeten sich mit Beginn der 1990er Jahre vor dem Hintergrund zunehmender rechtsextremistischer Übergriffe auf Migranten als eine neue Strömung innerhalb des autonomen Spektrums heraus. Ideologisch wenden sie sich gegen einen vermeintlichen deutschen Nationalismus. Mit der deutschen Wiedervereinigung befürchteten ihre Aktivisten ein Erstarken des Nationalismus innerhalb der vereinigten Bundesrepublik und die Entstehung eines "IV. Reichs" durch eine Rückkehr zum Nationalsozialismus. Im Zuge der Golfkriege von 1990 und 2003 solidarisierten sich die "Antideutschen" bedingungslos mit dem Staat Israel und seiner Schutzmacht, den USA. Eine für "Autonome" ungewöhnliche politische Haltung, da sie prinzipiell staatliche Strukturen, Institutionen und Repräsentanten ebenso ablehnen wie das westliche Wirtschaftsund Gesellschaftsmodell und jegliche Form von Militär. Aufgrund dieser Widersprüchlichkeit kam es zum Bruch zwischen den Antideutschen, die bislang immer nur eine Minderheitenposition innerhalb des autonomen Spektrums vertraten und vertreten, und den die autonome Szene dominierenden sogenannten Antiimperialisten mit ihrer ausgeprägten antiwestlichen, insbesondere antiamerikanischen und antiisraelischen Haltung. Dieser ideologische Bruch vollzieht sich nicht nur im autonomen, sondern auch im postautonomen Spektrum. So ist die IL mit ihren niedersächsischen 150 Linksextremismus Ablegern in Hannover und Göttingen als antiimperialistisch zu charakterisieren, während das Bündnis uG eindeutig antideutsch geprägt ist.58 Nicht selten führen diese Diskrepanzen zur Lähmung der politischen Arbeit innerhalb der autonomen bzw. postautonomen Szene, da beide Seiten nur bedingt dazu bereit sind, miteinander zu kooperieren. Autonome Gewalt "Autonome" kennzeichnet ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft. Die autonome Gewaltbereitschaft basiert dabei auf einem klaren Feindbild, zu dessen tragenden Säulen der Staat und seine Repräsentanten sowie Rechtsextremisten, aber auch szenekritische Wissenschaftler zählen. Politisch motivierte Gewalt dient Autonomen als "Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft", denn um die angestrebte herrschaftsfreie Gesellschaft zu errichten, muss zuvor der demokratische Rechtsstaat als Garant der bisherigen Ordnung beseitigt werden. Gewalt hat für "Autonome" immer eine Außenund eine Binnenwirkung. Nach außen dient sie u. a. dazu, öffentliche, insbesondere mediale Aufmerksamkeit zu erregen und Unterstützung für die eigenen Positionen zu finden. Darüber hinaus soll sie die Kosten für bestimmte politische Entscheidungen so in die Höhe treiben, dass diese langfristig politisch nicht mehr durchsetzbar sind.59 Zugleich wirkt die Gewalt nach innen integrationsund identitätsstiftend für die jeweiligen Bezugsgruppen. Die gewaltsame Auseinandersetzung mit der Polizei ist oft der förmliche Ritterschlag für den einzelnen "Autonomen", denn sie befördert seinen Aufstieg in den formal nicht existenten Hierarchien innerhalb seiner Bezugsgruppe. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Gewalt - wie auch in anderen Extremismusbereichen - ästhetisiert und heroisiert wird. So stilisieren sich "Autonome" gern auf Fotos und 58 Die beiden Göttinger Gruppen "Antifaschistische Linke International" und "Basisdemokratische Linke Göttingen" (BL) sind Teil der antiimperialistisch ausgerichteten IL. Die "Redical [M]" aus Göttingen und "In/Progress" aus Braunschweig sind die niedersächsischen Ortsgruppen des antideutsch ausgerichteten Bündnisses uG. In Hannover gibt es eine IL-Ortsgruppe Hannover, die ursprünglich zum Bündnis uG gehörende Gruppierung "Fast Forward Hannover" hat sich bereits im Jahr 2020 aufgelöst. 59 Die Castor-Transporte sind hierfür ein gutes Beispiel. Ihre Gegner wussten, dass sie die Züge mit den Castoren auf dem Weg ins atomare Zwischenlager nach Gorleben nicht aufhalten können. Durch Blockaden und sogenannte Schotter-Aktionen versuchten Teile von ihnen aber, die Transporte möglichst lange aufzuhalten. So wollten sie die Kosten für die Castor-Transporte in die Höhe treiben, in der Hoffnung, dass sie irgendwann allein aus Kostengründen nicht mehr durchführbar sein würden. 151 Linksextremismus Plakaten als "lonesome cowboy" oder "streetfighter" vor brennenden Barrikaden oder Autos sowie vor Polizeireihen. Dadurch zeigen sie zugleich die Faszination, die Gewalt auf sie ausübt. Gewalt wird somit zu einem unverzichtbaren Lebensgefühl. In manchen Situationen herrscht sogar eine regelrechte Gewaltbegeisterung, denn "es macht einfach Spaß, den Bullen eins in die Fresse zu hauen ...", wie es in einem ihrer Selbstzeugnisse heißt.60 Ihren Ausdruck findet die autonome Gewalt in erster Linie in Massenmilitanz und klandestinen Aktionen. Massenmilitanz tritt dabei vornehmlich am Rande von Demonstrationen in Erscheinung. Konspirativ agierende Kleingruppen üben zudem Brandund Sprengstoffanschläge vor allem gegen Luxusund Firmenfahrzeuge, aber auch gegen öffentliche Einrichtungen wie Jobcenter, Polizeistationen und Behörden aus. Um die von "Autonomen" ausgehende Gewalt richtig einordnen zu können, muss man sich den für sie und die "Postautonomen" geltenden Gewaltbegriff vergegenwärtigen. Dem linksextremistischen Verständnis nach üben die "kapitalistischen Produktionsverhältnisse" Gewalt gegen ihre Bürger aus: sie stellen eine auf gesellschaftlichen Strukturen, Werten, Normen, Institutionen und Machtverhältnissen basierende "strukturelle Gewalt" gegenüber den Bürgern dar und hindern diese daran, sich ihren Anlagen und Möglichkeiten entsprechend frei entfalten und somit selbst verwirklichen zu können. Aus dieser so empfundenen "Gewalt des Systems" leiten "Autonome" und sonstige gewaltbereite Linksextremisten quasi ein Naturrecht auf gewaltsamen Widerstand ab. Linksextremistische Gewalt versteht sich demzufolge als "Gegengewalt", als ein reaktives und dadurch legitimes Mittel, um die (angeblich) herrschende Gewalt aufzubrechen und Veränderungen herbeizuführen. Mit dieser Interpretation wird zugleich das Opfer-Täter-Narrativ definiert: der Staat ist immer der Täter und der "Autonome" bzw. "Postautonome" immer das Opfer. "Postautonome" teilen zwar grundsätzlich das autonome Gewaltverständnis. Im Gegensatz zu den "klassischen Autonomen" ist 60 A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin 3. Auflage 2003, Seite 148. 152 Linksextremismus ihr Verhältnis zur Militanz vor allem taktischer Natur. Einerseits distanzieren sie sich von der Anwendung von Gewalt, um so das demokratische Spektrum als potenziellen Bündnispartner und ihre Scharnierfunktion zwischen den extremistischen und nichtextremistischen Milieus nicht zu gefährden. Andererseits betonen sie, "... unsere Mittel und Aktionsformen, defensive wie offensive, bestimmen wir also strategisch und taktisch in den jeweiligen Situationen, so wie wir sie verantworten können ... Es geht uns darum, die kollektive Fähigkeit herzustellen, die Wahl der Mittel nach unseren Zielen selbst zu bestimmen." (Internetseite der IL, 22.09.2021) Ein eindeutiges "Nein" zu jeglicher Form der Gewalt gibt es von ihnen nicht. Vor diesem Hintergrund wird schon seit geraumer Zeit in der linksextremistischen Szene eine Debatte über das Für und Wider von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen geführt. In dieser "Militanzdebatte" geht es nicht um ein Ja oder Nein zur Gewalt an sich. Einzig die Legitimität der Anwendung von Gewalt auch gegen Menschen und nicht allein gegen Sachen wird diskutiert. Da Gewalt dem autonomen Verständnis nach politisch für diejenigen vermittelbar sein soll, die man befreien will, wird bislang gezielte Gewalt gegen Menschen mehrheitlich abgelehnt. Davon ausgenommen sind aber Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte und Rechtsextremisten bzw. diejenigen, die Linksextremisten dafür halten. Sie gelten als das personifizierte Feindbild eines jeden "Autonomen" bzw. "Postautonomen", ihnen werden Menschenwürde und Grundrechte abgesprochen. Gewalt gegen sie gilt als legitim, notwendig und vermittelbar und wird zumindest billigend in Kauf genommen. Auswirkungen der "Corona-Pandemie" auf Aktivitäten und ideologische Überlegungen der autonomen Szene in Niedersachsen Während der Hochphase der Corona-Pandemie hatten Linksextremisten ihre politischen Aktivitäten in erster Linie in den virtuellen Raum verlegt und sich zumeist nur als Einzelpersonen an den realweltlichen Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen 153 Linksextremismus beteiligt. Sie beschränkten sich weitgehend darauf, die sogenannten Spaziergänge der Corona-Skeptiker und -leugner zu beobachten und Rechtsextremisten unter den Corona-Maßnahmenkritikern zu identifizieren und dann mit Bildern und persönlichen Daten zu outen. Mit dem weitgehenden Wegfall der Corona-Beschränkungen Anfang 2022 hat die Anzahl der an den Gegenprotesten beteiligten Linksextremisten in Niedersachsen wieder deutlich zugenommen. Linksextremisten riefen nun auch zu Gegenprotesten auf bzw. beteiligten sich an deren Organisation und Durchführung. So standen am Montag, den 31.01.2022 beim sogenannten Montagsspaziergang den etwa 250 Gegnerinnen und Gegnern der Corona-Maßnahmen in Göttingen bis zu 350 Gegendemonstrierende gegenüber, darunter etwa 100 schwarz gekleidete Autonome. Bereits im Vorfeld hatten auch linksextremistische Göttinger Gruppierungen wie die "Redical [M]" und die "Basisdemokratische Linke (BL)" zur Teilnahme an den Gegenprotesten aufgerufen. Im Verlauf des Aufzuges der Gegnerinnen und Gegner der Corona-Maßnahmen versuchten Teile des Gegenprotests in Gruppen an verschiedenen Orten in der Göttinger Innenstadt zum Demonstrationszug vorzudringen und diesen zu stoppen. So blockierten circa 25 Personen an einer Stelle mit Bauzäunen die Wegstrecke der "Montagsspaziergänger". Nachdem Blockierende trotz Aufforderung durch die Polizei die Strecke nicht freimachten und versuchten, von hinten an das Aufzugsende der "Montagsspaziergänger" zu gelangen, wurde die Sitzblockade von der Polizei geräumt. Dabei kam es immer wieder zu tätlichen Angriffen durch vermummte Personen auf die Einsatzkräfte. Die Polizei leitete gegen Teilnehmende der Gegendemonstration Ermittlungsverfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung, Sachbeschädigung und Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz ein. Generell befand sich die linksextremistische Szene während der Corona-Pandemie in einem Dilemma. Obwohl sie den demokratischen Rechtsstaat, seine Institutionen und Repräsentanten kategorisch ablehnt, hielt sie sich an die staatlichen Vorgaben zum Schutz vor der Pandemie. Sie forderte sogar zu deren Einhaltung auf. Damit gehörten Linksextremisten in dieser Ausnahmesituation ungewollt zu den Unterstützern des ihnen verhassten Staates. Dieser 154 Linksextremismus Widerspruch dürfte mit dafür verantwortlich sein, dass Linksextremisten weder großes Interesse an der Teilnahme an den Protesten der Gegner der Corona-Maßnahmen noch an denen gegen diese gezeigt hatten und eher sporadisch zu einer Beteiligung aufriefen. Aktionsfelder Kampf gegen Faschismus Zentrales Anliegen der "Autonomen" ist der Kampf gegen Faschismus bzw. der "Antifaschismus", einhergehend mit dem für sie damit untrennbar verbundenen Kampf gegen den Kapitalismus und den demokratischen Rechtsstaat. Unter Rückgriff auf die von dem damaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale (Komintern), Georgi Dimitroff, im August 1935 auf dem VII. Weltkongress der Komintern in Moskau aufgestellten These, wonach der Faschismus "die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals"61 sei, ist der Faschismus dem linksextremistischen Verständnis nach dem Kapitalismus immanent. Faschismus kann aus linksextremistischer Sicht deshalb nur dann erfolgreich bekämpft werden, wenn zugleich auch seine Ursache, der Kapitalismus als die Wurzel allen Übels, beseitigt wird. Konsequenter "Antifaschismus" zielt daher für Linksextremisten zwangsläufig nicht nur auf die kapitalistische Wirtschaftsordnung, sondern auch auf die "Marionette des Kapitals", den zu überwindenden demokratischen Rechtsstaat. Ereignisse im Zusammenhang mit der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) Im Gegensatz zu den vorherigen Jahren konzentrierte sich die linksextremistische Szene Niedersachsens 2022 trotz der Landtagswahl in ihrer "Antifaschismus-Arbeit" nicht mehr schwerpunktmäßig auf die direkte Auseinandersetzung mit der AfD. Zwar stellten Veranstaltungen, Pkws und Wohnhäuser von AfD-Angehörigen weiterhin Angriffsziele des autonomen Spektrums dar, dennoch blieben körperliche Übergriffe aus. So beklebten unbekannte Täter am 09.01.2022 61 Georgi Dimitroff, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus, in: ders., Gegen Faschismus und Krieg. Ausgewählte Reden und Schriften, Leipzig 1982, Seiten 49-136, hier Seite 52. 155 Linksextremismus den Carport eines Landtagsabgeordneten der AfD in Lehrte mit Stickern auf denen "Smash Fascim" ("Zerschlagt den Faschismus") und "Wald statt Asphalt" zu lesen war. Als der Betroffene einen Tag später die Täter sah, wie sie eine Straßenlaterne mit solchen Stickern beklebten und sie zur Rede stellen wollte, drohten sie ihm damit: "Dich kriegen wir auch noch, wir kennen dich, bald brennen wir deinen Carport ab". Auch von Outing-Aktionen war die AfD betroffen. So wurde Mitte 2022 ein niedersächsischer AfD-Landtagsabgeordneter von einer "Antifaschistischen Vernetzung Oldenburger Land" mit Blick auf seine sozialen Kontakte über das Internet geoutet. Links-Rechts-Auseinandersetzungen in Braunschweig und im Raum Göttingen Gewalttätige Auseinandersetzungen prägen seit Jahren das Verhältnis zwischen Linksund Rechtsextremisten in Stadt und Raum Göttingen. Immer wieder wurde der politische Gegner gezielt provoziert und angegriffen. Betroffen von der Konfrontationsgewalt war in jüngster Zeit verstärkt auch die Stadt Braunschweig, wo es häufig zu Übergriffen zwischen beiden Extremismen gekommen und eine Radikalisierung der Szenen zu beobachten war. Vor allem die Auseinandersetzung mit der rechtsextremistischen Partei "Die Rechte" stand häufig im Vordergrund. Mittlerweile hat sich die Lage in Braunschweig wieder etwas beruhigt, von Entwarnung kann aber nicht die Rede sein. Im Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen Linksund Rechtsextremisten bzw. denjenigen, die Linksextremisten dafür halten, spielte auch 2022 Göttingen eine bedeutende Rolle. So nahm der Konflikt zwischen Linksextremisten und Verbindungsstudenten wieder zu. Außerdem gab es in Göttingen immer wieder szenetypische Delikte wie Beleidigungen, Pöbeleien, Sachbeschädigungen und körperliche Auseinandersetzungen zwischen Linksund Rechtsextremisten. Ereignisse im Zusammenhang mit Burschenschaften Vor allem in Göttingen, aber auch in anderen niedersächsischen Universitätsstädten sind immer wieder Übergriffe auf 156 Linksextremismus Verbindungsstudenten und deren Einrichtungen zu verzeichnen, mit zunehmender Tendenz. Den Korps-Angehörigen werden vor allem von der linksextremistischen Szene Affinitäten ins rechtsextremistische Milieu unterstellt. Aus diesem Grunde gehören sie zu den erklärten Feindbildern der Autonomen auch in Niedersachsen. Der Konflikt zwischen Linksextremisten und Verbindungsstudenten scheint in den niedersächsischen Universitätsstädten im Jahr 2022 wieder zuzunehmen. So beschmierten am 13.03.2022 in Hannover unbekannte Täter die Haustür und die Glasfassade einer Burschenschaft mit dem Schriftzug "Antifa" und den Symbolen "Hammer und Sichel". In den frühen Morgenstunden des 16.05.2022 bewarfen ebenfalls in Hannover unbekannte Täter die Hausfassade eines Verbindungshauses und einen im Eingangsbereich geparkten Pkw mit Farbbeuteln. Am 16.07.2022 kam es kurz nach Mitternacht in einer Gaststätte in Göttingen zu einer Auseinandersetzung zwischen vier Mitgliedern einer örtlichen Studentenverbindung und mehreren unbekannten Personen. Nach Angaben der Verbindungs studenten wurden sie unvermittelt angepöbelt und aufgefordert, das Lokal zu verlassen. Als sie dem nicht nachkamen, eskalierte die Situation. Die Verbindungsstudenten wurden in der Folge teilweise ins Gesicht geschlagen und getreten. Als die alarmierte Polizei eintraf, seien die Angreifer in einen gegenüberliegenden, vornehmlich von Angehörigen der linksextremistischen Szene bewohnten Gebäudekomplex geflüchtet. Die jüngsten Ereignisse verdeutlichen, dass sich Verbindungsstudenten und ihre Örtlichkeiten weiterhin im Fokus der linksextremistischen Szene in Niedersachsen befinden. Dabei schrecken die Täter anscheinend auch vor körperlichen Übergriffen nicht zurück. Aus diesem Grunde muss auch künftig mit linksextremistisch motivierten Angriffen auf Burschenschaftler und ihre Einrichtungen gerechnet werden. Weitere Aktionen in Niedersachsen In den Morgenstunden des 15.06.2022 wurde ein in Thüringen wohnhafter Rechtsextremist in Hannover auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz von acht bis zehn vermummten Personen angegriffen. Die Täter zwangen das Opfer, sein Auto anzuhalten und nötigten 157 Linksextremismus ihn, sich auf den Boden zu legen. Dann schlugen sie das Opfer zusammen. Unbekannte Täter begaben sich am 26.01.2022 zum Wohnhaus eines bekennenden Rechtsextremisten und seiner Familie in Jameln (Landkreis Lüchow-Dannenberg) und bewarfen dieses mit mehreren mit grüner sowie roter Farbe gefüllten Hühnereiern. Offensichtlich wurde zielgerichtet versucht, ein am Haus befestigtes Holzschild zu beschädigen, auf dem sich die Aufschrift befand: "Die Impfkampagne ist der größte industrialisierte Massenmord der Menschheitsgeschichte." Es wurde die Gebäudefassade sowie ein Fenster getroffen und mit Farbe beschmiert. Kampf gegen Repression Gewöhnlich wird der Begriff "Repression" dafür verwendet, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen in Diktaturen und autoritären Systemen zu benennen. Linksextremisten übertragen den Begriff auf die innenpolitische Situation in Deutschland. Konkret verstehen sie hierunter die Unterdrückung der individuellen, sozialen und politischen Entfaltung der oder des Einzelnen durch gesellschaftliche Strukturen oder autoritäre Verhältnisse in Deutschland, insbesondere durch Handlungen staatlicher Exekutivorgane. Vor allem der Staat und seine sicherheitspolitischen Einrichtungen wie die Polizei, die Nachrichtendienste und die Justiz stehen dabei im Fokus der Kritik. Als staatliche bzw. vom Staat gelenkte "Repressionsorgane" bekämpfen sie nach Meinung von Linksextremisten die Bürger ihres Landes, kriminalisieren sie und hindern sie daran, sich frei entfalten zu können, während sie zugleich "Faschisten", also Rechtsextremisten bzw. diejenigen, die Linksextremisten dafür halten, schützen. Ziel der linksextremistischen "Antirepressions-Arbeit" ist es, sich selbst als Opfer permanenter Überwachung, Verfolgung und Reglementierung durch den Staat zu stilisieren, um auf diese Weise ihr Handeln zu legitimieren und den demokratischen Rechtsstaat zu delegitimieren. Am 17.02.2022 durchsuchte die Polizei in Braunschweig zeitgleich das "Nexus", einen Treffpunkt, der auch von Autonomen genutzt 158 Linksextremismus wird, und zwölf Privatwohnungen von Angehörigen der autonomen Szene. Anlass der Maßnahmen waren Angriffe auf Rechtsextremisten im Jahr 2021 und daraufhin eingeleitete Verfahren gegen gewaltbereite Autonome. Bei den Durchsuchungsmaßnahmen wurden neben Datenträgern auch Tatmittel wie eine CO2-Pistole, Reizstoffsprühgeräte, Baseballschläger, Schlagstöcke, ein Schlagring, ein Springmesser, Pyrotechnik ohne Zulassung, eine Präzisionsschleuder und Vermummungsgegenstände festgestellt. Die Polizei leitete zahlreiche Strafanzeigen wegen Verstoßes gegen das Waffenund Sprengstoffgesetz ein. Als Resonanz auf die Durchsuchungen versammelten sich überwiegend Personen aus der autonomen Szene. So riefen u. a. das linksextremistische postautonomen Bündniss IL, das Bündnis uG ebenso wie die linksextremistische "Redical [M] " und die Göttinger Ortsgruppe des linksextremistisch beeinflussten Bündnisses "Ende Gelände" über die Sozialen Medien unter dem Motto "Unsere Solidarität gegen ihre Repression" zur Solidarität mit den Beschuldigten auf und zeigten eine polizeikritische Ausstellung im "Nexus". Seit dem 08.09.2021 läuft in Dresden der Prozess im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren gegen die sich in Untersuchungshaft befindliche Studentin Lina E. und drei weitere Angeklagte. Sie werden als Mitglieder einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung u. a. der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung und des besonders schweren Landfriedensbruchs beschuldigt. In Sachsen und Thüringen sollen sie insgesamt 13 Rechtsextremisten angegriffen und ihnen dabei teilweise lebensbedrohliche Verletzungen zugefügt haben, darunter Gesichtsfrakturen und Platzwunden am Kopf. Die linksextremistische Szene solidarisiert sich mit den Angeklagten, begleitet den Prozess mit Demonstrationen und anderen Aktionen und ruft für den "Tag X", d. h. für den Tag der Urteilsverkündigung im "Antifa Ost-Verfahren", zu Protestveranstaltungen auf. Auch niedersächsische Linksextremisten solidarisieren sich mit Lina E. und den Mitangeklagten. So teilte die "Rote Hilfe Hannover" am 14.10.2022 einen Aufruf zum "Tag X". Am 18.11.2022 hielt der der "Roten Hilfe" nahestehende "Ermittlungsausschuss 62 Dresden" 62 Die Aufgabe von Ermittlungsausschüssen besteht darin, sich um Festgenommene zu kümmern und Rechtsanwälte zu vermitteln. 159 Linksextremismus einen Vortrag zum "Antifa-Ost Verfahren" im Autonomen Zentrum Alhambra in Oldenburg. Auch fünf Jahre nach dem G20-Gipfel in Hamburg ermitteln Polizei und Justiz noch immer zu den gewalttätigen Ausschreitungen. Die linksextremistische Szene kritisiert diese Vorgehensweise massiv und fasst sie als Akte staatlicher Repression auf. Vor diesem Hintergrund wurde auf das Wohnhaus eines Hamburger Richters in Buxtehude in der Nacht zum 04.08.2022 ein Anschlag verübt. Unbekannte Täter bewarfen das Haus mit Gläsern, die Buttersäure und eine hellbraune Flüssigkeit freisetzten. Zum Zeitpunkt der Tat hielten sich dort mehrere Familienangehörige auf, darunter ein Kleinkind. Verletzt wurde niemand. In einem auf einem linksextremistischen Internet-Portal am 04.08.2022 eingestellten Selbstbezichtigungsschreiben begründeten die unbekannten Täter unter der Überschrift "Besuch beim ehemaligen Richter Krieten" den Anschlag mit einer ihrer Meinung nach auf den G20-Gipfel folgenden und noch immer präsenten staatlichen Repression gegenüber den Gipfelgegnern. In einer pathetischen Verklärung der linksextremistischen Gewalt von Hamburg wollen sie mit ihrer Tat an "die Revolten jener Tage Anfang Juli 2017, an die Momente der Freiheit!" erinnern und mit ihrer Aktion alle "gefangenen Genoss*innen grüßen". Der von dem Anschlag auf sein Haus betroffene Richter hat am Amtsgericht Hamburg u. a. diverse Strafprozesse gegen linksextremistische Gewalttäter im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel 2017 geführt. Bereits kurz vor Weihnachten 2019 war er ins Visier der linksextremistischen Szene geraten. Unter dem Motto "Weihnachten mit Richter Krieten" zogen damals etwa 20 aus Hamburg angereiste Linksextremisten durch dessen Heimatstadt Buxtehude und demonstrierten im Anschluss daran unmittelbar vor dem Haus des Amtsrichters. Auch die Polizei befindet sich weiterhin im Fokus der linksextremistischen Szene. So solidarisierte sich die Göttinger "Redical [M]" mit einem während eines Polizeieinsatzes verstorbenen jungen Mann in Dortmund und forderte: "Das sterben aus den Händen der Polizei muss ein Ende haben" (Social Media Account der "Redical [M] " vom 19.10.2022) (Fehler aus dem Original übernommen) 160 Linksextremismus In Hannover stellte die Polizei am 31.08.2022 insgesamt vier Plakate mit der doppeldeutigen Aufschrift "COPS TÖTEN" und "Die Polizei - ein Täter" sicher. Die "Rote Hilfe" Die bedeutendste Gruppierung, die sich in erster Linie der "Antirepressions-Arbeit" widmet, ist der von Linksextremisten getragene Verein "Rote Hilfe e. V." (RH). Die RH wurde 1975 gegründet und ist in Göttingen ansässig. Über den Bundesverband hinaus existieren etwa 50 Ortsgruppen bundesweit. In Niedersachsen gibt es mit Braunschweig, Göttingen, Hannover, Oldenburg und Osnabrück fünf selbstständige Ortsgruppen. Logo der "Roten Hilfe e.V." Die RH versteht sich als "Selbsthilfeorganisation für die gesamte Linke". Bewusst verzichtet sie darauf, sich von extremistischen Zusammenschlüssen zu distanzieren. Ihre Hauptaufgabe sieht sie im Kampf gegen "staatliche Repression". Sie bietet Linksextremisten politischen und sozialen Rückhalt und leistet juristische und finanzielle Unterstützung, wenn sie straffällig werden. So gewährt sie Rechtshilfe, vermittelt Szeneangehörigen Anwälte und betreut sie sowohl in Strafverfahren als auch während einer möglichen Haftzeit. Außerdem stellt sie zu besonderen Veranstaltungen, beispielsweise bei Demonstrationen, sogenannte Ermittlungsausschüsse 63 bereit. Die RH begleitet zudem strafprozessuale Maßnahmen u. a. mit Solidaritätsveranstaltungen und Kampagnen, um auf diese Weise die vermeintliche Repression staatlicher Behörden gegen politische Aktivisten zu "entlarven". So versucht sie, die Vernetzung und den Zusammenhalt der unterschiedlichen linksextremistischen Strömungen zu festigen und zu sichern. Ferner bietet sie Veranstaltungen und Vorträge für die linksextremistische Szene z. B. in Autonomen Zentren an und leistet sowohl für extremistische als auch nichtextremistische Organisationen Rechtsberatung vor, während und nach Demonstrationen. Im Zusammenhang mit den Ermittlungen wegen der gewalttätigen Ausschreitungen beim G20-Gipfel initiierte die RH eine eigene Spendenkampagne zur Unterstützung der Tatverdächtigen. Unter dem 63 Siehe Fußnote 19. 161 Linksextremismus Motto "United We Stand! - Unsere Solidarität gegen ihre Repression!" sammelt die RH seit August 2017 Gelder für die anstehenden Gerichtsprozesse, die nach Aussage der RH als "politische Machtdemonstration des Apparats" zu werten seien. Da das Aktionsfeld "Antirepression" weiterhin einen hohen Stellenwert innerhalb des linksextremistischen Spektrums, insbesondere in der autonomen Szene, einnimmt, kann die RH seit mehreren Jahren hohe Mitgliederzahlen verbuchen. So sind gegenwärtig bundesweit mehr als 12.100 Personen (2021: 11000) in der RH organisiert, etwa 1.100 (2021: 1.000) davon in Niedersachsen. Zur Struktur der RH gehört auch das am 18.02.2005 in Umsetzung eines Beschlusses der RH-Hauptversammlung in Göttingen gegründete und dort ansässige "Hans-Litten-Archiv", benannt nach einem Rechtsanwalt, der während der Weimarer Republik für die "Rote Hilfe Deutschland"64 tätig war. Klimaschutz Der Klimaschutz ist ein Thema, das die Menschheit bewegt. Um der globalen Erderwärmung und ihren Folgen entgegenzuwirken, hat sich in den letzten Jahren eine weltweit agierende Klimaschutzbewegung formiert. Ihr Ziel ist es, Druck auf die Regierungen auszuüben, um den Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase drastisch zu verringern. Mit zahlreichen Demonstrationen und sonstigen Protestaktionen will vor allem die nichtextremistische "Fridays for Future"-Bewegung (FFF) dazu beitragen, dass die im Pariser Klimaschutzabkommen vom 12.12.2015 getroffenen Vereinbarungen erreicht werden und die globale Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Werten begrenzt wird. Die globalen Klimastreiktage haben deutlich gemacht, dass Linksextremisten auch in Niedersachsen den Klimaschutz für sich entdeckt haben und seitdem versuchen, die Klimaschutzbewegung für ihre Interessen zu vereinnahmen. Dabei folgen sie ihrer Strategie, gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen, um mit diesen bis in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähig zu werden. Vor allem 64 "Rote Hilfe Deutschland" existierte von 1924 bis zu ihrer Selbstauflösung 1936. 162 Linksextremismus postautonome Gruppierungen wie die IL versuchen, strategische Bündnisse mit dem demokratischen Spektrum zu schließen, um dieses für ihre Interessen zu instrumentalisieren und mittelfristig zu radikalisieren. Die IL ist bereits seit längerem ein steuernder Faktor in dem linksextremistisch beeinflussten Bündnis "Ende Gelände" (EG). EG wendet sich vor allem gegen den Braunkohletagebau im nordrhein-westfälischen Garzweiler und in diesem Zusammenhang gegen die Rodung des Hambacher Forsts und den vollständigen Abriss des Dorfes Lützerath. Zugleich engagiert EG sich aber auch gegen den Braunkohleabbau in der sächsischen Lausitz und gegen die Abholzung des Dannenröder Forsts in Hessen. Auf ihrer Internetseite beansprucht die IL die Gründungsinitiative von "Ende Gelände" für sich, wenn sie schreibt: "Mit Ende Gelände haben wir ein unglaublich großes Ding geschaffen." (Internetseite der IL, 14.11.2022) Dass für die IL Klimaschutz nur Mittel zum Zweck ist, macht sie in einem ihrer Positionspapiere deutlich. Dort heißt es: "Die Macht des fossil-industriell-militärischen Komplex und die Binnen-'Logik' des Kapitals sind nicht voneinander zu trennen. Ziel massenhaften Ungehorsams ist nicht 'nur' Bebzw. Verhinderung konkreter Zerstörungen, sondern selbstverständlich auch Vertiefung und Intensivierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die herrschenden Zustände insgesamt. Eine Klimabewegung wird bei aller Dringlichkeit ihres Anliegens nicht als Ein-Punkt-Bewegung erfolgreich sein können. Sie muss sich vielmehr in Beziehung setzen und verbinden mit weiteren Kämpfen u. a. für Solidarität mit Geflüchteten, Care-Revolution, Recht auf Stadt, gegen Austerität, das herrschende Arbeitsbzw. Prekaritätsregime, Militarismus sowie jegliche weiteren Herrschaftsformen." (Internetseite der IL, "Globale Solidarität statt systemischer Wahnsinn", 14.11.2022) Auch wenn FFF ohne linksextremistische Einflussnahme entstanden ist, gibt es Linksextremisten in ihren Reihen. So hat sich schon im März 2019 innerhalb von FFF eine "antikapitalistische Plattform" namens "Change for Future" (CFF) gegründet. Darin wirken u. a. die der MLPD nahestehende Jugendorganisation "Rebell" und die der trotzkistischen Gruppe "ArbeiterInnenmacht" (GAM) nahestehende gewaltorientierte Jugendorganisation "Revolution" (REVO) mit. 163 Linksextremismus Um "der Kapitalismuskritik mehr Gehör zu verschaffen" will CFF die "Antikapitalisten" innerhalb von FFF vernetzen und die "Arbeiterbewegung und FFF" zusammenbringen.65 Ihre Mitglieder "eint die Einsicht, dass wir zum Lösen der Klimakrise den Kapitalismus überwinden müssen."66 Aus diesem Grunde stellt sich CFF "klar gegen das momentane System", weil sich ihrer Meinung nach effizienter Klimaschutz nicht im bestehenden System erreichen lässt.67 Auch in Niedersachsen kooperierten 2022 FFF und Linksextremisten. So arbeitete etwa die "Redical [M]" mit der FFF-Ortsgruppe Göttingen mit der Intention zusammen, die eigenen ideologischen Ziele durch den Klimaprotest voranzubringen. Sie protestierten gemeinsam für den Klimaschutz. Am 07.11.2022 veröffentlichte der Bundesvorstand der "Roten Hilfe" (RH) eine Solidaritätsbekundung mit der Klimabewegung. Anlass dafür war die Präventivhaft für mehrere Klimaaktivisten in Bayern. Die RH befürchtete eine weitere Verschärfung staatlicher Repressionsmaßnahmen. Die RH-Ortsgruppe in Göttingen unterstützte dieses Statement und sieht hinter der polizeilichen Maßnahme einen Angriff auf die gesamte linksextremistische Szene. Das linksextremistisch beeinflusste Bündnis EG führte vom 09.08. bis zum 15.08.2022 in Hamburg ein "System Change Camp" mit Workshops, Vorträgen und Demonstrationen zu "Klimapolitik, Postkolonialismus und Antikapitalismus" durch. Neben demokratischen Organisationen wie FFF oder "Extinction Rebellion" (XR) nahmen auch zahlreiche linksextremistische Gruppierungen wie die postautonomen Bündnisse IL und "...ums Ganze! Kommunistisches Bündnis" (uG) oder die anarchistische "Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union" (FAU) Hamburg teil. Inhaltlich richtete sich das Camp gegen die geplanten LNG-Terminals im schleswig-holsteinischen Brunsbüttel sowie im niedersächsischen Wilhelmshaven und Stade. Zudem sollte der Hamburger Hafen als Symbol für die Logistik 65 Internetseite von Rebell: Change for Future - die antikapitalistische Plattform in FFF, Stand: 29.07.2020. 66 Marxisten bei Fridays for Future: "Wir wollen den Planeten retten und nicht die Profite der Konzerne", Interview mit Roberto-Antonio Sanchino Martinez, in: www.stern.de, Stand: 29.07.2020. 67 Pressemitteilung von CFF, Internetseite der "Ökologischen Plattform bei DER LINKEN". 164 Linksextremismus des fossilen Kapitalismus und vermeintlichen Neokolonialismus ins Visier genommen werden. Statt der erwarteten bis zu 6.000 Personen nahmen aber nur etwa 2.000 Aktivisten an dem Klimacamp im Hamburger Volkspark teil. Nicht nur in Hamburg, sondern auch in Niedersachsen kam es im Verlauf des Camps zu Protestaktionen. Sollten sich diese ursprünglich am 12.09.2022 gegen das in Stade geplante LNG-Terminal richten, änderten die Protestierenden kurzfristig ihre Pläne und fuhren an diesem Tag nach Wilhelmshaven, um auf dem Hafengelände des Jade-Weser-Ports gegen den Bau der LNG-Leitung und des LNG-Terminals zu demonstrieren. Rund 250 Demonstrierende näherten sich am Vormittag dem Gelände des Jade-Weser-Ports. Ein Teil von ihnen überwand die Sicherheitsvorkehrungen um die Lagerfläche im Hafengebiet, auf der neben diversen Baumaschinen und Materialien auch etwa 200 Rohre lagerten. Sie sollten dem späteren LNG-Gastransport dienen. Dabei wurden u. a. Kräne und LKWs beschädigt. Andere Aktivisten besetzten wiederum die Baustelle einer LNG-Gasdruckregelmessanlage kurz vor dem Hooksieler Außenhafen. Sie zündeten Nebeltöpfe und störten die Arbeitsabläufe auf den Baustellen. Am späten Nachmittag begaben sich die Protestierenden zu Fuß in Richtung Bahnhof Wilhelmshaven. Entgegen ihrer Ankündigung versuchten sie noch, das Gelände der Lagerfläche auf dem Jade-Weser-Port zu betreten. Dabei gab es vereinzelte Auseinandersetzungen mit der Polizei. Über die Sozialen Netzwerke bekannte sich EG am darauf folgenden Tag zu den Aktionen in Wilhelmshaven, einschließlich der dabei begangenen Sachbeschädigungen: "Der Bau von LNG Terminals ist ein Klimaverbrechen. Deshalb haben wir gestern die LNG Baustelle #Wilhelmshaven nicht nur mit unseren Körpern blockiert, sondern die Werkzeuge der Zerstörung auch dauerhaft außer Betrieb gesetzt". (Facebookund Instagram-Account von Ende Gelände, 13.08.2022) Zugleich betonten sie die Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, um den Klimawandel noch aufzuhalten: 165 Linksextremismus "Wir brauchen den #SystemChange. Ein solch radikaler Wandel ist nur mit zivilem Ungehorsam erreichbar. Aber noch nie hat sich ziviler Ungehorsam darin erschöpft, auf der Straße zu protestieren oder sich wegtragen zu lassen. Ziviler Ungehorsam ist auch immer ungehorsame Revolte." (Facebookund Instagram-Account von Ende Gelände, 13.08.2022) Bereits zu Beginn des Klimacamps fand am 10.08.2022 bei den Landungsbrücken im Hamburger Hafen eine Auftakt-Demonstration statt, an der nach Angaben des Veranstalters etwa 2.500 Personen teilgenommen hatten. Ein aus demokratischen und auch autonomen Gruppierungen bestehendes Bündnis forderte den Stopp aller fossilen Energieträger und den sofortigen Ausbau erneuerbarer Energien. Für Samstag, den 13.08.2022 hatten das Bündnis uG und die IL unter dem Motto "#shutdowntheharbour" zur Blockade des Hamburger Hafens und dessen Logistik aufgerufen. Klimaaktivisten versuchten nach einem Aufzug unter dem Motto "Gegen LNG, Kolonialismus und Extraktivismus - fossilen Kapitalismus versenken!" mit ungefähr 2.000 Teilnehmenden an vier Standorten den Hamburger Hafen zeitgleich lahmzulegen. Bei den darauffolgenden Auseinandersetzungen mit der Polizei besprühten Aktivisten die Einsatzkräfte aus dem Demonstrationszug heraus mit Pfefferspray. Es kamen Wasserwerfer zum Einsatz. Etwa 25 bis 30 Protestierende wurden vorübergehend in Gewahrsam genommen. In der "Leinemasch" im Süden von Hannover soll es in den kommenden Jahren zu umfangreichen Baumaßnahmen an einer Schnellstraße im Stadtbereich kommen. Im Zuge dessen soll dieser Südschnellweg um etwa zehn Meter verbreitert werden, was u. a. umfangreiche Rodungsmaßnahmen erforderlich macht. Bei der "Leinemasch" handelt es sich um ein Landschaftsschutzund Naherholungsgebiet. Aus Sicht von verschiedenen Gruppierungen und Bürgerinitiativen sei ein solches Projekt nicht mehr zeitgemäß und würde einer geplanten Verkehrswende widersprechen. Aus diesem Grunde gab es im September und Oktober verstärkt Protestaktionen im Bereich des Südschnellweges. Dabei wurden verschiedene Protestformen wie Fahrraddemonstrationen, Straßenblockaden und Mahnwachen durchgeführt. Als Organisatoren traten neben dem demokratischen 166 Linksextremismus Zusammenschluss "Leinemasch bleibt" auch die Ortsgruppe Hannover des Bündnisses "Ende Gelände" (EG) auf. Vermutlich in der Nacht auf den 04.10.2022 wurden durch Aktivisten der Ortsgruppe Hannover des linksextremistisch beeinflussten Bündnisses EG erste Bäume im Nahbereich des Südschnellwegs in der Leinemasch besetzt. Seitdem befinden sich Klimaaktivisten mit mehreren Transparenten in zwei Baumhäusern in den Baumwipfeln des sogenannten Baumhausdorfes Tümpel Town. Die Aktivisten wenden sich mit ihrer Aktion gegen den Ausbau des Südschnellwegs. Ihrer Ansicht nach "torpediert [er] die Verkehrswende, killt Klimaziele und verstößt gegen das Recht junger Menschen und der Menschen im globalen Süden auf Erhalt und Schutz ihrer Lebensgrundlagen". Die Baumbesetzer beabsichtigen, die Baumbesetzung bis Ende der Rodungssaison, d. h. bis Ende Februar 2023 aufrechtzuerhalten. Vom 31.10. bis zum 04.11.2022 besetzten Klimaaktivisten einen Hörsaal der Göttinger Universität. Kurz darauf folgte die Besetzung eines Göttinger Gymnasiums, die vom 07.11. bis zum 11.11.2022 andauerte. Die linksextremistische "Redical [M]" solidarisierte sich mit den Besetzern, ihre Aktivisten hielten zudem an der Schule am 08.11.2022 einen Vortrag zum Verhältnis von Konsum und Klimaschutz. Vor dem Hintergrund des fortschreitenden Klimawandels wird die Frage der Energieversorgung und somit des Umgangs mit fossilen Brennstoffen die Menschen auch weiterhin bewegen. Deshalb werden auch künftig Linksextremisten versuchen, an die nichtextremistische Klimaschutzbewegung und ihre zahlreichen demokratischen Gruppierungen anschlussfähig zu werden. Vor allem die Zusammenarbeit zwischen Linksextremisten und Klimaaktivisten beim diesjährigen Klimacamp in Hamburg hat noch einmal deutlich gemacht, dass die zunehmende Entgrenzung des Linksextremismus in die Klimaschutzbewegung bei gleichzeitiger Erosion der Abgrenzung der Klimaschutzbewegung gegenüber Linksextremisten fortschreitet. Darüber hinaus scheinen Teile der Klimaschutzbewegung bereit zu sein, zur Untermauerung Ihrer Forderungen auch vermehrt Sachbeschädigungen zu begehen. Aus diesem Grunde kann nicht ausgeschlossen werden, dass vor allem linksextremistische Bündnisse 167 Linksextremismus wie die IL oder das uG, aber auch linksextremistisch beeinflusste Bündnisse wie EG versuchen werden, die Klimaschutzbewegung weiter zu radikalisieren. Antigentrifizierung Wohnraummangel, hohe Mieten, städtebauliche Umstrukturierungen, die Veränderungen von sozialund wohnräumlich gewachsenen Strukturen und damit einhergehende gesellschaftspolitische Spannungen sind Themen, die bis in die Mitte der Gesellschaft hinein Menschen bewegen. Die von jugendlichem Rebellentum, alternativem Erscheinungsbild und wirtschaftlichen Nöten geprägten Bewohner von Wohnprojekten, die sich gegen eine Verdrängung aus ihren Wohngebieten wehren, fallen grundsätzlich nicht in die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes. Eine andere Situation entsteht, wenn Linksextremisten diese Problematik aufgreifen und versuchen, durch ihren Kampf für die Schaffung und den Erhalt von sogenannten Freiräumen Einfluss auf diese gesellschaftliche Auseinandersetzung zu nehmen. Als "Freiräume" verstehen Linksextremisten vor allem besetzte Häuser, kollektive Wohnprojekte und selbstverwaltete sogenannte Jugendund Kulturzentren, die u. a. durch Hausbesetzungen und den Widerstand gegen "Zwangsräumungen" erkämpft werden sollen. "Freiräume" dienen diesem Verständnis nach als Rückzugsräume für Linksextremisten zur Planung politischer Agitation und (militanter) Aktionen. Als Teil der Auseinandersetzung um diese sogenannten Freiräume gewinnen in den autonomen Spektren der großen Ballungsräume, wie z. B. in Berlin und Hamburg oder in Leipzig und Bremen die "Kämpfe gegen Gentrifizierung" zunehmend an Bedeutung. Es werden immer wieder teils schwerwiegende Sachbeschädigungen und Brandanschläge, vorwiegend gegen Immobilienfirmen und Infrastruktureinrichtungen, verübt. Vor allem Wohnungsunternehmen wie Vonovia wird vorgeworfen, Mieter aus ihren Wohnungen zu verdrängen, um diese dann aufwändig zu sanieren und teuer neu zu vermieten. Im Gegensatz zum demokratischen Protest, der sich gegen die Umgestaltung von Stadtteilen aus Sorge vor damit einhergehenden Mietpreiserhöhungen, zunehmendem Mangel an 168 Linksextremismus bezahlbarem Wohnraum und dem drohenden Verlust des originären Stadtteilcharakters richtet, dient diese Auseinandersetzung Linksextremisten auch als Plattform für ihren Kampf gegen den demokratischen Rechtsstaat. Sie nutzen diese Gentrifizierungsdiskussionen, um eigene Interessen in die gesellschaftlichen Debatten um hohe Mieten und knappen Wohnraum einfließen zu lassen und um Militanz in die Proteste gegen diese Entwicklung hineinzutragen. Vor dem Hintergrund der Übernahme des Immobilienunternehmens Deutsche Wohnen durch Vonovia könnten sich die Spannungen weiter verschärfen, entsteht doch dadurch das größte private Immobilienunternehmen Europas. Auch die niedersächsische linksextremistische Szene greift dieses Thema auf. So haben am 01.05.2022 unbekannte Täter einen Anschlag auf die Niederlassung des bundesweit agierenden Wohnungsbauunternehmens Vonovia in Oldenburg verübt. Mit Sprühfarbe und Bitumen beschmierten sie die Eingangstür und die Fenster der Oldenburger Filiale. Zudem verklebten sie mit Sekundenkleber das Schloss der Eingangstür. Am selben Tag bekannten sich anonyme Täter in einem auf einem linksextremistischen Online-Portal eingestellten Selbstbezichtigungsschreiben zu der Tat. Darin werfen sie Vonovia und anderen Immobilienunternehmen vor, die "Mietpreisbremse durch Luxussanierungen" zu umgehen, um so "die Miete noch weiter in die Höhe schießen zu lassen". Mit dem Anschlag wollten sie "die längst überflüssige Diskussion über Enteignung von Wohnungskonzernen in Oldenburg weiter ankurbeln." Dass sie auch künftig Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele nicht ausschließen, verdeutlichen sie im weiteren Verlauf ihres Schreibens: "Zu Zivilgesellschaftlichen Protest zählen viele Seiten und Formen. Sowohl direkte Aktionen, als auch Diskussionsrunden, Demonstrationen, Kundgebungen, Kunst, etc. Wir wollen nicht eine Seite höher stellen als die andere, sondern alle Lesenden ermutigen, selber Aktiv zu werden, auf welche Form auch immer." (de.indymedia.org, 01.05.2023) (Fehler aus dem Original übernommen) 169 Linksextremismus Die zur IL gehörende "Basisdemokratische Linke" (BL) griff das Thema auf und rief zu einer bundesweiten Demonstration unter dem Motto "Vonovia & Co. enteignen" am Hauptunternehmenssitz von Vonovia in Bochum am 23.04.2022 auf und forderte die Teilnehmenden auf: "Kommt in den Enteignungsblock ... das Profitsystem Vonovia muss stillgelegt werden!" (Social Media-Account der BL, gelesen am 08.04.2022) Bleibt die Lage weiterhin so angespannt wie in den letzten Jahren und setzt sich die Konzentration auf dem Wohnungsmarkt weiter fort, so muss auch künftig mit Übergriffen von Linksextremisten auf Immobilienunternehmen und ihre Mitarbeitenden gerechnet werden. Am 03.10.2022 führten verschiedene Gruppen aus dem demokratischen und dem autonomen Spektrum gemeinsam einen "Tag der offenen Tür" im ehemaligen JVA-Gebäude der Stadt Göttingen durch. Die Alte JVA in Göttingen steht schon seit Jahren leer. Ursprünglich sollte das Gebäude eine Verwendung als Hostel finden, was aber aus finanziellen Gründen scheiterte. Während die Aktivisten es künftig als soziales Zentrum nutzen wollten, entschied die Stadt Göttingen im Juli, das Gebäude an einen privaten Investor zu verkaufen, der es in einen Co-Working-Space umwandeln will. Die Aktivisten öffneten die Tür der JVA und boten eine Begehung an. Während dessen besetzten etwa ein Dutzend vermummte Personen aus der autonomen Szene das Gebäude. Sie forderten, den Verkauf des Gebäudes zu stoppen und es stattdessen in ein soziales Zentrum umzuwandeln. Die Besetzerinnen und Besetzer der JVA verstanden ihre Aktion als ein Zeichen des Protests gegen Gentrifizierung, d. h. gegen Veränderungen von sozialund wohnräumlich gewachsenen Strukturen und für autonome "Freiräume". Einen Tag später forderte die Oberbürgermeisterin der Stadt Göttingen die Besetzer auf, bis zum 06.10.2022 um 10:00 Uhr das Gebäude zu verlassen, ansonsten würde die Stadt Göttingen Strafantrag wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung stellen. Als sich auch nach Ablauf der um eine Stunde verlängerten Frist noch Personen 170 Linksextremismus im JVA-Gebäude befanden, stellte die Stadt wie angekündigt Strafantrag, was die Räumung des Gebäudes bedeutete. Im Vorfeld der Räumung formierte sich daraufhin ab 9:00 Uhr ein Aufzug, der sich mit etwa 160 Teilnehmenden vom Rathaus bis vor das ehemalige JVA-Gebäude bewegte. Daran nahmen neben demokratischen auch autonome Gruppierungen wie die zum postautonomen Bündnis IL zugehörige BL und die zum postautonomen Bündnis uG zugehörige "Redical [M]" teil. Darüber hinaus rief die Göttinger Ortsgruppe des linksextremistisch beeinflussten Bündnisses EG für 15:30 Uhr zu einem solidarischen Picknick vor dem Gebäude auf. Kurze Zeit später räumte die Polizei das Gebäude. Dabei stellte sie Personalien fest und leitete Verfahren wegen des Verdachts auf Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und Hausfriedensbruch ein. Kampf gegen den Militarismus Antimilitaristen unterstellen der Bundesrepublik, von ihrer Staatsordnung, Gesellschaftsstruktur und Denkweise her militaristisch zu sein. Ihre Proteste richten sich deshalb vor allem gegen die Bundeswehr und gegen die mit ihr zusammenarbeitenden Unternehmen. Auch Linksextremisten sind in dem Themenfeld "Antimilitarismus" aktiv. Im Gegensatz zu den nichtextremistischen Antimilitaristen zielen sie mit ihren Protesten und Aktionen über den eigentlichen Anlass hinaus auf die Überwindung des bestehenden politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Neben der im Wesentlichen von Angehörigen des nichtextremistischen Spektrums getragenen sogenannten Anti-Kriegsbzw. Friedensbewegung reklamieren auch der parteipolitisch organisierte Linksextremismus und "Autonome" - unter ausdrücklicher Einbeziehung für sie typischer militanter Aktionen - das Thema "Antimilitarismus" für sich. Im Sinne der Militarismustheorie des Mitbegründers der "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD), Karl Liebknecht, wonach das Militär im Kapitalismus dazu dient, "kapitalistische Expansionsbestrebungen" gegenüber anderen Staaten durchzusetzen und im eigenen Land den Kapitalismus und dessen "Ausbeutungsstrukturen" zu stabilisieren, sehen Linksextremisten in der Bundeswehr und dem westlichen Verteidigungsbündnis NATO kriegführende Organe zur nationalen und internationalen Durchsetzung "kapitalistischer" und "imperialistischer" Interessen. 171 Linksextremismus Aus diesem Grund ist die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Ziele für die autonome Szene weiterhin von zentraler Bedeutung. Das Aktionsfeld Antimilitarismus hat seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24.02.2022 in der linksextremistischen Szene stark an Bedeutung gewonnen. Vor allem Rüstungsunternehmen, wie die auch im niedersächsischen Unterlüß (Landkreis Celle) ansässige Rheinmetall, rücken seitdem verstärkt in den Fokus auch gewalttätiger Linksextremisten. Auch zu mutmaßlich linksextremistisch motivierten Straftaten gegen Unternehmen und Zulieferbetriebe der Rüstungsindustrie kam es. Am 05.04.2022 wurde der Eingangsbereich eines Verwaltungsgebäudes von Rheinmetall in Bremen mit Buttersäure beworfen. Ein linksextremistisches Internetportal machte am 03.04.2022 auf eine Website aufmerksam, die Anschriften von Rüstungsunternehmen in Deutschland und mit ihnen kooperierende Unternehmen veröffentlicht. Die unbekannten Verfasser wollen nach eigenen Angaben darüber informieren, wo "auf wirkungsvolle Art und Weise in die Logistik der Kriegsproduktion" eingegriffen und "diese Branche effizient" getroffen werden könne. Auf der laufend aktualisierten Website sind Informationen und Anschriften zu einer Vielzahl von Unternehmen der Rüstungsindustrie aufgeführt. Eine weitere Website enthält eine "OpenStreetMap"68 , welche insbesondere auf die Unternehmenspartner von Rheinmetall verweist. Generell wird innerhalb der autonomen Szene Niedersachsens die Intervention Russlands in die Ukraine stark kritisiert, wobei diese Kritik nicht als Wohlgefallen für die NATO verstanden werden darf. Zugleich solidarisiert sich die autonome Szene mit der Bevölkerung der Ukraine. Nicht nur Russland, sondern auch den USA und damit verbunden der NATO wird von der autonomen Szene eine Mitschuld an der Eskalation in diesem Krieg attestiert. Neben überregionalen Reaktionen der postautonomen Gruppierung IL sowie den linksextremistisch beeinflussten Bündnissen EG und "Rheinmetall Entwaffnen" sind in Niedersachsen insbesondere aus den autonomen 68 Eine "OpenStreetMap" ist eine frei im Internet verfügbare Weltkarte. Sie enthält u. a. Markierungen für Standorte unterschiedlichster Art und Weise. 172 Linksextremismus Szenen Göttingen, Hannover und Lüneburg entsprechende Äußerungen bekannt. So rief die IL auf ihrer Website im März 2022 unter dem Motto "Den Krieg in der Ukraine stoppen - eine neue Friedensbewegung aufbauen" dazu auf, statt in die "westliche Doppelmoral und den nationalen Aufrüstungstaumel einzustimmen", sich konkret an den Aufbau einer neuen Antikriegsbewegung zu machen. Im linksextremistisch-dogmatischen Spektrum wird insbesondere die Rolle der USA und damit verbunden der NATO stark kritisiert. Die Interaktion dieser Akteure mit der Ukraine und eine damit einhergehende drohende Verschiebung der NATO-Außengrenze seien ihrer Meinung nach ursächlich für den Krieg und stellten eine Provokation Russlands dar. Dennoch wird auch die Intervention Russlands und seine Wandlung zu einem kapitalistischen Staat kritisiert. Im linksextremistisch-dogmatischen Spektrum wird der Konflikt insbesondere von der MLPD, sowie der ihr nahestehenden Jugendorganisation "Rebell", der DKP und der linksextremistischen "Sozialistischen Alternative" (SAV) thematisiert. Aufgrund der andauernden Beschränkungen durch die Corona-Pandemie fanden 2022 kaum nennenswerte Aktionen im Themenfeld "Antimilitarismus" statt. Weiterhin aktiv war das von der IL beeinflusste Bündnis "Rheinmetall entwaffnen". Hatte es bereits im Jahr 2017 Blockadeaktionen gegen das Rüstungsunternehmen Rheinmetall im niedersächsischen Unterlüß durchgeführt, so protestierte das Bündnis "Rheinmetall entwaffnen" gemeinsam mit anderen rüstungskritischen Kampagnen auch 2022 wieder im Rahmen des Ostermarschs vor dem Unternehmen in Unterlüß. Wie in den Jahren zuvor, so haben sich auch 2022 niedersächsische Linksextremisten an den Protestaktionen beteiligt. Kampf gegen Rassismus Linksextremisten überspitzen ihre Kritik an der bestehenden Asylund Flüchtlingspolitik und am Handeln von Ausländerbehörden, Polizei und Gerichten zum Vorwurf eines "systemimmanenten" Rassismus. Staatliche Repräsentanten und Akteure werden damit auf eine Stufe mit Rechtsextremisten gestellt und damit Forderungen nach der Abschaffung des politischen Systems legitimiert. 173 Linksextremismus Vor diesem Hintergrund wenden sich Teile des niedersächsischen linksextremistischen Spektrums gegen die deutsche Asylund Abschiebepraxis und solidarisieren sich mit den von Abschiebung bedrohten Flüchtlingen. Das Aktionsfeld "Antirassismus" hatte im Zuge des Flüchtlingszuzugs in den zurückliegenden Jahren auch innerhalb der autonomen Szene an Bedeutung gewonnen. Waren die Flüchtlingszahlen nach ihrem starken Anstieg 2015 in den Jahren 2016 und 2017 zunächst wieder rückläufig, so stiegen sie 2022 insbesondere vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wieder deutlich an. Dennoch spielte das Thema 2022 eher eine untergeordnete Rolle für die autonome Szene. Angeblich rassistisch motivierte Erschießungen von Flüchtlingen durch die Polizei wie in Dortmund behauptet, wo die Polizei angeblich am 08.08.2022 einen 16-jährigen Flüchtling vorsätzlich getötet haben soll, führten zu Solidarisierungsadressen auch von der "Redical [M]". Sie erklärte, sie sei "... fassungslos und entsetzt von dieser brutalen Gewalt der Polizei ..." und forderte, "... dieser Polizei gehören die Waffen abgenommen. " (Social Media-Account der "Redical [M]" vom 19.10.2022) Bewertung, Tendenzen, Ausblick Vor dem Hintergrund des offensiven Auftretens rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Parteien und Gruppierungen wird der "Antifaschismus" 2023 weiterhin im Mittelpunkt der Aktivitäten der autonomen Szene in Niedersachsen stehen. Aufgrund der hohen Priorität der Klimafrage und der daraus resultierenden Popularität der Klimaschutzbewegung wird der Klimaschutz weiterhin von großer Bedeutung vor allem für die postautonome Szene sein. Sie wird weiterhin versuchen, Einfluss auf einzelne Organisationen der Klimaschutzbewegung zu nehmen, um sie für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt, vor allem die steigenden Mieten und die Stadtteilumgestaltungen, aber auch die Übernahme des Immobilienunternehmens Deutsche Wohnen durch den Wohnungskonzern Vonovia, in dessen Zuge das größte private Immobilienunternehmen Europas entsteht, lassen den 174 Linksextremismus Schluss zu, dass das Thema "Antigentrifizierung" auch künftig einen verstärkten Anklang in der autonomen Szene finden wird. Auch in Niedersachsen muss deshalb mit weiteren Aktionen gerechnet werden. Die stark gestiegenen und weiterhin steigenden Energieund Lebensmittelpreise als Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine könnten zu weiteren Sozialprotesten führen. Es ist damit zu rechnen, dass auch Linksextremisten sich an entsprechenden Aktionen beteiligen und versuchen werden, sie zu radikalisieren und zu instrumentalisieren. Sollte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine weiter andauern, werden Rüstungsunternehmen, deren Zulieferer und auch Einrichtungen der Bundeswehr verstärkt in den Fokus von Linksextremisten geraten. Mit der Teilnahme von Linksextremisten an den Protesten gegen Waffenlieferungen an die Türkei und daran beteiligte Rüstungskonzerne ist, abhängig u. a. von der Entwicklung der Situation der Kurden in Nordsyrien und im Irak, zu rechnen. Im Fokus des linksextremistischen Agierens werden weiterhin insbesondere die AfD und ihre Aktivitäten in Niedersachsen stehen. Die kontinuierliche Präsenz der AfD in der parteipolitischen Landschaft der Bundesrepublik dürfte die Autonomen darin bestärken, langfristig entschlossen gegen den aus ihrer Perspektive "faschistoiden" demokratischen Rechtsstaat vorzugehen. Generell muss über das gesamte Jahr 2023 mit Übergriffen auf Informationsstände der AfD ebenso gerechnet werden, wie mit Versuchen, Veranstaltungen dieser Partei zu stören bzw. zu verhindern. Körperliche Übergriffe auf einzelne AfD-Funktionsträger können dabei ebenso wenig ausgeschlossen werden wie gezielte Anschläge auf deren Eigentum. Eine Verurteilung der Linksextremistin Lina E. und ihrer Mitangeklagten zu einer Haftstrafe im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren könnte nicht nur in Sachsen, sondern auch bundesweit und somit auch in Niedersachsen zu Protestaktionen und Resonanzstraftaten führen. Auch die Militärübung "DEFENDER-Europe 2023", in deren Verlauf die Verteidigung des Kosovo geübt werden soll, könnte auf das Interesse auch von niedersächsischen Linksextremisten stoßen, sofern Deutschland, wie in den Jahren zuvor, als logistische Drehscheibe für die Verlegung der an der Übung teilnehmenden NATO-Truppen dienen sollte. 175 Linksextremismus Die linksextremistische Szene verübt auch in Niedersachsen kontinuierlich Gewalttaten. Die Gewaltbereitschaft bewegt sich auf einem hohen Niveau, ohne dass dieses gegenwärtig erkennbar weiter ansteigt. Für die weitere Entwicklung des Linksextremismus in Niedersachsen und der Bundesrepublik dürfte auch die Situation innerhalb der postautonomen Szene relevant sein. Sollten sich die Auflösungserscheinungen vor allem in der IL fortsetzen, so könnte das postautonome Projekt zumindest an seine Grenzen stoßen oder sogar scheitern. Wie sich eine solche Entwicklung auf die Organisierung und Durchführung von Protestaktionen der postautonomen Bündnisse auswirkt, bleibt abzuwarten. Das Jahr 2023 scheint nach jetzigem Stand ein Jahr ohne überregionale Großereignisse in Deutschland bzw. in Niedersachsen zu werden. Es finden weder Wahlen in Niedersachsen noch Gipfeltreffen wie die G7oder die G20-Treffen in der Bundesrepublik oder im nahen europäischen Ausland statt. Insofern verfügt die linksextremistische Szene in Niedersachsen 2023 über kein öffentlichkeitswirksames Großereignis, mit dem sie planbar überregionale Aufmerksamkeit generieren könnte bzw. das sie für ihre systemüberwindenden Ansätze nutzen könnte. 3.5 Anarchisten Sitz/Verbreitung Mit Ausnahme der "Freien Arbeiterinnenund Arbeiter-Union" (FAU) existieren in Niedersachsen keine gefestigten anarchistischen Strukturen. Die FAU unterhält in Göttingen und Hannover einzelne Ortsgruppen. Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: 40 Sympathisanten Publikationen "Gai Dao" (Publikation der Föderation deutschsprachiger Anarchisten; monatlich) "Direkte Aktion" (Onlinepublikation der FAU; unregelmäßig) 176 Linksextremismus Finanzierung Finanzierung von Aktionen und Kampagnen durch Spenden sowie Solidaritätsveranstaltungen, bei der FAU auch Mitgliedsbeiträge Kurzportrait/Ziele Neben dem Kommunismus ist der Anarchismus der zweite grundlegende Ideologiestrang des Linksextremismus. Beide Strömungen setzen sich dafür ein, die bestehende Ordnung zu überwinden. "Anarchisten" streben die unmittelbare Errichtung einer herrschaftsfreien Gesellschaftsordnung an, in der der Mensch von allen politischen, ökonomischen und kulturellen Zwängen befreit leben kann. Im Anarchismus nimmt die individuelle Freiheit den höchsten Stellenwert ein. Vor diesem Hintergrund negieren "Anarchisten" sämtliche Hierarchieund Herrschaftsformen. Zudem sprechen sie nicht nur dem Staat und seinen Institutionen, sondern ebenso der (sozialen) Marktwirtschaft jegliche Existenzberechtigung ab. Als kleinste Einheit des anarchistischen Zusammenlebens gilt die sogenannte Kommune, im ökonomischen Bereich wird die Gründung föderal strukturierter Genossenschaften und Syndikate angestrebt. Der Anarchismus ist aber keineswegs als geschlossener Theorieblock zu verstehen. Vielmehr verbergen sich hinter dem Begriff verschiedene Strömungen mit z. T. sehr unterschiedlichen Konzepten. Unter den niedersächsischen "Anarchisten" ist der eher praxisorientierte Anarchosyndikalismus am stärksten vertreten.69 Er entstand im 19. Jahrhundert und fußt auf der Idee revolutionärer Basisgewerkschaften. So orientiert sich z. B. die FAU an anarchosyndikalistischen Konzepten. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Gemeinsames Ziel aller anarchistischen Gruppierungen ist es, den Staat und seine Institutionen abzuschaffen und durch eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" zu ersetzen. Hiermit richten sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und sind demnach verfassungsfeindlich (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG). 69 Unter "Anarchosyndikalismus" versteht man eine gewerkschaftliche Organisierung, die auf anarchistischen Prinzipien beruht. Der "Anarchosyndikalismus" knüpft an die kollektiven, kommunistischen und solidarischen Varianten des Anarchismus an und überträgt diese auf die gewerkschaftliche Arbeit. Er will die Lohnabhängigen nach den Prinzipien von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Solidarität organisieren. 177 Linksextremismus Ereignisse und Entwicklungen Zu einer der größten anarchosyndikalistischen Gruppierungen in Deutschland zählt die 1977 gegründete "Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union" (FAU). Sie ist eine bundesweite Föderation aus unabhängigen lokalen Einzelund Branchengewerkschaften, sogenannten Syndikaten, und versteht sich als eine nach basisdemokratischen Prinzipien aufgebaute Gewerkschaft. Das "Allgemeine Syndikat der FAU Hannover" und seit kurzem das "Allgemeine Syndikat der FAU Göttingen" sind die einzigen gefestigten anarchistischen Strukturen in Niedersachsen. Sie sind Teil der Gewerkschaftsföderation der FAU. In den Grundsätzen des Allgemeinen Syndikats (AS) heißt es unter der Überschrift "Die neue Gesellschaft in der Schale der alten aufbauen": "Eine Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft muss an deren Basis ansetzen und setzt Alternativen zu zentralistischen Staatsstrukturen voraus." (Internetseite der FAU, 08.11.2022) Was das AS damit meint, verdeutlicht die FAU in ihrem Selbstverständnis: "In diesem Sinne verfolgt das Allgemeine Syndikat der FAU Hannover eine sozialrevolutionäre Strategie. Wir zielen also auf eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse 'von unten' ab." (Internetseite der FAU, 18.11.2022) Die "Grundprinzipien des Syndikalismus" konkretisiert die FAU u. a. in einem Grundlagentext, der ebenfalls auf der Internetseite der Organisation aufrufbar ist. In den beiden Kapiteln "Grundsätze und Ziele" sowie "Kritik der bestehenden Verhältnisse" hält die FAU für ihre Arbeit fest: "Wir streben die Überwindung des Kapitalismus an. ... Wir beziehen uns [dabei] auf die Ideen des Anarchosyndikalismus. ... Kapitalismus ist kein Naturgesetz, sondern lediglich ein von Menschen geschaffenes Verhältnis, das durch kollektives Handeln der Arbeitenden aufgehoben werden kann." (Internetseite der FAU, 14.11.2022) 178 Linksextremismus Ihr erklärtes Ziel ist es, "... eine Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung, die auf kollektiver Selbstverwaltung basiert ..." (Internetseite der FAU, 14.10.2022) zu errichten. In der Praxis bedeutet dieses, dass die FAU "eine libertäre, klassenlose Gesellschaft" anstrebt, wie sie ebenfalls auf ihrer Internetseite ausführt. Der von der FAU angestrebte Systemwechsel soll dabei von basisdemokratisch strukturierten Lokalund Betriebsgruppen organisiert werden, die unter Rückgriff auf direkte und z. T. auch militante Aktionsformen, wie z. B. Fabrikbesetzungen, Streiks und Sabotageaktionen, vor Ort agieren sollen. Im Rahmen ihrer Gewerkschaftsarbeit setzt sich die FAU für bessere Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein. Sie unterstützt sie in prekären Situationen und stellt juristische Hilfe bereit. Mit ihrem Engagement für Gewerkschaftsbelange und ihren Solidarisierungsbekundungen mit streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern versucht die FAU aber immer auch anschlussfähig an demokratische Organisationen zu werden. Zugleich möchte sie auf diesem Wege neue Mitglieder für ihre darüber hinausgehenden systemablehnenden Ziele gewinnen. Den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine nutzte sie, um vor dem Hintergrund gestiegener Energieund Lebensmittelpreise auf sich als Interessensvertretung der Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer aufmerksam zu machen. So beteiligte sich die FAU Göttingen an einer von der linksextremistischen "Basisdemokratischen Linken" (BL)) in Göttingen organisierten Demonstration zum Thema Preissteigerung unter dem Motto "Die Preise müssen runter! Wir zahlen nicht für eure Krise!" am 15.08.2022 in Göttingen. Zuvor hatte sie bereits einen gemeinsamen Aufruf mit der linksextremistischen "Antifaschistischen Linken International" (A.L.I.) für die Demonstration zum 1. Mai in Göttingen verfasst. Zudem veranstaltete sie vom 30.09. bis zum 02.10.2022 die 2. bundesweite Sommerschule der FAU mit internationalen Gästen im Naturkundehaus in Hannover. 179 Linksextremismus Neben einer Ortsgruppe in Hannover gibt es seit September 2017 auch eine FAU-Ortsgruppe in Göttingen. Seit 2017 ist die FAU auch international wieder stärker vernetzt. Nachdem sie nach langjähriger Mitgliedschaft im Dezember 2016 aus der "Internationalen ArbeiterInnen Assoziation" (IAA) ausgeschlossen wurde, beteiligte sich die Gewerkschaft an mehreren Konferenzen zur Gründung eines neuen internationalen Zusammenschlusses anarchosyndikalistischer Organisationen. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Im Vergleich zu den autonomen bzw. postautonomen Gruppierungen sind anarchistische Organisationen generell von nachrangiger Bedeutung. Allein aufgrund ihrer theoretischen Zersplitterung dürfte sich daran auch künftig kaum etwas ändern. Der Anarchosyndikalismus wird auch im Jahr 2023 der am stärksten wahrnehmbare Teil des anarchistischen Spektrums in Deutschland und Niedersachsen bleiben. 180 Linksextremismus 181 04 Islamismus Islamismus 4.1 Mitglieder-Potenzial Islamismus-Potenzial Bundesrepublik Deutschland70 2021 Salafistische Bestrebungen 11.900 Muslimbruderschaft (MB) 1.450 HAMAS 450 Tablighi Jama'at (TJ) 550 Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 700 Hizb Allah 1.250 Weitere islamistisch-extremistische Gruppen 11.990 Summe 28.290 Islamismus-Potenzial Niedersachsen 2021 2022 Salafistische Bestrebungen 900 800 Muslimbruderschaft (MB)71 185 195 Tablighi Jama'at (TJ) 50 80 Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 85 85 Hizb Allah 220 250 Islamisches Zentrum Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer 80 105 Extremismus Sonstige islamistisch-extremistische Gruppen 40 50 Summe 1.560 1.565 70 Die Zahlen des Berichtsjahres des Mitglieder-Potenzials für die Bundesrepublik Deutschland lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Daher werden nur die Zahlen des Vorjahres genannt. 71 Das Mitgliederpotenzial der Muslimbruderschaft umfasst auch deren regionale Ableger HAMAS und En-Nahda. 184 Islamismus 4.2 Islamismus Der Islamismus ist eine politische Ideologie, deren Anhänger sich auf religiöse Normen des Islams berufen und diese politisch ausdeuten. Auch wenn der Begriff des Islamismus auf den Islam hindeutet, ist diese politische Ideologie deutlich von der durch das Grundgesetz geschützten Religion des Islams zu trennen. Islamisten sehen in der Religion des Islams nicht nur eine Religion, sondern auch ein rechtliches Rahmenprogramm für die Gestaltung aller Lebensbereiche: Von der Staatsorganisation über die Beziehungen zwischen den Menschen bis ins Privatleben des Einzelnen. Islamismus beginnt dort, wo religiöse islamische Normen als für alle verbindliche Handlungsanweisungen gedeutet und - bisweilen unter Zuhilfenahme von Gewalt - durchgesetzt werden sollen. Entstehung des Islamismus Mit der europäischen Kolonialisierung ab dem 19. Jahrhundert kam zunehmend eine innerislamische Debatte auf, die sich mit den Ursachen der Abhängigkeit vom Westen und der damit verbundenen empfundenen Schwäche der Muslime beschäftigte. Zahlreiche islamische Gelehrte sahen den Grund darin, dass sich die Muslime vom wahren Islam abgekehrt hätten. Während einige islamische Reformer eine Modernisierung muslimischer Gesellschaften nach dem Vorbild westlicher Staaten forderten, nahm die islamistische Gegenbewegung eine anti-koloniale und anti-westliche Haltung ein. Sie war davon überzeugt, dass nur eine Rückbesinnung auf den "reinen ursprünglichen Islam" die Muslime zur Unabhängigkeit und zu alter Macht führen könne. Der Islamismus entstand zwar als Reaktion auf die Konfrontation mit dem Westen und der Moderne, entwickelte sich jedoch insbesondere ab Mitte des 20. Jahrhunderts als Protestbewegung gegen die eigenen als tyrannisch wahrgenommenen Regierungen, die nach dem Ende der Kolonialzeit von den säkularen Eliten gestellt wurden. Sie wurden für die kulturelle Entfremdung, sozioökonomischen Probleme und die politische Ohnmacht der islamischen Welt verantwortlich gemacht. Es entstanden unterschiedliche islamistische Organisationen und Bewegungen, die allesamt Gesellschaften anstreben, die durch die islamische Rechtsordnung, die Scharia, 185 Islamismus organisiert sind. Der Interpretationsspielraum dafür, was die Scharia genau umfasst, ist groß. Islamisten verstehen die Scharia nicht allein als eine Rechtsund Werteordnung, sondern als ein von Gott verordnetes Ordnungsprinzip, das alle Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Handelns reglementiert. Sie richten sich in ihrer politisierten Interpretation der Scharia oft auch gegen die Mehrheit der Muslime, die in diesen islamischen Regeln ausschließlich einen Leitfaden für ihre individuelle religiöse Praxis sehen. Islamisten beanspruchen für sich oftmals, wie etwa im Falle der Scharia oder auch des Jihads72, die inhaltliche Deutungshoheit über religiöse Begriffe und Konzepte, die allen Muslimen zu eigen sind, und politisieren diese. In seinem Absolutheitsanspruch widerspricht der Islamismus in erheblichen Teilen der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere werden durch die islamistische Ideologie die demokratischen Grundsätze verletzt. So lehnen Islamisten die Trennung von Staat und Religion und die Volkssouveränität als unislamisch ab. Ihrer Ansicht nach müsse alle Macht entsprechend der Scharia von Gott allein ausgehen. Dies versuchen sie mit der frühislamischen Herrschaftsform zu begründen, deren weltliches und religiöses Oberhaupt der Kalif darstellte, der auf Basis der Scharia herrschte. Darüber hinaus verletzt die islamistische Ideologie die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit, die religiöse und sexuelle Selbstbestimmung sowie die Gleichstellung der Geschlechter. So werden z. B. Frauen von Islamisten nach deren Schariaverständnis im Hinblick auf das Erbund Familienrecht benachteiligt. Die Herabwürdigung einer Frau wird beispielsweise dadurch deutlich, dass die Zeugenaussage eines Mannes in einigen Bereichen so schwer wiegt wie die Aussagen von zwei Frauen. Juden und Christen, die die Herrschaft des islamischen Staates akzeptieren, dürfen ihre Religion ausüben, müssen aber Sondersteuern zahlen. Ebenso drängen Islamisten auf die unbedingte Rechtmäßigkeit der sogenannten Hadd-Strafen, die für 72 Die wörtliche Übersetzung des arabischen Begriffs "Jihad" ist "Anstrengung" oder "Bemühung". Es gibt zwei Formen des Jihad: Die geistig-spirituelle Bemühung des Gläubigen um das richtige religiöse und moralische Verhalten gegenüber Gott und den Mitmenschen ("großer Jihad") sowie den kämpferischen Einsatz zur Verteidigung oder Ausdehnung des islamischen Herrschaftsgebiets ("kleiner Jihad"). Von militanten Gruppen wird der Jihad häufig als religiöse Legitimation für Terroranschläge verwendet. 186 Islamismus Vergehen wie Diebstahl oder "Unzucht" Körperstrafen vorsehen, die von der Amputation der rechten Hand bis hin zur Todesstrafe reichen. Islamistische Ideologien, die den Islam nicht allein als Religion, sondern als eine Herrschaftsideologie betrachten, verletzen wesentliche Merkmale der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und sind somit mit der Demokratie unvereinbar. Islamistische Strömungen Obwohl alle islamistischen Organisationen die oben genannte Ideologie vertreten, unterscheiden sie sich wesentlich in den Mitteln, die sie anwenden, um ihre islamistischen Ziele zu erreichen. Demnach können sie entsprechend ihrer Gewaltbereitschaft in zwei Strömungen unterteilt werden, wobei ihre Übergänge fließend sind: f Gruppierungen, die auf Gewalt zurückgreifen: Diese Gruppierungen (auch: Jihadisten oder gewaltorientierte Islamisten) sind der Überzeugung, dass sich ihre Ziele nur mit Gewalt erreichen lassen. Sie erachten den sogenannten Jihad als individuelle Pflicht eines jeden Muslims und fordern von allen "wahren Gläubigen" den Kampf gegen die vermeintlichen Feinde des Islams. Selbstmordattentäter oder im Kampf getötete Jihadisten werden als Märtyrer glorifiziert und als Helden betrachtet, denen das Paradies versprochen ist. Einerseits zählen internationale terroristische Organisationen zu dieser Gruppierung, die vorwiegend zum Mittel der Gewalt greifen und staatliche Strukturen offen bekämpfen, wie die "al-Qaida" oder der sogenannte Islamische Staat (IS).73 Andererseits sind es regionale terroristische Organisationen, die einen starken Bezug zu ihren Herkunftsländern aufweisen und in der Regel gegen dortige Regierungen und politische Systeme agieren. Zur Umsetzung ihrer politischen Ziele betrachten sie Gewalt als ein legitimes Mittel unter vielen, die sie jedoch nur begrenzt in akuten Konflikten einsetzen. Oftmals agieren gewaltorientierte islamistische Organisationen in den Herkunftsländern auch als Parteien und sind entsprechend stark in die Politik eingebunden. Darüber hinaus genießen sie aufgrund ihrer karitativen Projekte großen Zuspruch 73 Siehe Kapitel 4.5. 187 Islamismus in der Gesellschaft. Die HAMAS74, die "Hizb Allah"75 und die "Taliban"76 sind Beispiele dafür. f Gruppierungen, die nicht primär auf Gewalt zurückgreifen: Sogenannte Legalisten lehnen Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ab. Entsprechend ihres ideologischen Auftrags versuchen sie vielmehr, die Gesellschaft durch Einflussnahme mithilfe legaler Methoden umzugestalten und letztlich einen Umsturz der herrschenden Staatsform herbeizuführen. Legalisten kapseln sich nicht von der Mehrheitsgesellschaft ab, sondern versuchen, aus ihr heraus in sie hineinzuwirken. Es wird versucht, zunächst Freiräume für die Verbreitung der eigenen Ideologie zu schaffen. Dabei greifen sie Themen auf, die insbesondere für hier lebende Muslime relevant sind und oft eine (vermeintliche) Islamfeindlichkeit aufzeigen, wonach Muslime Opfer von Diskriminierung sind. Vor diesem Hintergrund stilisieren sich legalistische Islamisten als Retter der Muslime und erreichen durch diese Strategie auch Muslime jenseits des extremistischen Spektrums. Gruppierungen aus dem Bereich des legalistischen Islamismus können in ihrer ideologischen Ausrichtung, ihrem kulturellen Hintergrund und ihren Aktivitäten sehr unterschiedlich sein. Sie reichen von der "Muslimbruderschaft"77 bis hin zu Akteuren aus dem Bereich des politischen Salafismus. Die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen und Strömungen verschwimmen teilweise zunehmend. Dies ist insbesondere unter Salafisten zu beobachten, die Bereiche besetzen, die vermeintlich keinen Bezug zum Salafismus haben. Beispiele dafür sind Hilfsorganisationen, Reisebüros, Online-Islamkurse oder die Gründung eigener Unternehmen, wie im Bereich der halal78 -konformen Produkte. Gerade im Internet erreichen Salafisten eine enorme Reichweite, indem sie öffentliche Debatten, wie Diskussionen über das Kopftuch oder die Diskriminierung von Muslimen, aufgreifen und für sich zu nutzen 74 Siehe Kapitel 4.7. 75 Siehe Kapitel 4.9. 76 Siehe Kapitel 4.5 77 Siehe Kapitel 4.7. 78 Der arabische Begriff "halal" bedeutet übersetzt "nach islamischem Glauben erlaubt". 188 Islamismus versuchen. Aber auch andere Islamisten sind vor allem in den Sozialen Medien sehr gut aufgestellt und verfügen über eine hohe Zahl an Followern. Als Beispiele sind die islamistischen Kanäle "Generation Islam" oder "Realität Islam" zu nennen, die jeweils mehrere zehntausend Abonnenten auf Social-Media-Plattformen wie TikTok, Instagram, Facebook oder YouTube zählen und bereits großen Einfluss auf gesellschaftliche Themen, die den Islam und Muslime betreffen, ausüben. Diese Entwicklung kann zu weiteren Verschachtelungen und Vernetzungen zwischen unterschiedlichen islamistischen Gruppierungen führen, die allesamt das einigende Ziel einer islamistischen Durchdringung der Gesellschaft anvisieren. Entsprechend der Ausformungen des Islamismus stellt sich auch die Strömung des Salafismus dar. Die meisten Anhängerinnen und Anhänger dieser islamistischen Bestrebung, sogenannte politische Salafisten, lehnen zumindest verbal Gewalt ab. Die sogenannten jihadistischen Salafisten hingegen, im Vergleich zu den politischen Salafisten der kleinere Teil, propagieren als primäres Mittel Gewalt, um ihre politischen Ziele zu erreichen.79 Antisemitismus im Islamismus Antisemitismus ist ein wahrnehmbarer Bestandteil der islamistischen Ideologie und somit aller islamistischer Gruppierungen. Islamisten greifen dabei in ihrer Argumentation auf unterschiedliche Quellen zurück und vermischen diese oft. Antisemitische Narrative knüpfen zum einen an klassische Quellen des Islams (Koran, Hadithe 80) an und interpretieren sie dahingehend, dass sich Gott von den Juden abgewandt habe, da sie z. B. "Mörder von Propheten" seien und deren Bekämpfung somit einen Befehl Gottes darstelle. Andererseits gibt es aber auch Elemente des westlichen Antisemitismus, wie sogenannte Ritualmordlegenden 81, die "Protokolle der Weisen von 79 Siehe Kapitel 4.3. 80 Der arabische Begriff "Hadithe" bedeutet übersetzt "Überlieferungen des Propheten Muhammad". 81 Ritualmordlegenden stammen aus dem christlichen Kontext des Mittelalters. Dabei wurde den Juden vorgeworfen, dass sie christliche Kinder töten würden, um mit deren Blut ihre religiösen Kulte zu feiern. 189 Islamismus Zion"82 oder die Leugnung des Holocausts, die in die Agitationen im islamistischen Kontext übernommen wurden. Dazu kommen häufig antizionistische Aspekte, die häufig unreflektiert aus dem Diskurs innerhalb der arabischen Welt übernommen werden. Dabei werden über eine vorrangig kritische Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern antijüdische Stereotype und israelfeindliche Dämonisierungen verbreitet. Mehreren Studien zufolge sind entsprechende antisemitische Anschauungen bei jugendlichen Muslimen auch über den islamistischen Kontext hinaus weit verbreitet. Zudem hat sich durch den Zuzug von Flüchtlingen und Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten die Problematik verschärft. Das in den dortigen Staaten gepflegte Bild vom "Feindstaat Israel" ist, häufig in Verbindung mit judenfeindlichen Stereotypen, prägend für die Einstellung vieler Einwanderer aus der Region. In der islamistischen Szene in Niedersachsen werden regelmäßig Äußerungen gegen Juden und den Staat Israel festgestellt, teilweise wird dabei zur Anwendung von Gewalt gegen Juden in Israel aufgerufen, bzw. wird diese legitimiert. Die antisemitischen Äußerungen und Aufrufe stehen häufig im Zusammenhang mit aktuellen politischen Entwicklungen im Nahen Osten. Dies äußert sich über zahlreiche Beiträge in den Sozialen Medien, in denen antisemitische Bildcollagen, Videos und Textbeiträge veröffentlich und geteilt werden. Teilweise manifestiert sich die antisemitische Agitation aber auch im Rahmen von Demonstrationen, bei denen immer wieder Parolen mit antisemitischem Hintergrund skandiert und entsprechende Plakate gezeigt werden. Insbesondere für den Bereich des schiitischen Islamismus stellt der durch den Iran propagierte Al-Quds 83 -Tag einen festen jährlichen Termin dar. Dieser wird mit einer zentralen Demonstration in Berlin und weiteren regionalen Veranstaltungen bundesweit begangen. Im Jahr 2022 wurden insbesondere in Berlin antisemitische Vorfälle festgestellt. In Niedersachsen fanden parallele Aktionen in Delmenhorst und Hannover statt, bei denen u. a. antizionistische Plakate gezeigt wurden. In 82 Bei den "Protokollen der Weisen von Zion" handelt es sich um eine der weitverbreitetsten antisemitischen Schriften. Das Werk gibt vor, den Plan einer jüdischen Weltverschwörung zu enthüllen und dient damit Antisemiten und Verschwörungstheoretikern aus allen Richtungen als wichtige ideologische Grundlage. 83 Der arabische Begriff "Al-Quds" bedeutet übersetzt "Jerusalem". 190 Islamismus Hannover kam es zudem zu körperlichen Angriffen gegen proisraelische Gegendemonstranten. Jugend und Familie im Islamismus Islamistische Ideologien haben das Ziel, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern und eine islamistische Ordnung für alle Lebensbereiche, wie Politik, Gesellschaft und Kultur zu etablieren. Um dieses Ziel zu erreichen, spielt die Erziehung von heranwachsenden Generationen eine überaus wichtige Rolle. Junge Menschen sollen dahingehend erzogen werden, die islamistische Ideologie in ihrem alltäglichen Leben umzusetzen und in der gesamten Gesellschaft weiterzuverbreiten. Für islamistische Eltern hat somit die Familie eine überaus große Bedeutung. Die Erziehung der Kinder nach islamistischen Werten wird dabei als ideologische Pflicht angesehen. Islamistische Erziehungsmethoden bergen eine große Gefahr für die hiesige Gesellschaft, da sich diese Kinder, die bereits von Kindesbeinen an von ihren Eltern entsprechend ideologisiert wurden, nicht mit den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung identifizieren und ganz besonders gefährdet sind, sich weiter jihadistisch zu radikalisieren. Die ideologische Erziehung nach islamistischer Lehre erfolgt jedoch nicht allein in den Elternhäusern. Einen ebenso entscheidenden Beitrag leisten islamistische Moscheen, die ihren Einfluss vor allem in zwei Richtungen ausüben. Zum einen versuchen sie, die Eltern mit praktischen Ratschlägen und Angeboten zu einer islamistischen Erziehung zu befähigen. Dieser Einfluss wird über Predigten, Vorträge und Literatur in Form von Ratgebern mit praktischen Ratschlägen für die Kindererziehung an die Eltern getragen. Zum anderen bieten islamistische Moscheen gezielte Angebote für Kinder und Jugendliche an. Neben Unterrichtsangeboten in Moscheen werden Freizeitaktivitäten, wie mehrtägige Ausflüge in Freizeitparks oder Städte, Grillabende und Kinderfeste, angeboten. Auch das gemeinsame Ausüben von Kampfsportarten und Besuche in Paintball-Schießanlagen gehören zu den beliebten Aktivitäten junger Islamisten. 191 Islamismus "Unterschätzt eure Kinder nicht! Obwohl sie noch klein sind, sind sie wie ein Schwamm ... Tust du einen weißen Schwamm in rote Farbe, zieht er rote Farbe. Tust du einen Schwamm in schwarze Farbe, zieht er schwarze Farbe. Je nachdem, wo du einen Schwamm hinschmeißt, erhältst du deine Farbe. Sie sind unsere Kinder." (Teil einer Predigt des salafistischen Predigers Abu Muslih, YouTube, 12.08.2016) Bei der Indoktrinierung junger Menschen spielen darüber hinaus Soziale Medien und Messenger-Dienste eine wichtige Rolle. Dabei werden islamistische Inhalte bewusst allgemein gehalten und sprechen so eine breite Zielgruppe an. Gerade jungen Menschen fällt es bei dieser niedrigschwelligen Form islamistischer Propaganda schwer, diese als extremistisch zu identifizieren. Tatsächlich jedoch zielen diese vermeintlich unverfänglichen Inhalte darauf ab, gerade junge Menschen an die islamistische Ideologie heranzuführen. Ob es die Erziehung in der eigenen Familie, der Besuch islamistischer Moscheevereine, die Kontakte im islamistischen Freundeskreis oder der Konsum islamistischer Internetinhalte ist, all diese Angebote zielen auf eine Indoktrinierung und Radikalisierung insbesondere von Kindern und Jugendlichen ab, mit dem Ziel, dass auch sie die hiesige Gesellschaft und die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnen. Internetnutzung durch Islamisten Grundsätzlich nutzen islamistisch eingestellte Personen ähnliche Plattformen im Internet, wie nichtextremistische Menschen. Dies umfasst vor allem Soziale Medien wie Facebook, Instagram und TikTok, Messengerdienste wie Signal, Telegram und WhatsApp aber auch soziale Plattformen wie Discord, Reddit und Twitch. Bei den unter Dreißigjährigen sind spätestens seit Beginn der Pandemie, sowohl für deutsch-, als auch für arabischsprachige Personen Instagram und TikTok die vorherrschenden Online-Plattformen. Unter den über Dreißigjährigen bleibt Facebook das am meisten genutzte Netzwerk. Snapchat und Tellonym werden überwiegend von Personen bis Anfang 20 genutzt. Wenn es um die Verbreitung explizit extremistischer und auch jihadistischer Propaganda geht, dann ist Telegram die zentrale Plattform und wird von diesen Personenkreisen auch zur Kommunikation genutzt. Klassische Webseiten und Foren verlieren hingegen an Bedeutung und sind nur noch in Ausnahmefällen von größerer Relevanz. 192 Islamismus Insgesamt ist eine Zunahme islamistischer Aktivitäten im Internet festzustellen, was hauptsächlich auf die fortschreitende Digitalisierung, die Verjüngung der Szene sowie die Auswirkungen der Coronapandemie zurückzuführen ist. Der generelle Trend zur Visualisierung von Kommunikation gilt auch für den Islamismus, wo Beiträge bevorzugt in Form von Memes und Kurzvideos bzw. über die Story-Funktion verbreitet werden. Eine ebenfalls verbreitete Praxis ist das plattformübergreifende Teilen von Informationen. Die inhaltliche Dimension islamistischer Kommunikation im Internet lässt sich im Wesentlichen in drei narrative Ebenen unterteilen: f Religiöse Indoktrination Hier werden Anweisungen zur Glaubensausübung und Auslegung der religiösen Primärquellen (Koran und Sunna) erteilt, um ein islamkonformes Leben zu führen. Dabei wird der Islam als dem westlichen bzw. demokratischen Wertekonsens übergeordnete Werteordnung dargestellt, nach der sich Gläubige in erster Linie zu richten hätten. Es werden Themen aufgegriffen wie die Verhüllung der Frau, der Vorrang von religiösen Tagespflichten, individuelles Verhalten in Alltagssituationen und Fragen zu erlaubten und verbotenen Handlungen. Feindbilder im religiösen Sinne werden als "Ungläubige" (arab. Kuffar) bzw. Polytheisten (arab. Muschrikun) gebrandmarkt, wobei in fortgeschritten radikalisierten Kreisen die Konstruktion des inneren Feindes in Form von Muslimen, welche dem Glauben nur äußerlich nachgehen und somit "Heuchler" (arab. Munafiqun) seien, vermehrt auftritt. Auf Telegram existiert zudem eine Vielzahl an Kanälen, die z. B. Inhalte bestimmter Prediger, für Frauengruppen sowie Arabischunterricht oder Literatur in Verbindung mit islamistischer Ideologie zielgruppengerecht aufbereitet anbieten. f Gesellschaftsund identitätsbezogene Narrative Diese Narrative betreffen das Leben muslimischer Menschen als soziale Gruppe in Deutschland bzw. die Welt aus der Sicht von Islamisten. In diesen stark verzerrten Diskursen werden Themen wie antimuslimischer Rassismus und die Wahrnehmung des Islams in Deutschland dazu genutzt, um die jeweiligen Adressaten zu radikalisieren und letztlich einen Bruch mit der Gesellschaft herbeizuführen. Eine systematische Unterdrückung von Muslimen, die in Teilen mit der Situation jüdischer Menschen im 193 Islamismus Nationalsozialismus gleichgesetzt wird, ist häufig ideologischer Kern der Äußerungen. Dabei wird teilweise auch in antisemitische bzw. antizionistische, globale Verschwörungstheorien abgeglitten. Ebenfalls regelmäßig thematisiert werden gerichtliche Prozesse in Deutschland gegen mutmaßliche islamistische Straftäter und die Situation von hierzulande oder in Syrien gefangenen Personen, die in glorifizierter Weise dargestellt werden. Staatsformen aus der Geschichte der islamischen Welt, wie z. B. das Kalifat oder das Emirat, werden des Weiteren als idealisierte Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens beschrieben, und es wird ihnen eine höhere (religiöse) Legitimität beigemessen als demokratischen Staaten. f Extremistische und gewaltorientierte Inhalte Offen extremistischer und gewaltorientierter Content stellt die quantitativ kleinste Gruppe der bekannten Äußerungen von Islamisten im Internet dar. Es dominieren hier vor allem besonders eng gefasste Glaubensauslegungen, takfiristische 84 Positionen und absolut gehaltene Freund-Freund-Schemata, welche durch stark aus dem Kontext gerissene Bezugsstellen begründet werden. Verbreitet werden diese Inhalte in der Regel von dem jihadistischen Salafismus nahestehenden Personen oder sich im Ausland aufhaltenden Jihadisten, die ein hohes Maß an konspirativem Verhalten zeigen. Häufig werden dabei jihadistische Anschläge bzw. die jeweiligen Täter verherrlicht, Videos von Hinrichtungen verbreitet oder zu Gewalttaten gegen vermeintlich feindliche Personen aufgerufen bzw. werden diese zumindest gebilligt. So wurden nach dem Anschlag auf einen LGBTIQ 85 -Club in Oslo am 25.06.2022 z. B. verstärkt ablehnende Äußerungen gegenüber Personen aus diesen Gruppen offen auf Social Media registriert. In diese Kategorie fällt auch die Propaganda internationaler, jihadistischer Organisationen wie des sogenannten Islamischen Staates (IS) oder al-Qaida, deren Reichweiten in den vergangenen Jahren zwar gesunken sind, 84 Unter dem arabischen Begriff "Takfir" wird die Exkommunizierung von Muslimen aus der Religion verstanden. Diese Strafe wird nach herrschender Meinung in der islamischen Rechtswissenschaft nur von einem Rechtsgelehrten bei besonders schweren Vergehen verhängt und zieht i.d.R. auch die Todesstrafe nach sich. Terroristische Vereinigungen wie der IS werden als "takfiristisch" bezeichnet, da diese Praxis dort teilweise inflationär und durch nicht gelehrte Privatpersonen zur standrechtlichen Aburteilung von Personen genutzt wird. 85 LGBTIQ steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Inter, Queer. 194 Islamismus die jedoch nach wie vor ein gefahrenrelevantes Aktivierungspotenzial für radikalisierte Einzeltäter bieten. Vereinzelt werden derartige Inhalte auf Mainstream-Plattformen wie Instagram festgestellt, der größere Teil dieser Diskurse spielt sich jedoch auf Telegram oder anderen Plattformen bzw. im Darknet ab. Im Zusammenwirken religiöser und gesellschaftlicher Narrative tritt der Extremismus deutlicher zutage als bei isolierten Aussagen, da diese häufig noch durch die Religionsbzw. Meinungsfreiheit gedeckt sind. In aller Regel geschieht ein Framing religiöser bzw. gesellschaftlicher Wahrnehmungen, die im Sinne einer strengen Religionsauslegung interpretiert werden. Dies wird insbesondere an den Schemata der Glorifizierung inhaftierter Islamisten als "Märtyrer" oder der Wahrnehmung von LGBTIQ-Personen als "Ungläubige" und Feinde der islamischen Gemeinschaft (arab. "Umma") deutlich. Transportiert werden diese Narrative vor allem durch eine Zunahme von populistischen Argumentationsstilen. Dabei werden gesellschaftliche Themen religiös-politisch aufgeladen und skandalisiert, beispielsweise die öffentliche Wahrnehmung von LGBTIQ-Personen, Religionspolitik oder der Israel-Palästina-Konflikt. Das Ziel dieser populistischen Artikulation ist eine religiöse Aufladung des Diskurses in jeder Hinsicht, die Absonderung muslimischer Menschen von der Mehrheitsgesellschaft und die Delegitimierung der demokratischen Werteordnung. Ausblick Nach wie vor macht die salafistische Szene einen Großteil der niedersächsischen Islamisten aus. Auch wenn dieses Jahr erstmals ein Rückgang der Anhängerzahlen zu verzeichnen ist, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Szene nach einigen Jahren mit geringerer Außenwirkung zuletzt wieder deutlich aktiver und wahrnehmbarer geworden ist. Dabei sind Parallelen zur erstmaligen Formierung einer spezifisch deutschen salafistischen Szene vor etwa 15 Jahren festzustellen. Wie damals Pierre Vogel oder Ibrahim Abou Nagie haben sich z. B. mit Abul Baraa oder Ibrahim El-Azzazi wieder populäre deutschsprachige Prediger etabliert, welche die salafistische Ideologie in einfach zu verstehender und jugendgerechter Sprache verbreiten. Analog zum damaligen Verein "Einladung zum Paradies" nimmt aktuell die "Deutschsprachige Muslimische 195 Islamismus Gemeinschaft e. V." in Braunschweig (DMG Braunschweig) eine zentrale Rolle in der überregionalen Vernetzung salafistischer Aktivitäten ein, indem sie entsprechende Prediger einlädt und deren Auftritte über ihre vielfältigen Online-Kanäle einer großen Zahl an Zuschauenden zugänglich macht. Stärker sichtbar wird auch wieder die dem Salafismus immanente Aktionsorientierung, die ihren Höhepunkt in den 2010er Jahren mit unzähligen Koranverteilständen in nahezu allen deutschen Großstädten hatte. So gab es zuletzt wieder vermehrt Literaturverteilaktionen und andere salafistische Missionskampagnen in vielen deutschen Städten. Für das Jahr 2023 ist mit weiter zunehmenden Aktivitäten der salafistischen Szene zu rechnen, wozu Dawa-Aktionen in Innenstädten, aber auch eine intensive und professionelle Nutzung der aktuell populären Plattformen in den Sozialen Medien gehören. Denn im Unterschied zu den Entwicklungen vor etwa 15 Jahren haben sich die Sozialen Medien heute im Alltag etabliert, was den salafistischen Onlineangeboten eine sehr hohe Reichweite ermöglicht. Vor allem kommen dadurch bereits sehr junge Menschen in Kontakt mit salafistischen Inhalten, wodurch die Gefahr besteht, dass diese sich möglicherweise weiter radikalisieren. Dem Bereich des internationalen islamistischen Terrorismus fehlt momentan ein mobilisierender Bezugspunkt, wie es der Bürgerkrieg in Syrien und im Irak war. Stattdessen gibt es aktuell weltweit viele kleinere Jihadschauplätze, die bislang keinen ausgeprägten Bezug nach Deutschland entwickelt haben. Nichtsdestotrotz sind die Propagandaabteilungen der islamistischen Terrororganisationen nach wie vor sehr aktiv und sprechen dabei auch gezielt Menschen in den westlichen Ländern an. Die professionell aufbereiteten Aufrufe und konkreten Anleitungen zur Durchführung eines Terroranschlags machen es quasi jeder einzelnen Person mit entsprechenden jihadistischen Vorstellungen möglich, eine Gewalttat zu verüben, ohne in ein entsprechendes Netzwerk eingebunden zu sein. Deshalb besteht nach wie vor die Gefahr islamistischer Gewalttaten auch in Deutschland. Zuletzt wurden Anschläge häufig von Einzelpersonen durchgeführt, bei denen neben einer islamistischen Radikalisierung auch psychische Auffälligkeiten festgestellt wurden. Dieser Tätertyp macht es für die Sicherheitsbehörden besonders schwierig, eine Radikalisierung bereits im Vorfeld zu erkennen. 196 Islamismus Nachdem in den letzten Jahren vor allem die salafistischen Aktivitäten stark im Blickfeld standen, ist im gesamten islamistischen Spektrum eine Annäherung an den legalistischen Islamismus festzustellen. Dies macht sich zum einen inhaltlich bemerkbar, indem gerade die Online-Veröffentlichungen in allen islamistischen Bereichen stark an den Mainstream-Diskurs andocken und zunehmend identitäre Narrative mit der Zielsetzung einer Abgrenzung von der deutschen Mehrheitsgesellschaft propagiert werden. Andererseits verfolgen auch salafistische Akteure inzwischen teilweise eine Strategie der gesellschaftlichen Einflussnahme, beispielsweise durch gezieltes gesellschaftliches oder karitatives Engagement. Diese Entwicklungen rücken auch andere Bereiche des Islamismus stärker in den Mittelpunkt, die bereits seit langem genau diese Strategie verfolgen. So sind im Jahr 2022 sowohl die "Deutsche Muslimische Gemeinschaft" (DMG) aus dem Zentralrat der Muslime, als auch das "Islamische Zentrum Hamburg" (IZH) aus der Schura Hamburg ausgeschlossen worden. In beiden Fällen ging den Ausschlüssen eine intensive öffentliche Diskussion voraus, die sich im Fall der DMG mit deren Verbindungen zum weltweiten Netzwerk der Muslimbruderschaft und beim IZH um dessen Steuerung durch die Islamische Republik Iran kritisch auseinandersetzte. Ebenfalls im Jahr 2022 fanden im Zusammenhang mit möglichen Nachfolgeaktivitäten der verbotenen islamistischen Vereinigung Kalifatsstaat bundesweit polizeiliche Maßnahmen statt, und in Bremen und Münster wurden zwei Hizb Allah-Vereine verboten, die jeweils Verbindungen nach Niedersachsen hatten. Diese Ereignisse machen deutlich, dass auch der Bereich des organisationsbezogenen Islamismus äußerst virulent ist und vielfältige Aktivitäten entfaltet. Es ist zu konstatieren, dass die von vielen dieser Vereinigungen betriebene Strategie der gesellschaftlichen Einflussnahme durchaus Relevanz entfaltet. Insgesamt gesehen, prägt der Salafismus als dynamische Bewegung zwar die Wahrnehmung des Islamismus in besonderer Weise. Darüber hinaus gibt es jedoch weitere Organisationen und Gruppierungen des islamistischen Spektrums, die entsprechend ihrer Agenda relevante Aktivitäten entfalten. Dies zeigt, dass sich die Betrachtung des Islamismus nicht auf den Salafismus beschränken darf, sondern das gesamte islamistische Spektrum in den Blick genommen werden muss, insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass viele 197 Islamismus islamistische Organisationen einer Steuerung durch ausländische Akteure unterliegen und über ihre Strategie der gesellschaftlichen Unterwanderung bereits über eine gute politische und gesellschaftliche Vernetzung verfügen. 4.3 Salafismus Mitglieder/Anhänger Niedersachsen: 800 salafistischer Gruppen Der Salafismus ist eine besonders radikale islamistische Bewegung, die sowohl in Deutschland, als auch auf internationaler Ebene einen großen Zulauf insbesondere junger Menschen erlebt. Salafisten weltweit glorifizieren einen idealisierten Ur-Islam des 7./8. Jahrhunderts und orientieren sich, um diesem möglichst nahe zu kommen, an der Lebensweise der ersten Muslime in der islamischen Frühzeit. Sie versuchen ihre religiöse Praxis und Lebensführung ausschließlich an den von ihnen wörtlich verstandenen Prinzipien des Korans und dem Vorbild des Propheten Muhammad und der frühen Muslime, den rechtschaffenen Altvorderen (arab. al-salaf al-salih, daher der Begriff Salafismus), auszurichten. Exemplarisch heißt es in einem auf einer salafistischen Website abrufbaren Text mit dem Titel "Was ist ein Salafi?": "Wir können klar erkennen, dass die ersten drei Generationen dieser Ummah 86 die besten der Menschen sind. Sollten sie dann nicht diejenigen sein, denen wir folgen? Wenn Du über etwas Bescheid wissen willst, sei es über Mathematik, Physik oder Medizin, dann würdest Du zu Leuten gehen, die davon mehr verstehen als Du selbst. Wenn Du aber nicht zu ihnen gehen könntest, so würdest Du zu den Büchern der Individuen gehen, selbst wenn diese viele Jahre zuvor geschrieben wurden. Und zwar darum, weil Du weißt, dass diejenigen, die die Bücher schrieben, ein besseres Verständnis über das Thema hatten, als Du es hast. Genauso ist es im Islam: Um ihn und seine Praktiken zu verstehen, sollten wir nicht zu denen gehen, die ihn am besten verstanden? Jedoch muss hier eine Unterscheidung gemacht werden. In vielen Aspekten der Wissenschaft und Technologie nimmt das Wissen mit der Zeit zu, 86 Der arabische Begriff "Ummah" bedeutet übersetzt "Gemeinschaft der Muslime". 198 Islamismus d. h. ein viele hundert Jahre altes Buch wäre zu primitiv, um heute in einer medizinischen Hochschule gelehrt zu werden. Heute, im Islam, ist jedoch das Gegenteil der Fall. Je weiter man zu der Zeit des Propheten - Allahs Heil und Segen auf ihm - zurückgeht, desto besser und reiner waren das Verständnis und die Implementierung der Religion." (Salafistische Internetseite, 2021) Alle Entwicklungen im Islam, die erst nach dieser islamischen Frühzeit eingesetzt haben, wie etwa liberalere Formen des Islams und die Vorstellung von der Gleichberechtigung der Geschlechter sowie demokratische Strukturen, werden von Salafisten abgelehnt. Die Scharia, die von Salafisten als von Gott gegebene verbindliche Rechtsordnung verstanden wird, ist nach salafistischer Ideologie jeder weltlichen Gesetzgebung übergeordnet. So sei einzig Gott der legitime Gesetzgeber und nicht das Volk. Die Beteiligung am demokratischen Prozess bezeichnen Salafisten daher als Polytheismus (arab. Schirk), werde doch der Mensch in der Demokratie über Gott erhöht. In der Konsequenz lehnen Salafisten die Geltung staatlicher Gesetze ab. In einer im Jahr 2012 verteilten Broschüre des "Deutschsprachigen Islamkreises e. V." (DIK) in Hannover heißt es entsprechend: "Da das Wort Ibadah [Dienst an Gott] totale Gehorsamkeit bedeutet und Allah als der ultimative Gesetzgeber angesehen wird, ist die Ausführung eines säkularen Rechtssystems, welches nicht auf göttlichem Gesetz (Scharia) basiert, ein Akt des Unglaubens bezüglich des göttlichen Gesetzes und ein Akt des Glaubens an die Richtigkeit solcher Systeme. Ein solcher Glaube gründet eine Form des Gottesdienstes an etwas anderem als an Allah (Schirk)." (Deutschsprachiger Islamkreis e. V. [Hrsg.], Was jeder Muslim wissen sollte, ohne Jahr, Seiten 8-9) Salafisten streben danach, Staat, Gesellschaft und das Privatleben jedes Individuums so umzugestalten, dass sie den vermeintlich von Gott geforderten Normen entsprechen. Konsequenterweise propagieren sie auch das nach ihrer Auslegung im Koran normierte ungleiche Verhältnis zwischen den Geschlechtern, u. a. ein Strafrecht, das auch Körperstrafen vorsieht und die Begrenzung der Religionsfreiheit. Die von Salafisten propagierte Staatsund Gesellschaftsordnung steht im deutlichen Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Insbesondere werden die demokratischen Grundsätze der 199 Islamismus Trennung von Staat und Religion, der Volkssouveränität, der religiösen und sexuellen Selbstbestimmung, der Gleichberechtigung der Geschlechter sowie das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzt. Damit ist der Salafismus eine verfassungsfeindliche Bestrebung und erfüllt die Voraussetzung für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und 3 NVerfSchG). Ausprägungen des Salafismus Bei den grundsätzlichen ideologischen Auffassungen kann eine weitgehende Übereinstimmung innerhalb des salafistischen Spektrums festgestellt werden. Allerdings gibt es maßgebliche Unterschiede was die Umsetzung der salafistischen Ideologieelemente anbelangt, weshalb nach der gängigen Definition drei Ausprägungen des Salafismus unterschieden werden: f Puristischer Salafismus Sogenannte puristische Salafisten stellen die individuelle Frömmigkeit in den Mittelpunkt. Eine gesellschaftliche und politische Umgestaltung wird von ihnen nicht aktiv propagiert, sie erwarten diese vielmehr als langfristiges Ergebnis ihrer persönlichen Bemühungen. Wenn ihre eigene Religionsausübung möglich ist, stellen die v. a. aus Saudi-Arabien stammenden Gelehrten der puristisch-salafistischen Strömung die existierende staatliche Ordnung nicht in Frage. Solange tatsächlich nur die individuelle Frömmigkeit im Mittelpunkt steht, handelt es sich beim puristischen Salafismus nicht um eine Bestrebung im Sinne SS 3 NVerfSchG. f Politischer Salafismus Im Unterschied dazu verbinden politische Salafisten mit der Umsetzung der salafistischen Ideale neben der persönlichen Ebene auch eine Umgestaltung der Gesellschaft und des Staates. Der Begriff "politisch" darf dabei jedoch nicht missverstanden werden, denn Salafisten sind grundsätzlich apolitisch und verweigern sich in der Regel einer Teilnahme an politischen Prozessen. Gemeint ist hiermit die offensive Propagierung ihrer Wertvorstellungen in Predigten, Straßenaktionen oder Internetaktivitäten. Politische Salafisten akzeptieren durchaus andere islamistische Gruppierungen, die gewalttätig agieren, setzen selbst jedoch keine Gewalt zur Schaffung ihrer propagierten Staatsund Gesellschaftsordnung ein. 200 Islamismus f Jihadistischer Salafismus Darin besteht der Unterschied zu den jihadistischen Salafisten. Diese interpretieren den Begriff des Jihad primär als militärischen Kampf und propagieren eine individuelle Pflicht jedes Gläubigen zur Teilnahme an diesem Kampf. Die Pflicht zum Kampf besteht z. B. gegen "unislamische" Herrscher, was dem jihadistischen Verständnis nach autoritäre Staatsoberhäupter in den arabischen Ländern, aber auch demokratische Regierungen im Westen sein können. Ein anderes Beispiel sind "unislamische Aggressoren" in als muslimisch verstandenen Ländern. Das kann militärische Aktivitäten westlicher Länder in Afghanistan oder Syrien und im Irak, aber auch die Existenz des Staates Israel bedeuten. Der Salafismus ist die in den letzten Jahren am schnellsten gewachsene islamistische Bewegung in Deutschland und Europa. Dies liegt auch darin begründet, dass er ein Angebot macht, welches insbesondere, aber nicht nur, junge Menschen anspricht. Diese Weltanschauung schafft ein komplettes Gegenmodell zum selbstbestimmten, daher aber auch risikobehafteten westlichen Lebensentwurf. Da die salafistische Ideologie von ihren Anhängern fordert, den Kontakt mit der "ungläubigen" Welt auf ein Minimum zu reduzieren, ist die Folge die Einbettung des Einzelnen in ein Netzwerk von Gleichgesinnten, die über ähnliche Ansichten verfügen, aber auch ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Dies erleben viele von der modernen Welt Verunsicherte als ein stabilisierendes Element in ihrem Leben. Gleichzeitig vermittelt diese theologisch begründete sektenartige Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft das Gefühl, als Salafist einer von Gott bevorzugten Elite anzugehören. Der Salafismus ist eine dynamische und heterogene Bewegung, die sich nicht in klare Strukturen einordnen lässt. Als verbindendes Element fungiert dabei die salafistische Ideologie, deren Anhänger häufig in Kleingruppen und Freundeskreisen organisiert sind. In dem international miteinander verwobenen Netzwerk des Salafismus gibt es aber einzelne Fixpunkte und Organisationsformen, die entscheidende Bestandteile für das Agieren der Szene darstellen. 201 Islamismus Salafistische Prediger Eine entscheidende Rolle haben die salafistischen Prediger inne. Sie formulieren die salafistische Ideologie aus und machen über ihre Auslegungen der islamischen Schriften konkrete Vorgaben zur "richtigen" Lebensführung. Salafisten verbreiten ihre Ideologie professionell. Ihre Vertreter setzen sich öffentlichkeitswirksam in Szene. Da salafistische Prediger in Deutschland vorwiegend die deutsche Sprache nutzen und sich insbesondere am Sprachgebrauch Jugendlicher orientieren, üben sie eine beträchtliche Anziehungskraft vorwiegend auf junge Menschen, darunter auch zum Islam Konvertierte, aus. Salafistische Prediger sind über ihre Seminarangebote, Vortragsreisen und Onlineangebote überregional präsent und sammeln damit eine feste Anhängerschaft hinter sich. Durch die seit einigen Jahren beschleunigt voranschreitende Digitalisierung und die Veränderung sozialer Medien hin zu stärker visuell und kurzlebig geprägter Kommunikation wandelt sich auch das Online-Verhalten von Predigern, die sich inzwischen häufig als eine Art "salafistische Influencer" präsentieren. Dabei profitieren die Prediger in besonderem Maße von ihrem Charisma und passen ihren Kommunikationsstil gezielt an die Online-Sprache von Jugendlichen an. Sie besitzen digitale Kompetenzen, wirken "kumpelhaft" und kommunizieren mit ihrem Publikum auf Augenhöhe, z. B. indem sie durch Frage-Antwort-Runden über Social Media mit ihrem Publikum in direkten Kontakt treten oder über Messenger-Dienste wie WhatsApp direkt mit Fragen angeschrieben werden können. An den salafistischen Predigern wird auch die internationale Dimension des Salafismus deutlich. Viele von ihnen haben eine Ausbildung an arabischen Universitäten erhalten. Besonders häufig fällt dabei der Name der "Islamischen Universität Medina" in Saudi-Arabien. Die Universität wurde bereits mit dem Ziel gegründet "als Zentrum für die Verbreitung der islamischen Wissenschaft und Kultur unter den Muslimen überall in der Welt" zu wirken. Dieses Ziel sei so zu erreichen, dass "... einzelne aus jedem islamischen Land aufgerufen werden, nach Medina zu kommen, den Islam zu studieren ..., und dann zu ihren Leuten zurückzukehren, um zu unterweisen und rechtzuleiten." (Charta der Islamischen Universität Medina vom 11.05.1962) 202 Islamismus Um möglichst viele Studenten zu erreichen, bietet die Universität ein attraktives Angebot mit umfangreicher finanzieller Unterstützung und Stipendien. Die "Islamische Universität Medina" dient somit als Multiplikator für die wahhabitisch-salafistische 87 Lehre, die durch ihre Studenten anschließend in deren Heimatländern weiterverbreitet wird. Gleichzeitig werden über das gemeinsame Studium Netzwerke zwischen den künftigen salafistischen Predigern gebildet. Diese führen dazu, dass regelmäßig auch ausländische Prediger zu Seminaren und Vorträgen in deutsche und niedersächsische Moscheen eingeladen werden. Salafistische Angebote im Internet Das Internet hat eine große Bedeutung für Salafisten. Ihre Onlineangebote, Audios, Videos und Schriftstücke dominieren die deutschsprachigen Informationsangebote über den Islam im Internet. Aufgrund eines Imagewandels der eingestellten Angebote, weg von traditionell islamischer bzw. salafistischer Kleidung, hin zu einem modernen Auftreten, lässt sich häufig der salafistische Hintergrund nicht sofort erkennen. Dadurch werden breitere Teile der muslimischen Gesellschaft in Deutschland mit salafistischer Propaganda erreicht. Die Internetauftritte der salafistischen Akteure sind professionell gestaltet und werden oft von einem eigenen Team an Administratoren betreut. Die selbst produzierten Grafiken (sogenannte Memes) und Videos wirken attraktiv und wecken das Interesse auch von außenstehenden Personen. Salafisten sind bestrebt, ständig weitere Angebote zu entwickeln, um möglichst viele Menschen anzusprechen und passen sich dabei stetig den technischen Entwicklungen und dem aktuellen Nutzerverhalten an. So wurden zunächst hauptsächlich Internetseiten mit salafistischen Informationsangeboten eingerichtet. Die Kommunikation erfolgte über Foren. Dann verlagerten sich viele Angebote in die sozialen Netzwerke, wie Facebook, Instagram und TikTok, die den Vorteil mitbrachten, dass Inhalte direkt kommentiert und über sie diskutiert werden konnte. Inzwischen bekommen Messenger-Dienste wie Telegram oder WhatsApp 87 Der Wahhabismus ist die Staatsdoktrin Saudi-Arabiens und geht auf die Lehren von Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1703-1792) zurück. Der Salafismus wurde ideologisch stark vom Wahhabismus beeinflusst, sodass die beiden Ideologien inhaltlich viele Ähnlichkeiten aufweisen. 203 Islamismus eine immer größere Bedeutung. Insbesondere erfährt die Kommunikation via Telegram in der salafistischen Szene einen Zuwachs, da durch das Betreiben entsprechender Kanäle eine große Anzahl an Personen erreicht werden kann. Aufgrund des hohen Stellenwerts der Dawa 88 haben Salafisten ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Die Indoktrination durch salafistische Prediger führt bei den Empfängern jedoch nicht dazu, dass diese ein reflektiertes und fundiertes Wissen über ihre Religion erwerben. Stattdessen bildet sich ein diffuses Inselwissen über ideologische Versatzstücke, das auch als "Lego-Islam" bezeichnet wird, heraus. Diese Vorgehensweise entspricht der Funktionsweise sozialer Netzwerke wie Instagram und TikTok, da längere Beiträge auf diesen Plattformen in der Regel keine höheren Reichweiten erzielen und zugunsten von kurzen Schlagwortbotschaften untergehen. Das Ziel salafistischer Akteure im Internet ist es, junge Menschen zu einer Abwendung von der Gesellschaft im Sinne einer Loyalität zum Glauben und Lossagung vom Unglauben (arab. "al-Wala wal-Bara") zu bewegen und sich ausschließlich unter muslimischen Mitmenschen, die der richtigen Glaubenslehre und -auslegung anhängen, aufzuhalten. In besonderem Maße entfaltet hier auch populistische Kommunikation ihre Wirkung, da eine kritische Betrachtung der angerissenen Themen grundsätzlich nicht geschieht. Durch die Algorithmen sozialer Medien bilden sich extremistische Filterblasen, die schnell Verbindungspunkte an Mainstream-Diskurse finden und zudem auch Nutzerinnen und Nutzer im Feed erscheinen können, die sich primär nur mit Religion beschäftigen möchten. Über das Format des Kurzvideos wird Jugendlichen auf der Plattform TikTok somit nahegebracht, wie sie ihr Alltagsleben mit einem salafistischen Lebensstil vereinbaren können. Das kann zur Radikalisierung beitragen. Viele Akteure des politischen Salafismus besitzen zudem Kanäle auf Telegram, um die Reichweite ihrer Inhalte noch weiter zu erhöhen und um Personen außerhalb ihrer Stammklientel anzusprechen. Auch auf dieser Ebene werden Beiträge aus Kanälen häufig untereinander geteilt, sodass sich ein Geflecht aus Kontakten zahlreicher Protagonisten ergibt, wie man sehr anschaulich auf dem Screenshot des TikTok Kanals der DMG BS sehen kann. 88 Der arabische Begriff Dawa bedeutet übersetzt "Einladung" und kann mit Missionierung umschrieben werden. 204 Islamismus Neben der offenen Kommunikation salafistischer Szeneprotagonisten, die in der Regel realen Personen zugerechnet werden können, existieren auch klandestine Netzwerke von Personen und Organisationen, die sich im Internet vernetzen. Diese Personenkreise kommunizieren über verschlüsselte Messenger wie Signal, Telegram oder Threema miteinander. An dieser Stelle bieten sich für radikalisierte Einzelpersonen häufig niedrigschwellige Möglichkeiten, mit im Ausland aktiven Jihadisten in Kontakt zu kommen. Vor allem Telegram spielt für die jihadistisch-salafistische Szene eine große Rolle, da dort auf einigen Kanälen nach wie vor jihadistische Propaganda ausländischer Terrororganisationen veröffentlicht wird. Sofern Betreiber und Abonnenten eines Kanals anonym sind, profitieren die jeweiligen Akteure von einem erweiterten Aktionsradius im Netz, der eine Identifizierung erschwert und es ihnen erlaubt, ihre ideologischen Einstellungen deutlich offener zu äußern. Eine häufig festgestellte Straftat auf Telegram ist die Abbildung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (SS 86a StGB), wie beispielsweise die Flagge des sogenannten Islamischen Staates (IS). Rolle der Moscheen Auch wenn das Internet eine wichtige Rolle in der Vernetzung und Anwerbung für die salafistische Szene spielt, bleiben die realweltlichen Kontakte doch entscheidend zur Verfestigung der persönlichen 205 Islamismus Beziehungen. Einer Studie zu den nach Syrien und in den Irak ausgereisten Personen zufolge, hatte besonders der Kontakt in (einschlägige) Moscheen im weiteren Verlauf der Radikalisierung große Bedeutung. Deshalb spielen entsprechend ausgerichtete Moscheegemeinden nach wie vor eine Rolle als lokale Anlaufpunkte und Trefforte für die salafistische Szene. Salafistische Moscheen bieten ein umfangreiches Angebot an Lehrveranstaltungen für verschiedene Zielgruppen an und sorgen so für eine ideologische Festigung und Einbindung in die Strukturen des Salafismus. Sie richten sich an regelmäßige Teilnehmende, aber auch an gelegentliche Besucher sowie an schlicht Interessierte. Die Spannbreite reicht von speziell auf Kinder und Jugendliche zugeschnittene Bildungs-, Spielund Freizeitangebote, damit diese möglichst frühzeitig in die internen Strukturen integriert und gemäß der salafistischen Ideologie erzogen werden, bis hin zu Beratungsund Bildungsangeboten für Erwachsene, deren salafistische Einstellung durch eine aktive Teilnahme in der Moschee verfestigt wird. Salafistische Moscheen unterscheiden sich in ihrer Ausprägung. Bei salafistisch dominierten Moscheen können die Führungspersonen und große Teile der Besucher dem Salafismus zugerechnet werden. In diesen Moscheen wird die salafistische Ideologie zielgerichtet gefestigt und weiterverbreitet. In den salafistisch frequentierten Moscheen ist hingegen nicht grundsätzlich von einer salafistischen Ausrichtung der gesamten Moschee auszugehen. Innerhalb dieser gibt es dagegen salafistische Strömungen, ohne dass die Mehrzahl der Besucher oder der Vorstand im Gesamten Salafisten sind. Teilweise besuchen salafistische Personengruppen solche Moscheen oder es werden salafistische Prediger eingeladen, die eine weitere salafistische Beeinflussung der Moscheebesucher fördern können. Lose Personennetzwerke Spielten sich die Aktivitäten der salafistischen Szene in den vergangenen Jahren noch überwiegend im Umfeld bekannter salafistischer Moscheen ab, so sind die Aktionsorte der Szene mittlerweile vielfältiger geworden. Nachdem salafistische Moscheen als Zentren der Radikalisierung in den Fokus der Sicherheitsbehörden und der Öffentlichkeit gerückt sind, hat sich ein erheblicher Anteil der Salafisten aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, um nach Alternativen und 206 Islamismus neuen Möglichkeiten zu suchen. In der Folge ist festzustellen, dass sich Salafisten häufig im Rahmen loser Personenzusammenschlüsse organisieren. Für die Zusammensetzung dieser Kleingruppen spielen Freundschaften, die regionale Herkunft, gleiche Altersgruppen und die gemeinsame ideologische Ausrichtung eine entscheidende Rolle. Mit der Zunahme salafistischer Kleingruppen etablierten sich auch neue Trefforte der Szene. Dazu zählen z. B. Restaurants und Cafes, Sportvereine, Fitnessstudios, Gärten und Parks aber auch Privatwohnungen wichtiger Akteure, die zunehmend ein zentraler Bestandteil für die Vernetzung der Szene werden. Ein Beispiel hierfür sind sogenannte Wohnungsoder "Home-Dawa"-Veranstaltungen, bei denen salafistische Prediger Islamunterricht im kleinen Kreis in Privatwohnungen geben und nicht wie noch vor wenigen Jahren ausschließlich in Moscheen mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit. Diese neuen Anlaufpunkte wirken zunächst unverfänglich und erwecken für Außenstehende nicht den Anschein extremistischer Aktivitäten. Damit stellen sie eine neue Möglichkeit der Rekrutierung insbesondere junger Menschen dar, die von den Salafisten direkt in ihrem Lebensumfeld abgeholt werden. Rolle der Frau und salafistische Frauennetzwerke Traditionell ist die Frau dem Mann im Salafismus untergeordnet. Während der Mann nach außen über alle Belange entscheidet und für die alleinige Versorgung und den Schutz der Familie zuständig ist, wird Frauen der innere Bereich zugewiesen: Der Haushalt, die Erziehung der Kinder und die Unterstützung des Ehemanns. Sie haben sich in letzter Instanz immer dem Willen des Mannes zu beugen. In der salafistischen Propaganda wird dieses archaische Bild der Frau jedoch ins Positive gedreht. So stellen Salafisten die Frau als kostbaren Schatz dar, der mit Hilfe der Verschleierung vor den Blicken der "begehrlichen" Öffentlichkeit geschützt werden muss. Gerühmt werden zudem die Rolle der Frau als Mutter und Unterstützerin ihres Ehemannes sowie vermeintlich weibliche Tugenden wie Sanftheit, Gehorsam und Demut. Dem Bild der zerbrechlichen und schutzbedürftigen Frau steht ein Männerbild gegenüber, das Aktivität, Stärke und Durchsetzungsfähigkeit betont. Insbesondere die Gerichtsverfahren der vergangenen Jahre haben jedoch gezeigt, dass Frauen in der salafistischen Szene eine größere 207 Islamismus Rolle spielen als bisher angenommen. Zwar sind Frauen weiterhin öffentlich kaum wahrnehmbar, da ihr Wirkungskreis meist auf den häuslichen Bereich, die rein weiblichen Kreise in der Moschee oder auf geschlossene Gruppen in den Sozialen Medien beschränkt ist, jedoch kommt der Frau eine zentrale Bedeutung bei der Verbreitung der salafistischen Ideologie zu. Gerade über das Internet ist es den Frauen möglich, sich überregional und global zu vernetzen und sich über salafistische Inhalte auszutauschen. Besonders deutlich wurde dies zu Hochzeiten des sogenannten Islamischen Staates (IS), als ausgereiste Salafistinnen in eigenen Blogs aus dem damaligen Herrschaftsgebiet berichteten. Sie beschrieben in verführerischer Sprache die Vorzüge des Lebens in den IS-Gebieten und ermutigten und unterstützten ihre Leserinnen bei der Ausreise. Aber auch Alltagsthemen bieten Möglichkeiten der Missionierung. Wie die Männer ködern auch Salafistinnen andere Frauen zunächst mit niedrigschwelligen Angeboten, z. B. rund um die Themen Kochen und Kindererziehung, um sie dann enger an die Szene zu binden. Regionale Frauennetzwerke bieten Gleichgesinnten und Interessierten vielfältige Aktivitäten. Neben Vorträgen, Kinderveranstaltungen und speziellen Sportangeboten für Musliminnen ist auch eine geschäftliche Vernetzung von Salafistinnen im Rahmen dieser Netzwerke zu beobachten. Darüber hinaus wird bei den o. g. Veranstaltungen oft zu Spenden aufgerufen, zum Teil wurden Beträge im niedrigen fünfstelligen Bereich gesammelt. Mit ihrer Rolle als "Hüterin der Familie" leisten Frauen einen weiteren entscheidenden Beitrag zur Verbreitung der salafistischen Ideologie. Hierbei ist die Mutter aufgrund der geschilderten Machtposition des Mannes entweder das ausführende Organ des Vaters oder sie setzt aufgrund ihrer eigenen salafistischen Ausrichtung selbst entsprechende ideologisch geprägte Erziehungsakzente. Vor allem salafistische Prediger betonen regelmäßig, wie wichtig die Kindererziehung nach den Grundsätzen des Glaubens ist. So bezeichnete Pierre Vogel die Kindererziehung als "... das wichtigste Thema überhaupt, um die Umma [muslimische Gemeinschaft] zu verbessern." (Pierre Vogel, YouTube, 16.09.2018) 208 Islamismus Dementsprechend wurden immer wieder Fälle von Kindern bekannt, die sich innerhalb salafistischer Familien radikalisiert haben. In solchen Familien werden Kinder schon von klein auf zur Ablehnung der "ungläubigen" Mehrheitsgesellschaft erzogen. Sollten die Kinder ihre Radikalisierung im Erwachsenenalter beibehalten, wird die Gesellschaft umso mehr gefordert sein. Salafistische Aktionsorientierung Die Mehrheit der Salafisten in Deutschland lässt sich dem politischen Salafismus zurechnen, zu dessen zentralen Elementen das Konzept der Dawa 89 zählt. Praktisch bedeutet dies eine intensive Propagandatätigkeit, um für die Vision einer gottgewollten Staatsund Gesellschaftsform zu werben und gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Dies hat zur Folge, dass Salafisten ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein haben, was sich in einer vielfältigen Aktionsorientierung der Szene äußert. In den letzten Jahren waren die sogenannten Islam-Informationsstände eine wichtige Aktionsform zur Verbreitung salafistischer Propaganda in Deutschland. Auf diese Weise verteilen Salafisten Broschüren, Flugblätter, salafistische Grundlagenwerke, aber auch Koranausgaben. Durch eine zunächst scheinbar unverfängliche Kontaktaufnahme mit interessierten Außenstehenden werden vor allem junge Menschen in der Identitätsfindungsphase gezielt an die salafistische Ideologie herangeführt und anschließend in die Szene eingebunden. Zudem haben die Islam-Informationsstände eine wichtige Funktion für Salafisten, um Präsenz im öffentlichen Raum zu zeigen. Die bedeutendste Aktionsform dieser Art war die Koranverteilaktion "LIES! Im Namen Deines Herrn, der Dich erschaffen hat". Diese 2012 gestartete Dawa-Aktion wurde von der Vereinigung "Die Wahre Religion" (DWR) organisiert, die im November 2016 durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat verboten wurde. Maßgeblich für das Verbot der "LIES!"-Stände war, dass sich Jihadisten mit Syrienbzw. Irakbezug über die Aktivitäten an den Koranverteilständen miteinander vernetzten. So sind mindestens 140 Aktivistinnen und Aktivisten oder Unterstützerinnen und Unterstützer der "LIES!"-Koranverteilaktionen nach Syrien bzw. 89 Siehe Fußnote 88. 209 Islamismus in den Irak ausgereist, um sich terroristischen Organisationen wie dem IS anzuschließen. Nach dem Verbot der "LIES!"-Koranverteilaktionen ist es der salafistischen Szene nicht mehr gelungen, eine überregionale Literaturverteilaktion in der Größenordnung von "LIES!" zu etablieren. In Niedersachsen wurden solche Informationsstände und Literaturverteilaktionen zuletzt auf Grundlage des SS 18 Abs. 1a Niedersächsisches Straßengesetz (NStrG) (Versagung von Sondernutzungserlaubnissen) wegen der Verfolgung oder Unterstützung verfassungsfeindlicher Aktivitäten nicht mehr genehmigt. Im Jahr 2022 wurde wieder eine Zunahme salafistischer Dawa-Aktivitäten festgestellt. Dazu zählen "klassische" Literaturverteilaktionen in Fußgängerzonen, bei denen Salafisten Werke zur Aufklärung über den Islam verteilen und versuchen, darüber mit Passanten ins Gespräch zu kommen. In Niedersachsen reagierten Salafisten auf die Untersagung stationärer Informationsstände, indem sie nicht genehmigungspflichtige mobile Verteilaktionen durchführten. Eine neue Form salafistischer Dawa stellt eine Plakataktion dar, die insbesondere von Pierre Vogel über Soziale Medien beworben wurde. Dabei rief er seine Anhänger zu Spenden für die Anmietung von Plakatwänden in deutschen Städten auf. Die Plakatmotive stellte er zur Verfügung. Sie enthielten teilweise Verweise auf die DMG Braunschweig. Weitere im Jahr 2022 festgestellte salafistische Missionskampagnen waren Flyerverteilungen in Briefkästen oder das Auslegen von Literatur und Werbeflyern für Moscheen in Geschäften. Neben diesen missionarischen Aktivitäten hat sich die salafistische Szene zuletzt zunehmend neue Aktionsfelder erschlossen, auch um weitere Geldquellen zu generieren. Demnach sollen salafistische Akteure die Rolle einer gesellschaftlich angesehenen und erfolgreichen Person anstreben, um eine stärkere Einbindung in die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zu erreichen und das Ziel der islamistischen Durchdringung der Gesellschaft zu realisieren. So gründen salafistische Akteure immer häufiger Firmen, die den Bereich des halal 90 -Sektors ausweiten. Dazu gehören halal-konforme Angebote in Bereichen wie Hilfsorganisationen, Reisen, 90 Der arabische Begriff "halal" bedeutet übersetzt "nach islamischem Glauben erlaubt". 210 Islamismus Finanzen, Investitionen in Immobilien, Warenhandel, Bekleidung, Gastronomie sowie Dienstleistungsund Beratungsangebote. Die Bezüge zur salafistischen Ideologie sind dabei oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen, denn die Akteure haben ihr traditionelles salafistisches Erscheinungsbild durch ein westliches und geschäftsmäßiges ersetzt. Die Intention hinter diesen Wirtschaftsaktivitäten ist, die eigene berufliche Tätigkeit mit den ideologischen Zielen zu verbinden und dadurch neue Personen ohne extremistische Einstellung an das salafistische Gedankengut heranzuführen und die Dawa voranzubringen. Um dabei eine möglichst große Reichweite zu erzielen, wird ein besonderer Fokus auf die Vernetzung zwischen den Akteuren gelegt. Neben Veranstaltungen wie Workshops und Coachings sind gegenseitige Empfehlungen und Bewertungen im Internet ein wichtiges Instrument, um die Bekanntheit der jeweiligen Produkte und Dienstleistungen zu steigern. Über die Vernetzung salafistischer Akteure hinaus findet eine Kooperation auch mit weiteren Personen des islamistischen Spektrums statt. Folglich ist auch in dem Bereich der Wirtschaftsaktivitäten eine Vermischung unterschiedlicher islamistischer und salafistischer Strömungen zu beobachten, infolgedessen die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen und Strömungen zunehmend verschwimmen. In diesem Zusammenhang ist der verbotene Verein "Ansaar International e. V." aus Düsseldorf zu nennen, der insbesondere von salafistischen Akteuren geleitet und von weiten Teilen salafistischer und weiterer islamistischer Personen beworben wurde. Eigenen Angaben zufolge war das Ziel des Vereins die weltweite Unterstützung von Projekten für bedürftige Muslime. Die vermeintliche islamische Hilfsorganisation betrieb neben der Generierung von Spenden auch Reiseveranstaltungen, Onlineshops oder Ladenlokale. Bundesweite Durchsuchungen gegen "Ansaar International e. V." und den mit ihr in Verbindung stehenden Vereinen haben den Verdacht bestätigt, dass "Ansaar International e. V." einschließlich ihrer Teilorganisationen gegen den Gedanken der Völkerverständigung verstoßen haben, weil sie mithilfe der Spendengelder entgegen eigener Aussagen nicht nur humanitäre Zwecke, sondern insbesondere terroristische Organisationen unterstützt haben. Zudem betreibt "Ansaar International e. V." aktiv salafistische Missionierung und verbreitet 211 Islamismus islamistische Inhalte. Somit hat der Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat am 05.05.2021 die Vereinigung "Ansaar International e. V." einschließlich ihrer Teilorganisationen verboten. Am Beispiel des Vereins "Ansaar International e. V." wird deutlich, welches Ausmaß vermeintlich "harmlose" Wirtschaftsaktivitäten salafistischer Akteure - bis hin zur Unterstützung terroristischer Organisationen - annehmen können. Viele salafistische und weitere islamistische Akteure haben für diese auf den ersten Blick nicht-extremistische "Hilfsorganisation" geworben, die damit nahezu unbemerkt in breiteren Teilen der Gesellschaft Fuß fassen konnte. Salafistische Gefangenenhilfe Durch die zunehmende Radikalisierung der salafistischen Szene in den letzten Jahren ist auch die Zahl der Strafverfahren mit einem islamistischen Hintergrund gestiegen. Insbesondere Rückkehrende aus den Kriegsgebieten in Syrien und im Irak sowie Personen, die Anschlagspläne im Inland vorbereitet oder unterstützt haben, wurden zu Haftstrafen verurteilt. Auf die daraus resultierende Zunahme von Häftlingen aus dem salafistischen Spektrum reagiert die Szene mit organisierten Unterstützungsleistungen für diese Gefangenen und ihr Umfeld. Einer der Hauptakteure der salafistischen Gefangenenhilfe ist der ehemalige Linksextremist Bernhard Falk. Nach seiner Konvertierung zum Islam ist er unter dem Namen Muntasir Bi-llah91 in der salafistischen Szene aktiv. Dabei hat er die linksextremistische Rhetorik beibehalten und in den islamistischen Kontext übertragen. Seiner Meinung nach sind inhaftierte Islamisten politische Gefangene, da die Bundesrepublik Deutschland einen Kampf gegen den Islam betreibe. Als Zielsetzung seiner Arbeit gibt er an: "Subhana-LLAH, die Verhaftung von Muslimen in der BRD aus politischen Gründen ist derart 'alltäglich' geworden, dass es schwer ist, den Überblick zu behalten. ... Mittlerweile gibt es in der BRD mehr als 150 muslimische politische Gefangene, davon mehr als ein Dutzend Schwestern - eine im Vergleich zur kleinen Ummah in diesem Land hohe Zahl!!! LIEBE GESCHWISTER UNTERSTÜTZT DIE GEFANGENEN UND DEREN UNTERSTÜTZER." (Internetseite von Bernhard Falk, 01.09.2020) 91 Der arabische Name Muntasir Bi-llah bedeutet übersetzt "siegreich durch Gott". 212 Islamismus Tatsächlich handelt es sich bei den Personen, die von Falk unterstützt werden, ausschließlich um solche, denen Terrorismus vorgeworfen wird oder die aufgrund eines terroristischen Straftatbestands inhaftiert sind. 2022 thematisierte Falk insbesondere die Rückholaktionen der Bundesregierung von deutschen Staatsangehörigen und deren Kindern aus Gefangenenlagern in Syrien und dem Irak. Auch das Haftende von Safia S.92 kommentierte Falk auf seinem Telegram-Kanal und zollte ihr seinen Respekt. Neben unterstützenden Posts für Islamisten und der Agitation gegen ein angebliches Versagen des deutschen Rechtsstaats auf seinen Online-Kanälen ist Falk auch bei Gerichtsterminen vor Ort, um die Angeklagten zu stärken und öffentliche Präsenz zu zeigen. Ein weiterer Akteur in der salafistischen Gefangenenhilfe ist die Organisation "Al-Asraa - Die Gefangenen" aus Nordrhein-Westfalen, die Inhaftierte und deren Umfeld durch Besuche und finanzielle Zuwendungen unterstützt. Über verschiedene Internetauftritte betreibt "Al-Asraa" eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, um über staatliche Maßnahmen gegen die salafistische Szene zu berichten und damit um Unterstützung zu werben. So werden auf den Onlinepräsenzen Berichte und Bilder über die Haftsituation salafistischer Gefangener veröffentlicht. Darüber hinaus existieren Initiativen von Frauen der salafistischen Gefangenenhilfe, die sich speziell an inhaftierte Frauen ("Schwestern") richten. Eine der bekanntesten Organisationen ist "Free our sisters - Fukuu akhwatina". Dort fungierte die aus Niedersachsen stammende Jennifer W. vor ihrer eigenen Festnahme im Sommer 2018 als Administratorin. Mittlerweile erhält sie selbst Unterstützung aus der salafistischen Szene. Ihre salafistische Gesinnung unterstreichen die Administratorinnen auf ihrem Telegram-Kanal u. a. mit regelmäßigen Zitaten wichtiger theologischer Vordenker des Salafismus. 92 Die damals Fünfzehnjährige Safia S. stach am 26.02.2016 bei einer Personenkontrolle im Hauptbahnhof Hannover einem Beamten der Bundespolizei in den Hals und verletzte ihn schwer. Sie wurde zu sechs Jahren Jugendhaft wegen versuchten Mordes und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. 213 Islamismus Im Zuge der Inhaftierungen von IS-Anhängerinnen in kurdischen Flüchtlingscamps in Syrien wurden von der salafistischen Szene spezielle Hilfsangebote und -aufrufe für "gefangene Schwestern" ins Leben gerufen, u. a. durch die türkischsprachige Organisation "Bacin esir kampinda" (dt. "Deine Schwester im Gefangenenlager"). Der deutschsprachige Ableger wirbt damit, "Schwestern" in den "Camps der PKK" zu unterstützen. Zu den Angeboten salafistischer Gefangenenhilfsorganisationen gehört auch eine direkte Unterstützung der Inhaftierten. Z. B. werden vorgefertigte Briefe und religiöse Literatur bereitgestellt, die von Mitgliedern der salafistischen Szene, oft auch von Kindern, mit einem persönlichen Gruß versehen an die inhaftierten Personen weitergeleitet werden können. Diese Form der Unterstützung kann enormen Druck auf die inhaftierten Personen ausüben und sich negativ auf ihre Resozialisierung und Loslösung von der Szene auswirken. Denn den Inhaftierten wird damit signalisiert, dass sie weiter im Blick der Szene bleiben. Durch religiöse Literatur wird ein moralischer Druck geschaffen, sich nicht von der Glaubensausübung zu entfernen. Mittlerweile haben sich die Aktivitäten der genannten Akteure in den Sozialen Medien von Facebook zu Instagram und vermehrt zu Telegram verlagert. 4.4 Salafismus in Niedersachsen Seitdem die "Salafistischen Bestrebungen" im Jahr 2011 zum bundesweiten Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden wurden, verzeichnete die salafistische Szene in Deutschland und Niedersachsen über Jahre starke Zuwachsraten. So hat sich die Zahl der Salafisten bundesweit von circa 3.800 im Jahr 2011 auf 12.150 im Jahr 2019 mehr als verdreifacht. In Niedersachsen lässt sich derselbe Trend feststellen, hier stieg die Zahl der Salafisten von circa 275 im Jahr 2011 auf 900 im Jahr 2019 und hat sich damit ebenfalls mehr als verdreifacht. Analog zu den bundesweiten Zahlen schwächte sich diese Entwicklung zuletzt jedoch ab und die Anhängerzahlen stagnierten auf diesem Niveau. Im Jahr 2022 fiel die Anzahl der Salafisten in Niedersachsen erstmals und liegt derzeit bei 800. 214 Islamismus Das jahrelange Wachstum der Szene war insbesondere auf das Wirken deutschsprachiger Prediger zurückzuführen, die häufig durch saudische Gelehrte geprägt waren. Zu diesen Vertretern zählen insbesondere Pierre Vogel, dessen vereinfachte und jugendgerechte Botschaften eine enorme Verbreitung erfuhren, Ibrahim Abou-Nagie, der mit seinem Verein "Die Wahre Religion" und der Koranverteilaktion "LIES!" den Salafismus öffentlich sichtbar in die deutschen Innenstädte brachte sowie der ehemalige Braunschweiger Muhamed Seyfudin Ciftci, dessen Aktivitäten um die Islamschule und den Verein "Einladung zum Paradies" maßgeblich zur Etablierung und Strukturierung der salafistischen Szene beitrugen. Zudem haben die kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien und im Irak bis hin zur zwischenzeitlichen Etablierung eines Kalifats durch die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) im Jahr 2014 zu einer nicht unerheblichen Strahlkraft und zum Teil zur Radikalisierung in der salafistischen Szene geführt. In den letzten Jahren wurde deutlich, dass sich das Wachstum der salafistischen Szene in Deutschland und Niedersachsen deutlich abschwächt. Gab es in den Hochphasen Zuwachsraten von um die 30 Prozent, so ist nun erstmals ein Rückgang der Anhängerzahl der salafistischen Szene festzustellen. Dies dürfte einerseits das Ergebnis der inzwischen wesentlich besseren Aufklärung der Szene durch die Sicherheitsbehörden sowie der höheren gesamtgesellschaftlichen Sensibilität für salafistische Radikalisierungsprozesse sein. Andererseits entfaltet auch der Jihadschauplatz Syrien nicht mehr die Strahlkraft, die er zwischenzeitlich hatte und die öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten von salafistischen Predigern und Dawa-Organisationen haben auch aufgrund der coronabedingten Einschränkungen nur noch vereinzelt stattgefunden. Nach einer Art Orientierungsphase sind zuletzt aber wieder vermehrte Aktivitäten der salafistischen Szene festzustellen gewesen. In den Sozialen Medien versuchen Salafisten junge Menschen lebensnah zu erreichen und für ihre Ideologie zu gewinnen. Struktur der salafistischen Szene in Niedersachsen Der Salafismus ist ein überwiegend urbanes Phänomen, weshalb dessen Schwerpunkte in den großen Städten liegen. Salafistische 215 Islamismus Anlaufpunkte und Aktivitäten gibt es darüber hinaus aber in ganz Niedersachsen. Salafistische Aktivitäten gehen insbesondere von salafistisch dominierten Moscheen aus, die maßgeblich von Salafisten geprägt und hauptsächlich von Salafisten besucht werden. Entsprechend ihrer Ideologie bieten diese Moscheen ein umfangreiches Vortragsund Schulungsangebot für alle Altersgruppen an und werben im Sinne der Dawa intensiv für die Verbreitung der salafistischen Ideologie. Darüber hinaus gibt es in Niedersachsen Moscheegemeinden, in denen einzelne Salafisten verkehren oder die vereinzelt Veranstaltungen mit bekannten salafistischen Predigern durchführen. Eine nachhaltige salafistische Beeinflussung großer Teile der Moscheebesucherinnen und -besucher in diesen Gemeinden ist nicht belegbar, bezogen auf einzelne Besucher jedoch nicht auszuschließen. Außerdem ist ein zunehmender Rückzug der salafistischen Szene ins Private sowie eine Fragmentierung der Anlaufpunkte festzustellen. Deshalb spielen immer mehr auch lose Personenzusammenschlüsse eine Rolle, deren gemeinsamer Referenzrahmen die salafistische Ideologie ist und die über die religiöse Betätigung hinaus Freizeitaktivitäten miteinander teilen. Auch werden den Sicherheitsbehörden häufig Einzelpersonen mit salafistischen Bezügen bekannt, bei denen keine Anbindung an eine Moschee oder eine salafistische Gruppe festgestellt werden kann. Dies sind beispielsweise Flüchtlinge, zu denen Erkenntnisse vorliegen, wonach sie vor ihrer Einreise nach Deutschland auf Seiten jihadistischer Gruppierungen aktiv waren. DMG Braunschweig Ein Schwerpunkt der salafistischen Aktivitäten in Niedersachsen geht von der Moschee der "Deutschsprachigen Muslimischen Gemeinschaft e. V." in Braunschweig (DMG Braunschweig) aus. In Verbindung mit ihrem langjährigen Imam Muhamed Seyfudin Ciftci gehörte die DMG Braunschweig schon früh zu den salafistischen Zentren in Deutschland. Zwar ist Ciftci nicht mehr in der DMG Braunschweig aktiv, die Moschee hat ihren Stellenwert niedersachsenund auch bundesweit zuletzt aber deutlich gesteigert. Die DMG Braunschweig hat auch in Phasen negativer öffentlicher Aufmerksamkeit für salafistische Prediger im Vergleich zu den meisten anderen salafistischen Moscheen nach wie vor regelmäßig zu 216 Islamismus Vortragsveranstaltungen eingeladen. Pierre Vogel, Ahmed Armih alias Abul Baraa, Abdelilah Belatouani alias Abu Rumaisa und Marcel Krass waren z. B. regelmäßig in Braunschweig zu Gast. So konnte sich die DMG Braunschweig ein Renommee als anerkannte Moschee, die ganz an der "richtigen" salafistischen Lehre ausgerichtet ist, aufbauen. Das hat sie wiederum genutzt, um jüngeren salafistischen Predigern, wie Ibrahim El-Azzazi und Amir al-Kinani alias Abu Azma eine Bühne zu bieten, womit diese ihren Bekanntheitsgrad steigern und sich weiter in der salafistischen Szene vernetzen konnten. Somit hat die DMG Braunschweig aktuell eine Funktion als wichtiger Knotenpunkt der deutschen salafistischen Szene inne. Ein weiterer entscheidender Faktor für die Zugkraft der DMG Braunschweig ist ihr massives und diversifiziertes Onlineangebot. Als mit den Kontaktbeschränkungen der Corona-Pandemie Veranstaltungen in Präsenz nur eingeschränkt möglich waren, entwickelte die DMG Braunschweig als Alternative ihre Onlineangebote deutlich weiter. So werden die wöchentlichen Freitagspredigten und Vorträge per Livestream übertragen und später auf dem eigenen YouTube-Kanal eingestellt. Damit erhöht die DMG ihre Reichweite deutlich und ist auch für ein überregionales Publikum relevant. Zudem passt sich die DMG dem aktuellen Trend Sozialer Medien an und stellt kurze Clips, in denen Prediger Antworten auf Zuschauerfragen geben, über ihre Kanäle auf Instagram, Telegram, TikTok oder YouTube ein. Diese Accounts zeigen, welch enorme Strahlkraft die DMG über ihre Online-Aktivitäten inzwischen entfaltet. Viele der eingestellten Videos wurden mehrere tausend Mal aufgerufen und der Zuwachs an Followern hält weiter an. Ende 2022 folgten der DMG Braunschweig auf TikTok 23.300 Personen, während sich die Abonnenten auf YouTube im Laufe des Jahres 2022 von etwa 40.000 auf inzwischen sogar 61.900 erhöht haben. Der DMG Braunschweig ist es somit möglich, omnipräsent für die eigene salafistische Ideologie zu werben und jungen Menschen, ausgerichtet an deren Lebensrealität und Kommunikationsverhalten, jederzeit salafistisches Gedankengut zur Verfügung zu stellen. Die in der Moschee der DMG Braunschweig gehaltenen und über die Online-Kanäle verbreiteten Predigten behandeln häufig 217 Islamismus allgemeine Glaubensthemen. Sie sprechen damit gezielt Menschen an, die auf der Suche nach einem Lebenssinn sind, um sie in einem weiteren Schritt über die entsprechenden Ansprechpartner weiter in die Szene hineinzuführen. In vielen der Predigten werden aber auch explizit salafistische Auffassungen vertreten, wie z. B. in einem Vortrag von Amir al-Kinani alias Abu Azma am 05.02.2022: "... diese Liebe und Loyalität müssen wir haben für die Muslime... solange sie Muslime sind, muss unsere absolute Loyalität gegenüber diesen sein, ja, und die Loyalität darf niemals, was? Darf niemals sozusagen zu den Kuffar sein und dass wir sie unterstützen und gegen die Muslime sozusagen sie unterstützen, denn der Muslim, der diesen Glauben im Herzen hat, er freut sich, wenn Muslime mehr werden, er freut sich, wenn die Muslime gewinnen und nicht, wenn sie verlieren..." (Livestream auf YouTube am 05.02.2022, "Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e.V." (DMG e.V.), "NAWAQID AL - ISLAM (TEIL 2) mit Amir") Abu Azma beschreibt hier die Umsetzung des salafistischen Konzepts "al-Wala wa-l-Bara", was so viel wie "Loyalität zum Glauben und Lossagung vom Unglauben" bedeutet. In dieser einfachen dualistischen Sichtweise wird die Welt in zwei gegensätzliche Lager eingeteilt: Auf der einen Seite die Salafisten als die vermeintlich wahren Muslime und auf der anderen Seite die Ungläubigen (arab. kuffar), von deren schädlichen Einflüssen man sich fernhalten müsse. In der Folge soll ein Salafist keine Kontakte mehr zu anderen Menschen unterhalten, die nicht dem im salafistischen Sinne richtigen Islamverständnis anhängen. Damit verbunden ist auch eine bewusste Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft und eine Ablehnung des politischen Systems der Demokratie, wie Abdelilah Belatouani alias Abu Rumaisa in einem Vortrag am 28.10.2022 ausführt: "...dann gibt es aber Andere, die noch schlimmer sind und die einen falschen Islam predigen, der den Kuffar gefällt, indem sie sagen Demokratie gehört zum Islam, Demokratie ist mit Islam vereinbar, schwul und lesbisch sein ist ok, solange man andere nicht stört, usw., nur damit sie dem Kafir gefallen, damit der Kafir sagt: 'ihr seid tolle Muslime, ihr seid moderate Muslime!'..." (Livestream auf YouTube am 28.10.2022, "Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e.V. " (DMG e.V.), "Verheimlichen vom islamischen Wissen mit Abu Rumaisa") 218 Islamismus Die Aussagen der Prediger in der Moschee der DMG Braunschweig machen den absoluten Geltungsanspruch der von ihnen vertretenen salafistischen Ideologie deutlich, unabhängig davon ob es um grundsätzliche Fragen, wie die Akzeptanz der politischen Ordnung oder um die private Lebensgestaltung geht. So legitimiert Ibrahim El-Azzazi in einer Predigt am 18.03.2022 die Vielehe und postuliert dabei auch die untergeordnete Rolle der Frau gegenüber dem Mann: "...eine Schwester fragt, gibt es die Möglichkeit, für eine Schwester, nur dann ihn zu heiraten, wenn er nicht die Vielehe eingehen wird? Was sie machen kann, ist, dass sie als Bedingung stellt, dass er keine zweite oder dritte Frau nach ihr heiratet, jedoch sie kann ihn nicht davon abhalten. Aber wenn sie diese Bedingung stellt beim Ehevertrag und dann macht er es trotzdem, dann hat sie die freie Wahl sich von ihm zu trennen, ob er möchte oder nicht..." (Livestream auf YouTube am 18.03.2022, "Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e.V." (DMG e.V.), "Qur'an - Verse zum Fasten mit Ibrahim") In einer Predigt am 12.11.2022 thematisiert Abu Azma die Genitalbeschneidung bei Frauen. Auch an diesem Beispiel wird der allumfassende Geltungsanspruch salafistischer Lehrmeinungen deutlich, obwohl die von ihm vertretene Auffassung eindeutig gegen Grundwerte, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder die freie Persönlichkeitsentfaltung, verstößt: "...ist die Beschneidung eine Pflicht? Wenn wir hier von dem Mann sprechen, dann ist die Beschneidung eine Pflicht und bei der Frau sind sich die Gelehrten uneinig. Ist das für die Frau eine Pflicht oder ist das für die Frau keine Pflicht? Natürlich, wenn wir von der Frau sprechen, viele Leute haben, wenn wir dieses Wort 'Beschneidung' sagen, irgendwelche Hinterhöfe in Namibia im Kopf, davon ist natürlich nicht die Rede, sondern wir reden hier von einem sauberen Krankenhaus, wo einfach nur aus Sauberkeitsgründen diese Beschneidung stattfindet. Und hier sagen wir sind die Gelehrten sich uneinig, bei der Frau ist die Beschneidung eine Pflicht oder ist sie erwünschenswert, das sind die Meinungen der Gelehrten..." (Livestream auf YouTube am 12.11.2022, "Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e.V. " (DMG e.V.), "8) BEKÄMPFUNG DER MENSCHEN, BIS... mit Amir") 219 Islamismus Zu den Aktivitäten der DMG Braunschweig gehörte in der Vergangenheit auch die Durchführung von Infoständen unter dem Motto "Aufklärung über den Islam". Diese wurden zuletzt durch die Stadt Braunschweig auf Basis des SS 18 Abs. 1 a NStrG aufgrund des Ex tremismusbezugs nicht mehr genehmigt. Das dort verteilte Material umfasste zum Teil Ansichten, die mit einer liberalen Gesellschaft nicht vereinbar sind. So wurden in den Publikationen das Auspeitschen und Amputieren von Gliedmaßen als von Gott festgelegte Strafen postuliert, eine Unterordnung der Frau legitimiert oder der kämpferische Jihad als Pflicht zur Verteidigung des Islams oder der muslimischen Länder gerechtfertigt. Die DMG Braunschweig ist zwar zuletzt nicht mehr mit Infoständen in Erscheinung getreten, jedoch wurden im Jahr 2022 mehrere Dawa-Initiativen bundesweit festgestellt, die einen Bezug zur DMG Braunschweig haben. Diese treten mit unterschiedlichen Namen auf, die ausgelegten Infomaterialien sind jedoch zum Großteil identisch mit denen der DMG Braunschweig, bzw. wurden von dieser herausgegeben. Häufig sind in diese Dawa-Projekte auch Prediger involviert, die regelmäßig in der DMG Braunschweig auftreten. Somit können diese Infostände als überregionale Ausweitung der Dawa-Aktivitäten der DMG verstanden werden, was einmal mehr die große Bedeutung der DMG Braunschweig für die salafistische Szene in ganz Deutschland deutlich macht. 4.5 Internationaler islamistischer Terrorismus Der internationale islamistische Terrorismus stellt eine große Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft dar und ist nach wie vor eine Gefahr für die innere Sicherheit Europas und Deutschlands. Diese Gefahr realisierte sich auch 2022 weiterhin durch Anschläge und Anschlagsversuche. Die Aktivisten des islamistischen Terrorismus sind überwiegend von der jihadistischsalafistischen Ideologie geleitet. Sie propagieren die Bedrohung der islamischen Welt durch einen anhaltenden Angriff des Westens, 220 Islamismus angeführt von den USA. Um die von ihnen angestrebten Lebensumstände der "urislamischen Gemeinschaft" des 7. Jahrhunderts auf der Arabischen Halbinsel herstellen zu können, müsse zunächst die vermeintliche Überlegenheit des Westens in der muslimischen Welt beendet werden. Terroristische Organisationen "Al-Qaida" "Al-Qaida" hat seit ihrer Gründung in den 1980er-Jahren durch Usama Bin Ladin das Ziel der Bekämpfung von "Ungläubigen". Neben unzähligen weltweit verübten Anschlägen von "al-Qaida", gelten die Anschläge vom 11.09.2001 in New York und Washington zweifelsfrei als die verheerendsten auf die westliche Welt. Die damit einhergehende Bekämpfung der Terrororganisation - vor allem durch die USA - führte dazu, dass "al-Qaida" ihre Struktur vom einheitlichen stark hierarchischen Gebilde hin zur Regionalisierung in mehrere regional verankerte terroristische Organisationen veränderte. Die folgende Aufzählung zeigt einige der weltweit agierenden "al-Qaida"-Ableger: f Die "al-Shabab" gilt in Afrika als eine der berüchtigtsten Terrororganisationen mit dem Ziel, einen islamischen Staat zu etablieren. Die Organisation gilt seit 2012 als "al-Qaida"-Ableger vor allem in den Ländern Somalia und Kenia. f Ein weiterer "al-Qaida"-Ableger ist "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM), der vor allem in den Maghreb-Staaten und in der Sahelzone aktiv ist und dort regelmäßig Anschläge verübt. 221 Islamismus f Der Ableger "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) ist vor allem im Jemen aktiv und konnte die prekäre Lage im Jemen-Krieg für seine Etablierung im Land nutzen. Die Schlagkraft von AQAH wurde insbesondere durch den Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris am 07.01.201593 deutlich, für den sie die Verantwortung übernahm. f Mit der "Jabhat al-Nusra" (JaN, auch: "al-Nusra Front") ist "al-Qaida" seit 2011 in dem weltweit wohl bedeutendsten Jihadschauplatz in Syrien und im Irak vertreten. 2016 trennte sich die JaN formal von "al-Qaida" und nannte sich fortan "Jabhat Fatah al-Sham" (JFS, "Front für die Eroberung der Levante"). Im Jahre 2017 wurde der organisatorische Dachverband "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS, "Organisation zur Befreiung der Levante") gegründet, der mehrere terroristische Milizen - u. a. auch die JFS als stärkstes Mitglied - vereint. Dabei löste sich HTS sowohl ideologisch als auch strategisch zunehmend von "al-Qaida" und verfolgt eine primär lokale Agenda. Dies führte zur Gründung der "al-Qaida"-nahen Gruppierung "Tanzim Hurras al-Din" (THD). Ferner steht HTS dem IS feindlich gegenüber und hat ihn als bedeutendste jihadistisch ausgerichtete Gruppierung in Syrien abgelöst. f Die Gruppierung "Tanzim Hurras al-Din" (THD) trat erstmals im Februar 2018 in Syrien in Erscheinung und besteht vor allem aus ehemaligen Mitgliedern der HTS, die "Kern-al-Qaida" ihre Treue schworen. Somit gilt THD als lokaler "al-Qaida"-Ableger in Syrien. f Die Gruppierung "al-Qaida auf dem indischen Subkontinent" (AQIS) wurde im Jahre 2014 gegründet und gilt als "al-Qaida"-Ableger in Südasien. Ihr Ziel ist es u. a., ein islamisches Kalifat zu errichten und die Scharia einzuführen. Neben den "nahen" Feinden, wie das pakistanische Militär, extremistische Hindus in Indien und die Regierungen in Bangladesch und Myanmar definiert AQIS die USA, Israel und darüber hinaus alle Christen und Juden als "fernen" Feind. f Außerdem unterhält "al-Qaida" gute Beziehungen zu Bereichen der "Taliban", die seit Jahrzehnten vor allem in Afghanistan und 93 Der Hauptangeklagte wurde am 16.12.2020 in Paris zu 30 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. 222 Islamismus in den umliegenden Ländern unzählige Terroranschläge verüben und seit August 2021 Afghanistan faktisch regieren. Oft besteht zwischen den "al-Qaida"-Ablegern eine intensive Verbindung zwecks gegenseitigen Trainings oder Waffenhandels. Im Vergleich zu Beginn der 2000er Jahre geht die eigentliche Gefahr von "al-Qaida" inzwischen von den lokalen Ablegern aus. Diese Organisationen berufen sich - neben einer jeweils eigenen regionalen Agenda - auf die "al-Qaida"-Ideologie des globalen militanten Jihad. Auch die Tötung des Kern-"al-Qaida"Chefs Ayman al-Zawahiri am 31.07.2022 durch einen US-Drohnenanschlag in Kabul wird kaum Einfluss auf die terroristischen Aktivitäten des globalen "al-Qaida" Netzwerks haben. In den letzten Jahren ist al-Zawahiri nur wenig öffentlich in Erscheinung getreten. Er hat ohnehin nicht über die Strahlkraft und den Einfluss seines Vorgängers Usama Bin Ladin verfügt. "Islamischer Staat" (IS) Nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins im Jahr 2003 entstand im Irak ein Machtvakuum, in dem sich der Ableger "al-Qaidas" im Irak (AQI) unter der Führung von Abu Musab al-Zarqawi behaupten konnte. Nach innerorganisatorischen Differenzen übernahm Abu Bakr al-Baghdadi im Jahre 2010 die Führung dieser Organisation. Al-Baghdadi konnte immer mehr lokale Jihadisten für sich gewinnen und ging Allianzen mit anderen jihadistischen Organisationen ein. Infolge ihrer finanziellen und strukturellen Stärke baute die Gruppierung ihre Macht aus und sagte sich 2013 mit der umbenannten Terrororganisation "Islamischer Staat im Irak und der Levante" (ISIL) von "al-Qaida" los, womit sie fortan im Konflikt zu Kern-"al-Qaida" und den "al-Qaida"Ablegern stand. Aufgrund der militärischen Erfolge und einer massiven und professionellen weltweiten Propaganda strömten tausende von europäischen FreiwilliFlagge des IS; in Deutschland verboten gen nach Syrien und in den Irak, um sich dort dem Kampf für einen islamischen Staat anzuschließen. Die Zahlen stiegen insbesondere, als sich die Organisation in "Islamischer Staat" umbenannte und am 29.06.2014 das Kalifat ausrief. Mit dessen Ausrufung beanspruchte al-Baghdadi, nunmehr als Kalif Ibrahim auftretend, die Oberhoheit über alle Muslime weltweit. In der darauffolgenden Zeit etablierte der sogenannte Islamische Staat (IS) in den von ihm eroberten 223 Islamismus Gebieten mit brutaler Gewalt eine Staatlichkeit nach den vermeintlich wahren islamischen Prinzipien. Die Ende 2014 gegründete Internationale Allianz gegen den IS konnte die Terrororganisation dahingehend bekämpfen, dass al-Baghdadi Ende Februar 2017 in einer Ansprache vor Anhängern die militärische Niederlage einräumte und die Kämpfer aufforderte, sich in unzugänglichen Bergregionen zu verschanzen. Im Laufe des Jahres 2017 verlor der IS den Großteil des bislang von ihm kontrollierten Territoriums, sodass der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi den IS im Irak für besiegt erklärte. Die andauernde Bekämpfung des IS führte darüber hinaus dazu, dass im Rahmen einer US-Militäroperation am 26.10.2019 al-Baghdadi getötet wurde. Die Nachfolger al-Baghdadis betonten jedoch, die Mission des IS weiterführen zu wollen und rufen nach wie vor zu weltweiten Anschlägen auf. IS-Anhänger wurden aufgefordert, gefangene Kämpfer zu befreien und neue Anhänger zu werben. Auf den territorialen Totalverlust des Kalifats reagierte der IS mit einer Änderung seiner Operationsweise, weg vom Staatsbildungsprojekt, zurück zu einer im Untergrund agierenden Terrororganisation. Durch den massiven militärischen Druck hat der IS zahlreiche Kämpfer und materielle Ressourcen verloren, wodurch er deutlich an Handlungsfähigkeit eingebüßt hat. Dennoch konnte der IS auch im Jahre 2022 seine Wirkmächtigkeit unter Beweis stellen und teils komplexe und aufwändige Terroranschläge in Syrien und im Irak verüben. Der Islamische Staat entfaltet seit seiner Gründung eine starke Strahlkraft auch für die Bundesrepublik Deutschland. Seit Beginn der Auseinandersetzung in Syrien und im Irak sind mit Stand Ende 2022 1.150 deutsche Islamistinnen und Islamisten aus Deutschland in Richtung Syrien/Irak ausgereist. Zu etwa 65 Prozent dieser gereisten Personen liegen konkrete Anhaltspunkte vor, wonach sie unter anderem auf Seiten des IS oder der "al-Qaida" an Kampfhandlungen teilgenommen haben oder diese in sonstiger Weise unterstützt haben. Etwa 40 Prozent der ausgereisten Personen befindet sich mittlerweile wieder in Deutschland. Aus Niedersachsen sind 85 Personen in das Krisengebiet ausgereist, von denen mittlerweile 43 nach Deutschland zurückgekehrt sind. 224 Islamismus Obgleich der IS in Syrien und im Irak sein Herrschaftsgebiet verloren hat, stärkt er die Präsenz in seinen Außengebieten umso intensiver. Der IS spricht von weltweit 20 Provinzen außerhalb von Syrien und des Irak, in denen er durch regionale Ableger vertreten sei. Oft handelt es sich hierbei um lokale bereits bestehende Terrororganisationen, die sich dem IS anschließen und in seinem Namen Terroranschläge verüben. Außer mit eigenem Propagandamaterial unterstützt der IS seine lokalen Ableger mit finanziellen Mitteln, die nicht nur zur Umsetzung von Terroranschlägen dienen sollen, sondern ebenfalls zur Rekrutierung neuer Mitglieder sowie zur Behauptung des Einflussgebietes gegenüber konkurrierenden Terrororganisationen. IS-Ableger sind unter anderem in einigen Ländern Asiens vertreten, wie in Afghanistan, Indonesien, Indien oder auf den Philippinen, aber auch in Afrika. Hier konnte sich der IS vor allem in Nordafrika, der Sahelzone, der Tschadseeregion und in Ägypten ausbreiten. In all diesen Gebieten existiert ein idealer Nährboden für den Aufstieg des IS, wie Korruption, schwache oder gescheiterte Regierungen und ethnische und religiöse Konflikte. Auch im Jahr 2022 sind weltweit zahlreiche Terroranschläge dem IS zuzuschreiben, die oft von eben diesen IS-Ablegern verübt wurden. Besonders betroffen von IS-Anschlägen ist Afghanistan. Im Jahr 2015 rief der IS die Provinz Khorasan als regionalen Ableger für Afghanistan und Pakistan aus und verübte dort zahlreiche Anschläge. Beispielhaft sei hier die Anschlagsserie am 21. und 22.04.2022 zu nennen. In der nordafghanischen Stadt Masar-i-Sharif sind bei einer Explosion in einer Moschee 31 Menschen getötet und mehr als 80 verletzt worden. Am darauffolgenden Tag ereignete sich in der afghanischen Stadt Kundus ein weiterer Terroranschlag. Eine Bombe explodierte in einer Moschee während des Freitagsgebets. Dabei wurden 33 Menschen getötet und mehr als 40 verletzt. Nach der Machtübernahme der Taliban nahm die Zahl der Terroranschläge in Afghanistan stark zu. Dabei verübte insbesondere der IS Anschläge gegen Schiiten und die Taliban. Ein weiterer Schwerpunkt von IS-Attentaten sind afrikanische Staaten. Z. B. verübte am 22.05.2022 die IS-nahe Terrororganisation "Boko Haram" in der nigerianischen Stadt Borno einen Anschlag, bei dem mehr als 50 Menschen starben. Und am 07.08.2022 verübte 225 Islamismus der IS-Ableger "Islamischer Staat in der Größeren Sahara" (ISGS) im westafrikanischen Mali einen Anschlag auf Soldaten, bei dem 21 Menschen starben und 22 verletzt wurden. Weitere Jihadschauplätze finden sich insbesondere in Indien, Indonesien, im Jemen, in Libyen, Pakistan, auf den Philippinen, in der Sahelregion und in Sri Lanka, wo der IS nach wie vor präsent ist. "Taliban" Die "Taliban"-Bewegung wurde Anfang der 1990er Jahre in Pakistan gegründet und setzte sich aus paschtunisch-afghanischen Flüchtlingen und Veteranen des Krieges gegen die Sowjetunion zusammen. Nachdem die "Taliban" ab 1994 weite Teile Afghanistans eroberten und sich ihnen zahlreiche Jihadisten anschlossen, riefen sie im Jahr 1996 das "Islamische Emirat Afghanistan" aus. Unter ihrer Herrschaft wurde das Land autoritär regiert und jegliche Opposition brutal unterdrückt. Sie führten die Scharia ein, was zu umfangreichen Einschränkungen, insbesondere für Frauen und Mädchen, führte. Flagge der Taliban Unter der "Taliban"-Herrschaft fand "al-Qaida" unter der Führung von Usama Bin Ladin einen sicheren Unterschlupf und konnte sich mit der staatlichen Unterstützung der "Taliban" zu einer schlagkräftigen internationalen Terrororganisation entwickeln und die Terroranschläge vom 11.09.2001 vorbereiten und ausführen. Aufgrund dieser Unterstützung wurden neben "al-Qaida" auch die "Taliban" zum Ziel des Anti-Terror-Kampfes der USA. Nach 9/11 intervenierten die USA und weitere Verbündete militärisch, woraufhin die "Taliban"-Herrschaft bereits Ende 2001 beendet wurde und zahlreiche Anhänger vor allem nach Pakistan flüchteten. In den darauffolgenden Jahren entwickelten sich die "Taliban" zu einer brutalen Terror organisation, die weiterhin bemüht war, Teile Afghanistans unter ihre Kontrolle zu bringen. Dabei verstrickten sie die internationalen Truppen in einen Guerillakrieg und nutzten insbesondere Selbstmord attentäter, um nicht nur ihre Feinde, sondern auch die Stabilität des gesamten Landes zu schwächen. Nach einem UN-Bericht waren die "Taliban" in dem 20 Jahre andauernden Bürgerkrieg für circa 75 Prozent der zivilen Opfer verantwortlich. 226 Islamismus Nach knapp 20 Jahren führten die USA und die "Taliban" erstmals Gespräche mit dem Ziel, Frieden in das vom Bürgerkrieg geplagte Land zu bringen. In dem sogenannten Abkommen von Doha wurde im Jahr 2020 eine Friedensvereinbarung getroffen, die Sicherheitszusagen seitens der "Taliban" und den Abzug aller USund internationaler Truppen regelten. Danach gab es zwar eine weitgehende Waffenruhe zwischen den "Taliban" und den USA und deren Verbündeten, jedoch bemühten sich die "Taliban" weiterhin, Gebiete in Afghanistan zu erobern und verübten zahlreiche Terroranschläge gegen die afghanischen Streitkräfte. Zum 31.08.2021 wurden entsprechend des Doha-Abkommens alle USund internationalen Truppen aus Afghanistan abgezogen. In der Folge konnten die "Taliban" innerhalb weniger Tage fast das gesamte Land erobern. Die meisten Gebiete wurden dabei kampflos übergeben. Während die "Taliban" schließlich Mitte August 2021 Kabul kampflos einnahmen, floh der afghanische Präsident aus dem Land. Die "Taliban" erklärten sich zum Sieger und riefen, wie bereits 1996, erneut das "Islamische Emirat Afghanistan" aus. Seit deren Machtergreifung werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen registriert. Unter anderem werden die Rechte von Frauen und Mädchen immer stärker eingeschränkt, Medien unterdrückt und vermeintliche Kritikerinnen und Kritiker mundtot gemacht. Bei Verstößen droht die Religionspolizei mit zum Teil öffentlichen Prügelstrafen, Auspeitschungen, Verstümmelungen oder Gefängnis. Terror-Propaganda Terrororganisationen nutzen ganz intensiv das Internet zur Verbreitung ihrer jihadistischen Propaganda. Allen voran sind auch hier "al-Qaida" und der IS zu nennen, die unterschiedliche Formate wie Bilder, Videos, Zeitschriften, Anschlagsberichte und Interviews über soziale Netzwerke im Internet verbreiten. Zur Bedeutung der Online-Propaganda sagte bereits der "al-Qaida"-Gründer Usama Bin Ladin: "Es ist offensichtlich, dass in diesem Jahrhundert der Medienkrieg die stärkste Waffe ist." Und tatsächlich besagen zahlreiche Studien, dass die langjährige Existenz von terroristischen Organisationen allein aufgrund des Internets und der damit verbundenen weltweiten Vernetzung möglich ist. 227 Islamismus Das Ziel der jihadistischen Propaganda dient oft der Verbreitung der eigenen Ideologie, Einschüchterung, Rekrutierung neuer Mitglieder und letztlich der Ausdehnung des eigenen Einflussgebietes. Für die Terrororganisationen hat das Internet als Propaganda-, Rekrutierungsund Ausbildungsinstrument für Jihadisten eine überaus wichtige Funktion. Propagandaaktivitäten im Internet werden in internen Kreisen sogar als eine Form des Jihads anerkannt. Jihadisten nutzen die Möglichkeiten des Internets gezielt und fachkundig und reagieren schnell auf aktuelle Entwicklungen. Anhänger und Sympathisanten der Szene, die aus unterschiedlichen Gründen nicht am bewaffneten Kampf teilnehmen können, spielen eine bedeutende Rolle im virtuellen Raum und leisten einen entscheidenden Beitrag zur Verbreitung des globalen Jihads. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass in Terrororganisationen überaus viele Ingenieure und Informatiker vertreten sind, die über eine entsprechende IT-Kompetenz verfügen. Es ist zu beobachten, dass jihadistische Propaganda die Radikalisierungsprozesse beschleunigen kann und dass die Phasen der Radikalisierungsverläufe dabei immer kürzer werden. Bei den großen islamistischen Terrororganisationen "al-Qaida" und IS gilt das Internet - mehr noch als Moscheen oder Gefängnisse - als wichtigste Plattform für die Radikalisierung und Rekrutierung. Trotzdem hat die Propaganda der Organisationen jeweils einen eigenen inhaltlichen Fokus und wird dementsprechend auch mit einer eigenen Taktik verbreitet. "Al-Qaida"-Propaganda Mit der Regionalisierung "al-Qaidas" hat sich auch ihre Propaganda verändert. Bereits in den 1990er Jahren hatte "al-Qaida" begonnen, das Internet zur Verbreitung ihrer Botschaften zu nutzen. Jedoch erfolgte die Propaganda bis Ende des letzten Jahrzehnts vorwiegend auf Arabisch und in weiteren nahöstlichen Sprachen, sodass Muslime im Westen nur eingeschränkt erreicht werden konnten. Mit der Regionalisierung der Organisation und der gleichzeitigen Fortentwicklung des Internets veränderte sich dies. Die verschiedenen jihadistischen Organisationen sind dazu übergegangen, zunächst in englischer, dann auch in weiteren westlichen Sprachen für den militanten Jihad zu werben. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf 228 Islamismus der Radikalisierung von Islamisten, die in autark operierenden Kleingruppen oder als Einzeltäter im Westen tätig werden und Anschläge verüben sollen. Für den "al-Qaida"-Ableger AQAH ist das Internet das wichtigste Werkzeug für seinen gewaltsamen Jihad. In den vergangenen Jahren gehörten die beiden Online-Zeitschriften "Inspire" und "al-Haqiqa" zu den wichtigsten Propagandamedien der Terrororganisation für die westliche Welt. Inhalt dieser Zeitschriften waren - neben dem Aufruf, jede erdenkliche Art von Anschlägen zu verüben - vor allem Anleitungen zum Bombenbau wie "How to make a Bomb in the Kitchen of your Mom" und Kurzanleitungen zum Erlernen grundlegender Internetfertigkeiten, um die Online-Propaganda zu intensivieren und den Jihad im virtuellen Raum voranzutreiben. Auch im Jahr 2022 veröffentliche "al-Qaida" eine Vielzahl von Online-Zeitschriften, wie die dritte Ausgabe der Zeitschrift "Wolves of Manhattan", die zum 20. Jahrestages der Anschläge vom 11.09.2001 herausgegeben wurde. Neben dem Aufruf zu Einzeltäteranschlägen im Westen versucht "al-Qaida" den Ukraine-Krieg für ihre propagandistischen Zwecke zu nutzen. Sie wirbt für die Ausreise in die Ukraine, um nicht etwa auf Seiten einer der Kriegsparteien zu kämpfen, sondern um Kampferfahrung zu sammeln und in den Besitz von Waffen zu gelangen. Dies solle letztlich für die Planung und Durchführung von jihadistischen Anschlägen im Westen nützlich sein. "Al-Qaida" bringt seit 2019 eine arabischsprachige Online-Zeitschrift mit dem Titel "One Ummah" (eine islamische Gemeinschaft) heraus. Darin ruft "al-Qaida" zur Einheit aller Mujahideen auf und betont wie bedeutend es für "al-Qaida" ist, dieses Ziel zu erreichen. Die Zeitschrift ruft zu Anschlägen von islamistischen Einzeltätern in westlichen Ländern auf. Die erste englischsprachige Ausgabe dieser Zeitschrift wurde eigenen Angaben Zeitschrift "Wolves of Manhattan" zufolge zum "18-jährigen Jubiläum" der Anschläge auf das World Trade Center am 11.09.2019 veröffentlicht. Bis Ende 2022 sind fünf englischsprachige Ausgaben der Zeitschrift erschienen. Darin ruft "Al-Qaida" immer wieder zu Anschlägen gegen die USA, Israel und Juden auf. 229 Islamismus Darüber hinaus veröffentlichte "al-Qaida" im Jahr 2022 die neue englischsprachige Online-Zeitschrift "Mujahideen in the West", die bis Ende 2022 bereits sechs Ausgaben zählte. Adressiert sind in westlichen Ländern lebende radikalisierte Personen, die Anschläge verüben und dabei so viele Menschen wie möglich töten sollen. "Al-Qaida" gibt Anleitungen zum Bau chemischer Waffen und zur Nutzung von Messern für einen Anschlag. "Al-Qaida" hofft mit dieser Zeitschrift verstärkt junge radikalisierte Personen zu erreichen und sie zu Anschlägen zu motivieren. Der "al-Qaida"-Ableger AQIS veröffentlicht in regelmäßigen Abständen Botschaften, Propagandavideos und mindestens einmal im Quartal das Propaganda-Magazin "Ghazwat al-Hind" ("Eroberung des indischen Subkontinents"). In seiner Terror-Propaganda fordert er die Scharia als gültiges Gesetz in Indien, Kaschmir und Pakistan und ruft zu Anschlägen auf. IS-Propaganda Der Rückzug des IS im militärischen Bereich spiegelt sich auch in der offiziellen Propagandaproduktion wider. Während der IS noch im Jahr 2016 regelmäßig diverse Propagandazeitschriften produzierte, um dadurch neue Kämpfer zu rekrutieren, ist spätestens mit dem Zerfall seines Territoriums deren Produktion massiv reduziert worden. Zu den wichtigsten Propagandazeitschriften des IS der letzten Jahre gehörten die beiden Jihadmagazine "Dabiq"94 und "Rumiyah"95. Sie wurden in diverse Sprachen übersetzt, u. a. auch in Deutsch. Komplett eingestellt hat der IS die Produktion von Propagandazeitschriften aber nicht. Auch im Jahr 2022 veröffentlichte er in unregelmäßigen Abständen die Wochenzeitung "al-Naba" Wochenzeitung "al-Naba", in der über Anschläge berichtet und die Wirkmächtigkeit des IS propagiert wird. Einzelne Passagen werden in mehr als einem Dutzend Sprachen übersetzt, 94 Letzte Ausgabe erschienen am 31.07.2016. 95 Letzte Ausgabe erschienen am 09.09.2017. 230 Islamismus darunter auch ins Englische und Deutsche. Bis Ende 2022 sind 371 Ausgaben der Wochenzeitung erschienen. Die monatlich erscheinende englischsprachige Online-Zeitschrift "Voice of Hind" existiert seit Februar 2020 und zählt bis Dezember 2022 27 Ausgaben. Die Zeitschrift deckt insbesondere die Länder Indien und Pakistan ab. Neben dem Versuch, die Präsenz des IS auf dem indischen Subkontinent zu stärken, ruft die Zeitschrift zu Terroranschlägen in der Region auf. Im Jahre 2022 gab der afghanische IS-Ableger "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK) erstmals das englischsprachige Online-Magazin "Voice of Khurasan" heraus, das vor allem auf die Länder Afghanistan und Pakistan ausgerichtet ist. In dieser Zeitschrift thematisiert der IS insbesondere die Taliban, denen er feindlich gegenübersteht. Bis Ende 2022 wurden 19 Ausgaben der Zeitschrift veröffentlicht. Neben diesen Propagandazeitschriften veröffentlichen der IS bzw. IS-nahe Terrororganisationen auch weitere Publikationen und Propagandavideos, die allesamt darauf abzielen, die internationale Reichweite zu erhöhen und die Handlungsfähigkeit des IS auszuweiten. IS-Anhänger werden in allen Veröffentlichungen der Terrororganisation ausdrücklich dazu aufgerufen, sich mit eigenen Beiträgen zu beteiligen und bei der Gestaltung der Inhalte aktiv mitzuwirken. Die offizielle Propagandaproduktion des IS wurde im Jahr 2018 zwar reduziert, trotzdem werden - abgesehen von den IS-eigenen Publikationen - jihadistische Inhalte in sozialen Netzwerken von Einzelpersonen und losgelöst vom IS verbreitet. Dies ist vor allem auf die Strategie des IS zurückzuführen, seinen Sympathisantinnen und Sympathisanten Rohmaterial zur Produktion eigener Propaganda zur Verfügung zu stellen, das von diesen dann entsprechend aufbereitet und verbreitet werden kann. Der Fortbestand des Kalifats, zumindest im virtuellen Raum, ist dabei das Ziel, welches die Anführer aber auch die Anhänger der jihadistischen Szene in verschiedenen sozialen Netzwerken verfolgen. Eine nicht zu unterschätzende Anzahl an IS-Sympathisantinnen und -Sympathisanten wirkt dabei aktiv mit. Vor allem der Messenger-Dienst Telegram hat sich als für den IS geeignetes Medium für propagandistische Aktivitäten bewährt. Aber auch andere soziale Netzwerke werden von IS-Aktivisten als Plattformen genutzt. Es 231 Islamismus werden nicht nur gewaltverherrlichende Bilder, Videos und Audiodateien veröffentlicht, sondern auch Anleitungen zum Bombenbau und klare Aufrufe zu Anschlägen. Eine wichtige Zielsetzung ist es, neue Anhänger zu finden, die sich der Ideologie anschließen und diese aktiv unterstützen. Das Internet ermöglicht dabei eine weltweite Vernetzung der IS-Sympathisantinnen und -Sympathisanten und durch die Übersetzung der jihadistischen Inhalte in unterschiedliche Sprachen kann noch einmal ein viel breiteres Publikum erreicht werden. Es ist zu beobachten, dass sich auch die Aktivitäten in der deutschen IS-Unterstützerszene zunehmend in private und geschlossene Räume verlagern. Dabei spielt Telegram eine wichtige Rolle. In unterschiedlichen Kanälen und Gruppen verfolgen IS-Sympathisanten das Fortbestehen des IS in seinen unterschiedlichen regionalen Provinzen. Vielfach enthält die Propaganda auch Aufrufe zu Gewalttaten. Der Schwerpunkt der IS-Propaganda lag grundsätzlich auf der Situation in Syrien und im Irak sowie dem Aufruf zur Ausreise in die Gebiete des IS. Mit dem militärischen Niedergang des IS ist die Werbung für Ausreisen nach Syrien und in den Irak jedoch weniger geworden. Gleichzeitig wird vermehrt zu Anschlägen im Westen aufgerufen. Die militärische Zurückdrängung des IS in Syrien und im Irak führt also nicht zu einer Entspannung der terroristischen Gefährdungslage, vielmehr rücken die westlichen Länder stärker in den Fokus der IS-Propaganda. Bereits im Mai 2016 wurde diese veränderte Ausrichtung des IS an der Ramadan-Botschaft des damaligen IS-Sprechers Abu Muhammad Al-Adnani deutlich. Darin führte er aus, dass das Kalifat nicht zwingend an ein Territorium gebunden sei und betonte gleichzeitig, dass selbst kleine Anschläge im Westen eine große Bedeutung für den IS hätten. Wie schon in den Jahren zuvor, ruft der IS auch 2022 zu Einzeltäteranschlägen auf. Von besonderer Bedeutung seien dabei einfach durchzuführende Anschläge mit möglichst leicht zu beschaffenden Hilfsmitteln. Anschläge in Europa96 Trotz der jihadistischen Propaganda, die den Westen zunehmend in ihren Fokus nimmt, ist die Zahl der Anschläge im Vergleich zu den 96 Ohne Deutschland. Für Anschläge in Deutschland siehe Kapitel 4.6. 232 Islamismus vorherigen Jahren auf nunmehr drei Terroranschläge quantitativ zurückgegangen (2021: fünf Anschläge; 2020: zehn Anschläge). Gleichzeitig beweisen diese islamistisch motivierten Gewalttaten aber, dass es Terrororganisationen trotz des hohen Verfolgungsdrucks gelingt, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen und ihre Handlungsfähigkeit auch im Westen zu beweisen. f Am 02.03.2022 tötete ein 35-jähriger verurteilter Jihadist in einem Gefängnis in Arles (Frankreich) einen Mithäftling. Als Motiv gab der Angreifer an, dass das Opfer den Propheten Muhammad beleidigt hätte. Der Angreifer wurde zuvor zu einer neunjährigen Haftstrafe wegen der Planung eines Terroranschlags verurteilt. f Am 25.06.2022 schoss ein 42-jähriger Norweger mit iranischen Wurzeln in einem queeren Nachtclub in Oslo auf Menschen. Dabei wurden zwei Menschen getötet und 21 weitere verletzt. Der Attentäter sei den Behörden seit 2015 als radikalisierter Islamist bekannt. Die Polizei geht bei dem Attentäter von einem psychisch labilen Islamisten aus. In der Vergangenheit wurden bei dem Attentäter bereits psychische Auffälligkeiten festgestellt. f Am 10.11.2022 stach ein 32-jähriger Mann mit einem Messer auf zwei Polizisten in Brüssel ein. Der Täter ging zuvor auf eine Polizeiwache und sprach über seinen Hass auf die Polizei, drohte mit einem Anschlag und bat darum, ihn in eine Psychiatrie einzuweisen. Die Polizei übergab den Täter daraufhin einer Psychiatrie, die er kurz darauf wieder verlassen habe. Am selben Abend stach der Täter auf zwei Streifenpolizisten ein und soll dabei "Allahu Akbar" gerufen haben. Eine Polizistin starb bei dem Anschlag. Herbeieilende Kollegen konnten den Täter durch Schüsse aufhalten und festnehmen. Der Täter war den Behörden in der Vergangenheit als Extremist bekannt und mehrfach vorbestraft. Laut Ermittlungen gebe es zwar Hinweise, die auf ein islamistisches Motiv hindeuten, eine psychische Erkrankung als Auslöser der Tat konnte jedoch nicht ausgeschlossen werden. 233 Islamismus Anschlagsgeschehen/Modus Operandi Die im Jahr 2022 und auch in den Vorjahren verübten Anschläge zeigen durchgehend einen Modus Operandi, der genau den in der jihadistischen Propaganda dargestellten Methoden entspricht. Demnach sollen sich Anschläge durch eine unspezifische Opferauswahl, unterschiedliche Anschlagsorte, lose bis gar keine Kommandostrukturen und eine leichte Durchsetzbarkeit auszeichnen. Dieses Vorgehen offenbart sich für die islamistischen Terroristen zunehmend als überaus effektive Strategie: Alle Anschläge wurden von radikalisierten Einzelpersonen oder Kleingruppen begangen. Dabei wurden überwiegend leicht zu beschaffende und sehr effiziente Tatwaffen, wie Messer oder Kraftfahrzeuge, eingesetzt. Dieses Vorgehen erfordert einen geringeren Planungsaufwand und reduziert das Risiko einer Aufdeckung der Planungen durch die Sicherheitsbehörden im Vorfeld der Tat. Terrororganisationen veröffentlichen regelmäßig Handlungsempfehlungen für derartige Anschläge, die einen größtmöglichen Schaden anrichten sollen. So heißt es in einer Ausgabe der IS-Zeitschrift "Rumiyah" zu Anschlägen mit Kraftfahrzeugen, dass am besten hierfür ein "doppelrädriger Lastwagen" geeignet sei, der ein "leicht angehobenes Fahrgestell und Stoßstangen" sowie eine "gute Beschleunigung" aufweisen sollte. Derjenige, der auf diese Weise einen Anschlag durchführen wolle, könne einen entsprechenden Lkw kaufen, mieten oder ihn sich "mit Gewalt oder Täuschung" von einem "Kafir" (=Ungläubiger) beschaffen. Ebenso gibt es Anweisungen zu Angriffen mit Hiebund Stichwaffen. Der IS veröffentlichte z. B. Videos, in denen die Auswahl der richtigen Stichwaffe und der Einsatz von Messern in den unterschiedlichen Körperregionen erklärt wird, um den angegriffenen Personen größtmöglichen Schaden zuzufügen. Diese Vorgehensweise von Einzeltätern oder Kleingruppen ist u. a. auf den bereits im Jahr 2012 im "al-Qaida"-Propagandamagazin "Inspire" veröffentlichten Aufruf des Jihadtheoretikers Abu Mus'ab al-Suri, der den individuellen Jihad in den westlichen Ländern als eine der wichtigsten Strategien ansieht, zurückzuführen: 234 Islamismus "Das Fundament der operativen Aktivität ist, dass der Mujahid den individuellen Jihad in dem Land praktiziert, in dem er lebt, so dass er den Aufwand einer Reise in das Gebiet, wo der Jihad direkt praktiziert wird, nicht auf sich nehmen muss." (Inspire, Ausgabe Nr. 9, 2012) "Ideale Ziele" seien nach Meinung von al-Suri: "1. Große Veranstaltungen im Freien, Kongresse, Feiern und Paraden 2. Überfüllte Fußgängerzonen (Hauptstraßen) 3. Märkte im Freien 4. Kundgebungen im Freien" (Inspire, Ausgabe Nr. 9, 2012) Täterprofile Anhand der Anschläge der letzten Jahre lassen sich drei spezifische Profile von islamistischen Attentätern erkennen: f Home-grown-terrorism (einheimischer Terrorismus): Dieser Tätertyp ist im Land des Anschlagsziels aufgewachsen und gilt als in der Gesellschaft integrierte Person. Bei diesem Täterprofil kann es sich sowohl um dort aufgewachsene Einwanderer als auch um Konvertiten handeln. f Einsamer Wolf (lone wolf terrorism): Dieser Tätertyp bezeichnet eine Einzelperson, die sich selbst - vor allem über das Internet - radikalisiert und selbstständig einen möglichen Anschlag plant, vorbereitet und ausführt. Ferner vermeidet dieser umfangreichen Kontakt zu Gleichgesinnten. Da die Kommunikation dieses Tätertyps eng begrenzt ist, sind "einsame Wölfe" im Vorfeld schwer zu erkennen. f Personen mit Kampferfahrung aus Jihadgebieten: Bei diesem Tätertyp handelt es sich um Personen, die bereits eine Ausbildung durch eine jihadistische Terrororganisation erhalten haben und nun als Flüchtling oder Jihadrückkehrer im Westen leben. Entweder verfolgen sie eine langfristige Agenda oder externe Einflüsse veranlassen sie kurzfristig, ihr erworbenes Wissen im Sinne einer jihadistischen Organisation für einen Anschlag anzuwenden. 235 Islamismus 4.6 Islamistischer Terrorismus in Deutschland und Niedersachsen Der "Islamische Staat" ist trotz seiner territorialen Zurückdrängung weiterhin bemüht, seine Handlungsfähigkeit zu beweisen und weltweit Anschläge zu verüben. Über seine Propagandaaktivitäten ruft er seine Anhänger dazu auf, für den Jihad nicht mehr nach Syrien oder in den Irak auszureisen, sondern stattdessen Anschläge in den jeweiligen Heimatländern durchzuführen. Dabei stellt der IS in seiner Propaganda immer wieder klar, dass auch Deutschland als Angriffsziel betrachtet wird. Eine Gefahr für Deutschland geht neben Rückkehrerinnen und Rückkehrern aus den Jihadgebieten auch von einer quantitativ nur schwer eingrenzbaren Zahl an Personen aus, die sich im Inland aufhalten, radikalisiert haben oder den Prozess gerade durchlaufen. Dies kann auch für Personen gelten, die nach Deutschland geflüchtet und in Verbindung mit psychischen Auffälligkeiten zu bringen sind. Der IS nimmt hinsichtlich der Gefährdungssituation für Deutschland zwar eine übergeordnete Rolle ein, jedoch erklären auch weitere Terrororganisationen, wie "al-Qaida" und ihre regionalen Ableger, die Bundesrepublik als auserkorenes Ziel von Anschlägen. Folglich steht die Bundesrepublik Deutschland weiterhin im Fokus islamistischer Terroristen, sodass eine ernstzunehmende Bedrohungslage auch für Niedersachsen vorliegt. Die jüngsten Anschläge in Deutschland und Europa haben deutlich gemacht, dass jederzeit mit einem islamistisch motivierten Terroranschlag zu rechnen ist. Islamistisch-terroristische Szene in Deutschland Die islamistisch-terroristische Szene in Deutschland spiegelt die Heterogenität der globalen jihadistischen Bewegung wider. Sie umfasst einerseits Gruppierungen, die Beziehungen zu islamistisch-terroristischen Organisationen im Ausland haben und andererseits Kleingruppen und selbstmotivierte Einzeltäter, die an keine terroristische Organisation angebunden sind. Gerade die unabhängigen Gruppen und Einzelpersonen agieren in der Regel im Sinne der von internationalen Organisationen wie "al-Qaida" oder dem IS vorgegebenen Leitlinien, was sich nicht zuletzt auf deren massive 236 Islamismus Internetpropaganda für einen individuellen militanten Jihad im Westen zurückführen lässt. Die seit Jahren bestehende Drohkulisse islamistischer Terrororganisationen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und das Vorliegen entsprechender Gefährdungshinweise lassen sich auch anhand von Zahlen festmachen. Zum Ende des Jahres 2022 liegt das durch die deutschen Sicherheitsbehörden identifizierte islamistisch-terroristische Personenpotenzial bei rund 1.900 Personen (Stand 30.11.2022). Dabei handelt es sich sowohl um den polizeilich definierten Personenkreis der "Gefährder" und "Relevanten Personen", als auch um die durch die Verfassungsschutzbehörden darüber hinaus als gewaltbereit eingeschätzten Personen. Beispiele für die weiterhin hohe Gefährdungslage des islamistischen Terrorismus sind die im Folgenden genannten Anschläge in den vergangenen Jahren, vereitelten Tatausführungen und Verurteilungen. Anschläge in Deutschland Insbesondere im Jahr 2016 realisierten sich die Propagandaaufrufe in mehreren islamistischen Terroranschlägen in Deutschland, die in den meisten Fällen einen Bezug zum IS hatten. Dazu zählt das Messerattentat auf einen Bundespolizisten am 26.02.2016 im Hauptbahnhof Hannover, der Bombenanschlag auf ein Gebetshaus der Religionsgemeinschaft der Sikhs in Essen am 16.04.2016, die am 18.07.2016 ausgeführte Beilattacke in einem Regionalzug bei Würzburg und der Sprengstoffanschlag von Ansbach am 24.07.2016. Der bislang blutigste Anschlag aus einer islamistischen Motivation heraus in Deutschland wurde am 19.12.2016 in Berlin verübt. Der sich seit dem Jahr 2015 in Deutschland aufhaltende Tunesier Anis Amri brachte sich dabei in den Besitz eines schweren Lkw, indem er dessen Fahrer ermordete. Gegen 20 Uhr steuerte Amri den Sattelzug in die Einfahrt des Weihnachtsmarktes an der Gedächtniskirche und fuhr von dort etwa 80 Meter über den Markt durch die Besuchermenge. Dabei starben 12 Besucherinnen und Besucher des Weihnachtsmarktes, über 50 wurden verletzt, einige davon schwer. Amri konnte fliehen, wurde jedoch bei einer Routinekontrolle in Norditalien durch italienische Polizisten erschossen, nachdem er auf diese das Feuer eröffnet hatte. 237 Islamismus Nach der Serie von Terroranschlägen im Jahr 2016 verübten Attentäter 2020 vier Terroranschläge in Deutschland, die die Strategie und Propagandabemühungen der Terrororganisationen widerspiegeln und möglichst einfach durchzuführende Anschläge durch Einzeltäter oder Kleingruppen propagieren. Dazu zählen die Brandanschläge auf Läden türkischstämmiger Inhaber in Bayern von April und Mai 2020, der Anschlag mit einem Auto auf der Berliner Autobahn am 18.08.2020, mit dem Ziel, möglichst viele Verkehrsteilnehmer zu verletzen und zu töten, der Messerangriff auf einen Autofahrer am 13.09.2020 in Stolberg (Nordrhein-Westfalen) und der Messerangriff am 04.10.2020 in der Dresdner Innenstadt gegen zwei Männer, von denen einer tödlich verletzt wurde. Auch im Jahre 2021 verübten Attentäter zwei Anschläge. Am 04.09.2021 stach ein Mann unvermittelt auf eine Frau in Berlin ein und am 06.11.2021 verletzt ein Mann in einem ICE unvermittelt vier Mitreisende mit einem Messer. Das Jahr 2022 weist keine islamistisch motivierten Terroranschläge in Deutschland auf. Charakteristisch für die Anschläge der vergangenen Jahre ist sowohl, dass für sie Einzeltäter verantwortlich waren, als auch, dass diese häufig psychische Auffälligkeiten aufwiesen. Psychische Auffälligkeiten Trotz jahrzehntelanger Forschung zu den Zusammenhängen zwischen psychischen Erkrankungen und extremistischen Anschlägen konnten bisher keine eindeutigen Beweise dafür vorgelegt werden. In einer der wenigen phänomenübergreifenden Studien, die sich mit verschiedenen Tätertypen beschäftigt, zeigt sich jedoch, dass im Feld der Einzeltäter, psychische Erkrankungen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung durchaus häufiger festgestellt wurden, ebenso wie im Vergleich zu in Gruppen agierenden Tätern.97 Sofern bei den Attentätern Hinweise auf psychische Auffälligkeiten vorlagen, waren diese meist nicht offiziell diagnostiziert. Oft sprechen Angehörige oder Bekannte erst nach der Tat von "psychischen Auffälligkeiten". Gründe für eine Radikalisierung und die Tatumsetzung lassen sich häufig aber auch in den zerrütteten Biographien der Attentäter 97 Corner, E., Gill, P. (2015): A False Dichotomy? Mental Illness and Lone-Actor Terrorism. In Law and Human Behavior, Bd. 39, Nr. 1, S. 23-24. 238 Islamismus finden, ähnlich wie bei allgemeinkriminell auffällig gewordenen Personen. Ob und inwieweit Personen mit psychischen Erkrankungen anfälliger für extremistische Ideologien und/oder Gewalt sind, bedarf weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen. Die letzten islamistisch motivierten Anschläge in Deutschland und Europa wurden von Einzeltätern begangen. Für die Sicherheitsbehörden stellt sich hier die Herausforderung, zu beurteilen, ob eher die Verhaftung in der islamistischen Ideologie oder die psychische Erkrankung ursächlich für die Tat war. Häufig sind Personen in den westlichen Ländern, die in den dortigen Gesellschaften nicht integriert sind, anfälliger für Propaganda islamistischer Terrororganisationen. Psychische Probleme in diesem Personenkreis können diese Anfälligkeit durchaus verstärken. Dieser Umstand wurde insbesondere bei den Messerangriffen in Bayern im Jahr 2021 deutlich. Im Juni 2021 griff ein junger, aus Somalia stammender Mann mehrere Passanten in der Würzburger Fußgängerzone mit einem Messer an und tötete dabei drei Personen. Bereits kurz nach der Tat wurde diese als islamistisch motivierter Anschlag eingestuft. Im Zuge der Ermittlungen ergaben sich jedoch vermehrt Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Mannes. Im Gerichtsprozess wurde dem Mann Schuldunfähigkeit attestiert und eine unbefristete Unterbringung in einer forensischen Psychiatrie angeordnet. Ein islamistischer Tathintergrund wurde ausgeschlossen. Besonders ist in diesem Fall, dass bereits vor der Tat eine offizielle Diagnose bezüglich einer psychischen Erkrankung vorlag und der Attentäter bereits mehrfach in Behandlung war. Als im November 2021 ein damals 27-Jähriger in einem ICE bei Passau mehrere Menschen mit einem Messer angriff und sich direkt nach der Tat selbst als "krank" bezeichnete, rückte ein islamistisch motiviertes Tatmotiv vorerst in den Hintergrund. Im Laufe der Ermittlungen wurde jedoch deutlich, dass der Angreifer aus eindeutig islamistisch motivierten Gründen gehandelt habe. Die Ermittlenden fanden jihadistisches Propagandamaterial bei dem Attentäter. Zudem soll der Täter eigenen Angaben zufolge seine Erkrankung nur vorgetäuscht haben. Der genaue Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung, Radikalisierung und Gewaltausübung ist bislang noch nicht ausreichend aufgeklärt. Da Islamisten oft traditionelle Heilmethoden und mystische 239 Islamismus Erklärungen für psychische Krankheitssymptome bevorzugen, bleiben psychische Erkrankungen oft unerkannt und/oder werden falsch behandelt. Auch wenn derzeit keine validen Argumente vorliegen, nach denen islamistisch motivierte Anschläge mehrheitlich von psychisch auffälligen Personen verübt werden, wird das mögliche Zusammenspiel zwischen Radikalisierung, Gewaltanwendung und psychischen Erkrankungen die Sicherheitsbehörden weiterhin beschäftigen. Vereitelte Anschläge Auch im Jahr 2022 sind Anschlagsplanungen tatgeneigter Islamisten frühzeitig aufgedeckt oder in einem konkreten Vorbereitungsstadium vereitelt worden, u. a. in folgenden Fällen: f Am 29.01.2022 wurde ein 17-Jähriger aus Kerpen (Nordrhein-Westfalen) im Hauptbahnhof Hannover wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat festgenommen. In Vernehmungen hat er Ermittlern gesagt, dass er sich Gegenstände zum Bau einer Sprengvorrichtung bereits beschafft habe. Er habe Kontakt zu Personen aus dem Umfeld des im Jahre 2016 festgenommen Imams des verbotenen DIK Hildesheim, Abu Walaa98, gehabt. f Am 13.06.2022 wurde ein 60-jähriger Deutscher pakistanischer Abstammung aus Rheinland-Pfalz wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Terrorgruppe "Islamischer Staat" sowie der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat festgenommen. Der Verdächtige war bereits im Jahre 2009 zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Er galt aufgrund seiner Kontakte zu Anhängern der Terrororganisation "al-Qaida" als Mittelsmann in Deutschland und vermittelte mehrere deutschstämmige Extremisten zu "al-Qaida". Auch nach seiner Freilassung stand er im ständigen Kontakt zu Islamisten. Für den IS agierte er aus Deutschland, übersetzte insbesondere Texte, Videos oder Audiobotschaften des IS aus dem Arabischen ins Deutsche und verbreitete diese über Messenger-Dienste in den deutschsprachigen Raum. f Am 22.09.2022 wurde ein 16-jähriger Deutscher kosovarischer Abstammung in Iserlohn (Nordrhein-Westfalen) wegen des 98 Siehe hierzu im nächsten Abschnitt "Verurteilungen wegen Mitgliederwerbung oder Mitgliedschaft in ausländischen terroristischen Vereinigungen". 240 Islamismus Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat festgenommen. Er hat in Kontakt mit einem Anhänger des IS gestanden und bereits Informationen zum Bau eines Sprengsatzes bekommen. Der Verdächtige hatte sich dazu entschlossen, einen Messerangriff auf Polizeibeamte durchzuführen. Der Verdächtige war den Behörden bereits als Gefährder bekannt, er soll sich innerhalb weniger Monate stark radikalisiert haben. Die polizeilichen Maßnahmen und die teilweise im Vorbereitungsstadium aufgedeckten Anschläge zeigen, dass es nach wie vor eine aktive jihadistische Szene in Deutschland gibt. Die Festnahmen in Hannover und Iserlohn zeigen eine junge Generation von Jihadisten, die von Personen aus dem Umfeld des IS angeleitet wurden und zur wesentlichen Zielgruppe jihadistischer Propaganda gehören. Verurteilungen wegen Mitgliederwerbung oder Mitgliedschaft in ausländischen terroristischen Vereinigungen Auch im Jahr 2022 wurden mehrere Personen aus Niedersachsen im Zusammenhang mit dem islamistischen Terrorismus verurteilt. Zu den Straftatbeständen gehören dabei insbesondere die Unterstützung einer terroristischen Organisation im Ausland, die Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung IS oder die Terrorismusfinanzierung: f Das Oberlandesgericht (OLG) Celle gab am 01.06.2022 bekannt, dass eine 34-jährige Angeklagte aus Osnabrück wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland in fünf Fällen, davon u. a. in einem Fall in Tateinheit mit schwerer Entziehung Minderjähriger und mit Verletzung der Fürsorgeund Erziehungspflicht sowie in einem Fall in Tateinheit mit Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Versklavung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt wurde. Die IS-Rückkehrerin reiste 2014 nach Syrien aus und schloss sich dem IS an. Sie nahm ihre damals vierjährige Tochter gegen den Willen des Vaters mit. In Syrien heiratete sie nacheinander mehrere IS-Mitglieder, kümmerte sich um den Haushalt und ermöglichte ihnen somit, an Kampfhandlungen teilzunehmen. Ihre Tochter sowie ihre beiden in Syrien geborenen Söhne erzog sie im Sinne der islamistischen Ideologie 241 Islamismus des IS. Anfang 2019 wurde die Angeklagte in kurdischen Lagern untergebracht und am 07.10.2021 bei ihrer Einreise nach Deutschland festgenommen. f Am 29.08.2022 verurteilte das OLG Celle einen 27-jährigen Angeklagten aus dem Raum Hildesheim aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung im Ausland IS in Tateinheit mit der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung. Der Angeklagte hatte sich zwischen 2015 und 2016 als damals 20-Jähriger dem IS in Syrien angeschlossen. Dort hatte er eine militärische Ausbildung erhalten, sei jedoch nicht an Kampfhandlungen beteiligt gewesen. Im Jahr 2016 gelang ihm die Rückreise nach Deutschland. Vor seiner Ausreise nach Syrien war der Angeklagte Besucher des verbotenen DIK Hildesheim und nahm u. a. an Seminaren des inzwischen verurteilten salafistischen Predigers Abu Walaa teil. f Am 24.02.2021 verkündete das OLG Celle sein Urteil gegen den im Jahr 2016 festgenommenen Imam des DIK Hildesheim Ahmad Abdulaziz Abdullah A., alias Abu Walaa und verurteilte ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten. Am 12.09.2022 bestätigte der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil und verwarf die Revision der Verteidiger. Abu Walaa galt in der Zeit von 2014 bis 2017 als hochrangiger Verantwortlicher des IS in Deutschland. Er war Imam des DIK Hildesheim, einem zentralen Knotenpunkt der islamistisch-jihadistischen Szene in Deutschland und soll als führende Autorität seine Anhänger dazu ermuntert haben, sich im Sinne der IS-Ideologie zu radikalisieren und für den IS in Deutschland tätig zu werden oder nach Syrien und in den Irak auszureisen. Das OLG Celle hatte bereits im September 2017 das Hauptverfahren gegen Abu Walaa und weitere Unterstützer des IS aus seinem Umfeld gemäß SS 129a, b (Bildung einer terroristischen Vereinigung, auch im Ausland), SS 89c (Terrorismusfinanzierung) sowie SS 89a StGB (Beihilfe zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat) eröffnet. f Am 22.11.2022 verurteilte das OLG Celle einen 31-jährigen Angeklagten aus dem Raum Hildesheim wegen Unterstützung der terroristischen Vereinigung im Ausland IS in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. 242 Islamismus Der Angeklagte unterstützte seinen Bruder zwischen 2015 und 2019 in mehreren Bereichen, damit dieser für den IS in Syrien in führender Funktion tätig sein konnte. Unter anderem verhalf er dessen Frau und Kindern, nach Syrien auszureisen, verwaltete zwei vermietete Wohnungen seines Bruders, hielt den Kontakt zwischen seinem Bruder und Ausreisewilligen aus Deutschland. Der Angeklagte legte ein umfassendes Geständnis ab. Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus den Kriegsgebieten in Syrien und im Irak Nach der massiven Ausreisewelle von jihadwilligen Personen aus Deutschland in die Jihadgebiete nach Syrien und den Irak zwischen 2014 und 2016, stehen inzwischen vor allem die potenziellen Rückkehrerinnen und Rückkehrer im Fokus der Sicherheitsbehörden. Es ist nicht auszuschließen, dass die Personen eine militärische Ausbildung erhalten haben, hochgradig radikalisiert wurden oder an Kampfhandlungen teilgenommen haben und daher mit einem konkreten Ziel nach Deutschland zurück entsandt werden. Auch wenn eine "Rückkehrerwelle" bislang ausgeblieben ist, stellt jeder einzelne Rückkehrende ein potenzielles Sicherheitsrisiko dar. Grundsätzlich ist bei jeder dieser Personen deshalb von einem erhöhten Gefahrenpotenzial auszugehen. Da eine flächendeckende Überwachung nicht möglich ist, wird anhand einer Einzelfallprüfung ein individuelles Maßnahmenkonzept in Zusammenarbeit mit allen handelnden Akteuren im Bereich der Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und Deradikalisierung realisiert. Aufgrund einer geänderten Rechtsprechung geht der Generalbundesanwalt (GBA) auch gegen Frauen vor, die sich nicht an Kampfhandlungen beteiligt haben. Der Straftatbestand der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation gilt durch eine aktive Förderungshandlung, wie die Wahrnehmung häuslicher Pflichten oder der Kindererziehung im Sinne des IS, als erfüllt. Inzwischen sind nahezu alle Rückkehrwilligen wieder nach Deutschland zurückgekehrt. 243 Islamismus 4.7 Muslimbruderschaft (MB) Mitglieder/Anhänger: Niedersachsen: 195 Publikationen: Risalat ul-Ikhwan (Rundschreiben der Bruderschaft) Kurzportrait/Ziele: Die auch als "ideologische Mutterorganisation des politischen Islams" bezeichnete "Muslimbruderschaft" (MB) versucht mit ihrer Strategie der kulturellen Durchdringung der islamischen Staaten, die gesellschaftlichen Voraussetzungen zur Etablierung islamistischer Staatsmodelle zu schaffen. Die MB ist nach eigenen Angaben in über 70 Ländern präsent, in Deutschland u. a. durch die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD), die sich 2018 in "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG) umbenannt hat. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Den in das internationale Netzwerk eingebundenen deutschen Zweigen der MB ist der gleiche Auftrag gestellt wie den nahöstlichen Zweigen der Bruderschaft: Die Durchdringung von Staat und Gesellschaft durch die Ideologie des Islamismus mit der Scharia99 als allein gültiger Ordnung. Damit verfolgt die MB Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG. Logo der Muslimbruderschaft Ursprung und Entwicklungen Die sunnitische MB ging 1928 in Ägypten aus einer kleinen Gruppe von Männern um Hasan al-Banna hervor, die sich als "Brüder im Dienste des Islams" verstanden. Für den Gründer al-Banna trug die Bruderschaft deutlich politische Züge. Darüber hinaus sei sie durch den als allumfassend angesehenen Charakter des Islams eine "der körperlichen Ertüchtigung dienende Gruppe", ein "kultureller und wissenschaftlicher Verband", eine "soziale Idee" und sogar ein "Wirtschaftsunternehmen". Der Wahlspruch der Bruderschaft verdeutlicht den universalen Anspruch: 99 Zur Scharia siehe Kapitel 4.2. 244 Islamismus "Gott ist unser Ziel, der Prophet unser Führer, der Koran unsere Verfassung und der Kampf unser Weg. Der Tod um Gottes Willen ist unsere höchste Gnade. Gott ist groß." (nach Franz Kogelmann: "Die Islamisten Ägyptens in der Regierungszeit von Anwar as-Sadat [1970-1981]"; Berlin 1994, Seite 29) Die Bewegung gewann schnell an Einfluss und Mitgliedern und ist bis heute die größte islamistische Bewegung im Nahen und Mittleren Osten. Ihre überragende Bedeutung verdankt sie dem Umstand, dass sie in allen islamischen Staaten Ableger aufbauen konnte und auch andere islamistische Gruppen beeinflusste. Nach eigenen Angaben ist die MB heute in über 70 Ländern präsent. Auf ihrer fünften Generalkonferenz 1939 in Kairo legte die MB ihre bis heute gültige Doktrin fest. Darin tritt ein entschieden islamistischer Wesenszug zu Tage. Indem sich die Muslimbrüder auf das Wirken und die Tradition des Propheten und seiner Gefährten berufen, grenzen sie sich von allen "Verunreinigungen" des Islams ab, die die islamische Welt seit dem 7. Jahrhundert heimgesucht hätten. Trotz ihrer internationalen Ausrichtung zeigt die Bruderschaft noch heute eine deutliche arabische Prägung. Ihre wichtigste Basis ist weiterhin Ägypten, wo sie bis zum Sturz des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak 2011 verboten war. Im Zuge des Arabischen Frühlings wurde der Muslimbruder Mohammed Mursi am 30.06.2012 zum Präsidenten Ägyptens gewählt. Nach nur einjähriger Präsidentschaft setzte ihn die Armeeführung am 03.07.2013 ab. Damit reagierte sie u. a. auf anhaltende Proteste von Teilen der Bevölkerung gegen Mursis islamistische Klientelpolitik. Die massiven Proteste von Anhängern der MB gegen die Absetzung Mursis wurden vom Militär niedergeschlagen. Am 23.09.2013 verbot die ägyptische Regierung die MB und stufte sie am 25.12.2013 als Terrororganisation ein. Zahlreiche Mitglieder der MB wurden seither verhaftet. Die MB ist eine hierarchisch strukturierte Organisation. Als ihr Oberhaupt fungiert der sogenannte Murschid Amm, der "Allgemeine Führer", dem sich das einzelne Mitglied durch ein Gelöbnis zur Gefolgschaft verpflichtet. Der derzeitige Murschid Amm, Muhammad Badie, wurde nach dem Sturz Mursis inhaftiert und zum Tode verurteilt, aber bislang nicht hingerichtet. Die Muslimbruderschaft in Deutschland und in Niedersachsen Bereits der im September 2022 in Doha verstorbene Yusuf al-Qaradawi, ein weiterer einflussreicher Vordenker der weltweit agierenden 245 Islamismus Muslimbruderschaft, bemerkte, "der Islam wird Europa erobern, ohne Schwert und ohne Kampf" und formulierte damit das Ziel seiner Bewegung: Eine friedliche Eroberung durch Mission und gezieltes Engagement, eine "Islamisierung von unten". Dabei setzt die MB auf eine Durchdringung der Gesellschaft durch eine geschulte muslimische Elite, die einerseits als Vertreter der Muslime und ihrer Interessenlagen vor Staat und Gesellschaft fungiert, andererseits über erhebliche Einflussmöglichkeiten verfügt. Das macht sie zudem zu augenscheinlich souveränen Ansprechpartnern in Belangen der politischen Bildung, der Integration oder anderen gesamtgesellschaftlichen Frageund Problemstellungen für Kommunen, Land und die Politik im Allgemeinen. Bei der Verwirklichung ihrer Ziele und bei der Verbreitung ihrer Interpretation des Islams dienen verschiedene sogenannte islamische Zentren als organisatorische Stützpunkte. Gewalttätige Aktivitäten der MB in Deutschland wurden bisher nicht festgestellt. Die wichtigste Organisation in Deutschland, die das Gedankengut der MB vermittelt, ist die "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), die sich vor der Umbenennung im Jahr 2018 als "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) bezeichnete. Die DMG verwendet nach eigenen Angaben den neuen Namen, um eine stärkere Verbundenheit zu Deutschland zu zeigen. Im Jahr 2019 verlegte die DMG ihren Vereinssitz von Köln nach Berlin. Neben diesem Hauptsitz betreibt die DMG mehrere sogenannte islamische Zentren. Ein islamisches Zentrum ist der Verein "Deutschsprachiger Muslimkreis Braunschweig e. V." in Braunschweig. Die MB verfolgt auch in Niedersachsen ihren Ansatz der kulturellen und ideologischen Durchdringung. Dementsprechend übt die MB ihren Einfluss auf Moscheen in Niedersachsen in Braunschweig, Göttingen, Hannover, Osnabrück und Wolfsburg aus. Durch ihr Lehrangebot, wie z. B. Korankurse und Sira100 -Schulungen in Moscheen, verbreitet die MB ihre Ideologie. Die DMG hat 2019 wegen ihrer Erwähnung im Verfassungsschutzbericht des Bundes Klage erhoben. Das gerichtliche Verfahren endete im August 2021 mit der Rücknahme der Klage durch die DMG. 100 Der arabische Begriff "Sira" bezeichnet die "Biografie des Propheten Muhammad". 246 Islamismus Anfang 2022 wurde die DMG auf Beschluss der Vertreterversammlung des "Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. " (ZMD) aus dem ZMD ausgeschlossen. Die DMG war Gründungsmitglied des ZMD. Offiziell hat der ZMD keine Begründung für den Ausschluss der DMG verlautbaren lassen, dieser ging aber einher mit einer öffentlichen Diskussion über die Verbindungen der DMG zum weltweiten Netzwerk der Muslimbruderschaft. Insgesamt ist eine Zunahme des Einflusses dieser Dachorganisation auf die Gesellschaft festzustellen. Dies liegt u. a. an den beachtlichen überregionalen Aktivitäten sowie der starken Medienpräsenz der DMG, deren Vertreter gesellschaftlich wichtige Positionen anstreben oder innehaben und deshalb häufig gut vernetzt sind. Oft sind es Verantwortliche in Verbänden, Vereinen und Institutionen, die die Ideologie der MB in die Gesellschaft transportieren Auch die Ableger der MB aus anderen islamischen Staaten, in deren politischen Systemen ihnen eine besondere Rolle zuteilwird, sind teilweise in Deutschland und Niedersachsen aktiv. Zu nennen ist hier die tunesische "En-Nahda"-Partei, von der einige Mitglieder in Niedersachsen wohnhaft sind. Bei der auf der EU-Terrorliste geführten HAMAS ("Islamische Widerstandsbewegung") handelt es sich um den palästinensischen Zweig der MB. Seit 2006 kontrolliert die HAMAS den Gazastreifen und führt dort ein Regime, das die Rechte von Frauen und Minderheiten beschneidet und hart gegen gewaltfrei agierende Oppositionelle vorgeht. Obwohl die Anzahl der in Niedersachsen ansässigen Mitglieder und Funktionäre noch als gering zu bezeichnen ist, konnte ein Anstieg ihrer Anzahl verzeichnet werden. Die grundsätzliche Zielsetzung der HAMAS ist die Errichtung eines islamistischen Staates auf dem gesamten Gebiet Palästinas und damit die Vernichtung des Staates Israel. In ihrer Charta führt die HAMAS aus, dass es eine Pflicht für alle Muslime ist, den Jihad als bewaffneten Kampf gegen Israel zu betreiben und bedient dabei auch antisemitische Verschwörungstheorien. Immer wieder äußern sich Anhängerinnen und Anhänger auch in Deutschland islamfeindlich und antisemitisch unter Bezugnahme auf die islamistische Ideologie. 247 Islamismus 4.8 Tablighi Jama'at (TJ, Gemeinschaft der Missionierung und Verkündung) Sitz/Verbreitung Weltzentrum in Lahore (Pakistan); europäisches Zentrum in Dewsbury (Großbritannien); in Deutschland keine offizielle Niederlassung Gründung/ 1926 in Britisch-Indien Bestehen seit Mitglieder/Anhänger: Niedersachsen: 80 Kurzportrait/Ziele: Die "Tablighi Jama'at" (TJ, "Gemeinschaft der Missionierung und Verkündung") wurde im letzten Jahrhundert als Missionsbewegung gegründet. Langfristiges Ziel ist die Errichtung eines islamistischen Regimes. Sie vertritt ein äußerst rigides Islamverständnis, das die Ausgrenzung der Frau und die Abgrenzung gegenüber Nichtmuslimen umfasst. Die Anhänger dieser internationalen islamischen Massenbewegung sind bestrebt, die überlieferte Lebensweise des Propheten Muhammad in Kleidung und täglichen Verrichtungen möglichst genau nachzuempfinden. Koran und Sunna werden wortgenau befolgt und sollen als Richtschnur für jedes gesellschaftliche Miteinander gelten. Charakteristisch für diese Gruppierung sind mehrtägige Missionsreisen (Jama'ats). Primäres Ziel dieser Bemühungen sind Muslime, denen man ein falsches Islamverständnis vorwirft. In Deutschland befindliche Moscheen der TJ sind an deren globales Netzwerk angeschlossen und stehen im Austausch mit dem europäischen Zentrum in Dewsbury und dem Weltzentrum in Lahore. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Ablehnung säkularer Prinzipien und die Abgrenzung gegenüber Nichtmuslimen können die Bildung abgeschotteter Parallelgesellschaften zur Folge haben und individuelle Radikalisierungsprozesse begünstigen. Durch die Propagierung der Scharia101 als Grundlage ihres Gesellschaftsmodells verfolgt die TJ Bestrebungen gegen die 101 Zur Scharia siehe Kapitel 4.2. 248 Islamismus freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG. Ursprung und Entwicklungen Angesichts der Dominanz der europäischen Kolonialmächte propagierten sogenannte islamische Reformbewegungen wie die TJ, die im indo-pakistanischen Raum ihren Ursprung hatten, die Säuberung des Islams von vermeintlichen geistigen und kulturellen Verunreinigungen.102 Heute zählt die TJ nach Zahl und Verbreitung ihrer Anhänger weltweit zu den bedeutendsten islamistischen Bewegungen. Ihre Anhänger fühlen sich nicht einer festen Gruppierung zugehörig, sondern sehen sich als Muslime mit missionarischem Auftrag. Obwohl sich die TJ selbst als unpolitisch und gewaltlos darstellt, wird dies von Sicherheitsbehörden anders bewertet. Das strikte Koranverständnis führt zu einer Befürwortung der Scharia, des aus Koran und Sunna hergeleiteten islamischen Rechts und damit in letzter Konsequenz zum Versuch einer Islamisierung der Gesellschaft. Das Bemühen um eine im Sinne der TJ vorbildliche Glaubenspraxis schließt eine weitgehend wortgetreue und rigide Interpretation des Korans und seiner Rechtsvorschriften ein, sodass damit der Erfüllung religiöser Vorschriften grundsätzlich Vorrang gegenüber einer an staatlichen Gesetzen orientierten Lebensführung eingeräumt wird. Aktivitäten von TJ-Anhängern in Deutschland und Niedersachsen Die Anhänger der TJ reisen in der Regel in Gruppen, in sogenannten Jama'ats, um einerseits den Glauben zu verbreiten und andererseits die Frömmigkeit der Prediger selbst zu stärken. Zielgruppe sind in erster Linie Muslime mit einer vermeintlich unzureichenden Beachtung der Glaubensriten, erst in zweiter Linie Nichtmuslime. Zu den Pflichten eines Mitglieds gehört die freiwillige und unbezahlte missionarische Tätigkeit, die 40 Tage im Jahr betragen soll. 102 Die Muslime Indiens sahen sich einer zweifachen Bedrohung ausgesetzt. Einerseits hatten sie die politische Macht an die christlichen Briten verloren, andererseits überwog in Indien zahlenmäßig die hinduistische Bevölkerungsgruppe. Während aufklärerische muslimische Kreise die Meinung vertraten, dass vor diesem Hintergrund nur mit westlichen Erkenntnissen, nicht gegen sie, der Aufbruch der Muslime Indiens in die Moderne gelingen könne, lehnten konservativ ausgerichtete sunnitische Rechtsgelehrte sowohl hinduistische als auch westliche Einflüsse ab und forderten deren Eliminierung. 249 Islamismus Der Schwerpunkt der Aktivitäten der TJ liegt auf dem indischen Subkontinent. In den letzten Jahrzehnten hat diese Massenbewegung ihre Aktivitäten jedoch auf Nordafrika und auf die muslimische Diaspora in Europa, Nordamerika und Australien ausgeweitet. Niedersächsische Anhänger der TJ sind an das globale Netzwerk der TJ angeschlossen. Von Niedersachsen ausgehende Missionsreisen werden aus der Masjid El Ummah-Moschee im Pakistanzentrum in Hannover nach entsprechender Vorgabe koordiniert. Die niedersächsischen TJ-Anhänger beteiligen sich insbesondere an regelmäßig stattfindenden bundesund europaweiten Treffen, auf denen u. a. organisatorische Entscheidungen der Bewegung getroffen werden. Grundlegende Entscheidungen werden jedoch von den Führungszentren der TJ in Pakistan und Indien bestimmt. Nicht aus Niedersachsen stammende TJ-Anhänger sind aufgrund der missionarischen Reisen auch regelmäßig in niedersächsischen Moscheen festzustellen, die nicht originär der TJ zuzurechnen sind. Die Bewegung ist bestrebt, ihre missionarischen Aktivitäten ständig zu intensivieren und ihre Anhängerzahl weltweit zu erhöhen. 4.9 Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) Sitz/Verbreitung Vereinsstrukturen sind verboten, ehemaliger Sitz in Köln Gründung/ 1984 Bestehen seit Struktur/ In Deutschland bestehen aktuell keine formellen Strukturen des Repräsentanz "Kalifatsstaats", da die Vereinigung am 12.12.2001 wegen Verstoßes gegen die verfassungsgemäße Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung sowie Gefährdung der Inneren Sicherheit in Deutschland durch den Bundesminister des Innern verboten wurde. Nach wie vor gibt es jedoch auf informeller Ebene noch mehrere, teilweise vereinsähnlich strukturierte Gemeinden, die sich der Ideologie des "Kalifatsstaats" verpflichtet fühlen. 250 Islamismus Mitglieder/Anhänger/ Niedersachsen: 85 Unterstützer Veröffentlichungen Auf den vom Verein betriebenen Internetseiten werden verschiedene Publikationen wie Kalender, Bücher und digitale Produkte angeboten. Kurzportrait/Ziele: Ziel des "Kalifatsstaats" ist es, einen revolutionär-islamistischen Umsturz in der Türkei herbeizuführen. Es wird die Erlangung der Weltherrschaft des Islams mit der Gründung eines Kalifates unter Anführung des Kalifen Metin Kaplan oder seines "rechtmäßigen" Nachfolgers, unter Einführung der Scharia angestrebt. Auch in Niedersachsen vertreten einzelne Gemeinden nach wie vor diese Ideologie. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Am 12.12.2001 wurde die Organisation "Kalifatsstaat" einschließlich ihrer Teilorganisationen durch den Bundesminister des Innern verboten. Gründe hierfür waren Äußerungen des "Kalifatsstaats", wonach dieser die Demokratie für mit dem Islam unvereinbar und für verderblich hält. Weiterhin beansprucht der "Kalifatsstaat" im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen eine eigene Staatsgewalt und verfolgt seine Ziele in kämpferisch-aggressiver Weise. Nach Auffassung des Bundesver waltungsgerichts, das eine Klage gegen das Verbot abgewiesen hat, stellte insbesondere die Propagierung gewaltsamer Mittel eine Gefährdung der Inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Die Äußerungen der Anhängerschaft waren hetzerisch und von Aufrufen zur gewaltsamen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner geprägt. Bei einem Teil der verbliebenen Anhänger des "Kalifatsstaats" handelt es sich auch aktuell um einen Personenzusammenschluss, dessen Ziel die Weltherrschaft des Islams unter dem Kalifat (s)eines Anführers (Metin Kaplan) ist. Unter anderem wird das Recht des Volkes, die Staatsgewalt durch Abstimmung zu wählen sowie das Recht auf Bildung einer parlamentarischen Opposition durch diese Weltanschauung beschnitten. Damit verfolgt der "Kalifatsstaat" Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und 251 Islamismus erfüllt die Voraussetzungen für eine Beobachtung nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG. Ursprung und Entwicklungen Der "Kalifatsstaat" ging 1994 aus dem "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V. Köln" (ICCB) hervor. Diesen Verein hatte der als "Khomeini von Köln" bekannt gewordene Cemaleddin Kaplan 1984 gegründet. Nachdem sich Cemaleddin Kaplan 1994 zum Kalifen der Muslime erklärt hatte, nannte sich der ICCB fortan "Kalifatsstaat" (Hilafet Devleti). Das Ziel des 1995 verstorbenen Cemaleddin Kaplan, einen revolutionär-islamistischen Umsturz in der Türkei herbeizuführen, behielt auch sein Sohn und Nachfolger Metin Kaplan bei. Die Weltherrschaft des Islams mit Gründung eines Kalifates unter Anführung des Kalifen Metin Kaplan oder seines "rechtmäßigen" Nachfolgers, unter Einführung der Scharia, ist das Ziel der Anhängerschaft. Nach dem Verbot der Organisation im Dezember 2001 gab es intensive juristische Auseinandersetzungen um den Verbleib von Metin Kaplan in Deutschland. Im Oktober 2004 schob man ihn schließlich in die Türkei ab, wo eine lebenslange Haftstrafe gegen ihn verhängt wurde. Im November 2016 wurde Kaplan überraschend vorzeitig aus der Haft entlassen und lebt seitdem weiterhin in der Türkei. Das Verbot führte in Niedersachsen zu einer Schwächung der Organisation. Allein der Verlust der Vereinsräumlichkeiten stellte zeitweise ein erhebliches logistisches Problem dar. Teilweise trafen sich ehemalige Mitglieder des "Kalifatsstaats" und ihre Familien, überwiegend zu den Freitagsgebeten, in Privatwohnungen bzw. neu angemieteten Unterkünften. Insgesamt ließ sich über Jahre eine Zurückhaltung der Anhänger des "Kalifatsstaats" feststellen, was insbesondere auf polizeiliche Kontrollen und Maßnahmen sowie die Angst, möglicherweise selbst abgeschoben zu werden, zurückzuführen war. Der "Kalifatsstaat" in Deutschland und Niedersachsen Teile der Anhängerschaft sind trotz des Verbots des "Kalifatsstaats" weiterhin aktiv. Insbesondere die jüngere Anhängerschaft fällt durch kontinuierliche Betriebsamkeit auf und sucht, bereits mit einer 252 Islamismus radikalen Ideologie vertraut, auch nach moderneren Ausdrucksformen. In Niedersachsen sind Strukturen des "Kalifatsstaats" in den Bereichen Göttingen, Osnabrück und Salzgitter festzustellen. Besonders personelle Vernetzungen über Ländergrenzen hinaus können in jüngster Zeit vermehrt beobachtet werden. Ideologisch zeigen sich die Kalifatsstaatsstrukturen nach wie vor nicht deutlich nach außen und sind deshalb kaum wahrnehmbar. Allerdings lassen sich weiterhin Schnittmengen zur salafistischen Ideologie und teilweise Abwanderungsbewegungen jüngerer Anhängerinnen und Anhänger in den Salafismus auch in Niedersachsen beobachten. Die niedersächsische Kalifatsstaatsszene ist zurückliegend sowohl durch die Anwendung und Vorbereitung von Gewalt, als auch aufgrund einer hohen ideologischen Ausstrahlung durch die Ausrichtung von Veranstaltungen und ihrer Internetpräsenz aufgefallen. Ihre Außendarstellung übernehmen sie über die Organisation "Im Auftrag des Islam", hinter der zwar reale Protagonisten, auch aus Niedersachsen, stehen, deren Botschaften aber in erster Linie online verbreitet werden. Auf den einschlägigen Internetseiten werden Gründung, Werdegang und Grundprinzipien der Organisation erklärt. So könne man die Missionsarbeit von "Im Auftrag des Islam" unter den drei Hauptpunkten "Vermittlung des Tauhid, der Sunna und des Kalifats" zusammenfassen, die allesamt auf dem "prophetischen Weg" basieren würden: "Ein Leben im Auftrag des Islam zu leben ist der Sinn unserer Erschaffung." Die Errichtung eines Kalifats - als einzig gültiges Rechtssystem - und die Einführung der Scharia werden als selbsternannte Ziele aufgelistet. Mittlerweile scheinen sich die Protagonisten von "Im Auftrag des Islam" aufgrund religiöser Differenzen von Metin Kaplan abgewandt zu haben. Ob dies Auswirkungen auf die Kalifatsstaatsszene in Deutschland und Niedersachsen haben wird, bleibt abzuwarten. Im Zuge überregionaler Maßnahmen in sechs Bundesländern wurden am 28.06.2022 auch mehrere Objekte in Niedersachsen durchsucht und Schuss-, Stichund Hiebwaffen sowie Datenträger und hohe Bargeldsummen sichergestellt. Anfang November wurde gegen drei Tatverdächtige Anklage wegen des Verstoßes gegen das Vereinigungsverbot erhoben. Hierdurch zeigte sich abermals die strafrechtliche Relevanz der weiterhin bestehenden Kalifatsstaatsstrukturen. 253 Islamismus 4.10 Hizb Allah (Partei Gottes) Sitz/Verbreitung Beirut Generalsekretär Hassan Nasrallah Mitglieder/Anhänger: Niedersachsen: 250 Publikation: Al-Ahd (Die Verpflichtung) Medien: Al-Manar (Der Leuchtturm) Kurzportrait/Ziele: Für die schiitische Gemeinschaft fordert die mit Hilfe der Islamischen Republik Iran gegründete "Hizb Allah" die Anwendung der islamischen Rechtsordnung der Scharia.103 Außerdem bestreitet die "Hizb Allah" das Existenzrecht des Staates Israel und bekämpft ihn mit terroristischen Mitteln. In Deutschland pflegen die Anhänger der "Hizb Allah" den organisatorischen und ideologischen Zusammenhalt u. a. in örtlichen Moscheevereinen, die sich in erster Linie durch Spendengelder finanzieren. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die libanesisch-schiitische Organisation "Hizb Allah" (Partei Gottes) bekämpft mit terroristischen Mitteln den Staat Israel, richtet ihre Propaganda aber auch gegen westliche Institutionen. Mit diesem Bestreben richtet sich die "Hizb Allah" gegen den Gedanken der Völkerverständigung und das friedliche Zusammenleben der Völker (Artikel 9 Abs. 2 und 26 Abs. 1 GG) und wird daher nach SS 3 Abs. 1 Nr. 4 NVerfSchG beobachtet. Im Juli 2013 setzte die Europäische Union den militärischen Arm der "Hizb Allah" (al-muqawama alislamiya - Islamischer Widerstand) auf die Liste der terroristischen Organisationen. Weiterhin verfolgt die "Hizb Allah" durch die Propagierung der Scharia als Grundlage ihres Gesellschaftsmodells Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des SS 3 Abs. 1 Nr. 1 NVerfSchG. 103 Zur Scharia siehe Kapitel 4.2. 254 Islamismus Mit Schreiben vom 20.09.2019 hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gemäß SS 129b Absatz 1 Satz 3 StGB dem Generalbundesanwalt die generelle Ermächtigung zur Verfolgung bereits begangener und zukünftiger Straftaten durch Mitglieder der Vereinigung "Hizb Allah" erteilt. Die "Hizb Allah" wurde bereits in der Vergangenheit in der strafund verwaltungsgerichtlichen Praxis als terroristische Vereinigung gewertet. Diese Rechtsprechung ist im Juli 2019 durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bestätigt worden, in dem die Rechtmäßigkeit des Verbotes des Hizb Allah-Spendensammelvereines "Farben für Waisenkinder e. V." (FfW), vormals "Waisenkinderprojekt Libanon e. V." (WKP), aus dem Jahr 2014 rechtlich festgehalten wurde. Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat hat mit Verfügung vom 26.03.2020 die Vereinigung "Hizb Allah" im Geltungsbereich des Vereinsgesetzes (VereinsG) mit einem Betätigungsverbot gem. SS 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 und 3, SS 14 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 i.V.m. SS 15 Abs. 1 Satz 1 und SS 18 Satz 2 des VereinsG belegt. Das Verbot wurde am 30.04.2020 bekannt gemacht. Ab diesem Zeitpunkt gelten entsprechende Betätigungshandlungen für die Hizb Allah als Straftat nach dem VereinsG. Am 17.03.2022 wurde der in Bremen ansässige Verein "AL-Mustafa Gemeinschaft e.V." (AMG) verboten und das Vermögen des Vereins, der der Terrororganisation "Hizb Allah" nahesteht, beschlagnahmt. Das Verbot begründete sich durch das Handeln des Vereins gegen den Gedanken der Völkerverständigung, indem er zum Hass gegen Angehörige anderer Religionen aufrief. Er lehnte zentrale Elemente der bestehenden völkerrechtlichen Ordnung ab und rief zu deren Bekämpfung auf. Außerdem propagierte und förderte er aktiv Gewalt oder vergleichbar schwerwiegende völkerrechtswidrige Handlungen wie den Terrorismus gegen den Staat Israel. Die in dem Zusammenhang des Vereinsverbots durchgeführten Durchsuchungen fanden auch in Niedersachsen statt. Sowohl der erste als auch der zweite Vereinsvorsitzende, gegen die sich das Verbot als Vertretungsberechtigte des Vereins richtete, sind in Niedersachsen im Umland von Bremen wohnhaft gemeldet. Ebenfalls am 17.03.2022 wurde der Verein "Fatime Versammlung e.V." bzw. das "Imam-Mahdi-Zentrum" in Münster (Nordrhein-Westfalen) verboten. Der Moscheeverein habe die libanesische 255 Islamismus "Hizb Allah" direkt und indirekt unterstützt. In den vergangenen Jahren habe das Zentrum mehrere tausend Euro an Spenden gesammelt, um Kinder und Hinterbliebene von islamistischen Kämpfern im Libanon zu versorgen. Der Verein vermittelte antisemitische und islamistische Propaganda schon im Kindesund Jugendalter. Die polizeilichen Durchsuchungen, die der Durchsetzung des Verbots und der Beschlagnahmung des Vereinsvermögens dienten, fanden auch im niedersächsischen Delmenhorst statt. Der geistliche Vertreter bzw. Imam und zugleich Vereinsfunktionär, gegen den sich das Verbot persönlich richtete, stammt aus Niedersachsen. Ursprung und Entwicklung Die "Partei" "Hizb Allah" wurde 1982 unter maßgeblicher Steuerung der Islamischen Republik Iran als Vertretung des radikalsten Teils der libanesischen Schiitengemeinde gegründet. Vorbild für die "Hizb Allah" ist der revolutionäre Iran; die Lehren des iranischen Revolutionsführers Khomeini gelten als richtungsweisend. Der Libanon-Krieg im Sommer 2006 führte zu einer bis heute andauernden Popularität der "Hizb Allah" innerhalb der schiitischen Bevölkerung des Libanons. 2009 stellte der Generalsekretär der "Hizb Allah", Hassan Nasrallah, ein neues politisches Strategiepapier vor, auf dessen Grundlage die "Hizb Allah" sich von einer Widerstandsgruppe hin zu einer politisch eigenständig agierenden Partei in der libanesischen Politik wandeln sollte und in dem weder die Rede ist von der Errichtung eines "Islamischen Staates" (nach dem Vorbild des Irans), noch von der weltweiten Verbreitung der Revolutionstheorie. Dennoch fühlt sich die "Hizb Allah" auch weiterhin den Konzepten des Ayatollah Khomeini verpflichtet. Dies bezieht sich insbesondere auf die Vorstellung des Konzepts der "wilayat al-faqih", das einen konstitutionellen Gottesstaat mit herrschendem Klerus im Libanon vorsieht. Ihren politischen Einfluss stützt die schiitische Organisation, wie andere islamistische Organisationen auch, auf die soziale und karitative Betreuung ihrer Anhängerschaft. Dieses umfassende Betreuungssystem hatte die "Hizb Allah" mit finanzieller Unterstützung des Irans aufbauen können. Im Emblem der "Hizb Allah" kommt die politische Ausrichtung zum Ausdruck. Es zeigt in arabischer Schrift den Namen der Organisation. Eine aus dem Schriftzug erwachsende 256 Islamismus Faust hält eine Kalaschnikow, über der das Koranzitat "Die auf Gottes Seite stehen, werden Sieger sein" steht. Dies kann aber auch politisch als "Die Hizb Allah wird Sieger sein" gelesen werden. Die Unterzeile unter diesem Signet verweist auf die politische Zielrichtung: "Islamische Revolution im Libanon!" Die "Hizb Allah" in Deutschland und in Niedersachsen Die "Hizb Allah" ist global wie auch in Deutschland Teil eines Geflechts schiitisch-islamistischer Organisationen, das stark unter dem Einfluss Flagge der Hizb Allah; in Deutschland verboten der Islamischen Republik Iran steht. Dabei entstehen häufig Berührungspunkte zwischen Vereinen, die der "Hizb Allah" zuzurechnen sind und solchen, die dem weiteren schiitisch-islamistischen Spektrum angehören. Auch in Niedersachsen besuchen mitunter Angehörige verschiedener Vereine die gleichen Moscheen. Die Corona-Pandemie führte zu einem Rückgang von religiösen und kulturellen Veranstaltungen. Unterrichte oder Mitgliederversammlungen wurden teilweise als Online-Veranstaltungen abgehalten. Erst allmählich nehmen die Vereine ihre gewohnten Tätigkeiten wieder auf. Ungeachtet einer gewissen Sympathie in Teilen der hier lebenden schiitischen Libanesen für die politischen und ideologischen Ziele der "Hizb Allah", tritt diese Organisation in der deutschen Öffentlichkeit kaum mit Aktivitäten in Erscheinung. In Niedersachsen sind Anhänger und Sympathisanten der "Hizb Allah" in mehreren Vereinen organisiert, die die Pflege und Verbreitung der libanesischen Kultur und die Ausübung ihrer Religion als Zweck und Ziel in der Satzung angegeben haben, so u. a. in Hannover, Osnabrück, im Bremer Umland und in Südniedersachsen. Die Vereine finanzieren sich hauptsächlich durch Mitgliedsbeiträge und Spendensammlungen. Die Anbindung an die "Hizb Allah" erfolgt über Funktionäre, die aus dem Libanon immer wieder zu herausragenden Anlässen anreisen, wie z. B. dem Jahrestag des Abzugs der israelischen Armee aus dem Südlibanon oder zu hohen muslimischen Feiertagen. Von zentraler Bedeutung für die schiitisch geprägte Islamistenszene in Deutschland und damit auch für die Anhänger der "Hizb Allah" ist der sogenannte Al-Quds-Tag104 . Dieser gilt in der Islamischen 104 Der arabische Begriff "Al-Quds" bedeutet übersetzt "Jerusalem". 257 Islamismus Republik Iran als gesetzlicher Feiertag und soll den Wunsch nach der "Befreiung Palästinas" zum Ausdruck bringen. In Deutschland finden seit den 1980er Jahren Veranstaltungen zum Al-Quds-Tag statt. Diese deutlich gegen Israel gerichteten Aktivitäten haben häufig eine antisemitische Ausrichtung.105 4.11 Islamisches Zentrum Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus Mitglieder/Anhänger: Niedersachsen: 105 Publikationen: Unterschiedliche Auftritte auf Internetplattfotmen und in den Sozialen Medien. Kurzportrait/Ziele: In dem Beobachtungsobjekt "Islamisches Zentrum Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus" werden die Vereinigungen zusammengefasst, die durch die Ideologie der Islamischen Republik Iran geprägt sind. Ihr Ziel ist die Verbreitung der Islamischen Revolution in Anlehnung an das aktuelle Herrschaftssystem der Islamischen Republik Iran. Diese Vereinigungen sind in Deutschland in Vereinen, Moscheen und Zentren sowie in Online-Netzwerken organisiert. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Die Einführung eines am Iran orientierten theokratischen Herrschaftssystems verletzt insbesondere die demokratischen Grundsätze der Trennung von Staat und Religion, die Volkssouveränität, die religiöse und sexuelle Selbstbestimmung, die Gleichheit der Geschlechter sowie das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Deshalb bilden die einzelnen Organisationen im Bereich des "Islamischen Zentrums Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus" zusammen eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung entsprechend SS 3 Abs. 1 105 Weitere Ausführungen zum Al-Quds-Tag siehe Kapitel 4.11. 258 Islamismus Nr. 1 NVerfSchG. Die anti-israelische und anti-westliche Haltung des Irans, die medienwirksam propagiert wird, verstößt zudem gegen den Gedanken der Völkerverständigung und das friedliche Zusammenleben der Völker, womit die Organisationen des "Islamischen Zentrums Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus" auch eine Bestrebung gemäß SS 3 Abs. 1 Nr. 4 NVerfSchG darstellen und damit die Voraussetzungen für eine Beobachtung erfüllen. Im Zusammenhang mit dem Beobachtungsobjekt des "Islamischen Zentrums Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus" werden die Moscheen, Vereine, Netzwerke und Zentren zusammengefasst, die durch den Iran beeinflusst werden und sich an der Politik der Islamischen Republik Iran und deren Staatsdoktrin orientieren bzw. eine Nähe zur Ideologie der Terrororganisation "Hizb Allah" aufweisen. Nicht mit eingeschlossen ist die auch in Deutschland aktive islamistische Gruppierung schiitischer Prägung und libanesischen Ursprungs, die "Hizb Allah". Diese stellt aufgrund ihrer spezifischen Ausprägung und der weitreichenden Aktivitäten ein eigenständiges Beobachtungsobjekt dar. Ursprung und Entwicklung Der schiitisch geprägte Islamismus weist einen starken Bezug zur Islamischen Republik Iran auf, welche als Resultat aus der sogenannten Islamischen Revolution von 1979 hervorging. In der Verfassung des Irans sind die wichtigsten ideologischen Grundlagen niedergelegt, wonach die Islamische Republik Iran ein theokratisches Herrschaftssystem ist, bei dem die Herrschaft des Rechtsgelehrten gilt (wilayat al-faqih). Demnach ist die höchste politische Instanz der oberste Rechtsgelehrte, derzeit Ali Chamenei. Dieser verfügt über eine allgemeinverbindliche und uneingeschränkte Führungsbefugnis und bestimmt damit autoritär über die grundlegende Linie der iranischen Innenund Außenpolitik. Die Aufgabe der Verbreitung der Islamischen Revolution im Ausland ist in der Verfassung verankert. Die Organisationen des "Islamischen Zentrums Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus" sehen es als ihren Auftrag an, im Sinne dieser Ideologie auf die hier lebenden Schiiten unterschiedlicher Nationalität einzuwirken. 259 Islamismus Das "Islamische Zentrum Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus" in Deutschland und in Niedersachsen Von zentraler Bedeutung für die schiitisch-islamistisch geprägte Szene in Deutschland sind die jährlich stattfindenden Demonstrationen und Aktionen rund um den Al-Quds-Tag106. Dieser wurde im Jahr 1979 durch den iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini als Feiertag ausgerufen, um dem Wunsch nach der Befreiung Jerusalems und der Beendigung der Existenz des Staates Israels Ausdruck zu verleihen. Am letzten Freitag des Ramadans findet in Berlin jedes Jahr eine zentrale Al-Quds-Demonstration statt. Deutschlandweit sind in diesem Zusammenhang regelmäßig antisemitische Vorfälle festzustellen. Im Rahmen des diesjährigen Al-Quds-Tages, der mehrheitlich am 23.04.2022 begangen wurde, gab es bundesweite Veranstaltungen. Insbesondere in Berlin wurden antisemitische Vorfälle festgestellt. In Delmenhorst und Hannover wurden parallel Aktionen unter dem Motto "Solidarität mit Palästina" durchgeführt, bei denen antizionistische Plakate gezeigt wurden. Aus der Demonstration heraus verletzte ein Teilnehmer einen proisraelischen Gegendemonstranten. Das IZH stand im Jahr 2022 verstärkt im Fokus der Politik. So hat der stellvertretende Leiter des IZH, Seyed Soliman Mousavifar, im Juni 2022 eine Ausweisungsverfügung der Hamburger Innenbehörde erhalten, da Belege für seine Unterstützung schiitisch-extremistischer, terroristischer Organisationen vorlagen. Nachdem er zunächst erfolglos gegen seine Ausweisung geklagt hatte und die Ausreisefrist verstreichen ließ, reiste er am 02.11.2022 freiwillig in den Iran aus und kam damit einer Abschiebung zuvor. Es besteht darüber hinaus ein Wiedereinreiseverbot für ihn. Zudem wird entsprechend eines Beschlusses des Bundestages vom 09.11.2022 eine mögliche Schließung des IZH geprüft. Das Parlament nahm den Antrag auf Schließung mehrheitlich an. Daraufhin gab das IZH am 20.11.2022 u. a. aufgrund des politischen Drucks bekannt, aus dem islamischen Dachverband, dem "Rat der Islamischen Gemeinden Hamburg" (Schura Hamburg), auszutreten. Die Schura Hamburg steht als eine Vertretung der Muslime in Hamburg im engen Kontakt mit der Hansestadt Hamburg. Als Reaktion auf den Austritt des IZH erklärten 106 Der arabische Begriff "Al-Quds" bedeutet übersetzt "Jerusalem". 260 Islamismus fünf weitere schiitische Gemeinden ihren Austritt aus der Schura Hamburg. Akteure des "Islamischen Zentrums Hamburg e.V. (IZH) und sonstiger schiitischer Extremismus" entfalten im Wesentlichen über verschiedene Internetplattformen Außenwirkung und verbreiten ihre Ideologie. "Muslim-Markt" Hierbei handelt es sich um ein wichtiges deutschsprachiges, in Delmenhorst ansässiges Internetportal, welches mit Nachdruck die Politik des iranischen Revolutionsführers Ali Chamenei unterstützt. Durch Verlinkungen bewirbt es zudem diverse jüngere deutschsprachige Online-Plattformen, -Kanäle und Vereinigungen wie z. B. "Die Feder" oder "Offenkundiges". Deren Inhalte zeigen verstärkt eine pro-iranische, antisemitische, anti-israelische und LGBTIQ107 -kritische bis -feindliche Haltung. "Die Feder" "Die Feder" ist eine irantreue, deutschsprachige und verstärkt online auftretende Community. Diese vertritt und verbreitet deutlich die iranische Ideologie der Leugnung und Bekämpfung des israelischen Staates. So veröffentliche "Die Feder" zeitgleich mit dem im Iran stattfindenden Al-Quds-Tag am 07.05.2021 ein Video, welches antisemitische Aussagen, insbesondere im Sinne des israelbezogenen Antisemitismus, verbreitet. Dies betrifft die Vorwürfe der Apartheid, Polizeigewalt sowie Vertreibung und Ermordung der Palästinenserinnen und Palästinenser. Es werden eine undifferenzierte Schuldzuschreibung Israels betrieben und doppelte Standards im Vergleich zu anderen demokratischen Staaten angelegt. Mit der Unterstellung des Raubs palästinensischen Eigentums und der (gezielten) Tötung und Verhaftung von Kindern werden zudem klassische antisemitische Stereotype, wie den seit dem Mittelalter bestehenden Vorwurf der gezielten Tötung von Kindern durch Juden (Ritualmordlegende) oder die Bereicherung von Juden auf Kosten anderer, aufgegriffen. Das Video zeichnet sich durch eine gezielte emotionale 107 LGBTIQ steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Inter, Queer. 261 Islamismus Gewaltdarstellung aus, die geeignet ist, zu ebensolchen gewalttätigen Aktionen zu motivieren. "Die Feder" war die Initiatorin der oben erwähnten, am 23.04.2022 im Rahmen des Al-Quds-Tages durchgeführten Kundgebung in Hannover. "Offenkundiges" Auch der YouTube-Kanal "Offenkundiges" führte im Rahmen des Al-Quds-Tages eine Online-Veranstaltung mit verschiedenen Beiträgen und Live-Schaltungen durch, u. a. zur Kundgebung in Hannover. Die Veranstaltung stimmte mit ihrer pro-iranischen, anti-israelischen Haltung ebenso wie die in Hannover durchgeführte "Mahnwache" in den Tenor des bereits erwähnten israelbezogenen Antisemitismus ein. Die Beiträge sind zum Teil mit Zitaten des "Obersten Führers" des Irans, Ali Chamenei, versehen, um den Inhalten mehr Nachdruck zu verleihen. Darin werden das theokratische Herrschaftssystem des Irans propagiert und das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und zum Gedanken der Völkerverständigung in Frage gestellt. 262 Islamismus 263 05 Extremismus mit Auslandsbezug Extremismus mit Auslandsbezug 5.1 Mitglieder-Potenzial Mitglieder-/Anhänger-Potenzial extremistischer Organisationen 2021 mit Auslandsbezug Bundesrepublik Deutschland108 Türkische Rechtsextremisten109 11.000 PKK 14.500 Türkische Linksextremisten110 2.550 Summe 28.050 Mitglieder-/Anhänger-Potenzial extremistischer Organisationen 2021 2022 mit Auslandsbezug Niedersachsen Türkische Rechtsextremisten111 700 700 PKK 1.600 1.600 Türkische Linksextremisten112 200 200 Summe 2.500 2.500 5.2 Einführung Unter der Bezeichnung "Extremismus mit Auslandsbezug" werden in Niedersachsen alle weiteren Erscheinungsformen des Extremismus zusammengefasst, die einen starken Bezug zum Ausland aufweisen, ohne im Zusammenhang mit islamistischen Ideologien zu stehen. Der Extremismus mit Auslandsbezug ist geprägt von einer 108 Die Zahlen des Berichtsjahres des Mitglieder-Potenzials für die Bundesrepublik Deutschland lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Daher werden nur die Zahlen des Vorjahres genannt. 109 Die ausgewiesenen Zahlen beziehen sich seit 2021 nur auf türkische Rechtsbzw. Linksextremisten. Sie weichen daher von den Zahlen der Vorjahre ab. 110 Siehe Fußnote 109. 111 Siehe Fußnote 109. 112 Siehe Fußnote 109. 266 Extremismus mit Auslandsbezug Vielzahl von Gruppierungen unterschiedlicher Organisationsstruktur und Größe. Im Unterschied zum Islamismus liegt die Zielsetzung dieser Gruppen überwiegend in der Durchsetzung linksextremistischer, separatistischer oder nationalistischer bzw. rassistischer Vorstellungen, die regelmäßig auf radikale Veränderungen der politischen Verhältnisse in den Heimatregionen abzielen. Die Situation im Herkunftsland und dortige aktuelle Entwicklungen erweisen sich dabei regelmäßig sowohl als richtungsweisend für die Intensität des Aktionismus als auch für den Grad des Militanzniveaus in Deutschland. Extremistische türkische und kurdische Gruppierungen bilden in Niedersachsen den Schwerpunkt der Beobachtung. Die in Deutschland agierenden Gruppierungen werden i. d. R. durch extremistische Ideologien und damit verbundene politisch-strategische Vorgaben aus dem Heimatland gesteuert. Deutschland wird dabei in erster Linie als sicherer Rückzugsraum betrachtet, in dem Geld gesammelt, rekrutiert, mobilisiert und propagiert werden kann und von dem aus gewaltsame Aktionen im Bezugsland vorbereitet werden können. In Abhängigkeit der Entwicklung im Heimatland ist gelegentlich auch mit gewalttätigen Aktionen in Deutschland zu rechnen. Die Propaganda für die jeweilige politische Vorstellung und Mobilisierungsaktionen, etwa für Demonstrationen, gehen Hand in Hand und werden überwiegend über das Internet verbreitet. Soziale Netzwerke und Messenger-Dienste dienen darüber hinaus der Gewinnung neuer Sympathisierender und Mitglieder. Auch Konflikte zwischen den widerstreitenden ideologischen Gruppierungen treten in Deutschland auf und werden sowohl durch Propaganda als auch durch Gewalttaten sichtbar. 5.3 Aktuelle Entwicklungen im Extremismus mit Auslandsbezug Schwerpunkt der Beobachtung beim Extremismus mit Auslandsbezug in Niedersachsen bleibt auch im Jahr 2022 die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK). Wie bereits in den Vorjahren wurden die großen Reizthemen, wie die Sorge um den Gesundheitszustand des in der Türkei lebenslang inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan und das 267 Extremismus mit Auslandsbezug Vorgehen des türkischen Militärs in den kurdisch besiedelten Gebieten, immer wieder durch die PKK-Anhängerschaft in Deutschland aufgegriffen. Von dem auf der türkischen Insel Imrali seit 1999 inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan fehlt seit vielen Monaten jegliches Lebenszeichen. In einer umfangreich angelegten Kampagne versuchte die PKK auch Europa und die NATO zu einer Ächtung eines mutmaßlichen türkischen Einsatzes von Chemiewaffen gegen Kurden zu bewegen. Eine drohende türkische militärische Bodenoffensive gegen Stellungen des syrischen Arms der PKK im Nordirak und in Syrien entfachte Ende 2022 zudem ein intensives Demonstrationsgeschehen. Außerdem bleibt auch die Hoffnung der PKK auf Streichung von der EU-Terrorliste und eine Aufhebung des Betätigungsverbots in Deutschland aufgrund ihres jahrelangen Einsatzes für die Anti-IS-Koalition in Syrien und im Irak ein inhaltlicher Schwerpunkt der öffentlichen Aktionen. Die türkische rechtsextremistische "Ülkücü (Idealisten)-Bewegung" tritt als sogenannte unorganisierte freie Szene in den Sozialen Medien mit einer nach westeuropäischem Rechtsverständnis nationalistischen und rassistischen Ideologie auf. Sie bildet dabei regelmäßig einen absoluten Gegenpol zu den von "Ülkücü" als separatistisch empfundenen ethnischen Minderheiten in der Türkei und auch in Deutschland. Die "Ülkücü-Szene" bildet zusammen mit drei deutschlandweit agierenden Dachverbänden und ihren angeschlossenen regionalen Vereinsstrukturen ein ausgesprochen großes Anhängerpotenzial. Auch in Deutschland stehen sich die gegensätzlichen türkischen und kurdischen Gruppierungen mit ihren widerstreitenden Ideologien gegenüber. Seit Jahren führte das militärische Vorgehen der Türkei in den kurdischen Siedlungsgebieten in Syrien und im Nordirak zu massiven Protesten von PKK-Aktivisten in Europa und auch zu Spannungen zwischen den Anhängerinnen und Anhängern der rechtsextremistischen "Ülkücü-Bewegung" und der PKK. Agitation und auch Konfrontation waren auch 2022 maßgeblich geprägt durch die genannten Reizthemen. Jegliche öffentlichkeitswirksamen Aktionen der PKK-Anhängerschaft laufen Gefahr einer - zumeist spontanen - Kontroverse. Der öffentliche Aktionismus 268 Extremismus mit Auslandsbezug zeigte sich in 2022 weniger eingeschränkt als noch im Vorjahr; die Entwicklungen bezüglich Corona ließen wieder mehr Veranstaltungen zu. Sowohl die Kommunikation untereinander als auch Konfrontationen zwischen den Gruppierungen nahmen in der digitalen Welt dennoch zu. Auch linksextremistische türkische Gruppierungen werden vom Niedersächsischen Verfassungsschutz beobachtet. Die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" ("Devrimci Halk Kurtulus Partisi Cephesi", DHKP-C) kämpft für die proletarische Revolution und die Umwandlung des türkischen Staates in eine marxistisch-leninistische Diktatur. Bei Attentaten, die seit Gründung der DHKP-C (1994) begangen wurden, kamen nach Angaben türkischer Stellen über 200 Menschen ums Leben. In Deutschland wurde die DHKP-C 1998 verboten, seit 2002 wird sie von der Europäischen Union als terroristische Vereinigung gelistet. Trotz des Verbots agiert die DHKP-C bis heute in Deutschland und nutzt dabei die Popularität der Musikgruppe "Grup Yorum", um ihre Anhängerinnen und Anhänger zu mobilisieren und ideologisch im Sinne der DHKP-C zu indoktrinieren. Ebenfalls aktiv sind die türkische "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" ("Marksist Leninist Komünist Partisi", MLKP) sowie die "Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten" ("Türkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist", TKP/ML). Beide Organisationen bekennen sich zum revolutionären Marxismus-Leninismus und fordern die Zerschlagung des türkischen Staatswesens. Mitglieder der MLKP sind im syrischen Bürgerkrieg im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat im Einsatz, mehrere MLKP -Mitglieder kamen dabei ums Leben. In Niedersachsen, wie auch im weiteren Bundesgebiet, ist ein stärkeres Auftreten der jeweiligen Jugendorganisationen der linksextremistischen türkischen Gruppierungen zu beobachten. Ziel ist es, eine Anschlussfähigkeit an deutsche linke Gruppen herzustellen, um die eigenen Anliegen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Dies geschieht über Themen wie Klimaschutz, Migration oder die Rechte von Minderheiten. 269 Extremismus mit Auslandsbezug Ausblick Politische Ereignisse in der Türkei führen weiterhin regelmäßig dazu, dass Deutschland - das seit vielen Jahren in erster Linie von den extremistischen Gruppierungen als sicherer Rückzugsraum gesehen wird - spontan und nachhaltig zum Austragungsort massiven Demonstrationsgeschehens, spontaner gewaltsamer Auseinandersetzungen und von Straftaten wie Blockadeaktionen, Besetzungen, Brandstiftungen oder Sachbeschädigungen werden kann. Allen voran die PKK zeigt trotz propagierter grundsätzlich friedlicher Linie und Gewaltverzicht für Europa, dass sie nach wie vor in der Lage ist, ihre Anhängerschaft spontan zu mobilisieren und zu emotionalisieren. Hierbei zeigte sich schon Ende 2022, dass sich die widerstreitenden Positionen in 2023, dem Jahr der nächsten türkischen Parlamentsund Präsidentschaftswahlen, erheblich verstärken werden. 5.4 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Weitere "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK)/ Bezeichnungen "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA GEL)/"Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan" (KKK)/"Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" (KCK) Sitz/Verbreitung Nord-Irak, Türkei, Syrien Gründung/Bestehen seit 1978 in der Türkei Leitung Abdullah Öcalan Mitglieder/Anhänger Niedersachsen: 1.600 Publikationen Yeni Özgür Politika (Neue Freiheit Politik) (werktäglich) Serxwebun (Unabhängigkeit) (monatlich) Sterka Ciwan (Stern der Jugend) Sender u. a. Med Nuce TV 270 Extremismus mit Auslandsbezug Kurzportrait/Ziele 1984 rief Abdullah Öcalan, Gründer und unumstrittene Führungsfigur der "Arbeiterpartei Kurdistans" (Partiya Karkeren Kurdistane, PKK), zum bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat auf und gründete eine Guerilla, um die Vision eines unabhängigen Kurdenstaates gewaltsam umzusetzen. Seit dem Jahr 2000 nennt sich dieser militärische Arm der PKK nach vielen Umbenennungen "Volksverteidigungskräfte" (Hezen Parastina Gel - HPG). Mit Hilfe ihrer Guerillaverbände agiert die PKK in der Türkei, im Norden Syriens und in der nordirakischen Grenzregion. Durch die Konfrontation zwischen der türkischen Armee und der PKK ist in mehr als 30 Jahren eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt entstanden, die in den kurdischen Siedlungsgebieten im Osten und Südosten der Türkei zeitweise zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte. Erst nach der Verhaftung Öcalans verabschiedete sich die PKK in offiziellen Verlautbarungen von der Errichtung eines eigenständigen Kurdenstaates mit Hilfe des bewaffneten Kampfes, den Öcalan im August 1999 offiziell für beendet erklärte. Dennoch behielt sich die PKK vor, jederzeit wieder auf gewaltsame Mittel zurückzugreifen. In frühen Jahren setzte die PKK aber nicht nur in der direkten Konfrontation mit dem türkischen Staat auf Gewalt, sondern auch bei Protesten gegen die türkische Politik in Deutschland und Europa. Dem begegnete das Bundesministerium des Innern (BMI) mit Verfügung vom 22.11.1993 mit einem vereinsrechtlichen Betätigungsverbot für die PKK im Geltungsbereich des Vereinsgesetzes. Nach einem Beschluss des Rates der Europäischen Union vom 02.05.2002 wurde die PKK in die Liste terroristischer Organisationen ("EU-Terrorliste") aufgenommen. Mittlerweile nutzt die PKK Deutschland überwiegend als Rückzugsraum und verzichtet aus diesem Grunde weitgehend auf den Einsatz von Gewalt auf deutschem Boden. 271 Extremismus mit Auslandsbezug Seitdem die PKK 1999 plakativ von ihrer ursprünglichen politischen Zielsetzung eines souveränen kurdischen Staates abrückte, vertritt sie eine kurdisch-nationalistische Ideologie und strebt offiziell eine politische und kulturelle Autonomie für die Kurden in der Türkei an. Sie propagiert die Etablierung einer nichtstaatlichen und länderübergreifenden, demokratischen Selbstverwaltung der Kurden unter Beachtung existierender Grenzen auf türkischem, teilweise auch auf iranischem, irakischem, syrischem und armenischem Gebiet. Das Ausrufen der "Demokratischen Autonomie" in den drei syrisch-kurdischen Kantonen Afrin, Cizre und Kobane im Jahr 2014 unter Federführung ihrer syrischen Schwesterorganisation "Partei der Demokratischen Union (PYD)" war für die PKK ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu dem von ihr angestrebten, nationale Grenzen überschreitenden "Kurdistan". Finanzierung Die Beschaffung von finanziellen Mitteln, vorwiegend durch Spenden, ist nach wie vor eine der Hauptaktivitäten der PKK in Deutschland. Der Propagandaapparat, wie z. B. Fernsehsender, digitale Medien und Publikationen, muss ebenso finanziert werden wie die politischen Kampagnen, die Unterorganisationen und die Guerilla-Armee. Hierzu dient vor allem die jährlich stattfindende sogenannte Spendenkampagne. Im Jahr 2022 lag der Ertrag allein in Deutschland - wie in den letzten Jahren - bei mehreren Millionen Euro. In den letzten zehn Jahren konnte die PKK die jährliche Spendensumme mehr als verdreifachen. Die Spendenbereitschaft der mit der PKK sympathisierenden kurdischen Bevölkerung in Deutschland ist seit Jahren aufgrund der Entwicklungen in der Türkei, in Syrien und im Nordirak gestiegen. Auch die Sorge um den Gesundheitszustand des in der Türkei lebenslang inhaftierten Abdullah Öcalan erhöht die Solidarität und die Bereitschaft, die Organisationsfähigkeit und den Aktionismus der PKK zu finanzieren. Überdies werden Einkünfte auch durch Mitgliedsbeiträge, den Verkauf von Zeitschriften und den Erlös aus dem Verkauf von Eintrittskarten zu Großveranstaltungen erzielt. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit In der Türkei verfolgt die PKK ihre Ziele seit 1984 bis heute mit Waffengewalt. Dies zeigen die bis in das Jahr 2022 andauernden 272 Extremismus mit Auslandsbezug Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der PKK-Guerilla sowie terroristische Anschläge in der Türkei. Propaganda, Rekrutierungen und Finanzierung über Spendeneintreibung sind hierfür entscheidende Vorbereitungshandlungen, die in ganz Europa und damit auch in Deutschland kontinuierlich bis heute vorangetrieben werden. Auch Deutschland war Anfang der Logo der PKK in Europa; in Deutschland verboten 1990er Jahre Schauplatz erheblicher Gewalttaten der PKK. Überfälle und Brandanschläge auf türkische diplomatische Vertretungen, türkische Banken und Reisebüros sowie Geschäfte, Gaststätten und Vereinslokale erfolgten häufig und zum Teil sogar bundesweit im Rahmen konzertierter Aktionen. Als Reaktion auf die Gewalttaten in den 1990er Jahren erfolgte 1993 das Betätigungsverbot in Deutschland. Mittlerweile setzt die Organisation im Rahmen einer Doppelstrategie zwar weiterhin in der Türkei auf Waffengewalt, Deutschland jedoch dient überwiegend als Rückzugsraum. Hier werden Geldmittel gesammelt, für die Parteiarbeit und die Guerilla rekrutiert sowie Propaganda betrieben. Trotz allem zeigt sich die Organisation nach wie vor grundsätzlich bereit, militante Aktionen ihrer Anhänger in Deutschland zumindest zu billigen. Zu nennen sind hier z. B. Auseinandersetzungen mit nationalistischen türkischen Gruppen oder Propagandaaktionen, die aufgrund großer Emotionalisierung in Widerstandshandlungen gegen die Polizei ausufern. Damit gefährdet die Organisation die innere Sicherheit und auch auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und erfüllt damit die Voraussetzungen für ihre Beobachtung (SS 3 Abs. 1 Nr. 1 und 3 NVerfSchG). Ursprung und Entwicklung Die PKK wurde am 27.11.1978 von einer Gruppe um Abdullah Öcalan gegründet. Trotz seiner Verhaftung am 15.02.1999 in Nairobi (Kenia) und seiner anschließenden Verurteilung zum Tode wegen Hochverrats in der Türkei, später umgewandelt in eine lebenslange Haftstrafe, gilt Öcalan bis heute als die unumstößliche Führungsfigur der PKK. Angetreten als eine marxistisch-leninistisch-nationalistisch orientierte Organisation mit dem Ziel, einen unabhängigen, sozialistisch ausgerichteten Kurdenstaat zu errichten, führt die PKK auch mit Hilfe schwerster Gewalttaten bis hin zur Tötung von 273 Extremismus mit Auslandsbezug Menschen einen Guerillakampf gegen türkische Gendarmerieund Militäreinheiten, aber auch gegen Teile der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Bereits in ihrem Programm aus dem Jahre 1986 heißt es zur Rolle der Gewalt: "Ein drittes Charakteristikum dieser Revolution ist, dass sie auf dem Weg über die Mobilisierung der breiten Kräfte des Volkes über einen langandauernden Kampf siegen wird ... Die Methoden des Kampfes basieren notwendig in weitem Umfang auf Gewalt." Seit Verkündung des "Friedenskurses" im Jahr 1999 vollzog die PKK zahlreiche Umstrukturierungen, die auch mit Umbenennungen einhergingen. Auf unterschiedliche Weise wollte sie damit ihre politische Neuausrichtung nach außen dokumentieren. Zugleich versuchte sie sich damit dem internationalen Verfolgungsdruck zu entziehen und sich vom Makel einer Terrororganisation zu befreien. Von 2003 bis 2005 trat die PKK als "Volkskongress Kurdistans" (Kongra Gele Kurdistan, KONGRA GEL) auf, seit dem Jahr 2007 unter der Bezeichnung "Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" (Koma Civaken Kurdistan, KCK). Die neuen Namen finden zwar Verwendung, sind in der Anhängerschaft aber eher wenig populär. Organisatorische Strukturen "Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa" (Kongreya Civaken Demokratik en Kurdistanyen li Ewropa, KCDK-E) Der in Belgien ansässige "Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa" (KCDK-E) bildet die PKK-Europaführung, in die auch die "Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa" (Civata Demokratik Kurdistan, CDK) als "politischer" Arm der PKK integriert ist. Die CDK unterliegt in Deutschland ebenfalls dem vereinsrechtlichen Betätigungsverbot. Die Organisation unterhält ein verzweigtes Netz verdeckt handelnder Funktionäre, die Anordnungen und Vorgaben der Organisationsspitze an die nachgeordneten Hierarchieebenen zur Umsetzung weitergeben. An der Spitze dieser hierarchischen Strukturen stehen Funktionäre, die in der Regel von der PKK-Europaleitung für einen 274 Extremismus mit Auslandsbezug begrenzten Zeitraum eingesetzt werden. Die unteren Hierarchieebenen sind in umgekehrter Weise regelmäßig berichtspflichtig und zur Selbstkritik aufgefordert. "Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e. V." (Konfederasyona Civaken Kurdistaniyen li Almanya, KON-MED) Die "Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e. V." (KON-MED) nahm bereits unmittelbar nach ihrer Gründung im Mai 2019 die Aufgaben als Dachverband für die der PKK nahestehenden sogenannten Ortsvereine in Deutschland wahr. KON-MED ist in die o. a. europäische Dachorganisation KCDK-E eingebettet. KON-MED gehören mehrere regionale Föderationen an.113 Die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Föderationen entspricht dabei nicht zwingend den tatsächlichen Grenzen der Bundesländer. Niedersachsen ist ganz überwiegend dem "Demokratischen Gesellschaftszentrum der Kurdinnen in Nord Deutschland e. V." (Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistaniyen le Bakure Almanya, FED-DEM) mit Sitz in Hamburg zuzurechnen. Lediglich der Bereich Osnabrück findet sich in der Föderation der freiheitlichen Gesellschaft Mesopotamiens in NRW e.V. (FED-MED NRW, Federasyone Civaken Azad yen Mezopotamya li NRW) wieder. FED-MED - Föderation der freiheitlichen Gesellschaft schaften Kurdistans in Deutschland e. V. KON-MED - Konföderation der GemeinMesopotamiens in NRW e. V. FCDK-KAWA - Föderation der Demokratischen Gesellschaften Kurdistans e. V. (Saarland und Hessen) FCK - Föderation der Gesellschaften Kurdistans e. V. (BadenWürttemberg und Bayern) FED-KURD - Freie Föderation Ostdeutschland FED-DEM - Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Nord Deutschland e. V. 113 Vgl. www.KON-MED.com, abgerufen am 09.02.2021. 275 Extremismus mit Auslandsbezug Für die Umsetzung von Vorgaben der Führungsspitze und den Informationsfluss zur Basis bedient sich die PKK überwiegend der örtlichen Vereine in Deutschland. Diese dienen der PKK-Anhängerschaft als Treffpunkte und Anlaufstellen. KON-MED initiiert regelmäßig über die Ortsvereine öffentlichkeitswirksame Aktionen, die sich jeweils auf aktuelle Geschehnisse oder bestimmte Jahrestage, etwa den Gründungstag der PKK, beziehen. KON-MED ist nicht vom PKK-Betätigungsverbot betroffen. In Niedersachsen existieren Vereine z. B. in Aurich, Celle, Hannover, Hildesheim, Osnabrück, Peine, Salzgitter, Verden und Walsrode. Jugendorganisationen Die Jugend nimmt innerhalb der PKK eine besondere Stellung ein. Sie wird als "Avantgarde des Befreiungskampfes" betrachtet. Den PKK-Jugendorganisationen kommt daher seit Jahren in Bezug auf Propaganda, Aktionismus und Rekrutierung eine wichtige Rolle zu. Die PKK-Jugendorganisation "Ciwanen Azad" (Freie Jugend, CA) wurde auf einer europaweiten Jugendversammlung im April 2013 in Troisdorf (Nordrhein-Westfalen) als europäischer Dachverband der PKK-Jugend gegründet. Der Dachverband soll als legaler Verband fungieren und steht dabei neben der viel älteren Jugendorganisation "Komalen Ciwan" (Gemeinschaft der Jugendlichen, KC). Beide Organisationen umfassen denselben Personenkreis. Der CA sollen ausschließlich positive Schlagzeilen zugeschrieben werden, KC tritt in Aktion, wenn Negatives öffentlich wird. Am 21.10.2018 wurde ein neuer europaweiter Dachverband jugendlicher PKK-Anhänger namens "Tevgera Ciwanen Soresger" (Bewegung der revolutionären Jugend, TCS) gegründet. Die TCS scheint den bisherigen europäischen Dachverband der PKK-Jugend CA abzulösen, ohne dass CA bisher tatsächlich aufgelöst wurde. Am 08.07.2020 berichtete die PKK-nahe Nachrichtenagentur "Ajansa Nuceyan a Firate" (ANF) erstmalig über die Gründung der "Jinen Ciwan en Tekoser" (Bewegung der jungen kämpferischen Frauen, TEKO-JIN) als eigene Organisation für weibliche Jugendliche. TEKO-JIN selbst bezieht sich in ihrer Gründungserklärung ideologisch auf die Ideen des PKK-Führers Öcalan. 276 Extremismus mit Auslandsbezug Aktionen und Kampagnen von jugendlichen PKK-Anhängern im Jahr 2022 wurden von TCS und TEKO-JIN initiiert. Diese Aktionen werden einerseits in den eigenen Medien sehr öffentlichkeitswirksam dargestellt. Andererseits ist festzustellen, dass diese Aktionen auch die internationale bzw. überregionale PKK-Anhängerschaft anzieht. Insofern haben zwar die Aktivitäten in Niedersachsen zugenommen, sie wirken sich aber nicht auf das seit einigen Jahren konstante Personenpotenzial aus. Sonstige Massenorganisationen Weitere PKK-nahe Massenorganisationen verfolgen das Ziel, den Einfluss der PKK in möglichst allen Segmenten der kurdisch-stämmigen Gemeinschaft zu verankern. In diesem Zusammenhang sind besonders der "Verband der Studierenden aus Kurdistan" (YXK) sowie der "Verband der studierenden Frauen aus Kurdistan" (JXK) hervorzuheben, die durch Veranstaltungen oder Aktionen - insbesondere in Universitäten - regelmäßig in Erscheinung treten. Auch auf anderen Gruppen, die als gesellschaftliche Multiplikatoren wirken bzw. in Zukunft wirken könnten, liegt ein besonderes Augenmerk. Entsprechend fungieren die "Union der kurdischen Lehrer" (YMK), die "Union der Journalisten Kurdistans" (YRK) sowie die "Union der Juristen Kurdistans" (YHK). In diesem Zusammenhang ist auch die Etablierung der "Islamischen Gemeinde Kurdistans" (CIK) als Versuch der Einflussnahme auf kurdisch-stämmige Muslime zu werten. Diese Organisationen sind auch in Niedersachsen aktiv. Ereignisse und Entwicklungen im Berichtszeitraum Reaktionen der PKK-Anhängerschaft auf türkische Militäroffensiven Das Jahr 2022 war von verschiedenen militärischen Offensiven der türkischen Armee gegen Stellungen der PKK-Kurden in Nordsyrien und im Nordirak geprägt. Hierbei handelte es sich um die Operationen "Winteradler" (ab 01.02.2022), "Krallenschloss" (ab 17.04.2022) sowie "Klauenschwert" (ab 19.11.2022), die jeweils unmittelbare Reaktionen der PKK-Anhängerschaft in Form von nahezu täglichen demonstrativen Aktivitäten in Europa hervorriefen. In niedersächsischen Städten, u. a. in Aurich, Göttingen, Hannover und Vechta, fanden über das ganze Berichtsjahr verteilt zahlreiche 277 Extremismus mit Auslandsbezug Protestveranstaltungen statt. Die überwiegende Anzahl der Veranstaltungen verlief bis auf veranstaltungstypische Verstöße gegen das Vereinsgesetz wie dem Skandieren von verbotenen PKK-Parolen oder dem Zeigen von verbotenen Fahnen und Symbolen der PKK störungsfrei. Neben einem sehr starkem Demonstrationsgeschehen war auch eine Vielzahl anderer öffentlichkeitswirksamer Aktionen zu verzeichnen. Am 20.04.2022 veröffentlichte das PKK-nahe Medienportal "Nuce Ciwan" unter Bezugnahme auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Türkei und den Grenzgebieten ein Video der Initiative "Kinder des Feuers", in dem Touristen gewarnt werden, ihren Urlaub in der Türkei zu verbringen. Mit diesem Drohvideo griff die PKK eine Praxis vergangener Jahre auf, durch Warnungen an potenzielle Türkeiurlauber einerseits Medieninteresse zu erzeugen und andererseits die türkische Wirtschaft immens zu schädigen. In dem Video heißt es: "Nur, damit ihr baden könnt, Nur, damit [ihr das] Wetter genießt; Nur, damit ihr mit euren Liebsten am Strand spazieren könnt, sterben täglich KurdInnen. All das Geld, das ihr ausgebt, wird in ein großes Waffenarsenal investiert, das gegen kurdische Kinder eingesetzt wird und ihre kleinen Körper in tausende Teile zerstückelt. Die Straßen sind blutgetränkt, ein einziges Blutbad. Unsere Häuser, gar ganze Dörfer werden zerstört. ... Mit eurem Geld werden wir getötet. ... Und solltet ihr doch kommen, so müsst ihr wissen, dass wir mit unserem Plan des Niedergangs längst bewiesen haben, dass Touristengegenden unsere Zielscheibe sind. Demnach zielen wir darauf ab, jedes Hotel, das TouristInnen beherbergt, in Brand zu setzen. Nicht nur Hotels, ja, auch Clubs, Bars, Kneipen, Unterhaltungsstätten, Gaststätten und ähnliche Einrichtungen sind niederzubrennen. Wundert euch nicht, wenn es passiert, denn wir wissen: Ihr seid nicht anders als die Soldaten die tagtäglich Assimilationspolitik betreiben und den Völkermord begehen. Schlussendlich werden diese Dinge mit euren Geldern gefördert, sogar erst ermöglicht. Kommt nicht in die Türkei! Und solltet ihr es doch tun, so seid gewappnet. Wir haben es auf euch abgesehen." In einer ebenfalls im April über "Nuce Ciwan" verbreiteten Erklärung forderte die europäische apoistische Jugendinitiative alle kurdischen Jugendlichen auf, sich im europäischen Gebiet an den Institutionen der als faschistisch deklarierten Türkischen Republik zu rächen und der Guerilla beizutreten. In der Erklärung heißt es u. a.: 278 Extremismus mit Auslandsbezug "Wir werden jeden Ort, an dem sich die Institutionen des türkischen Staates befinden, in ein Kriegsgebiet verwandeln. ... Wir freuen uns darauf, die ganze Jugend in den Reihen der Guerilla zu treffen." Seit Beginn der Operation "Krallenblitz" im April 2021114 berichten PKK-nahe Medien, dass die Türkei Chemiewaffen oder verschiedene Arten von verbotenen Bomben (thermobarische oder Phosphorbomben) gegen die Guerilla einsetze. Nach den Berichten über den intensivierten Einsatz von chemischen Waffen durch die türkische Armee in Kurdistan rief der KCDK-E zu sofortigen Protestaktionen auf, um mögliche Kriegsverbrechen des "Erdogan-Regimes" sichtbar zu machen und anzuprangern. Der Europadachverband forderte von Menschenrechtsorganisationen und internationalen Einrichtungen wie der "Organisation für das Verbot von Chemiewaffen" (OPCW) eine Positionierung zu möglichen Kriegsverbrechen der Türkei. Das Demonstrationsgeschehen, das sich gegen die türkischen Invasionen richtete, wurde durch das besondere Thema eines angeprangerten Chemiewaffeneinsatzes der Türkei verschärft. Dem Aufruf entsprechend kam es bundesweit zu "Besuchen" oder "Besetzungen" von Medienhäusern und Büros politischer Parteien, insbesondere der Partei "BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN", um politische Forderungen ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken und politische Unterstützung gegen die Türkei zu erwirken: Eine Personengruppe, u. a. mit der Beteiligung der Kampagne "Women Defend Rojava" (WDR), besetzte am 21.10.2022 das Regionsbüro der Partei "BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN" in Hannover. Sie forderten ein Gespräch mit einem hochrangigen Parteimitglied, um mit ihm über die aktuelle Lage in Kurdistan und über Maßnahmen für den Frieden und die Achtung der Menschenrechte in der dortigen Region zu sprechen. Nachdem ihnen dieses zugesichert wurde, verließen sie schließlich freiwillig das Regionsbüro. Mit der Aktion wollten die Aktivistinnen und Aktivisten Druck auf "BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN" ausüben und gegen das Schweigen zum Angriffskrieg der Türkei im Nordirak sowie in Nordund Ostsyrien protestieren. 114 Vgl. hierzu Verfassungsschutzbericht Niedersachsen 2021, Seite 276f. 279 Extremismus mit Auslandsbezug Ebenfalls am 21.10.2022 forderte die Hamburger Ortsgruppe der Kampagne WDR die Grünen-Fraktion in Hamburg mit Blick auf die Luftangriffe der Türkei in den Autonomiegebieten Nordund Ostsyriens sowie in der Kurdistan-Region Irak zum Handeln auf. Die Delegation stattete der grünen Bürgerschaftsfraktion einen Besuch ab und übergab ein Papier mit der Forderung an die Bundesaußenministerin, sich unverzüglich für eine Flugverbotszone in den südlichen und westlichen Teilen Kurdistans einzusetzen. Am Abend des 24.10.2022 besetzten PKK-Angehörige vorübergehend das ZDF-Gebäude in Berlin. Die Gruppe überreichte Vertretenden des ZDF ein Dossier und legte einen Forderungskatalog vor. Eine ähnliche Aktion des "zivilen Ungehorsams" fand am 28.10.2022 beim NDR in Hannover statt. Die Teilnehmenden legten Vertretenden des NDR ein Dossier über chemische Waffen vor und forderten, darüber Nachforschungen anzustellen und darüber zu berichten. Die Besetzerinnen und Besetzer erklärten, dass sie nicht eher gehen würden, bis ihre Forderungen akzeptiert seien. Nach einem etwa 30-minütigen Sitzstreik erwirkten sie die Zusicherung von Vertretenden des NDR, das Dossier zum Gegenstand ihrer Nachrichten zu machen. Göttinger Aktivistinnen und Aktivisten forderten die Bundesregierung am 01.11.2022 auf, die Zusammenarbeit mit der Türkei zu beenden und sich für eine Untersuchung türkischer Kriegsverbrechen einzusetzen. Etwa 15 in weiße Maleranzüge gekleidete Personen zündeten gelbe Rauchbomben am Göttinger Gänseliesel. Auf Flugblättern und einem Transparent mit der Aufschrift "Wir sehen eure Verbrechen - Stoppt den türkischen Einsatz chemischer Waffen in Kurdistan" prangerten sie den Einsatz von verbotenen chemischen Kampfstoffen an. Eine Sprecherin erklärte zudem, dass sie Teil des Netzwerkes "Women Defend Rojava" seien. Ein PKK-Aktivist aus Hannover führte auch die europaweite Großdemonstration unter dem Motto "Stop Chemical Warfare in Kurdistan! #YourSilenceKills" am 12.11.2022 in Düsseldorf mit knapp 4.000 Teilnehmenden an. Abgesehen von veranstaltungstypischen Straftaten wie dem Zeigen von verbotenen PKK-Symbolen, dem Ausrufen 280 Extremismus mit Auslandsbezug von PKK-Parolen oder auch dem Abbrennen von Pyrotechnik verlief die Demonstration störungsfrei. Am 14.11.2022 erfolgte in Hannover eine spontane Protestaktion von etwa zehn Teilnehmenden. Ein Plakat mit der Aufschrift "Wir sehen eure Verbrechen. Stoppt den Krieg mit Chemiewaffen" wurde gezeigt und kurdische Parolen gerufen. Die Teilnehmenden blockierten für circa zehn Minuten die Straße vor dem türkischen Generalkonsulat. Auch das türkische Außenministerium wies in einer Verbalnote vom 23.12.2022 auf diesen Vorfall hin. Am 19.11.2022 nutzte die Anhängerschaft der Organisationen TekoJIN und TCS die Landesmitgliederversammlung der Hamburger Partei "BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN", um auf die aktuelle Situation in Kurdistan und die mutmaßlichen Giftgasangriffe des türkischen Staates gegen die Kämpferinnen und Kämpfer der Guerilla aufmerksam zu machen. Die Bundesregierung solle dazu bewegt werden, einen Antrag zur Untersuchung der Kriegsverbrechen mit chemischen Waffen in der Region an die OPCW zu stellen. Im Zuge der Aktion wurden rauchentwickelnde Mittel genutzt, um die Teilnehmenden der Versammlung auf die Folgen von Giftgas aufmerksam zu machen.115 Unmittelbar nach Bekanntwerden der bisher letzten türkischen Militäroffensive, der Operation "Klauenschwert" ab dem 19.11.2022, protestierte die PKK-Anhängerschaft wiederum ganz massiv und europaweit. Laut Berichterstattung der PKK-nahen Nachrichtenagenturen ANF und "Nuce Ciwan" soll sich die Wut der Demons trierenden dabei auch gegen die USA, Russland und die Regierungen Europas gerichtet haben, da diese u. a. den Luftraum in Nordsyrien zu kontrollieren und die grenzüberschreitende Luftoperation hätten genehmigt haben müssen. Neben Demonstrationen und Farbschmierereien wurden deutschlandweit wiederum Parteibüros aufgesucht. Beispielsweise besuchten Aktivistinnen und Aktivisten am 23.11.2022 die Göttinger Büros der 115 Vgl. "Chemiewaffen: Hamburger Grüne zum Handeln aufgefordert", veröffentlicht auf der Internetseite der Nachrichtenagentur Firat News am 19.11.2022 und "TekoJIN und TCS Hamburg machten heute bei der Landesmitgliederversammlung der Partei die Grünen auf Chemiewaffen aufmerksam", veröffentlicht auf der Internetseite von Nuce Ciwan am 20.11.2022. 281 Extremismus mit Auslandsbezug Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD und überreichten einen Forderungskatalog. Am 25.11.2022 wurde erneut das Göttinger Büro der SPD von rund 40 Aktivistinnen und Aktivisten für etwa eine Stunde besetzt. Sie entrollten Transparente und Fahnen kurdischer Milizen. Eine Sprecherin erklärte: "Wir haben den Lokalbüros von SPD und Grünen vor einigen Tagen unsere konkreten Forderungen übergeben und als Antworten nur Phrasen bekommen; deshalb machen wir nun deutlich, dass wir uns nicht so einfach abwimmeln lassen." (Internetseiten der Nachrichtenagenturen ANF und "Nuce Ciwan", jeweils veröffentlicht am 25.11.2022) Daraufhin verurteilte die SPD Göttingen die aktuellen Angriffe der türkischen Regierung. Auch das Parteibüro der Partei "BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN" in Göttingen wurde am 01.12.2022 erneut "besetzt". Aktivistinnen und Aktivisten u. a. der Kampagne WDR überreichten dem Lokalverband ein ausführliches Dossier mit Hintergrundinformationen und forderten die Partei erneut zu konsequentem Handeln auf. In Göttingen versammelten sich am 30.11.2022 im Rahmen der ausgerufenen Aktionstage rund 40 Personen vor der Jakobikirche. An einer Wäscheleine hingen Fotos einiger Opfer chemischer Angriffe. Eine Person war mit einer Atemschutzmaske ausgestattet und es stieg gelber Rauch auf. In Braunschweig wurde ein sogenanntes Die-In116 vor dem Büro der Partei "BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN" durchgeführt. Die Teilnehmenden waren mit weißen Schutzanzügen, Atemschutzmasken und gelbem Rauch ausgestattet. Die Forderung war, dass die Grünen als Regierungspartei, die sich mit einer angeblich "feministischen Außenpolitik" schmückt, die Verantwortung haben, sich gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ihres NATO-Partners zu stellen, anstatt diesen weiterhin als legitimen Verhandlungspartner zu behandeln und mit Waffen zu beliefern. 116 Hierbei handelt es sich um eine gewaltfreie Aktion, bei der sich die Teilnehmenden anlassbezogen gekleidet haben, sich plötzlich auf den Boden werfen und totstellen, um so auf ein politisches Problem aufmerksam zu machen. 282 Extremismus mit Auslandsbezug Die Bürgersprechstunde der Celler Bündnisgrünen nutzten PKK-Anhängerinnen und -Anhänger am 02.12.2022, um dort für ein konsequentes Handeln der Bundesregierung gegen die laufenden Angriffe der türkischen Armee auf Gebiete in Nordund Ostsyrien und im Irak zu werben. Viele der Proteste wurden zusätzlich durch die aktuelle Situation des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan geschürt. Aufgrund seiner strikten Isolation seit mehr als 20 Monaten fehlt jegliches Lebenszeichen. Im September 2022 besuchte das Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter (CPT) die Gefängnisinsel Imrali, auf der Öcalan seine lebenslange Haft verbüßt. Dass Öcalan kein Gespräch mit dem Komitee führen konnte, verstärkte die Proteste weiter. Jugendliche und junge Frauen in Deutschland, der Schweiz, England, Österreich und Frankreich waren aufgerufen, am 17.12.2022 für die Freilassung Öcalans "auf die Straße zu gehen". In Hannover demonstrierten bis zu 150 Personen unter dem Motto "Freiheit für Öcalan und alle politischen Gefangenen", darunter auch PKK-Anhängende aus Berlin, Hamburg und Stuttgart. Das Ersuchen der Versammlungsleiterin, vor dem türkischen Generalkonsulat eine 30-minütige Zwischenkundgebung abzuhalten, wurde von der Polizei aufgrund des PKK-Bezuges der Versammlung abgelehnt. Während der Versammlung wurden immer wieder verbotene Symbole gezeigt. Auch traten und schlugen mehrere Teilnehmende auf verkehrsbedingt wartende Kraftfahrzeuge ein. Sofern die Polizei eingreifen musste, führte dies immer wieder zur Solidarisierung durch andere Teilnehmende. Durch einen tätlichen Angriff wurde ein Einsatzbeamter leicht verletzt. Eine Person ist festgenommen worden. Am 24.11.2022 stellte die Büroleitung der SPD Hameln-Pyrmont an ihrem Parteibüro in Hameln folgende großflächige Farbschmierereien 283 Extremismus mit Auslandsbezug fest: "Ihr haltet Erdogan den Rücken frei" und "Defend Rojava". Täterhinweise liegen bislang noch nicht vor. Bundesverwaltungsgericht bestätigt Verbot von Teilorganisationen der PKK Das Bundesverwaltungsgericht hat das Verbot zweier kurdischer Firmen als Teilorganisationen der PKK mit Urteil vom 16.01.2022 bestätigt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Mezopotamien Verlag und Vertrieb GmbH und die MIR Multimedia GmbH personell, finanziell und organisatorisch mit der verbotenen PKK verflochten waren. Das Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI) hatte beide Einrichtungen mit Verfügung vom 01.02.2019 verboten und aufgelöst. Die Geschäftstätigkeit des Mezopotamien Verlages war nach Überzeugung des Gerichtes auf den Vertrieb von PKK-Propagandamaterial ausgerichtet gewesen. Dies belegten eine Vielzahl von entsprechenden Büchern, Zeitschriften und Devotionalien. Zudem habe der Verlag finanzielle Zuschüsse von der Europaführung der PKK erhalten und sei dieser rechenschaftspflichtig gewesen. Etwas anders beurteilte das Gericht die MIR Multimedia GmbH, die Künstlerinnen und Künstler vermittelte und Tonträger verkaufte. Deren Geschäftstätigkeit sei nicht "PKK-spezifisch gewesen". Allerdings habe sie mit ihren Einnahmen PKK-Veranstaltungen gesponsert. Die Mezopotamien Verlag und Vertrieb GmbH und die MIR Multimedia GmbH hatten dieselbe Firmenanschrift in Neuss (NRW) sowie denselben Geschäftsführer und Alleingesellschafter. Dieses war nach Überzeugung des Gerichtes ein höherer Kader der PKK. Das Bundesverwaltungsgericht folgte im Wesentlichen der Einschätzung des BMI. Mit der Entscheidung des Gerichtes ist das Verbot rechtskräftig. Festnahme eines Funktionärs aus Hannover in Nürnberg Am 22.12.2022 nahmen Beamte des Landeskriminalamtes Bayern den ehemaligen Co-Vorsitzenden der KON-MED aus Hannover aufgrund eines Haftbefehls des Oberlandesgerichts München in Nürnberg fest. Die Generalstaatsanwaltschaft München führt ein Ermittlungsverfahren nach SSSS 129a, 129b StGB wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in oder Unterstützung der PKK gegen den 284 Extremismus mit Auslandsbezug Funktionär. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, seit mindestens Juni 2021 als PKK-Funktionär in Bayern tätig gewesen zu sein. In Nürnberg wurden eine Wohnung und die Vereinsräumlichkeiten des dortigen Medya Volkshaus e.V. durchsucht. Außerdem erfolgte eine polizeiliche Durchsuchung der Privatwohnung in Hannover. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die PKK zeigt sich noch immer als die mitgliederstärkste nichtislamistische extremistische Ausländerorganisation in Deutschland. Es wird deutlich, dass die PKK weiterhin in der Lage ist, schlagkräftig aufzutreten und - bei entsprechendem Anlass - auch Personen weit über die aktive Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Die Schwerpunkte der Tätigkeit der PKK in Europa sind auf die logistische, finanzielle und propagandistische Unterstützung des Kampfes in der Heimat (Türkei, Syrien und Nordirak) ausgerichtet. Die Beschaffung finanzieller Mittel für die Ausrüstung und Bewaffnung des militärischen Arms, für die Unterhaltung des Parteiapparates und seiner medialen Plattformen sowie die Parteiaktivitäten bleibt daher in Europa und insbesondere in Deutschland auf allen Organisationsebenen vordringlichste Aufgabe. Die Lage der Kurden in der Türkei, den kurdischen Gebieten im Irak und in Syrien sowie die Situation des inhaftierten Abdullah Öcalan haben seit langem Einfluss auf die Sicherheitslage in Deutschland. Trotz der inzwischen 23 Jahre andauernden Inhaftierung bleibt Öcalan Führungsfigur und Leitmotiv der PKK. Die emotionalen Protestaktionen der letzten Jahre zeigen, wie unmittelbar der Konflikt in den Heimatregionen von den Kurden auch in Deutschland wahrgenommen und bewertet wird. Das künftige Verhalten der PKK-Anhängerinnen und -Anhänger hängt daher ganz wesentlich von der weiteren Entwicklung dort ab. Das Jahr 2022 hat gezeigt, dass das politische und militärische Agieren der Türkei gegenüber der PKK nicht an Schärfe verloren hat. Staatspräsident Erdogan stellt sich mit Vehemenz der PKK entgegen und sichert sich damit weiterhin Akzeptanz und Ansehen bei einem Großteil der türkischen Bevölkerung, dies auch in Zeiten innenpolitischer, vor allem wirtschaftlicher Probleme und, für ihn von besonderer Bedeutung, vor den Parlamentsund Präsidentschaftswahlen im Mai 2023. 285 Extremismus mit Auslandsbezug In Abhängigkeit von der Situation im Heimatland bewegt sich in der Bundesrepublik Deutschland sowohl das Risiko gewalttätiger Auseinandersetzungen mit nationalistischen/rechtsextremistischen Türken als auch das Risiko gewalttätiger Angriffe von PKK-Anhängerinnen und -Anhängern auf türkische Einrichtungen. Wird es 2023 weitere militärische Offensiven der türkischen Armee in Nordsyrien und im Nordirak geben, so muss auch mit weiteren Demonstrationen und Aktionen gerechnet werden. Insbesondere beim Aufeinandertreffen von Personen aus dem (nationalistischen) türkischen und Personen aus dem kurdisch-stämmigen Lager kann es aufgrund der hohen Emotionalisierung zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen. Auch Besetzungsaktionen, Brandanschläge und Sachbeschädigungen an Gebäuden türkischer Einrichtungen können lageabhängig nicht ausgeschlossen werden. Mit Solidaritätsaktionen und Resonanzstraftaten von deutschen Linksextremisten ist ebenfalls zu rechnen. Grundsätzlich ist dabei in Deutschland von einem friedlichen Protestverlauf auszugehen, denn die PKK propagiert die Beibehaltung einer friedlichen Linie in Europa. Vor diesem Hintergrund bedürfen die aktuellen Entwicklungen insbesondere hinsichtlich einer möglichen weitergehenden Tendenz zur Anwendung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung auch weiterhin der intensiven nachrichtendienstlichen Beobachtung. 5.5 Ülkücü-Bewegung Sitz/Verbreitung Türkei Gründung/ Mitte des 20. Jahrhunderts Bestehen seit Mitglieder/Anhänger Niedersachsen: 700 286 Extremismus mit Auslandsbezug Kurzportrait/Ziele Die rechtsextreme türkische "Ülkücü (Idealisten)-Bewegung", umgangssprachlich auch "Graue Wölfe" (Bozkurtlar) genannt, wurde 1968 von Alparslan Türkes (1917-1997) gegründet und versteht sich als außerparlamentarischer Arm der extrem nationalistischen türkischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" ("Milliyetci Hareket Partisi" - MHP). Sie fußt auf einer nationalistischen und rassistischen Ideologie, deren Wurzeln im Panturkismus bzw. Turanismus117 liegen. Die Überhöhung des türkischen Volkes geht mit einer gleichzeitig ausgeprägten Abwertung anderer Ethnien, Staaten und Religionen, vor allem von Angehörigen des jüdischen Glaubens, des Staates Israel und der Armenier, einher. Kurden bilden ein weiteres stark ausgeprägtes Feindbild, ebenso die Griechen. Kommunismus und Kapitalismus werden zu Gunsten eines dritten Weges abgelehnt. Ziel der extrem nationalistisch, antisemitisch, rassistisch und rechtsextremistisch ausgerichteten Bewegung ist der Schutz des Türkentums sowie eine alle Turkvölker in einem homogenen "Großtürkischen Reich" namens "Turan" vom Balkan bis nach Westchina vereinende Nation. Grund der Beobachtung/Verfassungsfeindlichkeit Bei der "Ülkücü-Bewegung" handelt es sich aufgrund ihres stark überhöhten Nationalismus in Verbindung mit der Abwertung anderer Ethnien um eine Bestrebung, die gegen den grundgesetzlich garantierten Gleichheitsgrundsatz verstößt und sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gegen das friedliche Zusammenleben der Völker Logo der Ülkücü-Bewegung richtet. Sie erfüllt damit die Voraussetzungen für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz (SS 3 Abs. 1 Nrn. 1 und 4 NVerfSchG). Ihre Ideologie zeigt sich nach außen durch Symbole wie die "Drei-Halbmondfahnen", den "Grauen Wolf" (Bozkurt) und den "Wolfsgruß". Politische Ereignisse im Heimatland Türkei führen regelmäßig zu hoch emotionalen Reaktionen, auch in der Bundesrepublik Deutschland. Gewaltaktionen, z. B. gegen PKK-Anhänger, aber auch gewalttätiger Widerstand gegen die Polizei im Rahmen von Demonstrationen, erfolgen immer wieder situativ und spontan, sind aber bisher 117 Die Ideologie entstand im 19. Jahrhundert und verfolgt das Ziel, alle turksprachigen Völker in einen einzigen Staat zusammenzuschließen. 287 Extremismus mit Auslandsbezug insgesamt eher überschaubar. Bei der "Ülkücü-Bewegung" handelt es sich in all ihren Ausprägungen um eine verfassungsfeindliche Bestrebung. Ideologie Das ideologische Fundament der "Ülkücü"-Lehre bildet die 9-Strahlen-Doktrin, verfasst von Alparslan Türkes im Jahr 1965. Die Strahlen symbolisieren dabei die Theorien des Nationalismus, Idealismus, Moralismus, traditionelle Wissenschaftlichkeit, Soziabilität, Förderung der Landwirtschaft, Freiheit und Individualismus, Volksnähe, Förderung der nationalen Industrie und der Technik. Aufbauend auf die Doktrin entwickelte sich in der "Ülkücü-Bewegung" eine Grundhaltung und Idealvorstellung, die sich auf fast alle Lebensbereiche erstreckt. Sie stellt eine Lebensphilosophie dar, nach der "Ülkücü"-Anhängerinnen und -Anhänger zu leben haben. Die totale Identifikation mit der Nation, dem türkischen Staat sowie der Religion wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Ein weiteres Kriterium ist die Absicht, ein "Großtürkisches Reich"118 zu errichten, den sogenannten "Turan". Danach soll ein Volk (das Türkentum) herrschen, mit einer Sprache (das Türkisch), unter derselben Flagge (die drei Halbmonde) und auf demselben Territorium (dem "Großtürkischen Reich"). Dabei sind die Überhöhung des Türkentums, des türkischen Charakters und des Kampfes gegen Separatisten wichtige Elemente. Eine rassistische Sichtweise bestärkt das nationale Bewusstsein und ist ein wesentlicher Bestandteil der Ideologie. Die "Ülkücü"-Anhängerinnen und -Anhänger leben nach einem totalitären Normverständnis, nach dem allen Menschen anderer Ethnien, insbesondere Kurden, Angehörige des jüdischen Glaubens, Armenier und Griechen oder anderer Minderheiten in der Türkei weder Akzeptanz noch Respekt gewährt werden. Hass und Gewalt gegenüber fremden Gruppierungen werden als legitim betrachtet. In der Praxis folgt daraus eine ständige Gewaltbereitschaft gegenüber 118 Das "Großtürkische Reich Turan" umfasst folgende Regionen: Altai, Aserbaidschan, Baschkortostan, Chakassien, Dagestan, Gagausien, Kabardino-Balkarien, Karakalpakstan, Karatschai, Kasachstan, Kirgistan, Krim, Nordzypern, Ostturkistan, Tataristan, Tschuwaschien, Turkmenistan, Tuwa, Türkei, Usbekistan und Yakutistan (Quelle: Selbstdarstellung auf turanhaberajansi.org). 288 Extremismus mit Auslandsbezug den "Feinden", die insbesondere bei den jungen Anhängerinnen und Anhängern und im Internet zu Tage tritt. Auch eine antidemokratische Grundhaltung mit gezielter Propaganda gegen "Linke", Sozialisten, Kommunisten sowie demokratische Institutionen gehört zur typischen Denkweise. Diese Ideologie verstößt nicht nur gegen den Gleichheitsgrundsatz, sondern wirkt einer Integration türkischstämmiger Migrantinnen und Migranten in die deutsche Gesellschaft entgegen. Struktur Die "Ülkücü-Bewegung" ist in Deutschland in drei Dachverbänden organisiert. Der größte "Ülkücü"-Dachverband ist die 1978 gegründete "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." ("Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu", ADÜTDF). Sie versteht sich als Auslandsvertretung der MHP. Die MHP wurde 1969 ebenfalls durch Alparslan Türkes gegründet und ist auf Logo der ADÜTDF Nationalismus und Turanismus ausgerichtet. Türkes wird von den Anhängern der ADÜTDF bis in die Gegenwart hoch verehrt. Die ADÜTDF pflegt eine Anti-EU-Rhetorik und agitiert vehement gegen die PKK. Seit 2018 besteht ein Wahlbündnis der MHP mit der vom türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan angeführten "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" ("Adalet ve Kalkinma Partisi", AKP), wodurch beide Parteien zusammen die Mehrheit im türkischen Parlament stellen. Die ADÜTDF mit Sitz in Frankfurt am Main teilt sich in ihrer Organisationsstruktur in Deutschland in mehrere Bölge (Gebiete) auf. Niedersachsen gehört zum Bölge Nord. Aktive Vereine existieren in Salzgitter, Braunschweig, Hannover und Osnabrück. Im bundesweiten Vergleich bildet Niedersachsen keinen Schwerpunkt der Aktivitäten. Auf europäischer Ebene existiert der Dachverband "Türkische Konföderation in Europa" ("Avrupa Türk Konfederasyon", ATK). Er besteht aus der ADÜTDF und neun weiteren nationalen Vereinigungen. Ein weiterer Dachverband der "Ülkücü-Bewegung" ist die "Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa" ("Avrupa Türk Islam Birligi", ATIB) mit Sitz in Köln. Sie hat sich 1987 von der 289 Extremismus mit Auslandsbezug ADÜTDF abgespalten, ohne dass jedoch eine ideologische Neuausrichtung erfolgt wäre. Die ATIB steht für einen stärker islamisch-religiös orientierten Teil der "Ülkücü-Bewegung". In Niedersachsen sind ATIB-Vereine mit angegliederten Moscheen in Hannover, Osnabrück und Salzgitter ansässig. Neben den Dachverbänden gibt es zudem eine quantitativ und qualitativ bemerkenswerte, aber schwer fassbare unorganisierte "Ülkücü"-Szene. Dabei handelt es sich um Aktivistinnen und Aktivisten, die einzeln oder in kleinen Strukturen rechtsextremistische Bestrebungen entfalten. Insbesondere im Internet und den sozialen Netzwerken sind rechtsextreme Symbolik, Mobilisierung und Hetze festzustellen. Die Sozialen Medien sind hier - allen voran für in Deutschland geborene und aufgewachsene türkischsprachige Jugendliche - eine wichtige Plattform. In dieser Szene steht nicht die Anbindung an eine Partei im Vordergrund, sondern lediglich eine loyale Grundeinstellung gegenüber nationalistischen rassistischen Denkmustern und Parteiarbeit in der Türkei. Aktuelle Ereignisse in der Türkei werden über die Sozialen Medien wie Instagram, Facebook oder TikTok thematisiert. Dabei wird insbesondere mit kurdischstämmigen Türken über reale, aber auch Fake-Accounts kommuniziert, beleidigt und gestritten. Mittelfristige Auswirkungen des Verbots der "Grauen Wölfe" in Frankreich Die Ortsvereine der Dachorganisationen der "Ülkücü-Bewegung" entwickelten in Deutschland auch 2022 relativ wenig Außenwirkung. Neben der Corona Problematik dürfte dafür vor allem das Verbot der "Grauen Wölfe" in Frankreich noch immer ausschlaggebend sein. Am 04.11.2020 hatte die französische Regierung unter Bezugnahme auf das französische Gesetz über die innere Sicherheit die "Ülkücü-Bewegung" aufgrund ihrer gemeinsamen Erkennungszeichen ("Wolfsgruß", Flagge usw.) als Gruppierung eingestuft. Zugleich hatte sie festgestellt, dass diese Bewegung wiederholt gewaltsame und bewaffnete Demonstrationen provoziert und zu Hass und Gewalt gegen Armenier aufgerufen habe. Die westeuropäische "Ülkücü"-Szene, die sich länderübergreifend als Organisation patriotisch gesinnter Türken versteht, reagierte mit 290 Extremismus mit Auslandsbezug Ablehnung und Unverständnis auf die französische Entscheidung. Innerhalb der deutschen Szene sind allerdings weiterhin keine nennenswerten aktiven Reaktionen auf das "Ülkücü"-Verbot in Frankreich erkennbar. Gerade die verbandlich organisierte "Ülkücü"-Anhängerschaft verhält sich weiterhin äußerst zurückhaltend. Sie wird vielmehr weiterhin regelmäßig innerhalb ihrer Organisationen zu Mäßigung und gesetzeskonformem Verhalten ermahnt. Am 17.11.2020 - und somit unmittelbar nach dem Verbot der "Grauen Wölfe" in Frankreich - sprach sich der Deutsche Bundestag unter der Überschrift "Nationalismus und Rassismus die Stirn bieten - Einfluss der Ülkücü-Bewegung zurückdrängen" in einem parteiübergreifenden Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für die Prüfung eines Organisationsverbots der Vereine der "Ülkücü-Bewegung" in Deutschland aus, um "jeder sich gegen die Werte unseres Grundgesetzes, den Gedanken der Menschenwürde und der Völkerverständigung richtenden Aktivität rechtsstaatlich konsequent entgegenzutreten." Ferner wird die Bundesregierung aufgefordert, die Aktivitäten der Bewegung insbesondere in Deutschland genau zu beobachten und ihnen mit den Mitteln des Rechtsstaates entgegenzuwirken. Die Entscheidung der Bundesregierung steht derzeit noch aus. Aktivitäten in Niedersachsen Die regionalen Vereine, die der "Ülkücü-Bewegung" zugerechnet werden, organisieren regelmäßig Treffen zu bestimmten Anlässen. Auf diese Weise wird der patriotische Zusammenhalt der Gemeinschaft - ein türkisch nationalistisches Zusammengehörigkeitsgefühl - gefördert. Auch werden zu bestimmten wichtigen Festtagen, wie z. B. dem religiösen Fastenbrechen oder zum Zuckerfest, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eingeladen, um ein vermeintlich enges soziokulturelles Zusammenleben aufzuzeigen. Das Aktionsspektrum in den Vereinsräumlichkeiten ist vielfältig. Um das ideologische Gedankengut zu festigen und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, gehören sowohl kulturelle und familiäre Feste als auch nationale oder religiöse Feierlichkeiten zur Tagesordnung. So werden z. B. seit Jahren Gedenkveranstaltungen für den Urvater Türkes 291 Extremismus mit Auslandsbezug ausgerichtet, insbesondere sein Todestag am 4. April wird in den Vereinen gewürdigt. Seit Jahren wird deutlich, dass der beschriebene Aktionismus zwar vordergründig kulturell und religiös geprägt ist; es schwingt in der Regel aber eine Überhöhung des türkischen Nationalismus mit, z. B. durch die Ausgestaltung der Räumlichkeiten mit Flaggen und Symbolen sowie durch die ausgewählte Musik. Veranstaltungen dieser Art zeigen, dass die der "Ülkücü-Bewegung" zuzurechnenden Vereine zwar bemüht sind, sich nach außen als sozial und engagiert darzustellen. Sie versuchen aber auch, unter Außerachtlassung demokratischer Grundprinzipien, das Wohl und den Schutz der kulturellen und religiösen Werte beizubehalten, nationalistische Werte hervorzuheben und die Anhänger, insbesondere die Jugendlichen, an sich zu binden und im Sinne der "Ülkücü"-Ideologie zu sozialisieren. Im Internet wird die ganze Bandbreite der Bewegung und ihrer Anhängerinnen und Anhänger offenbar - häufig in drastischen Bildern und Worten. Viele der meist jugendlichen Anhängerinnen und Anhänger bekräftigen in ihrer Selbstdarstellung über das Internet eine rassistische, kulturelle und mitunter auch religiöse Überlegenheit. Das Vorgehen der türkischen Armee in den kurdisch besiedelten Gebieten in Nordsyrien und im Nordirak - in den letzten Jahren gab es mehrere beachtliche Offensiven - wertete die "Ülkücü-Bewegung" positiv, da dadurch die Autonomiegebiete an der türkischen Südgrenze beseitigt würden und sie somit nicht mehr die Souveränität und Integrität des türkischen Staates bedrohen könnten. Entsprechend gab es immer wieder Spannungen zwischen den Anhängerinnen und Anhängern der "Ülkücü-Bewegung" und der PKK. Oft verlagern sich seit der Corona-Pandemie die Konfrontationen zwischen nationalistischen und linksextremistischen türkischstämmigen Personen bzw. PKK-Sympathisierenden ins Internet. Das zeigt sich auch auf den Social Media-Accounts des Niedersächsischen Verfassungsschutzes bei Instagram und Twitter. Auf Info-Beiträge zur "Ülkücü-Bewegung" und zur PKK reagierte die 292 Extremismus mit Auslandsbezug jeweilige Gegenseite mit abschätzigen und teilweise herablassenden Kommentaren. Bewertung, Tendenzen, Ausblick Die politischen Entwicklungen in der Türkei sind für die "Ülkücü-Bewegung" in der Bundesrepublik Deutschland wichtiger Impulsgeber. Eine ausgeprägte nationalistische Ausrichtung der Vereine in Deutschland, die gerade seit der politischen Allianz zwischen AKP und MHP bei der Anhängerschaft zugenommen hat, verstärkt dabei eine Abkehr von Integration. Auch die aktuelle innenpolitische und wirtschaftlich sehr problematische Lage in der Türkei führt bislang nicht zu einer nennenswerten Abkehr der "Ülkücü"-Anhängerschaft von der türkischen Regierung. Bisher zeigen die Appelle der Vereine, Provokationen nicht in Gewalt ausarten zu lassen, überwiegend ihre Wirkung. Von den Dachverbänden sind auch weiterhin keine unfriedlichen Aufrufe zu erwarten, man bleibt um die Außendarstellung einer legalen positiven Vereinsarbeit bemüht. Als Träger der extremistischen Ideologie fördern aber auch die Vereine die grundsätzliche Bereitschaft einzelner Anhängerinnen und Anhänger, Gewalt und Provokationen gegen die vermeintlichen Feinde spontan auszuleben. Vor dem Hintergrund andauernder militärischer Einsätze der Türkei gegen die PKK und auch verstärkt durch die Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in der Türkei im Mai 2023, muss weiterhin im gesamten Bundesgebiet mit Spannungen zwischen der PKK-Anhängerschaft, linksextremistischen Türken und der "Ülkücü"-Anhängerschaft gerechnet werden. Rund um die türkischen Parlamentsund Präsidentschaftswahlen wird seitens der widerstreitenden Szenen eine verstärkte propagandistische und aggressive Agitation - nicht nur im Vorfeld der Wahlen, sondern wahrscheinlich auch längere Zeit danach - sowohl in der analogen als auch in der digitalen Welt erfolgen. 293 06 Extremismusprävention Extremismusprävention 6.1 Extremismusprävention Für eine effiziente und nachhaltige Sicherheitspolitik müssen Repression und Prävention Hand in Hand gehen. Aus diesem Bewusstsein heraus hat der Niedersächsische Verfassungsschutz 2014 den phänomenübergreifenden Fachbereich Extremismusprävention eingerichtet. Er umfasst eine Vielzahl von Angeboten, von der Informationsvermittlung über Extremismusphänomene und Radikalisierung, das Engagement im Rahmen der Niedersächsischen Landesprogramme für Extremismusprävention, die Präventionsberatung für Fachkräfte bis hin zum Ausstiegsangebot aus dem Extremismus. Da sich die extremistischen Szenen ständig wandeln, werden die Präventionsangebote des Niedersächsischen Verfassungsschutzes stetig an die aktuellen Entwicklungen angepasst. Sie sind zudem zielgruppenorientiert und niedrigschwellig erreichbar. Dies stellt sicher, dass alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zu den Angeboten haben, um sich zu informieren, Ansprechpartner bei konkreten Fragen zu finden und ggf. sogar selbst Hilfe zu erhalten, z. B. beim Ausstieg aus der extremistischen Szene. Extremismusprävention ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die ausschließlich im Zusammenwirken von Staat und Zivilgesellschaft bewältigt werden kann. Der Niedersächsische Verfassungsschutz ist daher Kooperationspartner innerhalb eines Netzwerkes von unterschiedlichen Präventionsakteuren in Niedersachsen sowie auf Bundesebene. Damit trägt er zu einer gelingenden und ganzheitlich angelegten Extremismusprävention für Niedersachsen bei. Deshalb ist er gemeinsam mit dem Landeskriminalamt Niedersachsen (LKA NI) geschäftsführend im Landesprogramm für Islamismusprävention "Kompetenzforum Islamismusprävention Niedersachsen" (KIP NI) tätig und hat seinerzeit federführend an der Erarbeitung des Landesprogramms gegen Rechtsextremismus - für Demokratie und Menschenrechte (heute: "Landesprogramm für Demokratie und Menschenrechte") mitgearbeitet. 296 Extremismusprävention Der Niedersächsische Verfassungsschutz hält folgende Präventionsangebote vor: f Bereitstellung von Referentinnen und Referenten für Fachvorträge, f Veröffentlichung von Informationen des Verfassungsschutzes im Rahmen eigener Veranstaltungen und Publikationen, f speziell für bestimmte Adressatenkreise konzipierte Informationsund Beratungsangebote (u. a. Wanderausstellung "Gemeinsam gegen Rechtsextremismus"119, Lehrkräftefortbildungen, Beratung von Funktionsträgerinnen und -trägern in Städten und Kommunen), f Betreuung von Personen, die sich von extremistischen Ideologien bzw. Szenen abwenden möchten (Aussteigerprogramm Aktion Neustart120). Aktuelle Einflussfaktoren auf die Extremismusprävention Auch 2022 waren die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Bezug auf die Präventionsmaßnahmen organisatorisch und inhaltlich deutlich zu spüren. Bezüglich der Organisation wurden Veranstaltungen und Vorträge teilweise digital oder in hybriden Formaten angeboten. Manche Formate wie die Diskussionsveranstaltung "Aktuell und Kontrovers" und die Wanderausstellung "Gemeinsam gegen Rechtsextremismus" mussten entfallen. Inhaltlich sind im Zuge der Corona-Pandemie Bedrohungen und Herausforderungen für die Demokratie in besonderer Weise sichtbar geworden. Zu nennen sind etwa die gesellschaftliche Polarisierung was den Umgang mit der Corona-Pandemie angeht, Vertrauensverluste in demokratische Institutionen und Prozesse, Verschwörungstheorien, Antisemitismus, Hate Speech und Online-Radikalisierung. Diese Herausforderungen beeinflussten auch die Ausrichtung der Präventionsangebote. So wurden im Vortragswesen Themen wie Delegitimierung des Staates, Verschwörungstheorien, Antisemitismus und Reichsbürger stark nachgefragt. Auch das Symposium mit dem Titel "#Umsturz? - Aktuelle Gefahren für die Demokratie und Wege der Prävention" widmete sich der zunehmenden Infragestellung 119 Siehe Kapitel 6.3. 120 Siehe Kapitel 6.7. 297 Extremismusprävention demokratischer Verfahren und Werte u. a. am Beispiel der Proteste gegen die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Fragestellungen zu den Zusammenhängen zwischen psychischen Auffälligkeiten und extremistischer Radikalisierung rückten insbesondere in der Deradikalisierungsarbeit in den Fokus. Dies ist zwar kein gänzlich neues Thema: Schon vor der Corona-Pandemie ging eine Reihe von extremistisch motivierten Gewalttaten mit psychischen Auffälligkeiten der Täter einher. Doch ist dieser Faktor in Zeiten, die durch gesellschaftliche Unsicherheiten geprägt sind, etwa durch die Corona-Pandemie, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, Inflation und steigende Energiepreise bedeutend für Maßnahmen und Konzepte der Extremismusprävention. Deutlich wird angesichts der genannten Herausforderungen, dass verstärkt Ansätze der Extremismusprävention vor allem zu den Themen Online-Radikalisierung und Demokratieferne entwickelt und bereits vorhandene Maßnahmen verstetigt werden müssen. 6.2 Vortragsund Informationsveranstaltungen Ein wichtiger Baustein der Präventionsangebote des Niedersächsischen Verfassungsschutzes sind Vortragsund Informationsveranstaltungen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes können zu allen Aspekten des Extremismus als Referentinnen und Referenten eingeladen werden, z. B. von Kommunen, Vereinen, Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Behörden, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Ebenso werden Projekttage, Seminare und Workshops auf Anfrage fachlich begleitet. Die Themen und Formate können dabei innerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Verfassungsschutzes mit den Referentinnen und Referenten flexibel vereinbart werden. 2022 konnten insgesamt 98 Vortragseinheiten realisiert werden, an denen ca. 2.600 Bürgerinnen und Bürger teilnahmen. Von diesen 98 Vortragseinheiten dienten 24 als Ersatz für pandemiebedingt ausgefallene Termine der Wanderausstellung "Gemeinsam 298 Extremismusprävention gegen Rechtsextremismus" an den Polizeiakademien Nienburg und Oldenburg. So erhielten die Studierenden dennoch einen Überblick über alle Extremismusphänomene und die Aufgaben des Verfassungsschutzes. Das Thema Rechtsextremismus wurde mit 12 Vorträgen und etwa 450 Teilnehmenden am stärksten nachgefragt. In 82 Vorträgen mit rund 2.000 Teilnehmenden wurden die Arbeit des Verfassungsschutzes, die verschiedenen Extremismusbereiche und Angebote der Prävention umfassend behandelt. Ein Vortrag thematisierte den Phänomenbereich Islamismus, zwei Vorträge befassten sich speziell mit der Arbeit des Verfassungsschutzes, ein Vortrag widmete sich dem Thema der Extremismusprävention. Kooperationsprojekt "Riegelstellung gegen Extremismus" mit dem Landesfeuerwehrverband Niedersachsen Seit 2020 fördert der Niedersächsische Verfassungsschutz das beim Landesfeuerwehrverband Niedersachsen angesiedelte Präventionsprojekt "Riegelstellung gegen Extremismus" mit jährlich bis zu 10.000 Euro. Ziel des Projektes ist es, die freiwilligen und Berufsfeuerwehren in Niedersachsen zu informieren, wie Extremismus und extremistische Radikalisierung zu erkennen sind, sowie Handlungsoptionen im Falle einer Radikalisierung an die Hand zu geben. Der Fachbereich Extremismusprävention ist an der Kooperation in Form von Vorträgen und Seminartagen für die Angehörigen der niedersächsischen Feuerwehren inhaltlich beteiligt. 2022 konnten fünf Veranstaltungen gemeinsam mit dem Landesfeuerwehrverband Niedersachsen realisiert werden. Bereits die vorangehenden Projekte "Löschangriff gegen Rechts" und "Zündstoff für die Feuerwehren in Niedersachsen" hat der Niedersächsische Verfassungsschutz gefördert. 299 Extremismusprävention 6.3 Ausstellung "Gemeinsam gegen Rechtsextremismus" Ein seit Jahren erfolgreiches und anschauliches Format der Präventionsarbeit des Niedersächsischen Verfassungsschutzes bildet die Wanderausstellung "Gemeinsam gegen Rechtsextremismus". Grundlegende Informationen zu verschiedenen Ausprägungen des Rechtsextremismus und rechtsextremistischer Propaganda werden u. a. anhand einschlägiger Internetvideos, rechtsextremistischer Musik und Szenebekleidung vermittelt. Einen Schwerpunkt der Ausstellung bildet die rechtsextremistische Jugendszene. Daher eignet sie sich insbesondere für Schülerinnen und Schüler bzw. Auszubildende. Sie wird durch Referentinnen und Referenten des Niedersächsischen Verfassungsschutzes begleitet, die im Rahmen von 90-minütigen Führungen die Fragen der Teilnehmenden beantworten. Bereits seit dem Jahr 2005 setzt der Niedersächsische Verfassungsschutz die inzwischen mehrfach überarbeitete Wanderausstellung zur Informationsvermittlung über den Rechtsextremismus ein. Seitdem fanden rund 1.000 Führungen statt, bei denen ungefähr 23.000 Besucherinnen und Besucher erreicht wurden. Insgesamt war die Wanderausstellung seit 2005 in 91 Orten in Niedersachsen sowie in angrenzenden Bundesländern zu sehen. 2022 konnte die Ausstellung aufgrund der pandemischen Lage nicht gezeigt werden. 2023 wird die Ausstellung wieder auf Tour gehen. Die Planungen sind bereits fortgeschritten, sodass bei Anfragen ggf. mit einer Wartezeit gerechnet werden muss. 300 Extremismusprävention Neue Module fokussieren Antisemitismus und Verschwörungstheorien 2021 und 2022 wurde die Wanderausstellung durch zwei Module ergänzt. Das erste Modul behandelt mit dem Antisemitismus einen Grundbestandteil der rechtsextremistischen Ideologie, informiert jedoch auch kurz über Formen des Antisemitismus in anderen Extremismusbereichen. Die zweite Erweiterung befasst sich mit dem Thema Verschwörungstheorien. Nach vorheriger Absprache besteht die Möglichkeit, die Themen als eigene Schwerpunkte zu behandeln. 6.4 Informationsmaterialien Der Niedersächsische Verfassungsschutz erstellt Informationsmaterialien (Flyer & Broschüren) zu aktuellen Entwicklungen im Extremismus und veröffentlicht den jährlichen Verfassungsschutzbericht, der einen detaillierten Überblick über die extremistischen Entwicklungen in Niedersachsen gibt. Die Materialien können kostenfrei beim Niedersächsischen Verfassungsschutz bestellt werden und stehen auch auf der Internetseite des Niedersächsischen Verfassungsschutzes zum kostenlosen Download zur Verfügung. Einige Flyer sind auch in anderen Sprachen erhältlich. 301 Extremismusprävention Das Portfolio umfasst folgende Titel, wobei einige derzeit überarbeitet werden und zeitnah wieder zur Verfügung stehen: f "Rechtsextremismus" (Flyer), f "Identitäre Bewegung Deutschland (IBD): Ideologie und Aktionsfelder" (Broschüre), f "Reichsbürger und Selbstverwalter" (Flyer), f "Islamismus" (Flyer) (deutsch, arabisch, türkisch), f "Salafismus: Erscheinungsformen und aktuelle Entwicklungen" (Broschüre), f "Jihadistischer Salafismus" (Flyer), f "Frauen im Salafismus: Erscheinungsformen und aktuelle Entwicklungen" (Broschüre), f "Jugend und Familie im Salafismus" (Broschüre), f "Linksextremismus" (Flyer), f "Autonome Gewalt" (Flyer), f "Vom Autonomen zum Postautonomen: Autonome in Bewegung" (Broschüre), f "Verfassungsschutz durch Information" (Flyer), f "Antisemitismus im Extremismus" (Broschüre), f "Verschwörungstheorien: Erscheinungsformen und Symbole" (Flyer), f "Spionage - (k)ein Thema?!" (Flyer), f "Immobiliengeschäfte mit extremistischem Hintergrund" (Flyer; nur für Kommunen) 302 Extremismusprävention Neuer Flyer "Verschwörungstheorien: Erscheinungsformen und Symbole" Der neue Informationsflyer thematisiert Verschwörungstheorien, beschreibt deren Erscheinungsformen und illustriert anhand von drei aktuellen Beispielen, wie sie von Extremisten im Sinne ihrer eigenen Ideologie verbreitet werden. Darüber hinaus liefert der Flyer Hilfestellungen und weitere Informationen zu der Frage, wie verschwörungstheoretischen Argumentationen in Gesprächen begegnet werden kann. 6.5 Veranstaltungen Symposium Bereits seit 2006 werden vom Niedersächsischen Verfassungsschutz jährlich öffentliche Symposien veranstaltet, in deren Rahmen anerkannte Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Blickwinkeln Themen des Extremismus diskutieren. Nach drei Jahren coronabedingter Pause führte der Niedersächsische Verfassungsschutz am 31.08.2022 unter dem Titel "#Umsturz? Aktuelle Gefahren für die Demokratie und Wege der Prävention" wieder ein Symposium durch. Bei der Veranstaltung diskutierten über 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Expertinnen und Experten über den Einfluss politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen auf den Extremismus und über aktuelle Herausforderungen für die Demokratie. Unter dem Eindruck der Proteste gegen die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie, des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und zunehmender Skepsis innerhalb der Bevölkerung bezüglich demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse widmete sich das Symposium der Frage nach dem Zustand unserer Demokratie. "Unser demokratisches System wird derzeit - so möchte ich es zunächst zusammenfassen - von innen und von außen angegriffen", machte der damalige Niedersächsische Verfassungsschutzpräsident Bernhard Witthaut in seiner Begrüßungsrede deutlich. Dies habe auch Konsequenzen für die Verfassungsschutzbehörden, deren Arbeit sich in den letzten Jahren tiefgreifend verändert habe: 303 Extremismusprävention "Die Zeiten, in denen sich Extremisten in klar abgrenzbaren Gruppierungen organisierten, sind längst vorbei. Extremistische Akteure suchen verstärkt und gezielt den Kontakt zur Mitte der Gesellschaft, mobilisieren mit aktuellen Themen und suchen neue Allianzen. Diese Entwicklung lässt sich in allen Phänomenbereichen feststellen." Der Bonner Politikwissenschaftler Professor Dr. Frank Decker unterzog in seinem Vortrag mit dem Titel "Demokratie unter Druck. Vor welchen Herausforderungen stehen Politik und Gesellschaft?" den gegenwärtigen Zustand der Demokratie einer eingehenden Analyse und legte die Grundlage für die anschließenden Workshops, die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit boten, einzelne Aspekte zu vertiefen. Nachdem am Vormittag eine Analyse des Zustandes der Demokratie und deren Bedrohungen im Vordergrund stand, leitete der damalige Niedersächsische Minister für Inneres und Sport, Boris Pistorius, den Nachmittag der Veranstaltung ein, bei dem der Schwerpunkt auf Maßnahmen der Demokratieförderung und Prävention gelegt wurde. Unter Verweis auf aktuelle Studien betonte er: "Wir nehmen immer mehr ein Auseinanderdriften der unterschiedlichen Schichten und Milieus wahr, gerade bei der Wahrnehmung demokratischer Prozesse. Auf der einen Seite der Gesellschaft findet sich eine stabile Mehrheit überzeugter Demokratinnen und Demokraten. Dieser steht aber eine zunehmend gefestigte Gruppe von Personen entgegen, die die Demokratie und ihre Vertreterinnen und Vertreter bekämpft und sie bloßstellen will." Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, betonte Minister Pistorius umso mehr die zentrale Bedeutung der Extremismusprävention: "Wir müssen mehr Menschen dazu ermutigen und befähigen, sich aktiv für unsere Demokratie einzusetzen. Aber dafür brauchen wir genauso eine passgenaue Maßnahme zur Förderung demokratischer Kultur und Demokratiebildung in Schulen, Kitas, aber auch in der Erwachsenenbildung." In der anschließenden Podiumsdiskussion, die von der ZEIT-Journalistin Cosima Schmitt geleitet wurde, diskutierten Boris Pistorius, die Leiterin der Landeszentrale für politische Bildung in Niedersachsen, Ulrika Engler, der Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, Prof. Dr. Simon Franzmann, und Erich Marks, 304 Extremismusprävention Geschäftsführer des Deutschen Präventionstags, über Veränderungen im Extremismus, die zunehmende Demokratieferne in einigen Teilen der Bevölkerung und Möglichkeiten, diesen Entwicklungen durch Förderung von Demokratiebewusstsein und Prävention zu begegnen. Einigkeit bestand darin, dass Angebote zur Förderung von Medienkompetenz für alle Altersstufen dringend ausgebaut werden sollten. Gemeinsam betonten die Diskutanten den hohen Wert der früh ansetzenden staatlichen und zivilgesellschaftlichen Präventionsangebote in Niedersachsen, um demokratisches Bewusstsein zu stärken. Podiumsdiskussionen 2014 initiierte der Niedersächsische Verfassungsschutz mit "Aktuell und Kontrovers - Verfassungsschutz im Diskurs mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft" eine weitere Veranstaltungsreihe. Bei diesem Format stehen nicht die eigenen Positionen des Niedersächsischen Verfassungsschutzes im Vordergrund; vielmehr bietet es ein Forum, um Akteure der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und der Politik über aktuelle Themen miteinander ins Gespräch zu bringen. 2022 konnte die Veranstaltung nicht durchgeführt werden. Für 2023 ist dieses Veranstaltungsformat jedoch wieder vorgesehen. Über Termine informiert die Internetseite des Niedersächsischen Verfassungsschutzes. 6.6 Landesprogramm für Islamismusprävention "Kompetenzforum Islamismusprävention Niedersachsen" (KIP NI) 6.6.1 Struktur Die islamistische und hierbei vor allem die salafistische Radikalisierung junger Menschen stellt Staat und Gesellschaft vor große Herausforderungen. Wichtig ist, Radikalisierungsprozessen vorzubeugen oder diese aufzuhalten. Das Land Niedersachsen begegnet 305 Extremismusprävention dieser Herausforderung, indem es auf eine lebendige und vielfältige Präventionslandschaft setzt. Diese Vielfalt sowie die sicherheitspolitische Lage (z. B. Rückkehrende aus den ehemaligen Jihadgebieten in Syrien und im Irak) machen eine strukturierte und abgestimmte Vorgehensweise notwendig. Im Juli 2016 hatte die Niedersächsische Landesregierung deshalb die Einrichtung der "Kompetenzstelle Islamismusprävention Niedersachsen" (KIP NI) beschlossen. Im Mai 2020 wurde KIP NI per Kabinettsbeschluss zum Landesprogramm für Islamismusprävention ausgebaut. Das Landesprogramm trägt den Titel "Kompetenzforum Islamismusprävention Niedersachsen" (KIP NI). Das KIP NI hat zur Aufgabe, die vorhandenen Netzwerke der unterschiedlichen Akteure im Bereich der niedersächsischen Islamismusprävention zu bündeln, zu institutionalisieren und zu intensivieren. Es ist damit die zentrale Stelle in Niedersachsen, an der die vielfältigen Ansätze der Islamismusprävention zusammenlaufen, abgestimmt und strukturiert werden. Das Kompetenzforum ist eine ressortübergreifende Einrichtung, in welcher der Sachverstand f des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport (MI), f des Landeskriminalamtes Niedersachsen (LKA NI), f des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung (MS) mit der zivilgesellschaftlichen Beratungsstelle zur Prävention neo-salafistischer Radikalisierung - beRATen e. V., f des Niedersächsischen Justizministeriums (MJ) mit dem Landespräventionsrat Niedersachsen (LPR NI) sowie f des Niedersächsischen Kultusministeriums (MK) zusammengeführt wird. Die Koordinierungsstelle des Kompetenzforums wird gemeinsam und gleichberechtigt durch den Niedersächsischen Verfassungsschutz (Fachbereich Extremismusprävention) und das LKA NI (Präventionsstelle Politisch Motivierte Kriminalität) wahr genommen. Die am KIP NI beteiligten Ressorts sind auf mehreren Ebenen miteinander vernetzt: 306 Extremismusprävention f Eine Steuerungsgruppe, bestehend aus den jeweils zuständigen Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern der an dem KIP NI beteiligten Ministerien, setzt die wesentlichen Weichenstellungen für die Islamismusprävention in Niedersachsen. f Zur interministeriellen Vernetzung auf Arbeitsebene finden regelmäßig Vernetzungstreffen mit den für die Islamismusprävention zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern statt. Hier werden die Details der ressortübergreifenden Islamismusprävention gemeinschaftlich erarbeitet, neue Trends im Themenfeld Islamismus diskutiert, Präventionsansätze entwickelt und bei Bedarf Projektgruppen eingerichtet. f Die Arbeit des KIP NI wird durch einen Fachbeirat, bestehend aus Mitgliedern aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft, beratend begleitet. Darüber hinaus stimmt sich das Landesprogramm KIP NI fachlich und strategisch mit dem Landesprogramm für Demokratie und Menschenrechte (Federführung im MJ) ab, um Synergieeffekte zu nutzen 307 Extremismusprävention und Doppelstrukturen zu vermeiden. Ziel ist es, in Niedersachsen eine ganzheitliche Extremismusprävention zu gewährleisten. 6.6.2 Arbeitsschwerpunkte f Strategische Koordinierung In den verschiedenen Gremien des KIP NI werden nachhaltige Strategien für die Islamismus-/Salafismusprävention in Niedersachsen entwickelt. Der Niedersächsische Verfassungsschutz koordiniert diesen Entwicklungsprozess. f Einzelfallbezogene Koordinierung Zur Koordinierung und Bearbeitung von Einzelfällen beruft das LKA NI Fallkonferenzen mit den jeweils erforderlichen Akteuren ein. Gemeinsam werden einzelfallbezogene Präventionsmaßnahmen der Intervention und Deradikalisierung erarbeitet. f Aufbau von kommunalen Netzwerken für Extremismusprävention Der Niedersächsische Verfassungsschutz, das LKA NI und beRATen e. V. begleiten den Prozess der lokalen Netzwerkbildung, um sicherzustellen, dass vor Ort u. a. für die Islamismus-/ Salafismusprävention Informationen problemlos für die Öffentlichkeit zugänglich sind, Meldewege etabliert werden und die Fallbearbeitung effizient erfolgen kann. f Sensibilisierung Alle am KIP NI beteiligten Akteure bieten Maßnahmen zur Sensibilisierung der mit dem Phänomen Islamismus/Salafismus konfrontierten Einrichtungen und der Öffentlichkeit an. Detaillierte Informationen zu den Sensibilisierungsund Informationsangeboten des Niedersächsischen Verfassungsschutzes sind den Kapiteln "6.2 Vortragsund Informationsveranstaltungen" sowie "6.4 Informationsmaterialien" zu entnehmen. Zudem koordiniert der Niedersächsische Verfassungsschutz die Öffentlichkeitsarbeit des KIP NI mittels einer eigenen Internetseite, Flyern und Broschüren und ist für die öffentliche Jahresveranstaltung des KIP NI verantwortlich. f Intervention und Deradikalisierung Das Aussteigerprogramm des Niedersächsischen Verfassungsschutzes Aktion Neustart121 hilft Ausstiegswilligen dabei, sich 121 Siehe Kapitel 6.7. 308 Extremismusprävention von extremistischer Szene und Ideologie zu lösen und ein Leben ohne Extremismus zu führen. Die zivilgesellschaftliche Beratungsstelle zur Prävention neo-salafistischer Radikalisierung beRATen e. V. bietet Beratung bei Radikalisierungsverdachtsfällen und steht Angehörigen bzw. dem Umfeld von Radikalisierten als Ansprechpartner zur Verfügung. Beide Angebote sind kostenlos, vertraulich und auf freiwilliger Basis. 6.6.3 Arbeitsgruppen 2022 haben folgende interministerielle Arbeitsgruppen (AG) innerhalb des KIP NI gearbeitet: f AG "Kommunale Strukturen der Islamismusprävention" (AG KoStI): In dieser Arbeitsgruppe geht es um die zielgerichtete Stärkung der Islamismusprävention auf lokaler Ebene. Für eine ganzheitliche Islamismusprävention im Flächenland Niedersachsen ist es notwendig, dass Präventionsstrukturen auf Landesebene durch Strukturen auf kommunaler Ebene ergänzt werden. Da extremistische Szenen sich teilweise ähnlicher Formen und Formate der Ansprache und Propaganda bedienen und die extremistischen Phänomenbereiche in einer dynamischen Wechselwirkung zueinander stehen, stellen sich die Netzwerke phänomenübergreifend auf. Ziel der AG KoStI ist es, ressortübergreifend Standards der Extremismusprävention auf lokaler Ebene zu erarbeiten. Hierfür stimmen sich das LKA NI, der Niedersächsische Verfassungsschutz und beRATen e. V. in regelmäßigen Sitzungen über die Bedarfe vor Ort und Standards für kommunale Netzwerke der Extremismusprävention ab. Außerdem initiieren und begleiten sie die Netzwerkbildung vor Ort und unterstützen z. B. durch Moderation, administrative Tätigkeiten, Vernetzung mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren und Angeboten sowie Vermittlung und Durchführung von Fachvorträgen. Die AG KoStI steht dem jeweiligen kommunalen Netzwerk auch langfristig beratend zur Seite. In mehreren Kommunen wurden mittlerweile Netzwerkstrukturen erarbeitet und Meldewege institutionalisiert. 309 Extremismusprävention f AG "Zusammenarbeit mit Jugendämtern": Unter Federführung des MS wurde eine AG gebildet, deren Aufgabe darin besteht, die Herausforderungen, die Möglichkeiten sowie die Stärkung der Zusammenarbeit von Akteuren der Präventionsarbeit mit Jugendämtern im Kontext von islamistischer Radikalisierung zu bearbeiten. Ein besonderer Fokus liegt auf aus Syrien und dem Irak zurückkehrenden Kindern, aber auch auf Schnittstellen von Kinderund Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention. In dieser AG wirken Vertreterinnen und Vertreter des Landesjugendamtes, der Fachreferate des MS, der Beratungsstelle beRATen e. V. sowie die Rückkehrkoordination von LKA NI und Verfassungsschutz mit. Verstärkt wird dieses Team durch eine Vertreterin bzw. einen Vertreter des zivilgesellschaftlichen Projektes "Clearingstelle Radikalisierungsprävention an den Schnittstellen des SGB VIII". f AG "Deradikalisierungsforum": In dieser AG erarbeiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Aussteigerprogramms Aktion Neustart beim Niedersächsischen Verfassungsschutz, welches die Federführung dieser AG innehat, mit denen des Violence Prevention Network (VPN) und von beRATen e. V. gemeinsam Standards für die Deradikalisierungsarbeit in Niedersachsen. f AG "(De-)Radikalisierung und Prävention im Kontext psychischer Auffälligkeiten": Unter der Federführung des MS, der Beratungsstelle beRATen e. V. und des LKA NI arbeiten in dieser AG zivilgesellschaftliche und staatliche Präventionsakteure mit weiteren Professionen aus den Bereichen Psychiatrie und Psychotherapie zusammen. Ziel der AG ist die multiprofessionelle Betrachtung von Fällen sowie eine gut vernetzte Zusammenarbeit unter Wahrung der jeweiligen datenschutzrechtlichen Grenzen. Der Niedersächsische Verfassungsschutz ist durch das Aussteigerprogramm Aktion Neustart in der AG vertreten. 310 Extremismusprävention 6.6.4 Jahresveranstaltung Seit 2017 bringt die jährliche KIP NI-Tagung die in der Islamismusprävention tätigen Akteurinnen und Akteure in Niedersachsen zusammen und bietet Raum für Vernetzung und Diskussionen. In verschiedenen Formaten, von Podiumsdiskussionen, Workshops, Fachvorträgen bis hin zu Theaterstücken, findet ein Austausch zu aktuellen Themen und Fragestellungen statt. Am 09.12.2022 fand die 5. Jahrestagung des KIP NI in Hannover statt. An der Veranstaltung mit dem Titel "Psychisch auffällig oder radikal - was nun?" nahmen rund 200 Personen teil. Der damalige Niedersächsische Minister für Inneres und Sport, Boris Pistorius, begrüßte die Gäste und verwies auf die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Radikalisierungsprozessen und psychischen Auffälligkeiten. Er betonte: "Die islamistischen Anschläge von zugleich psychisch auffälligen Täterinnen und Tätern zeigen, wie wichtig und absolut notwendig es ist, dass die Sicherheitsbehörden das Fachwissen von Präventionsund Deradikalisierungsakteuren sowie der Heilberufe in ihre Arbeit mit einbeziehen." Die beiden Geschäftsführerinnen des KIP NI, Daniela Schlicht vom Niedersächsischen Verfassungsschutz und Lisa Borchardt vom Landeskriminalamt Niedersachsen (LKA NI), gaben einen Überblick über die Aktivitäten und Arbeitsschwerpunkte des Landesprogramms für Islamismusprävention im Jahr 2022. Daniela Schlicht betonte, dass die im KIP NI verbundenen Akteure es sich zur Aufgabe gemacht haben, verschiedene Berufsgruppen miteinander zu vernetzen, um die in Niedersachsen vorhandenen Regelstrukturen und Ressourcen bestmöglich für die Islamismusprävention zu nutzen. Lisa Borchardt ergänzte, dass dies insbesondere auch für die präventive Fallarbeit der Präventionsstelle Politisch Motivierte Kriminalität (PPMK) im LKA NI gelte, die u. a. auf die Initiierung und Koordination bedarfsgerechter Deradikalisierungsmaßnahmen abzielt. Bei der Bearbeitung von Radikalisierungsprozessen, bei denen sich psychische Auffälligkeiten als bedeutsam erweisen, seien Angehörige aus Heilberufen unerlässliche Netzwerkpartnerinnen und -partner. 311 Extremismusprävention Im ersten Fachvortrag beleuchtete Florian Endres vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Herausforderungen und Handlungsoptionen im Kontext psychischer Auffälligkeiten in der Deradikalisierungsarbeit: "Im präventiven Umgang mit psychischen Auffälligkeiten, die im Zusammenhang mit Radikalisierung auftreten können, ist die enge Vernetzung von Behörden, Heilberufen und Zivilgesellschaft Grundvoraussetzung." Dr. Marc Allroggen vom Universitätsklinikum Ulm beschäftigte sich im zweiten Fachvortrag mit der "Behandlersicht". Dabei machte er auf die Bedeutung von psychischen Störungen in der Entstehung von extremistischer Gewalt aufmerksam und schilderte deren Auswirkungen auf die Deradikalisierungsarbeit. Für die Heilberufe zeigte Dr. Allroggen die vielfältigen Berührungspunkte mit dem Bereich Extremismus auf. Er betonte, dass eine Integration von Heilberufen und insbesondere Psychiaterinnen und Psychiatern sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in die Extremismusprävention sinnvoll und möglich sei. Voraussetzung dafür seien aber spezifische Strategien und Konzepte sowie eine klare Aufgabendefinition in Abgrenzung zu anderen Akteuren der Extremismusprävention. Benötigt würden zudem Fortbildungen und Netzwerke für Heilberufe im dargestellten Themenfeld. Aufbauend auf den Fachvorträgen und anhand von Fallbeispielen diskutierten Dr. Marc Allroggen, Dominik Irani (Bayerisches Landeskriminalamt) und Thorben Lehners (Beratungsstelle beRATen e. V.) zusammen mit einem Mitarbeiter des Aussteigerprogramms Aktion Neustart (Niedersächsischer Verfassungsschutz) unter der Moderation von Cosima Schmitt (Journalistin und Autorin bei der ZEIT) über die Möglichkeiten und Herausforderungen in der praktischen Arbeit, aber auch über die Grenzen der Zusammenarbeit aufgrund unterschiedlicher Aufträge und gesetzlicher Rahmenbedingungen. Deutlich wurde, dass psychische Stö - rungen im Kontext von Radikalisierung schon immer eine Rolle gespielt haben. Die Experten des Podiums waren sich einig, dass die multiperspektivische Betrachtung von Fällen sowie eine gut vernetzte Zusammenarbeit unabdingbar dafür sind, islamistische 312 Extremismusprävention Radikalisierung im Kontext psychischer Auffälligkeiten rechtzeitig zu erkennen (oder auszuschließen), um somit frühzeitig präventiv eingreifen zu können. Die Veranstaltung wurde grafisch durch Anja Weiss (Graphic Recording, Illustration & Grafik-Design) begleitet, die ihre Eindrücke dem Publikum zum Abschluss der Veranstaltung vorstellte. 6.6.5 KIP NI-Internetseite Die Internetseite des KIP NI steht Nutzerinnen und Nutzern, die sich über das Phänomen des Islamismus und die Islamismusprävention in Niedersachsen informieren wollen, zur Verfügung. Dort erhalten Sie Informationen zu den Themen Islamismus und Radikalisierung, zur Arbeit des Landesprogrammes für Islamismusprävention, zu Veranstaltungen und zu Hilfsangeboten. Zudem können über die Internetseite Informationsmaterialien abgerufen und kostenlos bestellt werden. Weitere Informationen zum KIP NI erhalten Sie unter folgenden Kontaktdaten: Internet: www.KIPNI.niedersachsen.de E-Mail: info@KIPNI.niedersachsen.de 313 Extremismusprävention Neues Niedersächsisches Internetportal für Extremismusprävention im Aufbau Die Angebote und Informationen der beiden niedersächsischen Landesprogramme für Extremismusprävention, des beim MJ angesiedelten Landesprogramms für Demokratie und Menschenrechte sowie des KIP NI, werden künftig auf einer gemeinsamen Internetseite abrufbar sein. Damit wird erstmalig ein zentrales und niedrigschwelliges Portal für Extremismusprävention in Niedersachsen geschaffen. Voraussichtlich wird das Angebot im Sommer 2023 abrufbar sein. 6.7 Aktion Neustart Das 2010 gegründete Aussteigerprogramm Aktion Neustart unterstützt ausstiegswillige Extremistinnen und Extremisten, die sich von ihrer jeweiligen extremistischen Szene und Ideologie distanzieren wollen. Aktion Neustart ist für alle extremistischen Phänomenbereiche zuständig, seit 2010 für Rechtsextremismus, seit 2016 für Islamismus sowie seit 2019 für L ink s e x tremismus, E x tremismus mit Auslandsbezug und Scientology-Organisation. A k ti o n N eus t ar t s te ht als Ansprechpartner für Ausstiegswillige zur Verfügung, spricht aber auch proaktiv Extremistinnen und Extremisten an, die noch keinen Ausstiegswillen entwickelt haben. Auf diese Weise sollen bei ihnen Ausstiegsimpulse gesetzt werden. Wichtiger Teil der Ausstiegsarbeit ist zudem die Beratung des sozialen Umfeldes von Extremistinnen und Extremisten, z. B. der Eltern, Lehrkräfte, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und des Freundeskreises. Das Aussteigerprogramm unterstützt alle Ausstiegswilligen, vom jungen Menschen, der droht in den Extremismus abzugleiten, über Mitläufer und Aktivisten bis hin zu langjährigen Führungskadern der extremistischen Szenen. Die Unterstützung durch Aktion Neustart ist stets kostenlos, freiwillig und streng vertraulich. 314 Extremismusprävention Das Angebot des Aussteigerprogramms umfasst: f vertrauliche Beratung am Telefon, f vorurteilsfreie Gespräche über Probleme, Ängste und Wünsche, f persönliche Beratung und Begleitung im Ausstiegsprozess, f Erstellung eines individuellen Ausstiegsplans, f Unterstützung bei der Arbeits-, Ausbildungsoder Wohnungssuche und im Umgang mit Behörden, f Hilfe in Bedrohungssituationen, f Unterstützung bei der Bearbeitung von Alkohol-, Drogenund finanziellen Problemen, f Hilfe bei der Entfernung von extremistischen Tätowierungen und f Unterstützung bei Gesprächen mit Eltern, Lehrkräften Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern. Aktion Neustart hat seit seiner Gründung zahlreiche Fälle bearbeitet. Sie umfassen Beratungstätigkeiten für soziale Umfelder (Familie, Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, Freundeskreis etc.) extremistischer Personen, für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie konkrete Ausstiegsbetreuungen. Von den Fällen, die zu einer konkreten Ausstiegsberatung führten, sind im Phänomenbereich Rechtsextremismus seit 2010 insgesamt 61 Personen erfolgreich ausgestiegen. 28 Personen werden aktuell betreut. Im Phänomenbereich Islamismus sind seit 2016 insgesamt 16 Personen erfolgreich ausgestiegen. 13 Personen werden derzeit betreut. In den Phänomenbereichen Extremismus mit Auslandsbezug und Linksextremismus sind seit 2019 erste Fälle in Bearbeitung. Im ebenfalls seit 2019 bearbeiteten Phänomenbereich 315 Extremismusprävention Scientology-Organisation konnten noch keine Ausstiegsfälle generiert werden. Das Team von Aktion Neustart ist interdisziplinär und geschlechterparitätisch zusammengesetzt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verfügen über langjährige Erfahrung im Umgang mit extremistischen Ideologien und arbeiten auf Grundlage pädagogischer und psychologischer Fachkenntnisse und Methoden. Die umfangreichen Verfassungsschutzerkenntnisse über extremistische Ideologien und Szenen ermöglichen es Aktion Neustart, mögliche Bedrohungslagen für einen Aussteiger bzw. eine Aussteigerin frühzeitig zu erkennen und fundierte Gefahrenprognosen zu erstellen. Im Ausstiegsprozess sollen die persönlichen Einstiegsmotive und die extremistischen Einstellungsmuster erkannt, besprochen und aufgelöst werden. Ziel der Ausstiegsarbeit ist die Hinwendung der oder des Aussteigenden zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und den Grundund Menschenrechten. Das Zusammenspiel sicherheitsbehördlicher und pädagogischer Fähigkeiten kombiniert mit langjähriger Erfahrung in der Ausstiegsarbeit ermöglicht es, im Ausstiegsprozess nicht nur eine nachhaltige Loslösung von extremistischer Ideologie und Szene zu erreichen, sondern gleichzeitig auch Schutz und Sicherheit für den Aussteiger oder die Aussteigerin zu gewährleisten. Darüber hinaus sind der Aufbau einer nichtextremistischen sozialen Existenz und die Reintegration in die Gesellschaft essenziell für die Arbeit von Aktion Neustart. In der Ausstiegsarbeit bestätigt sich regelmäßig, dass extremistische Szenen gerade für junge Menschen vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Fragen bereithalten. Der Wunsch nach Anerkennung und eine Erlebnisorientierung sind fundamentale Motive für die Hinwendung zur extremistischen Szene. Allerdings können durch die Zugehörigkeit zu einer extremistischen Szene Orientierungslosigkeit, Identitätsprobleme, Frustrationen und Ängste nur für eine begrenzte Zeit kompensiert werden. 316 Extremismusprävention Extremistinnen und Extremisten, die erkannt haben, dass ihnen die extremistische Szene nicht das Erhoffte gibt, erhalten von Aktion Neustart Unterstützung. Gemeinsam mit der Aussteigerin oder dem Aussteiger wird eine sinnvolle Perspektive für ein Leben frei von Extremismus entwickelt. Seit Jahren spielt das Internet, insbesondere soziale Netzwerke, eine herausragende Rolle beim Einstieg junger Menschen in extremistische Ideologien und Szenen. Soziale Netzwerke bieten Menschen die Möglichkeit, erste Kontakte zu Extremistinnen und Extremisten herzustellen. Extremistisches Gedankengut wird teils unreflektiert übernommen und so die Radikalisierung befördert. Neben dem Austausch extremistischer Meinungen können einfach extremistische Schriften, Filme und Musik konsumiert werden. Um dem entgegenzutreten, nutzt Aktion Neustart soziale Netzwerke für seine Ausstiegsarbeit. Extremistinnen und Extremisten werden dort gezielt proaktiv angesprochen und so Ausstiegsimpulse gesetzt. Mittels Memes und Videos kommuniziert Aktion Neustart alternative Narrative und dringt in die extremistischen Meinungsblasen der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Netzwerke ein, bietet nichtextremistische Perspektiven an und macht auf sein Unterstützungsangebot für den Ausstieg aufmerksam. Um potenzielle Aussteigerinnen und Aussteiger möglichst niedrigschwellig erreichen zu können, bietet Aktion Neustart zudem die Möglichkeit der anonymen Online-Beratung an. Sie richtet sich an all diejenigen, die sich über Extremismus und den Ausstieg aus dem Extremismus beraten lassen wollen. Sie können Aktion Neustart unter folgenden Kontaktdaten erreichen: Mobil: 0172 4444300 E-Mail: aktion.neustart@mi.niedersachsen.de In den Sozialen Medien: Facebook, YouTube, Instagram Online-Beratung für alle Extremismusbereiche: www.aktion-neustart.de 317 Extremismusprävention 6.8 Kontaktdaten Für Wünsche zu Vortragsund Informationsveranstaltungen steht der Fachbereich der Extremismusprävention beim Niedersächsischen Verfassungsschutz unter folgenden Kontaktdaten zur Verfügung: Telefon: 0511 6709-215 E-Mail: praevention@mi.niedersachsen.de Informationen zur Wanderausstellung "Gemeinsam gegen Rechtsextremismus", wie aktuelle Ausstellungsorte, Termine für Führungen, Voraussetzungen für die Präsentation etc., erhalten Sie ebenfalls unter der o. a. Telefonnummer oder E-Mail-Adresse. Siehe hierzu auch Kapitel 1.15. 318 Extremismusprävention 319 07 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr 7.1 Spionageaufkommen in Niedersachsen Das Sachgebiet Spionageabwehr im Niedersächsischen Verfassungsschutz hat den gesetzlichen Auftrag, alle Informationen über sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Aktivitäten zu sammeln und Spionage sowie Proliferation122 zu verhindern. Da Niedersachsen als erfolgreicher Wirtschaftsstandort potenzielles Ziel von Spionageaktivitäten fremder Geheimoder Nachrichtendienste123 ist, gilt es ihn vor derartigen Aktivitäten zu bewahren. Zudem geht es darum, den Schutz der in Niedersachsen lebenden Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Die im Folgenden aufgeführten Beispiele von Aktivitäten fremder Geheimund Nachrichtendienste weisen nicht ausschließlich einen Niedersachsenbezug auf. Die Beispiele sollen zu einer Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der niedersächsischen Wirtschaft beitragen. Hauptakteure der klassischen Spionageaktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland sind nach wie vor die Russische Föderation, die Volksrepublik China, aber auch der Iran. Die Schwerpunkte dieser Länder orientieren sich an den politischen Vorgaben und wirtschaftlichen Prioritäten. Aufgrund desolater Sicherheitslagen in ihren Heimatländern und damit verbundener existenzieller Bedrohungen, sucht eine große Zahl von Menschen Zuflucht und Schutz in Europa. Insbesondere Deutschland ist Ziel von Flüchtlingsbewegungen, die ihren Ursprung vor allem in Afghanistan, im Irak, in Syrien sowie in der Ukraine, aber auch in den Ländern Zentralund Westafrikas haben. Mit der sich vergrößernden Exilgemeinde ist die Ausforschung oppositioneller Aktivitäten zur wichtigen Zielvorgabe für fremde Dienste in Deutschland geworden. Fremde Geheimoder Nachrichtendienste sind in unterschiedlicher Personalstärke u. a. an den jeweiligen amtlichen Vertretungen (z. B. Botschaften, Generalkonsulate = Legalresidenturen) in Deutschland präsent und unterhalten dort Stützpunkte. Geheimund Nachrichtendienstmitarbeitende können dort, als Diplomatinnen und Diplomaten 122 Proliferation ist die Weiterverbreitung von ABC-Waffen und Trägersystemen; siehe auch Kapitel 7.2. 123 Im Gegensatz zu Geheimdiensten unterliegen Nachrichtendienste einer rechtsstaatlichen Kontrolle und haben keine polizeilichen Befugnisse. Die deutschen Verfassungsschutzbehörden sind demnach Nachrichtendienste. Siehe dazu auch Kapitel 1.7. 322 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr getarnt, tätig werden und Informationen beschaffen oder sie leisten Unterstützung bei geheimdienstlichen Operationen ihrer Zentralen. Eine Vielzahl von Informationen, die für fremde Geheimoder Nachrichtendienste interessant erscheinen und früher nur mit klassischen Spionagetätigkeiten zu erheben waren, sind heutzutage mit relativ geringem technischen Aufwand und fast ohne Risiko auf virtuellem Wege zu erlangen. Zum Teil ist aufgrund bestimmter Parameter (z. B. welcher Angriffsweg und welche Infrastruktur genutzt werden) auch von einer geheimoder nachrichtendienstlichen bzw. staatlichen Beteiligung auszugehen. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch nicht, dass die klassischen Spionageaktivitäten ausgedient haben. Im Jahr 2022 traten im Sachgebiet Spionageabwehr im Niedersächsischen Verfassungsschutz entsprechende Verdachtsfälle auf. Nachfolgend werden exemplarisch einige Fälle dargestellt, die nicht ausschließlich einen Niedersachsenbezug aufweisen müssen. Im Vordergrund steht daher der sensibilisierende Präventivcharakter. Die Bearbeitungsschwerpunkte der Spionageabwehr lagen 2022 bei den Ländern Russland und China. Russland Russischer Motorradclub Night Wolves Bei dem Motorradclub Night Wolves (Nachtwölfe) handelt es sich um den 1989 gegründeten größten Motorradund Rockerclub 323 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr Russlands. Die Mitglieder vertreten nationalistische und christlich-orthodoxe Ansichten. In den vergangenen Jahren fand eine Umorientierung zum staatsnahen Patriotismus statt. Seit 2009 pflegen der Präsident der Night Wolves und der Russische Staatspräsident, Wladimir Putin, ein gutes Verhältnis. Putin verlieh ihm im Februar 2013 eine Ehrenmedaille für seine "patriotischen Verdienste". Seit mehreren Jahren gedenkt der Club am 9. Mai, dem "Tag des Sieges", mit Fahrten und Kranzniederlegungen den Opfern des Zweiten Weltkrieges. Hierbei wird das Andenken derjenigen geehrt, die beim Kampf gegen den Faschismus gefallen sind. Abschluss und Höhepunkt der Fahrten sind die Veranstaltungen zur Erinnerung an das Kriegsende am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow. Analysten gehen von weltweit einer vierstelligen Zahl von Mitgliedern und Unterstützerinnen und Unterstützern aus. Der Motorradclub ist in Chaptern organisiert. Geführt werden diese durch das "Motherchapter" "ROSSIJA". Aufgrund der Nähe zu Putin liegt die Vermutung nahe, dass die Night Wolves politische Ziele des russischen Staatspräsidenten unterstützen und in seinem Auftrag handeln. Durch ihr medienwirksames Auftreten signalisieren sie Zustimmung für die russische Politik und nehmen damit möglicherweise Einfluss auf die politische Meinungsbildung in Deutschland. Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz durch ein niedersächsisches Unternehmen Im August 2022 wurde im Rahmen von Exekutivmaßnahmen u. a. eine niedersächsische Chemiefirma durchsucht. Dem Unternehmen werden in den vergangenen Jahren mehrere Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz vorgeworfen. Hierbei standen Verantwortliche des Unternehmens im Verdacht, Güter nach Russland ausgeführt zu haben, ohne dabei über die entsprechenden Genehmigungen zu verfügen. Der Niedersächsische Verfassungsschutz war an Personenermittlungen und an Informationserhebungen zum niedersächsischen Unternehmen beteiligt. Die Ermittlungen der Exekutivbehörden dauern derzeit noch an. 324 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr Einflussnahme durch russische Staatsmedien Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wurden im Verfassungsschutzverbund Sonderauswertungen eingerichtet, um die mit diesem Konflikt in Zusammenhang stehenden nachrichtendienstlichen Aktivitäten, Cyberoperationen sowie Propaganda-, Desinformationsund Einflussnahmebemühungen in Deutschland zu beobachten und aufzuklären. Im besonderen Fokus standen Desinformationsund Propagandaaktivitäten russischer Medien. China Wesentliche Strategien chinesischer Nachrichtendienste Die Volksrepublik China bedient sich ihrer Nachrichtendienste als Mittel zum Regimeerhalt. Übergeordnetes Ziel allen nachrichtendienstlichen Handelns ist die Aufrechterhaltung des Machtanspruchs der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). China strebt eine aktive Gestaltung der internationalen Ordnung an und propagiert offen das Ziel, im Jahr 2049 - dem 100. Gründungsjahr der Volksrepublik - wirtschaftlich wie militärisch global führend zu sein. Um dieses Ziel zu erreichen, besteht ein allumfassender Informationsbedarf, den China offensiv auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln deckt. Zu den wesentlichen nachrichtendienstlichen Akteuren zählen der nichtmilitärische Inund Auslandsnachrichtendienst MSS124, der militärische Nachrichtendienst MID125, das MÖS126 und der Technische Militärische Nachrichtendienst NSD127. Gegenwärtig räumen chinesische Nachrichtendienste - neben den Themen um die Belt-and-Road-Initiative128 - insbesondere den Entwicklungen im Sektor der Informationstechnologie (Cloud, Internet 124 Ministerium für Staatssicherheit = Inlandsnachrichtendienst mit Exekutivbefugnissen, Schwerpunkt: Beobachtung oppositioneller Bestrebungen. 125 Militärischer Inund Auslandsnachrichtendienst = Abschirmung gegen Aufklärungsversuche, Informationsgewinnung zu ausländischen Streitkräften. 126 Ministerium für öffentliche Sicherheit = Dem Polizeiministerium unterstellt, Bereitstellung nachrichtendienstlicher Spezialeinheiten. 127 Technischer militärischer Nachrichtendienst = Spezialisiert auf Satellitenaufklärung und hochentwickelte Cyberoperationen gegen kritische Infrastrukturen. 128 Der Begriff bezeichnet die Neue Seidenstraße. Sie ist ein langfristiges Projekt der Kommunistischen Partei Chinas zum Aufbau von Infrastrukturen für Transport, Versorgung und Handel. Vorbild sind historische Routen zwischen China und dem Westen, die man erweitert und verändert. 325 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr of Things, Quantentechnologien, Robotik sowie der 5G-Technologie) höchste Priorität ein. Dabei setzen die Dienste auch ausgeklügelte und technologisch anspruchsvolle Cyberoperationen zur Gewinnung von technologischem Know-how (auch für den eigenen Entwicklungsbedarf) ein. Die Ziele chinesischer Spionage werden nach einer schlichten Nutzenkalkulation ausgewählt. Beabsichtigt wird vor allem der Vorteil für die eigene Nation durch Informationsgewinnung und -beschaffung. Die Schädigung des Gegners wird von den chinesischen Diensten als zweckdienliches Mittel in Kauf genommen, ist aber als solches oft selbst nicht Ziel des nachrichtendienstlichen Handelns. 7.2 Proliferation Proliferation ist die Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Waffensystemen und den dazugehörigen Trägersystemen. Wesentliches Merkmal der Proliferation ist, dass diese nicht von Einzelpersonen, sondern durch Staaten - unter Einbeziehung Ihrer Nachrichtendienste - betrieben wird. Die aktuell dynamischen Entwicklungen in den lokalen Krisenund Konfliktherden, ebenso wie die geopolitischen Machtspiele autoritärer Regime, verdeutlichen das zunehmende Gefährdungspotenzial der sicherheitspolitischen Weltlage. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich neben vielen anderen Staaten international dazu verpflichtet, den Einsatz und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern, um damit das friedliche Zusammenleben der Völker sicherzustellen. Da Massenvernichtungswaffen und entsprechende Trägertechnologien nicht komplett auf dem Weltmarkt zu beschaffen sind, richtet sich das Interesse der proliferationsrelevanten Staaten auf den Erwerb einzelner Produkte. Im Mittelpunkt stehen dabei die sogenannten Dual-Use-Güter (einschließlich Software und Know-how), die sowohl im zivilen aber auch im militärischen Bereich Anwendung finden können. Bei dem Erwerb solcher Güter ist es das Ziel, eine militärische Nutzung 326 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr durch die Beschaffung für einen vermeintlich zivilen Einsatzzweck zu verschleiern. Durch den Einsatz von Tarnfirmen sowie durch falsche Angaben über die Ware selbst, ihren tatsächlichen Bestimmungsort und -zweck, ist es oft sehr aufwändig, geheimdienstlich gesteuerte Beschaffungsaktivitäten zu erkennen. Niedersachsen ist erfolgreicher Standort zahlreicher innovativer Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Die hier entwickelten und produzierten Güter sowie deren Technologien können teilweise zur Herstellung oder Weiterentwicklung von Massenvernichtungswaffen verwendet werden. Erfahrungen haben gezeigt, dass Unternehmen und Forschungseinrichtungen proliferationsrelevante Absichten oft nicht erkennen. Grundsätzlich gilt, dass die Umgehung von Exportbestimmungen eine Ordnungswidrigkeit bzw. einen Straftatbestand nach dem Außenwirtschaftsgesetz, der Außenwirtschaftsverordnung und ggf. dem Kriegswaffenkontrollgesetz darstellt. Der Niedersächsische Verfassungsschutz leistet Prävention durch Aufklärung und steht als vertraulicher Ansprechpartner zur Verfügung. Zur Aufdeckung und Verhinderung von proliferationsrelevanten Aktivitäten arbeitet der Niedersächsische Verfassungsschutz eng mit anderen Sicherheitsbehörden zusammen. Somit wird auch auf lokaler Ebene ein Beitrag mit internationaler Bedeutung geleistet. 7.3 Cyberabwehr Die Abhängigkeit unserer Gesellschaft von Informationsund Kommunikationstechnologien steigt. Die dadurch verursachte Verwundbarkeit moderner Gesellschaften stellt eine große sicherheitspolitische Herausforderung dar, denn der mögliche Schaden für Staaten, ihre Bevölkerung und ihre Volkswirtschaften im Falle der Beeinträchtigung von Informationsund Kommunikationsinfrastrukturen ist immens. Staat, Kritische Infrastrukturen129, Wirtschaft, Wissenschaft und 129 Kritische Infrastrukturen sind Organisationen und Einrichtungen von hoher Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden (siehe Internetseite des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, www.bsi.bund.de). 327 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr Bevölkerung sind auf das verlässliche Funktionieren dieser Technologien, insbesondere des Internets, angewiesen. Zeitgleich werden Cyberangriffe zahlreicher, komplexer und professioneller. Häufig kann bei Angriffen weder auf die Identität noch auf die Motivation des Angreifers geschlossen werden; kriminelle, terroristische, militärische und/oder nachrichtendienstliche Hintergründe sind denkbar. Die für solche Angriffe häufig genutzten hoch entwickelten Schadprogramme abzuwehren und zurückzuverfolgen, erfordert eine enge Kooperation der beteiligten Sicherheitsbehörden. Fremde Staaten bedienen sich gezielter Cyberangriffe, um Informationen zu erlangen und das erworbene Wissen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Zuletzt hat es in Niedersachsen und bundesweit eine Vielzahl an Cyberangriffen gegeben, die mit dem Ziel der Verschlüsselung und der anschließenden Erpressung des Betroffenen130 durchgeführt wurden. Neben den auch im Jahr 2022 fortgesetzten Angriffen auf Großunternehmen sind in Niedersachsen diverse kleinere und mittelständische Unternehmen, politische Entscheidungsträger oder auch Privatpersonen betroffen. Das verdeutlicht, welch hohen Stellenwert die IT-Sicherheit in jedem Bereich hat. Eine große Gefahr für Unternehmen und Behörden stellen aktuell "Advanced Persistant Threats"131 dar. Diese zielgerichteten Cyberangriffe durch fortgeschrittene, gut organisierte und professionell ausgestattete Angreifer, die ihre Anweisungen und Unterstützungen von Regierungen erhalten könnten, verlaufen typischerweise in mehreren Phasen und sind sehr komplex in der Vorbereitung und Durchführung. Ziel eines solchen Angriffs ist es, sich möglichst lange unentdeckt in fremden IT-Systemen zu bewegen, um sensible Daten auszuleiten oder anderweitig Schäden anzurichten. Im Gegensatz zu vielen anderen Cyberkriminellen verfolgen diese Angreifer ihre Ziele jedoch grundsätzlich langfristig, meist über mehrere Monate 130 Auch bekannt als Einsatz von Ransomware (aus dem englischen: ransom für "Lösegeld"). 131 Bei "Advanced Persistant Threats" handelt es sich um zielgerichtete Cyberangriffe auf spezifisch ausgewählte Institutionen und Einrichtungen, bei denen sich ein Angreifer persistent (=andauernd) Zugriff auf ein Opfersystem verschafft und in der Folge auf weitere Systeme ausweitet. Die Angriffe zeichnen sich durch einen sehr hohen Ressourceneinsatz und erhebliche technische Fähigkeiten aufseiten der Angreifer aus und sind in der Regel schwierig festzustellen (siehe Internetseite des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, www.bsi.bund.de). 328 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr oder Jahre hinweg. Sie stimmen ihre Aktivitäten auf die Sicherheitsmaßnahmen ihrer anvisierten Opfer ab und greifen diese oft mehrfach an. Die Bearbeitung solcher Cyberangriffe ist aufgrund der Anonymität des Angriffs und der nicht erkennbaren Motivation der Angreifer für die Sicherheitsbehörden eine große Herausforderung der kommenden Jahre. Die Abgrenzung zwischen Cybercrime und Cyberspionage ist häufig sehr schwierig, da auch bei einem Sachverhalt mit einem augenscheinlich in erster Linie bestehenden finanziellen Interesse des Angreifers, wie dem Einsatz von Ransomware, staatliche Akteure im Vorfeld an der Kompromittierung beteiligt gewesen sein können. Denn auch einem staatlichen Akteur kann eine anschließende Verschlüsselung der Systeme des Opfers, der Verschleierung der Aktivitäten und der Zielrichtung des Angriffs dienen. Seit Jahresbeginn 2022, insbesondere seit Kriegsbeginn in der Ukraine, ist ein erhöhtes Hinweisaufkommen im Bereich Cyberabwehr festzustellen. Dies könnte mit einer erhöhten Alarmbereitschaft bei Cyberangriffen mit nachrichtendienstlichem Hintergrund liegen, da mehr Aufmerksamkeit und niedrigere Meldeschwellen als zuvor bestehen. Durch die hieraus resultierende höhere Anzahl der Sachverhaltsüberprüfungen konnten mehr Cyberangriffe validiert werden. Neben direkten Cyberangriffen zum Zweck der Spionage oder Sabotage können häufig kompromittierte Systeme festgestellt werden, die als Bestandteil eines Botnetzes132 von dem jeweiligen Akteur gesteuert werden. Hierbei handelt es sich meist um kompromittierte Systeme von Unternehmen, Behörden oder gar Privatpersonen. Der Angreifer will ohne Wissen des Betroffenen dessen IP Adresse für weitere Angriffe nutzen. Die potenziellen Opfer müssen sich 132 Ein Botnet oder Botnetz besteht aus gekaperten IT-Systemen, deren Besitzer und Nutzer in aller Regel nichts davon wissen, dass ihre Rechner ferngesteuert werden. Die heimliche Übernahme des Rechners beginnt mit einer Malware-Infektion. Die Schadsoftware ermöglicht es dem Angreifer, die Kontrolle über das System zu übernehmen, der Computer agiert wie ein Roboter oder kurz Bot. Gesteuert werden die gekaperten Computer meistens über sogenannte Command-and-Control-Server (C2-Server), welche wiederum vom Angreifer gesteuert werden. 329 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr nicht notwendigerweise in Deutschland befinden. Beim Aufbau eines Botnetzes geht es hauptsächlich um Verschleierungsaktivitäten. Ein konkreter, inzwischen öffentlich bekannter Fall nach diesem Muster betraf verschiedene niedersächsische Unternehmen. Die eingesetzte "Cyclops Blink Malware" des Akteurs "Sandworm" wird dem Russischen Nachrichtendienst "GRU" zugeordnet. Der Akteur "Sandworm" ist nach aktueller Einschätzung maßgeblich an Cyberangriffen gegen ukrainische Ziele beteiligt. Bei einer anderen Art der staatlich gesteuerten Angriffe zielte der Angreifer auf Politiker, die im Bundestag, im Landtag oder auch in den Kommunalparlamenten tätig sind oder waren ab. Dort wurde durch einen mutmaßlichen ausländischen Cyberakteur versucht, E-Mail-Konten zu übernehmen, um anschließend, möglicherweise durch eine Desinformationskampagne, Einfluss nehmen zu können. Konkrete erfolgreiche Angriffe auf kritische Infrastrukturen in Niedersachsen konnten bislang nicht festgestellt werden. Lediglich "Cyber-Kollateralschäden" hatten spürbare Folgen, so der Ausfall des Satellitennetzwerks KA-SAT, der mutmaßlich im Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Krieg stand. Bundesweit waren mindestens 3.000 Windräder, die über den Satellitenanbieter ferngewartet werden können, zeitweise nicht mehr erreichbar. Die Versorgungssicherheit war trotzdem gewährleistet. 330 Spionageabwehr / Proliferation / Cyberabwehr 7.4 Hilfe für Betroffene Personen, die Opfer eines Anwerbungsversuchs fremder Geheimdienste oder eines elektronischen Angriffs mit vermutetem nachrichtendienstlichem Hintergrund geworden sind, wird geraten, sich an das Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport Verfassungsschutzabteilung Postfach 44 20 30044 Hannover Telefon 0511 6709-0 zu wenden. Weitere Informationen können Sie auch dem Flyer "Spionage - (k) ein Thema?!" entnehmen, den Sie sowohl auf unserer Internetseite herunterladen, als auch über die vorstehenden Kontaktdaten bestellen können. 331 08 Geheimschutz Geheimschutz 8.1 Geheimschutz Zunehmende und komplexer werdende Cyberangriffe (siehe Kapitel 7.3) gefährden geheimhaltungsbedürftige Informationen in Behördennetzen verstärkt. Aus diesem Grund ist ein hohes Niveau an Datensicherheit durch technische, organisatorische und personelle Maßnahmen unerlässlich. Dazu gehören insbesondere eine Zugangsbegrenzung und eine Überprüfung der Berechtigten. Informationen und Vorgänge, deren Bekanntwerden den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines seiner Länder gefährden können, müssen geheim gehalten und als Verschlusssache (VS) vor unbefugter Kenntnisnahme geschützt werden. Je nach Schutzbedürftigkeit erfolgt eine Einstufung der VS in unterschiedliche Geheimhaltungsgrade (VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH, VS-VERTRAULICH, GEHEIM oder STRENG GEHEIM), wobei der Schutz durch vorbeugende Maßnahmen des personellen und materiellen Geheimschutzes erzielt wird. VS ab dem Geheimhaltungsgrad VS-VERTRAULICH dürfen nur Personen zugänglich sein, die sich einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen haben. Dieses zentrale Element des personellen Geheimschutzes ist in Niedersachsen im Niedersächsischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz (Nds. SÜG) geregelt. Die in diesem Gesetz vorgeschriebenen Überprüfungsverfahren stellen sicher, dass nur Personen, deren Zuverlässigkeit festgestellt worden ist, eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit ausüben. Dazu gehören auch bestimmte Tätigkeiten innerhalb lebensoder verteidigungswichtiger Einrichtungen. Die Sicherheitsüberprüfung erfolgt nur mit schriftlicher Einwilligung der zu überprüfenden Personen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel i. S. v. SS 14 NVerfSchG ist hierbei unzulässig. Zuständig für die Einleitung einer Sicherheitsüberprüfung ist die jeweilige Beschäftigungsdienststelle; die Verfassungsschutzbehörde wirkt bei der Durchführung der Überprüfung mit. Der Niedersächsische Verfassungsschutz führt für die eigenen Geheimnisträger die erforderlichen Sicherheitsüberprüfungen durch, ebenso auch für alle in Behörden und sonstigen Institutionen im Geheimschutzverfahren befindlichen Personen des personellen vorbeugenden Geheimund 334 Geheimschutz Sabotageschutzes. Bei diesen handelt es sich um eine weitere Mitwirkungsaufgabe i. S. d. SS 3 Abs. 4 Nr. 1 NVerfSchG. Darüber hinaus schreiben Spezialgesetze, z. B. das Atomgesetz oder das Luftsicherheitsgesetz, Zuverlässigkeitsüberprüfungen vor, mit denen Personen, deren Zuverlässigkeit aufgrund festgestellter Sicherheitsrisiken zweifelhaft ist, von einer Tätigkeit in sicherheitsempfindlichen Stellen, wie etwa Atomkraftwerken, ferngehalten werden sollen. Auch bei derartigen Zuverlässigkeitsüberprüfungen kommt der Verfassungsschutzbehörde eine Mitwirkungspflicht zu.133 8.2 Entwicklungen im Bereich der Sicherheitsüberprüfungen Die Gesamtzahl der Sicherheitsüberprüfungen im Jahr 2022 bewegte sich insgesamt weiterhin auf einem hohen Niveau. Bei den einfachen Sicherheitsüberprüfungen (Ü1) und den erweiterten Sicherheitsüberprüfungen (Ü2) ist ein besonderer Anstieg der Fallzahlen zu erkennen, der sich auch aus dem erhöhten Sicherheitsbedürfnis in den Behörden erklärt. Entwicklung der Sicherheitsüberprüfungen 1.600 1.572 1.400 1.278 1.247 1.200 480 1.092 1.000 540 563 395 440 SÜ-Sabotage 800 124 Einfache SÜ (Ü1) 600 152 135 400 Erweiterte SÜ (Ü2) 524 618 396 494 200 Erweiterte SÜ (Ü3) 0 104 90 55 79 2019 2020 2021 2022 Insgesamt konnte auch in diesem Jahr beobachtet werden, dass sich die Sicherheitsüberprüfungsverfahren oftmals langwieriger 133 Zu den Mitwirkungsaufgaben siehe Kapitel 1.10. 335 Geheimschutz gestalteten. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass von der mitwirkenden Behörde vermehrt sicherheitserhebliche Erkenntnisse festgestellt wurden und zur Bewertung, ob aufgrund dieser Erkenntnisse ein Sicherheitsrisiko vorliegt, deutlich häufiger Anhörungen der betroffenen Personen gem. SS 10 Abs. 1 Nds. SÜG durchgeführt werden mussten. Mit einer Anhörung wird der betroffenen Person die Möglichkeit eröffnet, in einem persönlichen Gespräch mit der mitwirkenden Behörde ihre Sichtweise zu sicherheitserheblichen Erkenntnissen darzulegen. Weiterhin kann beobachtet werden, dass immer häufiger die im Rahmen der Sicherheitsüberprüfung betroffenen Personen weniger als fünf (bei Ü1) bzw. zehn Jahre (bei Ü2 oder Ü3) in Deutschland gelebt haben. Damit ist die Sicherheitsüberprüfung nicht durchführbar, da ein Verfahrenshindernis vorliegt. Erfahrungsgemäß können die fraglichen Zeiträume nicht belegt, ausländische Sicherheitsbehörden oder sonstige öffentliche Stellen nicht zu Erkenntnissen über die zu überprüfende Person befragt werden oder es stehen keine Auskunftspersonen zur Verfügung. Das hat zur Folge, dass eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit grundsätzlich nicht übertragen werden könnte. Dabei ist nicht die Herkunft oder die Partnerwahl entscheidend, sondern die Überprüfbarkeit der entsprechenden Person. Auf die Überprüfung der einbezogenen Person kann aus Sicherheitsgründen nicht verzichtet werden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Niedersächsischen Verfassungsschutzes schöpfen alle Möglichkeiten aus, dieses Verfahrenshindernis zu heilen, z. B. durch die Befragung von Auskunftspersonen über die zu überprüfende Person. Dies ist jedoch kein vollwertiger Ersatz zu den Informationen der Sicherheitsbehörden. Das Ergebnis der Befragung kann daher nur akzeptiert werden, wenn die Zuverlässigkeit der entsprechenden Person damit ohne Zweifel festgestellt werden kann. Auch wenn dem Niedersächsischen Verfassungsschutz das Problem und die Konsequenzen bewusst sind und die entsprechende Person keine "Schuld" an der Nichtüberprüfbarkeit trägt, gilt - wie in allen anderen Sicherheitsüberprüfungsgesetzen auch - der Grundsatz "im Zweifel für die Sicherheit". 336 Geheimschutz 8.3 Neues Sicherheitsüberprüfungsgesetz Am 21.06.2017 ist das überarbeitete Sicherheitsüberprüfungsgesetz (SÜG) des Bundes in Kraft getreten. Das Gesetz enthält zahlreiche Änderungen, wie etwa die erstmalige Aufnahme von Regelungen zum materiellen Geheimschutz, sowie die einheitliche Verpflichtung zur Wiederholungsüberprüfung im Abstand von zehn Jahren für alle Stufen der Sicherheitsüberprüfung. Erstmalig ist im Gesetz die Befugnis geregelt, Erkenntnisse aus Internetseiten und sozialen Netzwerken bei der Sicherheitsüberprüfung zu berücksichtigen, indem offen zugängliche Inhalte eingesehen werden dürfen. Inzwischen liegt ein Referentenentwurf zum Niedersächsischen SÜG vor. Zum derzeit gültigen Gesetz, das bereits seit dem 30.03.2004 in Kraft ist, hat sich ein erheblicher Änderungsbedarf ergeben. Um das Gesetz den aktuellen Erfordernissen anzupassen, ist daher eine komplette Neufassung beabsichtigt. Dabei stellen die Regelungen des Bundes einen Maßstab dar, an dem es sich zu orientieren gilt. Außerdem wurde im engen Austausch mit den anderen Bundesländern ein gemeinsamer Rahmen zur Anpassung der Sicherheitsüberprüfungsgesetze entwickelt, der dazu beiträgt, dass die Sicherheitsüberprüfungen weiterhin gegenseitig anerkennungsfähig sind. Wegen der Komplexität des Gesetzentwurfs konnte das Gesetzgebungsverfahren in der letzten Legislaturperiode nicht mehr abgeschlossen werden. Am Anfang der neuen Legislaturperiode ist der Neustart des Gesetzgebungsverfahrens vorgesehen. Der bisher erarbeitete Gesetzentwurf dient dabei als gute Grundlage. 8.4 Beratung von Landesbehörden in Fragen des Geheimschutzes Der personelle Geheimschutz stellt in Zusammenhang mit durchzuführenden Sicherheitsüberprüfungen einen Beratungsschwerpunkt der Verfassungsschutzbehörde, z. B. in Form von individuellen 337 Geheimschutz Beratungsgesprächen mit Geheimschutzbeauftragten oder VS-Verwaltern anderer Behörden, dar. Der materielle Geheimschutz umfasst alle technischen und organisatorischen Maßnahmen, die zum Schutz gegen die unbefugte Kenntnisnahme von VS in schriftlicher, elektronischer oder mündlicher Form erforderlich sind. In der Verschlusssachenanweisung (VSA) des Landes Niedersachsen sowie ergänzenden Richtlinien ist geregelt, wie als VS eingestufte Informationen sicher bearbeitet, verwahrt, verwaltet und erörtert werden. Die Verfassungsschutzbehörde wirkt gemäß SS 60 Abs. 1 VSA bei der Durchführung der VSA und der sie ergänzenden Richtlinien mit und berät die Dienststellen des Landes. Beratungsschwerpunkte sind die Einrichtung und der Betrieb von besonders gesicherten Aktensicherungsräumen oder Stahlschränken (VS-Verwahrgelasse), in denen VS unter Beachtung baulicher, mechanischer, elektronischer und organisatorischer Sicherheitsvorkehrungen aufbewahrt werden können. Außerdem bezog sich ein Teil der Beratungsfunktion auf den Umgang mit Verschlusssachen in informationstechnischen Systemen 338 Geheimschutz und die ordnungsgemäße Vernichtung von Verschlusssachen verschiedener Geheimhaltungsgrade in Papierform oder als elektronischer Datenträger nach Standards des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Geheimschutz findet aber nicht nur in Behörden statt, sondern auch in Unternehmen, die im Auftrag des Staates mit VS umgehen und demzufolge die Regelungen des personellen und materiellen Geheimschutzes beachten müssen. Geheimschutzbetreute Unternehmen sind z. B. Firmen der Rüstungsindustrie. 339 09 Wirtschaftsschutz Wirtschaftsschutz 9.1 Einleitung Deutschland ist als technologieund exportorientierte Nation abhängig von auf Forschung und Erfahrung beruhendem Wissen (Knowhow) und Innovation als wertvollste Ressourcen der Volkswirtschaft. Dieses Wissen und diese Informationen sind sowohl für fremde Nachrichtendienste (Wirtschaftsspionage) als auch konkurrierende Unternehmen (Konkurrenzausspähung), die gezielt und professionell Ausspähung betreiben, von höchstem Interesse. Effektive Forschung und Entwicklung zu betreiben ist zeitaufwändig und teuer, zudem bedarf es hervorragend ausgebildeten Personals. Mangelt es einem Staat oder einem Unternehmen an einer der genannten Ressourcen, kann versucht werden, sich die fehlenden Erkenntnisse über eine gezielte Ausspähung anzueignen. Insbesondere durch die Entwicklungen im Rahmen der Digitalisierung sowie den besonderen wirtschaftlichen Herausforderungen der vergangenen Jahre erhöht sich der Druck auf Unternehmen, schneller und besser produzieren zu können, bzw. neue Produkte auf den Markt zu bringen. Von diesen Aktivitäten betroffen sind innovative und technologieorientierte Branchen, besonders Bereiche der Informationsund Kommunikationstechnik, der Luftund Raumfahrt, der Automobilindustrie, der Werkstoffund Produktionstechnik, der Biotechnik und Medizin, der Nanotechnologie sowie Energieund Umwelttechnik. Von Interesse sind Produktinnovationen und Marktstrategien. Im Zusammenhang mit der Entwicklung und Anpassung eines COVID-19-Impfstoffes ist die Pharmaindustrie inklusive deren Zulieferer besonderen Risiken ausgesetzt. Insbesondere seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind einerseits Unternehmen der Rüstungsindustrie sowie deren Zulieferer, andererseits aber auch Unternehmen, die als Kritische Infrastruktur (KRITIS) gelten, in den Fokus geraten. Hier stehen weniger Aspekte der Spionage als solche der Sabotage im Vordergrund. Niedersächsische Unternehmen verzeichnen mit ihren Spitzentechnologien große Erfolge, z. B. im Bereich der Automobilund Schifffahrtsbranche, der Laserund Sensortechnik, der Windenergieanlagen und 342 Wirtschaftsschutz Landmaschinen sowie der Hörgeräteakustik und können damit Ziel fremder Nachrichtendienste und von Konkurrenzfirmen sein. Vor diesem Hintergrund wurde im Jahr 2000 beim Niedersächsischen Verfassungsschutz aus der Spionageabwehr heraus der Fachbereich Wirtschaftsschutz geschaffen. Dieser Fachbereich des Niedersächsischen Verfassungsschutzes ist ein Partner für die Wirtschaft. Die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern haben sich auf folgendes gemeinsames Aufgabenverständnis der Fachbereiche Wirtschaftsschutz geeinigt: "Die Verfassungsschutzbehörden informieren im Rahmen des präventiven Wirtschaftsschutzes über eigene Erkenntnisse und Analysen, die dazu beitragen, dass Wirtschaft und Wissenschaft sich eigenverantwortlich effektiv gegen Ausforschung (insbes. Wirtschaftsspionage), Sabotage und Bedrohungen durch Extremismus und Terrorismus schützen können." Das Beratungsangebot des Niedersächsischen Verfassungsschutzes zu den Themen Wirtschaftsund Industriespionage, Cybersicherheit134, Know-how-Schutz, Sicherheit in der Informationsund Kommunikationstechnologie, Geheimschutz in der Wirtschaft, Sicherheit auf Geschäftsreisen im Ausland, Innentäterproblematik und Social Engineering135 wird stark nachgefragt, wie aus den folgenden Abschnitten deutlich wird. So wurden u. a. bereits zahlreiche Unternehmen bei Vortragsveranstaltungen mit sicherheitsrelevanten Informationen erreicht. Im Sinne eines verlässlichen Partners ist der Fachbereich Wirtschaftsschutz single point of contact (SPOC) für die Wirtschaft und damit auch Ansprechpartner bei fachlichen Fragestellungen über die genannten Themengebiete hinaus. So werden z. B. auch Fragestellungen des Extremismus in Absprache mit den jeweiligen Fachbereichen immer wieder in den Beratungsgesprächen thematisiert. 134 Cybersicherheit erweitert das Aktionsfeld der klassischen IT-Sicherheit auf den gesamten Cyber-Raum. Dieser umfasst sämtliche mit dem Internet und vergleichbaren Netzen verbundene Informationstechnik und schließt darauf basierende Kommunikation, Anwendungen, Prozesse und verarbeitete Information mit ein. Damit wird praktisch die gesamte moderne Informationsund Kommunikationstechnik zu einem Teil des Cyber-Raumes (siehe Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, www.bsi.bund.de). 135 Social Engineering bezeichnet eine Methodik zur Verhaltensmanipulation. Social Engineers spionieren das persönliche Umfeld ihres Opfers aus, täuschen Identitäten vor oder nutzen Verhaltensweisen wie Autoritätshörigkeit aus, um geheime Informationen oder unbezahlte Dienstleistungen zu erlangen. 343 Wirtschaftsschutz 9.2 Aufgaben und Arbeitsweise Mittlerweile werden vom Niedersächsischen Verfassungsschutz in den Fachbereichen Geheimund Wirtschaftsschutz fast 1.300 Unternehmen betreut. Beratungen Zum Kerngeschäft des Fachbereiches Wirtschaftsschutz zählen individuelle Sensibilisierungsund Informationsgespräche bei den Unternehmen vor Ort. Nachdem diese Gespräche aufgrund der Corona-Pandemie in den Jahren zuvor zurückgegangen waren, wurden diese im Jahr 2022 wieder möglich und von den Unternehmen auch abgefordert. Insgesamt wurden 75 Beratungen aufgrund spezieller Anfragen durchgeführt (2021 waren es 56). Der Verfassungsschutz unterliegt nicht dem Legalitätsprinzip. Das ermöglicht es, gegenüber den in den Unternehmen verantwortlich handelnden Personen Vertraulichkeit zuzusagen, ohne dass Gesprächs inhalte ggf. eine strafrechtliche Bearbeitung nach sich ziehen. Unternehmen befürchten oftmals einen Imageverlust, wenn die eigene Betroffenheit eines Sicherheitsvorfalls öffentlich bekannt wird. Dadurch bedingt ist auch von einem großen Dunkelfeld vorhandener, aber nicht mitgeteilter/angezeigter Sicherheitsvorfälle auszugehen. Häufig war die Informationstechnologie von Unternehmen betroffen. In den meisten Fällen waren Firmennetzwerke durch Schadsoftware manipuliert. Eine nachrichtendienstliche Steuerung dieser Angriffe war nicht auszuschließen. Nach wie vor werden Unternehmen in starkem Maße Opfer von Verschlüsselungstrojanern, wie verschiedene Meldungen an den Verfassungsschutz zeigen. In den überwiegenden Fällen geschieht dies per E-Mail. Entweder befindet sich in der E-Mail eine Verlinkung, die auf eine auf einer Webseite hinterlegte Schadsoftware verweist oder es wird eine Schadsoftware in einem manipulierten Anhang mitgeschickt. Moderne Schadsoftware ist z. B. in der Lage, eine bestehende E-Mail-Kommunikation auszulesen und 344 Wirtschaftsschutz somit eine schadhafte E-Mail zu generieren, die sich von der vorherigen Kommunikation kaum unterscheidet. Die Gefahr, auf den Anhang einer so generierten E-Mail zu klicken, ist damit sehr hoch. Wurden bis vor einigen Jahren noch sofort nach erfolgter Infektion die Rechner verschlüsselt, so kommt es inzwischen immer häufiger vor, dass vor der Verschlüsselung Unternehmensdaten ausgeleitet werden. Der Schaden für das betroffene Unternehmen ist damit erheblich höher. Oftmals liegt auch die Infektion mit der Schadsoftware schon längere Zeit zurück, wird aber erst mit Eintreten der Verschlüsselung bemerkt. Dies erschwert die forensische Analyse enorm. Eine Vielzahl von Cyberangriffen wird durch intensives Social Engineering vorbereitet bzw. begleitet. Je mehr im Vorfeld über den Adressaten einer (maliziösen) E-Mail bekannt ist, umso besser kann diese formuliert und angepasst werden, womit sich die Wahrscheinlichkeit, für authentisch gehalten und geöffnet zu werden, entsprechend erhöht. In den Fällen, die dem Niedersächsischen Verfassungsschutz mitgeteilt wurden, erfolgt zunächst eine Prüfung der möglichen Urheberschaft. Bei einem Verdacht einer nachrichtendienstlichen Tätigkeit erfolgt die weitere Bearbeitung durch den Arbeitsbereich Cyberabwehr des Fachbereiches Spionageabwehr. Über den Newsletter des Fachbereiches Wirtschaftsschutz wurden zahlreiche Warnungen (meist vor Cyberangriffen) an seine betreuten Unternehmen in Niedersachsen herausgegeben, die im Informationsverbund der Verfassungsschutzbehörden im Verlauf des Jahres 2022 bekannt geworden sind. Diese Newsletter dienen in erster Linie der Sensibilisierung in den Unternehmen. Nach wie vor ist davon auszugehen, dass soziale Netzwerke (Xing, Facebook, LinkedIn o. a.) genutzt werden, um im Rahmen von Social Engineering Informationen zu beschaffen, und diese im späteren Verlauf für Cyberangriffe zu verwenden. Vortragstätigkeit Im Jahr 2022 hielten Mitarbeitende des Fachbereiches Wirtschaftsschutz 91 Vorträge bei unterschiedlichen Veranstaltungen (2021 waren es 53). Neben Industrieund Handelskammern, Universitäten und kommunalen Wirtschaftsförderungen werden die Vorträge 345 Wirtschaftsschutz des Niedersächsischen Verfassungsschutzes stark von Unternehmen für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie insbesondere auch für Führungskräfte nachgefragt, um für ein sicheres Verhalten zu sensibilisieren. Netzwerkarbeit Ein bedeutsamer Aspekt der Arbeit des Niedersächsischen Verfassungsschutzes im Bereich des Wirtschaftsschutzes ist die Netzwerkarbeit. Ein wichtiger Partner, auch für den Informationsaustausch, ist die niedersächsische Polizei, die oft Hinweisgeber für mögliche Wirtschaftsspionagefälle ist. Häufig arbeitet der Verfassungsschutz mit dem Landeskriminalamt Niedersachsen (LKA NI) und dort mit der Zentralen Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) zusammen. Durch die fortschreitende Digitalisierung sowie zunehmende Bedeutung von Industrie 4.0, der Verzahnung von Produktion mit modernster Informationsund Kommunikationstechnik und damit verbunden der Cybersicherheit, haben sich Netzwerke gebildet, die für Unternehmen Hilfestellungen und Lösungen bieten. Seit vielen Jahren ist das Netzwerk niedersachsen.digital e.V. ein fester Partner des Niedersächsischen Verfassungsschutzes. Der Fachbereich Wirtschaftsschutz ist regelmäßig bei der dort ansässigen Fokusgruppe Cybersicherheit vertreten. Darüber hinaus wirkt der Fachbereich Wirtschaftsschutz im IT-Gesprächskreis der Industrieund Handelskammer Hannover und bei der interdisziplinären Expertengruppe "Indy4" mit und ist mit einem Ausschussmitglied im Außenwirtschaftsausschuss vertreten. Außerdem ist er Multiplikator in der Allianz für Cybersicherheit beim "Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI)". 9.3 Unternehmen der Kritischen Infrastruktur (KRITIS) Die Aufrechterhaltung des Gemeinwohls ist gerade in unsicheren Zeiten eine besonders herausfordernde Aufgabe. Deren sehr wichtige Bestandteile sind Unternehmen, die als Kritische Infrastruktur (KRITIS) gelten, da deren Produktionsanlagen bzw. -systeme von 346 Wirtschaftsschutz wesentlicher Bedeutung für die Produktion notwendiger Güter oder Dienstleistungen sind. Ein umfangreicher Lieferausfall dieser Produkte kann in der Regel nicht durch andere Akteure aufgefangen oder ausgeglichen werden. Mögliche Konsequenzen daraus wären, dass die Bevölkerung entsprechende Waren bzw. Leistungen nicht mehr beziehen können und in nächster Konsequenz Hunger, Durst, mangelhafte Gesundheitsoder/und Energieversorgung etc. folgen können. Der Schutz Kritischer Infrastrukturen ist somit eine immens wichtige Aufgabe, die mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine stärker in den Fokus geraten ist. Der Verfassungsschutz leistet seinen Beitrag, um Betreiber Kritischer Infrastrukturen bestmöglich zu unterstützen und die Versorgungssicherheit möglichst umfassend zu gewährleisten. Der Fachbereich Wirtschaftsschutz pflegt aus o. a. Gründen sehr gute Kontakte zu allen dem Niedersächsischen Verfassungsschutz bekannten KRITIS-Unternehmen in Niedersachsen und berät diese in Fragestellungen zu Spionageund Sabotageabwehr. Die ganzheitliche Sicht "Steigerung der inneren Sicherheit für Niedersachsen" durch Erhöhung der Resilienz in KRITIS-Unternehmen ist hier der treibende Faktor, welchem auch durch Mitarbeit in verschiedenen Gremien Rechnung getragen wird. In Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport und dem Landeskriminalamt Niedersachsen hat der Niedersächsische Verfassungsschutz in der Vergangenheit bereits zwei Tagungen für Sicherheitsverantwortliche der KRITIS-Unternehmen durchgeführt, eine dritte Tagung ist für die erste Hälfte 2023 geplant. 9.4 Sicherheitstagung für geheimschutzbetreute Unternehmen Vom 18. bis zum 19.05.2022 fand die jährliche Sicherheitstagung für geheimschutzbetreute Unternehmen in Garrel statt. Etwa 60 Vertreterinnen und Vertreter von Wirtschaftsunternehmen sowie aus Bundesund Landesbehörden nahmen an der Tagung teil. 347 Wirtschaftsschutz Die Tagung begann mit einem Bericht von Frau Dr. Verena Peters, die stellvertretend für das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) über die neuesten Änderungen und aktuellen Entwicklungen im Bereich der Bearbeitung der geheimschutzbetreuten Unternehmen referierte. Im Anschluss gab Raoul Classen, beschäftigt bei der DETEK AG, einen Einblick in die Ermittlungsarbeit der Detektei und berichtete über einen Fall, welcher zwischen Hassplattformen und Troll-Communities stattgefunden habe. Seine Schilderungen brachten den Zuhörerinnen und Zuhörern eindrucksvoll nahe, wie schnell im Internet Mobbing, Hass und Verleumdung an Fahrt aufnehmen und Einzelpersonen wie auch Unternehmen das Leben erschweren können. Frau Prof. Dr. Annika Schach von der Hochschule Hannover (Medien, Information und Design, Abteilung Information und Kommunikation) gab wertvolle Tipps zum Thema Kommunikation in Unternehmen. So führte sie anhand diverser Beispiele den Gästen vor Augen, wie wichtig eine gute Vorbereitung auf verschiedene Störszenarien in der internen Kommunikation und im Umgang mit der Presse sei. Der Mitarbeiter des Fachbereiches Wirtschaftsschutz beim Verfassungsschutz, Jörg Peine-Paulsen, referierte über die Entwicklungen, die für Unternehmen, Wissenschaft und Politik in den letzten Jahren relevant waren. Von Cyberangriffen über die Lieferkettenproblematik und die Pandemie, die Finanzkrise bis hin zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wurde deutlich: nach der Krise ist vor der Krise. Hier bliebe bzgl. der allgemeinen Unternehmenssicherheit somit nur der Aufruf zur Wachsamund Betriebsamkeit. Der Bundesnachrichtendienst (BND) gewährte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Einblicke in ein fremdes Land in schwieriger Lage: Afghanistan. Obwohl die Sicherheitslage dort unter den Eindrücken des Ukraine-Krieges zuletzt etwas aus dem Blick der Berichterstattung gedrängt wurde, sei die Lage dort nicht minder brisant. Der BND berichtete über die aktuelle Lage vor Ort, über Entwicklungen in der Vergangenheit und wagte einen vorsichtigen Blick in eine weiterhin unsichere Zukunft. 348 Wirtschaftsschutz Als weitere Referentin des Verfassungsschutzes stellte Nicole Rügenhagen als Leiterin des Referatsteils Spionageabwehr die aktuellen Herausforderungen in ihrem Arbeitsbereich dar. So machte sie beispielsweise deutlich, dass der Bereich der Cyberabwehr im Verfassungsschutz ausgebaut werde und hier eine hohe fachliche Expertise vorhanden und auch von Nöten sei. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik, dort der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik angehörend, legte Hintergründe zu Russland, der Ukraine und der NATO dar und berichtete über aktuelle Entwicklungen im Kriegsgebiet. Abschließend rundete Ingo Peters von der Zentralen Kriminalinspektion Oldenburg (Taskforce Cybercrime) die Tagung mit einem Vortrag über den Cyberbunker in Traben-Trarbach ab. Die polizeiliche Bearbeitung des Dark-Market-Verfahrens ziehe ihre Kreise bis in den niedersächsischen Norden. Der Bericht über ein solch umfangreiches Verfahren lieferte einen besonderen Einblick in das Zusammenwirken der jeweils beteiligten Behörden. 9.5 20. Wirtschaftsschutztagung des Niedersächsischen Verfassungsschutzes Nach einer Schwerpunktveranstaltung zum Thema "Desinformation" im letzten Jahr fand am 07.11.2022 wieder die alljährliche Wirtschaftsschutztagung statt. Etwa 180 Vertreterinnen und Vertreter größtenteils niedersächsischer Unternehmen nahmen an der Präsenzveranstaltung teil. Der damalige Niedersächsische Minister für Inneres und Sport, Boris Pistorius betonte in seiner Keynote, dass die Zahl der digitalen Attacken auf niedersächsische Firmen stetig ansteige. Neben Angriffen auf Firmennetzwerke aus kriminellem Antrieb und der daraus resultierenden Erpressung könnten auch politische Motive dahinterstehen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine erfordere bereits eine erhöhte Wachsamkeit, 349 Wirtschaftsschutz hinzu käme die Unsicherheit aufgrund des steigenden Einflusses aus China. Im ersten Teil der Veranstaltung stellte Frau Dr. Diana Kisro-Warnecke von der Nippon Telegraph and Telephone Group (NTT) in ihrem Vortrag "China: Partner, Konkurrent oder systemischer Rivale?" die Chancen und Risiken dar, die der wachsende Handel mit China mit sich bringt. Online dazugeschaltet wurde Frau Sophia Stahl vom Recherchezentrum CORRECTIV, die in ihrem Vortrag "Chinesisches Militär made in Germany" die Zusammenarbeit deutscher Hochschulen und Universitäten mit chinesischen Forschungseinrichtungen darlegte und auf die Gefahr hinwies, dass das Wissen, welches an hiesigen Hochschulen geteilt wird, in China auch in militärische Einrichtungen fließen könne. Dr. Tim Stuchtey, Direktor des Brandenburgischen Instituts für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS) schilderte Erkenntnisse des Instituts aus der Studie "Der hohe Preis des Zauderns: Handel unter russischer Aggression", worin die viel diskutierten Kosten des Embargos gegen Russland den Kosten einer eher russlandfreundlichen Politik gegenübergestellt wurden. In einer sich anschließenden Podiumsdiskussion wurden die ineinandergreifenden Themen diskutiert und Fragen aus dem Plenum aufgegriffen. Im zweiten Teil der Veranstaltung ging es um die "Sicherheit von morgen mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz". In diesem Vortrag gab Prof. Dr. Marco Barenkamp von der LMIS AG ("Let's make it smarter") einen Einblick über die Möglichkeiten, die in der Nutzung Künstlicher Intelligenz (KI) liegen und wie diese für die Cybersecurity nutzbar gemacht werden können. Der letzte Fachvortrag kombinierte die Themen KI und Desinformation. Caroline Lindekamp als Head of "noFake" erläuterte die Ansätze des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektes "noFake", das mit Hilfe von KI Falschmeldungen erkennen und zu widerlegen versucht. 350 Wirtschaftsschutz 9.6 Kontaktdaten Für Fragen steht der Arbeitsbereich Wirtschaftsschutz des Niedersächsischen Verfassungsschutzes unter folgenden Kontaktdaten zur Verfügung: Telefon: 0511 6709-284 oder -248 Telefax: 0511 6709-393 E-Mail: wirtschaftsschutz@mi.niedersachsen.de Internet: www.verfassungsschutz.niedersachsen.de 351 10 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) Politisch motivierte Kriminalität (PMK) 10.1 Politisch motivierte Kriminalität136 (PMK) - Vorbemerkung Die Politisch motivierte Kriminalität wird durch die Polizei auf der Grundlage des "Kriminalpolizeilichen Meldedienstes in Fällen Politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK)" erfasst. Meldepflichtig sind alle politisch motivierten Straftaten (Fälle) gemäß den Richtlinien des KPMD-PMK. Dazu zählen "echte Staatsschutzdelikte" (SSSS 80a-83, 84-86a, 87-91, 94-100a, 102, 104, 105-108e, 109-109h, 129a, 129b, 130137, 192a138, 234a oder 241a StGB, Straftaten nach dem VStGB) sowie Delikte der allgemeinen Kriminalität, die gemäß Definitionssystem der PMK zuzuordnen sind ("unechte Staatsschutzdelikte"). Den Letztgenannten werden Fälle zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/ oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie politisch motiviert waren, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftsetzung oder Abschaffung eines Elementes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Extremismus) zum Ziel haben muss. Tatbestände der "echten Staatsschutzdelikte" werden auch erfasst, wenn im Einzelfall keine politische Motivation festgestellt werden kann. Die extremistische Kriminalität, welche in den Berichten der Verfassungsschutzbehörden dargestellt wird, bildet einen Teilbereich der Politisch motivierten Kriminalität ab und umfasst Straftaten, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Außerdem finden Straftaten Berücksichtigung, die durch Anwendung von Gewalt139 oder durch darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen 136 Der PMK werden Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/ oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen sollen, sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder sich gegen eine Person, insbesondere aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung oder Herkunft richten und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht. 137 Seit dem 01.01.2021. 138 Einführung des SS 192a StGB am 22.09.2021. 139 Zu denen werden hier auch die im KPMD-PMK zu einem gesonderten Deliktsbereich gehörenden Terrorismusdelikte gezählt. 354 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder sich gegen die Völkerverständigung richten. 10.2 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) mit extremistischem Hintergrund - rechts Die Gesamtzahl der Straftaten im Phänomenbereich der PMK -rechtsist mit 1.725 Fällen im Vergleich zum Vorjahreswert (2021: 1.992) um 13,4 Prozent gesunken. Im Vergleich der letzten 10 Jahre liegt die Fallzahl auf hohem Niveau (Mittelwert 1.709). Von den 1.725 rechtsmotivierten Fällen in 2022 sind 1.592 extremistisch motiviert (2021: 1.850). Die Anzahl der rechtsextremistischen Gewaltdelikte140 sank im Vergleich zum Vorjahr um fünf Fälle auf insgesamt 55 Taten. Davon handelt es sich mit 39 Taten in den meisten Fällen um Körperverletzungsdelikte.141 Die damit verbundene Gewaltkriminalität steht (wie auch im Vorjahr) überwiegend im Zusammenhang mit fremdenfeindlichen, ausländerfeindlichen oder rassistisch motivierten Taten und richtet sich dabei gegen Menschen mit (teilweise vermeintlichem) Migrationshintergrund. Partiell richten sich die Taten gegen die Polizei (10) oder stehen im Kontext von Rechts/Links-Konfrontationen (3). Daneben sind fünf rechtsextremistische Branddelikte verzeichnet (2021: 0). Die Brandlegungen richteten sich in vier Fällen gegen Gebäude, eine Kirche, ein städtisches Gebäude sowie die beiden im u. s. Kontext des Angriffs gegen Asylunterkünfte dargelegten Gebäude und in einem Fall gegen einen Pkw. Zu Personenschäden kam es in keinem Fall. 140 Zu denen werden hier auch die im KPMD-PMK zu einem gesonderten Deliktsbereich gehörenden Terrorismusdelikte gezählt. 141 Diese beinhalten 23 Fälle der Einfachen (SS 223 StGB) und 16 Fälle der Gefährlichen Körperverletzung (SS 224 StGB). 355 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) Im Bereich der sonstigen rechtsextremistischen Straftaten142 ist mit 1.537 Fällen im Jahr 2022 ein Rückgang in Höhe von 253 Delikten im Vergleich zum Vorjahr (2021: 1.790 Fälle) festzustellen, welcher u. a. durch den Rückgang von Nötigungs-/Bedrohungsdelikten sowie Sachbeschädigungen begründet ist. Die Anzahl der rechtsextremistischen Volksverhetzungen die, wie im Vorjahr, ebenfalls einen wesentlichen Anteil der sonstigen rechtsextremistischen Straftaten darstellt, blieb im Berichtsjahr 2022 mit 272 mit einer Reduktion um 38,04 Prozent ebenfalls deutlich unterhalb des Fallzahlenaufkommens des Jahres 2021 (439 Fälle). Ursächlich für den Rückgang ist u. a. ein einzelner Sachverhalt aus dem Jahr 2021. Auf verschiedenen Social-Media-Plattformen (Facebook, Twitter etc.) wurde hierbei durch eine Vielzahl von Beschuldigten ein Video kommentiert, in dem ein Mann mit dunkler Hautfarbe längere Zeit auf einem Baum verweilte. In den Kommentaren wurde der Mann unter anderem als "Affe" bezeichnet, was zur Einleitung von insgesamt 104 Strafverfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung führte. Die Anzahl rechtsextremistischer Propagandadelikte steigt im Vergleich zum Vorjahr (982) auf 1.040 Taten (+ 58 Taten); diese bilden weiterhin den Schwerpunkt am Gesamtaufkommen der rechtsextremistischen PMK. Im Jahr 2022 wurden im Phänomenbereich PMK -rechtsinsgesamt 518 fremdenfeindlich extremistische Taten begangen (193 Fälle weniger als im Vorjahr). Die Reduktion lässt sich maßgeblich auf die o. g. Fälle der Videokommentierung zurückführen. Vor dem Hintergrund der fremdenfeindlichen Motivation erfolgten 35 Gewaltdelikte, wovon eine Tat in Form der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat der Deliktsqualität Terrorismus zugeordnet ist. Hintergründig hierfür waren rechtsgerichtete Äußerungen, verbunden mit dem mutmaßlichen Besitz eines Sprengstoffs. Der Anteil fremdenfeindlicher Gewaltkriminalität stellt den größten Anteil der Gesamtgewaltdelikte im Phänomenbereich der PMK -rechts(55) dar. Sie ereigneten sich in Form von 16 Einfachen, 13 Gefährlichen Körperverletzungen und drei Fällen der Brandstiftung, dabei in einem Fall einer Schweren Brandstiftung. In zwei Fällen richtete sich 142 Im Sinne des KPMD sind hier die extremistischen Straftaten der Deliktsqualität "Politisch motivierte Kriminalität" gemeint. 356 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) die Gewaltausübung in Form von Tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte. In einem weiteren Fall handelte es sich um das o. g. Terrorismusdelikt gem. SS 89a StGB. Im Kontext Konfrontation/Politische Einstellung - gegen links ereigneten sich im Jahr 2022 34 rechtsextremistische Taten. Dies stellt einen Rückgang um 48 Taten und somit um mehr als 58 Prozent dar. Der Rückgang ist u. a. auf das Absinken von Beleidigungsdelikten (2021: 14, 2022: 4) sowie Sachbeschädigungsdelikten (2021: 24, 2022: 6) zurückzuführen. Im Versammlungskontext erfolgten im Jahr 2022 vier Taten (2021: 21). Der Anteil an Gewaltkriminalität belief sich im Jahr 2022 auf drei Fälle, die sich in zwei Fällen als Einfache und in einem Fall als Gefährliche Körperverletzung darstellten (2021:5). In 2022 wurden insgesamt neun Straftaten mit einem rechtsmotivierten Hintergrund gegen Asylunterkünfte festgestellt (2021: 4). Bei zwei Taten handelte es sich um Branddelikte, wobei in einem Fall ein Beschuldigter nach vorangegangenem Streit einen Bekleidungsgegenstand in einer Unterkunft entzündete. In dem anderen Fall wurde ein zur Unterbringung von Geflüchteten geplantes Objekt, auf einem stillgelegten Kasernengelände angegriffen. In keinem Fall kam es zu Personenschäden. In zwei weiteren Fällen kam es zum Versand von Briefen, in denen Anschlagsdrohungen zum Nachteil von Unterkünften in Aussicht gestellt und Geflüchtete abwertend bezeichnet wurden. In ebenfalls zwei Fällen kam es zur Beschädigung von Glasscheiben an Asylunterkünften durch den Bewurf mit z. T. unbekannten Gegenständen. In weiteren Fällen kam es zur Ablage eines abgetrennten Schweinekopfs vor einer Unterkunft sowie der Bedrohung eines Regionsmitarbeiters, welcher rechtsgerichtete Sticker, u. a. an einer Flüchtlingsunterkunft, festgestellt hat. In einem Fall schoss ein zunächst unbekannter Mann mit einer Luftdruckpistole in Richtung einer Unterkunft für ukrainische Geflüchtete. Zu Personenschäden kam es nicht. Nach bisherigem Erkenntnisstand lassen die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte keinen Rückschluss auf landesweit gesteuerte Strategien zu. Konkrete Hinweise auf organisationsgesteuerte Gewaltstraftaten gegen Asylbewerbende oder Unterkünfte, in Form 357 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) von angeordneter oder gezielt gelenkter Delinquenz durch rechtsextremistische Parteien oder entsprechende Strukturen oder gemäß szeneinterner Wahrnehmung "Verantwortlicher", liegen nicht vor. Übersicht über Gewalttaten und sonstige Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich "Politisch motivierte Kriminalität -rechts-" in Niedersachsen143 Gewalttaten: 2021 2022 Terrorismusdelikte (SS 89a StGB, SS 91 StGB, SS 129a StGB) 1 1 Körperverletzungen 50 39 Brandstiftungen 0 5 Gefährl. Eingriffe in Bahn-, Luft-, Schiffsund Straßenverkehr 1 0 Widerstandsdelikte 8 10 Insgesamt 60 55 Sonstige Straftaten: Sachbeschädigungen 87144 40145 Nötigungen/Bedrohungen 73 26 Propagandadelikte 982 1.040 Störung der Totenruhe 2 0 Volksverhetzung 439 272 Andere Straftaten 207 159 Insgesamt 1.790 1.537 Straftaten insgesamt 1.850 1.592 143 Die Zahlen basieren auf Angaben des Landeskriminalamtes Niedersachsen (LKA NI). Die Darstellung der niedersächsischen Fallzahlen in Übersichten des Bundes kann davon abweichen, da das LKA NI eine sogenannte "lebende Statistik" führt. Um die ständige Aktualität der Statistik sicherzustellen, werden dabei ggf. Nacherfassungen/Aktualisierungen auch für Vorjahre vorgenommen, sodass der Zahlenbestand Veränderungen unterliegen kann. 144 74 Taten gem. SS 303 StGB, 13 Taten gem. SS 304 StGB. 145 32 Taten gem. SS 303 StGB, 8 Taten gem. SS 304 StGB. 358 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) 10.3 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) mit extremistischem Hintergrund - links Im Phänomenbereich der PMK -linkssind im Berichtsjahr 693 Fälle zugeordnet, was im Vergleich zum Vorjahr 2021 (1.226 Fälle), in dem im 10-Jahres-Vergleich ein Höchststand erreicht war, eine erhebliche Reduzierung von 43,47 Prozent darstellt. Das zu Grunde liegende Kriminalitätsgeschehen steht zu rund einem Viertel (173) in Bezug zur Wahl zum 19. Niedersächsischen Landtag in 2022. Bei den linksmotivierten Delikten im Berichtsjahr sind 379 extremistische Fälle verzeichnet, womit sich deren Anzahl gegenüber dem Vorjahr (2021: 701) um 45,93 Prozent reduzierte. Ebenso wie bei dem deutlichen Rückgang der erfassten Delikte im hiesigen Phänomenbereich beruht diese Entwicklung der linksextremistischen Straftaten auf einem erheblich gesteigerten Deliktaufkommen im Jahr 2021 im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen und der Bundestagswahl. Die linksextremistischen Gewaltdelikte sanken im Berichtsjahr 2022 auf 45 Fälle (2021: 64). Den größten Anteil in diesem Bereich bilden Körperverletzungsdelikte mit 20 Fällen146 und 17 Widerstandshandlungen. Darüber hinaus konnten drei Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr, zwei Landfriedensbrüche, davon ein schwerer Fall des Landfriedensbruchs sowie versuchter Raub im Kontext der linksextremistischen Gewaltdelikte festgestellt werden. Im Vergleich zum Vorjahr ergaben sich insbesondere bei den Widerstandsdelikten (2021: 26) sowie den Körperverletzungsdelikten (2021: 6) und den Landfriedensbrüchen (2021: 5) sichtbare Rückgänge. Daneben ist eine Brandstiftung147 (2021: 3148) verzeichnet. Bei dem als extremistisch eingestuften Brandstiftungsdelikt handelt es sich um das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion mit anschließender 146 10 Taten gem. SS 223 StGB, 10 Taten gem. SS 224 StGB. 147 Tat gem. SS 306 StGB. 148 2 Taten gem. SS 306 StGB, 1 Tat gem. SS 306a StGB. 359 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) Brandstiftung auf dem Gelände einer Industrieanlage, bei der ein Schaden in Höhe von mehreren tausend Euro entstand. Dem Themenfeld Antifaschismus sind für das Berichtsjahr insgesamt 269 linksextremistische Taten zugeordnet (2021: 604). Im Vorjahr ereignete sich ein Großteil der Taten im Themenfeld Antifaschismus im Kontext der seinerzeitigen Bundestagswahl und den Kommunalwahlen. Im Themenfeld sind im Berichtsjahr 26 Gewaltdelikte (2021: 47) verzeichnet, darunter 16 Körperverletzungsdelikte149 und acht Widerstandshandlungen150 . Die Delikte wurden vornehmlich im Kontext von Versammlungen begangen. Dem Themenfeld Konfrontation/Politische Einstellung - gegen rechts sind für das Jahr 2022 insgesamt 243 linksextremistische Taten zugeordnet (2021: 585). Auch hier lässt sich die deutliche Abnahme um 58,46 Prozent mit einem erheblich gesteigerten Deliktaufkommen im Jahr 2021 im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen und der Bundestagswahl erklären Im Jahr 2022 kam es in diesem Themenfeld zu 23 extremistischen Gewaltdelikten (2021: 45), wobei es sich um 14 Körperverletzungsdelikte151, sieben Widerstandshandlungen152 sowie zwei Fälle des Landfriedensbruchs153 handelte. 149 9 Taten gem. SS 223 StGB, 7 Taten gem. SS 224 StGB. 150 4 Taten gem. SS 113 StGB, 4 Taten gem. SS 114 StGB. 151 8 Taten gem. SS 223 StGB, 6 Taten gem. SS 224 StGB. 152 3 Taten gem. SS 113 StGB, 4 Taten gem. SS 114 StGB. 153 1 Tat gem. SS125 StGB, 1 Tat gem. SS125a StGB. 360 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) Übersicht über Gewalttaten und sonstige Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich "Politisch motivierte Kriminalität -links-" in Niedersachsen154 Gewalttaten: 2021 2022 Körperverletzungen 24 20 Brandstiftungen 3 1 Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion 0 1 Landfriedensbrüche 5 2 Gefährl. Eingriffe in Bahn-, Luft-, Schiffsoder Straßenverkehr 5 3 Raubdelikt 1 1 Widerstandsdelikte 26 17 Insgesamt 64 45 Sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 351155 205156 Nötigungen/Bedrohungen 15 13 Diebstahl157 110 52 Andere Straftaten 161 64 Insgesamt 637 334 Straftaten insgesamt 701 379 154 Die Zahlen basieren auf Angaben des Landeskriminalamtes Niedersachsen (LKA NI). Die Darstellung der niedersächsischen Fallzahlen in Übersichten des Bundes kann davon abweichen, da das LKA NI eine sogenannte "lebende Statistik" führt. Um die ständige Aktualität der Statistik sicherzustellen, werden dabei ggf. Nacherfassungen/Aktualisierungen auch für Vorjahre vorgenommen, sodass der Zahlenbestand Veränderungen unterliegen kann. 155 339 Taten gem. SS303 StGB, 12 Taten gem. SS304 StGB. 156 192 Taten gem. SS303 StGB, 13 Taten gem. SS304 StGB. 157 Delikte gem. SSSS 242, 243 StGB, ohne SS248a StGB (Diebstahl und Unterschlagung geringwertiger Sachen). 361 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) 10.4 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) mit extremistischem Hintergrund - ausländische Ideologie und religiöse Ideologie Die Gesamtzahl der im Jahr 2022 in den Phänomenbereichen der PMK -religiöse Ideologieund der PMK -ausländische Ideologieerfassten Straftaten beträgt 169 Fälle, was ein ähnliches Niveau wie im Vorjahr darstellt (2021: 189 Fälle). Der Rückgang ist im Bereich der PMK -ausländische Ideologiezu verzeichnen, während die Anzahl der Straftaten im Bereich -religiöse Ideologieim einstelligen Bereich zunimmt. Als extremistisch motivierte Taten wurden 60 Fälle für das Jahr 2022 erfasst (2021: 156). Dies bedeutet einen Rückgang um 61,54 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Davon entfallen 29 Fälle auf den Phänomenbereich PMK -ausländische Ideologie(2021: 127) und 31 Fälle auf den Phänomenbereich PMK -religiöse Ideologie(2021: 29). Der deutliche Rückgang der Extremismusdelikte im Phänomenbereich der PMK -ausländische Ideologieum 98 Fälle im Vergleich zum Vorjahr lässt sich auf die Abnahme von Verstößen nach dem Vereinsgesetz zurückführen, die im Vorjahr hauptsächlich in Bezug zu Ermittlungsergebnissen im Kontext der PKK in Deutschland standen. Im Phänomenbereich der PMK -religiöse Ideologiesind in 2022 fünf Fälle in der Deliktsqualität Terrorismus erfasst, bei denen es sich um Fälle gemäß SS 89c StGB sowie SS 129b StGB handelt. Dem Phänomenbereich der PMK - ausländische Ideologiesind keine Terrorismusdelikte zugeordnet. Für den Berichtszeitraum sind neun Gewaltdelikte158 mit extremistischem Hintergrund (2021: 32) verzeichnet. Davon entfallen zwei auf den Phänomenbereich der PMK -ausländische Ideologie-, bei denen 158 Zu denen hier auch die Terrorismusdelikte gezählt werden. 362 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) es sich jeweils um Körperverletzungen handelt. Auf den Phänomenbereich der PMK -religiöse Ideologieentfallen sieben Gewaltdelikte, davon fünf Terrorismusdelikte sowie eine Körperverletzung und ein schwerer Raub. Übersicht über Gewalttaten und sonstige Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich "Politisch motivierte Ausländerkriminalität" in Niedersachsen159 Gewalttaten: 2021 2022 ausländische religiöse ausländische religiöse Ideologie Ideologie Ideologie Ideologie Terrorismusdelikte (SSSS 89a, 89b, 89c, 91, 129a, b 9 7 0 5 StGB sowie Katalogtaten) Körperverletzungen 3 0 2 1 Brandstiftungen 0 1 0 0 Landfriedensbrüche 1 0 0 0 Raub 0 0 0 1 Erpressung 1 0 0 0 Widerstandsdelikte 9 1 0 0 Insgesamt 23 9 2 7 Sonstige Straftaten: Sachbeschädigungen 5 0 2 0 Nötigungen/Bedrohungen 5 3 2 3 159 Die Zahlen basieren auf Angaben des Landeskriminalamtes Niedersachsen (LKA NI). Die Darstellung der niedersächsischen Fallzahlen in Übersichten des Bundes kann davon abweichen, da das LKA NI eine sogenannte "lebende Statistik" führt. Um die ständige Aktualität der Statistik sicherzustellen, werden dabei ggf. Nacherfassungen/Aktualisierungen auch für Vorjahre vorgenommen, sodass der Zahlenbestand Veränderungen unterliegen kann. 363 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) Andere Straftaten 94 (88) 17 (6) 23 (14) 21 (3) (davon SS 20 VereinsG160) Insgesamt 104 20 27 24 Straftaten insgesamt 127 29 29 31 160 Zuwiderhandlungen gegen (Vereins-) Verbote. 364 Politisch motivierte Kriminalität (PMK) 365 11 Anhang Anhang 11.1 Definition der Arbeitsbegriffe Antisemitismus Der Antisemitismus beschreibt ein Weltbild, welches auf Unterstellungen und Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden basiert. Er tritt häufig in Form von Verschwörungstheorien in Erscheinung. Antisemitische Verschwörungstheorien haben eine lange Geschichte und lassen sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Studien belegen eindrücklich, dass antisemitische Einstellungsmuster in der Bevölkerung nach wie vor verbreitet sind. Angefangen bei antisemitischen Vorurteilen, die in allen Gesellschaftsschichten zu finden sind, bis hin zu antisemitischer Hetze und Verschwörungstheorien in den verschiedenen extremistischen Szenen: Im Rechtsextremismus, Islamismus und Linksextremismus. Antisemitische Straftaten sind in Deutschland noch immer überwiegend politisch rechtsextremistisch motiviert. Entsprechende Einstellungsmuster und Handlungen stellen ein zentrales Element der rechtsextremistischen Ideologie dar. Der israelbezogene Antisemitismus erfüllt eine Brückenfunktion zwischen den extremistischen Phänomenbereichen. Er gehört zum Kernbestand politischer Propaganda in vielen Staaten im Nahen und Mittleren Osten und ist ein Wesenszug aller islamistischen und salafistischen Organisationen. Er hat aber auch innerhalb linker Bewegungen eine lange Tradition. Extremismus Die Verfassungsschutzbehörden unterscheiden zwischen "Extremismus" und "Radikalismus", obwohl beide Begriffe oft synonym gebraucht werden. Bei "Radikalismus" handelt es sich um eine überspitzte, zum Extremen neigende Denkund Handlungsweise, die gesellschaftliche Probleme und Konflikte bereits "von der Wurzel (lat. radix) her" anpacken will. Im Unterschied zum "Extremismus" sollen jedoch weder der demokratische Verfassungsstaat noch die damit verbundenen Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung beseitigt werden. So sind z. B. Kapitalismuskritiker, die grundsätzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung äußern und sie von Grund auf verändern wollen, noch keine Extremisten. Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz. Auch 368 Anhang wer seine radikalen Zielvorstellungen realisieren will, muss nicht befürchten, dass er vom Verfassungsschutz beobachtet wird, jedenfalls nicht, solange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt. Als extremistisch werden dagegen die Aktivitäten bezeichnet, die darauf abzielen, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen. Extremismus mit Auslandsbezug Extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug umfassen das Agieren einer Vielzahl von Gruppierungen mit linksextremistischen, separatistischen oder nationalistischen Vorstellungen. Ihr Aktionismus zielt regelmäßig auf radikale Veränderungen der politischen Verhältnisse in der Heimatregion. Aktuelle Ereignisse und politische Entwicklungen im Herkunftsland sind dabei richtungsweisend für die Intensität des Auftretens und auch für das Militanzniveau. Türkische und kurdische Gruppierungen, die ihre jeweilige Ideologie zudem noch in gegeneinander gerichtete gewalttätige Auseinandersetzungen kanalisieren, bilden dabei einen Beobachtungsschwerpunkt des Verfassungsschutzes. Als mitgliederstärkste Organisation ist die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) zu nennen. Alle ausländerextremistischen Organisationen sehen Deutschland als Raum für Rückzug, Rekrutierung, Propaganda und Finanzierung. Derartige Organisationen unterliegen der Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden, wenn: f sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland richten, indem sie hier z. B. versuchen, eine ihren Grundsätzen entsprechende Parallelgesellschaft zu errichten, f sie ihre politischen Auseinandersetzungen mit Gewalt auf deutschem Boden austragen und dadurch die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährden, f sie vom Bundesgebiet aus Gewaltaktionen in anderen Staaten durchführen oder unterstützen und dadurch auswärtige Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu diesen Staaten gefährden oder f sich ihre Aktivitäten gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker richten. 369 Anhang Islamismus Der Begriff des Islamismus bezeichnet eine religiös motivierte Form des politischen Extremismus. Islamisten sehen in den Schriften und Geboten des Islams nicht nur Regeln für die Ausübung der Religion, sondern auch Handlungsanweisungen für eine islamistische Staatsund Gesellschaftsordnung. Ein Grundgedanke dieser islamistischen Ideologie ist die Behauptung, alle Staatsgewalt könne ausschließlich von Gott (Allah) ausgehen. Damit richten sich islamistische Bestrebungen gegen die Wertvorstellungen des Grundgesetzes, insbesondere gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Islamisten halten die Etablierung einer islamischen Gesellschaftsordnung für unabdingbar. Dieser Ordnung sollen letztlich sowohl Muslime als auch Nicht-Muslime unterworfen werden. Islamistische Organisationen - mit Ausnahme islamistisch-terroristischer Organisationen - lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: f Organisationen, die in ihren Herkunftsländern die konsequente Umgestaltung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnungen nach ihrem Verständnis der islamischen Rechtsordnung (Scharia) anstreben. In Deutschland liegt ihr Schwerpunkt auf propagandistischen Aktivitäten sowie der Sammlung von Spendengeldern, um die Mutterorganisationen in den Herkunftsländern zu unterstützen. f Andere islamistische Gruppierungen in Deutschland verfolgen eine umfassendere, auch politisch motivierte Strategie. Ausgehend von einer Änderung der Staatsund Gesellschaftsordnung in ihren Herkunftsländern zugunsten eines islamischen Staatswesens bemühen sich im Rahmen einer legalistischen Strategie, auch ihren Anhängern in Deutschland größere Freiräume für ein schariakonformes Leben zu schaffen. Linksextremismus Mit dem Arbeitsbegriff werden die linksextremistischen verfassungsfeindlichen Bestrebungen von deutschen Personenzusammenschlüssen bezeichnet, die sich auf der Grundlage einer marxistisch-leninistischen, revolutionär-marxistischen oder anarchistischen Ideologie in Deutschland gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und ihre tragenden Grundsätze richten. Für Linksextremisten vielfach kennzeichnend ist ein grundsätzliches 370 Anhang Bekenntnis zur "revolutionären Gewalt", obgleich sie tagespolitisch auf "legale" Kampfformen setzen. Nationalismus Im Gegensatz zum Patriotismus, der sogenannten Vaterlandsliebe, wird mit dem Nationalismus die Überhöhung des eigenen Volkes bei gleichzeitiger Abwertung anderer Nationen und Völker bezeichnet. Neben dem deutschen Rechtsextremismus findet sich dieses Merkmal auch bei den nationalistisch geprägten Bestrebungen der türkischen "Ülkücü-Bewegung", die sich ideologisch über andere Gruppen und Ethnien stellen. Der türkische Nationalismus vertritt eine antieuropäische Haltung und richtet sich auch gegen eine Demokratisierung. Rassismus Rassismus ist ein wesentliches Ideologieelement des Rechtsextremismus. Er zielt auf eine konstruierte Unterscheidung zwischen Menschengruppen ab, indem ihnen ein Set von Eigenschaften zugeschrieben wird. Diese Eigenschaften werden zum Wesen der Gruppenangehörigen erklärt. Es lassen sich beispielsweise spezifische Rassismen gegen schwarze Menschen, gegen jüdische Menschen, gegen Sinti und Roma und gegen muslimische Menschen erfassen. Im Nationalsozialismus erreichte der Rassismus und daraus abgeleitete Gewaltpraktiken ihren Höhepunkt. Die in Deutschland gebräuchliche Verwendung des Begriffes Rassismus nimmt häufig Bezug auf die Rassenideologie des Nationalsozialismus, die die "Selektion" und Vernichtung von Millionen Menschen biologisch begründete. Der Begriff Rassismus findet allerdings nicht nur im Rechtsextremismus, sondern auch in anderen Extremismusphänomenen Verwendung. Ausgehend von der Definition für den Rechtsextremismus sollen die anderen Phänomene hier ergänzt werden. Für den Bereich des Linksextremismus findet der Begriff eher im Zusammenhang mit dem Themenfeld Antirassismus Verwendung. Die grundsätzliche Bedeutung ist aber identisch. Einen eigenen Rassismus im Linksextremismus gibt es nicht. Rassistische Ausprägungen im Islamismus sind religiös motiviert. Im Fokus stehen dabei Andersgläubige, bzw. die westliche Welt im 371 Anhang Allgemeinen, aber auch Muslime, die der vermeintlich falschen Glaubensrichtung anhängen. Diese werden als Ungläubige bezeichnet. Im Extremismus mit Auslandsbezug gibt es Rassismus bei den nationalistisch geprägten Bestrebungen der türkischen "Ülkücü-Bewegung". Eine rassistische Sichtweise bestärkt das nationale Bewusstsein und ist ein wesentlicher Bestandteil der Ideologie, die sich gegen ethnische Minderheiten in der Türkei richtet. Ihr Rassismus gestaltet sich nach einem totalitären Normverständnis, nach dem insbesondere Kurden, Angehörigen des jüdischen Glaubens oder anderen Minderheiten in der Türkei, keine Akzeptanz bzw. kein Respekt gewährt wird. Rechtsextremismus Als rechtsextremistisch werden von den Verfassungsschutzbehörden alle verfassungsfeindlichen oder extremistischen Bestrebungen bezeichnet, die auf der ideologischen Grundlage einer nationalistischen oder rassistischen Weltanschauung in Deutschland von deutschen Personenzusammenschlüssen ausgehen und sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Rechtsextremistischem Denken liegt vielfach die Vorstellung menschlicher Ungleichwertigkeit (Ideologie der Ungleichheit) zugrunde. Rechtsbzw. Linksradikalismus Bis 1974 wurden die Begriffe "Extremismus" sowie "Radikalismus" bzw. "Rechtsoder Linksradikalismus" von den Verfassungsschutzbehörden nebeneinander als Synonyme zur Kennzeichnung verfassungsfeindlicher Bestrebungen verwendet. Der Radikalismusbegriff wird seitdem von den Verfassungsschutzbehörden nicht mehr für verfassungsfeindliche Bestrebungen benutzt, da er in der politischen Tradition der Aufklärung positiv besetzt ist und im Rechtssinne nur der Extremismusbegriff "der Tatsache Rechnung (trägt), dass politische Aktivitäten oder Organisationen nicht schon deshalb verfassungsfeindlich sind, weil sie eine ... 'radikale', das heißt eine bis an die Wurzel einer Fragestellung gehende Zielsetzung haben. Sie sind 'extremistisch' und damit verfassungsfeindlich im Rechtssinne nur dann, wenn sie sich gegen den ... Grundbestand unserer freiheitlichen rechtsstaatlichen Verfassung richten." (Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums 1974, Seite 4). 372 Anhang Wenn die Verfassungsschutzbehörden überhaupt noch den Terminus "rechtsbzw. linksradikal" verwenden, werden damit in Abgrenzung zu dem verfassungsfeindlichen Rechtsbzw. Linksextremismus politische Aktivitäten und Zielsetzungen bezeichnet, die sich (noch) nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mit dem Ziel einer revolutionären Systemüberwindung richten. Salafismus Der Ausdruck Salafismus (arab. Salafiyya) bezeichnet jene islamistischen Strömungen, die sich ganz auf das Vorbild der Altvorderen (arab. salaf, "Vorfahre") ausrichten. Nur die Quellen aus der Frühzeit des Islams, Koran und Sunna, sind für Salafisten von Bedeutung. Alle islamischen Lehrsätze, die die Gelehrten in den Jahrhunderten nach dem Tod Muhammads entwickelt haben, lehnen sie als unislamisch ab. Der wesentliche Unterschied des Salafismus zu den übrigen islamistischen Positionen liegt darin begründet, dass die Salafisten ausschließlich Handlungen und Anschauungen des Propheten und seiner muslimischen Zeitgenossen, so wie es die islamische Tradition überliefert, als vorbildhaft für alle Zeiten ansehen. Es ist ihr Ansinnen, die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die im 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel galten, auf die gesamte moderne Menschheit zu übertragen. Das schließt z. B. auch die Verheiratung neunjähriger Mädchen und die Sklaverei ein. Durch einige Salafisten wird auch der Begriff des Jihad betont militant interpretiert. Sie sehen im Jihad primär eine Notwendigkeit zur aktiven Verteidigung des Islams und der Staaten mit überwiegend muslimischer Bevölkerung. Hierbei wird davon ausgegangen, dass die Bedrohung der islamischen Welt von den Staaten der sogenannten westlichen Welt ausgeht. Diese sogenannten jihadistischen Salafisten konstruieren daher eine persönliche Verantwortung eines jeden Muslims, den Jihad im Sinne eines bewaffneten Kampfes gegen die vermeintlichen Gegner des Islams zu praktizieren. Das schließt auch die Durchführung von Terroranschlägen ein. Separatismus Politischer oder ethnisch begründeter Separatismus steht für Bestrebungen von Bevölkerungsgruppen, wie beispielsweise die 373 Anhang "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), sich von dem Staat, in dem sie leben, loszulösen, um einen neuen eigenen Staat zu errichten bzw. sich in einem anderen Staat einzugliedern. Religiös begründeter Separatismus ist das Bestreben eines Teils der Gläubigen, sich von der Glaubensgemeinschaft abzuspalten. Spionage Als Spionage wird die Tätigkeit für den Nachrichtendienst einer fremden Macht bezeichnet, die auf die Mitteilung oder Lieferung von Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gerichtet ist. Die Beschaffung von Informationen, vor allem aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Militär, erfolgt zumeist unter Anwendung geheimer Mittel und Methoden. Soweit Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtet ist, kommt eine Strafbarkeit gemäß SSSS 93 ff. StGB in Betracht. Straftatbestände des StGB mit Verfassungsschutzbezug (Auszug) SS 86a Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen SS 89a Vorbereitung einer schweren staat sgefährdenden Gewalttat SS 89c Terrorismusfinanzierung SS 129a Bildung terroristischer Vereinigungen SS 129b Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland; Einziehung Terrorismus Terrorismus ist nach der Definition der Verfassungsschutzbehörden der nachhaltig geführte Kampf für politische Ziele, die mit Hilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen durchgesetzt werden sollen, insbesondere durch schwere Straftaten, wie sie in SS 129a Abs. 1 StGB genannt sind, oder durch andere Straftaten, die zur Vorbereitung solcher Straftaten dienen. Verfassungsfeindliche/extremistische Bestrebungen Verfassungsfeindlich (= extremistisch) sind politische Aktivitäten, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sind und 374 Anhang darauf abzielen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Verfassungswidrig ist umgangssprachlich häufig synonym mit "verfassungsfeindlich" zu finden. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit einer Partei entscheidet das Bundesverfassungsgericht (Art. 21 Abs. 2 GG; SSSS 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG). Parteien sind verfassungswidrig, wenn sie nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Es genügt nicht, wenn die Partei die freiheitliche demokratische Ordnung nicht anerkennt, sie ablehnt oder ihr andere Prinzipien entgegenhält. Es muss vielmehr eine aktiv-kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung hinzukommen. Die Organisation muss also planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen und im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen. Das BVerfG unterscheidet zwischen den Tatbestandsmerkmalen "beseitigen" und "beeinträchtigen". "Beseitigen" bezeichnet die Abschaffung zumindest eines der Wesenselemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder deren Ersetzung durch eine andere Verfassungsordnung oder ein anderes nicht demokratisches Regierungssystem (BVerfGE 144, 20 (211 Rn. 550)). Demgegenüber sei von einem "beeinträchtigen" auszugehen, wenn eine Partei nach ihrem politischen Konzept mit hinreichender Intensität eine spürbare Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewirkt. Ausreichend sei, dass sich die Partei gegen eines der Wesens elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat) wendet. Entscheidend sei, dass die Partei sich gezielt gegen diejenigen fundamentalen Prinzipien wendet, die für ein freiheitliches und demokratisches Zusammenleben unverzichtbar sind (BVerfGE 144, 20 (213f. Rn. 556)). Verbot verfassungsfeindlicher Organisationen/Verfassungswidrigkeit Ein Verbot eines Vereins ist nach Art. 9 Abs. 2 GG möglich, wenn der Zweck der Tätigkeit des Vereins den Strafgesetzen zuwiderläuft oder sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der 375 Anhang Völkerverständigung richtet. Erst wenn dies durch Verfügung der Verbotsbehörde festgestellt ist, wird nach SS 3 Abs. 1 Vereinsgesetz der Verein als verboten (Art. 9 Abs. 2 GG) behandelt. Ein Vereinsverbot wird durch den Landesbzw. Bundesinnenminister erlassen. Nach Art. 21 Abs. 2 GG sind Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht (Art. 21 Abs. 2 GG; SSSS 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG). Die Hürden für ein Parteiverbot sind hoch. In der Bundesrepublik wurden bisher zwei Parteien verboten: 1952 die "Sozialistische Reichspartei" (SRP) und 1956 die "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD). Im Jahr 2003 wurde ein von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat angestrengtes Verfahren zum Verbot der NPD eingestellt. Laut Bundesverfassungsgericht konnte zum Zeitpunkt der Einleitung des Verbotsverfahrens aufgrund der Beobachtung durch V-Personen der Verfassungsschutzbehörden, die als Mitglieder in Landesund Bundesvorständen der NPD fungierten, unmittelbar vor und während des Verbotsverfahrens nicht mehr von der Staatsfreiheit der NPD-Führung ausgegangen werden. Der von den Innenministern und -senatoren der Bundesländer am 03.12.2013 beim Bundesverfassungsgericht eingereichte Antrag auf Verbot der NPD und ihrer Unterorganisationen wurde am 17.01.2017 vom Zweiten Senat des Gerichts zurückgewiesen (BVerfGE 2 BvB 1/13). Grundlage für den Verbotsantrag waren die durch die Verfassungsschutzbehörden gesammelten Materialien über die NPD, die fortlaufend ergänzt wurden. Im Hinblick auf das gescheiterte Verbotsverfahren im Jahr 2003 wurden dafür alle V-Personen in den Führungsebenen der Partei zurückgezogen. Mit dem einstimmig gefassten Urteil wird der NPD jedoch höchstrichterlich bescheinigt, verfassungsfeindliche Ziele zu verfolgen. Ihr Ziel sei es, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen, so der damalige Gerichtspräsident Andreas Voß kuhle. Allerdings reiche eine verfassungsfeindliche Gesinnung allein für ein Verbot der NPD nicht aus. Die Partei müsse auch das Potenzial haben, 376 Anhang ihre Ziele erfolgreich umzusetzen, wie es in der Urteilsbegründung weiter heißt. Zu den Zielen heißt es in der Urteilsbegründung: "Die NPD missachtet die Grundprinzipien, die für den freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbar sind. Ihre Ziele und das Verhalten ihrer Anhänger verstoßen gegen die Menschenwürde und den Kern des Demokratieprinzips und weisen Elemente der Wesensverwandtschaft mit dem historischen Nationalsozialismus auf. Die Programmatik der NPD ist auf die Beseitigung der fdGO gerichtet." (BVerfG NJW 2017, 611, 634 ff.) Das Bundesverfassungsgericht setzt mit dem Urteil einen neuen Maßstab, der von der bisherigen Rechtsprechung zum Parteiverbot abweicht, vor allem zum KPD-Verbot im Jahr 1956. "Anders als im KPD-Urteil kommt nach Auffassung des Senats ein Parteiverbot nur in Betracht, wenn eine Partei über hinreichende Wirkungsmöglichkeiten verfügt, die ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheinen lassen, und wenn sie von diesen Wirkungsmöglichkeiten auch Gebrauch macht", so Voßkuhle. Dies sei bei der NPD aber nicht der Fall161. Solange verfassungsfeindliche Parteien und sonstige Organisationen nicht verboten sind, dürfen sie sich im Rahmen der für alle geltenden Gesetze frei betätigen. Wirtschaftsspionage/Wirtschaftsschutz Unter Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte oder gestützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen und Betrieben zu verstehen. Davon abzugrenzen ist die Konkurrenzausspähung, nämlich die Ausforschung, die konkurrierende Unternehmen gegeneinander betreiben. Wirtschaftsschutz ist der präventive Teil der Spionageabwehr und soll dazu dienen, Schäden durch Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung in der Wirtschaft zu reduzieren und der Wirtschaft als kompetenter Ansprechpartner für Sicherheitsfragen und -vorfälle zur Verfügung zu stehen. 161 Weitere Ausführungen zum NPD-Verbot siehe Kapitel 2.9, Abschnitt "Die NPD ist verfassungsfeindlich". 377 Anhang 11.2 Niedersächsisches Verfassungsschutzgesetz Niedersächsisches Verfassungsschutzgesetz (NVerfSchG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. August 2021 (Nds. GVBl. S. 564) Inhaltsübersicht Erster Teil Allgemeine Vorschriften SS1 Zweck des Verfassungsschutzes SS2 Zuständigkeit SS3 Aufgaben SS4 Begriffsbestimmungen SS5 Trennungsgebot Zweiter Teil Bestimmung zum Beobachtungsobjekt SS6 Beobachtungsobjekt SS7 Verdachtsobjekt SS8 Verdachtsgewinnung Dritter Teil Befugnisse zur Datenverarbeitung Erstes Kapitel Allgemeine Vorschriften SS9 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit SS 10 Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung SS 11 Überwachung des Brief-, Postund Fernmeldeverkehrs 378 Anhang Zweites Kapitel Erhebung und sonstige Kenntnisnahme SS 12 Allgemeine Befugnis zur Datenerhebung SS 13 Erhebung personenbezogener Daten von Minderjährigen SS 14 Nachrichtendienstliche Mittel SS 15 Allgemeine Voraussetzungen für den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel SS 16 Besondere Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Personen SS 17 Besondere Voraussetzungen für Observationen sowie Bildübertragungen und Bildaufzeichnungen SS 18 Besondere Voraussetzungen für den Einsatz verdeckter Ermittlerinnen und Ermittler SS 19 Besondere Voraussetzungen für den Einsatz bestimmter technischer Mittel SS 20 Besondere Auskunftsverlangen SS 21 Verfahrensvorschriften SS 22 Mitteilung an Betroffene SS 23 Ersuchen und automatisierte Abrufverfahren SS 24 Registereinsicht SS 25 Verpflichtung zur Datenübermittlung an die Verfassungsschutzbehörde Drittes Kapitel Speicherung, Veränderung, Nutzung, Löschung SS 26 Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten, Zweckbindung SS 27 Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten zu anderen Zwecken SS 28 Berichtigung, Löschung und Sperrung von personenbezogenen Daten SS 29 -- aufgehoben -- Viertes Kapitel Auskunft SS 30 Auskunft an betroffene Personen 379 Anhang Fünftes Kapitel Übermittlung SS 31 Übermittlung personenbezogener Daten an Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden SS 32 Übermittlung an sonstige Behörden und Stellen SS 32 a Übermittlung personenbezogener Daten für Angebote zum Ausstieg SS 33 Aufklärung der Öffentlichkeit, Verfassungsschutzbericht Sechstes Kapitel Unabhängige Datenschutzkontrolle, Anwendung des Niedersächsischen Datenschutzgesetzes SS 33 a Unabhängige Datenschutzkontrolle SS 33 b Anwendbarkeit des Niedersächsischen Datenschutzgesetzes Vierter Teil Parlamentarische Kontrolle SS 34 Ausschuss für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes SS 35 Zusammensetzung und Verfahrensweise des Ausschusses SS 36 Unterrichtungspflichten des Fachministeriums SS 37 Aufhebung der Verschwiegenheitspflicht SS 38 Beauftragung einer oder eines Sachverständigen SS 39 Beteiligung der oder des Landesbeauftragten für den Datenschutz SS 40 Berichterstattung des Ausschusses gegenüber dem Landtag Fünfter Teil Schlussvorschriften SS 41 Einschränkung von Grundrechten SS 42 Übergangsvorschrift 380 Anhang Erster Teil SS3 Allgemeine Vorschriften Aufgaben SS1 (1) Aufgabe der VerfassungsschutzbehörZweck des Verfassungsschutzes de ist die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der personenbezogenen Auskünften, Nachrichfreiheitlichen demokratischen Grundordten und Unterlagen, über nung, des Bestandes und der Sicherheit des 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliBundes und der Länder. che demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes SS2 oder eines Landes gerichtet sind oder Zuständigkeit eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane (1) 1Verfassungsschutzbehörde ist das für des Bundes oder eines Landes oder Inneres zuständige Ministerium (Fachminisihrer Mitglieder zum Ziel haben, terium). 2Das Fachministerium unterhält eine 2. sicherheitsgefährdende oder geheimAbteilung, die gesondert von der für die dienstliche Tätigkeiten in der BundesPolizei zuständigen Abteilung ausschließlich republik Deutschland für eine fremde die der Verfassungsschutzbehörde nach dieMacht, sem Gesetz und anderen Rechtsvorschrif3. Bestrebungen in der Bundesrepublik ten obliegenden Aufgaben wahrnimmt Deutschland, die durch Anwendung von (Verfassungsschutzabteilung). Gewalt oder darauf gerichtete Vorberei(2) 1 Verfassungsschutzbehörden anderer tungshandlungen auswärtige Belange Länder dürfen im Land Niedersachsen nur im der Bundesrepublik Deutschland gefährEinvernehmen mit der Verfassungsschutzbeden, hörde tätig werden. 2Ihre Befugnisse bestim4. Bestrebungen, die gegen den Gedanmen sich dabei nach den Vorschriften dieses ken der Völkerverständigung (Artikel 9 Gesetzes. Abs. 2 des Grundgesetzes) oder gegen (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf das friedliche Zusammenleben der andere Verfassungsschutzbehörden nicht Völker (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgeum Maßnahmen ersuchen, zu denen sie setzes) gerichtet sind. selbst nicht befugt ist. (2) 1Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet den Landtag und die Landesregierung über Art und Ausmaß von Bestrebungen und Tätigkeiten nach Absatz 1. 2Die Unterrichtung soll diese Organe in die Lage versetzen, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. 381 Anhang (3) 1Die Verfassungsschutzbehörde klärt die sind Bestrebungen im Sinne des SS 3 Abs. 1 Öffentlichkeit auf der Grundlage ihrer AusNr. 1, 3 oder 4, wenn sie auf Anwendung wertungsergebnisse durch zusammenfassenvon Gewalt gerichtet oder aufgrund ihrer de Berichte und andere Maßnahmen über Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut Bestrebungen und Tätigkeiten nach Absatz 1 dieses Gesetzes erheblich zu beschädigen. auf. 2Sie tritt solchen Bestrebungen und (2) Im Sinne des SS 3 Abs. 1 Nr. 1 sind Tätigkeiten auch durch Angebote zur Infor1. Bestrebungen gegen den Bestand des mation und zum Ausstieg entgegen. Bundes oder eines Landes: solche, die (4) Die Verfassungsschutzbehörde wirkt mit darauf gerichtet sind, die Freiheit des 1. bei der Sicherheitsüberprüfung von PerBundes oder eines Landes von fremder sonen nach Maßgabe des NiedersächsiHerrschaft aufzuheben, ihre staatliche schen Sicherheitsüberprüfungsgesetzes, Einheit zu beseitigen oder ein zu ihnen 2. bei technischen Sicherheitsmaßnahgehörendes Gebiet abzutrennen; men zum Schutz von im öffentlichen 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit des Interesse geheimhaltungsbedürftigen Bundes oder eines Landes: solche, die Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntdarauf gerichtet sind, den Bund, Länder nissen gegen die Kenntnisnahme durch oder deren Einrichtungen in ihrer FunktiUnbefugte, onsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen; 3. bei der Überprüfung von Personen in 3. Bestrebungen gegen die freiheitliche sonstigen gesetzlich vorgesehenen demokratische Grundordnung: solche, Fällen, die darauf gerichtet sind, einen der in 4. bei einer im öffentlichen Interesse lieAbsatz 3 genannten Verfassungsgrundgenden Überprüfung von Personen mit sätze zu beseitigen oder außer Geltung deren Einverständnis. zu setzen. (3) Zur freiheitlichen demokratischen GrundSS4 ordnung im Sinne des SS 3 Abs. 1 Nr. 1 zählen: Begriffsbestimmungen 1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und (1) 1Bestrebungen im Sinne des SS 3 Abs. 1 durch besondere Organe der GesetzNrn. 1, 3 und 4 sind politisch bestimmgebung, der vollziehenden Gewalt und te, zielund z weckgerichtete Verhalder Rechtsprechung auszuüben und die tensweisen in einem oder für einen Volksvertretung in allgemeiner, unmitPersonenzusammenschluss. 2 Für einen telbarer, freier, gleicher und geheimer Personenzusammenschluss handelt, wer Wahl zu wählen, ihn in seinen Bestrebungen nachdrücklich 2. die Bindung der Gesetzgebung an die unterstützt. 3 Verhaltensweisen von Einverfassungsmäßige Ordnung und die zelpersonen, die nicht in einem oder für Bindung der vollziehenden Gewalt und einen Personenzusammenschluss handeln, der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, 382 Anhang 3. das Recht auf Bildung und Ausübung Zweiter Teil einer parlamentarischen Opposition, Bestimmung zum Beobachtungsobjekt 4. die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der SS6 Volksvertretung, Beobachtungsobjekt 5. die Unabhängigkeit der Gerichte, 6. der Ausschluss jeder Gewaltund Will(1) 1Beobachtungsobjekt ist ein Personenkürherrschaft und zusammenschluss oder eine Einzelperson 7. die im Grundgesetz konkretisierten nach SS 4 Abs. 1, der oder die zur Erfüllung Menschenrechte. der Aufgabe nach SS 3 Abs. 1 Nrn. 1, 3 und 4 (4) Eine Gefährdung auswärtiger Belange im planmäßig beobachtet und aufgeklärt wird. Sinne des SS 3 Abs. 1 Nr. 3 liegt nur dann 2 Voraussetzung für die Bestimmung zum vor, wenn die Gewalt innerhalb der BunBeobachtungsobjekt sind Tatsachen, die, insdesrepublik Deutschland angewendet oder gesamt betrachtet und unter Einbeziehung vorbereitet wird und sie sich gegen die polinachrichtendienstlicher Erfahrungen aus vertische Ordnung oder Einrichtungen anderer gleichbaren Fällen, das Vorliegen einer BestreStaaten richtet oder richten soll. bung nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 oder 4 belegen. (5) Gewalt im Sinne dieses Gesetzes ist (2) 1 Das Beobachtungsobjekt wird von die erhebliche, aggressive und unmittelbar der Fachministerin oder dem Fachminister gegen Personen oder fremde Sachen gerichbestimmt, im Vertretungsfall von der Staatstete Anwendung physischer Kraft. sekretärin oder dem Staatssekretär oder deren oder dessen Vertreterin oder Vertreter. SS5 2 Die Gründe sind zu dokumentieren. 3 Die Trennungsgebot Bestimmung ist auf höchstens vier Jahre zu befristen. 4Die Verlängerung der Bestimmung 1 Polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbeum jeweils höchstens vier Jahre ist zulässig, fugnisse stehen der Verfassungsschutzbewenn die Voraussetzung des Absatzes 1 hörde zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht zu. Satz 2 weiterhin erfüllt ist; die Sätze 1 und 2 2 Sie darf die Polizei nicht um Maßnahmen gelten entsprechend. 5Wird die Bestimmung ersuchen, zu denen sie selbst nicht befugt nicht verlängert, so ist die Beobachtung und ist, auch nicht im Wege der Amtshilfe. Aufklärung unverzüglich zu beenden; die zu dem Beobachtungsobjekt gespeicherten personenbezogenen Daten sind nach Maßgabe des SS 28 zu löschen. (3) 1Spätestens zwei Jahre nach der Bestimmung zum Beobachtungsobjekt oder einer Verlängerung ist von der Verfassungsschutzbehörde zu prüfen, ob die Voraussetzung 383 Anhang des Absatzes 1 Satz 2 weiterhin erfüllt ist. (2) 1Die Gründe für die Bestimmung zum 2 Ist das der Fall, so sind die Gründe zu dokuVerdachtsobjekt und der Zeitpunkt des mentieren. 3Andernfalls ist die Bestimmung Beginns der Verdachtsphase sind zu dokuzum Beobachtungsobjekt von der Fachmimentieren. 2Die Verdachtsphase ist auf zwei nisterin oder dem Fachminister aufzuheben, Jahre begrenzt. 3 Die Verdachtsphase kann im Vertretungsfall von der Staatssekretärin einmalig um höchstens zwei Jahre verlänoder dem Staatssekretär oder deren oder gert werden, wenn die Voraussetzung des dessen Vertreterin oder Vertreter; Absatz 2 Absatzes 1 Satz 2 weiterhin erfüllt ist; die Satz 5 gilt entsprechend. Gründe sind zu dokumentieren. 4 Endet die (4) Endet die Bestimmung zum BeobVerdachtsphase, ohne dass das Verdachtsachtungsobjekt, so soll die Verfassungsobjekt zum Beobachtungsobjekt bestimmt schutzbehörde den ihr bekannten in dem wird, so ist die Beobachtung und Aufklärung Personenzusammenschluss verantwortlich unverzüglich zu beenden; die zu dem Vertätigen Personen oder der Einzelperson die dachtsobjekt gespeicherten personenbezoBeendigung der Beobachtung mitteilen. genen Daten sind nach Maßgabe des SS 28 (5) Zur planmäßigen Beobachtung und Aufzu löschen. 5SS 6 Abs. 5 gilt entsprechend. klärung nach Absatz 1 Satz 1 gehört auch die Berücksichtigung derjenigen InformaSS8 tionen einschließlich personenbezogener Verdachtsgewinnung Daten, die gegen die Bestimmung zum Beobachtungsobjekt sprechen. (1) 1 In einer Verdachtsgewinnungsphase wird geprüft, ob die Voraussetzung des SS 7 SS7 Abs. 1 Satz 2 erfüllt ist. 2Voraussetzung für Verdachtsobjekt den Beginn der Verdachtsgewinnungsphase sind tatsächliche Anhaltspunkte, die, ins(1) 1In einer Verdachtsphase wird durch plangesamt betrachtet und unter Einbeziehung mäßige Beobachtung und Aufklärung eines nachrichtendienstlicher Erfahrungen aus Personenzusammenschlusses oder einer vergleichbaren Fällen, den Anfangsverdacht Einzelperson (Verdachtsobjekt) geprüft, ob einer Bestrebung nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 das Verdachtsobjekt die Voraussetzung des oder 4 begründen. SS 6 Abs. 1 Satz 2 erfüllt. 2Voraussetzung (2) 1Die Gründe für den Beginn der Verfür die Bestimmung zum Verdachtsobjekt dachtsgewinnungsphase und der Zeitpunkt sind tatsächliche Anhaltspunkte, die, insihres Beginns sind zu dokumentieren. 2Die gesamt betrachtet und unter Einbeziehung Verdachtsgewinnungsphase ist auf ein Jahr nachrichtendienstlicher Erfahrungen aus begrenzt. 3Endet die Verdachtsgewinnungsvergleichbaren Fällen, den Verdacht einer phase, ohne dass ein Verdachtsobjekt oder Bestrebung nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 oder 4 ein Beobachtungsobjekt bestimmt wird, so rechtfertigen. ist die Prüfung unverzüglich zu beenden; die 384 Anhang in der Verdachtsgewinnungsphase gespei(2) 1Wenn sich während einer bereits laufenden cherten personenbezogenen Daten sind Datenerhebung tatsächliche Anhaltspunkte nach Maßgabe des SS 28 zu löschen. 4 SS 6 dafür ergeben, dass Daten aus dem KernbeAbs. 5 gilt entsprechend. reich privater Lebensgestaltung erhoben werden, ist die Datenerhebung unverzüglich und so lange wie erforderlich zu unterbrechen, Dritter Teil soweit dies informationstechnisch möglich ist Befugnisse zur Datenverarbeitung und dadurch die Datenerhebung den betroffenen Personen nicht bekannt wird. 2Bereits erhobene Daten aus dem Kernbereich priErstes Kapitel vater Lebensgestaltung dürfen nicht gespeiAllgemeine Vorschriften chert, verändert, verwendet oder übermittelt werden; sie sind unverzüglich unter Aufsicht SS9 einer oder eines besonders bestellten, mit der Grundsatz der Auswertung nicht befassten Beschäftigten, Verhältnismäßigkeit die oder der die Befähigung zum Richteramt hat, zu löschen. 3Die Tatsache, dass Daten aus 1 Die Verfassungsschutzbehörde ist an die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung allgemeinen Rechtsvorschriften gebunden. erhoben wurden, und deren Löschung sind 2 Bei der Verarbeitung von personenbezozu dokumentieren. 4Die in der Dokumentation genen Daten hat sie von mehreren geeigenthaltenen Daten dürfen ausschließlich zur neten Maßnahmen diejenige zu wählen, Datenschutzkontrolle verwendet werden. 5Sie die betroffene Personen voraussichtlich am sind zu löschen, wenn seit einer Mitteilung wenigsten beeinträchtigt. Eine Maßnah- 3 nach SS 22 Abs. 1 ein Jahr vergangen ist oder me darf keinen Nachteil herbeiführen, der es einer Mitteilung gemäß SS 22 Abs. 3 endgülerkennbar außer Verhältnis zu dem beabtig nicht bedarf, frühestens jedoch zwei Jahre sichtigten Erfolg steht. nach der Dokumentation. (3) Ergeben sich erst bei der Speicherung, SS 10 Veränderung oder Verwendung von Daten Schutz des Kernbereichs privatatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass ter Lebensgestaltung Daten dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, so gilt Absatz 2 (1) Eine Datenerhebung darf nicht angeSätze 2 bis 5 entsprechend. ordnet werden, wenn tatsächliche Anhalts(4) Daten aus dem durch das Berufsgeheimpunkte dafür vorliegen, dass dadurch nicht nis geschützten Vertrauensverhältnis nach nur zufällig Daten erhoben werden, die den SSSS 53 und 53 a der Strafprozessorddem Kernbereich privater Lebensgestaltung nung (StPO) sind dem Kernbereich privater zuzurechnen sind. Lebensgestaltung zuzurechnen. 385 Anhang (5) Bestehen Zweifel, ob Daten dem KernbeAnhaltspunkte, die, insgesamt betrachtet reich privater Lebensgestaltung zuzurechnen und unter Einbeziehung nachrichtendienstlisind, so sind diese der Leiterin oder dem Leicher Erfahrungen aus vergleichbaren Fällen, ter der Verfassungsschutzabteilung zur Entden Verdacht einer Tätigkeit nach SS 3 Abs. 1 scheidung über die Zurechnung vorzulegen. Nr. 2 rechtfertigen. (2) 1Werden personenbezogene Daten bei SS 11 betroffenen Personen mit deren Kenntnis Überwachung des Brief-, Posterhoben, so ist der Erhebungszweck anzugeund Fernmeldeverkehrs ben. 2Werden personenbezogene Daten bei Dritten außerhalb des öffentlichen Bereichs Für die Überwachung des Brief-, Postund erhoben, so ist der Erhebungszweck auf Fernmeldeverkehrs einschließlich der Verarderen Verlangen anzugeben. 3 Die betroffebeitung der durch eine solche Maßnahme nen Personen und die Dritten sind auf die erlangten personenbezogenen Daten gelten Freiwilligkeit ihrer Angaben hinzuweisen. die Vorschriften des Artikel 10-Gesetzes. (3) Ist zum Zweck der Erhebung die Übermittlung personenbezogener Daten unerlässlich, so dürfen schutzwürdige Interessen Zweites Kapitel der betroffenen Personen nur im unverErhebung und sonstige Kenntnisnahme meidbaren Umfang beeinträchtigt werden. SS 12 SS 13 Allgemeine Befugnis zur Erhebung personenbezogener Datenerhebung Daten von Minderjährigen (1) 1Die Verfassungsschutzbehörde darf die (1) Die Erhebung von personenbezogenen zu einer planmäßigen Beobachtung und Daten über eine minderjährige Person, die Aufklärung nach SS 6 Abs. 1 Satz 1 oder SS 7 das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, Abs. 1 Satz 1 oder zu einer Prüfung nach ist unzulässig. SS 8 Abs. 1 Satz 1 erforderlichen personen(2) Die Erhebung von personenbezogenen bezogenen Daten erheben, soweit in den Daten über eine minderjährige Person, die das Vorschriften dieses Kapitels nicht anderes 14. Lebensjahr, aber noch nicht das 16. Lebensgeregelt ist. In der Verdachtsgewinnungs- 2 jahr vollendet hat, ist nur zulässig, wenn tatsächphase darf die Verfassungsschutzbehörde liche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie personenbezogene Daten nur aus allgemein 1. in einem oder für ein Beobachtungszugänglichen Quellen erheben. 3Voraussetoder Verdachtsobjekt tätig ist, das auf zung für die Erhebung von personenbezodie Anwendung oder Vorbereitung genen Daten zur Erfüllung der Aufgabe nach von Gewalt gerichtet ist, und sie diese SS 3 Abs. 1 Nr. 2 ist das Vorliegen tatsächlicher Ausrichtung fördert, 386 Anhang 2. in herausgehobener Funktion in einem 4. planmäßig angelegte verdeckte PersoBeobachtungsoder Verdachtsobjekt nenbeobachtung (Observation), auch tätig ist oder unter Einsatz besonderer für Observa3. eine Tätigkeit nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 tionszwecke bestimmter technischer ausübt. Mittel, soweit dieser Einsatz allein der (3) 1Die Datenerhebung darf kein Verhalten Bestimmung des jeweiligen Aufenthaltseiner Person aus der Zeit vor Vollendung ortes der beobachteten Person dient, ihres 14. Lebensjahres erfassen. Das Ver- 2 unter den Voraussetzungen des SS 15; halten einer Person aus der Zeit zwischen 5. einzelne verdeckt angefertigte fotograVollendung ihres 14. und 16. Lebensjahres fische Bildaufzeichnungen außerhalb darf die Datenerhebung nur erfassen, wenn von Wohnungen unter den Voraussetzum Zeitpunkt dieses Verhaltens die Vorauszungen des SS 15; setzungen des Absatzes 2 vorlagen. 6. Inanspruchnahme von (4) Die Absätze 1 bis 3 gelten nicht, soweit mina) Personen, deren planmäßig angederjährige Personen von der Datenerhebung legte Zusammenarbeit mit der Verunvermeidbar als Dritte betroffen werden. fassungsschutzbehörde Dritten nicht bekannt ist (Vertrauenspersonen), SS 14 b) Personen, die in Einzelfällen HinNachrichtendienstliche Mittel weise geben und deren Zusammenarbeit mit der Verfassungsschutz(1) 1 Die Verfassungsschutzbehörde darf behörde Dritten nicht bekannt ist zur Erhebung personenbezogener Daten (sonstige geheime Informantinnen nur folgende nachrichtendienstliche Mittel und Informanten), einsetzen: c) Personen mit einer bereits bestehen1. verdeckte Ermittlungen bei betroffenen den Verbindung zu einem NachrichPersonen und Dritten unter den Voraustendienst einer fremden Macht, die setzungen des SS 15; zum Zweck der Spionageabwehr 2. verdecktes Mithören ohne Inanspruchüberworben worden sind (überworbenahme technischer Mittel unter den ne Agentinnen und Agenten), sowie Voraussetzungen des SS 15; d) Personen, die der Verfassungs3. Teilnahme an einer Kommunikationsbeschutzbehörde logistische oder ziehung im Internet unter einer Legende sonstige Hilfe leisten, ohne Ver(Absatz 2 Satz 1 Nr. 1) und unter Ausnuttrauenspersonen, sonstige geheime zung eines schutzwürdigen Vertrauens Informantinnen oder Informanten der betroffenen Person oder der oder des oder überworbene Agentinnen oder Dritten, um ansonsten nicht zugängliche Agenten zu sein (Gewährspersopersonenbezogene Daten zu erhalten, nen), unter den Voraussetzungen unter den Voraussetzungen des SS 15; der SSSS 15 und 16; 387 Anhang 7. Observation, die innerhalb einer Woche 13. Überwachung des Brief-, Postund insgesamt länger als 24 Stunden oder Fernmeldeverkehrs nach Maßgabe des über einen Zeitraum von einer Woche SS 11. hinaus durchgeführt wird (längerfristige 2 Die durch den Einsatz besonderer für Observation) oder bei der besondere für Observationszwecke bestimmter technischer Observationszwecke bestimmte techniMittel nach Satz 1 Nr. 4 erhobenen persosche Mittel zu einem anderen als dem in nenbezogenen Daten dürfen nicht zu einem Nummer 4 genannten Zweck eingesetzt Bewegungsbild verbunden werden. 3 Die in werden, unter den Voraussetzungen der Satz 1 Nrn. 5 und 8 genannten Mittel dürfen SSSS 15 und 17; nicht gegen Versammlungen im Sinne des 8. verdeckt angefertigte BildübertragunNiedersächsischen Versammlungsgesetzes gen und Bildaufzeichnungen außerhalb (NVersG) eingesetzt werden. 4 Der Einsatz von Wohnungen, die nicht unter Numunbemannter Fluggeräte ist unzulässig. mer 5 fallen, unter den Voraussetzun(2) 1 Soweit es für den Einsatz eines gen der SSSS 15 und 17; nachrichtendienstlichen Mit tels nach 9. Einsatz von hauptamtlichen BeschäftigAbsat z 1 er forderlich ist, dar f die ten der Verfassungsschutzbehörde, die Verfassungsschutzbehörde planmäßig angelegt und langfristig unter 1. fingierte biografische, berufliche oder einer Legende (Absatz 2 Satz 1 Nr. 1) pergewerbliche Angaben (Legende) mit sonenbezogene Daten erheben (verdeckAusnahme solcher beruflichen Angaben te Ermittlerinnen und Ermittler), unter den verwenden, die sich auf BerufsgeheimVoraussetzungen der SSSS 15 und 18; nisträgerinnen oder Berufsgeheimnisträ10. verdecktes Mithören und Aufzeichnen ger nach SS 53 StPO oder Berufshelferindes nicht öffentlich gesprochenen nen oder Berufshelfer nach SS 53 a StPO Wortes unter Einsatz technischer Mittel beziehen, und außerhalb von Wohnungen unter den 2. Tarnpapiere und Tarnkennzeichen beVoraussetzungen der SSSS 15 und 19; schaffen, herstellen und verwenden. 11. technische Mittel, mit denen zur Ermitt- 2 Tarnpapiere und Tarnkennzeichen dürfen lung der Geräteund der Kartennumauch zum Schutz der Beschäftigten, Einmern aktiv geschaltete Mobilfunkendrichtungen und Gegenstände der Verfaseinrichtungen zur Datenabsendung an sungsschutzbehörde sowie zum Schutz der eine Stelle außerhalb des Telekommuniin Absatz 1 Satz 1 Nr. 6 genannten Persokationsnetzes veranlasst werden, unter nen beschafft, hergestellt und verwendet den Voraussetzungen der SSSS 15 und 19; werden. 3Die Behörden des Landes und der 12. Beobachtung des Funkverkehrs auf Kommunen sind verpflichtet, der Verfasnicht für den allgemeinen Empfang sungsschutzbehörde technische Hilfe bei der bestimmten Kanälen unter den VorausBeschaffung und Herstellung von Tarnpapiesetzungen der SSSS 15 und 19; ren und Tarnkennzeichen zu leisten. 388 Anhang SS 15 3. sich der Einsatz gegen eine Person Allgemeine Voraussetzungen richtet, von der aufgrund bestimmter für den Einsatz nachrichtenTatsachen anzunehmen ist, dass sie mit dienstlicher Mittel einer der in den Nummern 1 und 2 genannten Personen in Verbindung steht (1) 1Der Einsatz eines nachrichtendienstlichen und dass deshalb der Einsatz des Mittels Mittels ist unzulässig, wenn die Erforschung unumgänglich ist, um Erkenntnisse über des Sachverhalts auf andere, die betroffenen ein Beobachtungsoder VerdachtsPersonen weniger beeinträchtigende Weise objekt, das auf die Anwendung oder möglich ist; dies ist in der Regel anzunehVorbereitung von Gewalt gerichtet ist men, wenn die Information aus allgemein oder aus anderen Gründen erhebliche zugänglichen Quellen erhoben oder durch Bedeutung hat, oder über eine Tätigkeit ein Ersuchen nach SS 23 beschafft werden nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 zu gewinnen, kann. 2Der Einsatz eines nachrichtendienst4. dadurch die zur planmäßigen Beobachlichen Mittels darf nicht erkennbar außer tung und Aufklärung eines BeobachVerhältnis zur Bedeutung des aufzuklärentungsoder Verdachtsobjekts oder zur den Sachverhalts stehen, insbesondere nicht Erfüllung der Aufgabe nach SS 3 Abs. 1 außer Verhältnis zu der Gefahr, die von dem Nr. 2 erforderlichen Vertrauenspersojeweiligen Beobachtungsoder Verdachtsnen, sonstigen geheimen Informanobjekt oder der Tätigkeit nach SS 3 Abs. 1 tinnen und Informanten, überworbeNr. 2 ausgeht oder ausgehen kann. 3Der Einnen Agentinnen und Agenten sowie satz eines nachrichtendienstlichen Mittels ist Gewährspersonen gewonnen oder unverzüglich zu beenden, wenn sein Zweck überprüft werden können oder erreicht ist oder sich Anhaltspunkte dafür 5. dies zum Schutz der Beschäftigten, ergeben, dass er nicht oder nicht auf diese Einrichtungen und Gegenstände der Weise erreicht werden kann. Verfassungsschutzbehörde sowie zum (2) 1Ein nachrichtendienstliches Mittel darf Schutz der Vertrauenspersonen, sonstinur eingesetzt werden, wenn gen geheimen Informantinnen und In1. sich der Einsatz gegen ein Beobachformanten, überworbenen Agentinnen tungsoder Verdachtsobjekt oder und Agenten sowie Gewährspersonen gegen eine Person richtet, bei der erforderlich ist. tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorlie- 2 Ein nachrichtendienstliches Mittel darf auch gen, dass sie in diesem oder für dieses eingesetzt werden, wenn Dritte unvermeidtätig ist, bar betroffen werden. 2. sich der Einsatz gegen eine Person rich(3) Bei dem Einsatz eines nachrichtendiensttet, bei der tatsächliche Anhaltspunkte lichen Mittels dürfen die Beschäftigten der für die Ausübung einer Tätigkeit nach Verfassungsschutzbehörde keine Straftaten SS 3 Abs. 1 Nr. 2 vorliegen, begehen. 389 Anhang (4) Die Zielsetzung und die Aktivitäten von 2 Die Verfassungsschutzbehörde darf BerufsBeobachtungsund Verdachtsobjekten geheimnisträgerinnen und Berufsgeheimnisdürfen von der Verfassungsschutzbehörde träger (SS 53 StPO) sowie Berufshelferinnen weder unmittelbar noch mittelbar steuernd und Berufshelfer (SS 53 a StPO) nicht von sich beeinflusst werden. aus in Anspruch nehmen. (2) 1Eine Vertrauensperson darf dauerhaft nur SS 16 gegen ein Beobachtungsoder VerdachtsobBesondere Voraussetzungen jekt in Anspruch genommen werden, das für die Inanspruchnahme von auf die Anwendung oder Vorbereitung von Personen Gewalt gerichtet ist oder aus anderen Gründen erhebliche Bedeutung hat. 2Wenn die (1) Vertrauenspersonen, sonstige geheime 1 erhebliche Bedeutung eines BeobachtungsInformantinnen und Informanten, überoder Verdachtsobjekts noch nicht festgestellt worbene Agentinnen und Agenten sowie werden kann und zu dessen Beobachtung Gewährspersonen dürfen nur in Anspruch und Aufklärung andere nachrichtendienstgenommen werden, wenn liche Mittel nicht denselben Erfolg verspre1. sie volljährig sind, chen, darf abweichend von Satz 1 eine 2. keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür Vertrauensperson vorübergehend gegen vorliegen, dass sie rechtswidrig einen dieses Beobachtungsoder Verdachtsobjekt Straftatbestand von besonderer Bedeuin Anspruch genommen werden. tung (Absatz 6) verwirklicht haben, (3) 1Bei Vertrauenspersonen sowie über3. die Geldoder Sachzuwendungen für worbenen Agentinnen und Agenten soll der die Inanspruchnahme einer VertrauensZeitraum zwischen dem ersten Herantreten person nicht auf Dauer deren wesentlian die Person und dem Beginn der planmäche Lebensgrundlage sind, ßig angelegten Zusammenarbeit (Werbung) 4. sie nicht ein Angebot zum Ausstieg ein Jahr nicht überschreiten. 2Die Werbung annehmen und nicht die Absicht dazu einer Vertrauensperson darf erst beginnen, haben und wenn die G 10-Kommission die Zustim5. sie nicht mung nach SS 21 Abs. 5 Satz 5 erteilt hat. a) Mandatsträgerin oder Mandatsträ- 3 Vertrauenspersonen sowie überworbene ger des Europäischen Parlaments, Agentinnen und Agenten sollen höchstens des Bundestages oder eines Landesfünf Jahre von derselben oder demselben parlaments oder Beschäftigten der Verfassungsschutzbeb) Mitarbeiterin oder Mitarbeiter einer hörde geführt werden. 4 Ihre Werbung und solchen Mandatsträgerin oder eines Inanspruchnahme sind fortlaufend zu dokusolchen Mandatsträgers oder einer mentieren. 5Die Sätze 3 und 4 gelten für die Fraktion oder Gruppe eines solchen Betreuung sonstiger geheimer InformantinParlaments sind. nen und Informanten entsprechend. 390 Anhang (4) 1Eine in Absatz 1 genannte Person darf b) SS 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c und d nur folgende Straftatbestände verwirklichen: des Waffengesetzes, 1. SS 84 Abs. 2, SS 85 Abs. 2, SS 86 Abs. 1, c) SS 29 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 und SS 29 a SSSS 86 a, 98, 99, 129, 129 a sowie 129 b Abs. 1 Nr. 2 des BetäubungsmittelgeAbs. 1 Satz 1 des Strafgesetzbuchs (StGB), setzes sowie soweit er auf SS 129 a StGB verweist, d) den SSSS 96 und 97 des Aufenthaltsgesetzes. 2. SS 20 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2, 4 und 5 NVersG und SS 17 3. SS 20 des Vereinsgesetzes. Besondere Voraussetzungen für 2 Dabei darf weder auf die Gründung einer Observationen sowie strafbaren Vereinigung hingewirkt noch eine Bildübertragungen und Bildaufsteuernde Einflussnahme auf sie ausgeübt zeichnungen werden. 3Erlaubt sind nur solche Handlungen, die unter Berücksichtigung der VerhältDie Verfassungsschutzbehörde darf die nismäßigkeit im Einzelfall unumgänglich sind. nachrichtendienstlichen Mittel der Observa(5) Liegen die Voraussetzungen für die 1 tion nach SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 sowie Inanspruchnahme einer in Absatz 1 genannder Bildübertragungen und Bildaufzeichten Person nicht mehr vor, so ist die Inannungen nach SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 nur spruchnahme unverzüglich zu beenden. einsetzen, um Erkenntnisse über ein Beob- 2 Wird die Inanspruchnahme beendet, weil achtungsoder Verdachtsobjekt, das auf die sich tatsächliche Anhaltspunkte ergeben Anwendung oder Vorbereitung von Gewalt haben, dass die Person rechtswidrig einen gerichtet ist oder aus anderen Gründen Straftatbestand von besonderer Bedeutung erhebliche Bedeutung hat, oder über eine (Absatz 6) verwirklicht hat, so sind die StrafTätigkeit nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 zu gewinnen. verfolgungsbehörden zu unterrichten, wenn nicht der Schutz von Leib und Leben der in SS 18 Anspruch genommenen Person ein UnterBesondere Voraussetzungen für lassen erfordert. den Einsatz verdeckter (6) Straftaten von besonderer Bedeutung im Ermittlerinnen und Ermittler Sinne dieser Vorschrift sind 1. Verbrechen, (1) Eine verdeckte Ermittlerin oder ein verdeck2. die in SS 138 StGB genannten Vergehen, ter Ermittler darf nur unter den Voraussetzun3. Vergehen nach SS 129 StGB sowie gen des SS 1 Abs. 1 Nr. 1 und des SS 3 Abs. 1 4. gewerbsoder bandenmäßig begangedes Artikel 10-Gesetzes eingesetzt werden. ne Vergehen nach (2) 1Der Einsatz einer verdeckten Ermittlerin a) den SSSS 243, 244, 260, 261, 263 oder eines verdeckten Ermittlers ist fortlaubis 264 a, 265 b, 266, 283, 283 a, fend zu dokumentieren. 2 SS 16 Abs. 4 gilt 291 und 324 bis 330 StGB, für verdeckte Ermittlerinnen und Ermittler entsprechend. 391 Anhang SS 19 1. zu Bestandsdaten (SS 14 TMG) oder Besondere Voraussetzungen für 2. zu Nutzungsdaten (SS 15 Abs. 1 TMG). den Einsatz bestimmter techni- 2 Die Erteilung einer Auskunft nach Satz 1 scher Mittel darf nur im Einzelfall und unter der Voraussetzung angeordnet werden, dass sie (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf ein zu einer planmäßigen Beobachtung und technisches Mittel nach SS 14 Abs. 1 Satz 1 Aufklärung nach SS 6 Abs. 1 Satz 1 oder SS 7 Nrn. 10 bis 12 nur unter den VoraussetzunAbs. 1 Satz 1 oder zur Erfüllung der Aufgabe gen des SS 1 Abs. 1 Nr. 1 und des SS 3 Abs. 1 nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 erforderlich ist und des Artikel 10-Gesetzes einsetzen. dass tatsächliche Anhaltspunkte für eine (2) Der Einsatz eines technischen Mittels schwerwiegende Gefahr für ein in SS 3 Abs. 1 nach SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 darf sich nur genanntes Schutzgut vorliegen. 3 Die Erteigegen eine Person richten, bei der lung einer Auskunft zu Bestandsdaten darf 1. tatsächliche Anhaltspunkte für den Verim Einzelfall auch angeordnet werden, wenn dacht bestehen, dass sie eine Straftat durch die Erteilung der Auskunft die zur nach SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes planmäßigen Beobachtung und Aufklärung plant, begeht oder begangen hat, oder eines Beobachtungsoder Verdachtsobjekts 2. aufgrund bestimmter Tatsachen oder zur Erfüllung der Aufgabe nach SS 3 anzunehmen ist, dass sie über ihren Abs. 1 Nr. 2 erforderlichen VertrauensperTeilnehmeranschluss für eine Person sonen, sonstigen geheimen Informantinnen nach Nummer 1 bestimmte oder von und Informanten, überworbenen Agentinihr herrührende Mitteilungen entgenen und Agenten sowie Gewährspersonen gennimmt oder weitergibt oder dass gewonnen oder überprüft werden können eine Person nach Nummer 1 ihren und tatsächliche Anhaltspunkte für eine Teilnehmeranschluss nutzt, und dass schwerwiegende Gefahr für ein in SS 3 Abs. 1 deshalb der Einsatz unumgänglich ist, genanntes Schutzgut vorliegen. 4 Zur Erfülum Erkenntnisse über ein Beobachlung der Aufgabe nach SS 3 Abs. 1 Nr. 1 tungsoder Verdachtsobjekt oder über darf die Erteilung einer Auskunft zu Nuteine Tätigkeit nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 zu zungsdaten nur angeordnet werden, wenn gewinnen. das Beobachtungsoder Verdachtsobjekt auf die Anwendung oder Vorbereitung von SS 20 Gewalt gerichtet ist oder aus anderen GrünBesondere Auskunftsverlangen den erhebliche Bedeutung hat. 5 Die Erteilung einer Auskunft zu Nutzungsdaten darf (1) 1Die Verfassungsschutzbehörde kann nur zu einer Person angeordnet werden, anordnen, dass ein Diensteanbieter nach SS 2 1. bei der tatsächliche Anhaltspunkte dafür Satz 1 Nr. 1 des Telemediengesetzes (TMG) vorliegen, dass sie die schwerwiegende ihr Auskunft erteilt Gefahr nachdrücklich fördert, oder 392 Anhang 2. bei der aufgrund bestimmter Tatsachen angeordnet werden, wenn dadurch die zur anzunehmen ist, dass sie Telemedien für planmäßigen Beobachtung und Aufklärung eine Person nach Nummer 1 nutzt und eines Beobachtungsoder Verdachtsobjekts dass deshalb die Anordnung unumoder zur Erfüllung der Aufgabe nach SS 3 gänglich ist, um Erkenntnisse über ein Abs. 1 Nr. 2 erforderlichen VertrauensperBeobachtungsoder Verdachtsobjekt sonen, sonstigen geheimen Informantinnen oder über eine Tätigkeit nach SS 3 Abs. 1 und Informanten, überworbenen AgentinNr. 2 zu gewinnen. nen und Agenten sowie Gewährspersonen (2) 1Die Verfassungsschutzbehörde kann gewonnen oder überprüft werden können. anordnen, dass ein Diensteanbieter nach 4 Die Erteilung einer Auskunft zu besondeSS 3 Nr. 6 des Telekommunikationsgesetzes ren Bestandsdaten und zu Verkehrsdaten (TKG) ihr Auskunft erteilt darf nur unter den Voraussetzungen des 1. zu den nach den SSSS 95 und 111 TKG SS 1 Abs. 1 Nr. 1 und des SS 3 Abs. 1 des erhobenen Bestandsdaten (einfache Artikel 10-Gesetzes und nur zu einer Person Bestandsdaten), angeordnet werden, bei der 2. zu Bestandsdaten nach Nummer 1, 1. tatsächliche Anhaltspunkte für den Vermittels derer der Zugriff auf Endgedacht bestehen, dass sie eine Straftat räte oder auf Speichereinrichtungen, nach SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes die in diesen Endgeräten oder hiervon plant, begeht oder begangen hat, räumlich getrennt eingesetzt werden, 2. aufgrund bestimmter Tatsachen geschützt wird oder die anhand einer anzunehmen ist, dass sie über ihren zu einem bestimmten Zeitpunkt zugeTeilnehmeranschluss für eine Person wiesenen Internetprotokoll-Adresse nach Nummer 1 bestimmte oder von bestimmt werden (besondere Bestandsihr herrührende Mitteilungen entgedaten), oder gennimmt oder weitergibt oder dass 3. zu Verkehrsdaten nach SS 96 Abs. 1 eine Person nach Nummer 1 ihren Nrn. 1 bis 4 TKG und sonstigen zum Teilnehmeranschluss nutzt und dass Aufbau und zur Aufrechterhaltung der deshalb die Anordnung unumgänglich Telekommunikation notwendigen Verist, um Erkenntnisse über ein Beobachkehrsdaten. tungsoder Verdachtsobjekt oder über 2 Die Erteilung einer Auskunft nach Satz 1 eine Tätigkeit nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 zu darf nur angeordnet werden, wenn sie im gewinnen. Einzelfall zu einer planmäßigen Beobach(3) 1Die Verfassungsschutzbehörde kann tung und Aufklärung nach SS 6 Abs. 1 Satz 1 anordnen, dass oder SS 7 Abs. 1 Satz 1 oder zur Erfüllung der 1. Luftfahrtunternehmen sowie Betreiber Aufgabe nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 erforderlich von Computerreservierungssystemen ist. 3 Die Erteilung einer Auskunft zu einfaund Globalen Distributionssystemen für chen Bestandsdaten darf im Einzelfall auch Flüge Auskunft zu Namen und Anschrif393 Anhang ten von Kundinnen und Kunden sowie nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 zu gewinnen. zur Inanspruchnahme und den Umstän(4) Die Verfassungsschutzbehörde kann den von Transportleistungen, insbesonunter den Voraussetzungen des Absatzes dere zum Zeitpunkt von Abfertigung und 3 Satz 2 Halbsatz 1 und Satz 3 das BunAbflug und zum Buchungsweg, sowie desamt für Steuern um Abrufe aus dem 2. Kreditinstitute, Finanzdienstleistungsingemäß SS 24 c Abs. 1 des Kreditwesengestitute und Finanzunternehmen setzes zu führenden Dateisystem ersuchen Auskunft zu Konten und Geldanla(Kontostammdatenabfrage). gen, insbesondere zu Kontoständen, (5) 1Auskünfte nach den Absätzen 1 und 3 Zahlungseinund -ausgängen und sind unentgeltlich zu erteilen. 2Die Verfassonstigen Geldbewegungen, sowie zu sungsschutzbehörde hat für die Erteilung Kontoinhaberinnen, Kontoinhabern, von Auskünften nach Absatz 2 eine Entsonstigen Berechtigten und weiteren schädigung entsprechend SS 23 des Justizam Zahlungsverkehr Beteiligten, erteivergütungsund -entschädigungsgesetzes len. zu gewähren. 2 Die Erteilung einer Auskunft nach Satz 1 (6) Anordnungen nach den Absätzen 1 bis 3 darf nur im Einzelfall und unter der Vorsowie Ersuchen nach Absatz 4 und die überaussetzung angeordnet werden, dass sie mittelten Daten dürfen den betroffenen Perzu einer planmäßigen Beobachtung und sonen oder Dritten von den Verpflichteten Aufklärung nach SS 6 Abs. 1 Satz 1 oder SS 7 nicht mitgeteilt werden. Abs. 1 Satz 1 oder zur Erfüllung der Aufgabe (7) 1Den Verpflichteten ist es verboten, allein nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 erforderlich ist und aufgrund einer Anordnung nach den Absätdass tatsächliche Anhaltspunkte für eine zen 1 bis 3 einseitige Handlungen vorzunehschwerwiegende Gefahr für ein in SS 3 Abs. 1 men, die für die betroffene Person nachteilig genanntes Schutzgut vorliegen; Absatz 1 sind und die über die Erteilung der Auskunft Satz 4 gilt entsprechend. 3Die Erteilung einer hinausgehen, insbesondere bestehende VerAuskunft nach Satz 1 darf nur zu einer Perträge oder Geschäftsverbindungen zu beenson angeordnet werden, bei der den, ihren Umfang zu beschränken oder ein 1. tatsächliche Anhaltspunkte dafür Entgelt zu erheben oder zu erhöhen. 2Die vorliegen, dass sie die schwerwiegende Anordnung ist mit dem ausdrücklichen HinGefahr nachdrücklich fördert, oder weis auf dieses Verbot und darauf zu verbin2. aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehden, dass das Auskunftsersuchen nicht die men ist, dass sie eine in Satz 1 genannte Aussage beinhaltet, dass sich die betroffene Dienstleistung für eine Person nach NumPerson rechtswidrig verhalten hat oder ein mer 1 in Anspruch nimmt und dass desdarauf gerichteter Verdacht besteht. halb die Anordnung unumgänglich ist, um Erkenntnisse über ein Beobachtungsoder Verdachtsobjekt oder über eine Tätigkeit 394 Anhang SS 21 2 Verlängerungen um jeweils höchstens Verfahrensvorschriften den in Satz 1 genannten Zeitraum sind zulässig, wenn die Voraussetzungen der (1) Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mit- 1 Anordnung weiterhin erfüllt sind; Absatz 1 tel nach SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 7 bis 12 gilt entsprechend. 3Satz 2 gilt nicht für die wird von der Fachministerin oder dem Fachvorübergehende Inanspruchnahme einer minister angeordnet, im Vertretungsfall von Vertrauensperson (SS 16 Abs. 2 Satz 2). der Staatssekretärin oder dem Staatssekre(3) 1Anordnungen und Verlängerungen des tär oder deren oder dessen Vertreterin oder Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel Vertreter. 2Dasselbe gilt für die Erteilung von nach SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 7 bis 12 bedürAuskünften zu Nutzungsdaten nach SS 20 fen der Zustimmung der G 10-Kommission. Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, besonderen Bestands- 2 Dasselbe gilt für Anordnungen und Verdaten nach SS 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Verlängerungen der Erteilung von Auskünften kehrsdaten nach SS 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 zu Nutzungsdaten nach SS 20 Abs. 1 Satz 1 und Daten nach SS 20 Abs. 3 Satz 1 sowie Nr. 2, besonderen Bestandsdaten nach SS 20 für Ersuchen nach SS 20 Abs. 4. Der Einsatz 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Verkehrsdaten nach nachrichtendienstlicher Mittel nach SS 14 SS 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 sowie Daten nach Abs. 1 Satz 1 Nrn. 4 bis 6 wird von der LeiteSS 20 Abs. 3 Satz 1 und für Ersuchen nach rin oder dem Leiter der VerfassungsschutzSS 20 Abs. 4. 3 Die G 10-Kommission prüft abteilung angeordnet, im Vertretungsfall im Rahmen der Erteilung der Zustimmung von der Vertreterin oder dem Vertreter. 4 Die die Zulässigkeit und Notwendigkeit des EinGründe für die Anordnungen nach den Sätsatzes des nachrichtendienstlichen Mittels zen 1 bis 3 sind zu dokumentieren. oder des besonderen Auskunftsverlangens. (2) Anordnungen nach Absatz 1 sind zu 1 4 Stimmt die G 10-Kommission einer Anordbefristen auf höchstens nung oder Verlängerung nicht zu, so hat 1. drei Jahre in den Fällen des SS 14 Abs. 1 die Fachministerin oder der Fachminister, im Satz 1 Nr. 6, ein Jahr in den Fällen der Vertretungsfall die Staatssekretärin oder der vorübergehenden Inanspruchnahme einer Staatssekretär oder deren oder dessen VerVertrauensperson (SS 16 Abs. 2 Satz 2), treterin oder Vertreter, die Anordnung oder 2. drei Monate in den Fällen des SS 14 Verlängerung unverzüglich aufzuheben. Abs. 1 Satz 1 Nrn. 7 bis 12, (4) 1Bei Gefahr im Verzug kann in den Fällen 3. drei Monate bei der Erteilung von des Absatzes 3 die Fachministerin oder der Auskünften zu künftig anfallenden Fachminister, im Vertretungsfall die StaatsNutzungsdaten nach SS 20 Abs. 1 Satz 1 sekretärin oder der Staatssekretär oder Nr. 2, Verkehrsdaten nach SS 20 Abs. 2 deren oder dessen Vertreterin oder VertreSatz 1 Nr. 3 und Daten nach SS 20 ter, anordnen, dass der Einsatz des nachrichAbs. 3 Satz 1. tendienstlichen Mittels vor der Zustimmung der G 10-Kommission begonnen oder die 395 Anhang Auskunft vor der Zustimmung erteilt wird. (7) Die weiteren Einzelheiten des Einsat- 2 In diesem Fall ist die Zustimmung unverzes nachrichtendienstlicher Mittel sind in züglich nachträglich einzuholen. 3Stimmt die Dienstvorschriften umfassend zu regeln. G 10-Kommission nicht nachträglich zu, so gilt Absatz 3 Satz 4 entsprechend; der EinSS 22 satz des nachrichtendienstlichen Mittels ist Mitteilung an betroffene unverzüglich zu beenden. 4 Bereits erhobene Personen Daten dürfen nicht gespeichert, verändert, verwendet oder übermittelt werden; sie sind (1) 1Die Verfassungsschutzbehörde hat den unverzüglich zu löschen. Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel nach (5) 1Die Beobachtungsund VerdachtsobSS 14 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6 bis 12 nach seiner jekte, gegen die die Inanspruchnahme von Beendigung den betroffenen Personen mitzuVertrauenspersonen nach Absatz 1 Satz 3 teilen. 2Dasselbe gilt für Observationen nach angeordnet werden darf, werden zuvor von SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, soweit besondere für der Fachministerin oder dem Fachminister Observationszwecke bestimmte technische bestimmt, im Vertretungsfall von der StaatsMittel eingesetzt wurden. 3Die Verfassungssekretärin oder dem Staatssekretär oder schutzbehörde hat auch die besonderen Ausderen oder dessen Vertreterin oder Vertreter. kunftsverlangen nach Erteilung der Auskunft 2 Die Gründe sind zu dokumentieren. 3 Die den betroffenen Personen mitzuteilen; dies Bestimmung ist auf höchstens vier Jahre zu gilt nicht für Auskunftsverlangen zu einfachen befristen. 4Die Verlängerung der Bestimmung Bestandsdaten nach SS 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1. um jeweils höchstens vier Jahre ist zulässig, 4 In der Mitteilung ist auf die Rechtsgrundlage wenn die Voraussetzung des SS 16 Abs. 2 für den Einsatz des nachrichtendienstlichen weiterhin erfüllt ist. 5Die Bestimmung und Mittels oder für das besondere Auskunftsverdie Verlängerung bedürfen der Zustimmung langen und auf das Auskunftsrecht nach SS 30 der G 10-Kommission. 6Absatz 3 Satz 3 gilt hinzuweisen. 5Die Sätze 1 bis 4 gelten nicht, entsprechend. 7Stimmt die G 10-Kommiswenn für die Mitteilung in unverhältnismäßiger sion einer Verlängerung nicht zu, so ist die Weise weitere personenbezogene Daten der Inanspruchnahme von Vertrauenspersonen betroffenen Person erhoben werden müssten. gegen das betroffene Beobachtungsobjekt (2) 1 Die Mitteilung wird zurückgestellt, unverzüglich zu beenden. solange (6) 1Die Wahrnehmung der Aufgaben der 1. eine Gefährdung des Zwecks des Einsat- G 10-Kommission nach den Absätzen 3 bis zes des nachrichtendienstlichen Mittels 5 obliegt der G 10-Kommission nach SS 3 des oder des besonderen AuskunftsverlanNiedersächsischen Gesetzes zur Ausführung gens nicht ausgeschlossen werden kann, des Artikel 10-Gesetzes (Nds. AG G 10). 2. durch das Bekanntwerden des Einsat2SS 3 Abs. 1 Sätze 5 bis 7 und Abs. 2 bis 4 zes des nachrichtendienstlichen Mittels Nds. AG G 10 gilt entsprechend. oder des besonderen Auskunftsverlan396 Anhang gens Leib, Leben, Freiheit oder ähnlich Grundes der oder dem Landesbeauftragten schutzwürdige Belange einer Person für den Datenschutz mitzuteilen. gefährdet werden, (3) 1Einer Mitteilung bedarf es endgültig 3. ihr überwiegende schutzwürdige Benicht, wenn lange einer anderen betroffenen Person 1. die Voraussetzung der Zurückstellung entgegenstehen oder auch fünf Jahre nach Beendigung des 4. durch das Bekanntwerden des Einsatzes Einsatzes des nachrichtendienstlichen des nachrichtendienstlichen Mittels der Mittels oder nach Erteilung der Ausweitere Einsatz der in SS 14 Abs. 1 Satz kunft noch nicht entfallen ist, 1 Nrn. 6 und 9 genannten Personen ge2. die Voraussetzungen der Zurückstellung fährdet wird und deshalb die Interessen mit an Sicherheit grenzender Wahrder betroffenen Person zurücktreten scheinlichkeit auch in Zukunft nicht müssen. entfallen werden, 2 Wird die Mitteilung nicht innerhalb eines 3. die Voraussetzungen für eine Löschung Jahres nach der Beendigung des Einsatzes der personenbezogenen Daten vorliedes nachrichtendienstlichen Mittels oder gen und der Erteilung der Auskunft vorgenommen, 4. die G 10-Kommission zustimmt. so bedarf die Zurückstellung der Zustim- 2 Bei nachrichtendienstlichen Mitteln nach mung der G 10-Kommission. 3Stimmt die SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und bei besonderen G 10-Kommission der Zurückstellung zu, so Auskunftsverlangen zu Bestandsdaten nach hat sie diese zu befristen. 4Auch jede weitere SS 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bedarf es abweichend Zurückstellung bedarf der Zustimmung der von Satz 1 Nr. 4 der Zustimmung der oder des G 10-Kommission; Satz 3 gilt entsprechend. Landesbeauftragten für den Datenschutz. 5 Stimmt die G 10-Kommission der Zurückstellung oder der weiteren Zurückstellung SS 23 nicht zu oder entfällt zwischenzeitlich der Ersuchen und automatisierte Grund für die Zurückstellung, so ist die MitAbrufverfahren teilung unverzüglich von der Verfassungsschutzbehörde vorzunehmen. 6 Die Sätze 2 (1) 1Die Verfassungsschutzbehörde darf zur bis 5 gelten nicht für die Mitteilung des Einplanmäßigen Beobachtung und Aufklärung satzes nachrichtendienstlicher Mittel nach eines Beobachtungsoder Verdachtsobjekts SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und für die Mitsowie zur Erfüllung der Aufgabe nach SS 3 teilung von besonderen Auskunftsverlangen Abs. 1 Nr. 2 die Behörden des Landes, inszu Bestandsdaten nach SS 20 Abs. 1 Satz 1 besondere die Staatsanwaltschaften und die Nr. 1. 7 Wird in diesen Fällen die Mitteilung Polizeibehörden, sowie die der ausschließnicht innerhalb von zwei Jahren nach der lichen Aufsicht des Landes unterstehenden Erteilung der Auskunft vorgenommen, so Körperschaften, Anstalten und Stiftungen ist die Zurückstellung unter Angabe des des öffentlichen Rechts um Übermittlung 397 Anhang personenbezogener Daten ersuchen, wenn empfangenden Verfassungsschutzbehörde diese nicht aus allgemein zugänglichen unverzüglich zu ergänzen oder zu berichtiQuellen oder nur mit übermäßigem Aufgen, es sei denn, dass der Mangel für die wand oder nur durch eine die betroffene Beurteilung des Sachverhalts offensichtlich Person stärker belastende Maßnahme erhoohne Bedeutung ist. ben werden können. 2Die Gründe für das (4) Um Übermittlung personenbezogener Ersuchen sind zu dokumentieren. Daten, die von einer Staatsanwaltschaft (2) 1 Die Verfassungsschutzbehörde darf oder einer Polizeibehörde aufgrund einer anstelle eines Ersuchens nach Absatz 1 strafprozessualen Zwangsmaßnahme oder oder SS 18 Abs. 3 Satz 2 des Bundesvernach SS 32 Abs. 2 oder den SSSS 33 a bis 37 fassungsschutzgesetzes (BVerfSchG) auto- a des Niedersächsischen Polizeiund Ordmatisierte Abrufverfahren nutzen, soweit nungsbehördengesetzes (NPOG) erhoben die Nutzung eines automatisierten Abrufworden sind, darf nur ersucht werden, wenn verfahrens durch die Verfassungsschutzbedie personenbezogenen Daten auch von der hörden ausdrücklich gesetzlich geregelt ist Verfassungsschutzbehörde mit einem verund durch technische und organisatorische gleichbaren nachrichtendienstlichen Mittel Maßnahmen Risiken für die Rechte und oder besonderen Auskunftsverlangen hätFreiheiten der betroffenen Personen verten erhoben werden dürfen. mieden werden können. 2Die Einrichtung (5) 1Um die Übermittlung personenbezogener eines automatisierten Abrufverfahrens wird Daten, die aufgrund einer strafprozessualen von der Leiterin oder dem Leiter der VerfasZwangsmaßnahme oder einer dieser vergleichsungsschutzabteilung oder der Vertreterin baren Maßnahme nach dem Niedersächsioder dem Vertreter angeordnet. 3Soweit die schen Polizeiund Ordnungsbehördengesetz gesetzlichen Regelungen nach Satz 1 die erhoben worden sind, zu der die Verfassungsabrufende Stelle nicht zur Dokumentation schutzbehörde nach diesem Gesetz nicht der Abrufe verpflichten, sind die Gründe für befugt ist, darf nur ersucht werden, wenn den Abruf im automatisierten Abrufverfahdies zur planmäßigen Beobachtung und ren zu dokumentieren. Aufklärung eines Beobachtungsoder Ver(3) 1Die ersuchte Behörde, Körperschaft, dachtsobjekts, das auf die Anwendung oder Anstalt oder Stiftung ist verpflichtet, die perVorbereitung von Gewalt gerichtet ist, oder sonenbezogenen Daten zu übermitteln. 2Sie zur Erfüllung der Aufgabe nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 darf nur solche personenbezogenen Daten erforderlich ist. 2Satz 1 gilt nicht für Ersuchen übermitteln, die bei ihr bereits bekannt um Übermittlung von personenbezogenen sind oder von ihr aus allgemein zugängliDaten, die aufgrund einer Identitätsfeststelchen Quellen entnommen werden können. lung nach SS 163 b StPO, auch in Verbindung 3 Erweisen sich personenbezogene Daten mit SS 111 Abs. 3 StPO, oder nach SS 13 NPOG nach ihrer Übermittlung als unvollständig erhoben worden sind. 3Ein Ersuchen um die oder unrichtig, so sind sie gegenüber der Übermittlung personenbezogener Daten, die 398 Anhang aufgrund einer Wohnraumüberwachung nach oder der Vertreterin oder dem Vertreter SS 100 c StPO oder nach SS 35 a NPOG erlangt angeordnet. worden sind, ist unzulässig. (4) 1Jede Einsichtnahme ist zu dokumen(6) Die aufgrund eines Ersuchens nach den tieren. 2Die in der Dokumentation enthalAbsätzen 4 und 5 übermittelten personentenen personenbezogenen Daten dürfen bezogenen Daten sind von der übermittelnausschließlich zur Datenschutzkontrolle verden Staatsanwaltschaft oder Polizeibehörde wendet werden. 3Sie sind zwei Jahre nach unter Angabe des zur Erhebung eingesetzder Dokumentation zu löschen. ten Mittels zu kennzeichnen. SS 25 SS 24 Verpflichtung zur DatenüberRegistereinsicht mittlung an die Verfassungsschutzbehörde (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur planmäßigen Beobachtung und Aufklärung (1) Die Behörden des Landes sowie die der eines Beobachtungsoder Verdachtsobausschließlichen Aufsicht des Landes unterjekts, das auf die Anwendung oder Vorstehenden Körperschaften, Anstalten und bereitung von Gewalt gerichtet ist, sowie Stiftungen des öffentlichen Rechts überzur Erfüllung der Aufgabe nach SS 3 Abs. 1 mitteln von sich aus der VerfassungsschutzNr. 2 die von öffentlichen Stellen geführbehörde die ihnen bekannt gewordenen ten Register, insbesondere Grundbücher, Informationen einschließlich personenbezoPersonenstandsbücher, Melderegister, Pergener Daten, wenn tatsächliche Anhaltspunksonalausweisregister, Passregister, Führerte dafür bestehen, dass dies zur planmäßigen scheinkartei, Waffenscheinkartei einsehen. Beobachtung und Aufklärung eines Beob(2) 1Die Einsichtnahme ist nur zulässig, wenn achtungsoder Verdachtsobjekts, das auf die 1. ein Ersuchen nach SS 23 Abs. 1 oder ein Anwendung oder Vorbereitung von Gewalt Abruf im automatisierten Abrufverfahgerichtet ist, oder zur Erfüllung der Aufgabe ren nach SS 23 Abs. 2 den Zweck der nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 erforderlich ist. Maßnahme gefährden würde und (2) 1Die Staatsanwaltschaften und Polizeibe2. die betroffene Person durch eine anderhörden des Landes übermitteln von sich aus weitige Datenerhebung unverhältnismäder Verfassungsschutzbehörde die ihnen ßig beeinträchtigt würde. bekannt gewordenen Informationen ein- 2 Die Einsichtnahme ist unzulässig, wenn ihr schließlich personenbezogener Daten, wenn eine gesetzliche Geheimhaltungsvorschrift tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, oder eine Pflicht zur Wahrung von Berufsgedass dies zur planmäßigen Beobachtung heimnissen entgegensteht. und Aufklärung eines Beobachtungsoder (3) Die Einsichtnahme wird von der Leiterin oder Verdachtsobjekts oder zur Erfüllung der dem Leiter der Verfassungsschutzabteilung Aufgabe nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 erforderlich 399 Anhang ist. 2Personenbezogene Daten, die aufgrund SS 26 einer strafprozessualen ZwangsmaßnahSpeicherung, Veränderung und me oder einer vergleichbaren Maßnahme Verwendung personenbezogenach dem Niedersächsischen Polizeiund ner Daten, Zweckbindung Ordnungsbehördengesetz erhoben worden sind, dürfen nur übermittelt werden, wenn (1) 1Die Verfassungsschutzbehörde darf die tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, zur Erfüllung ihrer Aufgaben rechtmäßig dass dies zur planmäßigen Beobachtung und erhobenen personenbezogenen Daten speiAufklärung eines Beobachtungsoder Verchern, verändern und verwenden, wenn dies dachtsobjekts, das auf die Anwendung oder zu dem Zweck erforderlich ist, zu dem sie Vorbereitung von Gewalt gerichtet ist, oder erhoben worden sind, und zur Erfüllung der Aufgabe nach SS 3 Abs. 1 1. tatsächliche Anhaltspunkte dafür Nr. 2 erforderlich ist. 3 Die Übermittlung vorliegen, dass die betroffene Person in personenbezogener Daten, die aufgrund dem oder für das Beobachtungsoder einer Wohnraumüberwachung nach SS 100 c Verdachtsobjekt tätig ist, StPO oder nach SS 35 a NPOG erlangt wor2. tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorden sind, ist unzulässig. 4Satz 2 gilt nicht für liegen, dass die betroffene Person eine die Übermittlung von personenbezogenen Tätigkeit nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 ausübt, Daten, die aufgrund einer Identitätsfest3. aufgrund bestimmter Tatsachen anzustellung nach SS 163 b StPO, auch in Verbinnehmen ist, dass die betroffene Person dung mit SS 111 Abs. 3 StPO, oder nach SS 13 mit einer der in den Nummern 1 und NPOG erhoben worden sind. 5Die nach Satz 2 genannten Personen in Verbindung 2 übermittelten personenbezogenen Daten steht und dass deshalb die Speicherung, sind unter Angabe des zur Erhebung eingeVeränderung oder Verwendung zur setzten Mittels zu kennzeichnen. planmäßigen Beobachtung und Auf(3) Die Übermittlung von personenbezoklärung eines Beobachtungsoder Vergenen Daten über eine Person, die das 14. dachtsobjekts, das auf die Anwendung Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist oder Vorbereitung von Gewalt gerichtet unzulässig. ist, oder zur Erfüllung der Aufgabe nach (4) SS 23 Abs. 3 Satz 3 gilt entsprechend. SS 3 Abs. 1 Nr. 2 unumgänglich ist, oder 4. dies zur Gewinnung oder Überprüfung von Vertrauenspersonen, sonstigen geheiDrittes Kapitel men Informantinnen oder Informanten, Speicherung, Veränderung, Verwendung, überworbenen Agentinnen oder Agenten Löschung oder Gewährspersonen erforderlich ist. 2 Die in Satz 1 Nrn. 1 bis 4 genannten Voraussetzungen gelten nicht in der Verdachtsgewinnungsphase. 3Sind mit personenbezogenen 400 Anhang Daten, die nach Satz 1 gespeichert, verändert SS 27 und verwendet werden dürfen, weitere perSpeicherung, Veränderung und sonenbezogene Daten von betroffenen PerVerwendung personenbezogesonen oder von Dritten so verbunden, dass ner Daten zu anderen Zwecken sie nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand getrennt werden können, so dürfen 1 Eine Speicherung, Veränderung oder Versie gemeinsam mit den personenbezogenen wendung der nach SS 26 gespeicherten perDaten nach Satz 1 gespeichert werden; sie sonenbezogenen Daten für einen anderen in sind nach Maßgabe des SS 28 Abs. 3 in ihrer SS 12 Abs. 1 genannten Zweck ist zulässig, Verarbeitung einzuschränken. wenn die personenbezogenen Daten zur (2) 1Die mit nachrichtendienstlichen Mitteln Erfüllung dieses Zwecks erforderlich sind oder durch ein besonderes Auskunftsverlanund im Fall eines zur Erhebung eingesetzten gen erhobenen personenbezogenen Daten nachrichtendienstlichen Mittels oder besonsind unter Angabe des eingesetzten Mittels deren Auskunftsverlangens dieses auch für zu kennzeichnen. 2Bei den nach SS 23 Abs. 6 den anderen Zweck hätte eingesetzt werden gekennzeichneten personenbezogenen dürfen. 2Die nach SS 26 Abs. 3 gespeicherten Daten ist die Kennzeichnung beizubehalten. personenbezogenen Daten dürfen nur unter (3) 1Die Verfassungsschutzbehörde darf die den dort genannten Voraussetzungen für personenbezogenen Daten, von denen sie einen anderen Zweck gespeichert, verändert durch Übermittlung nach SS 25 rechtmäßig und verwendet werden. Kenntnis erlangt hat, nur speichern, verändern und verwenden, wenn dies zu einem SS 28 Zweck erforderlich ist, zu dem sie die überBerichtigung, Löschung und mittelnde Behörde gemäß SS 23 um ÜberEinschränkung der Verarbeitung mittlung dieser personenbezogenen Daten von personenbezogenen Daten hätte ersuchen dürfen, und wenn eine der in Absatz 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 4 genannten Vor(1) 1 Die Ver fassungsschutzbehörde hat aussetzungen erfüllt ist. Die Zweckbestim- 2 personenbezogene Daten zu berichtimung ist bei der Speicherung festzulegen. gen, wenn sie unrichtig sind. 2 Sie hat sie 3 Absatz 1 Satz 3 gilt entsprechend. Bei den 4 zu ergänzen, wenn sie unvollständig sind nach SS 25 Abs. 2 Satz 5 gekennzeichneten und dadurch schutzwürdige Interessen der personenbezogenen Daten ist die Kennbetroffenen Person beeinträchtigt sein könzeichnung beizubehalten. nen. 3Wird die Richtigkeit von personenbe(4) Die Speicherung von personenbezogezogenen Daten von der betroffenen Person nen Daten über eine minderjährige Person bestritten und lässt sich weder die Richtigist nur unter den Voraussetzungen des SS 13 keit noch die Unrichtigkeit feststellen, so ist Abs. 3 zulässig. dies zu vermerken; die betroffene Person kann sich an die Landesbeauftragte oder 401 Anhang den Landesbeauftragten für den DatenMaßnahmen zu gewährleisten. 3In ihrer Verschutz wenden. arbeitung eingeschränkte personenbezogene (2) 1Die Verfassungsschutzbehörde hat perDaten darf die Verfassungsschutzbehörde nur sonenbezogene Daten zu löschen, wenn in behördlichen und gerichtlichen Verfahren, 1. ihre Speicherung unzulässig ist oder mit denen eine Person ein schutzwürdiges 2. ihre Kenntnis für die Aufgabenerfüllung Interesse nach Absatz 2 verfolgt, oder mit Einnicht mehr erforderlich ist. willigung der betroffenen Person verändern, 2 Die Löschung unterbleibt, wenn Grund verwenden oder übermitteln. zu der Annahme besteht, dass durch sie (4) 1Die Verfassungsschutzbehörde prüft bei schutzwürdige Interessen der betroffenen der Einzelfallbearbeitung, spätestens nach Person beeinträchtigt würden; die entsprejeweils fünf Jahren, ob personenbezogene chenden personenbezogenen Daten sind Daten zu berichtigen oder zu ergänzen, zu nach Maßgabe des Absatzes 3 in ihrer Verlöschen oder nach Maßgabe des Absatarbeitung einzuschränken. 3 Ein schutzwürzes 3 in ihrer Verarbeitung einzuschränken diges Interesse liegt insbesondere dann vor, sind. 2Bei personenbezogenen Daten, die wenn die betroffene Person einen Antrag mit nachrichtendienstlichen Mitteln nach auf Auskunft nach SS 30 gestellt hat oder SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 9 bis 12 oder mit aufgrund einer Mitteilung nach SS 6 Abs. 4 besonderen Auskunftsverlangen zu Nutoder SS 22 Abs. 1 die Stellung eines solchen zungsdaten nach SS 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Antrags zu erwarten ist. Sind personenbe- 4 besonderen Bestandsdaten nach SS 20 Abs. 2 zogene Daten in Akten gespeichert, so ist die Satz 1 Nr. 2, Verkehrsdaten nach SS 20 Abs. 2 Löschung nach Satz 1 Nr. 2 erst durchzufühSatz 1 Nr. 3 oder Daten nach SS 20 Abs. 3 ren, wenn die gesamte Akte nach Maßgabe Satz 1 erhoben wurden, beträgt die Prüder entsprechenden Rechtsoder Verwalfungsfrist nach Satz 1 sechs Monate. tungsvorschriften zur Aufgabenerfüllung (5) Die Verfassungsschutzbehörde prüft bei nicht mehr erforderlich ist. 5 Werden durch der Einzelfallbearbeitung, spätestens nach die weitere Speicherung von personenbejeweils sechs Monaten, ob personenbezozogenen Daten nach Satz 4 schutzwürdige gene Daten über eine minderjährige Person Interessen der betroffenen Person erheblich zu berichtigen oder zu ergänzen, zu löschen beeinträchtigt, so sind diese personenbezooder nach Maßgabe des Absatzes 3 in ihrer genen Daten nach Maßgabe des Absatzes 3 Verarbeitung einzuschränken sind. in ihrer Verarbeitung einzuschränken. (6) 1Die Löschung von personenbezogenen (3) In ihrer Verarbeitung eingeschränkte 1 Daten ist zu dokumentieren, wenn sie mit personenbezogene Daten sind mit einem nachrichtendienstlichen Mitteln oder besonVermerk über die Einschränkung der Verarderen Auskunftsverlangen erhoben wurden, beitung zu versehen. Im Fall einer automa- 2 die der Mitteilungspflicht nach SS 22 Abs. 1 tisierten Verarbeitung ist die Einschränkung Sätze 1 bis 3 unterliegen. 2Die in der Dokuder Verarbeitung durch zusätzliche technische mentation enthaltenen personenbezogenen 402 Anhang Daten dürfen ausschließlich zur DatenAuskunft dargelegt wird. 2Über personenschutzkontrolle verwendet werden. Sie sind 3 bezogene Daten aus Akten, die nicht zu zu löschen, wenn seit einer Mitteilung nach den betroffenen Personen geführt werden, SS 22 Abs. 1 ein Jahr vergangen ist oder es wird Auskunft nur erteilt, soweit die persoeiner Mitteilung gemäß SS 22 Abs. 3 endnenbezogenen Daten, namentlich aufgrund gültig nicht bedarf, frühestens jedoch zwei von Angaben der betroffenen Personen, mit Jahre nach der Dokumentation. angemessenem Aufwand auffindbar sind. (7) Die Löschung personenbezogener Daten, 3 Die Verfassungsschutzbehörde bestimmt die mit nachrichtendienstlichen Mitteln nach Verfahren und Form der Auskunftserteilung SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 9 bis 12 oder mit nach pflichtgemäßem Ermessen. besonderen Auskunftsverlangen zu Nut(2) 1Die Auskunftserteilung ist abzulehnen, zungsdaten nach SS 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, soweit besonderen Bestandsdaten nach SS 20 Abs. 2 1. die Auskunft die öffentliche Sicherheit Satz 1 Nr. 2, Verkehrsdaten nach SS 20 Abs. 2 gefährden oder sonst dem Wohl des Satz 1 Nr. 3 oder Daten nach SS 20 Abs. 3 Bundes oder eines Landes Nachteile Satz 1 erhoben wurden, ist unter Aufsicht bereiten würde, einer oder eines besonders bestellten, mit 2. die personenbezogenen Daten oder der Auswertung nicht befassten Beschäftigdie Tatsache ihrer Speicherung nach ten, die oder der die Befähigung zum Richeiner Rechtsvorschrift geheim gehalten teramt hat, vorzunehmen. werden müssen, 3. die Interessen eines Dritten an der GeSS 29 heimhaltung die Interessen der antrag-- aufgehoben -- stellenden Person überwiegen oder 4. durch die Auskunftserteilung Informationsquellen gefährdet würden oder die Viertes Kapitel Ausforschung des Erkenntnisstandes Auskunft oder der Arbeitsweise der Verfassungsschutzbehörde zu befürchten ist und SS 30 deshalb die Interessen der antragstelAuskunft an betroffene Persolenden Person ausnahmsweise zurücknen treten müssen. 2 Die Entscheidung trifft die Leiterin oder (1) 1Die Verfassungsschutzbehörde erteilt der Leiter der Verfassungsschutzabteilung. betroffenen Personen auf Antrag unent- 3 Die Leiterin oder der Leiter der Verfasgeltlich Auskunft über die zu ihrer Person sungsschutzabteilung kann eine besonders gespeicherten Daten, soweit hierzu auf bestellte Beschäftigte oder einen besoneinen konkreten Sachverhalt hingewieders bestellten Beschäftigten, die oder der sen und ein besonderes Interesse an der mit der Auswertung nicht befasst war und 403 Anhang die Befähigung zum Richteramt hat, damit SS 31 beauftragen, ebenfalls Entscheidungen Übermittlung personenbezonach Satz 1 zu treffen. gener Daten an Staatsanwalt(3) Die Auskunftsverpflichtung erstreckt sich schaften und Polizeibehörden nicht auf die Herkunft der Daten und die Empfänger der Übermittlung. (1) 1Die Verfassungsschutzbehörde übermit(4) 1Die Ablehnung einer Auskunft bedarf telt von sich aus personenbezogene Daten keiner Begründung, soweit durch die Begrünan die Staatsanwaltschaften und Polizeidung der Zweck der Ablehnung gefährdet behörden des Landes, wenn tatsächliche würde. 2Die Gründe der Ablehnung sind zu Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dies zur dokumentieren. 3Wird der antragstellenden Verfolgung besonders schwerer Straftaten Person keine Begründung für die Ablehnung gemäß SS 100 b Abs. 2 StPO oder von Strafder Auskunft gegeben, so ist ihr die Rechtstaten gemäß den SSSS 87, 88 und 89 StGB grundlage dafür zu nennen. 4 Ferner ist sie unumgänglich ist. 2Den Polizeibehörden des darauf hinzuweisen, dass sie sich an die Landes übermittelt die VerfassungsschutzLandesbeauftragte oder den Landesbeaufbehörde von sich aus personenbezogene tragten für den Datenschutz wenden kann. Daten auch 5 Der oder dem Landesbeauftragten für den 1. zur Abwehr einer im Einzelfall bestehenDatenschutz ist auf Verlangen die von der den Gefahr für den Bestand oder die antragstellenden Person begehrte Auskunft Sicherheit des Bundes oder des Landes, zu erteilen. 6 Mitteilungen der oder des für Leib, Leben oder Freiheit einer Landesbeauftragten für den Datenschutz Person, für lebensoder verteidigungsan die antragstellende Person dürfen keine wichtige Einrichtungen (SS 1 Abs. 4 Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand der und 5 Verfassungsschutzbehörde zulassen, sofern des Niedersächsischen Sicherheitsüberdiese nicht einer weitergehenden Mitteilung prüfungsgesetzes - Nds. SÜG -) oder zustimmt. für Kulturdenkmale (SS 1 des Niedersächsischen Denkmalschutzgesetzes), deren Erhaltung im herausragenden Fünftes Kapitel öffentlichen Interesse liegt, oder Übermittlung 2. wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dies zur Verhütung a) terroristischer Straftaten nach SS 2 Nr. 15 NPOG, b) von Straftaten der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates gemäß den SSSS 87, 88, 89, 89 a und 89 c Abs. 1 bis 4 StGB, 404 Anhang c) der Bildung einer kriminellen Verei- 3 Die Übermittlung nach den Sätzen 1 und 2 nigung nach SS 129 Abs. 1 in Verbinist nur zulässig, wenn das zur Datenerdung mit Abs. 5 Satz 3 StGB sowie hebung verwendete Mittel auch für den die Bildung und Unterstützung einer anderen Zweck hätte angewendet werden terroristischen Vereinigung nach dürfen. 4Personenbezogene Daten, die nicht SS 129 a Abs. 1, 2, 4 und 5 Satz 1 durch den Einsatz nachrichtendienstlicher StGB, jeweils auch in Verbindung Mittel oder durch besondere Auskunftsmit SS 129 b Abs. 1 StGB, verlangen erhoben worden sind, darf die d) von Straftaten gegen die sexuelle Verfassungsschutzbehörde auch zu sonsSelbstbestimmung gemäß SS 176 tigen Zwecken der Strafverfolgung oder Abs. 1 bis 3, SS 176 a Abs. 3, SS 177 der Gefahrenabwehr an die StaatsanwaltAbs. 6 bis 8 und SS 184 b Abs. 2 StGB, schaften und Polizeibehörden des Landes e) von Straftaten gegen das Leben übermitteln. 5Sind mit personenbezogenen nach den SSSS 211 und 212 StGB soDaten, die nach den Sätzen 1 bis 4 übermitwie der schweren Körperverletzung telt werden dürfen, weitere personenbezonach SS 226 Abs. 2 StGB, gene Daten der betroffenen Person oder von f) von Straftaten gegen die persönliDritten so verbunden, dass eine Trennung che Freiheit gemäß SS 232, SS 232 a nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Abs. 3, 4 und 5 Satzteil 2, SS 232 b Aufwand möglich ist, so dürfen auch diese Abs. 3 und 4 in Verbindung mit personenbezogenen Daten übermittelt werSS 232 a Abs. 4 oder 5 Satzteil 2, den; sie sind nach Maßgabe des SS 28 Abs. 3 SS 233 Abs. 2, SS 233 a Abs. 3 und 4 in ihrer Verarbeitung einzuschränken. 6 Die Satzteil 2, SS 234 und SS 234 a StGB, Übermittlung ist unzulässig, wenn dadurch g) von gemeingefährlichen Straftaten geInformationsquellen oder die Arbeitsweise mäß SS 310 Abs. 1 und SS 316 a StGB, der Verfassungsschutzbehörde gefährdet h) von Straftaten der gewerbsund würden und diese Sicherheitsinteressen das bandenmäßigen Verleitung zur Interesse an der Strafverfolgung oder an der missbräuchlichen Asylantragstellung Gefahrenabwehr überwiegen. nach SS 84 a Abs. 1 des Asylverfah(2) 1Sind die zu übermittelnden personenberensgesetzes oder des gewerbsund zogenen Daten gekennzeichnet (SS 26 Abs. 2 bandenmäßigen Einschleusens von und 3 Satz 4), so ist die Kennzeichnung bei Ausländern nach SS 97 Abs. 2 des der Übermittlung aufrechtzuerhalten. 2Die Aufenthaltsgesetzes oder Fachministerin oder der Fachminister, im i) von Straftaten gemäß SS 30 a Abs. 1 Vertretungsfall die Staatssekretärin oder und 2 des Betäubungsmittelgesetzes der Staatssekretär oder deren oder dessen (BtMG), auch in Verbindung mit SS 30 b Vertreterin oder Vertreter, kann anordnen, BtMG und mit SS 129 Abs. 5 StGB, dass bei der Übermittlung auf die nach unumgänglich ist. Satz 1 erforderliche Kennzeichnung der 405 Anhang personenbezogenen Daten verzichtet wird, personenbezogenen Daten, soweit gesetzwenn dies unerlässlich ist, um die Geheimlich nichts anderes bestimmt ist, nur zu dem haltung der Datenerhebung nicht zu gefährZweck verarbeiten, zu dem sie ihr übermitden, und die G 10-Kommission zugestimmt telt wurden. 2Sind die übermittelten persohat. Bei Gefahr im Verzug kann die Anord- 3 nenbezogenen Daten nach Absatz 2 Satz 1 nung bereits vor der Zustimmung getroffen gekennzeichnet, so hat sie die Kennzeichwerden. 4In diesem Fall ist die Zustimmung nung aufrechtzuerhalten. 3Wurden persounverzüglich nachträglich einzuholen. Stimmt 5 nenbezogene Daten übermittelt, die unter die G 10-Kommission nicht nachträglich zu, Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel nach so ist die Kennzeichnung unverzüglich durch SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 9 bis 12 oder mit die empfangende Staatsanwaltschaft oder besonderen Auskunftsverlangen zu NutPolizeibehörde nachzuholen; darauf ist sie zungsdaten nach SS 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, von der Verfassungsschutzbehörde hinzuweibesonderen Bestandsdaten nach SS 20 Abs. 2 sen. 6Die Übermittlung ist zu dokumentieren. Satz 1 Nr. 2, Verkehrsdaten nach SS 20 Abs. 2 7 Über die Übermittlung von personenbezogen Satz 1 Nr. 3 oder Daten nach SS 20 Abs. 3 Daten, die unter Einsatz nachrichtendienstSatz 1 erhoben worden sind, so prüft die licher Mittel nach SS 14 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 9 empfangende Staatsanwaltschaft oder bis 12 oder mit besonderen AuskunftsverPolizeibehörde unverzüglich und danach in langen zu Nutzungsdaten nach SS 20 Abs. 1 Abständen von höchstens sechs Monaten, Satz 1 Nr. 2, besonderen Bestandsdaten nach ob die übermittelten personenbezogenen SS 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Verkehrsdaten nach Daten für den Zweck erforderlich sind, zu SS 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 oder Daten nach SS 20 dem sie übermittelt wurden. 4Soweit die Abs. 3 Satz 1 erhoben wurden, entscheidet in Satz 3 genannten personenbezogenen eine besonders bestellte Beschäftigte oder ein Daten für diesen Zweck oder für eine rechtbesonders bestellter Beschäftigter, die oder mäßige zweckändernde Verwendung oder der mit der Auswertung nicht befasst war und Übermittlung nicht erforderlich sind, sind sie die Befähigung zum Richteramt hat. unverzüglich unter Aufsicht einer oder eines (3) Erweisen sich personenbezogene Daten 1 besonders bestellten Beschäftigten, die oder nach ihrer Übermittlung als unvollständig der die Befähigung zum Richteramt hat, zu oder unrichtig, so sind sie gegenüber der löschen. 5Die Löschung ist zu dokumentieren. empfangenden Staatsanwaltschaft oder 6 Die Verfassungsschutzbehörde ist unverzügPolizeibehörde unverzüglich zu ergänzen lich über die Löschung zu unterrichten. oder zu berichtigen, es sei denn, dass der (5) 1Die Polizeibehörden des Landes dürfen Mangel für die Beurteilung des Sachverhalts die Verfassungsschutzbehörde um Überoffensichtlich ohne Bedeutung ist. 2 Absatz 2 mittlung personenbezogener Daten ersugilt entsprechend. chen, wenn diese zur Abwehr einer Gefahr (4) 1Die empfangende Staatsanwaltschaft für die öffentliche Sicherheit erforderlich oder Polizeibehörde darf die übermittelten sind. 2Um Übermittlung personenbezogener 406 Anhang Daten, die von der Verfassungsschutzbehördarf die Verfassungsschutzbehörde nach de durch den Einsatz nachrichtendienstlicher Satz 1 Nr. 2 nur übermitteln, wenn die empMittel oder durch besondere Auskunftsfangende Behörde die personenbezogenen verlangen erhoben worden sind, darf nur Daten zur Abwehr einer im Einzelfall besteersucht werden, wenn die Voraussetzungen henden Gefahr für den Bestand oder die des Absatzes 1 Satz 2 vorliegen. 3 Die VerSicherheit des Bundes oder des Landes, für fassungsschutzbehörde ist verpflichtet, die Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für personenbezogenen Daten zu übermitteln; lebensoder verteidigungswichtige EinrichAbsatz 1 Sätze 5 und 6 sowie die Absätze 2 tungen (SS 1 Abs. 4 und 5 Nds. SÜG) oder für bis 4 gelten entsprechend. 4Sie darf nur solKulturdenkmale (SS 1 des Niedersächsischen che personenbezogenen Daten übermitteln, Denkmalschutzgesetzes), deren Erhaltung die bei ihr bereits bekannt sind oder von ihr im herausragenden öffentlichen Interesse aus allgemein zugänglichen Quellen entliegt, benötigt. 4SS 31 Abs. 1 Sätze 5 und 6 nommen werden können. sowie Abs. 2, 3 und 6 gilt entsprechend. (6) In der Verdachtsgewinnungsphase (SS 8) 5 Für die Übermittlung an Behörden des Lanist die Übermittlung personenbezogener des gilt auch SS 31 Abs. 4 entsprechend. 6An Daten nicht zulässig. Behörden des Bundes und anderer Länder darf nur übermittelt werden, wenn für die SS 32 empfangende Behörde den Vorschriften Übermittlung an sonstige Bedieses Gesetzes vergleichbare Datenschutzhörden und Stellen regelungen gelten. (2) 1 Die Verfassungsschutzbehörde darf (1) 1An sonstige inländische Behörden darf personenbezogene Daten an Dienststeldie Verfassungsschutzbehörde personenbelen der alliierten Streitkräfte übermitteln, zogene Daten übermitteln, wenn dies soweit dies im Rahmen der Zusammenar1. zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach SS 3 beit nach Artikel 3 des Zusatzabkommens Abs. 2 bis 4 erforderlich ist oder zu dem Abkommen zwischen den Parteien 2. die empfangende Behörde die persodes Nordatlantikvertrages über die Rechtsnenbezogenen Daten zu Zwecken der stellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Gefahrenabwehr benötigt. Bundesrepublik Deutschland stationierten 2 An Finanzämter darf die Verfassungsausländischen Truppen vom 3. August 1959 schutzbehörde personenbezogene Daten (BGBl. 1961 II S. 1183, 1218) erforderlich ist. auch übermitteln, wenn dies zu den in SS 51 2 Die Übermittlung ist zu dokumentieren und Abs. 3 der Abgabenordnung genannten der oder dem Landesbeauftragten für den Zwecken erforderlich ist. 3PersonenbezogeDatenschutz mitzuteilen. ne Daten, die durch den Einsatz nachrich(3) 1 Die Verfassungsschutzbehörde darf tendienstlicher Mittel oder durch besondere personenbezogene Daten im Einvernehmen Auskunftsverlangen erhoben worden sind, mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz 407 Anhang an ausländische öffentliche Stellen sowie an enthaltenen personenbezogenen Daten dürüberund zwischenstaatliche Stellen überfen ausschließlich zur Datenschutzkontrolle mitteln, soweit die Übermittlung in einem verwendet werden. 4Sie sind zu löschen, Gesetz, einem Rechtsakt der Europäischen wenn seit der Mitteilung gemäß Satz 7 ein Gemeinschaften oder einer internationalen Jahr vergangen ist, frühestens jedoch zwei Vereinbarung geregelt ist. 2Eine ÜbermittJahre nach der Dokumentation. 5Der Empfänlung darf auch erfolgen, wenn sie zum ger darf die übermittelten personenbezogeSchutz von Leib oder Leben einer Person nen Daten, soweit gesetzlich nichts anderes erforderlich ist und für die empfangende bestimmt ist, nur zu dem Zweck verarbeiten, Stelle gleichwertige Datenschutzregelunzu dem sie ihm übermittelt wurden. 6Er ist gen gelten. 3 Die Übermittlung unterbleibt, auf die Verarbeitungsbeschränkung und darwenn ihr auswärtige Belange der Bundesauf hinzuweisen, dass sich die Verfassungsrepublik Deutschland oder überwiegende schutzbehörde vorbehält, Auskunft über die schutzwürdige Interessen der betroffenen Verarbeitung der personenbezogenen Daten Personen, insbesondere deren Schutz vor zu verlangen. 7Die Übermittlung der persoeiner rechtsstaatswidrigen Verfolgung, nenbezogenen Daten ist der betroffenen entgegenstehen. 4 Die Übermittlung der Person durch die Verfassungsschutzbehörvon einer Ausländerbehörde empfangenen de mitzuteilen, sobald eine Gefährdung der personenbezogenen Daten unterbleibt, es Aufgabenerfüllung durch die Mitteilung nicht sei denn, die Übermittlung ist völkerrechtmehr zu besorgen ist. lich geboten. 5 Übermittlungen nach den Sätzen 1 und 2 sind zu dokumentieren und SS 32 a der oder dem Landesbeauftragten für den Übermittlung personenDatenschutz mitzuteilen. bezogener Daten für Angebote (4) 1Personenbezogene Daten dürfen an zum Ausstieg Personen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs nicht übermittelt werden, es 1 Die Verfassungsschutzbehörde darf persosei denn, dass dies zum Schutz vor Bestrebunnenbezogene Daten gen oder Tätigkeiten nach SS 3 Abs. 1 oder zur 1. an Polizeibehörden des Landes in entspreGewährleistung der Sicherheit von lebenschender Anwendung des SS 31 Abs. 1 oder verteidigungswichtigen Einrichtungen Sätze 5 und 6 sowie Abs. 2 bis 4 und 6, (SS 1 Abs. 4 und 5 Nds. SÜG) erforderlich ist 2. an sonstige inländische Behörden in und die Fachministerin oder der Fachminister, entsprechender Anwendung des SS 32 im Vertretungsfall die Staatssekretärin oder Abs. 1 Sätze 4 bis 6 und der Staatssekretär oder deren oder dessen 3. an in der Präventionsarbeit bewährVertreterin oder Vertreter, der Übermittlung te Stellen außerhalb des öffentlichen zugestimmt hat. 2 Jede Übermittlung ist zu Bereichs in entsprechender Anwendung dokumentieren. 3Die in der Dokumentation des SS 32 Abs. 4 Sätze 2 bis 7 408 Anhang übermitteln, soweit die empfangende Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG gespeicherten PerBehörde oder Stelle die personenbezogesonendatensätze darzustellen. nen Daten für Angebote zum Ausstieg aus (3) Bei der Aufklärung der Öffentlichkeit dürBestrebungen und Tätigkeiten nach SS 3 fen personenbezogene Daten nur bekannt Abs. 1 benötigt. 2Satz 1 gilt nicht für pergegeben werden, wenn die Bekanntgabe sonenbezogene Daten, die mit nachrichfür das Verständnis der Darstellung, insbetendienstlichen Mitteln oder besonderen sondere von Organisationen oder unorgaAuskunftsverlangen erhoben wurden, welnisierten Gruppierungen, erforderlich ist che der Mitteilungspflicht nach SS 22 Abs. 1 und das Interesse der Allgemeinheit das Sätze 1 bis 3 unterliegen. schutzwürdige Interesse der betroffenen Person überwiegt. SS 33 Aufklärung der Öffentlichkeit, Verfassungsschutzbericht Sechstes Kapitel Unabhängige Datenschutzkontrolle, (1) Die Verfassungsschutzbehörde kann die 1 Anwendung des Niedersächsischen Öffentlichkeit über Beobachtungsobjekte Datenschutzgesetzes und über Tätigkeiten nach SS 3 Abs. 1 Nr. 2 aufklären. 2Sie kann auch über VerdachtsSS 33 a objekte aufklären, wenn die den Verdacht Unabhängige Datenschutzkonrechtfertigenden tatsächlichen Anhaltstrolle punkte unter Berücksichtigung der Interessen der betroffenen Personen hinreichend (1) 1Die oder der Landesbeauftragte für gewichtig sind. den Datenschutz kontrolliert bei der Ver(2) 1Die Verfassungsschutzbehörde ist verfassungsschutzbehörde die Einhaltung der pflichtet, zur Aufklärung der Öffentlichkeit gesetzlichen Vorschriften über die Verareinen jährlichen Verfassungsschutzbericht beitung personenbezogener Daten (Datenvorzulegen, in dem auch die Summe der schutzvorschriften). 2 Die Einhaltung der Haushaltsmittel sowie die Gesamtzahl der gesetzlichen Vorschriften über die Verarbeiin der Verfassungsschutzabteilung Beschäftung von personenbezogenen Daten, die mit tigten nach Stellen und Beschäftigungsnachrichtendienstlichen Mitteln oder besonvolumen darzustellen sind. 2 Ferner sind deren Auskunftsverlangen erhoben wurden, in dem Bericht allgemein die Anwendung die der Mitteilungspflicht nach SS 22 Abs. 1 nachrichtendienstlicher Mittel nach SS 14, Sätze 1 bis 3 unterliegen, kontrolliert sie die besonderen Auskunftsverlangen nach oder er im Abstand von höchstens zwei JahSS 20, die Auskunftsersuchen nach SS 30 und ren. 3SS 57 Abs. 2 Nrn. 1 bis 9 NDSG gilt die Strukturdaten der von der Verfassungsentsprechend. schutzbehörde in Dateien im Sinne des SS 6 409 Anhang (2) 1Die Verfassungsschutzbehörde ist ver2. den Ausschuss für Angelegenheiten des pflichtet, die Landesbeauftragte oder den Verfassungsschutzes darüber unterrichten. Landesbeauftragten für den Datenschutz (4) Wenn der jährliche Tätigkeitsbericht der bei der Erfüllung ihrer oder seiner Aufgaben oder des Landesbeauftragten für den Datenzu unterstützen. 2Dabei ist insbesondere schutz die Verarbeitung personenbezogener 1. Auskunft zu Fragen sowie Einsicht in Daten durch die Verfassungsschutzbehörde alle Unterlagen, insbesondere in die berührt, nimmt die Landesregierung auch gespeicherten personenbezogenen Dadazu innerhalb von sechs Monaten gegenten und in die Datenverarbeitungsproüber dem Landtag Stellung. gramme, zu gewähren, die im Zusam(5) Die Absätze 1 bis 4 gelten entsprechend menhang mit der Datenschutzkontrolle für die Verarbeitung personenbezogener stehen, Daten durch andere Stellen auf der Grund2. jederzeit Zutritt in alle Diensträume zu lage von Vorschriften dieses Gesetzes, wenn gewähren. die Verarbeitung der Erfüllung der Aufgaben 3 Soweit im Einzelfall die Sicherheit des nach SS 3 dient. Bundes oder eines Landes gefährdet würde, dürfen die Rechte nach Satz 2 nur von SS 33 b der oder dem Landesbeauftragten für den Anwendbarkeit des NiedersächDatenschutz oder im Vertretungsfall von der sischen Datenschutzgesetzes Vertreterin oder dem Vertreter persönlich ausgeübt werden. Bei der Erfüllung der gesetzlichen Aufga(3) 1 Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass ben nach SS 3 findet das Niedersächsische eine beabsichtigte Verarbeitung personenDatenschutzgesetz keine Anwendung mit bezogener Daten gegen eine DatenschutzAusnahme der SSSS 24, 27, 29, und 33 Abs. 1 vorschrift verstößt, so kann die oder der bis 4, der SSSS 34 und 35 Abs. 1, der SSSS 36, Landesbeauftragte für den Datenschutz die 37, 38, 45, 54, 55 und 58 mit Ausnahme von Verfassungsschutzbehörde vor einer solchen Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 sowie der SSSS 59 und 60, Datenverarbeitung warnen. Stellt die oder 2 soweit nicht in diesem Gesetz abweichende der Landesbeauftragte für den Datenschutz Regelungen enthalten sind. im laufenden Betrieb einer Verarbeitung personenbezogener Daten einen Verstoß der Verfassungsschutzbehörde gegen eine DatenVierter Teil schutzvorschrift fest, so kann sie oder er Parlamentarische Kontrolle 1. den Verstoß gegenüber der Verfassungsschutzbehörde mit der Aufforderung beanstanden, innerhalb einer bestimmten Frist Stellung zu nehmen, und 410 Anhang SS 34 im Allgemeinen sowie über Vorgänge von Ausschuss für Angelegenheiten besonderer Bedeutung zu unterrichten. 2Es des Verfassungsschutzes unterrichtet insbesondere über 1. die Bestimmung eines BeobachtungsobDie parlamentarische Kontrolle auf dem jekts und die Verlängerung der BestimGebiet des Verfassungsschutzes übt unbemung (SS 6 Abs. 2), schadet der Rechte des Landtages und seiner 2. die Beendigung der Beobachtung und sonstigen Ausschüsse ein besonderer, vom Aufklärung eines Beobachtungsobjekts Landtag unverzüglich nach Beginn der Wahl(SS 6 Abs. 2 und 3), periode einzusetzender Ausschuss für Ange3. die beabsichtigte Bestimmung eines Belegenheiten des Verfassungsschutzes aus. obachtungsoder Verdachtsobjekts, in dem die Inanspruchnahme von VertrauSS 35 enspersonen angeordnet werden darf, Zusammensetzung und Verfahsowie die beabsichtigte Verlängerung rensweise des Ausschusses der Bestimmung (SS 21 Abs. 5), 4. den beabsichtigten Erlass oder die (1) 1Der Ausschuss für Angelegenheiten des beabsichtigte Änderung einer DienstVerfassungsschutzes soll aus mindestens vorschrift für den Einsatz nachrichtensieben Abgeordneten des Landtages bestedienstlicher Mittel (SS 21 Abs. 7) und hen. Mitglieder der Landesregierung kön- 2 5. die beabsichtigte Änderung des Vernen dem Ausschuss nicht angehören. 3Jede zeichnisses von VerarbeitungstätigkeiFraktion erhält mindestens einen Sitz. 4 Das ten nach SS 33 b in Verbindung mit Nähere regelt die Geschäftsordnung des SS 38 NDSG. Niedersächsischen Landtages. (2) Das Fachministerium unterrichtet den (2) Für die Verhandlungen des Ausschusses Ausschuss für Angelegenheiten des Verfasgelten die Vorschriften der Geschäftsordsungsschutzes in Abständen von längstens nung des Niedersächsischen Landtages, sechs Monaten über den Einsatz nachrichsoweit in diesem Gesetz nichts Abweichentendienstlicher Mittel, die der Mitteilungsdes bestimmt ist. pflicht nach SS 22 Abs. 1 Sätze 1 und 2 unterliegen. SS 36 (3) 1Das Fachministerium unterrichtet im Unterrichtungspflichten des Abstand von höchstens sechs Monaten Fachministeriums den Ausschuss für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes über die besonderen (1) 1Das Fachministerium ist verpflichtet, Auskunftsverlangen nach SS 20; dabei ist den Ausschuss für Angelegenheiten des insbesondere ein Überblick über Anlass, Verfassungsschutzes umfassend über seiUmfang, Dauer, Ergebnis und Kosten ne Tätigkeit als Verfassungsschutzbehörde der im Berichtszeitraum durchgeführten 411 Anhang Maßnahmen zu geben. 2Satz 1 gilt nicht für SS 38 Auskunftsverlangen zu einfachen BestandsBeauftragung einer oder eines daten nach SS 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1. Sachverständigen (4) Das Fachministerium unterrichtet das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundes 1 Der Ausschuss für Angelegenheiten des jährlich über besondere Auskunftsverlangen Verfassungsschutzes kann mit der Mehrzu Nutzungsdaten nach SS 20 Abs. 1 Satz 1 heit von zwei Dritteln seiner Mitglieder eine Nr. 2, Verkehrsdaten nach SS 20 Abs. 2 Satz 1 Sachverständige oder einen SachverstänNr. 3 und Daten nach SS 20 Abs. 3 Satz 1; dabei digen beauftragen, zur Wahrnehmung der ist ein Überblick über Anlass, Umfang, Dauer, Kontrollaufgaben des Ausschusses im EinErgebnis und Kosten der im Berichtszeitraum zelfall Untersuchungen durchzuführen. 2Die durchgeführten Maßnahmen zu geben. Landesregierung ist vor der Beauftragung der oder des Sachverständigen anzuhören. SS 37 3 Die oder der Sachverständige kann nach Aufhebung der VerschwiegenMaßgabe ihres oder seines Auftrages die heitspflicht dem Ausschuss nach Artikel 24 Abs. 2 der Niedersächsischen Verfassung vorgelegten (1) 1 Die Beschäftigten der VerfassungsAkten einsehen. 4 Die Einsicht in vertrauliche schutzbehörde dürfen sich in dienstlichen Unterlagen setzt voraus, dass sie oder er Angelegenheiten ohne Einhaltung des zuvor von der Landtagsverwaltung förmlich Dienstweges unmittelbar an den Ausschuss zur Geheimhaltung verpflichtet worden ist. für Angelegenheiten des Verfassungsschut- 5 Die oder der Sachverständige hat dem Auszes oder an einzelne Mitglieder des Ausschuss über das Ergebnis der Untersuchunschusses wenden. 2Einzelne Mitglieder des gen zu berichten. Ausschusses dürfen die nach Satz 1 erhaltenen Mitteilungen sowie die ihnen dazu vorSS 39 gelegten Unterlagen ausschließlich an den Beauftragung der oder des Ausschuss weitergeben. 3Sie dürfen dabei Landesbeauftragten für den von der Bekanntgabe des Namens der oder Datenschutz des Beschäftigten absehen. (2) 1Die Verhandlungen des Ausschusses Der Ausschuss für Angelegenheiten des Ver- 1 über Mitteilungen nach Absatz 1 und die fassungsschutzes hat auf Antrag von mindazu vorgelegten Unterlagen sind vertraudestens einem Fünftel seiner Mitglieder die lich im Sinne der Geschäftsordnung des NieLandesbeauftragte oder den Landesbeaufdersächsischen Landtages. 2Der Ausschuss tragten für den Datenschutz zu beauftragen, kann die Vertraulichkeit nach Maßgabe der die Rechtmäßigkeit einzelner Maßnahmen Geschäftsordnung des Niedersächsischen der Verfassungsschutzbehörde zu überprüLandtages einschränken oder aufheben. fen. 2Die oder der Landesbeauftragte für 412 Anhang den Datenschutz hat dem Ausschuss über SS 42 das Ergebnis der Prüfung zu berichten. Übergangsvorschrift SS 40 Auf Vertrauenspersonen, die am 31. OktoBerichterstattung des Ausschusber 2016 bereits in Anspruch genommen ses gegenüber dem Landtag werden, finden SS 16 Abs. 2 und SS 21 Abs. 5 erst am 1. Mai 2017 Anwendung. (1) Der Ausschuss für Angelegenheiten 1 des Verfassungsschutzes legt dem Landtag einmal jährlich einen Bericht über seine Tätigkeit vor. 2 Ausschussmitglieder, die den Bericht für unzutreffend halten, können ihre Auffassung in einem Zusatz zu diesem Bericht darstellen. (2) Der Ausschuss legt dem Landtag einmal jährlich einen Bericht über die Durchführung der nachrichtendienstlichen Mittel und besonderen Auskunftsverlangen vor, die der Mitteilungspflicht nach SS 22 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 unterliegen. Fünfter Teil Schlussvorschriften SS 41 Einschränkung von Grundrechten Aufgrund dieses Gesetzes können das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Abs. 1 des Grundgesetzes) und das Grundrecht auf Wahrung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10 des Grundgesetzes) eingeschränkt werden. 413 Anhang 11.3 Verbote neonazistischer Vereinigungen Verbotsverfüg. Vereinigung Verbotsbehörde 26.11.1992 Nationalistische Front (NF) Bundesministerium des Innern 08.12.1992 Deutsche Alternative (DA) Bundesministerium des Innern 18.12.1992 Deutscher Kameradschaftsbund Niedersächsisches (DKB) Innenministerium 21.12.1992 Nationale Offensive (NO) Bundesministerium des Innern 07.06.1993 Nationaler Block (NB) Bayerisches Staatsministerium des Innern 08.07.1993 Heimattreue Vereinigung Innenministerium des Landes Deutschlands (HVD) Baden-Württemberg 25.08.1993 Freundeskreis Freiheit für Innenministerium des Landes Deutschland (FFD) Nordrhein-Westfalen 10.11.1994 Wiking Jugend e. V. (WJ) Bundesministerium des Innern (auf Initiative des Niedersächsischen Innenministeriums) 24.02.1995 Freiheitliche Deutsche Bundesministerium des Innern Arbeiterpartei (FAP) (auf Initiative des Niedersächsischen Innenministeriums) 24.02.1995 Nationale Liste (NL) Behörde für Inneres Hamburg 05.05.1995 Direkte Aktion/MitteldeutschInnenministerium des land (JF) Landes Brandenburg 22.07.1996 Skinheads Allgäu Bayerisches Staatsministerium des Innern 14.08.1997 Kameradschaft Oberhavel Innenministerium des Landes Brandenburg 09.02.1998 Heide-Heim e. V. und Niedersächsisches Heideheim e. V. Innenministerium 10.08.2000 Hamburger Sturm Behörde für Inneres Hamburg 414 Anhang Verbotsverfüg. Vereinigung Verbotsbehörde 12.09.2000 Blood & Honour-Division Bundesministerium des Innern Deutschland mit Jugendorganisation White Youth 02.04.2001 Skinheads Sächsische Schweiz Sächsisches Staatsministerium (SSS) mit Skinheads Sächsische des Innern Schweiz - Aufbauorganisationen und Nationaler Widerstand Pirna 07.03.2003 Bündnis nationaler Sozialisten Innenministerium des Landes für Lübeck Schleswig-Holstein 19.12.2003 Fränkische Aktionsfront Bayerisches Staatsministerium des Innern 07.03.2005 Kameradschaft Tor Innensenator des Landes Berlin "Mädelgruppe" der Kameradschaft Tor 07.03.2005 Berliner Alternative Süd-Ost Innensenator des Landes Berlin (BASO) 06.04.2005 Kameradschaft Hauptvolk mit Innenministerium des Untergruppierung "Sturm 27" Landes Brandenburg 04.07.2005 Alternative Nationale StrausInnenministerium des berger DArt Piercing und Tattoo Landes Brandenburg Offensive (ANSDAPO) 26.06.2006 Schutzbund Deutschland Innenministerium des Landes Brandenburg 23.04.2007 Kameradschaft Sturm 34 Sächsisches Staatsministerium des Innern 01.04.2008 Blue White Street Elite (BWSE) Innenministerium des rechtsextremistisch beeinflusste Landes Brandenburg Hooligan-Vereinigung 07.05.2008 Collegium Humanum (CH) Bundesministerium des Innern 415 Anhang Verbotsverfüg. Vereinigung Verbotsbehörde 07.05.2008 Verein zur Rehabilitierung der Bundesministerium des Innern wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten (VRBHV) 31.03.2009 Heimattreue Deutsche Jugend Bundesministerium des Innern e. V. (HDJ) 28.05.2009 Mecklenburgische Aktionsfront Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern 05.11.2009 Frontbann 24 Innensenator des Landes Berlin 11.04.2011 Freie Kräfte Teltow-Fläming Innenministerium des (FKTF) Landes Brandenburg 30.08.2011 Hilfsorganisation für nationale Bundesministerium des Innern politische Gefangene und ihre Angehörigen e. V. (HNG) 19.06.2012 Widerstandsbewegung in Innenministerium des Südbrandenburg Landes Brandenburg 10.05.2012 Kameradschaft Walter Innenministerium des Landes Spangenberg Nordrhein-Westfalen 23.08.2012 Kameradschaft Aachener Land Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 23.08.2012 Kameradschaft Hamm Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 23.08.2012 Nationaler Widerstand Innenministerium des Landes Dortmund Nordrhein-Westfalen 25.09.2012 Besseres Hannover Niedersächsisches Innenministerium 12.02.2013 Nationale Sozialisten Döbeln mit Sächsisches Staatsministerium Division Döbeln, Initiative für des Innern Döbeln und Freies Döbeln sowie der Band INKUBATION 416 Anhang Verbotsverfüg. Vereinigung Verbotsbehörde 28.03.2014 Nationale Sozialisten Chemnitz Sächsisches Staatsministerium (NSC) mit Interessengemeindes Innern schaft Chemnitzer Stadtgeschichten und Aktionsgemeinschaft "Raus in die Zukunft" 02.07.2014 Freies Netz Süd Bayerisches Staatsministerium des Innern 10.12.2014 Autonome Nationalisten Innenministerium Göppingen Baden-Württemberg 27.10.2015 Sturm 18 e. V. Hessisches Ministerium des Innern 27.01.2016 Altermedia Deutschland Bundesministerium des Innern 16.03.2016 Weisse Wölfe Terrorcrew Bundesministerium des Innern 20.11.2019 Phalanx 18 Senator für Inneres der Freien Hansestadt Bremen 23.01.2020 Combat 18 Deutschland Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 23.06.2020 Nordadler (auch handelnd und Bundesministerium des Innern, auftretend unter den Bezeichfür Bau und Heimat nungen "Völkische Revolution", "Völkische Jugend", "Völkische Gemeinschaft" und "Völkische Renaissance") 01.12.2020 Sturm-/Wolfsbrigade 44 Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat 417 Anhang 11.4 Verbote von Reichsbürgervereinigungen Verbotsverfüg. Vereinigung Verbotsbehörde 19.03.2020 "Geeinte deutsche Völker und Bundesministerium des Innern, Stämme" (GdVuSt), einschl. für Bau und Heimat Teilorganisation "Osnabrücker Landmark" 11.5 Verbote linksextremistischer Vereinigungen Verbotsverfüg. Vereinigung Verbotsbehörde 25.08.2017 linksunten.indymedia Bundesministerium des Innern 418 Anhang 11.6 Übersicht über Verbotsmaßnahmen des BMI gegen extremistische Bestrebungen mit Bezug zum Ausland im Zeitraum Januar 1990 bis Dezember 2022 Organisation Verbotsverfügung Phänomenbereich Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)/Nationale 22.11.1993 AE Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) und Teilorganisationen, Föderation der patriotischen Arbeiterund Kulturvereinigungen aus Kurdistan in der Bundesrepublik Deutschland e. V. (FEYKA-Kurdistan), Kurdistan-Komitee e. V. Kurdistan Informationsbüro (KIB) alias Kurdis20.02.1995 AE tan Informationsbüro in Deutschland Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front 06.08.1998 AE (DHKP-C) Türkische Volksbefreiungspartei/-Front 06.08.1998 AE (THKP/-C) Kalifatstaat und 35 Teilorganisationen 08.12.2001 ISiT 14.12.2001 13.05.2002 16.09.2002 al-Aqsa e. V. 31.07.2002 ISiT Hizb ut-Tahrir (HuT) 10.01.2003 ISiT Yeni Akit GmbH, Verlegerin der Europa-Aus22.02.2005 ISiT gabe der türkisch-sprachigen Tageszeitung Anadoluda Vakit Bremer Hilfswerk e. V. 18.01.2005 ISiT Selbstauflösung mit Wirkung vom 29.06.2005 18.01.2005; Löschung im Vereinsregister am 29.06.2005 419 Anhang Organisation Verbotsverfügung Phänomenbereich YATIM-Kinderhilfe e. V. 162 30.08.2005 ISiT Mesopotamia Broadcast A/S, Roj TV A/S 13.06.2008 AE VIKO Fernseh Produktion GmbH 13.06.2008 al-Manar TV 29.10.2008 ISiT Internationale Humanitäre Hilfsorganisation 23.06.2010 ISiT e. V. (IHH) Millatu Ibrahim 29.05.2012 ISiT Dawa FM einschließlich der Teilorganisation 25.02.2013 ISiT Internationaler Jugendverein - Dar al Schabab e. V. an-Nussrah 25.02.2013 ISiT DawaTeam Islamische Audios 25.02.2013 ISiT Waisenkinderprojekt Libanon e. V. 02.04.2014 ISiT Islamischer Staat 12.09.2014 ISiT Tauhid Germany 26.03.2015 ISiT Zeitschrift "Yürüyüs" 06.05.2015 AE Die Wahre Religion (DWR) alias "LIES! 25.10.2016 ISiT Stiftung" / "Stiftung LIES" Mezopotamien Verlag und Vertrieb GmbH 12.02.2019 AE MIR Multimedia GmbH 12.02.2019 AE Hizb Allah (Betätigungsverbot) 26.03.2020 ISiT AE = Ausländerextremismus ISiT = Islamismus/islamistischer Terrorismus 162 Das BMI hatte am 03.12.2004 ein vereinsrechtliches Ermittlungsverfahren mit dem Ziel eines Verbots gegen das "Bremer Hilfswerk e. V." eingeleitet. Der Verein ist dem Verbot durch Selbstauflösung zuvorgekommen. 420 Anhang 11.7 Abkürzungsverzeichnis A ADÜTDF Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine (Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu) AfD Partei Alternative für Deutschland AG-GGG Die Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V. AKL Antikapitalistische Linke A.L.I. Antifaschistische Linke International APF Alliance for Peace and Freedom (Allianz für Frieden und Freiheit) AMG AL-Mustafa Gemeinschaft e.V. ANF Ajansa Nuceyan a Firate AQAH Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel AQI Al-Qaida im Irak AQIS Al Qaida auf dem indischen Subkontinent AQM Al-Qaida im islamischen Maghreb ATF Türkische Konföderation in Europa (Avrupa Türk Konfederasyon) ATIB Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (Avrupa Türk Islam Birligi) AWD Atomwaffen Division Deutschland B BfV Bundesamt für Verfassungsschutz BL Basisdemokratische Linke BMI Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, seit dem 08.12.2021 Bundesministerium des Inneren und für Heimat BMWK Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) BND Bundesnachrichtendienst BVerfGE Entscheidungssammlung des BVerfG BVerfSchG Bundesverfassungsschutzgesetz BzKJ Bundeszentrale für Kinderund Jugendmedienschutz (ehemals Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien) 421 Anhang C CA Ciwanen Azad (Freie Jugend) CDK Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa (Civata Demokratik Kurdistan) CFF Change for Future CIK Islamische Gemeinde Kurdistans CPT Europäisches Komitee zur Verhinderung von Folter D DIK Deutschsprachiger Islamkreis e. V. Hannover und Hildesheim DKP Deutsche Kommunistische Partei DHKP-C Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (Devrimci Halk Kurtulus Partisi Cephesi) DMG Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (vormals IGD) DMG Braunschweig Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e.V. in Braunschweig DVU Deutsche Volksunion DWR Die Wahre Religion E EG Ende Gelände ERNK Nationale Befreiungsfront Kurdistans F FAU Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union FCDK-Kawa Föderation der Demokratischen Gesellschaften Kurdistans e.V. (Saarland und Hessen) FCK Föderation der Gesellschaften Kurdistans e.V. (Baden-Württemberg und Bayern) fdGO freiheitliche demokratische Grundordnung 422 Anhang FED-DEM Demokratisches Gesellschaftszentrum der Kurdinnen in Nord Deutschland e.V FED-KURD Freie Föderation Ostdeutschland FED-MED Die Föderation der freiheitlichen Gesellschaft Mesopotamiens in NRW, FED-MED e.V. FFF Fridays for Future-Bewegung FfW Farben für Waisenkinder e.V. G GBA Generalbundesanwalt GdVuSt Geeinte deutsche Völker und Stämme GG Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland GI Generation Identitaire GIAZ Gemeinsames Informationsund Analysezentrum Polizei und Verfassungsschutz Niedersachsen G 10 Artikel 10-Gesetz GAM Gruppe ArbeiterInnenmacht H HAMAS Islamische Widerstandsbewegung (Harakat al-Muqawama alIslamiya) HDJ Heimattreue Deutsche Jugend e. V. HPG Volksverteidigungskräfte der PKK (Hezen Parastina Gel) HTS Hai'at Tahrir al-Sham (Organisation zur Befreiung der Levante) I IAA Internationale ArbeiterInnen Assoziation IB Identitäre Bewegung IBD Identitäre Bewegung Deutschland IfS Institut für Staatspolitik IGD Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (jetzt DMG) 423 Anhang IL Interventionistische Linke IS Islamischer Staat IZH Islamisches Zentrum Hamburg e.V. ISGS Islamischer Staat in der Größeren Sahara ISPK Islamischer Staat Provinz Khorasan J JA Junge Alternative JaN Jabhat al-Nusra (Unterstützungsfront für das syrische Volk) JFS Jabhat Fatah al-Sham (Front für die Eroberung der Levante) JN Junge Nationalisten JXK Verband der studierenden Frauen aus Kurdistan (Jinen Xwendekar en Kurdistan) K KADEK Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans KC Komalen Ciwan (Gemeinschaft der Jugendlichen) KCDK-E Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa KCK Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans KI Künstliche Intelligenz KIP NI Kompetenzforum Extremismusprävention Niedersachsen KKK Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan KON-MED Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e. V. KONGRA GEL Volkskongress Kurdistans (Kongra Gele Kurdistan) KPD Kommunistische Partei Deutschlands KPF Kommunistische Plattform der Partei DIE LINKE. KPMD-PMK Kriminalpolizeilicher Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität 424 Anhang L LfD Die Landesbeauftragte für den Datenschutz Niedersachsen LKA NI Landeskriminalamt Niedersachsen LPR NI Landespräventionsrat Niedersachsen M MB Muslimbruderschaft MHP Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetci Hareket Partisi) MIT Milli Istihbarat Teskilati, Türkischer ziviler Nachrichtendienst MLKP (türkische) Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (Marksist Leninist Komünist Partisi) MLPD Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands N NADIS Nachrichtendienstliches Informationssystem NATO North Atlantic Treaty Organization (Nordatlantikvertrag) NAV-YEK Zentralverband der Ezidischen Vereine e.V. NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands NPG Volksverteidigungskräfte der PKK (Navenda Parastina Gel) NPOG Niedersächsisches Polizeiund Ordnungsbehördengesetz NStrG Niedersächsisches Straßengesetz NVerfSchG Niedersächsisches Verfassungsschutzgesetz 425 Anhang O OLG Oberlandesgericht OPCW Organisation für das Verbot von Chemiewaffen P PKK Arbeiterpartei Kurdistans PMK Politisch motivierte Kriminalität PYD Partei der Demokratischen Union R RAC Rock Against Communism REVO Revolution RH Rote Hilfe e. V. S SAV Sozialistische Alternative S.H.A.E.F. Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces SKD Sonderkommando 1418 SP Sozialistische Perspektive SRP Sozialistische Reichspartei StGB Strafgesetzbuch T TCS Bewegung der revolutionären Jugend, ("Tevgera Ciwanen Soresger") TEKO-JIN Bewegung der jungen kämpferischen Frauen (Jinen Ciwan en Tekoser) THD Tanzim Hurras al-Din TJ Tablighi Jama'at 426 Anhang TKP/ML Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten (Türkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist) U uG Bündnis ...ums Ganze! Kommunistisches Bündnis V VRBHV Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten VS Verschlusssache VSA Verschlusssachenanweisung W WDR Women Defend Rojava (Kurdische Kampagne) WJ Wiking-Jugend X XR Extinction Rebellion Y YHK Union der Juristen Kurdistans YMK Union der kurdischen Lehrer YRK Union der Journalisten Kurdistans YXK Verband der Studierenden aus Kurdistan e. V. 427 Anhang 11.8 Personenund Stichwortverzeichnis A Amt für Menschenrecht | 129 Anarchismus | 137, 177 Abdulaziz Abdullah A., Ahmad | s. Abu Anarchisten | 136ff., 176f. Walaa Anarchosyndikalismus | 177f., 180 Abou Nagie, Ibrahim | 195, 215 Anastasia-Bewegung | 115, 117f. Abu Walaa | 240, 242 ANF (kurdische Nachrichtenagentur) | 276, Ajansa Nuceyan a Firate (ANF) | s. ANF 281f. Al-Baghdadi, Abu Bakr | 223f. Ansaar International e. V. | 211f. al-Banna, Hasan | 244 Antideutsche | 148, 150f. al-Kinani, Amir alias Abu Azma | 217ff. Antifaschismus | 139, 141, 144, 155, 174, al-Naba (Publikation) | 230 360 al-Nusra-Front | s. Jabhat Fatah al-Sham Antifaschistische Linke International (A.L.I.) al-Qaida | 230, 234, 236, 240 | 147, 149, 151, 179 al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel Antifaschistische Vernetzung Oldenburger (AQAH) | 222, 229 Land | 156 al-Qaida im Irak (AQI) | 223 Antifaschistisches Cafe Braunschweig | 112 al-Qaida auf dem indischen Subkontinent Antifeminismus | 42, 44f. (AQIS) | 222, 230 Antigentrifizierung | 139, 141, 144, 168, al-Qaida im islamischen Maghreb (AQM) | 175 221 Antiimperialisten | 148, 150 al-Shabab | 221 Antikapitalistische Linke (AKL) | 140 al-Suri, Abu Mus'ab | 234f. Antimilitarismus | 139, 142, 144, 171ff. AL-Mustafa Gemeinschaft e.V. (AMG) | 255 Antirassismus | 139, 174, 371 al-Zawahiri, Ayman | 223 Antirepression | 139, 144, 158, 161f. Alhambra (Publikation) | 143, 160 Antisemitismus | 42f., 73, 110, 123f., 189, Alliance for Peace and Freedom (APF) | s. 261f., 297, 301f., 368 Nationaldemokratische Partei Deutschlands Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) | 5, 8, 214, (NPD) 266ff., 270-281, 283-287, 289, 292f, 362, Allgemeines Syndikat der FAU Hannover | 369, 374 176-180 Armih, Ahmad | 195, 217 Almanya Demokratik Ülcücü Türk DernekleArtgemeinschaft | s. Die Artgemeinschaft ri Federasyonu (ADÜTDF) | 289f. - Germanische Glaubens-Gemeinschaft Altermedia | 417 wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V. Alternative für Deutschland (AfD) | 41, 87(AG-GGG) 99, 105, 107, 141, 155f., 175 428 Anhang Artikel 10-Gesetz | 20, 23f., 386, 391ff., Bundeszentrale für Kinderund Jugendme396 dienschutz (BzKJ, ehemals Bundesprüfstelle Atomwaffen Division Deutschland (AWD) für jugendgefährdende Medien) | 59, 65 | 72 Ausländerextremismus | s. Extremismus mit Auslandsbezug C Autonome | 7, 136, 138ff., 143-146, 150155, 157-162, 166, 168, 170ff., 174ff., 180, Change for Future (CFF) | 163f. 302 Castell Aurora | 91 avosTV | 104 Ciftci, Muhamed Seyfudin | 215f. Civata Demokratik Kurdistan (CDK) | 274 Ciwanen Azad (CA) | 276 B Collegium Humanum (CH) | 415 Combat 18 / Combat 18 Deutschland | 417 B-Werk (Musikband) | 59 COMPACT (Publikation) | 40, 91, 98 Baraa, Ahmad Abul | s. Ahmad Armih Basisdemokratische Linke (BL) | 148, 151, 154, 170f., 179 D Belatouani, Abdelilah alias Abu Rumaisa | 217f. Dabiq (Publikation) | 230, Bewegung der revolutionären Jugend (TCS) Dawa | 196, 204, 207, 209ff., 215f., 220 | 276f., 281 Delegitimierung des Staates | 4, 6f., 29, Bewegung der jungen kämpferischen Frau47f., 50ff., 54, 118, 297 en (TEKO-JIN) | 276f., 281 Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsBin Ladin, Usama | 221, 223, 226f. gefährdende Delegitimierung des Staates | Bismarcks Erben | 129 s. Delegitimierung des Staates Blood Brother Nation | 77 Demokratisches Gesellschaftszentrum der Blood & Honour | 415 KurdInnen in Nord Deutschland e.V. (FeBörm, Manfred | 100, 106 derasyona Civaka Demokratik a KurdistaniyBrigade 8 | 77 en le Bakure Alman) (FED-DEM) | 275 Bündnis ...ums Ganze! Kommunistisches Der Flügel | 40f., 93-99 Bündnis (uG) | 144, 148, 164 Der Sturmvogel - Deutscher Jugendbund | Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) | 115 20, 29, 80, 94f., 407 Der III. Weg | 40f., 57, 70, 74, 77, 107 Bundesministerium des Innern (BMI) | 127, Deutsche Kommunistische Partei (DKP) | 7, 209, 255, 271, 284, 414-419 137, 139f., 173 Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG, vormals IGD) | 197, 244, 246 429 Anhang Deutsche Stimme (Publikation) | 75, 100, Europäisches Komitee zur Verhinderung von 104f. Folter (CPT) | 283 Deutsche Volksunion (DVU) | 109f. EU-Terrorliste | 247, 268, 271 Deutschsprachige Muslimische GemeinEwiger Bund | s. Vaterländischer Hilfsdienst schaft e. V. in Braunschweig (DMG BraunExilregierung Deutsches Reich | 126 schweig) | 7, 196, 204, 210, 216-220 Extinction Rebellion (XR) | 164 Deutschsprachiger Islamkreis e.V. Hannover Extremismus mit Auslandsbezug | 5, 29, 33, (DIK Hannover) | 199 266-293, 314f., 369, 372 Deutschsprachiger Islamkreis Hildesheim e.V. (DIK Hildesheim) | 240, 242 Deutschsprachiger Muslimkreis Braun- F schweig e.V. | 246 Devrimci Halk Kurtulus Partisi Cephesi Fatime Versammlung e.V. | 255 (DHKP-C) | 269 Farben für Waisenkinder e.V. (FfW) | 255 Die Artgemeinschaft - Germanische Fast Forward Hannover | 151 Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Föderation der demokratischen GesellschafLebensgestaltung e.V. (AG-GGG) | 119 ten Kurdistans e. V. (FCDK-KAWA) | 275 Die Feder | 261f. Föderation der Freiheitlichen Gesellschaft DIE LINKE. | 137, 140f. Mesopotamiens in NRW e.V. (FED-MED Die Rechte | 6, 40f., 46f., 57, 68, 70, 74f., NRW) | 275 77, 103, 105-112, 156 Föderation der Gesellschaften Kurdistans Die Wahre Religion (DWR) | 209, 215 e.V. (FCK) | 275 Direkte Aktion (Publikation) | 176 Föderation der Türkisch-Demokratischen Drei-Säulen-Strategie | 102 Idealistenvereine in Deutschland e.V. Dschihad/Dschihadismus | s. Jihad (Almanya Demokratik Ülkücü Türk DemekDual-Use-Güter | 326 leri Federasyonu, ADÜTDF) | 289f. Fortress Europe Kongress | 111 Franz, Frank | 100, 103f. E Frauenfeindlichkeit | 42, 44 Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union Einladung zum Paradies | 195, 215 (FAU) | 164, 178ff. El-Azzazi, Ibrahim | 195, 217, 219 Freie Kurdistan Föderation Ostdeutschland En-Nahda | 184, 247 e.V. (FED-KURD) | 275 Entgrenzung | 51f., 54, 131f., 139f., 146, 167 Freiheitsund Demokratiekongress KurdisEnthemmung | 51 tans (KADEK) | s. Arbeiterpartei Kurdistans Entropie (Musikband) | 58 Fremdenfeindlichkeit (Begriff) | 42 Ermittlungsausschuss Dresden | 159 Freund*innen der kurdischen FreiheitsbeEthnopluralismus | 42, 80, 85 wegung |282 430 Anhang Fridays for Future-Bewegung (FFF) | 140, Heldengedenken | 76, 107, 112 162ff. Hilfsorganisation für nationale politische Frontmagazin (Publikation) | 57, 63 Gefangene und ihre Angehörigen e. V. FSN-TV | 75, 105 (HNG) | 416 Fylgien (Liedermacher) | 106 Hizb Allah | 184, 188, 197, 254ff., 259, 420 Höcke, Björn | 90, 94f., 97f. Hof Finkenberg | 46, 106, 108 G Holocaust (Leugnung/Relativierung) | 43, 110, 190, 416 G 10 | s. Artikel 10-Gesetz Hungrige Wölfe (Versand) | 66 Gai Dao (Publikation) | 176 Gassenraudi (Musikband) | 60, 65 Geeinte deutsche Völker und Stämme I (GdVuSt) | 127, 418 GegenUni | 91 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) | 3, Gefangenenhilfe | 212f. 40f., 48f., 56, 78ff., 91, 98, 105, 302 Geheimschutz | 334, 337ff., 343, 347ff. Imam-Mahdi-Zentrum | 255 Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan In/Progress Braunschweig | 148 (KKK) | s. Arbeiterpartei Kurdistans Indigenes Volk Germaniten | 129 Generation identitaire (GI) | 79 Inspire (Publikation) | 229, 234f. Geschichtsrevisionismus (Begriff) | 44 Institut für Staatspolitik (IfS) | 40, 91, 98 Giese, Daniel | 57, 62f., 67 Internationale ArbeiterInnen Assoziation Gigi / Stahlgewitter / Die Braunen Stadtmu(IAA) | 180 sikanten (Musikband) | 62 Interventionistische Linke (IL) | 4, 138, 142, Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) |163 144ff., 153, 159, 163f., 166, 168, 170ff., 176 ISD Records (Versand) | 66 H Islamfeindlichkeit | 80, 86, 94, 188, 247 Islamische Gemeinde Kurdistans (CIK) | 277 Hai'at Tahrir al-Sham (HTS) | 222, 423 Islamische Gemeinschaft in Deutschland HAMAS | s. Islamische Widerstandsbewe(IGD) | s. Deutsche Muslimische Gemeingung schaft e.V. Hannes (Musikband) | s. Ostendorf, Hannes Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS) Harzrevolte | 70f. | 184, 188, 247 Haverbeck-Wetzel, Ursula | 110 Islamischer Staat (IS) | 187, 194, 205, 208, Heimattreue Deutsche Jugend e. V. (HDJ) | 210, 214f., 222ff., 230ff., 234, 236f., 114, 119, 416 240ff., 268 Heise, Thorsten | 74, 103 431 Anhang Islamischer Staat in der Größeren Sahara Königreich Deutschland | 126f. (ISGS) | 226 Komalen Ciwan (KC) | 276 Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) | Kommunistischer Bund Westdeutschland 231 (KBW) |144 Islamisches Zentrum Hamburg e.V. (IZH) | Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) | 184, 197, 258ff. 18, 171, 376f. Islamismus (Begriff) | 185, 370 Kommunistische Partei der Türkei/MarxisIslamistische Radikalisierung | 7, 192, 196, ten-Leninisten (TKP/ML) | 269 204, 206, 209, 212, 215, 228f., 238ff., 243, Kommunistische Plattform (KPF) | 140 248, 312f., 317 Konföderation der Gemeinschaften KurIslamistischer Terrorismus | 220ff., 236ff., distans in Deutschland e. V. (KON-MED) | 362ff. 275f., 284 Islamschule Braunschweig | 215 Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa (KCDK-E) | 274f., 279 J Konvertiten, Konvertierte | 202 Konzerte | s. Musikveranstaltungen Jabhat al-Nusra (JaN) | s. Jabhat Fatah alKoordination der kurdisch-demokratischen Sham Gesellschaft in Europa (CDK) | 274 Jabhat Fatah al-Sham (JFS) | 222 Krass, Marcel | 217 Jihad/Jihadismus (Begriff) | 186, 373 Kvltgames | 91 Jihadistischer Salafismus | 201, 302 Jinen Ciwan en Tekoser (TEKO-JIN) | 276f. Junge Alternative (JA) | 40f., 87ff. L Junge Nationalisten (JN) | 70, 74, 77, 100, 103, 105ff., 111 Landser (Musikband) | 66 LIES! Im Namen Deines Herrn, der Dich erschaffen hat | 209f., 215 K Linksextremismus (Begriff) | 137ff., 370 Kalbitz, Andreas | 95, 97 Kampf um den organisierten Willen | 103 M Kampf um die Köpfe | 103 Kampf um die Parlamente | 103 Marxismus | 137, 144, 269 Kampf um die die Straße | 103 Marxistisch-Leninistische Partei DeutschKategorie C (Musikband) | 62f. lands (MLPD) | 137, 140, 144, 163, 173 Kategorie C (Versand) | 66 Kiese, Martin | 108, 111f. 432 Anhang Marxistisch-Leninistische Kommunistische N Partei der Türkei - Marksist Leninist Komünist Partisi (MLKP) | 269 Nahkampf (Musikband) | s. Kategorie C Med Nuce TV | 270 Nationaldemokratische Partei Deutschlands Mezopotamien Verlag und Vertrieb GmbH (NPD) | 6, 40 ff.,57, 65, 70, 74 f., 77, 100ff., | 284 367f. MIR Multimedia GmbH | 284 Nationale Befreiungsfront Kurdistans Muslim-Markt | 261 (ERNK) | 419 Muslimbruderschaft (MB) | 185, 188, 197, Nationalismus | 42, 79, 94, 99, 150, 287ff., 244ff. 291f., 371 Neonazismus (Begriff) | 40, 43, 47, 75 Neonazistische Kameradschaften | 43, 46 f., M 68, 109f. Neonaziszene | 43, 77 Marxismus | 137, 144, 269 Neue Rechte | 3, 6, 47, 49, 78f., 90, 98, 105 Marxistisch-Leninistische Partei DeutschNiedersächsisches Polizeiund Ordnungsbelands (MLPD) | 137, 140, 144, 163, 173, 425 hördengesetz (NPOG) | 24, 398ff. Marxistisch-Leninistische Kommunistische Niedersächsisches Straßengesetz (NStrG) | Partei der Türkei - Marksist Leninist Komü210, 229 nist Partisi (MLKP) | 269, 425 Niemann, Holger | 112 Med Nuce TV | 270 Nordadler | 73, 417 Mezopotamien Verlag und Vertrieb GmbH Nordic 12 | 76f. | 284, 420 NSM 88 (Versand) | 66 MIR Multimedia GmbH | 284, 420 Nuce Ciwan (kurdisches Medienportal) | MIT (Milli Istihbarat Teskilati, Türkischer 278, 281f. ziviler Nachrichtendienst) | nicht gefunden MHP (Milliyetci Hareket Partisi") | 287 Musikveranstaltungen | 55ff., 61, 65f., 75, O 269 Muslim-Markt | 260 Öcalan, Abdullah | 267f., 270ff., 276, 283, Muslimbruderschaft (MB) | 5, 184, 188, 285 197, 244ff. Offenkundiges | 261f. Okzident Media | 81 OPOS Records (Versand) | 66 Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) | 279, 281 Oskars Osna | 70f., 76 Osnabrücker Landmark e. V. | 418 433 Anhang Ostendorf, Hannes | 62ff., 66 Rebel Records (Versand) | 66 Rebell (Jugendorganisation der MLPD) | 163f., 173 P Rechtsextremismus (Begriff) | 41f., 371f. Redical [M] | 148, 151, 154, 159f., 164, 167, Pakistanzentrum Hannover | 250 171, 174 Partei der Nationalistischen Bewegung (MilReichsbürger | 3f., 6f., 40f., 47-52, 54, 63, liyetci Hareket Partisi - MHP) | 287 115, 121-132, 297, 302, 418 Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung Revisionismus | s. Geschichtsrevisionismus (Adalet ve Kalkinma Partisi - AKP) | 289, Revolution, Jugendorganisation (REVO) | 293 163 PC Records (Versand) | 66 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front Phalanx 18 | 417 (DHKP-C) - Devrimci Halk Kurtulus PartisiPhalanx Europa | 81, 91 Cephesi | 269, 419, 422 PKK | s. Arbeiterpartei Kurdistans Rock against Communism (RAC) | 56 Politischer Salafismus | 200, 204, 209 Rote Hilfe e. V. (RH) | 159, 161f. Politisch motivierte Kriminalität | 306, 311, Roth, Nico | 63f. 354ff. Rumiyah (Publikation) | 230, 234 Postautonome | 4, 139, 143ff., 152f., 302 Prävention | 32ff., 51, 72, 132, 296ff., 303ff., 327, 408 S Proliferation | 322, 326f. Salafismus | 188f., 194, 196ff., 200-204, 206f., 209, 213ff., 253, 302, 308, 373 Q Schanze Eins | 81 Scharia | 185f., 199, 222, 226, 230, 244, Querdenken, Querdenker | 3, 6, 47, 50, 52, 248f., 251-254, 370 54, 63, 86, 118 Schetinin, Michail Petrowitsch | 117f. Schild & Schwert-Festival | 61, 74 Schittke, Norbert Rudolf | 126 R Scientology-Organisation | 314, 316 Selbstverwalter | 40f., 49, 121-126, 129Race War (Musikband) | 66 132, 302 Radikalisierung | 7, 47f., 50ff., 64, 66, 72, SHAEF-Commander | s. Supreme Headquar77, 80, 142, 156, 192, 196, 204, 206, 209, ters Allied Expeditionary Forces (S.H.A.E.F.) 212, 215, 228f., 238ff., 248, 296-299, Skinheadkonzerte | s. Musikkonzerte 305f., 309-313, 317 Skinheads | 55, 414f. Rassismus (Begriff) | 42f., 371f. Sonderkommando 1418 (SKD) | 72 434 Anhang Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Union der kurdischen Lehrer (YMK) | 277 (SED) | s. DIE LINKE. Union der Türkisch-Islamischen KulturvereiSozialistische Alternative (SAV) | 173 ne in Europa (ATIB) | 289f. Sozialistische Perspektive (SP) | 148, 150 Sozialistische Reichspartei (SRP) | 18, 376 Stahlgewitter (Musikband) | s. Gigi V Sterka Ciwan | 270 Sturmfeste Hannover | 82 Vaterländischer Hilfsdienst | 129 Sturmvogel | s. Der Sturmvogel Verband der Studierenden aus Kurdistan Sturmzeichen-Verlag | 105 (YXK) | 277 Supreme Headquarters Allied Expeditionary Verband der studierenden Frauen aus KurForces (S.H.A.E.F.) | 127 distan (JXK) | 277 Verbote neonazistischer Vereinigungen | 414 T Verbote islamistischer Vereinigungen | 419 Verbote linksextremistischer Vereinigungen Tablighi Jama'at (TJ) | 184, 248ff. | 418 Tanzim Hurras al-Din (THD, "Organisation Verbote von Reichsbürgervereinigungen | der Wächter der Religion") | 222 418 Terrorismus | 4, 8, 28, 30, 196, 213, 220, Verein zur Rehabilitierung der wegen Be235, 236f., 241f., 255, 343, 354-358, 362f., streitens des Holocaust Verfolgten (VRBHV) 374 | 416 Tevgera Ciwanen Soresger (TCS) | 276f., Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans 281 (KCK) | s. Arbeiterpartei Kurdistans The Hoizers (Musikband) | 64 Verfassungsgebende Versammlung | 129 Türkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist Verfassungsschutzrelevante Delegitimie(TKP/ML) | 269 rung des Staates | 6, 47, 51f., 118 Türkische Konföderation in Europa (ATF) | Verlag Antaios | 40, 90, 98 s. Föderation der Türkisch-Demokratischen Völkische Gemeinschaft | s. Nordadler Idealistenvereine in Deutschland e.V. Völkische Jugend | s. Nordadler Völkische Renaissance | s. Nordadler Völkische Revolution | s. Nordadler U Völkischer Nationalismus | 94 Vogel, Pierre | 195, 208, 210, 215, 217 Ülkücü-Bewegung | 268, 286-293, 371f. Voice of Hind (Publikation) | 231 Union der Journalisten Kurdistans (YRK) | Voice of Khurasan (Online-Publikation) | 277 231 Union der Juristen Kurdistans (YHK) | 277 Völkische Siedler | 113f., 116f., 119f. 435 Anhang Volksgemeinschaft | 42, 48, 68, 77, 85, Wolfsbrigade 44 | s. Sturmbrigade 44 | 417 101, 114, 119 Wolves of Manhattan (Publikation) | 229 Volkskongress Kurdistans (Kongra Gele Women Defend Rojava (Kampagne, WDR) Kurdistan, KONGRA GEL) | s. Arbeiterpartei | 279f. Kurdistans Worch, Christian | 108ff., 112 Volksverteidigungskräfte der PKK (Hezen Parastina Gel, HPG) | 271 Y W Yeni Özgür Politika (YÖP) | 270 Waisenkinderprojekt Libanon e.V. | s. Farben für Waisenkinder e.V. | 255 Weigler, Sebastian | 100, 103, 105ff. Z Weisse Wölfe Terrorcrew | 417 Wiking-Jugend (WJ) | 114, 119, 414 Zentrum (Verein) | 98 Wirtschaftsschutz | 342-351, 377 Zillertaler Virenjäger (Musikband) | s. Gigi Wirtschaftsspionage | 342f., 377 436 Anhang 11.9 Ortsverzeichnis (Niedersachsen) Aurich | 276-277 Osnabrück | 68, 71, 91, 126, 143, 161, 241, Alfeld | 129 246, 253, 257, 275-276, 289-290 Bispingen | 115 Peine | 129, 276, 348 Bramsche | 126 Rotenburg (Wümme) | 91 Braunschweig | 7, 9, 46, 65, 68, 74, 83, Salzgitter | 253, 276, 290 103, 105, 109, 111, 118, 143, 148, 156, Stade | 164-165 158, 160, 196, 210, 214, 216-220, 246, Südniedersachsen (Region) | 68, 257 282, 289 Uelzen | 113-114, 116 Celle | 46, 106, 172, 241-242, 276, 283 Unterlüß | 142, 172-173 Delmenhorst | 190, 256, 260-261 Vechelde | 129 Eschede | 46, 65, 106, 108 Vechta | 277 Goslar | 71 Verden | 96-97, 276 Göttingen | 143, 147-151, 154, 156-157, Walsrode | 276 161-162, 164, 170, 173, 176, 178-180, 246, Wilhelmshaven | 164-165 253, 277, 282 Wolfsburg | 63, 246 Hameln | 125, 283, Handorf | 106 Hannover | 68, 74, 82, 88, 92, 96, 107, 126, 128-129, 140, 143, 147, 151, 157, 159, 161, 166-167, 173, 176, 178-180, 190-191, 199, 213, 237, 240-241, 246, 250, 257, 260, 262, 276-281, 283-285, 289-290, 311, 331, 346, 348 Harz (Region) | 68, 70-71, 74 Hildesheim | 46, 65, 68, 74, 111-112, 126, 129, 240, 242 Hützel | 115 Lemwerder | 76 Lilienthal | 62 Lüneburg | 106-107, 113-115, 128, 143, 173 Melle (Landkreis) | 76 Meppen | 57 Nienburg | 299 Oldenburg | 100, 127, 143, 156, 160-161, 169, 299, 349 437 Anhang 11.10 Verzeichnisanhang zum Verfassungsschutzbericht 2022 In diesem Verzeichnisanhang sind die im vorliegenden Verfassungsschutzbericht genannten Gruppierungen aufgeführt, bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, es sich mithin um eine extremistische Gruppierung handelt. Gruppierungen Seitenzahl al-Qaida und ihre weltweit agierenden Ableger (al-Qaida 221ff., 229, 230, 234, 236, auf der Arabischen Halbinsel (AQAH), al-Qaida auf dem 240 indischen Subkontinent ( AQIS), al-Qaida im islamischen Maghreb (AQM), al-Shabab, Hai'at Tahrir al-Sham (HTS, ehem. Jabhat al-Nusra), Tanzim Hurras al-Din (THD) Amt für Menschenrecht 129 Antifaschistische Linke International (A.L.I.) 147, 149, 151, 179 Antikapitalistische Linke (AKL) der Partei DIE LINKE. 140 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 5, 8, 214, 266ff., 270-281, 283-287, 289, 292f, 362, 369, 374, 419 Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft 119 wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V. Basisdemokratische Linke Göttingen (BL) 148, 151, 154, 170f., 179 Bewegung der jungen kämpferischen Frauen (TEKO-JIN) 276f., 281 Bewegung der revolutionären Jugend (TCS) 276f., 281 Bismarcks Erben 129 Blood & Honour 415 Blood Brother Nation 77 Brigade 8 77 438 Anhang Gruppierungen Seitenzahl Bündnis ...ums Ganze! Kommunistisches Bündnis (uG) 144, 148, 164 Civata Demokratik Kurdistan (CDK) 274 Ciwanen Azad (CA) 276 Collegium Humanum - Akademie für Umwelt und 415 Lebensschutz e. V. (CH) Combat 18 / Combat 18 Deutschland 417 Demokratisches Gesellschaftszentrum der Kurdinnen 275 und Kurden in Norddeutschland e.V. (FED-DEM) Der Flügel innerhalb der Partei Alternative für Deutsch40f., 93-99 land Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 7, 137, 139f., 173 Deutsche Stimme (Publikation) 75, 100, 104f. Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) 197, 244, 246 Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e.V. 7, 196, 204, 210, 216-220 in Braunschweig (DMG Braunschweig) Deutschsprachiger Islamkreis e.V. Hannover 199 (DIK Hannover) Deutschsprachiger Islamkreis Hildesheim e. V. 240, 242 (DIK Hildesheim) Deutschsprachiger Muslimkreis Braunschweig e.V. 246 Devrimci Halk Kurtulus Partisi Cephesi (DHKP-C) 269, 419 Die Feder 261f. Die Rechte 6, 40f., 46f., 57, 68, 70, 74f., 77, 103, 105-112, 156 En-Nahda 184, 247 Exilregierung Deutsches Reich 126 Fast Forward Hannover 151 439 Anhang Gruppierungen Seitenzahl Föderation der Freiheitlichen Gesellschaft Mesopotami275 ens in NRW e.V. (FED-MED NRW) Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenverei289f. ne in Deutschland e.V. (Almanya Demokratik Ülkücü Türk Demekleri Federasyonu, ADÜTDF) Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union (FAU) 164, 178ff. Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) s. Arbeiterpartei Kurdistans Gassenraudi (Musikband) 60, 65 Geeinte deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) 127, 418 Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan (KKK) s. Arbeiterpartei Kurdistans Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten 62 HAMAS 184, 188, 247 Hannes (Liedermacher) 62 ff., 66 Harzrevolte 70f. Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) 114, 119, 416 Hilfsorganisation f. nationale politische Gefangene und 416 deren Angehörige (HNG) Hizb Allah 184, 188, 197, 254ff., 259, 420 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) 3, 40f., 48f., 56, 78ff., 91, 98, 105, 302 Interventionistische Linke (IL) 4, 138, 142, 144ff., 153, 159, 163f., 166, 168, 170ff., 176 In/Progress 148 Islamische Gemeinde Kurdistans (CIK) 277 Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS) s. HAMAS 440 Anhang Gruppierungen Seitenzahl Islamischer Staat (IS) 187, 194, 205, 208, 210, 214f., 222ff., 230ff., 234, 236f., 240ff., 268 Junge Alternative (JA) 40f., 87ff. Junge Nationaldemokraten (JN) s. Junge Nationalisten Junge Nationalisten (JN) 70, 74, 77, 100, 103, 105ff., 111 Kategorie C 62f., 66 Komalen Ciwan (KC) 276 Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten 269 (TKP/ML) Kommunistische Plattform (KPF) der Partei DIE LINKE. 140 Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans 275f., 284 in Deutschland e. V. (KON-MED) Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft 274f., 279 Kurdistans in Europa (KCDK-E) Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft 274 in Europa (Civata Demokratik Kurdistan, CDK) Landser (Musikband) 66 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 137, 140, 144, 163, 173 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei 269 der Türkei (MLKP) Muslimbruderschaft (MB) 185, 188, 197, 244ff. Muslim-Markt 261 Nahkampf (Musikband) s. Kategorie C Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 6, 40ff.,57, 65, 70, 74f., 77, 100ff., 367f. 441 Anhang Gruppierungen Seitenzahl Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), s. Nationaldemokratische Landesverband Niedersachsen Partei Deutschlands (NPD) Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) 419 Nationalismus ist keine Alternative (NIKA) 425 Nordic 12 76f. Offenkundiges 261f. Oskars Osna 70f., 76 Pakistanzentrum Hannover 250 PC Records (Versand) 66 PKK s. Arbeiterpartei Kurdistans Race War (Musikband) 66 Redical [M] 148, 151, 154, 159f., 164, 167, 171, 174 Reichsbürger 3f., 6f., 40f., 47-52, 54, 63, 115, 121-132, 297, 302, 418 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) 269, 419 Rote Hilfe e. V. (RH) 159, 161f. Selbstverwalter 40f., 49, 121-126, 129-132, 302 Stahlgewitter (Musikband) s. "Gigi" Studierende Frauen aus Kurdistan (JXK) siehe Verband der studierenden Frauen aus Kurdistan (JXK) Tablighi Jama'at 184, 248ff. Türkische Konföderation in Europa s. Föderation der Türkisch(Avrupa Türk Konfederasyon, ATF) Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V. 442 Anhang Gruppierungen Seitenzahl Türkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist (TKP/ML) 269 Ülkücü-Bewegung 268, 286-293, 371f. Union der Journalisten Kurdistans (YRK) 277 Union der Juristen Kurdistans (YHK) 277 Union der kurdischen Lehrer (YMK) 277 Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa 289f. (ATIP) Verfassungsgebende Versammlung 129 Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK) 277 Verband der studierenden Frauen aus Kurdistan (JXK) 277 Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens 416 des Holocaust Verfolgten (VRBHV) Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans (KCK) s. Arbeiterpartei Kurdistans Volkskongress Kurdistan (KONGRA GEL) s. Arbeiterpartei Kurdistans Volksverteidigungskräfte der Arbeiterpartei 271 Kurdistans (HPG) Weiße Wölfe (Musikband) 417 443 Anhang 11.11 Bilderverzeichnis 18 pusteflower9024 - stock.adobe.com 20 MQ-Illustrations - stock.adobe.com 22 domoskanonos - stock.adobe.com 33 Niedersächsischer Verfassungsschutz 34 Niedersächsischer Verfassungsschutz 42 Pusteflower9024/shutterstock.com 58 CD-Cover "Entropie: Kapitel Zwei" 59 CD-Cover "B-Werk: Das Ende naht" 62 CD-Cover "Zillertaler Virenjäger: Endzeit Party" 63 CD-Cover "Kategorie C: Ruf der Götter" 63 CD-Cover "Hannes und Achim: Mut zur Freiheit" 70 Logo der "Oskars Osna" 79 Logo der IBD 85 Logo der Kampagne "Aktion Solidarität" 89 Logo der "Junge Alternative" 94 Logo "Der Flügel" 101 Logo der "NPD - Die soziale Heimatpartei" 110 Logo der Partei "Die Rechte" 127 Logos Geeinte Deutsche Völker und Stämme; aus Schreiben extrahiert 132 Niedersächsischer Verfassungsschutz 137 Logos der DKP und der MLPD 140 Logo der KPF 141 Logo der AKL 146 Logo der IL 147 Logo "Sozialistische Perspektive" 148 Logo des Bündnisses uG 148 Logo der Gruppierung "In/Progress" 149 Logo der A.L.I. 161 Logo der "Rote Hilfe" 171 Logo der "Redical [M]" 178 Logo der FAU 205 Kollage der Prediger, Screenshot des TikTok-Kanals der DMG Braunschweig 217 Logo der DMG Braunschweig 221 Prazis Images Artikel-ID 357864002/shutterstock.com 223 jihadology.net 226 Flagge der Taliban; https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Flag_of_the_Taliban.svg; Eigenes Werk 444 Anhang 229 Al-Qaida-Zeitschrift "Wolves of Manhattan", Titelbild dritte Ausgabe 230 Al-Qaida-Online-Zeitschrift "Mujahideen in the West" 231 IS-Online-Magazin "Voice of Khurasan" 233 The World in HDR, Artikel-ID 355924961 / shutterstock.com 244 Logo der "Muslimbruderschaft" 249 Logo der "Tablighi Jama'at" 257 Flagge der "Hizb Allah" 262 Plakat Al Quds-Tag 273 Logo der PKK in Europa 274 Logo des KCDK-E 276 Logos der "Jinen Ciwan en Tekoser" und der TEKO-JIN 283 Niedersächsischer Verfassungsschutz 287 Logo der "Ülkücü-Bewegung" 289 Logo der ADÜTDF 299 Landesfeuerverband Niedersachsen 300 Niedersächsischer Verfassungsschutz 301 Niedersächsischer Verfassungsschutz 302 Niedersächsischer Verfassungsschutz 306 Kompetenzforum Islamismusprävention Niedersachsen 307 Kompetenzforum Islamismusprävention Niedersachsen 313 Anja Weiss (Graphic Recording, Illustration & Grafik-Design) 314 Niedersächsischer Verfassungsschutz 315 Niedersächsischer Verfassungsschutz 316 Niedersächsischer Verfassungsschutz 317 Niedersächsischer Verfassungsschutz 323 Niedersächsischer Verfassungsschutz 326 Bundesamt für Verfassungsschutz 328 Bundesamt für Verfassungsschutz 329 Alexander - stock.adobe.com 331 Niedersächsischer Verfassungsschutz 334 Zerbor - stock.adobe.com 338 Niedersächsischer Verfassungsschutz 343 tashatuvango - stock.adobe.com 344 xiaoliangge - stock.adobe.com 346 Niedersächsischer Verfassungsschutz 348 Niedersächsischer Verfassungsschutz 349 Niedersächsischer Verfassungsschutz 351 Niedersächsischer Verfassungsschutz 445 Anhang Verteilerhinweis Diese Druckschrift wird von der Landesregierung Niedersachsen im Rahmen ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Unterrichtung der Öffentlichkeit herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für alle Wahlen. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist auch die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer Wahl darf die vorliegende Druckschrift nicht so verwendet werden, dass dies als Parteinahme des Herausgebers zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Diese Beschränkungen gelten unabhängig vom Vertriebsweg, also unabhängig davon, auf welchem Wege und in welcher Anzahl diese Informationsschrift dem Empfänger zugegangen ist. Den Parteien ist es gestattet, die Druckschrift zur Unterrichtung ihrer eigenen Mitglieder zu verwenden. (c) Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Herausgeber: Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport Presseund Öffentlichkeitsarbeit Lavesallee 6, 30169 Hannover Telefon: 0511 120-6255 Telefax: 0511 120-6555 Internet: www.mi.niedersachsen.de 446 Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport Presseund Öffentlichkeitsarbeit Lavesallee 6, 30169 Hannover Telefon: 0511 120-6258 Telefax: 0511 120-6555 Internet: www.mi.niedersachsen.de