Hessisches Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Bericht 2023 Hessisches Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Bericht 2023 INHALTSVERZEICHNIS ZU DIESEM BERICHT 5 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN 13 Freiheitliche demokratische Grundordnung 14 Aufgaben, Befugnisse, Mitwirkungsaufgaben 15 Methoden 18 Kontrolle 19 Strukturen, Organisation, Haushalt 21 Wesentliche institutionelle Elemente der Sicherheitsarchitektur auf Bundesebene und in Hessen 24 Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit 29 EXTREMISMUS IN HESSEN - EIN ÜBERBLICK 41 Wesentliche Eckpunkte 42 Rechtsextremismus 44 Reichsbürger und Selbstverwalter 51 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 53 Linksextremismus 53 Islamismus 57 Extremismus mit Auslandsbezug 61 Reaktionen von Extremisten auf den Terrorangriff der HAMAS gegen Israel 63 Organisierte Kriminalität (OK) 64 Spionageund Cyberabwehr/Wirtschaftsschutz 65 RECHTSEXTREMISMUS 67 Merkmale 68 Rechtsextremistisches Personenpotenzial 69 Rechtsterrorismus und schwere Gewaltstraftaten 71 Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen 74 Sonstige parteiunabhängige Strukturen 90 Lose strukturierter Rechtsextremismus 96 Parteigebundene Strukturen bzw. Parteien 111 Rechtsextremistische Strafund Gewalttaten 140 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER 143 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 155 2- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 INHALTSVERZEICHNIS LINKSEXTREMISMUS 161 Merkmale 162 Linksextremistisches Personenpotenzial 164 Autonome und Anarchisten 165 Sonstige Beobachtungsobjekte 181 Linksextremistische Strafund Gewalttaten 188 ISLAMISMUS 191 Merkmale 192 Islamistisches Personenpotenzial 195 SALAFISMUS 196 Legalistischer Islamismus 213 Sonstige Beobachtungsobjekte 235 Islamistische Strafund Gewalttaten 239 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG 241 Merkmale 242 Extremistisches Personenpotenzial mit Auslandsbezug 243 Kurdischer Extremismus 244 Türkischer Linksextremismus 253 Extremistische Strafund Gewalttaten mit Auslandsbezug 260 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL 261 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT 273 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ 277 GEHEIMSCHUTZ 287 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV 293 ANHANG 299 Abkürzungsverzeichnis 300 Glossar 309 Extremistische Organisationen und Gruppierungen 346 Register 349 Hessisches Verfassungsschutzgesetz (HVSG) 359 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 -3 ZU DIESEM BERICHT 4- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ZU DIESEM BERICHT Liebe Bürgerinnen und Bürger, unser Grundgesetz feiert in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen. Unsere Verfassung gibt uns ein stabiles Fundament für Demokratie, Freiheit und Wohlstand. Jedoch wird unser Fundament von inneren und äußeren Ereignissen erschüttert. Extremistische Kräfte radikalisieren sich in unserem Land. Und spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem Terrorakt der HAMAS auf Israel wird unser verfassungsrechtliches Fundament auch von außen angegriffen. Unsere Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie lebt vom aktiven Mitmachen und Gestalten seitens der Bürgerinnen und Bürger. Funktionsfähige staatliche Institutionen sichern und gewährleisten zudem unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Belastungen und Anfeindungen haben zugenommen. Nur ein paar / Beispiele der vergangenen Wochen: Demonstranten verschiedener extremistischer Lager skandieren bei propalästinensischen Veranstaltungen, die nach dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel zahlreich organisiert werden, antisemitische Parolen; Reichsbürger schmieden Pläne, um den Staat umzustürzen; Jugendliche grölen auf Partys fremdenfeindliche Slogans und verbreiten in Schulen rechtsextremistisches Gedankengut; unbekannte Täter schmieren migrantenfeindliche Parolen an Flüchtlingsunterkünfte; Islamisten fordern öffentlich die Einführung des Kalifats und der Scharia; "Wutbürger" zerstören die Wahlplakate demokratischer Parteien, beschimpfen Politikerinnen und Politiker und greifen sie sogar tätlich an; ein mutmaßlicher Islamist ersticht auf offener Straße einen Polizisten, der sich für andere Menschen und unseren demokratischen Rechtsstaat einsetzt. Die Bandbreite extremistischer Gefahren ist also groß und sie wächst weiterhin. Neben dem Rechtsund Linksextremismus ist auch der religiöse Extremismus präsent und gefährlich. Die größte Gefahr für unsere Demokratie geht unverändert vom Rechtsextremismus aus. Er muss konsequent bekämpft werden. Rechtsextremistische Organisationen erhalten unvermindert Zulauf, die Zahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten ist in Hessen erneut gestiegen. Dem bundesweiten Trend entsprechend hat in Hessen die Zahl der rechtsextremistischen Strafund Gewalttaten sogar einen neuen Höchststand erreicht. Bundesweit nimmt der offen sichtbare Rechtsextremismus zu. Er ist inzwischen auch in den Parlamenten angekommen. Der vorliegende Bericht des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) Hessen soll Sie über die Bedrohungen für unsere Demokratie inforHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 -5 ZU DIESEM BERICHT mieren und Ihnen helfen, extremistische Bestrebungen zu erkennen. Das ist durchaus nicht einfach. So versuchen Rechtsextremisten nahezu unmerklich die Dominanz über unsere Sprache und über die verwendeten Begriffe (Stichwort "Remigration") zu erobern. Vor allem die Neue Rechte will die Grenzen des Denkens und des Sagbaren nach "rechts außen" verschieben. Dabei bedienen sich Rechtsextremisten verschiedener manipulativer Techniken, die besonders in den sozialen Medien zum Tragen kommen. Als Demokratinnen und Demokraten müssen wir uns auch gegen die Verrohung unserer Sprache durch Extremisten wehren, da Sprache letztlich unser Handeln prägt. Wir müssen einen respektvollen und diskursorientierten, gewaltfreien Umgang miteinander einfordern und dabei gleichzeitig klar Position für unsere Demokratie beziehen: Extremismus darf in Hessen keinen Raum haben. Hat sich Hass einmal in den Köpfen festgesetzt, ist er kaum mehr zu bändigen und läuft Gefahr, in Gewalt zu münden. Dies zeigt die zunehmende Anzahl der gewalttätigen Angriffe auf politisch engagierte Menschen. So kam es 2023 in Hessen zu 319 entsprechenden Straftaten, was gegenüber dem Vorjahr einer Zunahme um 72 Prozent entspricht. Von mehr als 39.000 Beiträgen, die der Meldestelle HessenGegenHetze seit ihrer Einrichtung im Jahr 2020 gemeldet wurden, fallen 60 Prozent in den Bereich Hate Speech, etliche davon waren extremistisch motiviert. Um die Bearbeitungszeiten der bei HessenGegenHetze eingehenden Meldungen zu verkürzen, wird eine neue Software getestet. Die Meldestelle selbst wird in polizeiliche Strukturen eingegliedert. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, unsere Demokratie zu schützen, den unheilvollen extremistischen Bestrebungen Einhalt zu gebieten und diese Entwicklungen umzukehren. Wenn sich gewaltorientierte und extremistische Phänomene weiterhin ausbreiten, sind künftig auch im alltäglichen Miteinander schlimme Konfrontationen zu befürchten. Toleranz, Freiheit und Respekt müssen wieder zu allseits akzeptierten und selbstverständlichen Vokabeln bzw. Umgangsformen werden. Der demokratische Rechtsstaat geht mit Härte und Konsequenz gegen jede Form des Extremismus vor. Das reicht aber bei weitem nicht aus. Es gilt, in der Zivilgesellschaft die Resilienz gegen Extremismus zu stärken. So wird in Hessen zum Beispiel die Partnerschaft für Demokratie im Rahmen des Landesprogramms "Hessen - aktiv für Demokratie und gegen Extremismus" gefördert. Vor allem das LfV leistet einen unverzichtbaren Beitrag in der Extremismusprävention, die in der Zivilgesellschaft und vor allem im schulischen Bereich immer wichtiger wird. Dabei sind wir alle, das heißt als Staat und als Gesell6- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ZU DIESEM BERICHT schaft, gefordert, auch darauf zu achten, ob sich Menschen in unserem Umfeld, im Internet oder in den sozialen Medien radikalisieren. Als eine Konsequenz der rassistischen Morde in Hanau vom 19. Februar 2020 hat das LfV Umstrukturierungen angestoßen, um die Amokprävention in der behördlichen Organisation besser abzubilden. In Anlehnung an das Hessische Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum wird beim LfV die Geschäftsstelle für ein Amokpräventionszentrum eingerichtet, in dem ein enger Austausch der Sicherheitsbehörden stattfinden wird. Vor allem mit Blick auf den präventiven Schutz der Zivilgesellschaft vor extremistischen Bestrebungen ist die in diesem Jahr im LfV gestartete Präventionskampagne "Kein Raum für Antisemitismus" von großer Bedeutung. Sie ist ein Teil der Gesamtkampagne "Kein Raum für Extremismus". Das Forschungsprojekt "Antisemitismus als Querschnittsphänomen" beschäftigt sich mit der Frage, ob es ideologische Annäherungen zwischen Islamisten, Rechtsextremisten, Linksextremisten und Anhängern von Verschwörungsnarrativen gibt. Das Problem möglicher antisemitischer Schnittmengen ist besonders seit dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel virulent. Antisemitismus ist in Deutschland wieder erschreckend sichtbar geworden und vermischt sich mit "nicht eindeutig fassbaren ideologischen Feindschaften wie Antizionismus, Antiimperialismus, Antikolonialismus" (Rafael Seligmann). Es besteht die Gefahr, dass Extremisten verschiedener Couleur Zweckallianzen eingehen und versuchen, eine Brücke in die Mitte der Gesellschaft zu bauen, um viele andere Akteure und am Rande stehende Interessierte zu erreichen. Angesichts des Hasses und der Gewalt, die jüdischen Bürgerinnen und Bürgern bei uns vielfach entgegenschlagen, ist der Antisemitismus, so wie es der Historiker Rolf-Ulrich Kunze nennt, der "Lackmustest für Demokratiegefährdung". Als Demokratinnen und Demokraten, insgesamt als Zivilgesellschaft, wollen wir diesen "Test" aber bestehen. Wir sind aus tiefster Überzeugung der Werteordnung unseres Grundgesetzes verpflichtet und wir möchten in einem Land leben, in dem wir uns frei - zum Beispiel mit Kippa, Kreuz, Kopftuch oder anderen religiösen Symbolen - in der Öffentlichkeit zeigen können. Um einen Beitrag für die Sicherheit aller Menschen zu leisten, ist es wichtig, Extremisten ihre Waffen und Waffenerlaubnisse zu entziehen bzw. den Waffenbesitz von Anfang an zu verhindern. Im Rahmen der intensiven Zusammenarbeit zwischen dem LfV und den Waffenbehörden wurde im vergangenen Jahr 52 Extremisten waffenrechtliche Erlaubnisse entzogen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 -7 ZU DIESEM BERICHT Die von innen drohenden Gefahren werden flankiert durch Bedrohungen von außen. Im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine und der damit verbundenen hybriden Kriegsführung haben Desinformationskampagnen, Cyberangriffe und Spionage aus dem Ausland weiter zugenommen. Es kursieren vor allem in den sozialen Medien Fake News und Verschwörungsnarrative, die das Vertrauen unserer Bevölkerung in die Demokratie erschüttern sollen. Um den zahlreichen äußeren und inneren Bedrohungen zu begegnen, wurde bei einer Sitzung des Hessischen Sicherheitskabinetts am 17. Juni eine ganzheitliche Sicherheitsoffensive erarbeitet. Sie besteht aus folgenden Bausteinen: Kampf gegen Islamismus und Rechtsextremismus, bessere personelle und materielle Ausstattung der Sicherheitsbehörden, Schutz sämtlicher kritischer Infrastrukturen in Hessen, Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Stellen und die Optimierung der Abwehr hybrider Bedrohungen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LfV danke ich angesichts dieser Herausforderungen für Ihren unverzichtbaren Beitrag zur Wehrhaftigkeit unserer Demokratie. Ich ermuntere Sie, Ihre Arbeit nicht nur engagiert fortzuführen, sondern nach wie vor offen für neue Ideen, Konzepte, analytische Methoden und Technologie zu sein. Roman Poseck Hessischer Minister des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz 8- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ZU DIESEM BERICHT Liebe Bürgerinnen und Bürger, die Bedrohungen für unsere Demokratie - Extremismus, Desinformationskampagnen, Spionageund Cyberaktivitäten autoritärer Staaten - ändern ständig ihr Gesicht. Vor allem der Rechtsextremismus nimmt beträchtlich an Dynamik zu, entwickelt neue Facetten und erreicht sogar die Mitte der Zivilgesellschaft. Auch der Kontext, in den solche Bestrebungen eingebettet sind, ändert sich. Das gilt etwa für die Migrationsproblematik, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und den terroristischen Überfall der HAMAS auf Israel. Diese Bedingungen von innerer und äußerer Demokratiegefährdung müssen erkannt und genau beschrieben werden, um sie analysieren zu können. Das ist der entscheidende, auch selbstkritische Punkt: Nehmen wir / als Verfassungsschützer diese Bedingungen exakt wahr, ordnen wir sie in den richtigen Kontext ein und ist unsere Analyse korrekt? Vor allem: Garantieren unsere Instrumentarien, Arbeitsweisen und -abläufe sowie unsere internen Strukturen die adäquate Bearbeitung dieser Entwicklungen oder hinken wir dem Geschehen hinterher? Die Antwort lautet: Seit Jahren durchlaufen wir einen Prozess der Neuausrichtung. Wir stellen neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der verschiedensten Professionen ein und gewinnen dadurch neue Kompetenzen und Perspektiven. Wir definieren neue Ziele, richten uns operativer aus, bedienen uns neuer Ermittlungstechniken und verstärken den Erkenntnisund Erfahrungsaustausch mit anderen Behörden. Wir verbessern unsere Methodik der Informationsgewinnung, beziehen die immens wachsenden Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz in unsere Überlegungen ein und schärfen unsere analytischen Fähigkeiten. Mehr denn je fokussieren wir unsere Präventionsarbeit auf die zivilgesellschaftlichen Bereiche, in denen Aufklärung und Resilienz gegen extremistische Bestrebungen dringend geboten ist. So intensivieren und erweitern wir unter anderem die Zusammenarbeit mit Schulen und Universitäten und erschließen darüber hinaus weitere Formen und Felder der Präventionsarbeit. Dabei negieren wir etwaige Fehler nicht, sondern sprechen sie offen an, um im Rahmen einer adäquaten Fehlerkultur daraus einen Gewinn für die Zukunft zu ziehen. Sich nur mit tagesaktuellen extremistischen und sicherheitsgefährdenden Phänomenen zu beschäftigen, reicht nicht aus. Wir müssen "vor die Lage" kommen. Also entsteht gegenwärtig in der Phänomenbereichsübergreifenden wissenschaftlichen Analysestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (PAAF) des LfV eine Studie über das Thema "Antisemitismus als Querschnittsphänomen". Unter Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 -9 ZU DIESEM BERICHT dem Dach der Leitmarke "Kein Raum für Extremismus" wird untersucht, inwieweit der Antisemitismus Extremisten unterschiedlicher Lager als Brückennarrativ dient, um sich einander anzunähern oder sogar Allianzen zu schmieden. Dieses Phänomen der Schnittmengenbildung ist aus der Zeit der COVID-19-Pandemie bekannt und beförderte bereits damals antisemitische Narrative und Ressentiments. Ebenso wie aktuell der Nahostkonflikt Anlass für antisemitische Stereotype sowie entsprechende Strafund Gewalttaten gibt, ist zu vermuten, dass in Zukunft auch andere Themen wie etwa Queerfeindlichkeit ein weiteres Brückennarrativ für Extremisten bilden können. Diese Entwicklungen beobachten wir sehr sorgsam, da sie dazu beitragen, die Basis der extremistischen Fundamentalopposition gegen unsere freiheitliche Demokratie zu vergrößern. Ist der Rechtsextremismus unverändert die größte Gefahr für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung, so darf die vom Islamismus ausgehende Bedrohung nicht unterschätzt werden. Es besteht weiterhin eine hohe abstrakte terroristische Gefahr. Der sogenannte Islamische Staat entfaltet unvermindert rege und intensive Propagandaaktivitäten, die darauf zielen, allein handelnde Personen zu Gewalttaten zu inspirieren. Die Reaktionen auf einen Terrorakt wollen Islamisten dazu nutzen, die Zivilgesellschaft zu spalten, unsere Demokratie zu schwächen und einen Weg für eine neue islamistische Ordnung ("Kalifat") zu bahnen. Abgesehen von der Zunahme des rechtsextremistischen, auch gewaltorientierten Personenpotenzials sowie der rechtsextremistischen Strafund Gewalttaten bereiten insbesondere die Strategien und Aktivitäten der Neuen Rechten die größte Sorge. Sie versucht eine Brücke in die Zivilgesellschaft zu schlagen, während "klassische" Rechtsextremisten vor allem in den sozialen Medien und im Internet demokratiefeindliche Beiträge und Hass-Postings verbreiten. Soll die Gesellschaft auf diese Weise aufgestachelt und polarisiert werden, so agiert die Neue Rechte subtiler. Mittels einer scheinbar gemäßigten Sprache und weniger brachial vorgetragenen Inhalten will sie ihre Ideologie scheinbar harmlos und unverfänglich in der Mitte der Zivilgesellschaft verankern. Das ist überaus gefährlich, da die Sperren zwischen Rechtsextremismus und der demokratischen Zivilgesellschaft aufgeweicht werden und verfassungsfeindliche Positionen gesellschaftsfähig werden. Außerdem will die Neue Rechte vor allem Jugendliche und junge Erwachsene von der Notwendigkeit eines neuen "rechten Denkens" überzeugen, was umso gefährlicher ist, da die jungen Menschen eines Tages die Geschicke unseres Landes maßgeblich mitbestimmen werden. Da zudem das Thema "Kampfsport" einen Schmelztiegel für Rechtsextremisten unterschiedlicher Bereiche bildet, deren Gewaltorientierung fördert und zudem am 10 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ZU DIESEM BERICHT Kampfsport interessierte Nichtextremisten mit der Szene in Kontakt bringen kann, beobachtet das LfV auch diese Entwicklung sehr genau. Linksextremisten stellen vermehrt das Gewaltmonopol des Staates infrage, indem sie vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten vor allem im Internet und in ihrem sozialen Umfeld outen und teilweise Sachbeschädigungen an deren Wohnorten und Fahrzeugen begehen. Mit dem Thema "Antifaschismus" versuchen auch Linksextremisten eine Brücke in die demokratische Mehrheitsgesellschaft zu bauen, wobei sie zu verbergen versuchen, dass ihr "Kampf gegen rechts" in alter kommunistischer Manier mit dem Kampf gegen "Kapitalismus" und bürgerliche Demokratie einhergeht. Dabei besteht die Gefahr, dass Outings eine wechselseitige Eskalation zwischen Linksund Rechtsextremisten befeuern. Geheimdienste autoritärer Staaten betreiben ebenfalls das Geschäft der Manipulation und Eskalation. Vor dem Hintergrund der zunehmend unsicherer gewordenen weltpolitischen Lage - vor allem angesichts der russischen Militäraggression gegen die Ukraine und der Drohungen Chinas gegen Taiwain - haben sie ein verstärktes Interesse an Informationen, die die Politik und die Wirtschaft in Deutschland betreffen. Neben Spionage und Cyberangriffen auf IT-Systeme versuchen autoritäre Staaten überwiegend im Internet und in den sozialen Medien Einfluss auf die Meinungsbildung und die politischen Entscheidungen in Deutschland zu nehmen. Mittels Desinformationen bzw. Fake News soll die hiesige Bevölkerung verunsichert und durch emotionalisierte Kontroversen gespalten werden. Letztlich ist es das Ziel, das Vertrauen in die Demokratie und die staatlichen Stellen zu untergraben. Auch diese Bestrebungen stehen im Fokus des LfV. Insgesamt gilt es, die Resilienz der Gesellschaft gegen das Wirken autoritärer Regime und die von ihnen verbreiteten Narrative zu stärken. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des LfV, dass sie angesichts der nicht abreißenden Herausforderungen und Belastungen unermüdlich ihre Kraft und ihre Fähigkeiten zum Wohl der Menschen in Hessen und zum Schutz unserer freiheitlichen und demokratischen Werte einsetzen. Gleichzeitig stehen sie dem vieldimensionalen Veränderungsprozess des Verfassungsschutzes in Hessen offen gegenüber, gestalten ihn aktiv mit und entwickeln neue Ideen. Auch hierfür gilt mein herzlicher Dank. Bernd Neumann Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 11 ZU DIESEM BERICHT 12 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN - FREIHEITLICHE DEMOKRATISCHE GRUNDORDNUNG - AUFGABEN, BEFUGNISSE, MITWIRKUNGSAUFGABEN - METHODEN - KONTROLLE - STRUKTUREN, ORGANISATION, HAUSHALT - WESENTLICHE INSTITUTIONELLE ELEMENTE DER SICHERHEITSARCHITEKTUR AUF BUNDESEBENE UND IN HESSEN - ÖFFENTLICHKEITSUND PRÄVENTIONSARBEIT VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN FREIHEITLICHE DEMOKRATISCHE GRUNDORDNUNG Die unverzichtbaren Grundwerte des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaats der Bundesrepublik Deutschland gehen aus der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hervor. In ihr sind tragende Grundprinzipien festgeschrieben, die absolute Werte und unverzichtbare Schutzgüter sind. Resultierend aus den Erkenntnissen über das Scheitern der Weimarer Republik (1918 bis 1933) und aus den furchtbaren Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Terrorund Unrechtsregime (1933 bis 1945), ist die Demokratie in Deutschland heute streitbar und abwehrbereit. Die Demokratie ist willens und fähig, sich gegen Angriffe ihrer Feinde zu verteidigen. Der Verfassungsschutz hat hierbei die wichtige Funktion eines "Frühwarnsystems". AUF EINEN BLICK * Demokratie und Rechtsstaatlichkeit * Werteprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung * Garantie der Menschenwürde als Ausgangspunkt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit | Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist unsere Demokratie eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung. In ihr sind die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger garantiert; es ist jeder Bürgerin und jedem Bürger möglich, staatliche Entscheidungen durch unabhängige Gerichte nachprüfen zu lassen. Jede Bürgerin und jeder Bürger genießt Rechtssicherheit. Diese Ordnung gründet sich auf dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit, auf der Freiheit und Gleichheit aller Menschen, auf der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Gerichte. Werteprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung | Zu der im Grundgesetz (GG) zentral im Art. 21 Abs. 2 genannten freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die unabänderliche oberste Werteprinzipien als Kernbestand unserer Demokratie enthält, zählen: * die im GG konkretisierten Menschenrechte, * das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, 14 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN * die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, * das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, * die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, * die Unabhängigkeit der Gerichte und * der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft. Garantie der Menschenwürde als Ausgangspunkt | Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 17. Januar 2017 (2 BvB 1/13) auf den Antrag des Bundesrates, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands einschließlich ihrer Teilorganisationen als verfassungswidrig einzustufen und aufzulösen, Folgendes erklärt: "Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 GG beinhaltet die zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind. Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit. Auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte sind damit nicht vereinbar. Daneben sind im Rahmen des Demokratieprinzips die Möglichkeit gleichberechtigter Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung aller Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) konstitutive Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Hinsichtlich des Rechtsstaatsprinzips gilt dies für die Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt, die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte und das staatliche Gewaltmonopol". AUFGABEN, BEFUGNISSE, MITWIRKUNGSAUFGABEN Aufgabe des LfV ist, es den zuständigen Stellen zu ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu treffen. Darüber hinaus erstellt das LfV Lageberichte und Analysen. Zu diesem Zweck sammelt es Informationen - insbesondere in Form von Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 15 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen - über extremistische Bestrebungen und sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten und wertet diese aus. AUF EINEN BLICK * Gesetzliche Grundlage der Tätigkeit und Befugnisse des LfV * Definition des Begriffs "extremistische Bestrebungen" - Aufgaben * Befugnisse - Kein Einsatz von Zwangsmitteln * Mitwirkungsaufgaben des LfV Gesetzliche Grundlage der Tätigkeit und Befugnisse des LfV | Die Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes sind gesetzlich festgelegt. In allen Ländern bestehen hierfür eigene gesetzliche Grundlagen. In Hessen sind die Aufgaben und Befugnisse im Hessischen Verfassungsschutzgesetz (HVSG) geregelt. Darüber hinaus regelt das Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) die Aufgaben und die Rechtsstellung des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) sowie die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern. Das HVSG wurde durch das Gesetz zur Änderung sicherheitsrechtlicher Vorschriften und zur Umorganisation der hessischen Bereitschaftspolizei vom 29. Juni 2023 (GVBl. S. 456) geändert. Hierdurch wurde insbesondere den vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz vom 26. April 2022 (1 BvR 1619/17) aufgestellten, grundlegenden Anforderungen an die rechtlichen Befugnisse von Verfassungsschutzbehörden Rechnung getragen. Durch das HVSG in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Juli 2023 (GVBl. S. 614) wurden etwa besonders eingriffsintensive Methoden des LfV zur Informationsgewinnung, wie zum Beispiel der Einsatz von Vertrauensleuten, einer richterlichen Vorabkontrolle unterworfen. Auch wurden die Vorschriften zur Informationsübermittlung an andere Stellen neu strukturiert; die konkret an eine Informationsübermittlung zu stellenden Anforderungen unterscheiden nunmehr maßgeblich danach, an welche Stelle (Strafverfolgungsbehörden, Gefahrenabwehrbehörden oder sonstige öffentliche Stellen) Informationen übermittelt werden sollen. Definition des Begriffs "extremistische Bestrebungen" - Aufgaben | Extremistische Bestrebungen im Sinne des HVSG sind politisch bestimmte zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, die auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen. Darüber hinaus können unter bestimmten Voraussetzungen auch Verhaltensweisen 16 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln, extremistische Bestrebungen im Sinne des HVSG sein. Nicht extremistisch ist die kritische Auseinandersetzung mit Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, ohne dass diese Auseinandersetzung das Ziel der Beseitigung derselben verfolgt. Neben extremistischen Bestrebungen, die auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen, beobachtet das LfV * sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, * Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, * Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG), gerichtet sind, und * Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität (OK) im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Befugnisse - Kein Einsatz von Zwangsmitteln | Das LfV hat keine operativen Zwangsbefugnisse. Es darf zum Beispiel Personen weder vorladen noch festnehmen oder Durchsuchungen durchführen. Die Zusammenarbeit mit dem LfV beruht für Privatpersonen auf Freiwilligkeit. Um Maßnahmen, zu denen es selbst nicht befugt ist, darf das LfV die Polizei nicht ersuchen, was eine der Ausprägungen des Trennungsgebots zwischen Verfassungsschutz und Polizei darstellt. Mitwirkungsaufgaben des LfV | Neben den oben beschriebenen Aufgaben unterstützt das LfV im Bereich des Geheimund Wirtschaftsschutzes Behörden und Unternehmen mit seinen Erkenntnissen und seinem Wissen. Ebenso wirkt das LfV mit bei * Aufenthalts-/Einbürgerungsverfahren und * Zuverlässigkeitsüberprüfungen (unter anderem für die Bereiche Luftsicherheit, Atomkraftanlagen und nach dem Waffenund Sprengstoffrecht). Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 17 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN METHODEN Um mittels kontinuierlicher Beobachtung verfassungsschutzrelevante Bestrebungen und Tätigkeiten zu erkennen und in fundierten Analysen zu beschreiben, bedient sich das LfV verschiedener Methoden. Sie reichen von der Informationsgewinnung aus allgemein zugänglichen Quellen über das Verwenden technischer Mittel bis hin zum Einsatz von Vertrauensleuten. AUF EINEN BLICK * Informationserhebung auf der Grundlage allgemein zugänglicher Quellen * Informationserhebung mit nachrichtendienstlichen Mitteln Informationserhebung auf der Grundlage allgemein zugänglicher Quellen | Die zur Erfüllung seiner Aufgaben notwendigen Informationen gewinnt das LfV vornehmlich aus allgemein zugänglichen Quellen. Dazu gehören unter anderem * Publikationen, * Internetinhalte sowie * öffentliche Veranstaltungen. Informationserhebung mit nachrichtendienstlichen Mitteln | Verfassungsfeinde und andere Personen bzw. Gruppierungen, die dem Beobachtungsauftrag des LfV unterliegen, arbeiten oft konspirativ, das heißt, sie versuchen ihre wahren Ziele und Aktivitäten zu verschleiern oder geheim zu halten. Das Sammeln allgemein zugänglichen Materials durch das LfV und der Informationsaustausch mit anderen Behörden und anderen Stellen genügen deshalb zuweilen nicht, um ein vollständiges und sachgerechtes Bild von verfassungsfeindlichen Bestrebungen, geheimdienstlichen Tätigkeiten, sicherheitsgefährdenden Bestrebungen oder Aktivitäten der OK zu erhalten. Daher ist das LfV befugt, nachrichtendienstliche Mittel einzusetzen. Dazu gehören zum Beispiel: * die Überwachung des Brief-, Postund Fernmeldeverkehrs, * der Einsatz technischer Mittel zur Ortung von Mobilfunkendgeräten, * die kurzund langfristige Observation, * das Fertigen von Bildund Tonaufzeichnungen sowie * der Einsatz von verdeckten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie von Vertrauensleuten. Die Vertrauensleute gehören nicht dem Verfassungsschutz an, können aber Informationen über extremistische Bestrebungen liefern. Nachrichtendienstliche Mittel dürfen in Bezug auf personenbezogene Daten nur dann angewendet werden, wenn hierfür be18 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN stimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Die entsprechenden Regelungen sind unter anderem in den SSSS 5 ff. HVSG festgelegt. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel unterliegt gesetzlichen Schranken (SS 14 HVSG), wobei insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Bestimmte, vom Bundesverfassungsgericht als besonders eingriffsintensiv bewertete nachrichtendienstliche Mittel bedürfen nach dem novellierten HVSG einer richterlichen Vorabkontrolle, das heißt die Maßnahme muss vor ihrer Durchführung vom LfV bei Gericht beantragt und richterlich angeordnet werden. KONTROLLE Die Tätigkeit des LfV wird auf vielfältige Weise kontrolliert. Dies geschieht insbesondere durch die Parlamentarische Kontrollkommission Verfassungsschutz (PKV) des Hessischen Landtags. Die Regularien, welche die parlamentarische Kontrolle und die PKV als Institution betreffen, sind im Gesetz zur parlamentarischen Kontrolle des Verfassungsschutzes in Hessen (Verfassungsschutzkontrollgesetz) festgeschrieben. AUF EINEN BLICK * Wahl der PKV-Mitglieder aus der Mitte des Hessischen Landtags * Pflichten der Hessischen Landesregierung * Befugnisse der PKV * G-10-Kommission * Rechtsund Fachaufsicht * Weitere Kontrollen Wahl der PKV-Mitglieder aus der Mitte des Hessischen Landtags | Die Mitglieder der PKV werden vom Hessischen Landtag gemäß SS 1 Abs. 2 Verfassungsschutzkontrollgesetz aus seiner Mitte gewählt. Dieser bestimmt zugleich die Zahl der Mitglieder, die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der PKV. Die Beratungen der PKV sind geheim. Pflichten der Hessischen Landesregierung | Die Pflicht der Hessischen Landesregierung zur Unterrichtung der PKV sowie deren Befugnisse sind durch das Gesetz zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen vom 25. Juni 2018 (GVBl. S. 302), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. Juni 2023 (GVBl. S. 432), präzisiert und erweitert worden. Neben der umfassenden Unterrichtung der PKV durch das für den Verfassungsschutz zuständige Hessische Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz über die allgemeine Tätigkeit des LfV und über Vorgänge von besonderer Bedeutung Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 19 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN wird die PKV über weitere Sachverhalte informiert: so etwa über besondere Auskunftsersuchen, den verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Wohnraumüberwachung, die Ortung von Mobilfunkendgeräten und Observationen sowie den Einsatz von verdeckten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Vertrauensleuten (SS 7 und SSSS 9 bis 13 HVSG). Befugnisse der PKV | Jedes Mitglied der PKV kann die Einberufung einer Sitzung und die Unterrichtung der PKV verlangen. Darüber hinaus hat jedes Mitglied das Recht der Akteneinsicht; nach vorheriger Ankündigung ist jedem Mitglied der PKV jederzeit Zutritt zu den Dienststellen des LfV zu gewähren. Mit Zweidrittelmehrheit kann die PKV eine sachverständige Person mit der Durchführung von Untersuchungen beauftragen, die der PKV über das Ergebnis berichten muss; die PKV wird bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben durch eine Beamtin oder einen Beamten der Landtagsverwaltung mit Befähigung zum Richteramt unterstützt (ständige Geschäftsführerin oder ständiger Geschäftsführer). Darüber hinaus hat die PKV das Recht, den Haushaltsplan des LfV mitzuberaten. G 10-Kommission | Maßnahmen, die mit einem Eingriff in Art. 10 GG (Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis) verbunden sind, bedürfen der Zustimmung der G 10-Kommission des Hessischen Landtags. Rechtsund Fachaufsicht | Das Hessische Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz nimmt die Rechtsund Fachaufsicht über das LfV wahr, das heißt, es prüft die Rechtund Zweckmäßigkeit des Handelns des LfV, indem es dessen Aufgabenerledigung kontrolliert. Dies geschieht etwa mittels Strategieund Programmplanungen, Zielvereinbarungen, Besprechungen, Weisungen und Erlassen. Weitere Kontrollen | Darüber hinaus kontrollieren die oder der Hessische Datenschutzbeauftragte, der Hessische Rechnungshof und - mittelbar auf dem Wege der Berichterstattung und Kommentierung - die Medien die Tätigkeit des LfV. Die Speicherung personenbezogener Daten, Auskunftserteilungen und die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht, die das LfV zu Lasten Betroffener vornimmt, unterliegen darüber hinaus der vollständigen gerichtlichen Kontrolle. Verschiedene Maßnahmen des LfV zur Informationserhebung bedürfen zudem einer vorgeschalteten richterlichen Anordnung (die Wohnraumüberwachung, bestimmte Formen der Standortermittlung, langfristige Observationen sowie der Einsatz von verdeckten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Vertrauensleuten, vgl. SS 8 Abs. 1, SS 9 Abs. 3, SS 11 Abs. 4, SS 12 Abs. 3, SS 13 Abs. 1 i. V. m. SS 12 Abs. 3 HVSG). 20 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN STRUKTUREN, ORGANISATION, HAUSHALT Der Verfassungsschutz ist als Inlandsnachrichtendienst der Bundesrepublik Deutschland föderal organisiert. Der Bund und die 16 Länder unterhalten jeweils eigene Verfassungsschutzbehörden. AUF EINEN BLICK * Organisation * Anzahl der Planstellen - Ausgabenbudget Organisation | Als obere Landesbehörde untersteht das LfV dem Hessischen Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz. Das LfV hat seinen Sitz in Wiesbaden und gliedert sich in sechs der Amtsleitung unterstehende Abteilungen. An die Amtsleitung angebunden sind ebenso der Stab, die Interne Revision, der Geheimschutzbeauftragte sowie die Datenschutzbeauftragte. Darüber hinaus verfügt das LfV in Hessen über Außenstellen. Wie in jeder Behörde gibt es einen Personalrat, eine Schwerbehindertenvertretung und eine Gleichstellungsbeauftragte. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 21 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN 22 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Anzahl der Planstellen - Ausgabenbudget | Die Personalmittel sowie die Finanzmittel für Personalund Sachausgaben sind im Haushaltsplan des Landes Hessen ausgewiesen. Für das Jahr 2023 standen dem LfV 386 Planstellen zur Verfügung. Das Ausgabenbudget für das Jahr 2023 belief sich auf 36.890.400,Euro. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 23 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN WESENTLICHE INSTITUTIONELLE ELEMENTE DER SICHERHEITSARCHITEKTUR AUF BUNDESEBENE UND IN HESSEN Die Sicherheitsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland wurde in den letzten Jahren ausgebaut und modifiziert. Die Zielsetzung war hierbei, auf Gefahren und Bedrohungen flexibler und schneller reagieren zu können sowie Wissen und Kompetenzen verschiedener Sicherheitsbehörden zu bündeln. Relevante Informationen sollen unter Beachtung der jeweiligen Zuständigkeiten und gesetzlichen Vorgaben zusammengeführt und bewertet werden, ohne die organisatorische Trennung der Sicherheitsbehörden in Frage zu stellen. AUF EINEN BLICK * Kernelemente der bundesweiten Sicherheitsarchitektur * Hessisches Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (HETAZ) * Nationale Sicherheitsstrategie Kernelemente der bundesweiten Sicherheitsarchitektur | Die bundesweite Sicherheitsarchitektur besteht im Wesentlichen aus folgenden Einrichtungen: * dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus, * dem Gemeinsamen Internetzentrum (GIZ) und * dem Gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) zur Bekämpfung des Rechts-, Linksund auslandsbezogenen Extremismus sowie der Spionageabwehr einschließlich proliferationsrelevanter Aspekte. Am GTAZ in Berlin sind Vertreterinnen und Vertreter folgender Behörden beteiligt: * Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, * Bundeskriminalamt (BKA), * Bundesnachrichtendienst (BND), * Generalbundesanwaltschaft beim Bundesgerichtshof (GBA), * Bundespolizei (BPol), * Zollkriminalamt (ZKA), * Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), * Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) und die * Landeskriminalämter. Im GTAZ gibt es darüber hinaus zwei voneinander institutionell getrennte Einrichtungen: Die Nachrichtendienstliche (NIAS) und die 24 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Polizeiliche Informationsund Analysestelle (PIAS). NIASund PIASMitglieder kooperieren in verschiedenen Arbeitsgruppen eng miteinander, um bestimmte Fälle aktuell zu bearbeiten sowie Gefahrenprognosen und mittelbzw. längerfristige Analysen zu erstellen. Nach dem Vorbild des GTAZ arbeiten im GIZ Vertreterinnen und Vertreter des * BfV, * BKA, * BND, * BAMAD und * der GBA eng zusammen. Darüber hinaus steht das GIZ in ständigem Austausch mit den zuständigen Landesbehörden. Aufgabe der Vertreterinnen und Vertreter der am GIZ mitwirkenden Behörden ist die Beobachtung, Auswertung und Analyse von Veröffentlichungen mit islamistischen und jihadistischen Inhalten im InterHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 25 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN net, um frühzeitig extremistische und terroristische Strukturen und Aktivitäten zu identifizieren. Das GETZ ist als "Dachorganisation" für die Bekämpfung folgender Phänomenbereiche zuständig: * Rechtsextremismus/-terrorismus, * Linksextremismus/-terrorismus, * Extremismus mit Auslandsbezug und * Spionageabwehr und Proliferation. Die Federführung obliegt dem BfV und dem BKA. Die Koordinierte Internetauswertung (KIA) erfolgt beim BfV in Köln (Nordrhein-Westfalen). Am GETZ als Informationsund Kommunikationsplattform beteiligen sich - analog zu den Aufgaben des GTAZ - zur Bündelung der Fachexpertise und der Sicherstellung eines möglichst lückenlosen und schnellen Informationsflusses folgende Behörden: 26 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN * Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, * BKA, * BPol, * Europäisches Polizeiamt (Europol), * GBA, * Generalzolldirektion (GZD), * BND, * BAMAD, * BAMF, * Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) und * die Landeskriminalämter. Hessisches Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (HETAZ) | Das in Hessen 2019 konstituierte HETAZ hat seine Geschäftsstelle im LfV. Es fungiert als anlassbezogene Kommunikations-, Informationsund Kooperationsplattform unter ständiger Beteiligung des Hessischen Landeskriminalamts (HLKA), der Staatsanwaltschaft Frankfurt Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 27 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN am Main - Abteilung Staatsschutz, der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main sowie des LfV. Abhängig von konkreten Gefährdungsund Bedrohungssachverhalten werden Vertreterinnen und Vertreter weiterer Behörden, wie zum Beispiel von Polizeipräsidien und Kommunalverwaltungen, im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereichs und ihrer Zuständigkeit hinzugezogen. Ziel ist es unter anderem, einen abgestimmten, fortlaufenden und nachhaltigen Informationsaustausch mit kurzen Kommunikationswegen unter Berücksichtigung der gesetzlichen Übermittlungsvorschriften und des für den Verfassungsschutz und die Polizei geltenden informationellen Trennungsgebots zu gewährleisten. Durch Bündelung, Verdichtung und Bewertung der Informationen soll die Erkenntnislage der zuständigen Behörden verbessert und der Austausch über operative Maßnahmen in enger Kooperation erleichtert werden. Hieraus soll auch eine noch effektiver und effizienter als bisher gestaltete Strafverfolgung resultieren. Im Berichtsjahr fanden neun Sitzungen des HETAZ statt. Neben aktuellen Sachverhalten, die zum überwiegenden Teil den Phänomenbereich Rechtsextremismus betrafen, befasste sich das HETAZ auch mit den Auswirkungen des Nahostkonflikts auf die Lage in Hessen. Nationale Sicherheitsstrategie | Am 14. Juni 2023 stellte die Bundesregierung ihre "Nationale Sicherheitsstrategie" vor, wobei die Länder entgegen einer Bitte bzw. eines entsprechenden Beschlusses der 218. Herbstkonferenz der Innenminister und -senatoren (30. November bis 2. Dezember 2022) nicht an deren Erarbeitung beteiligt worden waren. Bei der Erstellung stand die Bundesregierung, so ein Beitrag auf der Internetseite des Bundesministeriums des Innern und für Heimat, im Austausch mit dem Deutschen Bundestag, mit Wissenschaftlern, Think-Tanks, Verbänden, Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen sowie mit Verbündeten und Partnern. Die "Nationale Sicherheitsstrategie" beschreibt vor allem, so die Bundesregierung, die Bedrohungen, denen Deutschland von außen ausgesetzt ist, und leitet daraus eine Politik der "Integrierten Sicherheit" ab: "Übergeordnetes Leitbild des Handelns der Bundesregierung ist der Schutz unseres Landes, dessen freiheitlicher demokratischer Grundordnung und unserer Werte". 28 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN ÖFFENTLICHKEITSUND PRÄVENTIONSARBEIT Extremisten verfolgen das Ziel, die Grundwerte unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beseitigen. Eine erfolgreiche gesellschaftliche Auseinandersetzung mit extremistischen Positionen und Aktivitäten kann jedoch nur dann gelingen, wenn die Bürgerinnen und Bürger sowie die Medien über sachgerechte Informationen verfügen. Um die Öffentlichkeit über extremistische Bestrebungen zu informieren und für deren Gefahren zu sensibilisieren, hat das LfV seine Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit in den letzten Jahren auf einem hohen Niveau etabliert. Die Präventionsinhalte werden dabei stets an den aktuellen Entwicklungen in den verschiedenen Phänomenbereichen ausgerichtet. AUF EINEN BLICK * Pressearbeit * Kontakt * Herbstgespräch * Hessischer Verfassungsschutzbericht * Präventionsarbeit im Allgemeinen * Aufklärende Prävention * Beratende Prävention * Zielgruppen * Kooperationspartner * Prävention im Kultusbereich * Prävention für Justiz und Polizei * Weitere Präventionsmaßnahmen * Rechtsextremistische Onlinebestrebungen im Fokus * Prävention im Zeichen des Nahostkonflikts * Meldestelle Hessen gegen Hetze * Informationsangebote des LfV * Prävention für die Wirtschaft * Präventionsarbeit in Zahlen * Kontakt und Internetpräsenz Pressearbeit | Knapp 100 Journalistinnen und Journalisten von verschiedenen Medien wandten sich im Berichtsjahr an die Pressestelle des LfV. Die Anzahl der Presseanfragen lag im unteren dreistelligen Bereich, wobei in Bezug auf die extremistischen Phänomenbereiche das Interesse am Rechtsextremismus und an der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter am größten war. Es folgten die Phänomenbereiche Islamismus und Linksextremismus. Kontakt | Die Pressestelle des LfV ist per E-Mail unter folgender Adresse erreichbar: pressestelle@lfv.hessen.de. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 29 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Herbstgespräch | Das 24. Herbstgespräch des LfV, das am 23. November im Museum Wiesbaden - Hessisches Landesmuseum für Kunst und Natur stattfand, widmete sich dem Thema "Extreme Gegnerschaft". Dabei ging es, so der Untertitel, um den "Kampf zwischen rechten und linken Verfassungsfeinden und die Folgen für unsere freiheitliche Demokratie". Abseits des eigentlichen Themas kamen auch der Terrorangriff der HAMAS auf Israel vom 7. Oktober und der sich als Konsequenz verstärkt in Deutschland artikulierende Antisemitismus zur Sprache: In ihren Reden verurteilten der Präsident des LfV, Bernd Neumann, und der damalige Staatsminister des Innern und für Sport, Peter Beuth, die Anschläge scharf. Peter Beuth sicherte den Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaft die Solidarität und Unterstützung der hessischen Sicherheitsbehörden zu: Die Sicherheit Israels und des jüdischen Lebens seien in der Bundesrepublik vollkommen zu Recht Staatsräson. Er betonte: "Auch ohne diese Staatsräson wären die Anfeindungen und Angriffe, die Jüdinnen und Juden in diesen Tagen erleben müssen, völlig inakzeptabel - sie sind mit unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung schlichtweg nicht vereinbar!" Mit Blick auf das Thema "Extreme Gegnerschaft" erklärten Bernd Neumann und Peter Beuth, dass Linksund Rechtsextremisten nicht nur gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und deren Vertreter agierten, sondern auch in sozialen Medien und Messengerdiensten Hass auf ihre jeweiligen politischen Gegner schürten, was bis hin zu Gewaltaufrufen reiche. Den Worten folgten immer wieder Gewalttaten. So seien allein im Jahr 2022 insgesamt knapp 300 Fälle gezählt worden, bei denen Rechtsextremisten oder Linksextremisten Gewalttaten gegen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsbzw. Linksextremisten verübten. Angesichts der zunehmenden Polarisierung in Teilen der Gesellschaft warnte Peter Beuth davor, dass sich Konflikte zwischen Rechtsund Linksextremisten weiter aufheizen könnten: "Wenn sich Radikalisierungsspiralen erst einmal zu drehen beginnen, kann das zu immer neuen Taten führen und damit in Gewaltspiralen münden". Den Rechtsextremismus bezeichnete er insbesondere aufgrund seiner Gewaltorientierung weiterhin als die größte Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung und die öffentliche Sicherheit. Als Beispiele für das Gewaltpotenzial, das sowohl dem Rechtsextremismus als auch dem Linksextremismus innewohnt und das sich vor allem beim Aufeinandertreffen der beiden Szenen mitunter in brutaler Weise entlädt, nannte Beuth zwei bundesweit beachtete Strafverfahren: das gegen die rechtsextremistische Kampfsportgruppe Knockout 51 und das gegen die aus Nordhessen stammende Links30 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN extremistin Lina E. und drei ihrer Mitstreiter. Diese Strafverfahren zeugten nicht nur von der Gewaltorientierung extremistischer Akteure, sondern auch von dem hohen Organisationsgrad, der teilweise hinter extremistisch motivierten Delikten steht. In der sich anschließenden Podiumsdiskussion wurden folgende Aspekte erörtert: Welche Folgen hat der extremistische "Freund-FeindAktivismus" für die freiheitliche Demokratie und die öffentliche Sicherheit? Wie werden entsprechende Aktionen und Veröffentlichungen im Internet rezipiert? Welche aktuellen Entwicklungen sind dabei festzustellen und wie gehen die Behörden damit um? Unter der Moderation von Thomas Kreutzmann (Journalist, Autor) brachten Ine Dippmann (Journalistin, MDR), Prof. Dr. Julian Junk (Extremismusforscher, Hessische Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit), Dr. Lars Otte (Ständiger Vertreter des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof) und Sinan Selen (Vizepräsident des BfV) als Podiumsgäste ihre jeweiligen Perspektiven auf das Thema ein. Sinan Selen äußerte sich besorgt über die Wechselwirkung zwischen rechtsextremistischer und linksextremistischer Gewalt: "Es ist eine Aufschaukelungsbewegung zu sehen, die schlussendlich tödlich enden wird". In Bezug auf die Gruppierung um Lina E. sagte er: "Leute - auch schwer - zu verletzen, ist das Ziel dieser Vereinigung gewesen". Ine Dippmann rief die in Ostdeutschland virulente rechtsextremistische Gewalt in den 1990er Jahren in Erinnerung. Diese werde in Teilen der linksextremistischen Szene noch heute als Legitimation dafür herangezogen, als letztes Mittel selbst "Militanz" einzusetzen. Julian Junk weitete den Blick über den Aspekt der Gewalt hinaus und erklärte, dass die wechselseitige "Gegnerschaft" in rechtsund linksextremistischen Milieus zu Mobilisierungseffekten führen und die extremistischen Szenen insgesamt stärken könne. Vor dem Hintergrund der erfolgreichen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden und Zivilgesellschaft blicke er aber nicht pessimistisch in die Zukunft. Man stehe den Entwicklungen nicht hilflos gegenüber: "Wir wissen, was wir tun können, etwa in der Prävention". Hessischer Verfassungsschutzbericht | Im Mittelpunkt der Unterrichtung der Öffentlichkeit steht der vom Hessischen Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz herausgegebene jährliche Verfassungsschutzbericht. Er informiert über die wesentlichen während des Berichtsjahrs gewonnenen Erkenntnisse des LfV und bewertet diese. Präventionsarbeit im Allgemeinen | Die hohe Nachfrage nach Präventionsveranstaltungen beim LfV belegt deutlich die Notwendigkeit der Extremismusprävention, die seit 2018 im HVSG explizit als Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 31 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Aufgabe des LfV gesetzlich geregelt ist. Das LfV wurde dadurch in seiner Funktion als Frühwarnsystem und Dienstleister der Demokratie gestärkt. Um die konsequente Stärkung der Prävention auch organisatorisch zu verankern, wurde 2020 die Abteilung 6 (Prävention und phänomenübergreifende Analyse) geschaffen. Darin spiegelt sich das Selbstverständnis des LfV wider, auch im öffentlichen Raum präsent zu sein. In der Abteilung 6 ist außerdem die seit 2016 bestehende Phänomenbereichsübergreifende wissenschaftliche Analysestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit angesiedelt. Letztere führt regelmäßig eigene wissenschaftliche Forschungsprojekte in den Themenbereichen "Antisemitismus" und "Fremdenfeindlichkeit" durch. Sie dienen nicht nur der internen Beratung, sondern deren Ergebnisse werden auch für eine breitere Öffentlichkeit publiziert und fließen in die Präventionsveranstaltungen des LfV ein. Neben den etablierten Präventionsangeboten wie zielgruppenorientierte Sensibilisierungsveranstaltungen (aufklärende Prävention) und Beratungsleistungen in konkreten Fällen (beratende Prävention) hat das LfV in den letzten Jahren zahlreiche auf langfristige Zusammenarbeit angelegte Kooperationen forciert, um für die Gesellschaft ein aktiver Partner und Dienstleister im Umgang mit Extremismus zu sein. So beteiligte sich das LfV im Berichtsjahr an öffentlichen Veranstaltungen, zum Beispiel im Rahmen von Podiumsdiskussionen und Vorträgen. Ziel war es, am gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben und als Ansprechpartner zu fungieren, insbesondere auch hinsichtlich einer kritischen Auseinandersetzung mit Sicherheitsbehörden. Aufklärende Prävention | Um einen relevanten Beitrag zur Immunisierung der Gesellschaft gegen Extremismus zu leisten, versucht das LfV, möglichst viele Menschen sowohl in staatlichen als auch nichtstaatlichen Stellen über Gefahren, die von extremistischen Bestrebungen ausgehen, aufzuklären. Das LfV bietet zu sämtlichen extremistischen Phänomenbereichen Fortbildungen an, bei denen es über Ideologiemerkmale, Erscheinungsformen, (Verschwörungs-) Narrative, Strategien und Anhaltspunkte für Radikalisierung informiert. Die Veranstaltungsteilnehmerinnen und -teilnehmer sollen damit in die Lage versetzt werden, extremistische Bestrebungen, die ihnen möglicherweise im Alltag begegnen, zu erkennen. Das LfV informiert darüber hinaus bestimmte Bedarfsträger, wie zum Beispiel den Kultusbereich oder Kommunen, anlassbezogen über aktuelle Entwicklungen wie Kampagnen und Aktionsformen in den verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen. 32 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Beratende Prävention | Um den Bedarfsträgern Handlungssicherheit im Erkennen von und im Umgang mit extremistischen Bestrebungen zu vermitteln, bietet die beratende Prävention ergänzend zur aufklärenden Prävention einzelfallbezogene Beratungsleistungen an. Mit dieser Zielrichtung wendet sich das LfV insbesondere an Schulen, die von einem extremistischen Sachverhalt betroffen sind, und bietet Aufklärung, Beratung und Unterstützung an. So führte das LfV erstmals Formate im Bereich der pädagogischen Aufklärung an Schulen durch, um an der Aufklärung rechtsextremistischer Sachverhalte mitzuwirken. Zielgruppen | Eine der wichtigsten Zielgruppen der Präventionsarbeit sind Multiplikatoren im Bereich der (Jugend-)Bildung, wie zum Beispiel Lehrkräfte. Seit 2009 ist das LfV durch die Hessische Lehrkräfteakademie als Anbieter von Fortbildungen akkreditiert. Das Fortbildungsangebot kann über die Staatlichen Schulämter oder auch von einzelnen Schulen wahrgenommen werden. Darüber hinaus sind besonders die hessischen Kommunen wichtige Partner bei der Extremismusprävention. Das LfV ist - zusätzlich zu den angebotenen Vorträgen für und mit Kommunen - in zahlreichen kommunalen Präventionsgremien vertreten, arbeitet eng mit diesen zusammen und steht den Gremien als direkter Ansprechpartner zur Verfügung. Ein weiterer Schwerpunkt der Fortbildungsmaßnahmen liegt in den Bereichen Polizei und Justiz. Weitere Adressaten sind unter anderem Feuerwehren, Bundeswehr, Bildungseinrichtungen, zivilgesellschaftliche und religiöse Träger sowie Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Neben den etablierten Bedarfsträgern arbeitet das LfV immer wieder mit neuen Zielgruppen zusammen und erweitert das Präventionsangebot stetig. In diesem Zusammenhang sucht das LfV den regelmäßigen Erfahrungsaustausch mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren oder Vertreterinnen und Vertretern von Behörden. Das LfV will in der Lage sein, verschiedene Perspektiven in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen einzunehmen, die für die Radikalisierung von Menschen mitursächlich sein können. Im Zentrum der Präventionsarbeit des LfV befinden sich Nachhaltigkeit und Kontinuität. So stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LfV den Bedarfsträgern auch im Anschluss an Sensibilisierungsveranstaltungen oder Projekte als Ansprechpartner zur Verfügung. Der Erfolg der vertrauensvollen Zusammenarbeit hat sich in den Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 33 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN letzten Jahren in vielen Folgeveranstaltungen und Weiterempfehlungen des Angebots gezeigt. Kooperationspartner | Das LfV ist bei der Bekämpfung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen eng mit dem Hessischen Informationsund Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) und den zivilgesellschaftlichen Trägern vernetzt. Im Rahmen des organisationsund ressortübergreifenden Ansatzes ist das LfV in der Lenkungsgruppe des HKE vertreten. Das HKE ist über www.hke.hessen.de erreichbar. Das LfV gehört darüber hinaus dem Expertenpool des landesweiten beratungsNetzwerks hessen - Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus an. In dem Expertenpool sind staatliche Institutionen und zivilgesellschaftliche Initiativen miteinander vernetzt. Das beratungsNetzwerk hessen - Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus ist über www.beratungsnetzwerk-hessen.de erreichbar. Zudem ist das LfV Mitglied im Fachbeirat des Hessischen Präventionsnetzwerks gegen Salafismus. Das 2014 gegründete Netzwerk war das erste landesweite Präventionsprojekt gegen Salafismus in Deutschland. Im Mittelpunkt des Präventionsnetzwerks steht die Beratungsstelle Hessen - Religiöse Toleranz statt Extremismus, die beim zivilgesellschaftlichen Träger Violence Prevention Network (VPN) angebunden wurde. Die Ausstiegshilfe und -begleitung von islamistisch Radikalisierten sowie die Beratung des sozialen Umfelds dieser Personen stehen im Zentrum der Arbeit der Beratungsstelle Hessen. Über das Landesprogramm "Hessen - aktiv für Demokratie und gegen Extremismus" wurden seit 2020 in Landkreisen, kreisfreien Städten und Sonderstatusstädten Fachstellen für Demokratieförderung und phänomenübergreifende Extremismusprävention (DEXT) eingerichtet. Die DEXT-Fachstellen sind auf lokaler und regionaler Ebene Ansprechpartner in Bezug auf alle extremistischen Phänomenbereiche. Die Schwerpunkte der Arbeit orientieren sich am jeweils örtlichen Bedarf. Das LfV hat eine sehr gute und verstetigte Zusammenarbeit mit den DEXT-Fachstellen etabliert und führte eine Vielzahl an Fortbildungen und öffentlichen Veranstaltungen durch, insbesondere für Mitarbeiter kommunaler öffentlicher Stellen sowie für die Zivilgesellschaft. Mittels der DEXT-Fachstellen können anlassbezogene Infor34 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN mationen des LfV über extremistische Entwicklungen noch gezielter an die Bedarfsträger vor Ort weitergegeben und somit die regionale Vernetzung in Sachen Extremismusprävention gestärkt werden. Durch die Zusammenarbeit mit den DEXT-Fachstellen konnte das LfV seine regionale Präsenz deutlich erhöhen. Die Ansprechpartner der DEXT-Fachstellen sind über www.hke.hessen.de, das heißt die Homepage des HKE, erreichbar. Prävention im Kultusbereich | Zusammen mit dem Hessischen Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen sowie mit dem HKE setzte das LfV seine Präventionsarbeit im Kultusbereich mit seiner Beteiligung an der Fortbildung der "Netzwerk-Lotsen" fort. Diese "Lotsen" sind an Schulen federführend für die Extremismusprävention zuständig. Schulamtsübergreifend und schulamtsbezogen führte das LfV eine Vielzahl von Fortbildungen zu verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen durch. Im Rahmen des Austauschforums Extremismus, das zusammen mit dem Staatlichen Schulamt Fulda initiiert und unter Beteiligung des Polizeipräsidiums Osthessen vom LfV geführt wurde, kamen aktuelle Themen wie zum Beispiel die Aktivitäten von Rechtsextremisten in den sozialen Medien zur Sprache. Das Forum fungiert als regelmäßige Kommunikationsund Kooperationsplattform, um interdisziplinär an Lösungsstrategien zur Bekämpfung von Extremismus im schulischen Bereich zu arbeiten. Sein Präventionsangebot im Kultusbereich richtete das LfV primär an Lehrkräfte. Präventionsveranstaltungen für Schülerinnen und Schüler fanden auf Anfrage von Schulen statt. Die Veranstaltungen des LfV sind dabei in das pädagogische Konzept der jeweiligen Schule eingebettet. Im Berichtsjahr führte das LfV Präventionstermine für Schülerinnen und Schüler unter anderem an der Humboldt-Schule in Bad Homburg vor der Höhe (Hochtaunuskreis), der Rabanus-MaurusSchule in Fulda (Landkreis Fulda), der Edertalschule in Frankenberg (Landkreis Waldeck-Frankenberg), der Helmholtzschule in Frankfurt am Main, der Hohen Landesschule Hanau (Main-Kinzig-Kreis) und am Wolfgang-Ernst-Gymnasium in Büdingen (Wetteraukreis) durch. Prävention für Justiz und Polizei | Im Justizressort führt das LfV regelmäßig Sensibilisierungsmaßnahmen durch. Das LfV bildet dabei auch Justizvollzugsbeamtinnen und -beamte fort. Zudem veranstaltet das LfV jährlich Justizseminare zu den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, Reichsbürger und Selbstverwalter sowie Islamismus für Richterinnen und Richter, die Staatsanwaltschaften und Bewährungshelferinnen und -helfer in Zusammenarbeit mit der Justizakademie Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 35 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Hessen des Hessischen Ministeriums der Justiz und für den Rechtsstaat. Das LfV ist regelmäßig und anlassbezogen in die Ausund Fortbildung der Hessischen Polizei eingebunden und hält auf Anfrage Vorträge an der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS) vor Studiengruppen. Das LfV beteiligt sich auch mit Vorträgen für Staatsschützerinnen und Staatschützer an den Staatsschutzmodulen der Hessischen Polizeiakademie (HPA), die Teil der HöMS ist. Seit 2020 führt das LfV ein eigenes Wahlpflichtmodul an der HöMS in Kassel für den Fachbereich Polizei zum Thema "Extremismus" durch. Seit 2019 hat das Kompetenzzentrum Rechtsextremismus (KOREX) des LfV eine hohe dreistellige Zahl an Führungskräften mehrerer hessischer Polizeibehörden im Rahmen einer Vielzahl von Einzelterminen über Rechtsextremismus aufgeklärt und sensibilisiert. Während eines Fachtags der Hessischen Polizei zum Thema "Aktuelle Entwicklungen, Debatten und Strategien im Rechtsextremismus" im November sensibilisierte das KOREX etwa 100 Polizeikräfte in Bezug auf dieses Thema, wobei auch über ein gemeinsames präventives Vorgehen gegen rechtsextremistische Bestrebungen und Strategien diskutiert wurde. Darüber hinaus führte das LfV bei der Bundespolizei erneut zahlreiche Fortbildungen für Führungskräfte der Bundespolizeidirektion Flughafen Frankfurt am Main durch. Weitere Präventionsmaßnahmen | Seit 2020 veranstaltet das LfV jährlich ein Seminar zu den verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen für die Zentrale Fortbildung (ZF) Hessen. Führungskräfte und Beschäftigte des Landes Hessen sollen über das fest ins Programm der ZF aufgenommene Angebot die Möglichkeit erhalten, sich in einem interdisziplinären Teilnehmerfeld auszutauschen und zu den verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen übergreifend fortzubilden. Auch im Berichtsjahr setzte das LfV verstärkt auf die Beteiligung an öffentlichen Veranstaltungen. So referierten zum Beispiel Vertreterinnen und Vertreter des KOREX bei öffentlichen Veranstaltungen in Limeshain (Wetteraukreis), Hammersbach (Main-Kinzig-Kreis), Weinbach und Weilburg (Landkreis Limburg-Weilburg), Wetzlar (Lahn-DillKreis), Lauterbach und Lautertal (Vogelsbergkreis) sowie Wiesbaden. Die rege Teilnahme an den Diskussionsund Fragerunden im Anschluss an die Veranstaltungen zeigte, wie groß das Interesse an der Arbeit des Verfassungsschutzes war, wobei in diesem Zusammenhang auch kritische Fragen gestellt und seitens des LfV beantwortet wurden. 36 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Rechtsextremistische Onlinebestrebungen im Fokus | Im Berichtsjahr konzentrierte sich das KOREX auf das Thema "rechtsextremistische Einflussnahme im digitalen Raum" und veranstaltete eine Vielzahl von Fortbildungsformaten insbesondere für den Kultusbereich. Ziel war es, die Medienkompetenz im Themenfeld "Rechtsextremismus" zu stärken, um entsprechende Erscheinungsformen - vor allem im Kontext sozialer Medien - besser erkennen zu können. Hintergrund ist, dass Internet und soziale Medien das Leben immer stärker prägen und fest im Alltag junger Menschen verankert sind. Entsprechend professionalisieren Rechtsextremisten ihre Aktivitäten in der virtuellen Welt. Dort versuchen sie junge Menschen gezielt anzusprechen, um sie für ihre Ziele zu interessieren und zu gewinnen. Dabei entfalten Rechtsextremisten in den sozialen Medien eine beachtliche Reichweite. Prävention im Zeichen des Nahostkonflikts | Im Kontext des islamistischen Terrorangriffs auf Israel am 7. Oktober und der daraus resultierenden bundesweiten propalästinensischen, auch antisemitischen Proteste beteiligte sich das LfV an den koordinierten Maßnahmen der im Hessischen Innenministerium eingerichteten Task Force Nahostkonflikt. Zwischen Oktober und Dezember informierte das LfV Polizeibeamtinnen und -beamte aller hessischen Präsidien, der Präsidien für Einsatz und Technik, des HLKA, der HöMS sowie der Bundespolizeidirektion Flughafen Frankfurt am Main in mehreren umfassenden Fortbildungsveranstaltungen über die Hintergründe und aktuellen Entwicklungen des Konflikts im Nahen Osten. Spezielle Aufgabe des LfV war es, eine ideologische Einordnung von Symbolen und Flaggen einschließlich der extremistischen Gruppierungen im Kontext des Nahostkonflikts und des israelfeindlichen Antisemitismus vorzunehmen sowie dessen zahlreiche Facetten zu veranschaulichen. Auch war das LfV an der Erstellung einer entsprechenden Handreichung beteiligt. Außerdem reagierte das LfV mit eigenen Fortbildungsangeboten auf die Lage im Nahen Osten bzw. die daraus resultierenden Ereignisse in Hessen und stellte auf seiner Homepage entsprechende Beiträge ein: "Islamistische Gruppierung ,Realität Islam' adressiert mit [antisemitischer] Kampagne die ,Mehrheitsgesellschaft'" und "Was sagen eigentlich Rechtsextremisten zum Krieg im Nahen Osten?" Schließlich konzipierte die Phänomenübergreifende Analysestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (PAAF) ein Fortbildungsangebot zu den Themen "Genese und aktuelle Entwicklungen im Nahostkonflikt" sowie "Israelbezogener Antisemitismus" und führte entsprechende Veranstaltungen für verschiedene Bedarfsträger wie Polizei, das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, Kommunen, Regierungspräsidien und Schulen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 37 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN durch. Darüber hinaus wurden die Vorträge und Workshops, die den Antisemitismus als Querschnittsphänomen in allen ideologischen Erscheinungsformen und tradierten Narrativen in den Blick nahmen, nach dem 7. Oktober von verschiedenen Bedarfsträgern stark nachgefragt. Im Bereich seiner Aufgaben und Tätigkeiten ist das LfV auch dem Schutz von jüdischen Menschen und in Hessen lebenden israelischen Staatsangehörigen sowie der konsequenten Bekämpfung des Antisemitismus verpflichtet. Über die PAAF besteht ein regelmäßiger Austausch mit den jüdischen Gemeinden in Hessen, der infolge der mit dem 7. Oktober verbundenen Ereignisse intensiviert wurde. Im Rahmen der Präventionsarbeit im Bereich Antisemitismus sollen persönliche Begegnungen mit Jüdinnen und Juden ermöglicht und ein Kennenlernen jüdischer Geschichte und Gegenwart gefördert werden. So empfing die Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main im Dezember Polizeianwärterinnen und Polizeianwärter der HöMS in Kassel zusammen mit Referentinnen und Referenten des LfV im Rahmen des Wahlpflichtmoduls "Extremismus". Den Teilnehmenden wurden die Entwicklung jüdischen Lebens in der Mainmetropole sowie religiöse Riten und Rituale im Judentum während einer Führung durch die Westend-Synagoge veranschaulicht. Im Anschluss schilderte eine Vertreterin der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main die Auswirkungen des Terrorangriffs der HAMAS auf den Alltag von in Deutschland lebenden jüdischen Menschen. Meldestelle Hessen gegen Hetze | Mit der 2020 gegründeten Meldestelle Hessen gegen Hetze unterhielt das LfV eine Kooperation. Dabei wurden vor allem ein regelmäßiger Austausch gepflegt, mehrere Schulungen zu den verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen für deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchgeführt und Präventionstermine gemeinsam wahrgenommen. Ziel der durch das Hessen CyberCompetenceCenter (Hessen3C) des Hessischen Ministeriums des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz betriebenen Meldestelle ist es, den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu bieten, den zuständigen Behörden Hate Speech einfach und schnell zu melden. Der Meldestelle Hessen gegen Hetze können auch Sachverhalte gemeldet werden, die keinen Onlinebezug haben. Darunter fallen zum Beispiel extremistische Aktivitäten wie Flugblattverteilungen und Informationsstände, die nicht direkt mit Hate Speech in Verbindung stehen. Die Meldestelle ist erreichbar unter: www.hessengegenhetze.de. 38 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Informationsangebote des LfV | Damit sich die Bürgerinnen und Bürger gezielt mit verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen auseinandersetzen können, veröffentlicht das LfV Informationsbroschüren. Folgende Publikationen können beim LfV direkt angefordert bzw. über dessen Internetpräsenz abgerufen werden (siehe unten Kontakt und Internetpräsenz): * Verfassungsschutz in Hessen - Beobachten, analysieren und informieren. * Extremismus erkennen - Handreichung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Flüchtlingshilfe. * Salafismus: Extremistische Bestrebungen in Hessen. * Die "Neue Rechte" - Eine Gefahr für unsere Demokratie. * Kennzeichen und Symbole der Rechtsextremisten. * Gedenkund Jahrestage von Rechtsextremisten. * Rechtsextremismus und Sonnwendfeiern. * Verfassungsfeindliche Bestrebung: "Reichsbürger" und "Selbstverwalter". * Mit Militanz zur Errichtung einer "herrschaftsfreien Gesellschaft". * PAAF Analysen 1 - "... und diese Gerüchte stammen nicht von irgendwelchen Nazis!" Eine Studie zu Erscheinungsformen und ideologischen Hintergründen antisemitischer Agitation in den sozialen Netzwerken. * PAAF Analysen 1 - In aller Kürze. * PAAF Analysen 2 - Filter ohne Blase. Wie die rechtsextremistische Szene sich über das politische Tagesgeschehen informiert. * PAAF Analysen 2 - In aller Kürze. Darüber hinaus finden sich weitere Informationsmaterialien auf den Internetseiten des BfV (www.verfassungsschutz.de/de/ oeffentlichkeitsarbeit/publikationen) und den anderen Landesämtern für Verfassungsschutz. Prävention für die Wirtschaft | Informationen über die Aktivitäten und Dienstleistungen des LfV zum Thema "Wirtschaftsschutz" finden Sie im Kapitel Spionageund Cyberabwehr/Wirtschaftsschutz. Präventionsarbeit in Zahlen | Im Vergleich zum Vorjahr (295) nahm die Anzahl der Präventionstermine im Berichtsjahr mit 274 Terminen ab, da die im Bereich Wirtschaftsschutz in Präsenz durchgeführten Veranstaltungen für Unternehmen keine Priorität bildeten und daher weniger nachgefragt wurden. Als Präventionstermine werden ausschließlich Zusammenkünfte, die eine Außenwirkung entfalten, erfasst (zum Beispiel Vorträge, Reden, Fortbildungen, Informationsveranstaltungen und Beratungen). Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 39 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Kontakt und Internetpräsenz | Alle Bürgerinnen und Bürger können sich an das LfV wenden. Die Homepage des LfV ist unter www.lfv.hessen.de aufrufbar. Auf der Homepage steht auch ein Kontaktformular zur Verfügung. Für Fragen zur Prävention ist das LfV unter der Telefonnummer 0611-720/1966 und der E-Mail-Adresse praevention@lfv.hessen.de zu erreichen. Fragen zum Thema "Wirtschaftsschutz" können an die E-Mail-Adresse wirtschaftsschutz@ lfv.hessen.de gerichtet werden. 40 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN - EIN ÜBERBLICK - WESENTLICHE ECKPUNKTE - RECHTSEXTREMISMUS - REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER - VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES - LINKSEXTREMISMUS - ISLAMISMUS - EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG - REAKTIONEN VON EXTREMISTEN AUF DEN TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL - ORGANISIERTE KRIMINALITÄT (OK) - SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ EXTREMISMUS IN HESSEN WESENTLICHE ECKPUNKTE Extremistisches Personenpotenzial in Hessen - Gewaltorientierung | Mit nunmehr 13.110 Personen ging das gesamte extremistische Personenpotenzial in Hessen im Berichtsjahr gegenüber dem von 2022 (13.295) um 185 Personen zurück (= minus 1,4 Prozent). Dieser neuerliche Rückgang resultierte aus einer Abnahme des extremistischen Personenpotenzials mit Auslandsbezug (2023: 3.795, 2022: 4.100). Dagegen nahm das rechtsextremistische Personenpotenzial von 1.730 (2022) auf 1.775 zu (= plus 2,6 Prozent). Die Anzahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten stieg ebenfalls an (2023: 905, 2022: 880), sodass deren Anteil am gesamten rechtsextremistischen Personenpotenzial weiterhin bei mehr als 50 Prozent lag. Erneut erhöhte sich auch das Personenpotenzial der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene von 1.100 (2022) auf 1.200 Personen (= plus neun Prozent). In Bezug auf das Personenpotenzial des Phänomenbereichs Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates lagen nach wie vor keine validen Angaben vor. Gleichwohl das linksextremistische Personenpotenzial gegenüber dem Vorjahr geringfügig abnahm (2023: 2.600, 2022: 2.650), stieg die Anzahl der als gewaltorientiert einzustufenden Linksextremisten deut- * Abzüglich Mehrfachzählungen im Bereich Reichsbürger und Selbstverwalter. 42 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN lich von 600 (2022) auf 720 (2023) an. Damit war mehr als ein Viertel aller Linksextremisten gewaltorientiert. Eine valide Quantifizierung der Gewaltorientierung in den Phänomenbereichen Islamismus und Extremismus mit Auslandsbezug war weiterhin nicht möglich, da die klandestinen Verhaltensweisen - insbesondere von Anhängern des gewaltorientierten Salafismus/Jihadismus - und die Anonymisierungsmöglichkeiten sozialer Medien bzw. Netzwerke nicht immer die entsprechende Zuordnung zu einer bestimmten Person ermöglichten. Die Zahl der Islamisten erhöhte sich nach Jahren der Stagnation und des Rückgangs leicht von 3.865 (2022) auf 3.890 (2023), wofür die Zunahme des salafistischen Personenpotenzials verantwortlich war. Die jihadistische Anschlagsgefahr war weiterhin unvermindert hoch. Entwicklung der extremistischen Strafund Gewalttaten | Die Gesamtzahl der extremistischen Strafund Gewalttaten machte einen deutlichen Sprung von 1.243 (2022) auf 1.881 (2023), was einer Steigerung von etwa 51 Prozent entsprach. Innerhalb des Fünfjahreszeitraums 2019 bis 2023 nahm die Gesamtzahl der extremistischen Strafund Gewalttaten im Berichtsjahr mit einem signifikanten Abstand zu den übrigen Werten ihren höchsten Rang ein. Die Strafund Gewalttaten im Phänomenbereich Rechtsextremismus nahmen am deutlichsten zu: Sie stiegen von 1.051 (2022) auf 1.445 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 43 EXTREMISMUS IN HESSEN (2023), was einem Plus von mehr als einem Drittel entspricht. Auf vergleichsweise niedrigem Niveau verdoppelte sich nahezu die Zahl der Strafund Gewalttaten im Phänomenbereich Linksextremismus von 79 (2022) auf 138 (2023). Sie verdreifachte sich nahezu im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug von 37 (2022) auf 105 (2023) und verfünffachte sich im Phänomenbereich Islamismus sogar von 27 (2022) auf 146 (2023). Die Gesamtzahl der extremistischen Gewalttaten stieg von 60 (2022) auf 66 (2023) und nahm damit im Fünfjahreszeitraum 2019 bis 2023 den dritthöchsten Wert ein. In den Phänomenbereichen Rechtsextremismus (2022: 50, 2023: 48) und Linksextremismus (2022 und 2023 jeweils neun) verharrte die Anzahl der Gewalttaten auf dem gleichen Niveau. Auf einem relativ niedrigen Niveau stieg sie allerdings im Phänomenbereich Islamismus von einem Delikt (2022) auf drei Delikte (2023) an. Nachdem es im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug 2022 keine Gewalttat gegeben hatte, waren es 2023 sechs entsprechende Delikte. Auf die Kategorie "sonstige Zuordnung" (SZ) entfielen 47 Delikte (2022: 49). RECHTSEXTREMISMUS Personenund Gewaltpotenzial - anhaltende rechtsterroristische Gefahr | Das rechtsextremistische Personenpotenzial wuchs im Berichtsjahr um 45 auf 1.775 Personen an, womit die Gesamtzahl der Rechtsextremisten in Hessen im Laufe einer kontinuierlichen Steigerung erneut den höchsten Wert im zurückliegenden Fünfjahreszeit44 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN raum 2019 bis 2023 erreichte. Die Zunahme resultierte aus einer Erhöhung im Bereich der rechtsextremistischen Parteien (Der Dritte Weg) und des weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Personenpotenzials (zum Beispiel Anhänger der subkulturellen Musikszene). Mit 905 Personen erhöhte sich die Anzahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten gegenüber 2022 um 25. Damit besteht unverändert die Gefahr, dass Szeneangehörige aufgrund ihrer persönlichen Situation, ihres sozialen Umfelds, ihrer Beeinflussung durch außen oder ihres Radikalisierungsgrads zu Handlungen neigen, die in tatsächliche Gewalt münden. Nach wie vor bestand die Gefahr rechtsextremistisch motivierter Anschläge. Das zeigt die Festnahme eines Schülers in Waldbrunn (Landkreis Limburg-Weilburg). Unter anderem wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat durchsuchte die Polizei die Wohnräume des 18-Jährigen und fand unter anderem Waffen und Munition. In Internetforen soll der Schüler mehrfach damit gedroht haben, Menschen zu töten. Außerdem soll er über eine gewaltbereite, antisemitische und rechtsextremistische Grundeinstellung verfügen und an seiner Schule einen Mitschüler antisemitisch beschimpft haben. Darüber hinaus beschäftigten sich die Sicherheitsbehörden verstärkt mit der sogenannten Attentäterfanszene, die - über verschiedene Onlineplattformen vernetzt - einen Personenkult um allein handelnde rechtsextremistische Attentäter betrieb. Aus diesen "Huldigungen" resultiert die Gefahr einer Radikalisierung bzw. Nachahmung rechtsextremistischer Anschläge, die sich auch abseits klassischer rechtsextremistischer Strukturen entwickeln kann. In diesem Kontext wurden immer wieder Minderjährige festgestellt, die zum Teil noch nicht strafmündig waren und daher die Sicherheitsbehörden vor besondere Herausforderungen stellten. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 45 EXTREMISMUS IN HESSEN Strafund Gewalttaten | Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Strafund Gewalttaten in Hessen erhöhte sich von 1.051 (2022) auf 1.445 und erreichte damit innerhalb des Fünfjahreszeitraums 2019 bis 2023 mit Abstand den höchsten Wert. Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten sank geringfügig von 50 (2022) auf 48, was der zweithöchste Wert in dem genannten Zeitintervall ist. Unter anderem angesichts der höchsten im Fünfjahreszeitraum 2019 bis 2023 festgestellten Anzahl gewaltorientierter Rechtsextremisten (905) misst das LfV der Beobachtung der rechtsextremistischen Szene mehr denn je höchste Priorität zu. Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen: Identitäre Bewegung Deutschland e. V. (IBD)/Identitäre Bewegung Hessen (IBH) - GegenUni (GU) - Thule-Seminar e. V. - Recht und Wahrheit | Der seit 2021 zu beobachtende Rückgang der Aktivitäten der IBH hielt im Berichtsjahr an. Ihre Tätigkeit beschränkte sich in Hessen auf den virtuellen Raum, wobei sie versuchte, im Rahmen der ebenfalls 2021 eingeleiteten strategischen Neuausrichtung der Identitären Bewegung (IB), ihre Urheberschaft an in den sozialen Medien veröffentlichten Beiträgen zu kaschieren. Das Kernthema der IBH bildete die Ablehnung der Migration bzw. des angeblich von den Regierenden verordneten "Bevölkerungsaustauschs". Im Unterschied zu anderen Regionalgruppen der IBD führte die IBH im Berichtsjahr in der "realen Welt" keine Protestaktionen gegen die Aufnahme von Migranten oder (geplante) Asylund Flüchtlingsunterkünfte durch. Während des "Sommerlagers der IB 2023" stand Kampfsporttraining ("ein hartes sportliches Programm und aktivistische Bildung") im 46 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN Fokus. Damit sollte der elitäre Anspruch der IB verwirklicht werden, innerhalb des Rechtsextremismus die "künftige aktivistische Avantgarde" zu bilden. Trotz ihrer Abwesenheit bei dem "Sommerlager" unterstrichen IBH-Angehörige immer wieder die Notwendigkeit von Kampfsport. So hieß es in dem sozialen Netzwerk X: "Jeder Europäer muss Kampfsport betreiben. Es hilft alles nichts mehr. Manche Dinge können nicht mehr gefixt werden". Selbst wenn die IB in Deutschland qualitativ und quantitativ nicht mehr das frühere Aktivitätsniveau erreichte, verfügte sie mit ihrem Kernthema "Remigration" über ein gewisses Mobilisierungspotenzial und agitierte entsprechend fremdenfeindlich. Weiterhin versuchte die IBD, die migrationsbezogenen Debatten in der demokratischen Gesellschaft mitzuprägen. Auch wenn das Ansehen der IBD als avantgardistische Impulsgeberin in der "akademisch-intellektuellen" Neuen Rechten deutlich angeschlagen war, nahm sie aufgrund ihrer guten Vernetzung weiterhin eine wichtige Rolle innerhalb dieses Spektrums ein. Vor diesem Hintergrund und aufgrund ihres nach wie vor im Phänomenbereich Rechtsextremismus präsenten Einflusses ging von der IBD bzw. der IBH eine fortwährende Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung aus. Gerade die Selbstinszenierung der IBD/IBH als revoltierende Gegenkultur gegen die vermeintlich gleichgeschaltete demokratische Gesellschaft und Medienlandschaft kann weiterhin eine Faszination auf Jugendliche und junge Erwachsene sowie Einfluss auf andere Interessierte ausüben. Nachdem die GU ihren Internetauftritt Ende 2022 umgestaltet hatte, gab sie sich dort im Berichtsjahr in ihren Aussagen deutlich gemäßigter. Sie präsentierte sich nun als "digitale Akademie für politische Inhalte" zu "Geschichte, Philosophie, Kulturund Gesellschaftswissenschaften", die "konservativen und patriotischen Inhalten" einen Raum eröffne. Sie lege Wert auf "Meinungsvielfalt und offenen Diskurs", so die GU, und positioniere sich als "Gegenbewegung zu den links dominierten Universität[en]" und gegen eine in Deutschland vorherrschende "Cancel Culture" an deutschen Hochschulen. Auf diese Weise versuchte die GU, einer ideologischen Entgrenzung der Neuen Rechten bzw. des Rechtsextremismus sowie dem Aufbau eines neuen "sozialen Milieus" Vorschub zu leisten. Dabei setzte die GU auch auf den Nutzen und die Wirkung des Videoportals TikTok. Mit den "richtigen Zusammenschnitten" aus ein "paar Bildern, ein bisschen Text und Musik" könne, so der GU-Gründer Erik Ahrens, die Reichweite für ein "rechtes Projekt" sehr stark erhöht werden, sodass die Neue Rechte in der Öffentlichkeit sichtbar werde. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 47 EXTREMISMUS IN HESSEN Auch wenn die Ausbaupläne der GU stockten und es ihr im Berichtsjahr nicht gelang, weitere Strukturen zu bilden, war sie nach wie vor eine wichtige Gruppierung im Spektrum der Neuen Rechten. Als selbsternannte "Universität" in der virtuellen Welt wollte sie ebenso wie die IB ihren Beitrag für das Erringen der Vorherrschaft im vorpolitischen (kulturellen) Raum leisten. Mit dieser Dominanz wollen sowohl die GU als auch die IB die freiheitliche demokratische Grundordnung überwinden und eine Gesellschaft und einen Staat nach den Vorstellungen der Neuen Rechten schaffen. Auf der Homepage des von Dr. Pierre Krebs gegründeten und geleiteten Thule-Seminars e. V. erschienen im Berichtsjahr unter anderem Beiträge, die vor allem nordisch-mythologische und antimodernistische sowie völkische und rassistische Inhalte enthielten. So war von einem "mörderischen Teufelsplan" die Rede, welcher der "Vermischung der Rassen" und der "Auslöschung der Kulturen" mit dem "Ergebnis einer Mischmasse" diene. Der Rechtsextremist Meinolf Schönborn gab weiterhin die Publikation Recht und Wahrheit heraus, betrieb den Z-Versand und agitierte in verschiedenen sozialen Medien gegen Migranten. Darüber hinaus versuchte Schönborn, das "Kulturzentrum Ludenbeck" in Wesertal (Landkreis Kassel) als Anlauf-, Rückzugs-, Veranstaltungs-, Schulungsund Vernetzungsraum für die rechtsextremistische Szene auszubauen. Lose strukturierter Rechtsextremismus: Neonazis und subkulturell orientierte Rechtsextremisten | Öffentliche neonazistische Veranstaltungen fanden in Hessen nicht statt, allerdings beteiligten sich Neonazis aus Hessen an Veranstaltungen in anderen Bundesländern und im europäischen Ausland. In Bad Wildungen (Landkreis WaldeckFrankenberg) löste die Polizei eine private rechtsextremistische Kampfsportveranstaltung in einem Fitnessstudio auf, eine im Anschluss geplante Grillfeier untersagte die Stadt Bad Wildungen. Bis zur Bekanntgabe ihrer Selbstauflösung im April betrieb die neonazistische Gruppierung Scheiteljugend Kassel mehrere Accounts in den sozialen Medien und warb um neue Mitglieder. Personen, die in "Kassel, Nordhessen oder Hessen aktiv" werden wollten, verwies die Scheiteljugend Kassel auf die Internetseite der Jungen Nationalisten (JN), die Jugendorganisation der später im Berichtsjahr in Die HEIMAT umbenannten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Im Unterschied zu ihrer Aktivitätslosigkeit in der Öffentlichkeit bildeten für Neonazis sowohl das Internet als auch soziale Medien unver48 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN ändert einen wichtigen Agitations-, Aktionsund Vernetzungsraum. In der virtuellen Welt war es leichter, Kontakt zu Personen aufzunehmen, die bisher keinen Bezug zum Rechtsextremismus hatten, und zwecks Vernetzung mit anderen Rechtsextremisten und rechtsextremistischen Organisationen zu kommunizieren. Im Bereich der rechtsextremistischen Musikszene und der Szene der subkulturell orientierten Rechtsextremisten kam es in Hessen zu sechs Veranstaltungen (2022: zwei). Dies war, wenn auch auf vergleichsweise niedrigem Niveau, der höchste Wert im Fünfjahreszeitraum 2019 bis 2023. Das zeigt, dass rechtsextremistische Musikveranstaltungen mehr denn je in der Szene attraktiv waren. Ungebrochen haben solche Treffen und die entsprechende rechtsextremistische Musik eine identitätsstiftende Wirkung bzw. kommunikative Funktion in Bezug auf die Vernetzung der Szene und spielen auch bei der Rekrutierung von neuen Szeneangehörigen eine bedeutende Rolle. Daher bildet diese Szene ein wichtiges Beobachtungsfeld für den Verfassungsschutz in Hessen, wobei es seitens aller zuständigen Behörden gilt, rechtsextremistische Musikveranstaltungen, soweit rechtlich möglich, zu verhindern. Damit sollen der Szene eine zentrale Vernetzungsmöglichkeit sowie ein wichtiges Bindeglied zu Jugendlichen, die außerhalb des Rechtsextremismus stehen, entzogen werden. Die in Bad Wildungen (Landkreis Waldeck-Frankenberg) in einem Fitnessstudio von der Polizei aufgelöste rechtsextremistische Veranstaltung verdeutlicht exemplarisch den Stellenwert von Kampfsport in der rechtsextremistischen Szene. So propagierten unter anderem die IB, die neonazistische Partei Der Dritte Weg und die JN die Notwendigkeit von "körperlicher Ertüchtigung". Kampfsport diente unter anderem der Indoktrination mit rechtsextremistischem Gedankengut sowie der Vorbereitung für gewaltsame Auseinandersetzungen mit Migranten, der Polizei und dem politischen Gegner. So konstruierte der maßgebliche IB-Protagonist Martin Sellner ein vermeintliches Notwehrrecht: "Der Staat lässt uns im Stich und importiert Vergewaltiger/Mörder. Ihr müsst selbst stabil werden. Trainiert, lernt Kampfsport, informiert euch über Waffenrecht. Bis zur #remigration sind unsere Städte leider ,Kriegszonen'". Parteigebundene Strukturen bzw. Parteien: Junge Alternative (JA) Hessen - NPD - JN - Der Dritte Weg/Der III. Weg | Auf Parteitagen des Landesverbands Hessen der Alternative für Deutschland (AfD) betrieb die JA Hessen Informationsstände und unterstützte die Mutterpartei im Wahlkampf zur hessischen Landtagswahl. Außerdem beteiligte sich die JA Hessen am AfD-Bundesparteitag in SachsenAnhalt und an außerhessischen Veranstaltungen und Kundgebungen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 49 EXTREMISMUS IN HESSEN der AfD und der JA Bundesorganisation. In Thüringen posierten der Vorsitzende der JA Hessen, Manuel Wurm, und eine weitere Aktivistin mit Björn Höcke, dem Vorsitzenden des vom LfV Thüringen als gesichert rechtsextremistisch eingestuften Landesverbands Thüringen der AfD. Ebenfalls in Thüringen führte Wurm bei einer AfD-Kundgebung eine JA-Gruppe an, die ein Banner mit der Aufschrift "Deutsche Jugend fordert Remigration!" zeigte. Der Stellvertreter Wurms forderte in einem Podcast, dass sich JA-Mitglieder in Vereinen - auch als Vorstände - betätigen und dort durch "vorbildhaften Charakter" überzeugen sollten. Es gelte Berührungsängste bei den Bürgern abzubauen und die politischen Positionen der JA gesellschaftsfähig zu machen. Auf diese Weise sei es möglich, auf "lange Sicht" den politischen Diskurs nach "rechts" zu verschieben und letztlich die kulturelle Hegemonie zu erlangen. Nachdem der NPD-Bundesvorstand mit seinem Antrag auf Namensänderung der Partei auf dem Bundesparteitag 2022 in Altenstadt (Wetteraukreis) noch gescheitert war, setzte er sich ein Jahr später durch: Auf dem Bundesparteitag im Juni in Sachsen stimmten die Delegierten für die Umbenennung der NPD in Die HEIMAT, darunter einhellig die Vertreter des Landesverbands Hessen. Auf diese Weise bemühte sich die Partei, eine "Sammlungsbewegung für alle" zu schaffen, "die ihre Heimat behalten wollen". Die Proteste der letzten Jahre gegen die "Asylwelle", die "Corona-Maßnahmen" oder gegen die "politisch hausgemachte Energiekrise" hätten gezeigt, so der Bundesvorsitzende Frank Franz, dass der Widerstand wachse. Diesen Widerstand gelte es mit Hilfe der HEIMAT zu vernetzen. Als Grund der "Krisen" betrachtete die NPD bzw. Die HEIMAT die anhaltende Zuwanderung nach Deutschland und forderte die Schließung der deutschen Grenzen sowie Einsparungen bei den Ausgaben für Migranten. Als Jugendorganisation der NPD befürworteten auch die JN und die JN Hessen die Umbenennung mit dem Ziel, sich als "Heimatbewegung" zu etablieren. Offensichtlich um diese Maxime zu verwirklichen, waren die JN im Unterschied zu den Vorjahren sowohl in der "realen" als auch virtuellen Welt deutlich aktiver. Zwecks intensiverer Vernetzung kamen die JN zu verschiedenen Treffen zusammen; darüber hinaus führten sie die Kampagne "schülersprecher.info" fort und agitierten vor allem gegen die Migration und - im Rahmen der "Stolzmonat"-Kampagne - gegen die LGBTQIA+-Bewegung. Diese Agitation bewerteten die JN als Zeichen der "Sichtbarkeit der Heimatverbundenheit". Die JN Hessen forderten in einem Videobeitrag auf Telegram eine "konsequente Rückführungspolitik" angesichts von "täglichen Schlagzeilen über Ausländergewalt, Raub, Mord, Demütigung und Hass auf unser Land und unser Volk". 50 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN Auch bei der neonazistischen Partei Der Dritte Weg bildete die Migration ein Schwerpunktthema, wobei in Hessen der Stützpunkt Westerwald/Taunus insbesondere im Lahn-Dill-Kreis Flugblätter verteilte, die - wie etwa die Ehringshäuser Depesche und die Solmser Depesche - einen örtlichen Bezug hatten. Um einen größtmöglichen Zuspruch in der Bevölkerung zu erhalten, erstreckten sich die Verteilungen unter anderem auf Wohngebiete, in deren Umgebung Unterkünfte für Migranten eingerichtet werden sollten. Ebenso wie andere rechtsextremistische Organisationen hob Der Dritte Weg auf Gewaltbereitschaft ab, indem er auf seiner Homepage schrieb: "Deutscher, mache dich wehrfähig! Körperliche Ertüchtigung und das Erlernen grundlegender Selbstverteidigungstechniken sollten für jeden aufrechten Deutschen angesichts der zunehmenden Bedrohung durch Ausländerkriminalität eine Selbstverständlichkeit sein". Zunehmend konzentrierte sich Der Dritte Weg darauf, Jugendliche und junge Erwachsene für sich zu gewinnen und im Sinne seiner verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu ideologisieren. Mit angeblich erfolgreichen Rekrutierungen begründete die Partei die Veröffentlichung ihres "Handbuchs der revolutionären Jugend", das sowohl eine "Kriegserklärung an das herrschende System" als auch "Wegweiser, Motivator und Selbstbekenntnis" der "Jugend in der Bewegung" sein sollte. REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Erneut gestiegenes Personenpotenzial | War das Personenpotenzial der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene in den zurückliegenden Jahren in Hessen mit etwa 1.000 Personen konstant gewesen, so stieg es im Berichtsjahr - ebenso wie bereits 2022 (1.100) - erneut an und belief sich nunmehr auf 1.200. Davon waren rund 150 Personen dem Phänomenbereich Rechtsextremismus zuzurechnen. Diese Zunahme ist umso bedenklicher, als es im Dezember 2022 zu umfangreichen staatlichen Exekutivmaßnahmen gegen eine terroristische Vereinigung von Reichsbürgern gekommen war. Laut der Bundesanwaltschaft hatte sich die terroristische Vereinigung die gewaltsame Beseitigung der staatlichen Ordnung und die anschließende Machtübernahme zum Ziel gesetzt. Die Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene und ihre Sympathisanten ließen sich von den staatlichen Exekutivmaßnahmen, die einen großen Widerhall in der Öffentlichkeit fanden, sichtlich nicht beeindrucken. Im Gegenteil, die Szene verzeichnete Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 51 EXTREMISMUS IN HESSEN nach Jahren der Stagnation auf hohem Niveau (in Bezug auf das Personenpotenzial) innerhalb von zwei Jahren einen Zulauf von 200 Personen (plus 20 Prozent). Gegen 27 Angehörige der terroristischen Reichsbürgerorganisation - vier von ihnen stammen aus Hessen -, erhob die Bundesanwaltschaft Anklage unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens. Insgesamt erkannten Reichsbürger und Selbstverwalter, unter denen sich auch Anhänger von Verschwörungsnarrativen befanden, die Bundesrepublik Deutschland als Staat nicht an. Nach wie vor propagierten Reichsbürger das Fortbestehen eines Deutschen Reichs, während Selbstverwalter Fantasiestaaten erfanden und für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium beanspruchten. In Hessen waren vor allem das Königreich Deutschland (KRD), der Vaterländische Hilfsdienst (VHD) und das Indigene Volk der Germaniten (IVG) aktiv. Der dem KRD zuzurechnende Verein LebensGlück e. V. betrieb in Frankfurt am Main eine Lokalität, die im Mai - auch nach zahlreichen öffentlichen Protesten - schloss. Der "XVIII. Armeekorpsbezirk" des VHD hielt im Raum Darmstadt regelmäßig Treffen ab. Angehörige des vor allem in Kassel und im Landkreis Limburg-Weilburg aktiven IVG versandten Schreiben an Behörden unter anderem wegen angeblicher Einschränkung ihrer (Menschen-) Rechte, wobei im Berichtsjahr die Anzahl solcher Schreiben zunahm. Außerdem meldeten IVG-Angehörige ihre Kinder teils von der Schule ab und beriefen sich dabei auf ein vermeintliches Recht auf "indigene" Bildung. Erneut reichte der Tonfall einiger Schreiben von Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene von aggressiven Gewaltäußerungen bis hin zu Todesdrohungen. Wie auch für andere extremistische Phänomenbereiche gilt seitens der hessischen Behörden in Bezug auf waffenrechtliche Erlaubnisse und Schusswaffenbesitz eine Nulltoleranzstrategie für Reichsbürger und Selbstverwalter. So wurden Szeneangehörigen im unteren zweistelligen Bereich die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und deren Schusswaffen sichergestellt. Auch in Zukunft ist es das erklärte Ziel der Hessischen Landesregierung und der hessischen Sicherheitsbehörden, dass kein ihnen bekannter Extremist und somit auch kein Reichsbürger oder Selbstverwalter waffenrechtliche Erlaubnisse oder Legalwaffen besitzt bzw. Legalwaffen im Fall des Besitzes entzogen werden. 52 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Wie im Vorjahr versuchten dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzuordnende Personen die Themen "Inflation", "Energiekrise" und "Aufarbeitung der Corona-Politik" für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. An den Protesten, die unter anderem von Verschwörungsnarrativen geprägt waren, nahmen auch Reichsbürger und Selbstverwalter sowie Angehörige der Parteien NPD/Die HEIMAT und Der Dritte Weg teil. Sie kündigten zum Beispiel in den sozialen Medien Veranstaltungen an oder verteilten verfassungsfeindliche Flugblätter. Der nach dem Terrorangriff der Harakat al-Muqawama al-Is-lamiya (HAMAS, Islamische Widerstandsbewegung) auf Israel erneut in den öffentlichen Fokus gerückte Nahostkonflikt (siehe unten "Reaktionen von Extremisten auf den Terrorangriff der HAMAS gegen Israel") bot Angehörigen des Phänomenbereichs Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates einen weiteren Anlass, um einen angeblichen Zusammenhang zwischen antisemitischen Verschwörungsnarrativen und den Ereignissen in Israel zu konstruieren. LINKSEXTREMISMUS Personenpotenzial | Das linksextremistische Personenpotenzial reduzierte sich von 2.650 (2022) auf 2.600 Personen. Die Anzahl der gewaltorientierten Linksextremisten stieg dagegen signifikant von 600 (2022) auf 720, sodass deren Anteil an der Gesamtzahl der Linksextremisten im Berichtsjahr mehr als einem Viertel entsprach. Damit wuchs die Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten seit 2019 (520) kontinuierlich - zuletzt sprunghaft - an und nahm in diesem Zeitintervall von 2019 bis 2023 um 38 Prozent zu. Grund für die Zunahme des gewaltorientierten Personenpotenzials ist eine fortschreitende Radikalisierung in der linksextremistischen Szene in Hessen, ausgelöst durch mehrere, teilweise sich gegenseitig bedingende Faktoren: Die bundesund damit hessenweit steigenden Umfragewerte der AfD, die Linksextremisten als allgemeinen "Rechtsruck" interpretierten, die Ablehnung des neuen Hessischen Versammlungsfreiheitsgesetzes, der als zunehmende Kriminalisierung und "staatliche Repression" bewertete Prozess gegen die aus Kassel stammende Lina E. und die seit Jahren währende öffentliche Auseinandersetzung in Bezug auf den Umgang mit Migranten. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 53 EXTREMISMUS IN HESSEN Strafund Gewalttaten | Die Zahl der linksextremistisch motivierten Strafund Gewalttaten in Hessen stieg von 79 (2022) auf 138 (= plus 43 Prozent), während die Zahl der Gewalttaten mit neun Delikten gleichblieb. Dabei erreichte die Anzahl der Strafund Gewalttaten im Fünfjahreszeitraum 2019 bis 2023 den höchsten Wert. Angesichts der latenten Gewaltbereitschaft der autonomen/anarchistischen Szene und der in Hessen sprunghaft gestiegenen Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten misst das LfV der Beobachtung dieser Szene und den damit verbundenen Entwicklungen mehr denn je hohe Bedeutung bei. Ein Teil der autonomen/anarchistischen Szene in Hessen könnte für die aus anderen Bundesländern bekannte "Militanzdebatte" empfänglich werden, die sich stärker auf Gewalt gegen Personen als auf Gewalt gegen Sachen fokussierte. "Antifaschismus" und 1. Mai | Der Schwerpunkt der Aktivitäten von Autonomen/Anarchisten lag in Hessen auf dem Themenfeld "Antifaschismus". Entsprechende Outings, Sachbeschädigungen und Demonstrationen zielten unter anderem auf Burschenschaften, Angehörige der AfD sowie auf das im März vom Hessischen Landtag verabschiedete Hessische Versammlungsfreiheitsgesetz ab. Darüber hinaus solidarisierten sich Linksextremisten mit der vom Oberlandesgericht (OLG) Dresden verurteilten Lina E. und deren Mitangeklagten, wobei das Urteil im Berichtszeitraum noch nicht rechtskräftig war. Als kriminelle Vereinigung hatte die Gruppe zwischen 2018 und 2020 "antifaschistisch" motivierte Ausspähungen vorgenommen und gewalttätige Überfälle verübt. Nachdem unbekannte Täter am Amts54 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN gericht (AG) in Kassel einen Sachschaden in fünfstelliger Höhe verursacht hatten, hieß es auf einer linksextextremistischen Internetplattform: "In Gedanken waren wir bei unseren Freunden, die in Dresden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden". Auch wenn pyrotechnische Gegenstände abgebrannt und mehrere Sachbeschädigungen begangen wurden, verlief die traditionelle "revolutionäre" Demonstration zum 1. Mai in Frankfurt am Main weitgehend friedlich. Allerdings verdoppelt sich die Teilnehmerzahl von 1.000 (2022) auf 2.000 Demonstranten. Unverändert bemühten sich linksextremistische Gruppierungen, die Klimaund Umweltschutzbewegung zu beeinflussen, indem sie sich zum Beispiel in Darmstadt an dem von Fridays for Future ausgerufenen Klimastreik beteiligten. Darüber hinaus befand sich der amerikanische Autohersteller Tesla im Visier von Linksextremisten, da er nach deren Auffassung der "Gegenwarts-Albtraum aller Lebewesen" sei, einen "grünen Kapitalismus" verkörpere und den allgemeinen "Feelgood-Lifestyle" als "grün" verkaufe. Vor diesem Hintergrund setzten unbekannte Täter in Nordrhein-Westfalen und in Frankfurt am Main mehrere Fahrzeuge der Marke Tesla auf den Firmengeländen von Autohändlern in Brand. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 55 EXTREMISMUS IN HESSEN Deutsche Kommunistische Partei (DKP) - Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) - Rote Hilfe e. V. (RH) - Aurora Räteaufbau (AR) | Die DKP Hessen verharrte weiterhin in einem Zustand struktureller und personeller Schwäche, was sich im Rückgang ihrer Mitgliederzahl und in ihrem marginalen Ergebnis von 0,1% bei der hessischen Landtagswahl am 8. Oktober widerspiegelte. Eine Funktion innerhalb der linksextremistischen Szene in Hessen besaß die Partei lediglich als ideologische Vordenkerin bei der von ihr angestrebten Verwirklichung des Sozialismus. Die eng mit der DKP verbundene Jugendorganisation SDAJ Hessen konzentrierte sich auf die Themen "Antimilitarismus" und "Antikapitalismus", indem sie die Nachwuchswerbung der Bundeswehr kritisierte, gegen ein Rüstungsunternehmen protestierte und ihre Solidarität für Krankenhausbeschäftigte bekundete. Besondere Solidarität zeigte die SDAJ Hessen für eines ihrer Mitglieder, welches das Hessische Kultusministerium (jetzt Hessisches Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen) im Kontext einer Vorstrafe nicht zum Referendariat für das Lehramt an Gymnasien zugelassen hatte. Sowohl die SDAJ als auch die DKP bewerteten diese Entscheidung als "staatliche Repression" und als Fortführung bzw. Wiederbelebung des "Radikalenerlasses" aus den 1970er Jahren. Die Mitgliederzahl der RH in Hessen stieg signifikant von 800 (2022) auf 1.200 an, was seitens ihrer Sympathisanten unter anderem offenbar ein Akt der Solidarität und ein Reflex auf angebliche staatliche "Verbotsprüfungen" war. Den Prozess und das Urteil gegen Lina E. und deren Mitangeklagten bezeichnete die RH als "Repression" und "klare Verschärfung der politischen Justiz" und forderte alle gegen den "Rechtruck in der Gesellschaft" engagierten "Menschen und Initiativen" auf, sich mit den Verurteilten zu solidarisieren. Der anlässlich des 1. Mai 2021 in Frankfurt am Main zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung getretene AR schloss sich unter dem Dach des Revolutionären Aufbaus Rhein-Main mit den linksextremistischen Gruppen Revolutionäre Einheit Darmstadt und Rotes Mainz zusammen. Publikationen des AR, vor allem im Vorfeld von Demonstrationen, waren von einer aggressiven, kämpferischen Sprache geprägt. 56 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN ISLAMISMUS Jihadistischer und politischer Salafismus | Die Gefahr eines jihadistisch motivierten Terroranschlags war in Europa und somit auch in Deutschland weiterhin unvermindert hoch. Im Berichtsjahr kam es in Nordrhein-Westfalen sowie in Frankreich und Belgien zu Anschlägen, bei denen insgesamt fünf Menschen starben und etliche verletzt wurden. In Pakistan und Somalia verloren nahezu 200 Menschen ihr Leben, mehrere hundert wurden verletzt. In Deutschland führte die Polizei eine Reihe von Exekutivmaßnahmen gegen Jihadisten durch, dabei kam es unter anderem in Bayern, Hessen und NordrheinWestfalen zu Festnahmen. Unter den Festgenommenen befanden sich Personen, die Kontakt zu dem Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISPK), einem regionalen Ableger des Islamischen Staats (IS), unterhielten. Darüber hinaus durchsuchte die Polizei bundesweit, unter anderem in Hessen, mehr als 100 Objekte, wobei den Beschuldigten vorgeworfen wurde, in das Finanzierungsnetzwerk des IS eingebunden gewesen zu sein und Geldzahlungen an die Terrororganisation geleistet zu haben. Im Mittelpunkt der jihadistischen Propaganda im Berichtsjahr standen der Nahostkonflikt sowie die Koranverbrennungen in Schweden, Dänemark und den Niederlanden. Diese nutzten Jihadisten als Anlass, um den "Westen" zu diskreditieren und ihm Islamfeindlichkeit vorzuwerfen. Im Falle der Koranverbrennungen forderten die Jihadisten Rache und verlangten den Tod der daran Beteiligten. Des Weiteren wurde in der jihadistischen Propaganda im Rahmen des "medialen Jihads" gegen den angeblich moralisch verkommenen "Westen" die LGBTQ-Bewegung verunglimpft. Der ISPK nannte sie eine "Agenda des Teufels". Die im Berichtsjahr und in der Vergangenheit verübten Anschläge waren ebenso wie die jihadistische Propaganda geeignet, radikalisierte, allein handelnde Täter zu schwersten Straftaten zu motivieren. Dabei blieb die Propaganda ein zentrales Thema für die Terrororganisationen. Über das Internet war es ihnen möglich, ihre Propaganda weltweit in dichter Folge in verschiedenen Sprachen zu verbreiten und einen großen Adressatenkreis anzusprechen. Diese Propaganda begünstigte auch die Mobilisierung (potenzieller) "Kämpfer", Anhänger und Unterstützer, zumal über das Internet Anleitungen für Anschläge und das Herstellen von Sprengstoff abrufbar waren. Szenebekannte salafistische Prediger kamen aus anderen Bundesländern nach Hessen, wobei die Besucherzahlen der Veranstaltungen, für die zuvor in den sozialen Medien geworben worden war, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 57 EXTREMISMUS IN HESSEN eine bis zu dreistellige Höhe erreichten. Da populäre überregionale Prediger vor allem bei einem jüngeren, leichter zu beeinflussenden Publikum Anklang finden, besteht eine besonders hohe Gefahr der Radikalisierung. Die Zahl der Salafisten in Hessen erhöhte sich leicht von 1.370 (2022) auf 1.400, nachdem - ausgehend von dem Jahr 2020 (1.650) - 2021 (1.450) und 2022 (1.370) ein Rückgang zu verzeichnen war. Mehr als die Hälfte der Salafisten war dem Spektrum des jihadistischen Salafismus zuzurechnen. Die Gesamtzahl der Islamisten nahm im Berichtsjahr von 3.865 (2022) auf 3.890 zu, erreichte aber nicht den Höchstwert der Jahre 2019 und 2020 (jeweils 4.170) im Fünfjahreszeitraum 2019 bis 2023. Strafund Gewalttaten | Die Zahl der islamistisch motivierten Delikte erhöhte sich sehr deutlich von 27 (2022) auf 146, was vor allem auf eine Steigerung in der Kategorie "andere Straftaten" zurückzuführen ist. Hierunter fallen unter anderem Propagandadelikte, die Belohnung und Billigung von Straftaten, die Volksverhetzung sowie das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen bzw. das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Die Straftaten stehen vor allem im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Die Zahl der Gewalttaten stieg in der Statistik von einem Delikt (2022) auf drei Delikte. 58 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN Hizb ut-Tahir (HuT, Partei der Befreiung) - Realität Islam (RI) | Wie in den Vorjahren war die der HuT nahestehende Gruppierung RI hauptsächlich unter dem Leitspruch "Für die Bewahrung der islamischen Identität" aktiv und verurteilte zum Beispiel die Koranverbrennungen in Schweden. Die schweren Naturkatastrophen in der Türkei, in Syrien, Marokko und Libyen (Erdbeben, Überschwemmungen) interpretierten HuT-nahe Akteure als Prüfungen Allahs, womit sie den Wunsch verbanden, die muslimischen Staaten auf dem Fundament des Islams zu vereinen und zu "einem Körper" zu machen. Die in Deutschland in Teilen von Gesellschaft und Politik erhobene Forderung nach der Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt betrachtete RI als Bedrohung der "islamischen Identität" und ordnete diese "Gefahr" in den Kontext der vermeintlich "islamfeindlichen Assimilationspolitik durch den deutschen Staats-,Islam'" ein. Daher müssten, so RI, die "islamische Identität" und der islamische Glauben stets vor den Einflüssen des deutschen Staats geschützt werden. Aus islamischer Sicht sei kein anderes Lebensmodell außer "Mann und Frau" gültig. Kontinuierlich baute RI ihr digitales Medienangebot auf Instagram, YouTube, X und TikTok aus, während Facebook für die Gruppierung im Berichtszeitraum an Bedeutung verlor. Die digitale Präsenz blieb für RI grundsätzlich wesentlich wichtiger als Auftritte in der "realen Welt". Muslimbruderschaft (MB) | Weiterhin versuchten Anhänger der MB durch soziales und religiöses Engagement sowie durch DialogHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 59 EXTREMISMUS IN HESSEN angebote Akzeptanz in der demokratischen Mehrheitsgesellschaft zu finden, um ihre Ideologie gesellschaftsfähig zu machen. In Deutschland war die Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG), der bundesweit verschiedene Moscheegemeinden und sogenannte Islamische Zentren zuzuordnen waren, die größte Organisation, welche die Ideologie der MB vertrat. In Hessen befanden sich solche Zentren in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und Frankfurt am Main, wo die DMG im Berichtsjahr öffentlich als Projektleiterin des Moscheeneubaus des Islamischen Zentrums Frankfurt (IZF) auftrat. Das IZF selbst gab in einer Stellungnahme an, dass es sich bei dem Neubau um ein Projekt der DMG handele. Milli-Görüs-Bewegung | Die unter anderem im Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. (SP Hessen) organisierten Anhänger der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung engagierten sich für den Wahlkampf der SP in der Türkei bzw. insgesamt für die Partei. Die enge Anbindung an die türkische Mutterpartei Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) zeigte sich zum Beispiel bei einem Treffen in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) im Zuge der Veranstaltungsreihe "Das Volk trifft seine Vertreter". Nach wie vor verbreitete die Tagesszeitung Milli Gazete, die eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Ideologie der Milli-GörüsBewegung spielte, aus der Türkei stammende antisemitische Propaganda. So bezeichnete die Zeitung ein in die türkische Große Nationalversammlung eingebrachtes Klimaschutzgesetz in dem Beitrag "Kommt jetzt der Great Reset?" als Versuch, die Türkei zur "Sklavin des internationalen Systems" zu machen. Damit wollten "globale imperialistische und zionistische Zirkel" ein "Projekt des Unheils" durchsetzen, die Weltbevölkerung verringern und sämtliche Religionen vernichten. Al-Quds-Demonstration in Frankfurt am Main | 1979 vom iranischen Revolutionsführer Ruhollah Musawi Khomeini als Tag der "Befreiung" Jerusalems von der "zionistischen Besatzung" ausgerufen, fanden seit 2015 al-Quds-Demonstrationen auch in der Rhein-Main-Metropole statt. Dabei wies die nach Geschlechtern getrennte Veranstaltung im April des Berichtsjahrs in Frankfurt am Main mit über 650 Personen deutlich mehr Teilnehmer als im Vorjahr (2022: etwa 360) auf. Die Nähe zum iranischen Regime zeigte sich anhand der hohen Zahl iranischer Flaggen und Bilder der Revolutionsführer Ruhollah Musawi Khomeini und Ali Khamenei an der Spitze des Demonstrationszugs. Die Teilnehmer skandierten unter anderem Parolen wie "Stoppt die Apartheid gegen Palästina" und "Muslime, Juden und Christen: Hand in Hand gegen Zionisten". Wie im Vorjahr diffamierte ein Redner Israel als "Apartheidsstaat". 60 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Personenpotenzial | Das Personenpotenzial im Bereich Extremismus mit Auslandsbezug sank von 4.100 (2022) auf 3.795 (= minus 7,4 Prozent), wobei die Zahl der Extremisten türkischen Ursprungs zurückging. Dagegen blieb das der Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) zuzuordnende Personenpotenzial mit 1.500 Personen wie in den Vorjahren gleich. PKK | PKK-nahe Organisationen führten im Berichtsjahr in Frankfurt am Main erneut Großveranstaltungen durch: die zentrale bundesweite Newroz-Feier und das "Internationale Kurdische Kulturfestival". Mit bis zu 35.000 Personen verdoppelte sich die Besucherzahl der Newroz-Feier gegenüber der letztjährigen Veranstaltung in Frankfurt am Main; mit 12.000 Besuchern kamen zum "Internationalen Kurdischen Kulturfestival" mehr Personen als zuletzt nach Landgraaf in den Niederlanden (2022: 10.000). Wahrscheinlich werden PKK-nahe Organisationen auch in Zukunft an Frankfurt am Main wegen der zentralen Lage und guten Verkehrsanbindung der Rhein-Main-Metropole als Veranstaltungsort festhalten. Beide Großveranstaltungen in Frankfurt am Main verliefen insgesamt friedlich, wenngleich PKK-Anhänger bei einzelnen kleineren Anlässen Widerstand gegen Polizeibeamte leisteten. Darüber hinaus kam es in Frankfurt am Main und Offenbach am Main bei anderen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 61 EXTREMISMUS IN HESSEN Gegebenheiten im PKK-Kontext zu Sachbeschädigungen. Wie in der Vergangenheit solidarisierten sich deutsche Linksextremisten mit den Anliegen der PKK, indem sie gegen das Betätigungsverbot für die Terrororganisation und gegen die "anhaltende Rückendeckung" der deutschen Außenpolitik für den "türkischen Vernichtungskrieg in Kurdistan" protestierten. Linksextremistische Organisationen mit türkischem Ursprung | In diesem Segment des Phänomenbereichs Extremismus mit Auslandsbezug waren vor allem folgende Organisationen aktiv: die Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP-C, Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front), die Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist (TKP/ML, Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten) und die Marksist Leninist Komünist Partisi (MLKP, Marxistische Leninistische Kommunistische Partei). DHKP-C-Anhänger führten bundesweit Solidaritätsaktionen für drei Funktionäre der Organisation durch, die sich wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vor dem OLG Düsseldorf verantworten mussten. Der TKP/ML nahestehende Organisationen - besonders die Yeni Demokratik Genclik (YDG, Neue demokratische Jugend) - thematisierten bei ihren Veranstaltungen den "Militärismus" der "imperialistischen Mächte" und versuchten dadurch, ein breites Publikum anzusprechen. Das galt auch für MLKP-nahe Gruppierungen wie die Jugendorganisation Young Struggle, die sich jedoch Themengebieten zuwandten, die mehr gesellschaftliche und politische Bezüge hatten: Inflation, 62 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN Gewalt gegen Frauen, Rechte der LGBTQ-Bewegung, propalästinensische Solidarität im Zuge der israelischen Reaktion auf den Terrorangriff der HAMAS. Strafund Gewalttaten | Die Zahl der Strafund Gewalttaten im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug stieg sehr deutlich von 37 (2022) auf 105. Die Zunahme erklärt sich aus dem vermehrten Demonstrationsgeschehen nach der COVID-19-Pandemie und einer Erhöhung der Straftaten im Kontext des verschärften Nahostkonflikts. Nachdem es 2022 keine extremistischen Gewalttaten mit Auslandsbezug gegeben hatte, betrug deren Anzahl im Berichtsjahr sechs. REAKTIONEN VON EXTREMISTEN AUF DEN TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL Terroristen der islamistischen HAMAS ermordeten am 7. Oktober in Israel etwa 1.200 Menschen und verletzten rund 5.400 zum Teil schwer. Das Vorgehen der Terroristen war unvorstellbar barbarisch und brutal, mittels Videos verbreiteten sie ihre Verbrechen in den sozialen Medien. Israel rief daraufhin den Kriegszustand aus und startete im palästinensischen Gazastreifen eine militärische Offensive gegen die HAMAS. Laut Angaben des von der HAMAS kontrollierten Gesundheitsministeriums kamen bis zum Ende des Berichtsjahrs im Gazastreifen angeblich mehr als 20.000 Menschen ums Leben, mehr als 60.000 wurden verletzt, wobei die humanitäre Lage im palästinensischen Autonomiegebiet zunehmend prekär war. Jihadistische Organisationen wie der IS und al-Qaida sowie einzelne Jihadisten riefen weltweit zu Anschlägen, besonders in Israel, Europa und im "Westen", auf. In Hessen solidarisierte sich vor allem die Gruppierung RI mit "Palästina" und kritisierte den angeblichen "öffentlichen Genozid unserer Geschwister" durch Israel. Auch ein salafistischer Prediger in Frankfurt am Main sprach von einem Genozid. Insgesamt zielten Islamisten darauf ab, den Staat Israel zu dämonisieren und zu delegitimieren. Linksextremisten und Extremisten mit Auslandsbezug in Hessen waren in ihrer Positionierung zwiegespalten: Ein Teil erklärte sich mit den Juden und dem Staat Israel solidarisch, ein anderer Teil ergriff Partei für die "Unterdrückten", das heißt die Palästinenser, was insbesondere für "antiimperialistische" Linksextremisten galt. Auch die rechtsextremistische Szene agierte uneinheitlich: Rechtsextremisten vertraten sowohl antisemitische als auch islamfeindliche Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 63 EXTREMISMUS IN HESSEN Haltungen. Auf diese Weise konnten sie beide Lager diffamieren und sich dadurch gleichzeitig einen "neutralen" Anschein geben. Außerdem plädierten Rechtsextremisten dafür, dass Deutschland sich aus dem Nahostkonflikt heraushalten und weder die israelische Regierung noch die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen unterstützen solle. Bundesund hessenweit kam es bei propalästinensischen Demonstrationen teilweise zu antisemitischen und das Existenzrecht Israels verneinenden Reaktionen, mitunter auch zu Ausschreitungen. Verliefen die Veranstaltungen in Hessen vorwiegend friedlich, nahmen in den sozialen Medien judenund israelfeindliche Hasskommentare und Hetze jedoch massiv zu. Vor diesem Hintergrund beteiligte sich das LfV an den koordinierten Maßnahmen der im damaligen Hessischen Ministerium des Innern und für Sport (jetzt: Hessisches Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz) eingerichteten Task Force Nahostkonflikt. Außerdem reagierte das LfV unter anderem mit Einstellungen auf seiner Internetseite und eigenen Fortbildungsangeboten auf die Lage im Nahen Osten bzw. die daraus resultierenden Ereignisse in Hessen ("Genese und aktuelle Entwicklungen im Nahostkonflikt", "Israelbezogener Antisemitismus") und führte entsprechende Veranstaltungen für verschiedene Bedarfsträger durch. ORGANISIERTE KRIMINALITÄT (OK) OK-Gruppierungen zeichnen sich durch die planmäßige Begehung von Straftaten aus. Dahinter steht ein Gewinn-, aber auch Machtstreben innerhalb eines gesellschaftlichen Milieus. Gewalt und Bestechung sind dabei oft eingesetzte Mittel zur Durchsetzung der Ziele der OK. Durch diese fortgesetzte kriminelle Agitation wird unser Rechtssystem systematisch unterminiert. Zum Teil sind Schnittstellen zur Spionage zu beobachten. Im Bereich der Rockerkriminalität beobachtete das LfV Outlaw Motorcycle Gangs (OMCG) ebenso wie die russisch-eurasische und die italienische OK. 64 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS IN HESSEN SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Im Bereich der Spionageund Cyberabwehr beobachtete das LfV vor allem gegen Hessen bzw. Deutschland gerichtete Spionage und Einflussnahme sowie Proliferationsaktivitäten und nachrichtendienstlich gesteuerte Cyberangriffe fremder Nachrichtendienste. Im Rahmen seines Angriffskriegs gegen die Ukraine, der "westlichen" Sanktionen und der Unterstützung der Ukraine durch "westliche" Staaten hatte Russland ein erhöhtes Spionageinteresse an Deutschland. Daher beschäftigte sich das LfV unter anderem mit dem Feststellen bzw. Aufspüren entsprechender russischer Aktivitäten, welche die kritische Infrastruktur (KRITIS) und militärische Objekte betrafen. Darüber hinaus nahm die Zahl der dem LfV gemeldeten Verdachtsfälle in Bezug auf mutmaßliche Ausspähungen zu. Unverändert bildeten auch Cyberangriffe eine große Gefahr für deutsche Unternehmen, Wissenschaftsund Forschungseinrichtungen sowie für Politik und Verwaltung. Das galt auch für Desinformationskampagnen. So wurden mittels hybrider Aktionen insbesondere in den sozialen Medien falsche und irreführende Informationen, das heißt letzten Endes prorussische Propaganda, verbreitet, um die Bevölkerung in Deutschland zu verunsichern, die öffentliche Meinung im russischen Sinne zu beeinflussen sowie das Vertrauen in die Demokratie und die Regierenden zu untergraben. Vor diesem Hintergrund und angesichts weiterer Krisenherde (zum Beispiel Nahostkonflikt, politisch-ökonomische Differenzen zwischen China und dem "Westen") überprüfte das LfV alle Hinweise auf nachrichtendienstliche Aktivitäten, die gegen deutsche Interessen gerichtet waren. Darüber hinaus beobachtete das LfV vor allem Aktivitäten iranischer, türkischer, indischer, syrischer, pakistanischer, vietnamesischer und nordkoreanischer Spionage. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 65 EXTREMISMUS IN HESSEN 66 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS - MERKMALE - RECHTSEXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL - RECHTSTERRORISMUS UND SCHWERE GEWALTSTRAFTATEN - PARTEIUNABHÄNGIGE BZW. PARTEIUNGEBUNDENE STRUKTUREN - SONSTIGE PARTEIUNABHÄNGIGE STRUKTUREN - LOSE STRUKTURIERTER RECHTSEXTREMISMUS - PARTEIGEBUNDENE STRUKTUREN BZW. PARTEIEN - RECHTSEXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN RECHTSEXTREMISMUS MERKMALE Rechtsextremisten lehnen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab und bekämpfen sie zum Teil mit Gewalt. Sie verfolgen extremistische Bestrebungen in unterschiedlichen Formen. AUF EINEN BLICK * Das deutsche Volk als höchster Wert * "Ethnopluralismus" * Ideologie der Ungleichwertigkeit * "Kampf um die Parlamente" - "Kampf um die Straße" * Neue Rechte Das deutsche Volk als höchster Wert | Das deutsche Volk stellt für alle Rechtsextremisten den höchsten Wert dar. Sie ordnen die Rechte und Freiheiten anderer Völker und Nationen wie auch die des einzelnen Menschen diesem Nationalismus unter. Nach den Vorstellungen von Rechtsextremisten hat der Einzelne im Sinne eines völkischen Kollektivismus seinen Wert nur durch die Zugehörigkeit zum Volk, das heißt durch eine bestimmte Herkunft. "Ethnopluralismus" | Teile des Rechtsextremismus, vor allem die Identitäre Bewegung, propagieren das Konzept des "Ethnopluralismus" und behaupten in einer verschleiernden Sprache, dass sie für die Vielfalt der Völker einstehen würden. In Wirklichkeit zielt dieses Konzept auf einen strikten Nationalismus, der "fremde" Menschen ausgrenzt und dadurch Fremdenfeindlichkeit provoziert. Der "Ethnopluralismus" beschreibt die Unterschiede zwischen den Völkern und meint damit letztlich die homogene nationale Identität der eigenen Ethnie. Ideologie der Ungleichwertigkeit | Rechtsextremisten vertreten somit eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, die in vielfacher Hinsicht den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widerspricht. An die Stelle demokratischer Entscheidungsprozesse wollen Rechtsextremisten einen autoritären (Führer-)Staat setzen, in dem nur der angeblich in sich einheitliche Wille der "Volksgemeinschaft" herrscht. "Kampf um die Parlamente" - "Kampf um die Straße" | Ihre Ziele verfolgen Rechtsextremisten auf unterschiedliche Art und Weise. Rechtsextremistische Parteien treten zu Wahlen an und versuchen, sich der demokratischen Strukturen zu bedienen, um diese letztlich abzuschaffen. Demgegenüber setzen Neonazis vor allem auf den "Kampf um die Straße". Sie versuchen, durch öffentlichkeitswirksame 68 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Aktionen sowohl im Internet bzw. in den sozialen Medien als auch in der "realen" Welt Aufmerksamkeit zu erzielen. Neue Rechte | Akteure und Gruppierungen aus dem Spektrum der Neuen Rechten wiederum streben einen "Systemwandel" durch "metapolitische" Arbeit, das heißt die Besetzung des vorpolitischen Raums und die Beeinflussung des gesellschaftlichen Diskurses, sowie die Etablierung einer Gegenkultur an. Auf diese Weise wollen die Protagonisten der Neuen Rechten rechtsextremistische Inhalte und Forderungen letztlich mehrheitsfähig machen. RECHTSEXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL1 Im Berichtsjahr stieg das rechtsextremistische Personenpotenzial erneut gegenüber dem Vorjahr an, das heißt um 45 Personen auf 1.775. Der Zuwachs resultierte vor allem aus einer Steigerung im Bereich des weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Personenpotenzials sowie im parteigebundenen Spektrum. Gleichzeitig stieg die Anzahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten von 880 (2022) auf 905 an. (Siehe im Glossar auch die Erläuterung zum Begriff Personenpotenzial.) 1 Die Zahlen sind teilweise geschätzt und gerundet. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 69 RECHTSEXTREMISMUS 70 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS RECHTSTERRORISMUS UND SCHWERE GEWALTSTRAFTATEN Rechtsterroristische Anschläge und Gewalttaten stellen in der Bundesrepublik Deutschland bereits seit Jahrzehnten eine stetige und reale Gefahr dar. Auch im Berichtsjahr verlor die vom Rechtsterrorismus ausgehende Gefahr nicht an Aktualität. Die zunehmend im Internet vollzogene Radikalisierung vor allem von allein handelnden Personen und deren frühzeitige Aufklärung stellten weiterhin hohe Anforderungen an die Arbeit der Sicherheitsbehörden. In den vergangenen Jahren wurde beobachtet, dass rechtsextremistische Gewalttäter mitunter eine Radikalisierung durchlaufen, die sich ohne Anknüpfungspunkte an in der "realen Welt" bestehende und bekannte rechtsextremistische Szenebereiche vollzieht. AUF EINEN BLICK * Rechtskräftige Verurteilung von Marvin E. * Urteil gegen ehemaligen Bundeswehroffizier Franco A. rechtskräftig * Verurteilung von ehemaligem Bundeswehrsoldaten Tim F. * Festnahme eines Schülers * "Attentäterfanszene" Rechtskräftige Verurteilung von Marvin E. | Am 8. Mai 2023 verurteilte das OLG Frankfurt am Main den damals 21-jährigen Marvin E. zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten. Tatvorwürfe waren die versuchte Gründung einer terroristischen Vereinigung als Rädelsführer sowie die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat in Tateinheit mit vorsätzlichem Besitz unkonventioneller Sprengvorrichtungen und mit vorsätzlichem unerlaubten Umgang mit explosionsgefährlichen Stoffen. Das Urteil ist seit dem 9. Mai 2023 rechtskräftig. Die Polizei hatte Marvin E. 2021 in Spangenberg (Schwalm-EderKreis) festgenommen und dabei rund 600 selbstgebaute Kleinsprengkörper sowie sechs unkonventionelle Sprengund Brandvorrichtungen (USBV) sichergestellt. Auf der Festplatte von E. befand sich eine Art Manifest, in dem er sich gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland wendete und zum "totalen Rassenkrieg" aufrief. Gemäß den Feststellungen des OLG hatte Marvin E. vollständig die Ideologie der international aktiven rechtsterroristischen Vereinigung Atomwaffen Division (AWD) übernommen und den Entschluss gefasst, nach ihrem ideologischen Vorbild eine unabhängige, regional Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 71 RECHTSEXTREMISMUS auf Hessen beschränkte sowie dauerhaft agierende Gruppierung mit dem Namen "Atomwaffen Division Hessen" zu gründen. Ziel der Gruppierung war es, einen "Rassen"und Bürgerkrieg auszulösen, um eine "weiße Vorherrschaft" nach dem Vorbild des Nationalsozialismus zu etablieren und das gegenwärtige System zu überwinden. Urteil gegen ehemaligen Bundeswehroffizier Franco A. rechtskräftig | Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte im August 2023 das gegen den ehemaligen Bundeswehroffizier Franco A. 2022 ergangene Urteil des OLG Frankfurt am Main. Die Revision des Angeklagten, der aufgrund der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie Verstößen gegen das Waffengesetz und das Sprengstoffgesetz zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war, lehnte der BGH als unbegründet ab. Gemäß dem OLG Frankfurt am Main verfügt A. über eine seit Jahren verfestigte rechtsextremistische, völkisch-nationalistische und rassistische Gesinnung und eine ausgeprägte, auf Verschwörungsnarrativen basierende antisemitische Einstellung. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Franco A. einen rechtsextremistischen Anschlag - unter anderem auf Politiker - mit dem Ziel verüben wollte, einen gesellschaftlichen Richtungswechsel im Zusammenhang mit der damaligen Asylpolitik zu erreichen. Verurteilung von ehemaligem Bundeswehrsoldaten Tim F. | Am 29. September verurteilte das Landgericht (LG) Frankfurt am Main den ehemaligen Bundeswehrsoldaten Tim F. wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, Verstößen gegen das Waffen-, Sprengstoffund Kriegswaffenkontrollgesetz sowie Körperverletzung und Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Damit ging das Gericht über die Forderungen der Staatsanwaltschaft hinaus. Der Bruder Robin F. und der Vater Bernd F. wurden wegen Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie Verstößen gegen das Waffen-, Sprengstoffund Kriegswaffenkontrollgesetz verurteilt, wobei gegen Robin F. eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten (Jugendstrafe) und gegen Bernd F. eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und fünf Monaten verhängt wurde. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Auf dem von allen drei Personen bewohnten Anwesen in Glashütten (Hochtaunuskreis) hatte die Polizei 2021 ein großes Arsenal an Waffen, Munition und Sprengstoffen gefunden. Nach Überzeugung des Gerichts wollte Tim F. unter dem Eindruck der staatlichen "CoronaMaßnahmen" eine paramilitärische Gruppe aufbauen und die Gesellschaft mittels eines Anschlags destabilisieren. 72 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Festnahme eines Schülers | Im November 2023 nahm die Polizei in Waldbrunn (Landkreis Limburg-Weilburg) einen 18-Jährigen wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie eines Verstoßes gegen das Waffengesetz fest. Bei der Durchsuchung der Wohnräume des Beschuldigten stellte die Polizei unter anderem Waffen und Munition sicher. Der Schüler soll in Internetforen mehrfach gedroht haben, zwecks Umsetzung seiner politischen Ziele Menschen töten zu wollen. Außerdem soll er über eine verfestigte gewaltbereite, antisemitische und rechtsextremistische Grundeinstellung verfügen. Bereits in der Vergangenheit sei der Beschuldigte an seiner Schule auffällig geworden, nachdem er einen Mitschüler antisemitisch beschimpft und mit einer Flasche angegriffen habe. Gegen den 18-Jährigen erging noch am Tag der Durchsuchung ein Haftbefehl, seitdem befindet er sich in Untersuchungshaft. "Attentäterfanszene" | Im Berichtsjahr rückte die sogenannte Attentäterfanszene zusehends ins Augenmerk der Sicherheitsbehörden. Hierbei handelt es sich um Personen bzw. Personengruppen, die verschiedene Onlineplattformen nutzen, um sich virtuell zu vernetzen und einen regelrechten Personenkult um allein handelnde rechtsextremistische Attentäter zu betreiben. Ihre Anhänger verehren die Attentäter als "Heilige", wobei stets ein Nacheifern rechtsextremistisch motivierter Anschläge im Raum steht. Die in diesem virtuellen Rahmen vollzogene "gegenseitige" Bestätigung führt zu Radikalisierungsprozessen, die nahezu gänzlich abseits klassischer rechtsextremistischer Strukturen verlaufen können. In Bezug auf die Gewaltorientierung unterscheidet sich diese Szene in ihrer Altersstruktur teilweise von anderen online agierenden rechtsextremistischen Gruppierungen. Immer wieder werden minderjährige Akteure festgestellt, die teilweise noch nicht strafmündig sind und somit die Sicherheitsbehörden vor besondere Herausforderungen stellen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 73 RECHTSEXTREMISMUS PARTEIUNABHÄNGIGE BZW. PARTEIUNGEBUNDENE STRUKTUREN Identitäre Bewegung Deutschland e. V. (IBD)/Identitäre Bewegung Hessen (IBH) DEFINITION/KERNDATEN Die IBD präsentiert sich "modern", "intellektuell" und aktionsLogo der orientiert und ahmt in ihrer Bildsprache und in ihren AktionsIdentitären formen den Stil "linker" Protestbewegungen nach. Hierzu verBewegung Deutschland wendet die IBD Elemente der Popkultur und führt Besetzungen sowie Sprüh-, Bannerund Stickeraktionen durch. Typisch rechtsexBundesvorsitzender: Philip Thaler tremistische bzw. nationalsozialistische Begriffe wie etwa "Volksge(Sachsen-Anhalt) meinschaft" und "Rasse" gehören nicht zum Vokabular der IBD. Stattdessen verwendet sie Chiffren wie "Identität" und "Ethnie". DaMitglieder: mit versucht die IBD mittels ihrer Selbstdarstellung in den sozialen In Hessen etwa 40, Medien und mit Hilfe medienwirksamer Aktionen insbesondere indie bundesweite Zahl lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor ternetaffine Jugendliche und junge Erwachsene zu gewinnen, um eine neue völkische Jugendkultur bzw. politische Strömung zu etabMedien: lieren. Vor allem über die direkte Kommunikation in den sozialen Internetpräsenzen Medien, die nicht auf die traditionelle Berichterstattung und Kommentierung von Fernsehen, Radio und Printmedien (auch im Inter- / net) angewiesen ist, versucht die Identitäre Bewegung (IB), Begriffe und Inhalte neu und scheinbar unverfänglich zu definieren und damit auch Personen außerhalb der rechtsextremistischen Szene anzusprechen. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Dem Trend seit 2021 folgend, nahmen die Aktivitäten der IBH im Berichtsjahr weiter ab. Vereinzelt verbreitete sie Berichte über außerhessische IB-Aktionen auf ihren Telegramund X-Kanälen Aktives Hessen, während sie auf dem eigenen Telegram-Kanal Identitäre Hessen inaktiv war. AUF EINEN BLICK * Strategische Neuausrichtung der IB * Aktivitäten der IBH im virtuellen Raum * Agitation gegen die "Migration" * "Sommerlager der IB 2023" * Aufrufe zu Kampfsporttraining und zur Bewaffnung Strategische Neuausrichtung der IB | Im Kampf gegen den andauernden Bedeutungsverlust innerhalb der Neuen Rechten setzte die 74 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS IB die 2021 begonnene Neuausrichtung fort: Aktivisten der IBD traten bei Banneraktionen überwiegend vermummt in Erscheinung, ausgenommen davon waren einzelne Führungspersonen, welche die IBD sowohl in der virtuellen als auch in der "realen" Welt öffentlich repräsentierten. Die öffentlichkeitswirksamen Aktionen im Berichtsjahr wiesen zumeist keinen offensichtlichen Bezug zur IBD auf, so fand das V Lambdazeichen ( ) auf Bannern, Plakaten und Stickern nur noch sporadisch Verwendung. Auch hielt die IB daran fest, die Urheberschaft der von ihr genutzten Kanäle in den sozialen Medien zu verschleiern, nachdem Plattformbetreiber zuletzt im Jahr 2022 der IB zuzuordnende Kanäle gelöscht hatten (Deplatforming). Mit der kompletten Überarbeitung ihrer Internetseite und einem neu designten Logo setzte die IBD auch optisch auf einen Neuanfang. An die Stelle des bisherigen schwarzgelben Farbschemas traten die Farben Blau und Weiß. Auch das Lambdazeichen wurde neugestaltet, das heißt, das gelbe Lambda auf schwarzem Hintergrund erschien nun als weißes Lambda auf blauem Hintergrund. Außerdem befand sich das Zeichen nicht mehr in einem Kreis, der den Schild der Spartaner repräsentieren soll, sondern stand frei. Auf ihrer Internetseite stellte die IBD auf einer neuen Unterseite "Projekte, Initiativen oder Firmen" vor, an denen "aktive oder ehemalige IB-Kader beteiligt sind". Darunter befanden sich - neben den der IB zuzurechnenden Unternehmen wie Schanze Eins und Phalanx Europa - auch die GegenUni. Die IBH setzte diesen Relaunch im Berichtsjahr nicht um. Auf ihrem Telegram-Kanal verwendete sie weiterhin das Logo im alten schwarzgelben Design. Die von der IBD thematisierten Inhalte blieben unverändert. Hauptthema war weiterhin die angebliche unkontrollierte MasseneinwanHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 75 RECHTSEXTREMISMUS derung und deren nach ihrer Auffassung negativen Folgen für Deutschland. Aktivitäten der IBH im virtuellen Raum | Die Aktivitäten der IBH beschränkten sich auf den virtuellen Raum, Aktionen in der "realen Welt" unter Verwendung ihrer Symbole waren nicht festzustellen. Mit den Kanälen Aktives Hessen auf Telegram und X versuchte auch die IBH, im Sinne der strategischen Neuausrichtung die Urheberschaft der IB bei ihren Beiträgen im Internet zu bemänteln. So wurden Berichte über Aktionen von IB-Aktivisten aus dem ganzen Bundesgebiet und dem europäischen Ausland veröffentlicht. Zum Beispiel wurden auf Telegram Beiträge über Banneraktionen in Plauen (Sachsen), Sindelfingen (Baden-Württemberg) und Österreich geteilt. Durchgeführt wurden diese Aktionen von entsprechenden Regionalgruppen ohne hessische Beteiligung. Beiträge über Aktionen in Hessen befanden sich nicht darunter. Nach dem Abklingen ihrer Agitation gegen die staatlichen "CoronaMaßnahmen" fokussierte sich die IBH im Berichtsjahr auf ihr Kernthema "Migration". Zentraler Inhalt der von ihr geteilten Beiträge war die Forderung nach einem Ende des angeblichen "Bevölkerungsaustauschs", womit die IBH die weitere Forderung nach einer "Remigration" außereuropäischer Migranten in ihre Heimatländer verband. So hieß es am 31. Juli in einem Beitrag des X-Kanals Hessenjunge, der einem IBH-Aktivisten zuzurechnen ist: "Es gibt keine schwarzen Deutschen und auch keine schwarzen Europäer. #Remigration". Darüber hinaus versuchte die IBH, ihre Kanäle für die Rekrutierung neuer Anhänger und für die Mobilisierung für Veranstaltungen zu nutzen. So warb die IBH für eine "Remigrationsdemo" der Identitären Bewegung Österreich (IBÖ) am 29. Juli in Wien (Österreich). Agitation gegen die "Migration" | Die IBH teilte am 9. Mai einen Beitrag über eine "Aufklärungskampagne", in deren Rahmen IB-Aktivisten in "zahlreichen afrikanischen Staaten und Regionen" zusammen mit "örtlichen Agenturen mehrere Großflächenplakate" mit dem Slogan "No Way - Do not come to Europe" angebracht hatten. Ziel der Kampagne war die "Verhinderung der Masseneinwanderung nach Europa". Auf den Telegram-Kanälen der IBD wurde hierüber mehrfach berichtet und um Spenden geworben. Darüber hinaus führten Regionalgruppen der IBD - jedoch nicht die IBH - mehrere Aktionen durch, um gegen die Aufnahme von Migranten und geplante Asylund Flüchtlingsunterkünfte zu protestieren. So entrollten mehrere zum Teil vermummte IBD-Aktivisten vor einer Unterkunft in Peutenhausen (Bayern) am 9. Februar ein Transparent mit der Aufschrift "Gefährderstandort" und entzündeten 76 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Rauchkörper. Im Anschluss an polizeiliche Durchsuchungsmaßnahmen bei den Tatverdächtigen warb die IBH in ihren Kanälen in den sozialen Medien mit einem Spendenaufruf um finanzielle Unterstützung für die "Helden von Peutenhausen". Am 4. Juni thematisierte die IBH außerdem eine Aktion der IB in Plauen (Sachsen). Aktivisten hatten dort am 29. Mai vor dem Rathaus ein Transparent mit der Aufschrift "Macht Plauen wieder sicher! #Remigration" entrollt und auch hier Rauchkörper gezündet. In dem Kanal Aktives Hessen hieß es: "Plauen ist nur eines unzähliger Beispiele, dass Integration von Massen kulturfremder Migranten eine Lüge ist! Je weiter der Bevölkerungsaustausch voranschreitet, desto offensichtlicher werden die katastrophalen Folgen". (Schreibweise wie im Original). "Sommerlager der IB 2023" | Im August führte die IBD erneut ihr jährliches Sommerlager durch. Laut eines Beitrags im Internet standen unter anderem ein "hartes sportliches Programm und aktivistische Bildung" im Mittelpunkt. Im Internet veröffentlichte Bilder zeigten die Aktivisten beim Kampfsporttraining und - einheitlich bekleidet - bei einem militärisch anmutenden Appell. Laut Eigenaussage zählten Aktivisten aus Dänemark und Frankreich zu den Rednern, die in ihren Vorträgen ihre jeweiligen nationalen IB-Ableger vorstellten. In Bezug auf das Ziel und den Anspruch des "Sommerlagers der IB" hieß es im Internet: "Zwischen Frühappell, Boxtraining und spannenden Vorträgen formt sich die künftige aktivistische Avantgarde". Dass Personen aus Hessen teilnahmen, wurde nicht bekannt. Aufrufe zu Kampfsporttraining und zur Bewaffnung | Im Berichtsjahr betonten Aktivisten der IB - auch aus Hessen - in ihren Beiträgen in den sozialen Medien immer wieder, dass es notwendig sei, Kampfsport zu treiben. Hintergrund ist, dass sich die IB als Teil eines vermeintlich legitimen Widerstands gegen den "großen Austausch" betrachtet und es angeblich notwendig sei, sich gegen damit einhergehende Phänomene wie Kriminalität von Ausländern zur Wehr zu setzen. In einem Beitrag des maßgeblichen IB-Protagonisten Martin Sellner auf Telegram hieß es am 10. Juni: "Der Staat lässt uns im Stich und importiert Vergewaltiger/Mörder. Ihr müsst selbst stabil werden. Trainiert, lernt Kampfsport, informiert euch über Waffenrecht. Bis zur #remigration sind unsere Städte leider ,Kriegszonen'". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 77 RECHTSEXTREMISMUS Ähnlich wurde in dem Social-Media-Kanal Hessenjunge am 3. Juli gefordert: "Jeder Europäer muss Kampfsport betreiben. Es hilft alles nichts mehr. Manche Dinge können nicht mehr gefixt werden". ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Die IBD sieht sich als Ableger der IBÖ, die wiederum aus dem 2003 in Frankreich entstandenen Bloc Identitaire - Le mouvement social europeen, der späteren Generation Identitaire (GI), hervorgegangen war. In der IBÖ sieht die IBD ein "Vorbild". AUF EINEN BLICK * Ursprung in Frankreich * IB in Deutschland Ursprung in Frankreich | Die "erste größere Aktion" der GI - so ihre eigene Einschätzung - fand im Oktober 2012 statt, als rund 70 Jugendliche in Poitiers (Frankreich) eine Moschee im "Kampf für unsere Identität" besetzten und dies in einem später im Internet verbreiteten Video wie folgt rechtfertigten: "Es ist fast 1300 Jahre her, als Karl Martell die Araber bei Poitiers nach einem heroischen Kampf aufhalten konnte und so unser Land vor den muslimischen Invasoren gerettet hat. Es war der 25. Oktober 732. Heute sind wir im Jahr 2012 und die Wahl ist immer noch die gleiche: Frei zu leben oder zu sterben. Unsere Generation weigert sich, seine Menschen und seine Identität in Gleichgültigkeit aufzugeben, wir werden nie zu den Indianern Europas werden. Wegen dieser symbolischen Handlung und unserer Vergangenheit und dem Mut unserer Vorfahren, rufen wir auf zur Erinnerung und zum Kampf!" (Schreibweise wie im Original). Ebenfalls im Oktober 2012 erschien auf YouTube das GI-Video "Kriegserklärung - Identitäre Generation". Darin hieß es unter anderem: "Wir sind die Generation der ethnischen Spaltung, des totalen Scheiterns des Zusammenlebens und der erzwungenen Mischung der Rassen. Wir sind die doppelt bestrafte Generation: dazu verdammt in ein Sozialsystem einzuzahlen, das so großzügig zu Fremden ist, dass es für die eigenen Leute nicht mehr reicht. Unsere Generation ist das Opfer der 68er, die sich selbst befreien wollten von Tradition, von Wissen und autoritärer Erziehung. [...] Unser Erbe ist unser Blut, unsere Identität". 78 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS IB in Deutschland | Nach der Veröffentlichung des Videos, das sich europaweit rasch in verschiedenen Sprachen (mit Untertiteln) verbreitete, wurden auch in Deutschland Anhänger der IB aktiv, zunächst "virtuell" im Internet, dann aber auch zunehmend in der "realen" Welt, indem sich regionale Gruppen bildeten. Anfang Dezember 2012 fanden sich deutsche Anhänger der IB zu ihrem ersten bundesweiten, konstituierenden Treffen in Frankfurt am Main zusammen, unter ihnen auch Vertreter aus Österreich und Italien. In Hessen trat die IB seit Ende 2012 mit Plakatund Aufkleberaktionen öffentlich in Erscheinung. Im April 2014 fand in Fulda (Landkreis Fulda) ein Treffen statt, das der weiteren Vernetzung diente. In der Folge gründete sich im Mai 2014 in NordrheinWestfalen der Verein Identitäre Bewegung Deutschland e. V. mit dem Ziel, die "Identität des deutschen Volkes als eine eigenständige unter den Identitäten der anderen Völker der Welt zu erhalten und zu fördern". IDEOLOGIE/ZIELE Indem die IB von "Ethnopluralismus" spricht, stellt sie - in ihrem Kampf gegen den vermeintlichen "großen Austausch" - "kulturelle Eigenheiten" und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie über die in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verankerten Werte. AUF EINEN BLICK * "Ethnopluralismus" - "ethnokulturelle Identität" * "Der große Austausch" V * Symbolik des griechischen Buchstabens Lambda ( ) * Teil der Mosaik-Rechten * Angebliches Recht auf "Widerstand" "Ethnopluralismus" - "ethnokulturelle Identität" | Die IBD betont die dominierende Bedeutung von Abstammung und Identität und steht damit in der Nähe zur völkischen Ideologie von Rechtsextremisten. Den Menschen nimmt die IBD nicht primär in seiner Individualität, sondern vorrangig in Bezug auf seine ethnische Herkunft wahr. Hierzu hieß es auf der Homepage der IBD: "Die entscheidenden Fragen des 21. Jahrhunderts werden vor allem auf dem Feld der Identitätspolitik gestellt werden. Dabei müssen wir als patriotische Europäer unweigerlich zur Kenntnis nehmen, dass sich in den kommenden Jahren ein zunehmender Migrationsdruck auf Europa entlädt, der zu vielfältigen sozialen, demographischen, kulturellen und ökonomischen Spannungen führt". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 79 RECHTSEXTREMISMUS Die IBD rekurriert mit ihrem Konzept des "Ethnopluralismus" nicht auf die Vordenker des "klassischen" Rechtsextremismus. Im Gegensatz zu diesen vertritt die IBD die Auffassung, dass es auf die Unterschiedlichkeit der Ethnien im kulturellen Sinne ankomme. Diese "kulturellen" Eigenarten - im Jargon der IBD die "Identität" - gelte es durch eine größtmögliche Trennung der verschiedenen Ethnien zu erhalten. Ethnopluralisten geben vor, dabei keine Unterscheidung nach der Wertigkeit einer Ethnie vorzunehmen, was sie vordergründig von den im Rechtsextremismus vorherrschenden rassistischen Ideologien abhebt. Nach eigenen Worten erteilt die IBD "Rassismus und Chauvinismus eine klare Absage, da es uns stets um die Betonung des Rechts auf Bewahrung der Identität für jedes Volk und jede Kultur geht und wir eine qualitative Aufoder Abwertung einer bestimmten ethnokulturellen Gemeinschaft klar ablehnen". Es gelte gleichwohl, so die IBD, die eigene Kultur zu bewahren, da sie das eigene Dasein maßgeblich ausmache. In dem mehrteiligen Artikel "Nationalismus revisited" wird hierzu ausgeführt: "Ja, wir stehen für den Erhalt unserer ethnokulturellen Identität, gegen Masseneinwanderung, gegen die Lüge von ,Menschheit und Weltstaat', für den Erhalt der Völker, der Wurzeln, der Herkunft und der Heimat, aber Nein, wir sind keine Nationalisten". "Der große Austausch" | Mit dem Begriff "Der große Austausch" bezeichnet die IBD den angeblichen Prozess, durch den die "angestammte Bevölkerung" durch "außereuropäische Einwanderer ersetzt" werde. Nach Ansicht der IBD wird diese schrittweise Verdrängung durch eine von Politikern und "Mainstreammedien" getragene Ideologie befördert, die geprägt sei von "Selbsthass und dem historischen Schuldkult der europäischen Völker", die sich "autoaggressiv gegen die eigene ethnokulturelle Identität" richteten. V Symbolik des griechischen Buchstabens Lambda ( ) | In ihrer Bildsprache verwendete die IBD im Internet, bei Veranstaltungen sowie auf Flyern, Aufklebern und Merchandiseartikeln den griechischen Buchstaben Lambda, der durch die Comicverfilmung "300" aus dem Jahr 2006 einem breiten Publikum bekannt geworden ist. Der Film glorifiziert das antike Sparta und den letztlich aussichtlosen Verteidigungskampf von 300 Spartanern (Lakedaimoniern) gegen die Übermacht der Perser in der Schlacht bei den Thermopylen (480 v. Chr.). In vielfachen Variationen zeigt der Film bewaffnete und kämpferisch entschlossene Spartaner im Kampf gegen persische Angreifer. Die IBD identifiziert sich mit dieser Bildsprache und sieht sich in ihrem "Abwehrkampf" in der Tradition der Spartaner. 80 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Die Orientierung der IBD an Sparta, das "bis heute [...] als Inbegriff eines schon in der Frühzeit gesetzlich streng regulierten und rein militärisch ausgerichteten Staates" (Lukas Thommen, 2017) gilt, ist daher keine vordergründige Symbolik. Die Bildsprache, insbesondere die Verwendung des Buchstabens Lambda, steht für Anschauungen der IB, die nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar sind. Teil der Mosaik-Rechten | Die IB begreift sich als Bestandteil der Mosaik-Rechten. Dabei handelt es sich um eine arbeitsteilige Strategie, wonach durch das verzahnte, wechselseitige Zusammenwirken von parlamentarischen und außerparlamentarischen Akteuren und Gruppierungen Elemente rechtsextremistischer Ideologie in alle gesellschaftlichen Teilbereiche und Subkulturen getragen werden sollen. Damit soll sukzessive die Vorherrschaft im vorpolitischen Raum erlangt und letztlich eine Gesellschaft und ein Staat nach den ideologischen Vorstellungen der Neuen Rechten geschaffen werden. Als kleinsten gemeinsamen ideologischen Nenner der Mosaik-Rechten bezeichnete Martin Sellner bereits im Juni 2019 in der Zeitschrift Sezession, die vom Institut für Staatspolitik (vom BfV im Berichtsjahr als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft) herausgegeben wurde, den Widerstand gegen "Ersetzungsmigration": "Alle können sich [...] auf eine Forderungen einigen: der Bevölkerungsaustausch muß beendet werden. [...] Das Arsenal an kapitalismuskritischen, libertären und religiösen Argumenten gegen die Ersetzungsmigration macht das patriotische Mosaik vielfältig und anschlußfähig". (Schreibweise wie im Original.) Angebliches Recht auf "Widerstand" | Nach Auffassung der IBD sei aufgrund der derzeitigen Lage in Deutschland "eindeutig" der Widerstandsfall nach Art. 20 Abs. 4 GG eingetreten. Das Recht auf Widerstand rechtfertige in der jetzigen Situation zivilen Ungehorsam, jedoch keine Gewalt. In diesem Kontext scheut die IBD nicht davor zurück, an die Akteure der Weißen Rose als vermeintlich historische Vorbilder zu erinnern. Dabei hebt die IBD insbesondere auf den gewaltfreien Widerstand der Weißen Rose gegen das nationalsozialistische Gewaltund Terrorregime ab, der sich 1942/43 unter anderem mittels Flugblattaktionen artikuliert hatte, eine Aktionsform, auf die auch die IBD immer wieder zurückgreift. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 81 RECHTSEXTREMISMUS BEWERTUNG/AUSBLICK Die IBH versuchte im Berichtszeitraum weiterhin, ihre fremdenfeindliche Ideologie in die demokratisch verfasste Gesellschaft zu tragen. Das Deplatforming durch die Plattformbetreiber und die niedrige Zahl der Follower auf den verbliebenen Kanälen schränkten die Reichweite der IBH in den sozialen Medien deutlich ein. Auch das Projekt der strategischen Neuausrichtung der IB führte zu keinen positiven Impulsen für die IBH. Im Gegenteil, ihr Aktionsraum verengte sich auf den virtuellen Raum, sodass es ihr erneut nicht gelang, an ihre "Hochzeit" während der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 anzuknüpfen. Die IBD konnte im Berichtszeitraum den in den vergangenen Jahren stetig voranschreitenden Bedeutungsverlust scheinbar stoppen. Auch wenn ihr Aktivitätsaufkommen qualitativ und quantitativ nicht an ihr früheres Niveau heranreicht, zeigen die Aktionen, dass sie - gerade über ihr Kernthema "Remigration" - weiterhin über ein gewisses Mobilisierungspotenzial verfügt. Dementsprechend fokussierte sich die IBD im Berichtsjahr auf migrationsfeindliche Agitation. An die gesellschaftlichen Debatten über Migration Anschluss suchend, war die IBD weiterhin bestrebt, durch ihre Aktivitäten öffentlich wahrnehmbar in Erscheinung zu treten und den gesellschaftlichen Diskurs mitzuprägen. Auch wenn der Nimbus der IB als avantgardistische Impulsgeberin in der Neuen Rechten deutlich angeschlagen ist, konnte sich die Bewegung dennoch konsolidieren und nahm aufgrund ihrer guten Vernetzung weiterhin eine wichtige Rolle innerhalb der Mosaik-Rechten ein. Die fortwährende Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung, die von der IBD als rechtsextremistische Jugendbewegung mit elitär-intellektuellem Selbstverständnis ausgeht, darf allerdings nicht unterschätzt werden. Gerade die Selbstinszenierung der IB als revoltierende Gegenkultur gegen eine vermeintlich gleichgeschaltete Gesellschaft und Medienlandschaft, in der "patriotische" Werte stigmatisiert und unterdrückt werden, kann weiterhin eine Faszination auf Jugendliche und junge Erwachsene ausüben. Das Interesse für Kampfsport, das sich im Sommerlager 2023 und in Beiträgen auf Kanälen der sozialen Medien zeigte, lässt zudem vermuten, dass die IBD versucht, sich nicht nur als intellektuell und elitär, sondern auch als besonders wehrhaft darzustellen. Auf diese Weise will sich die IBD offenbar auch für eine kampfsportaffine Klientel interessant machen. 82 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Indem die IBD behauptet, eine Bewegung zu sein, welche die "Zukunft unserer Heimat" in die Hand nimmt, wobei sie von einer "Kampfansage" spricht, will sie das Fundament für einen vermeintlich legitimen Widerstand schaffen. Der Fall des Rechtsterroristen von Christchurch (Neuseeland), der bei seinem Anschlag auf zwei Moscheen 51 Menschen tötete und sich in seinem "Manifest" auf das von der IB propagierte Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs" berief sowie Kontakte zur IBÖ unterhielt, zeigt, dass die von der IBD verbreitete Ideologie dazu geeignet ist, Radikalisierungsprozesse zu fördern und schwerste Gewaltstraftaten zu legitimieren. GegenUni (GU) DEFINITION/KERNDATEN Die im Juli 2021 durch den zum damaligen Zeitpunkt in Hessen Angehörige: wohnhaften Rechtsextremisten Erik Ahrens gegründete GU ist Nach eigenen Angaben über ein virtuelles "Bildungsprojekt" aus dem Spektrum der Neuen Rech630 "Studenten" und über ten. Laut einer früheren Version der Homepage der GU soll hiermit 20 "Dozenten" ein Gegenentwurf zu den als "Zwingburg des antideutschen ideolo(Stand August 2023) gischen Staatsapparats" und den als "Brutstätte des linksliberalen Medien: Universalismus" verunglimpften Hochschulen etabliert werden. Trotz Internetpräsenzen der Selbstbezeichnung als "Universität" steht bei der GU nicht der wissenschaftliche Diskurs und damit die kritische - wissenschaftlichen Standards genügende - Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Themen im Vordergrund. Der GU geht es viel- / mehr um den "Kampf um den geistigen Raum der Nation", der letztlich zum "metapolitischen" Sieg, also der rechtsextremistischen Dominanz im vorpolitischen Raum, führen soll. Durch Kurse und Seminare im Internet will die GU die "junge, rechte Intelligenz" aus ihren "verstreuten Nischen" holen und versammeln, "jungen, gefährlichen Denkern" die Möglichkeit zur "Verbreitung ihrer Ideen" geben und nicht zuletzt durch die Erhebung von Studiengebühren "Verdienstmöglichkeiten für junge Rechtsintellektuelle" schaffen. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Seit ihrer Gründung beschäftigte die GU unter anderem Rechtsextremisten als "Dozenten" und versuchte, durch Kurse und Seminare im Internet ein Lehrangebot für eine künftige "Bildungselite" der Neuen Rechten zu etablieren. Dabei sollten ideologische Elemente der Neuen Rechten wie etwa der "Ethnopluralismus" und das Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs" im bildungspolitischen Raum verankert und verbreitet werden. Während diese Themenund Wortwahl die feste Verankerung der GU im Spektrum der Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 83 RECHTSEXTREMISMUS Neuen Rechten unterstrich, schlug sie nach einer Überarbeitung ihrer Homepage im November 2022 deutlich gemäßigtere Töne an. Die GU bezeichnete sich nun als "digitale Akademie für politische Inhalte" zu "Geschichte, Philosophie, Kulturund Gesellschaftswissenschaften". Sie biete "konservativen und patriotischen Inhalten" einen Raum, allerdings seien nicht alle "stramm politisch". Der GU seien "Meinungsvielfalt und offener Diskurs" wichtig, man positioniere sich als "Gegenbewegung zu den links dominierten Universität[en]" und gegen eine in Deutschland vorherrschende "Cancel Culture" an deutschen Hochschulen. Während sich die GU 2022 als Kooperationspartnerin bei zwei "Akademien" des vom BfV damals als Verdachtsfall eingestuften Instituts für Staatspolitik (IfS) in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) in der "realen Welt" präsentierte, reduzierte sich ihre Rolle im Berichtsjahr vornehmlich auf die der "E-Learning-Plattform im rechten Lager". Der Gründer der GU, Erik Ahrens, trat jedoch auch weiterhin als Vortragender im Rahmen mehrerer Veranstaltungen in der "realen Welt" in Erscheinung. AUF EINEN BLICK * Vortragsveranstaltungen * Kursinhalte und "Dozenten" * "Strategien für den Wandel" * Vernetzung * Projekt "Blitzwissen" Vortragsveranstaltungen | Der GU-Gründer nahm vom 22. bis 24 September an der "Sommerakademie" des IfS in Schnellroda (SachsenAnhalt) teil. Im Unterschied zum Vorjahr, als "Dozenten" der GU mehrere Vorträge gehalten hatten, blieb es bei einem "Spontanvortrag" des GU-Gründers zum Thema "TikTok von rechts". Ahrens erläuterte den Nutzen des Videoportals als "wichtigstes und relevantestes Medium im Netz" für die Neue Rechte. TikTok biete eine Möglichkeit, deren Ideologie über die Grenzen ihrer eigenen Gefolgschaft hinaus einer breiten Masse bekanntzumachen. Möglich mache dies der Algorithmus von TikTok, über den Nutzer mit einem verhältnismäßig niedrigen Aufwand schnell eine große Reichweite aufbauen könnten. Hochgeladene Inhalte würden grundsätzlich einer unbestimmten Anzahl an Nutzern automatisch angezeigt, womit den Videoproduzenten - im Gegensatz zu anderen auf der Anzahl der Abonnenten basierenden Algorithmen - eine Grundreichweite für ihre Inhalte garantiert werde. Würden diese Videos dann angesehen und kommentiert, sei schnell eine exponentielle Erweiterung der Reichweite möglich. Mit den "richtigen Zusammenschnitten" aus ein "paar Bildern, ein bisschen Text und Musik", so Ahrens, könne die Reichweite für ein 84 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS "rechtes Projekt" sehr stark erhöht werden. So verzeichnete das Video zu dem GU-Kurs "Die Geschichte der Kreuzzüge. Europas Kampf um seine Identität" über 500.000 Aufrufe bei TikTok. Durchschnittlich würde TikTok, so Ahrens, von 14bis 19-Jährigen 90 Minuten am Tag genutzt, wodurch Akteure der Neuen Rechten während dieser Zeit ein "Fenster in deren Gehirn" zur Verfügung stünde. TikTok biete den Nutzern zudem einen gewissen Schutz vor "Deplatforming". Somit könnten Akteure der Neuen Rechten bei Löschung eines Accounts durch das Erstellen eines neuen schnell wieder eine hohe Reichweite erreichen. Auf diese Weise schaffe es die Neue Rechte, "Sichtbarkeit auf[zu]bauen, ob sie wollen oder nicht". Auch bei einer Veranstaltung des vom LfV Brandenburg im Berichtsjahr als gesichert rechtsextremistisch eingestuften JA-Landesverbands Brandenburg präsentierte sich die GU. Der GU-Gründer referierte beim "Jugenddialog" der JA am 19. Oktober in Potsdam (Brandenburg) zum Thema "Widerstand an Hochschulen". Kursinhalte und "Dozenten" | In der früheren Version ihrer Homepage hatte die GU im Juli 2021 erklärt, zwar keine Bacheloroder Masterabschlüsse anbieten zu können, stattdessen aber "politisches und philosophisches Handwerkszeug" zu vermitteln, um "unser Lager" zum "Sieg" zu führen. Im Berichtsjahr bot die GU weiterhin Seminare an, die Elemente der Ideologie der Neuen Rechten vermittelten. So beschäftigte sich ein Seminar mit dem Leben und Werk Guillaume Fayes, der einer der führenden Theoretiker der Neuen Rechten und einer der geistigen Väter der IB war. Ein weiteres Seminar widmete sich der "Neoreaktion", einer antiegalitären und demokratiefeindlichen Bewegung mit Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Während die GU auf ihrer Homepage erklärte, dass nicht alle Inhalte der GU "stramm politisch" seien, ergaben sich jedoch aufgrund der "Dozenten" der Seminare vielfach Bezüge zum Rechtsextremismus. So handelte es sich bei einem der "Dozenten" um den ehemaligen Bundesvorsitzenden der IBD. Dieser und weitere "Dozenten" waren als Autoren für die Zeitschrift Sezession tätig, die dem IfS zuzurechnen ist. Personen mit Bezügen zu Rechtsextremisten fanden sich nicht nur unter den "Dozenten", sondern auch unter den in die GU organisatorisch eingebundenen Personen. So bezeichnete der GU-Gründer Erik Ahrens einen Rechtsextremisten, der früher Regionalleiter der IB Hessen gewesen war, als Mitarbeiter. "Strategien für den Wandel" | Ihren 2021 auf Telegram veröffentlichten "Zweijahresplan", der sich in drei Zeitphasen gliederte, relativierte die Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 85 RECHTSEXTREMISMUS GU im Berichtsjahr auf ihrer Homepage durch ein neues Modell. Unter dem Titel "Strategien für den Wandel" wollte die GU in einem ersten Schritt "Raum schaffen", in einem zweiten "Strukturen bilden" und letztlich in einem dritten Schritt "Massenwirkung entfalten". Den ersten Schritt habe sie, so die GU, bereits geschafft und sich als "digitale Akademie" etabliert. Um den zweiten Schritt zu erreichen, warb die GU um Förderer für einen "finanziellen Anschub". Es bedürfe "Infrastruktur und Personal, Werbematerialien und ein[er] eigene[n] App". Wenn der zweite Schritt absolviert sei, gelte es "die Masse anzugreifen". Durch Kampagnen und Veranstaltungen solle "jeder Student" auf die GU aufmerksam gemacht werden und das Netzwerk weiterhin wachsen. Hinsichtlich der Entwicklung der Mitgliederzahlen zeigte die von der GU im Berichtsjahr proklamierte Anzahl von "über 630 Studenten" einen moderaten Anstieg im Vergleich zum Vorjahr, in dem noch eine Anzahl von 553 "Studenten" genannt wurde. Später im Berichtsjahr machte die GU auf ihrer Homepage keine Angaben mehr über die Anzahl an "Studenten". Auf ihrem YouTube-Kanal verzeichnete die GU im Berichtsjahr etwa 3.000 Abonnenten. Vernetzung | Seit ihrem Start warben Gruppierungen aus dem Spektrum der Neuen Rechten für die GU, so zum Beispiel die IBD, Ein Prozent e. V. (Verdachtsfall des BfV im Berichtsjahr), der Verlag Antaios und das sich als "Thinktank" und Impulsgeber verstehende IfS. Auch im Berichtsjahr konnte die GU auf die Unterstützung von Akteuren und Organisationen der Neuen Rechten bauen. So warb Martin Sellner, führender Kopf der IB im deutschspracheigen Raum, mehrfach für die GU und einzelne ihrer Seminare. Auch die Junge Alternative für Deutschland (vom BfV im Berichtsjahr als gesichert rechtsextremistisch eingestuft) teilte Beiträge der GU und warb unter anderem für das "Sommersemester" 2023. Projekt "Blitzwissen" | Am 13. März warb die GU auf ihrem TelegramKanal für das ihr zuzurechnende, kostenpflichtige Projekt "Blitzwissen". Es biete den Nutzern die Möglichkeit, so die GU, die "zentralen Ideen" aus den "wichtigsten Büchern" zu erfassen. Sogenannte Blitze, die in etwa 25 Minuten durchgelesen oder als Audiodatei angehört werden können, enthalten die "wichtigsten Kernideen" eines Buches in "kompakter Länge." Zum Angebot von "Blitzwissen" zählten unter anderem Bücher folgender Autoren: Alain de Benoist, Vordenker der französischen Neuen Rechten, Benedikt Kaiser, ein Autor des Verlags Antaios, und Theodore Kaczynski, ein im Berichtsjahr verstorbener amerikanischer Terrorist ("Unabomber"), der das Manifest "Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft" verfasste. 86 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS IDEOLOGIE/ZIELE Selbsterklärtes Ziel der GU ist die Lehre, Konzentration, Ansammlung und Popularisierung von Theorieansätzen der Neuen Rechten. Da die "regulären Universitäten", so die GU auf ihrer früheren Homepage, fest in "linksliberaler Hand" seien, könnten Gesellschaftsund Ideologiekritik sowie "gefährliches Denken" nur noch in einem "unund antiakademischen Raum" stattfinden, den sie, das heißt die GU, bereitstelle. AUF EINEN BLICK * Entstehung einer "neuen geistigen Kraft" * Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs" * "Anleitung" durch das "Denken und Schreiben rechter Autoren" Entstehung einer "neuen geistigen Kraft" | Durch den "Lehrbetrieb" der GU soll die "geistige Kraft" für den "Kulturkampf um die Universität und die Nation" aufgenommen werden. So hieß es in der Ankündigung des Starts der GU am 20. Juni 2021 auf ihrer Homepage: "Die Uni ist am Ende. Mit ihrem Verfall ist der geistige Raum der Nation stickig, eng und tödlich langweilig geworden. Statt eines Horts der freien Lehre und des freien Geists, ist die Universität Brutstätte linksliberalen Universalismus geworden [...]. Statt eine nationale Elite zu bilden, macht sich die deutsche Hochschulen zur Schaltstelle der globalistischen Herrschaft. Die Uni ist Zwingburg des antideutschen ideologischen Staatsapparats geworden. Was sie hervorbringt, was aus ihren Seminaren an Experten, Narrativen und Ideologen hervordringt, tötet unsere Kultur". (Schreibweise wie im Original.) "Dagegen formiert sich die Gegenuni. Wir wollen auf dieser Plattform die junge, rechte Intelligenz, aus ihren zerstreuten Nischen und dem vereinzelten digitalen Waldgang versammeln und bilden. Wir bieten jungen, gefährlichen Denkern eine Möglichkeit zur Verbreitung ihrer Ideen". (Schreibweise wie im Original.) "Unser Ziel ist [...] auch die lokale Vernetzung und Organisation der GU-Studenten. Aus unserem Lehrbetrieb soll die neue geistige Kraft entstehen, die den Kulturkampf um die Universität und die Nation wieder aufnimmt". Um diese Ziele zu erreichen, bot die GU virtuelle Lesekreise und Seminare zu "metapolitischen Schlüsselwerken" und den geistigen Vordenkern der Neuen Rechten an. Darüber hinaus versteht sich die GU als Teil der Mosaik-Rechten. So bezeichnete sie sich in einem 2021 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 87 RECHTSEXTREMISMUS auf ihrem Telegram-Kanal veröffentlichten Beitrag als "neuen Stein" der "theoretischen Mosaikrechten". Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs" | Neben dem "Ethnopluralismus" propagierte die GU das Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs", wobei sie sich auf das Buch "Kritik der Migration" bezog und dieses als "Standardwerk sozialistischer Migrationspolitik" bezeichnete. In der Beschreibung zu dem Seminar "Kritik der Migration von Hannes Hofbauer" hieß es 2021 ursprünglich: "Was Wagenknecht und andere Renegaten der liberalen, multikulturalistischen Linken gelegentlich andeuten, bringt der Autor klar auf den Punkt. Die Ersetzungseinwanderung, die globale Mobilmachung des Menschen als ,homo migrans', ist auch mit einem orthodox linken Gesellschaftsverständnis unvereinbar". Im Jahr 2022 tauschte die GU das Wort "Ersetzungseinwanderung" durch das Wort "Massenmigration" aus. "Anleitung" durch das "Denken und Schreiben rechter Autoren" | Darüber hinaus bot die GU unter anderem Seminare zu der antidemokratischen Konservativen Revolution während der Weimarer Republik, zu deren maßgeblichen Repräsentanten Carl Schmitt sowie zu Alain de Benoist, dem Vordenker der französischen Neuen Rechten, an. Deren Bedeutung erklärte der GU-Gründer in einem im August 2021 veröffentlichten Interview wie folgt: "Eine Universität, an der man mit Masterarbeiten über Judith Butler, Karl Marx oder Michel Foucault eine akademische Karriere begründen kann, die aber zugleich das Denken eines Carl Schmitt, Arnold Gehlen oder Alain de Benoist systematisch diskreditiert, beschwört ihre GegenUni geradezu selbst". Eine "Einführung", eine "Kontextualisierung samt Hintergrundinformationen" und schließlich eine geführte "Anleitung" durch das "Denken und Schreiben rechter Autoren wie zum Beispiel Carl Schmitt oder Alain de Benoist", so der GU-Gründer, seien notwendig: "Es braucht eine Universität, aber eben eine Universität, die sich [...] abseits vom engen Meinungskorridor der Unis positioniert - eine GegenUni". STRUKTUREN Die GU war keine "real" existierende Universität, sondern, so ihr Gründer, eine im virtuellen Raum agierende "E-Learning-Plattform". Bis zum 9. September 2021 befand sich der Unternehmenssitz der 88 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS GU in Frankfurt am Main, dann wurde er nach Rostock (MecklenburgVorpommern) verlegt. Hintergrund des Umzugs war, dass sich der Vermieter der Büroräume in Frankfurt am Main aufgrund der Medienberichte über den rechtsextremistischen Charakter der GU dazu entschlossen hatte, den Mietvertrag zu kündigen. Bei der neuen Anschrift in Rostock handelte es sich um eine Adresse, an der mehrere mit der IB assoziierte Firmen ansässig waren. Die in der zweiten Phase des "Zweijahresplans" angekündigte Bildung von "aktiven Zellen" an Orten mit einem größeren Aufkommen an GU-Studenten war im Berichtszeitraum nicht festzustellen. BEWERTUNG/AUSBLICK Bei der GU handelt es sich entgegen der Selbstbezeichnung als "Universität" nicht um eine Lehrund Forschungseinrichtung, in der Theorien und Konzepte auf Grundlage von wissenschaftlichen Standards kritisch besprochen bzw. geprüft werden, sondern um ein rechtsextremistisches "Leuchtturmprojekt" der Neuen Rechten. An der GU sollen zentrale - nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu vereinbarende - Ideologiebestandteile der Neuen Rechten wie die des "Ethnopluralismus" und des "großen Austauschs" verbreitet, universitätsähnliche Strukturen aufgebaut und eine Bildungselite ausgebildet werden. Dadurch soll die Ideologie der Neuen Rechten durchsetzungsstark im gesellschaftlichen Raum und Diskurs verbreitet und langfristig verankert werden. Mit ihren Aktivitäten reiht sich die GU nahtlos in das Geflecht von Gruppierungen aus dem Spektrum der Neuen Rechten ein und präsentiert sich als weiterer Stein der Mosaik-Rechten. Auf diese Weise soll die Vorherrschaft im vorpolitischen Raum erlangt und letztlich eine Gesellschaft und ein Staat nach den Vorstellungen der Neuen Rechten geschaffen werden. Da es der GU offenkundig nicht möglich war, die Vorgaben ihres "Zweijahresplans" umzusetzen, entwarf sie das neue Modell "Strategien für den Wandel". Die Angaben der GU zum zweiten Schritt des Modells verdeutlichen allerdings, dass sie im Berichtsjahr nicht in der Lage war, aus eigener Kraft eine auf Massenwirkung abzielende Infrastruktur aufzubauen, weshalb sie für Förderer warb, die einen finanziellen Anschub leisten sollten. Nichtsdestotrotz bergen das Erheben von "Studiengebühren" und die Absicht, "Verdienstmöglichkeiten für junge Rechtsintellektuelle durch geistige Arbeit" schaffen zu wollen, weiterhin die Gefahr, dass die GU zur Finanzierung von rechtsextremistischen Einzelpersonen und Gruppierungen beiträgt. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 89 RECHTSEXTREMISMUS SONSTIGE PARTEIUNABHÄNGIGE STRUKTUREN Thule-Seminar e. V. Das 1980 von dem Rechtsextremisten Dr. Pierre Krebs gegründete Thule-Seminar e. V. mit Sitz in Kassel versteht sich als "Forschungsund Lehrgemeinschaft für die indoeuropäische Kultur". Der Vereinsname orientiert sich an der historischen Thule-Gesellschaft, einem im August 1918 gegründeten "Geheimbund". Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Untergang des Kaiserreichs (November 1918) existierte dieser bis zur Löschung aus dem Vereinsregister im Jahr 1932. Ähnlich dem heutigen Thule-Seminar sollte die Thule-Gesellschaft zur "Erforschung deutscher Geschichte und Förderung deutscher Art" dienen und vertrat einen aggressiven Antisemitismus. Ihre Mitglieder setzten sich überwiegend aus Akademikern, Aristokraten und Geschäftsleuten zusammen, darunter auch führende Nationalsozialisten wie etwa Rudolf Heß und Alfred Rosenberg. Als Zeichen der Thule-Gesellschaft fungierte ein Hakenkreuz mit Schwert. AUF EINEN BLICK * Ideologische Denkschule mit elitärem Selbstverständnis * "Ethnopluralismus" - "genetisches Reservoir" Ideologische Denkschule mit elitärem Selbstverständnis | Vergleichbar mit seinem historischen Vorbild ist es das Ziel des Thule-Seminars e. V., eine "geistig-geschichtliche Ideenschmiede für eine künftige Neuordnung aller europäischen Völker unter besonderer Berücksichtigung ihres biokulturellen und heidnisch-religiösen Erbes" zu sein. Dabei begreift sich das Thule-Seminar e. V. als ideologische Denkschule mit elitärem Selbstverständnis und verbreitete wie in den vergangenen Jahren insbesondere im Internet völkisch-rassistisches Gedankengut. Als Ideologe, Ideengeber und Vortragsredner versuchte Krebs, Wirkung in rechtsextremistischen Kreisen zu erzielen. Die Ideologie des Thule-Seminars e. V. ist auf die Überwindung der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung ohne das Aufzeigen demokratischer Alternativen gerichtet. So erklärte Krebs in einem auf seiner Homepage veröffentlichten Interview: "Was sollten wir heute eigentlich bewahren? Die Werte und die Denkhaltungen des Systems? Das hieße gerade das aufrechtzuerhalten, wogegen wir kämpfen! Wie läßt sich aber ein Diskurs, der eine radikale Abkoppelung vom System fordert, mit einem Diskurs vereinbahren, der die Quintessenz dieses Systems bestehen lassen will? [...] 90 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Das ,Thule-Seminar' war und ist ununterbrochen um eine Klärung und eine Neubestimmung der fundamentalen Fragen und kulturellen Schlüsselbegriffe [...] und natürlich um das Aufdecken neuer Alternativen gegenüber den Kernproblemen der Gegenwart bemüht [...]. Jeder, der wahrnimmt, Angehöriger des indoeuropäischen Europas zu sein, fühlt sich logischerweise vom entferntesten Island bis zum entferntesten Ural verwurzelt! Die Vision eines europäischen Reiches versteht nicht nur die Unterschiede innerhalb eines politischen Projekts zu vereinigen - und da liegt eben das große Wunder des identitären Bewußtseins -, sie garantiert gleichzeitig die Bewahrung der Unterschiede und die kulturelle Autonomie der europäischen Minderheiten! Diese Vision [...] entwirft auf eidgenössischer Basis (Modell Schweiz) eine Einigung Europas in allen Bereichen der Geopolitik, der Wirtschaft, der Forschung, der Verteidigung und läßt gleichzeitig alle regionalen Verschiedenheiten sich ergänzen! [...] Die EU verkörpert das spektakulärste Gegenbeispiel davon, weil sie keine europäische Institution ist, sondern nur die erzwungende Bevormundung des Westens oder [...] ein verlängerter Arm des amerikanomorphen Okzidents, Ausdruck und Sammelbecken, unter dem gemeinsamen Dach des Judäochristentums, aller Tochterideologien, die den heutigen Universalismus und Egalitarismus ausmachen". (Schreibweise wie im Original.) Über die Homepage des Thule-Seminars e. V. wurden in der Rubrik "Bücher für die Ersten von Morgen" eine Reihe von Publikationen, darunter hauptsächlich Bücher aus dem Eigenverlag Ahnenrad der Moderne, sowie Bücher anderer Autoren, wie zum Beispiel eine Publikation des französischen Rechtsextremisten und Publizisten Dominique Venner, zum Kauf angeboten. Darüber hinaus wurden auf der Homepage des Thule-Seminars e. V. Artikel zu unterschiedlichen Themengebieten veröffentlicht, in denen vor allem nordisch-mythologische und antimodernistische, aber auch völkische und rassistische Inhalte verbreitet wurden. So enthielt der Artikel "Requiem oder Reconquista?" vom 13. November Verschwörungsnarrative sowie antidemokratisches, völkisch-rassistisches und islamfeindliches Gedankengut. Die angebliche "Destabilisierung des Nahen Ostens" setze, so Krebs, "Millionen von Invasoren in Richtung Europa in Gang" und diene "perfekt und effizient zur Verwirklichung des anvisierten Zieles: Vermischung der Rassen, Auslöschung der Kulturen, Zerstörung des geschichtlichen Gedächtnisses mit dem heraufbeschworenen Ergebnis einer Mischmasse. Die Regierung[en] Europas - willige Helfershelfer des angekündigten mörderischen Teufelsplans - sind ausnahmslos gefesselte Vasallen der USA". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 91 RECHTSEXTREMISMUS Es gebe, so Krebs, "auf diesem Planeten keine Menschheit, sondern Menschheiten, ja: Auf diesem Planeten leben nebeneinander mehrere Welten! Die Heterogenität dieser Welt lebt aber von den Homogenitäten der Völker!" Dabei bezog sich Krebs auf Dr. Walter Groß, der 1933 das Aufklärungsamt für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege (1934 umbenannt in Rassenpolitisches Amt der NSDAP) gegründet hatte. Ebenso mit Verweis auf Groß betonte Krebs, dass die ",Menschen auf dieser Welt eben nach rassischen Gruppen verschieden sind an Leib und Seele, und daß [sic] damit eine Einheitlichkeit der Menschen unter sich nicht möglich und nicht gewollt ist'". Die Frage nach der unterschiedlichen Wertigkeit von "Rassen" stellte sich für Krebs dagegen nicht, da ",jeder Mensch irgendeiner [Rasse] angehört und damit zwangsläufig subjektiv und rassegebunden durch die Brille seiner eigenen Art in diese Welt sieht'". "Ethnopluralismus" - "genetisches Reservoir" | Bereits Anfang der 1980er Jahre hatte Krebs den gegenwärtig vor allem von der IB benutzten Begriff "Ethnopluralismus" verwendet. Im Hinblick auf den "Extremfall, dass Westeuropa durch den mörderischen Globalismus und die rassische Durchmischung zur Auflösung gebracht" werde, strebte Krebs das rein biologistisch-rassistische und an der nationalsozialistischen Ideologie orientierte Ziel an, ein "genetisches Reservoir zu schaffen". Dabei orientierte sich das Thule-Seminar e. V. in seiner ideologischen Ausrichtung an der Nouvelle Droite, einem Theoriezirkel französischer Rechtsextremisten, der ebenso wie die Mitglieder des Thule-Seminars e. V. ein "indogermanisches Heidentum" propagierte. Das Thule-Seminar e. V. betrieb neben seiner Homepage unter anderem den Eigenverlag Ahnenrad der Moderne sowie den Buchund Kunstversand Ariadne. In diesem Zusammenhang mussten sich Krebs sowie zwei weitere Mitarbeiter wegen des 2016 veröffentlichen Taschenkalenders Mars Ultor vor Gericht verantworten. In dem Kalender war zu einem "Rachefeldzug" gegen die angeblich durch Masseneinwanderung und "Multikulturalismus" angestrebte "Ausrottung der Deutschen" aufgerufen worden. Ferner wurden Migranten als "tödliche Bedrohung des schon in akute Gefahr geratenen Erbgutes unseres Volkes" sowie Mitglieder der Bundesregierung als "Rasseverächter und Rassevernichter" bezeichnet. Weiterhin fanden sich in dem Kalender den Nationalsozialismus verherrlichende sowie die deutsche Schuld in Bezug auf den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs leugnende Passagen. Das AG Fritzlar verurteilte Krebs und 92 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS eine weitere Mitangeklagte am 1. September 2022 wegen gemeinschaftlicher Volksverhetzung zu einer gemeinsamen Geldstrafe von 7.200,Euro, wobei das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Der dritte Angeklagte wurde freigesprochen. Die völkischen Ideologiefragmente des Thule-Seminars e. V. sowie die propagierten Bezüge zum Nationalsozialismus tragen zu einer Stigmatisierung bei, welche insbesondere von der Neuen Rechten in Deutschland abgelehnt wird. Der Einfluss und die Anschlussfähigkeit des Thule-Seminars e. V. blieben infolgedessen gering. Recht und Wahrheit Die von dem Rechtsextremisten Meinolf Schönborn herausgegebene Zeitschrift Recht und Wahrheit ist dem intellektuellen Rechtsextremismus zuzuordnen und widmet sich laut eigener Aussage der "geistigen Pflege des deutschen Freiheitsgedankens". Dabei will sie für das Recht des "deutschen Volkes auf freie Selbstbestimmung" eintreten. AUF EINEN BLICK * "Lesertreffen" - rechtsextremistische Propaganda * "Kulturzentrum Ludenbeck" "Lesertreffen" - rechtsextremistische Propaganda | Die in der Zeitschrift publizierten Artikel behandelten hauptsächlich gesellschaftliche, politische und historische Themen, wobei rechtextremistische, antisemitische und gebietsrevisionistische Thesen vertreten und propagiert wurden. Darüber hinaus fanden regelmäßig "Lesertreffen" statt. Daneben wirkte ein "Arbeitskreis" an der Gestaltung und Verbreitung der Zeitschrift mit. Sowohl die Teilnehmer der "Lesertreffen" als auch die Mitglieder des "Arbeitskreises" waren dem neonazistischen Spektrum, rechtsextremistischen Parteien sowie der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter zuzurechnen. So strebten der Herausgeber und Angehörige der "Lesertreffen" die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit eines wie auch immer gearteten Deutschen Reichs an. Das Flugblatt "Unser Wollen unser Handeln" aus dem Jahr 2014, das sich auch im Berichtsjahr auf der Internetseite von Recht und Wahrheit befand, führte dazu aus: "Wir sind kein Verein, keine Partei, sondern ein durch den Reichsgedanken und durch den Willen zum Widerstand gegen Verwahrlosung, Landnahme durch Migranten und durch die über 66[-]jährige FremdHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 93 RECHTSEXTREMISMUS herrschaft zusammengefügte freiheitslebende Deutsche, die noch Deutsche sein wollen". Zum Selbstverständnis und den Zielen von Recht und Wahrheit hieß es: "Wir sind Aktivisten für Deutschland. Wir sind viele. Wir vergessen nicht. Wir vergeben nicht. Wir kämpfen für die Wahrheit, für das Recht und die Freiheit unseres Volkes. Auch Du kannst sehr viel für Dich und unser deutsches Volk tun: Schließ dich uns an, gründe RuW-Verteilerkreise und verteile regelmäßig unsere Zeitung. Wir werden Dich gerne dabei unterstützen. So baust Du Dir dein eigenes Netzwerk auf!" Die Zielsetzung von Recht und Wahrheit lag folglich nicht nur in der Verbreitung rechtsextremistischer Ideologiebestandteile, sondern in der Vernetzung der rechtsextremistischen Szene. Darüber hinaus betrieb Schönborn den Z-Versand, dessen Angebot neben der Zeitschrift Recht und Wahrheit weitere Publikationen, Aufkleber und Kalender umfasste. Zudem bot Schönborn eine Kaffeesorte mit der Bezeichnung "braune Bohne" an. Den Kurznachrichtendienst X, die Plattform VK sowie mehrere Kanäle auf dem Messenger-Dienst Telegram nutzte Schönborn, um gegen Migranten zu agitieren. Außerdem warb er für die bundesweite rechtsextremistische Kampagne "Schwarze Kreuze - Kein deutsches Opfer wird vergessen!" Sie verfolgte das Ziel, jährlich am 13. Juli an die "Tausende[n] durch Ausländer getöteten Deutschen" zu erinnern und die Politik der Bundesregierung zu kritisieren. Über seinen X-Kanal und seine Telegram-Kanäle erreichte Schönborn etwa 3.500 Abonnenten bzw. Follower. Schönborn nutzte seine Kanäle des Weiteren dafür, um Mitarbeiter und Unterstützer zu rekrutieren. So stellte er im Berichtszeitraum mehrere Gesuche online, in denen er unter anderem um Köche, Handwerker und Influencer warb, wodurch seine Absicht deutlich wird, sich weiter zu vernetzen und Recht und Wahrheit zu vergrößern. "Kulturzentrum Ludenbeck" | Seit Dezember 2020 bewohnte Schönborn ein ehemaliges Hotel in Wesertal (Landkreis Kassel), dessen Ausbau zu einer überregionalen und szeneübergreifenden Veranstaltungsörtlichkeit er wie in den Vorjahren vorantrieb. Laut Schönborn standen in diesem Rahmen ein Versammlungsraum und Übernachtungsmöglichkeiten für die Teilnehmer zur Verfügung. Dadurch war es auch außerhessischen Rechtsextremisten möglich, an den Ver94 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS anstaltungen Schönborns teilzunehmen, sodass sich das "Kulturzentrum Ludenbeck" als überregionale Szeneörtlichkeit etablierte. Im Berichtsjahr fanden zwei "Lesertreffen" im "Kulturzentrum Ludenbeck" sowie ein Recht-und-Wahrheit-Stammtisch im Schwarzwald statt. Ein "Lesertreffen" wurde live auf YouTube übertragen. Auf der Homepage von Recht und Wahrheit wurde darüber hinaus auf Stammtische in Wesertal (Landkreis Kassel), in Berlin sowie im RheinMain-Gebiet hingewiesen. Im November warb Schönborn für wöchentliche Stammtische im "Kulturzentrum Ludenbeck", wobei den Anreisenden eine Übernachtungsmöglichkeit im "Kulturzentrum" angeboten wurde. Der durch Schönborn vorangetriebene Ausbau und die Nutzung des "Kulturzentrums Ludenbeck" verdeutlichen die hohe Bedeutung von Immobilien als Anlauf-, Rückzugs-, Veranstaltungs-, Schulungsund Vernetzungsörtlichkeiten für die rechtsextremistische Szene. Die Homepage der Publikation Recht und Wahrheit enthielt folgende Beschreibung: "Das Kulturzentrum Ludenbeck ist aber nicht nur Begegnungsu. Wohnstätte für Patrioten, sondern es soll auch eine ,feste Burg' sein, für schlimme Zeiten, die ohne Zweifel auf uns Deutsche schon in naher Zukunft zukommen werden". Das Anpreisen des "Kulturzentrums Ludenbeck" als "Begegnungsund Wohnstätte" eröffnet für rechtsextremistische Organisationen und Akteure die Möglichkeit für eine szenenübergreifende Vernetzung an einem zentralen Ort. Aufgrund des Bekanntheitsgrades von Schönborn innerhalb der rechtsextremistischen Szene sowie seiner Aktivitäten in den sozialen Medien ist die Etablierung des "Kulturzentrums Ludenbeck" als eine zentrale Anlaufstelle für Rechtsextremisten nicht auszuschließen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 95 RECHTSEXTREMISMUS LOSE STRUKTURIERTER RECHTSEXTREMISMUS Neonazis DEFINITION/KERNDATEN Rechtsextremisten, die nach der Überwindung der GewaltAktivisten /Anhänger: In Hessen etwa 420 diktatur des Nationalsozialismus (1933-1945) dessen Ideologie in ihren inhaltlichen Zielsetzungen oder im Rahmen ihrer Medien : Aktivitäten zu verwirklichen versuchen, werden als Neonazis beInternetpräsenzen zeichnet. Zahlreiche neonazistische Organisationen sind verboten, / Neonazis finden sich aber immer wieder in neuen Gruppierungen, Bündnissen und auf Plattformen zusammen. Zu rechtsextremistischen Parteien und zu subkulturell orientierten Rechtsextremisten und Skinheads unterhalten Neonazis, denen grundsätzlich eine Gewaltorientierung zuzuschreiben ist, enge Kontakte. Nahezu gleichmäßig erstreckte sich die Neonaziszene über ganz Hessen. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Nach einer langjährigen Freiheitsstrafe in einer hessischen Justizvollzugsanstalt wurde der Anführer der Kameradschaft Aryans im Berichtsjahr aus der Haft entlassen. Die 2022 vermehrt in Erscheinung getretene neonazistische Gruppierung Scheiteljugend Kassel verkündete im April des Berichtsjahrs über einen Kanal in den sozialen Medien ihre Auflösung. Dem war im Internet ein umfangreiches Outing zweier Rechtsextremisten durch den politischen Gegner vorausgegangen. Seit der Bekanntgabe der Auflösung wurden keine öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Gruppierung festgestellt. Ebenfalls im April verhinderte die Polizei in einem Fitnessstudio in Bad Wildungen (Landkreis Waldeck-Frankenberg) eine rechtsextremistische Kampfsportveranstaltung mit etwa 20 Personen. Die Veranstaltung hatte ein zentraler Akteur der nordhessischen Neonaziszene organisiert. Insgesamt fanden im Berichtsjahr in Hessen keine öffentlichen, für die neonazistische Szene typischen propagandistischen Veranstaltungen wie zum Beispiel Protestund Gedenkmärsche statt. Wie bereits im Vorjahr nahmen Neonazis aus Hessen jedoch an Veranstaltungen in anderen Bundesländern und im europäischen Ausland teil. Eine zentrale Rolle kam hierbei erneut dem programmatisch neonazistisch geprägten Parteienspektrum zu, das meistens die Organisation der Veranstaltungen übernahm und im Rahmen der Mobilisierung als Bindeglied der überregionalen bzw. bundesweiten Neonaziszene agierte. 96 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Der virtuelle Raum war weiterhin ein wichtiger Agitations-, Aktionsund Vernetzungsraum für Neonazis und neonazistische Personenzusammenschlüsse aus Hessen. Das Internet und vor allem die sozialen Medien fungierten als Plattformen zwecks leichter und subtiler Kontaktaufnahme zu Personen, die bisher keinen Bezug zum Rechtsextremismus hatten, und zwecks Vernetzung mit anderen Rechtsextremisten und rechtsextremistischen Organisationen. AUF EINEN BLICK * Kameradschaft Aryans * Kampfsportveranstaltung * Scheiteljugend Kassel Kameradschaft Aryans | Die Kameradschaft Aryans war ein länderübergreifender Personenzusammenschluss gewaltbereiter Neonazis, in dem auch Personen aus Hessen Mitglied waren. Die Kameradschaft trat bereits seit mehreren Jahren nicht mehr in der "realen Welt" und öffentlichkeitswirksam in Erscheinung. Der Anführer der Kameradschaft verbüßte bis November eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer hessischen Justizvollzugsanstalt. Die Strafe resultierte aus einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil eines vermeintlich politischen Gegners während einer rechtsextremistischen Demonstration am 1. Mai 2017 in Halle (Saale) in Sachsen-Anhalt. Bereits unmittelbar nach seiner Haftentlassung zeigte sich der Rechtsextremist mit einem T-Shirt der Kameradschaft Aryans wieder öffentlich im Internet. Kampfsportveranstaltung | Am 22. April verhinderte die Polizei eine rechtsextremistische Kampfsportveranstaltung in Bad Wildungen (Landkreis Waldeck-Frankenberg) in einem entsprechend hergerichteten Raum eines Fitnessstudios. Die Polizei löste die Veranstaltung Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 97 RECHTSEXTREMISMUS auf. Im Rahmen der polizeilichen Maßnahmen wurden der Veranstaltung 21 Erwachsene sowie ein Jugendlicher zugeordnet und des Platzes verwiesen. Außerdem stellte die Polizei ein T-Shirt mit szenetypischem Aufdruck, ein Einhandmesser sowie eine Vielzahl an CDs einer rechtsextremistischen Rockband sicher. Eine für den Anschluss an die Kampfsportveranstaltung geplante Grillfeier in Bad Wildungen untersagte die Stadt. Scheiteljugend Kassel | Die Gruppierung, deren Personenpotenzial im unteren zweistelligen Bereich lag, betrieb seit mindestens Mitte 2021 bis zu der Bekanntgabe ihrer Auflösung im April 2023 mehrere Accounts in den sozialen Medien und warb dabei aktiv um neue Mitglieder, vor allem aus Nordhessen. Mutmaßlich mit dem Ziel, ihre Anschlussfähigkeit zu erhöhen, trat die Gruppierung zunächst gemäßigt auf und verwendete in ihren Veröffentlichungen nicht exklusiv dem Rechtsextremismus zuordenbare Signalwörter mit Bezug zu den Themenbereichen "Patriotismus", "Naturverbundenheit" und "Brauchtumspflege". Während ihres Bestehens vollzog die Scheiteljugend Kassel im virtuellen Raum jedoch eine sukzessive Abkehr von dieser Verschleierungstaktik. Dies drückte sich unter anderem durch die Verwendung einer klar dem Rechtsextremismus zuzuordnenden Terminologie, eine positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus und dessen Protagonisten sowie den Rückgriff auf im Rechtsextremismus häufig genutzte Themenfelder, Agitationsmuster und Narrative aus. Über ihre Kanäle in der virtuellen Welt unterhielt die Scheiteljugend Kassel Kontakte zu anderen rechtsextremistischen Gruppierungen und Personen. Aus den Veröffentlichungen der Gruppierung im Internet ergaben sich jedoch auch Hinweise, die ihre Aktivitäten in der "realen Welt" zeigten. Neben Fotodokumentationen von Aktionen - zum Beispiel anlässlich des "Heldengedenkens" - veröffentlichte die Scheiteljugend Kassel offensichtlich in Nordhessen aufgenommenes Bildmaterial. Auf den Fotos und in den Videos abgebildete Personen(-gruppen), bei denen es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Angehörige der Gruppierung handelte, traten stets einheitlich gekleidet auf: weiße Sturmhauben, weiße Oberteile und dunkle Hosen. Mit diesem an Kampfsportbekleidung orientierten Outfit verfolgte die Scheiteljugend Kassel offensichtlich das Ziel, den politischen Gegner einzuschüchtern. Eine Veröffentlichung der Gruppierung im Internet verdeutlicht dieses Bestreben: "#WirkommenalsFeinde", "#UnsgehörtdieStadt", "#FcKAntifa", "#Kasselkommunistenfrei" sowie "#UndamEndesiegenWir". 98 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Auf dem YouTube-Profil der Scheiteljugend Kassel, das auch noch nach der Bekanntgabe ihrer Auflösung existierte, wurden keine neuen Videos veröffentlicht. In der Beschreibung des Profils wurden Personen, die in "Kassel, Nordhessen oder Hessen aktiv" werden wollten, auf die Internetseite der Jungen Nationalisten hingewiesen. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Als Sammelbecken für ehemalige Nationalsozialisten gründete sich 1949 die Sozialistische Reichspartei (SRP), die 1951 etwa 10.300 Mitglieder hatte und bei den Landtagswahlen in Niedersachsen und bei Bürgerschaftswahlen in Bremen Erfolge erzielte und in die Parlamente einzog. Nachdem das Bundesverfassungsgericht im darauffolgenden Jahr die SRP auf Antrag der Bundesregierung verbot und es in den 1950er Jahren vor allem auf Länderebene zu zahlreichen Vereinsverboten kam, erzielte erst die 1964 gegründete NPD wieder Wahlerfolge, bis sie mit ihrem Scheitern bei der Bundestagswahl 1969 in eine länger andauernde Krise geriet. AUF EINEN BLICK * Entstehung einer neuen rechtsextremistischen Szene * Personenund Gewaltpotenzial * Erstarken der Szene - Vereinsverbote - Kameradschaften * Parteigründungen - weitere Vereinsverbote Entstehung einer neuen rechtsextremistischen Szene | Seit den 1970er Jahren traten in der rechtsextremistischen Szene - im Unterschied zu rechtsextremistischen Parteien wie der NPD und der Deutschen Volksunion (DVU) - vor allem aktionsorientierte Personen auf, von denen die meisten den Nationalsozialismus nicht miterlebt hatten, sich aber dennoch mit der entsprechenden Ideologie (insbesondere der nationalsozialistischen "Kampfzeit" vor 1933) identifizierten und daher allgemein Neonazis genannt wurden. Ausnahmen hiervon waren führende Protagonisten der neuen Szene wie Thies Christophersen, ehemals Mitglied der Schutzstaffel (SS), und der in einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt erzogene Manfred Roeder, die beide den Nationalsozialismus noch aus eigener Anschauung kannten und sich damit identifizierten. Roeder, der unter anderem wegen Terrorismus und mehrfacher Volksverhetzung zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden war, trat mit dem Anspruch auf, als "Reichsverweser" für die nicht mehr existente nationalsozialistische Regierung zu fungieren. Er scharte eine größere Anhängerschaft um sich, bewohnte in Nordhessen ein als "Reichshof" bezeichnetes Anwesen und versandte regelmäßig Rundbriefe an seine Anhänger. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 99 RECHTSEXTREMISMUS Personenund Gewaltpotenzial | Das Personenpotenzial der Neonaziszene betrug in den 1980er Jahren bundesweit zwischen 1.000 bis 2.000 Personen und verdreifachte sich bis 2016 auf nahezu 6.000. In den 1970er und 1980er Jahren kristallisierten sich einzelne Gruppierungen und Personen als führend in der Szene heraus, zum Beispiel Gruppierungen im Umfeld von Michael Kühnen, die Freiheitliche Arbeiterpartei Deutschlands (FAP) um Friedhelm Busse, die Nationalistische Front (NF) und die Wehrsportgruppe Hoffmann. Vor allem interne Konflikte, Neugründungen nach dem Zerfall von Gruppierungen und seit Anfang der 1980er Jahre verstärkt einsetzende Vereinsverbote von Bund und Ländern führten dazu, dass die Neonaziszene keine dauerhaften und szeneübergreifenden Strukturen entwickelte. Allerdings gelang es ihr bis in die Gegenwart, junge, aktionsorientierte und teils auch gewaltaffine Männer anzusprechen und zum Beispiel für nicht angemeldete "Gedenkmärsche" am Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß zu interessieren. Durch die Indoktrination mit (neo)nationalsozialistischer Ideologie steigerte sich das Gewaltpotenzial der Szene; fast alle späteren rechtsextremistischen Gewalttäter wiesen einen Vorlauf in der Neonaziszene auf, wobei die Tathandlungen selbst individuell motiviert und von außen schwer vorhersagbar waren. Erstarken der Szene - Vereinsverbote - Kameradschaften | Seit 1991 stieg die Zahl der fremdenfeindlichen Ausschreitungen an, die Zahl der Neonazis erreichte Mitte der 1990er Jahre mit bundesweit 2.740 Personen den bis dahin höchsten Stand, wobei mehr als die Hälfte der Neonazis in den ostdeutschen Ländern ansässig war. Dem Erstarken der Neonaziszene begegnete der Staat seit 1992 unter anderem mit etlichen Vereinsverboten, worauf die Szene zunächst überrascht und planlos reagierte. Maßgeblich von den Neonazis Christian Worch und Thomas Wulff beeinflusst und in Bezug auf Aktion und Organisation angelehnt an das "Vorbild" linksextremistischer Autonomer, entstanden seit 1995 vermehrt Kameradschaften, um Vereinsverbote zu erschweren: Kleine, selbstständige und regional verankerte Gruppierungen mit losen Verbindungen zu anderen Neonazis, wobei man sich bemühte, die Kameradschaften in einem übergreifenden Netzwerk über Aktionsbüros zu koordinieren. So bildete etwa der Thüringer Heimatschutz (THS) ein Sammelbecken für Neonazis, zu dem auch die drei späteren Rechtsterroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gehörten, der bis 2011 neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin ermordete sowie weitere Strafund Gewalttaten beging. Zunehmend lösten sich seit dem Jahr 2000 die Grenzen zwischen Neonazis, rechtsextremistischen Parteien - vor allem der NPD - und rechtsextremistischen Skinheads zugunsten eines Milieus auf, das von Aktionen, Gewaltorientie100 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS rung und - an bestimmten Orten - von einer mitunter bedrohlichen Alltagspräsenz geprägt war. Nach dem Verbot der deutschen Division von Blood and Honour (2000), einer ursprünglich in Großbritannien tätigen Skinheadvereinigung mit neonazistischer Ausrichtung, kam seit 2002 mit den Autonomen Nationalisten (AN) in Ballungsräumen und Großstädten eine neue Gruppierung auf. Sie imitierte den Aktionsstil und das Gehabe (Kleidung) der linksextremistischen Autonomen, gab dem aber inhaltlich ein neonazistisches Gepräge, kombiniert mit "Anti-Antifa"Arbeit. So bildeten die AN bei Demonstrationen einen schwarzen Block und propagierten "antikapitalistische" Inhalte. Insgesamt durchlief die Neonaziszene eine "Modernisierung" und versuchte, sich den Charakter einer "sozialen Bewegung" zu geben. Gleichzeitig erhöhte sich das von den Kameradschaften ausgehende Gefahrenpotenzial, da deren hohe Aktionsorientierung, die latente bis offene Gewaltaffinität und die stetige Indoktrinierung der Mitglieder eine Basis für eine tatsächliche Eskalation schufen. Parteigründungen - weitere Vereinsverbote | Auf das Verbot der Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V. (HNG) im Jahr 2011, des letzten bedeutsamen, fest organisierten neonazistischen Vereins, und die seit 2012 - auch in Hessen (Sturm 18, 2015 verboten) - verstärkt gegen Kameradschaften gerichteten Verbotsmaßnahmen reagierten Neonazis unter anderem mit zwei Parteigründungen: 2012 rief Christian Worch die Partei DIE RECHTE ins Leben, ein Jahr darauf gründete sich Der Dritte Weg. Über das grundgesetzlich verbürgte Parteienprivileg versuchten Neonazis auf diese Weise, staatliche Verbotsmaßnahmen zu umgehen bzw. verhindern. Auch wenn beide Parteien nicht verboten sind, sind sie bei Wahlen bislang unbedeutend. Kameradschaften und andere neonazistische Organisationen unterlagen hingegen weiterhin staatlichen Verboten. In den letzten Jahren gelang es Neonazis immer wieder, zu aktuellen Themen wie "Flüchtlinge" und "Corona-Maßnahmen" zu mobilisieren und Anknüpfungspunkte für potenziell neue Szeneangehörige zu finden. IDEOLOGIE/ZIELE Neonazis orientieren sich, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, an der Ideologie des Nationalsozialismus (unter anderem an Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Nationalismus, Antipluralismus) und idealisieren Adolf Hitler, den "Führer" des nationalsozialistischen Unrechtsund Terrorregimes. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 101 RECHTSEXTREMISMUS AUF EINEN BLICK * "Volksgemeinschaft" - Revisionismus * Uneinheitlichkeit der Neonaziszene * Zahlencodes * Kampf gegen das "System" "Volksgemeinschaft" - Revisionismus | Das Ziel von Neonazis ist die Schaffung eines ethnisch homogenen, diktatorischen Staats. Die Rechte des Einzelnen, Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt - insgesamt Pluralismus - haben in der von Neonazis angestrebten deutschen "Volksgemeinschaft" keinen Platz. Die "Volksgemeinschaft" schließt Menschen anderer Kulturen und auch solche "Deutsche" aus, die Neonazis aufgrund von Behinderungen, sexueller Orientierung und sozialer Marginalisierung als "unwert" einstufen. Das Individuum soll sich dem angeblichen Gesamtwillen des Volkes unterordnen. Historische Tatsachen deuten Neonazis in revisionistischer Manier um und leugnen dabei auch den Holocaust. Uneinheitlichkeit der Neonaziszene | Die neonazistische Szene ist in sich nicht homogen. Zum einen wird das "Dritte Reich" als Vorbild betrachtet und eine Wiederherstellung des Nationalsozialismus angestrebt, zum anderen wird die nationalsozialistische "Weltanschauung" neu interpretiert oder "antikapitalistisch" mit Bezügen zum Linksextremismus und entsprechenden Aktionsformen "modernisiert". Die überwiegende Zahl der Neonazis befürwortet jedoch die Kernelemente des Nationalsozialismus: "Führerprinzip", Antisemitismus und die Ideologie der "Volksgemeinschaft". Zahlencodes | Intern bekennen sich Neonazis zu ihrer Ideologie, indem sie zum Beispiel nationalsozialistische Grußformeln ("Sieg Heil", "Heil Hitler") verwenden und den "Hitler-Geburtstag" feiern. Nach außen bekennen sich Neonazis wegen der Strafbarkeit eher in verklausulierter Form zum Nationalsozialismus, etwa in der Form der Selbstbezeichnung von Gruppierungen. So stand etwa bei dem 2015 durch das Hessische Ministerium des Innern und für Sport verbotenen Verein Sturm 18 e. V. die Zahl 18 für den ersten und achten Buchstaben im Alphabet (AH), also für Adolf Hitler. Entsprechend steht die Zahl 88 für "Heil Hitler". Kampf gegen das "System" | An die Stelle der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wollen Neonazis einen autoritären "Führerstaat" sowie eine ethnisch einheitliche "Volksgemeinschaft" setzen. Unsere freiheitliche Demokratie bezeichnen Neonazis als "System", das es abzuschaffen gelte. Bereits die Nationalsozialisten hatten die Weimarer Republik mit dieser Bezeichnung diffamiert. Der Aufruf zum Kampf gegen das "System" ist ein Grundpfeiler neona102 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS zistischer Propaganda. Zielgruppe sind vor allem junge Menschen, die früh an die neonazistische Szene herangeführt und an sie gebunden werden sollen. STRUKTUREN Die neonazistische Szene in Hessen war strukturell durch einzelne regionale Gruppierungen, jedoch mehrheitlich durch lose miteinander verbundene Personengruppen geprägt. Mit dem Ziel der Vernetzung der regionalen Szene führten Neonazis in Hessen in der Vergangenheit ebenso wie im Berichtsjahr kleinere, regionale und nicht öffentliche Veranstaltungen und Treffen durch. Dass auch die bundesweite Kooperation innerhalb der Szene weiterhin ein Ziel des organisierten neonazistischen Spektrums war, lässt sich anhand der starken Verflechtung von Neonazis in Hessen mit Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet erkennen. Diese Kooperation wurde etwa bei der gemeinsamen Teilnahme an bundesund europaweiten Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene deutlich. BEWERTUNG/AUSBLICK Öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen des neonazistischen Spektrums fanden in Hessen im Berichtsjahr nicht statt. Dass die Neonaziszene sich abseits der Öffentlichkeit jedoch bemühte, die überregionale Vernetzung und Kampfertüchtigung der eigenen Klientel voranzutreiben, zeigt die von den Behörden verhinderte Kampfsportveranstaltung in Nordhessen. Vor der Bekanntgabe ihrer Auflösung zeichnete die Scheiteljugend Kassel in den sozialen Medien das Bild einer im Schwerpunkt virtuell aktiven Gruppierung, deren Ziel vor allem in der Rekrutierung und Vernetzung innerhalb der Szene lag. Das einheitliche Auftreten der Scheiteljugend Kassel und eine in den Veröffentlichungen häufig zur Schau gestellte körperliche Fitness und Erfahrung in Kampf - sportarten diente mit hoher Wahrscheinlichkeit der Rekrutierung neuer Mitglieder. Ebenso sollten wohl der politische Gegner und Personengruppen, die den klassischen Feindbildern von Rechtsextremisten zuzurechnen sind, eingeschüchtert werden. Die auf dem YouTube-Profil der Scheiteljugend Kassel verbreitete Empfehlung, die Internetseite der JN aufzusuchen, deutet darauf hin, dass sich möglicherweise einige ihrer Angehörigen der Jugendorganisation der früheren NPD verbunden fühlten. Vor diesem Hintergrund ist die weitere Entwicklung eingehend zu beobachten, um eine etwaige Verstärkung der Bemühungen der JN in Nordhessen frühzeitig zu erkennen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 103 RECHTSEXTREMISMUS Subkulturell orientierte Rechtsextremisten - rechtsextremistische Musikund Kampfsportszene DEFINITION/KERNDATEN Weitgehende Strukturund Organisationslosigkeit ist kennAktivisten /Anhänger: zeichnend für subkulturell orientierte Rechtsextremisten. In Hessen etwa 465 Hinzu kommt eine in der Regel nur oberflächliche weltanschauliche Musikgruppen und LiederPrägung, verbunden mit rassistischem, antisemitischem und auslänmacher in Hessen: derfeindlichem Gedankengut. Für diese oftmals in informellen loFaust, Reichstrunkenbold kalen oder regionalen Gruppen zusammengeschlossenen Rechts(Liedermacher), Streitmacht, Sturmrebellen extremisten stehen erlebnisorientierte Aktivitäten in der Regel im Vordergrund. Dabei spielt der Besuch rechtsextremistischer Musik- / veranstaltungen eine herausgehobene Rolle. Im Unterschied zu Angehörigen der früheren rechtsextremistischen Skinheadszene sind subkulturell orientierte Rechtsextremisten heutzutage fast nicht mehr anhand eines einheitlichen Erscheinungsbildes erkennbar. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Die Sicherheitsbehörden versuchten weiterhin, rechtsextremistische Musikveranstaltungen in Hessen zu unterbinden. Dennoch kam es zu einer geringen Zahl von Musikdarbietungen im privaten Rahmen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und nach konspirativer Vorbereitung. AUF EINEN BLICK * Rechtsextremistische Musikveranstaltungen * Verbot der Hammerskins Rechtsextremistische Musikveranstaltungen | Am 14. Januar trat im Rahmen des Neujahrsempfangs der NPD im Wetteraukreis ein rechtsextremistischer Liedermacher aus Sachsen auf. Darüber hinaus gab es fünf weitere rechtsextremistische Musikveranstaltungen (Liederabende) in Hessen, welche in Privaträumlichkeiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Verbot der Hammerskins | Am 18. September verbot die Bundesministerin des Innern und für Heimat den Verein Hammerskins Deutschland mitsamt seiner regionalen Chapter und der Unterstützerorganisation Crew 38. Im Zusammenhang mit dem Verbot kam es in zehn Ländern zu polizeilichen Durchsuchungsmaßnahmen gegen Mitglieder der Organisation. In Hessen war im Landkreis Fulda eine Person betroffen, dabei wurden Materialien mit Bezug zu den Hammerskins Deutschland und nationalsozialistische Devotionalien si104 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS chergestellt. Die Aktivitäten der Hammerskins Deutschland richteten sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung sowie gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Dabei liefen Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider. Die Hammerskins wurden Ende der 1980er Jahre in den USA gegründet und entwickelten sich zu einer weltweit agierenden Gruppierung. Der Ableger Hammerskins Nation Deutschland war im Berichtsjahr bis zu seinem Verbot die einzig verbliebene, bundesweit aktive rechtsextremistische Skinheadorganisation. Ihre zuletzt etwa 130 Angehörigen waren in mehreren Ländern - darunter Hessen - wohnhaft. Die Struktur der Hammerskins orientierte sich an der von Rockergruppierungen. So wurden die 13 lokalen Organisationen "Chapter" genannt. Auch das Stufensystem, das deren Angehörige bis zur Anerkennung als Vollmitglied durchlaufen mussten, ähnelte vergleichbaren Gruppierungen im Rockermilieu. Ideologisch handelt es sich bei den Hammerskins um neonationalsozialistisch geprägte Rechtsextremisten, die mittels Konzerten ihre Ideologie auch an Nichtmitglieder weitertrugen. Daneben spielte der Kampfsport eine bedeutende Rolle für die Hammerskins. Mitglieder der Hammerskins riefen 2013 die rechtsextremistische Kampfsportveranstaltung "Kampf der Nibelungen" (KdN) ins Leben; darüber hinaus organisierten die Hammerskins vor allem rechtsextremistische Rockkonzerte. Das öffentliche Auftreten der Hammerskins hielt sich allerdings in Grenzen, stattdessen ging die Gruppierung in Bezug auf ihre Veranstaltungen und Aktivitäten klandestin vor. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 105 RECHTSEXTREMISMUS FUNKTIONEN RECHTSEXTREMISTISCHER MUSIK Trotz der in Hessen vergleichsweise niedrigen Anzahl rechtsextremistischer Musikveranstaltungen im Berichtsjahr spielte rechtsextremistische Musik nach wie vor eine wichtige Rolle für die rechtsextremistische Szene und war zugleich ein bedeutendes, jugendorientiertes Medium, um entsprechende Botschaften zu transportieren. AUF EINEN BLICK * Musik als Ausdruck subkultureller Zusammengehörigkeit * Diffuse rechtsextremistische Einstellungen * Musikveranstaltungen - Musik im Internet und in sozialen Medien Musik als Ausdruck subkultureller Zusammengehörigkeit | Musik ermöglicht es als emotionaler "Türöffner", ideologische Vorstellungen einem breiten Personenkreis - überwiegend Jugendlichen und jungen Erwachsenen - zugänglich zu machen. Dabei ist die rechtsextremistische Musikszene nicht auf eine bestimmte Stilrichtung begrenzt. Vielmehr umfasst das Spektrum neben dem "traditionellen" Rechtsrock und Rock Against Communism (RAC) zum Beispiel auch National Socialist Black Metal (NSBM), Balladenmusik von Liedermachern sowie Rap und Schlager. Auf diese Weise können unterschiedliche Musikvorlieben bedient und folglich ein möglichst breites Publikum erreicht werden. Alle diese Musikrichtungen eint dabei, dass nicht zwingend stets die rechtsextremistischen Inhalte im Vordergrund des Musikerlebnisses stehen, sondern die für die Hörer einprägsamen Melodien und einfachen Rhythmen. Musik stellt eine besonders niedrige Hürde für den Einstieg in den Rechtsextremismus dar. Sie ist nahezu jederzeit und überall konsumierbar, dient der Selbstdarstellung sowie der szeneinternen Kommunikation über "Werte" und Feindbilder und ist Ausdruck eines subkulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls. Dabei wirkt der Konsum von rechtsextremistischer Musik oft als Katalysator für Gefühle und Aggressionen. Besonders in Verbindung mit Alkohol kann dies zu Gewaltausbrüchen führen. Diffuse rechtsextremistische Einstellungen | Typisch für subkulturell orientierte Rechtsextremisten sind eher diffuse rechtsextremistische Einstellungen, die sich an das Gedankengut von Neonazis anlehnen. Eine vertiefte "weltanschauliche" und politische Auseinandersetzung findet dabei nicht statt. Im Vordergrund steht eine erlebnisund aktionsorientierte Lebensgestaltung vor allem in Form des Konsumierens von Musik. 106 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Musikveranstaltungen - Musik im Internet und in sozialen Medien | Musikveranstaltungen spielen für subkulturell orientierte Rechtsextremisten eine wichtige Rolle. In der eher strukturlosen Szene sind Musikveranstaltungen identitätsstiftende Ereignisse und dienen der Kommunikation und Vernetzung. Zudem üben die in der Regel konspirativ organisierten Veranstaltungen gerade auf junge Rechtsextremisten eine große Faszination aus. Liederabende haben für subkulturell orientierte Rechtsextremisten, Neonazis und rechtsextremistische Parteien eine wachsende Bedeutung. Auftritte überwiegend einzelner rechtsextremistischer Interpreten dienen als Treffpunkt und Plattform, wobei politische Botschaften über die Liedtexte mit Zwischenmoderationen verknüpft und zur Anwerbung potenzieller Interessenten, hier gerade jungen Menschen, genutzt werden. Eines der bedeutsamsten Medien zur Verbreitung rechtsextremistischer Musik ist das Internet mit seinen nahezu unbegrenzten Möglichkeiten und Reichweiten. So finden sich unter anderem auf verschiedenen Musikund Videoplattformen bzw. sozialen Netzwerken - wie zum Beispiel auf YouTube und Telegram - Videos rechtsextremistischer Bands. Auch von den Bands mit Bezügen zu Hessen wie Faust und Sturmrebellen sowie dem in Hessen wohnhaften Liedermacher Reichstrunkenbold werden Musikvideos auf YouTube verbreitet und für neue Musikalben auf Telegram sowie auf einschlägigen rechtsextremistischen Internetseiten geworben. RECHTSEXTREMISTISCHE KAMPFSPORTSZENE Während in den 1990er Jahren vor allem Rockkonzerte und das gewaltaffine Spektrum der Fußballfans die rechtsextremistische "Erlebniswelt" dominierten, nimmt mittlerweile der Kampfsport eine zentrale Rolle im Bereich des gewaltund erlebnisorientierten Rechtsextremismus ein. In den letzten Jahren kam es zu einer rasch zunehmenden Professionalisierung, Kommerzialisierung und zu einer organisatorischen Routine der rechtsextremistischen Kampfsportszene. Der Kampfsport dient innerhalb der rechtsextremistischen Szene als verbindendes Element zwischen verschiedenen Strömungen. Hier treffen unter anderem Akteure der neonazistischen Szene auf solche des parteigebundenen Rechtsextremismus, wobei die jeweilige individuelle Ideologie teilweise in den Hintergrund gerät. Dafür rücken andere ideologische Elemente des Rechtsextremismus in den Fokus, die im Kontext des Kampfsports eine besondere Relevanz entfalten. Theoretische Ansätze werden hier zur gelebten Praxis. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 107 RECHTSEXTREMISMUS AUF EINEN BLICK * Beliebte Kampfarten * "Volksgesundheit" und "NS-Straight-Edge" * Kampfsportveranstaltungen * Knockout 51 Beliebte Kampfarten | Bei rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltungen erfreuten sich vor allem Boxen, Kickboxen und Mixed Martial Arts (MMA) großer Beliebtheit. Insbesondere MMA vereint Standund Bodenkampf sowie verschiedene Schlag-, Trittund Hebeltechniken zu einem schnellen und brutalen Konzept, das den "Anforderungen" des waffenlosen Straßenkampfs am ehesten entspricht. Die rechtsextremistische Szene praktiziert - ungeachtet der zunehmenden Betonung des Fitnesscharakters von Kampfsportveranstaltungen - die klassische Rohversion des Kampfsports mit Vollkontakt, was dem rechtsextremistischen kriegerischen Selbstbildnis und den allgemeinen Anforderungen an die "Wehrkraft des Volkskörpers" gerecht werden soll. "Volksgesundheit" und "NS-Straight-Edge" | Unter dem Oberbegriff "Volksgesundheit" versuchen Rechtsextremisten, "Ideale" wie "Wehrhaftigkeit" und "Stärke" mittels (Kampf-)Sports zu propagieren. In einer vermeintlich "degenerierten" Gesellschaft sollen somit wieder "deutsche Werte" an Bedeutung gewinnen und werden als Pflicht verklärt. Eine wesentliche ideologische Komponente dieser scheinbaren Pflicht ist der "Straight-Edge"-Gedanke, der aus der Punkszene der 1980er Jahre stammt. Er sollte eine Gegenbewegung zu den ausufernden Alkoholund Drogenexzessen der Jugendkultur etablieren, wobei es im Kern um den Verzicht auf Alkohol und Drogen, das Bewusstsein für eine gesunde Ernährung bis hin zum Veganismus sowie sexuelle Enthaltsamkeit geht. In der rechtsextremistischen Szene erlebt diese Strömung eine gewaltbetonte und rassistische Renaissance als "NS-Straight-Edge". Ein wiederkehrendes Motto der Szene ist in der Konsequenz der "Kampf gegen die Moderne", die als Sinnbild von Dekadenz und Verweichlichung strikt abgelehnt wird. Den angeblichen Verfall der Gesellschaft setzt die rechtsextremistische Szene mit der angeblichen Erosion der "Volksgesundheit" gleich. Dementsprechend rief die neonazistische Partei Der Dritte Weg im Berichtsjahr dazu auf, sich körperlich fit zu halten und insbesondere Kampfsport zu betreiben. Dies solle nicht in konventionellen Sportstudios geschehen, sondern in den parteieigenen "Körper & Geist"Gruppen und Selbstverteidigungskursen. Dabei propagierte Der Dritte Weg den (Kampf-)Sport auch als Mittel zur "Gemeinschaftsbil108 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS dung" sowie als ein "Bindeglied, in der der deutsche und westeuropäische Mann sich seiner Männlichkeit noch bewusst sein" dürfe. Die rechtsextremistische Kampfsportszene nahm einen Schulterschluss mit Gruppen aus anderen europäischen Staaten, insbesondere aus Osteuropa, vor. Dabei stand weniger die Nation als die Gemeinsamkeit der Zugehörigkeit zur "weißen Rasse", die es zu verteidigen gelte, im Vordergrund. Die kollektive transnationale Identität der rechtsextremistischen Kampfsportszene bestand demnach aus zwei Komponenten: aus der "Rassezugehörigkeit" ("weiß") und der Kulturzugehörigkeit ("abendländisch"). Neben der Rekrutierung und Vernetzung betrieben Rechtsextremisten Kampfsport, um sich (als Gruppe) für den "Straßenkampf" und für gewalttätige Übergriffe auf Polizeibeamte oder den politischen Gegner vorzubereiten. So wurden unter dem Stichwort "Selbstverteidigung" Kurse und Trainings angeboten, die auf eine Konfrontation mit linksextremistischen Personen abzielten. Besonders vor dem Hintergrund des Prozesses gegen die Angehörigen der Gruppierung um Lina E., die wegen gewalttätiger Angriffe auf tatsächliche und angebliche Rechtsextremisten verurteilt wurden, gewann in der rechtsextremistischen Szene das Thema der Konfrontation mit Linksextremisten an Bedeutung. Kampfsportveranstaltungen | Forum und Fixpunkt der rechtsextremistischen Kampfsportszene waren Wettkampfveranstaltungen, die einer stetigen Professionalisierung und Kommerzialisierung unterlagen, einhergehend mit daraus resultierenden steigenden Zuschauerzahlen. Die Veranstaltungen, auf denen sich rechtsextremistische Kampfsportler aus dem Inund Ausland regelmäßig zusammenfanden, dienten der Rekrutierung und Vernetzung sowie der Finanzierung der rechtsextremistischen Szene. Haupteinnahmequelle war neben dem Verkauf von Tickets für die jeweilige Veranstaltung ein breites Angebot an Merchandiseartikeln szenetypischer (Mode-)Labels. Sofern rechtlich möglich, unterbinden die Sicherheitsbehörden in Deutschland rechtsextremistische Kampfsportveranstaltungen. In Hessen fanden im Berichtsjahr keine entsprechenden Veranstaltungen statt. Die seit 2013 bestehende rechtsextremistische Kampfsportveranstaltung KdN fand zuletzt 2018 mit mehreren hundert Besuchern in Ostritz (Sachsen) statt. Nachdem das Verwaltungsgericht (VG) Dresden 2022 in einem Urteil die Rechtmäßigkeit des Verbots der KdN-Veranstaltung in Ostritz festgestellt hatte, fand im Berichtsjahr am 6. Mai in Budapest (Ungarn) die "European Fight Night" statt. Bei dieser handelte es sich um eine Ersatzveranstaltung für den KdN. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 109 RECHTSEXTREMISMUS Zwischen beiden Veranstaltungen bestanden unter anderem personelle, ideologische und organisatorische Parallelen. An der "European Fight Night" nahmen rechtsextremistische Kampfsportler aus mehreren Staaten und aus Hessen teil. Mitveranstalter war die Gruppierung KdN aus Nordrhein-Westfalen, die in der Vergangenheit ebenfalls Ausrichterin der gleichnamigen Veranstaltung gewesen war. Eine für Anfang November angekündigte "Kampfsportgala in Mitteldeutschland", für welche die Gruppierung KdN geworben hatte, wurde kurzfristig abgesagt. Knockout 51 | Nachdem die Bundesanwaltschaft am 2. Mai vor dem Thüringer OLG Anklage gegen vier Mitglieder von Knockout 51 erhoben hatte, ließ sie am 14. Dezember auf der Grundlage von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs drei weitere Personen in Eisenach und Erfurt (Thüringen) festnehmen. Darüber hinaus wurden vier Objekte in Thüringen durchsucht. Unter den Festgenommenen befand sich ein Rechtsextremist aus Hessen. Laut Anklage der Bundesanwaltschaft handelt es sich bei Knockout 51 um eine inländische kriminelle und terroristische Vereinigung. Dabei lockte die rechtsextremistische Kampfsportgruppe unter dem Deckmantel des gemeinsamen körperlichen Trainings junge, nationalistisch gesinnte Männer an, indoktrinierte diese bewusst mit rechtsextremistischem Gedankengut und bildete sie für körperliche Auseinandersetzungen mit Polizeibeamten, Angehörigen der politisch linken Szene und sonstigen als bekämpfenswert erachteten Personen aus. Spätestens seit April 2021, so die Bundesanwaltschaft, erstreckte sich das Ziel von Knockout 51 auch auf die Tötung von Personen der linksextremistischen Szene. BEWERTUNG/AUSBLICK Unabhängig von der Form rechtsextremistischer Musikveranstaltungen und deren im Berichtsjahr vergleichsweise geringen Anzahl blieben rechtsextremistische Musikbands und Liedermacher aus Hessen aktiv und werden weiter beobachtet. Die Gefahr, die von rechtsextremistischer Musik ausgeht, besteht nach wie vor. Da aus dem Besuch von Konzerten und dem damit vielfach verbundenen Einstieg in den Rechtsextremismus für Jugendliche vielerlei Gefahren resultieren, bildet die Szene der subkulturell orientierten Rechtsextremisten ein wichtiges Beobachtungsfeld für den Verfassungsschutz in Hessen. Mit jedem verhinderten Konzert verliert die rechtsextremistische Szene eine zentrale Anlaufstelle und ein wich110 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS tiges Bindeglied zu Jugendlichen, die noch außerhalb des Rechtsextremismus stehen. Neben der Musik hat sich der Kampfsport in der erlebnisorientierten rechtsextremistischen Szene zu einem bedeutenden Faktor in der Lebensgestaltung entwickelt. Dazu haben die professionell ausgerichteten Veranstaltungen wie die "European Fight Night" und die geschickte Selbstinszenierung in den sozialen Medien maßgeblich beigetragen. Durch die Verknüpfung von Gewaltästhetik und Körperkult mit dem Straight-Edge-Gedanken und den Symbolen eines "modernen" Rechtsextremismus wird der früher durch den Nationalsozialismus glorifizierten Kriegerideologie eine neue Bedeutung gegeben. Aufgrund des bisherigen großen Erfolgs in der rechtsextremistischen Szene ist trotz intensivierter behördlicher Maßnahmen künftig mit weiteren Kampfsport-"Events" zu rechnen. Der Aufruf von Rechtsextremisten, Kampfsport auszuüben, geht meistens mit der Diffamierung der Demokratie einher, welche die einheimische Bevölkerung nicht ausreichend vor gewalttätigen Migranten schütze und darüber hinaus militante Linksextremisten staatlich subventioniere. Somit werden Kampfsport und "Wehrhaftigkeit" in einem für "Patrioten" und "Volksfreunde" feindlichen Staat als alternativlos propagiert. Vor diesem Hintergrund beobachtet das LfV sehr genau - auch und gerade im Kontext des Kampfsports - das Konfrontationsgeschehen zwischen Rechtsund Linksextremisten. PARTEIGEBUNDENE STRUKTUREN BZW. PARTEIEN Bundesvorsitzender: Junge Alternative (JA) Hessen Hannes Gnauk Landesvorsitzender: DEFINITION/KERNDATEN Manuel Wurm Die 2013 gegründete Junge Alternative für Deutschland (JA) Mitglieder: ist die Jugendorganisation der AfD. Die JA umfasst 16 LanIn Hessen etwa 50 (seit 2019 undesverbände. Einer davon ist die JA Hessen. Die JA Hessen inszeverändert), die bundesweite Zahl nierte sich als "patriotische" Parteijugend, die angeblich auf dem lag bei Redaktionsschluss noch Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht und nicht vor Teil der Mitte der Gesellschaft ist. Tatsächlich handelt es sich bei der Medien: JA Hessen um eine fest in rechtsextremistische Strukturen eingeInternetpräsenzen \ bundene Gruppierung, die versucht, ihre rassistischen AnschauHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 111 RECHTSEXTREMISMUS ungen in der demokratischen Mehrheitsgesellschaft sowie im politischen Diskurs zu verankern und zu verbreiten. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Die JA Hessen betrieb unter anderem auf Parteitagen des AfD-Landesverbands Hessen Informationsstände, nahm an dem Bundesparteitag der AfD in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) teil und unterstützte die Mutterpartei im Wahlkampf zur hessischen Landtagswahl. Darüber hinaus nahmen Mitglieder der JA Hessen an außerhessischen Veranstaltungen und Kundgebungen von AfD und JA teil. Ein Vorstandsmitglied der JA Hessen trat mehrfach als Vortragender auf Veranstaltungen in Deutschland und Österreich in Erscheinung. AUF EINEN BLICK * Teilnahme an AfD-Veranstaltungen * Landeskongress der JA Hessen und Neuwahl des Vorstands * Unterstützung der AfD im hessischen Landtagswahlkampf * Vorträge über "Metapolitik" Teilnahme an AfD-Veranstaltungen | Mitglieder der JA Hessen nahmen im Berichtsjahr mehrfach an Veranstaltungen der Mutterpartei AfD teil. So besuchte der Vorsitzende der JA Hessen, Manuel Wurm, gemeinsam mit weiteren JA-Mitgliedern am 29. Januar den Neujahrsempfang der AfD im Hochtaunuskreis. Am 6. Februar beteiligten sich Mitglieder der JA Hessen, unter ihnen Wurm und dessen Stellvertreter Dominik Asch, an der Jubiläumsfeier der AfD zum zehnjährigen Bestehen der Partei. Laut eigener Aussage übernahmen die Mitglieder Aufgaben wie den "Ausschank, die Garderobe und halfen bei der Akkreditierung". Der Vorsitzende der JA Hessen nahm auch am Frühjahrsempfang der AfD Vogelsberg am 26. März teil, weitere Mitglieder der JA übernahmen bei der Veranstaltung Funktionen als Ordner. Auf den Landesparteitagen der AfD Hessen am 25. und 26. Februar in Melsungen (Schwalm-Eder-Kreis) und am 5. Mai in Königstein im Taunus (Hochtaunuskreis) betrieb die JA Hessen Informationsstände, auch auf dem Landesparteitag am 11. November in Karben (Wetteraukreis) war der Vorstand der JA Hessen in Person des stellvertretenden Vorsitzenden vertreten. Darüber hinaus nahmen Mitglieder der JA Hessen an außerhessischen Veranstaltungen der AfD teil. So beteiligten sie sich an einer Kundgebung der AfD zum 1. Mai in Erfurt (Thüringen). Daran nahm auch Björn Höcke, der Vorsitzende des vom LfV Thüringen als gesichert rechtsextremistisch eingestuften AfD-Landesverbands Thürin112 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS gen, teil. Mit Manuel Wurm und einer weiteren Aktivistin der JA Hessen posierte Höcke für ein gemeinsames Foto. An einer weiteren AfD-Kundgebung am 28. Oktober, die ebenfalls in Erfurt stattfand, nahm wiederum Wurm teil. Er führte dabei zeitweise mit einem Megaphon eine JA-Gruppe an, die ein Banner mit der Aufschrift "Deutsche Jugend fordert Remigration!" mit sich führte. Beiträge auf den Social-Media-Kanälen zeigten Wurm auf der Kundgebung gemeinsam mit Mitgliedern anderer JA-Landesverbände, darunter auch die Vorsitzende der vom LfV Brandenburg als gesichert rechtsextremistisch eingestuften JA Brandenburg. Außerdem waren mehrere Mitglieder der JA Hessen Teil der 60-köpfigen Delegation der JA auf dem Bundesparteitag der AfD, der vom 28. bis 30. Juli in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) stattfand. Landeskongress der JA Hessen und Neuwahl des Vorstands | Anfang Juli führte die JA Hessen laut Beiträgen in den sozialen Medien im Rahmen ihres Landeskongresses die Neuwahl des Landesvorstands durch. Im Vorfeld des Kongresses hatte ein Mitglied des Vorstands über seinen Facebook-Kanal angekündigt, sich um das Amt des Vorsitzenden bewerben zu wollen und sprach in diesem Kontext von der fehlenden "produktiven Zusammenarbeit" im Landesvorstand. Durch Beiträge in sozialen Medien wurde später bekannt, dass sich der bisherige Vorsitzende Manuel Wurm offenbar gegen den Gegenkandidaten durchsetzte und damit, wie sein Stellvertreter Dominik Asch, im Amt bestätigt wurde. Unterstützung der AfD im hessischen Landtagswahlkampf | Der Wahlkampf der Mutterpartei AfD war eines der bestimmenden Themen der JA Hessen im Berichtsjahr. So nahmen an einem Wahlkampfschulungswochenende der AfD Hessen am 22. und 23. April auch Mitglieder der JA Hessen teil, darunter der Landesvorsitzende Manuel Wurm. Auf der Wahlkampfauftaktveranstaltung der AfD Hessen, die am 9. September in Gelnhausen (Main-Kinzig-Kreis) stattfand, übernahmen Mitglieder der JA Hessen Ordnerfunktionen. JA-Mitglieder beteiligten sich zudem an Wahlkampfaktionen in mehreren Orten. Unter anderem in Schöneck (Main-Kinzig-Kreis), Haunetal, Ortsteil Odensachsen (Landreis Hersfeld-Rotenburg), Hessisch Lichtenau (Werra-Meißner-Kreis) und Maintal (Main-Kinzig-Kreis) hängten Mitglieder der JA Hessen AfD-Wahlplakate auf oder verteilten Flugblätter. Zum Abschluss des Wahlkampfs beteiligte sich der stellvertretende Landesvorsitzende Dominik Asch am 7. Oktober an einer Wahlkampfaktion in Eltville (Rheingau-Taunus-Kreis). Vorträge über "Metapolitik" | Im Berichtsjahr hielt Asch mehrfach Vorträge, so etwa das Referat "Metapolitik neu denken" am 25. Februar auf einer Strategietagung der JA Niedersachsen und am 20. Mai Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 113 RECHTSEXTREMISMUS vor Mitgliedern der JA Baden-Württemberg im Landtag von BadenWürttemberg in Stuttgart. An dem Vortrag nahm auch ein Vertreter der Gruppierung Wackre Schwaben, einer Regionalgruppe der IB, teil. Auf einer Vortragsveranstaltung des Freiheitlichen Bildungsinstituts der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), die am 10. und 11. November in Wien stattfand, referierte Asch über das "metapolitische Wirken der Jungen Alternative für Deutschland". Auf dem Landesparteitag des Rings Freiheitlicher Jugend Steiermark richtete Asch ein Grußwort an die Teilnehmer und betonte die Notwendigkeit der "Zusammenarbeit aller patriotischen Kräfte", um dem "links-grünen Zeitgeist Einhalt" zu bieten und "langfristig den Diskurs zu unseren Gunsten" zu verschieben. In einer Folge des Podcasts "Neckarwerft" der JA Baden-Württemberg sprach Asch über seinen Vortrag "Metapolitk neu denken" und die dem Vortrag zu Grunde liegenden strategischen Überlegungen. So sollen sich JA-Mitglieder in Vereinen (zum Beispiel in freiwilligen Feuerwehren, Schützenund Sportvereinen) engagieren und dort durch "vorbildhaften Charakter" überzeugen. Mitglieder der JA sollen schließlich auch Vorstandsposten in den Vereinen anstreben. Diese Strategie führe gemäß Asch zu dem "metapolitischen Erfolg", dass Berührungsängste bei den Bürgern abgebaut und die politischen Positionen der JA gesellschaftsfähig gemacht würden. Dementsprechend bewertete Asch Metapolitik als "elementar", um die eigenen Themen "an den Mann zu bringen" und durch die Medien "wahrheitswidrig gezeichnete Narrative zu durchbrechen". So könne man auf "lange Sicht" den politischen Diskurs nach rechts verschieben und letztlich die kulturelle Hegemonie erlangen. Nötig sei dafür ein "gefestigtes Vorfeld" und ein entsprechendes Bekenntnis der Mutterpartei hierzu. Außerdem beklagte Asch die angeblich verlorengegangenen Werte der Deutschen in Bezug auf "Nation, das Volk, die Familie, den Glauben, die Treue, Demut und die Aufopferungsbereitschaft". IDEOLOGIE/ZIELE Während die JA Hessen 2018 öffentlich einen nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu vereinbarenden ethnischhomogenen Volksbegriff verwendete und das von der IB geprägte Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs" propagierte, versucht sie sich seit ihrem "Rebranding" 2019 als "patriotisch" zu inszenieren und ein "bürgerliches" Image zu pflegen. Dass es sich bei diesem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung lediglich um eine Inszenierung handelt, verdeutlichen die personellen und ideologischen Überschneidungen zwischen Mitglie114 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS dern der JA Hessen und der IBD sowie der 2022 abgehaltene Bundeskongress der JA. Damals wählte die JA einen Rechtsextremisten mit überwältigender Mehrheit zu ihrem Vorsitzenden. Außerdem bekannte sie sich zum "politischen Vorfeld" und damit zu mehreren als gesichert rechtsextremistisch und vom BfV als Verdachtsfälle im Phänomenbereich Rechtsextremismus geführten Gruppierungen. AUF EINEN BLICK * Basisorientierte "metapolitische Arbeit" angestrebt * Überschneidungen mit der IBD * Fremdenfeindliche Grundeinstellung * JA als Teil der Mosaik-Rechten Basisorientierte "metapolitische Arbeit" angestrebt | Ziel der JA ist es, Anschluss an die demokratische Mehrheitsgesellschaft zu finden. Als "Mosaik" im Zusammenwirken mit weiteren Gruppierungen der Neuen Rechten soll deren rechtsextremistische Ideologie im Diskurs der demokratischen Mehrheitsgesellschaft verankert und letztlich die kulturelle Hegemonie erlangt werden. Letztere soll im Sinne der Neuen Rechten durch die Strategie der "Metapolitik", das heißt einer "Kulturrevolution von rechts", erreicht werden. Die meisten Vertreter der Neuen Rechten wollen mit ihrer "metapolitischen Arbeit" die öffentliche Meinung, die nach ihrer Auffassung den Denkund Handlungsspielraum der Politik definiert, nach "rechts" verschieben. Dies soll mittels einer auf maximale Reichweite ausgelegten Medienund Öffentlichkeitsarbeit geschehen. Dagegen vertritt die JA Hessen in Person ihres stellvertretenden Vorsitzenden Dominik Asch einen neuen Ansatz. Demnach sollen die JA-Mitglieder mit ihrer "metapolitischen Arbeit" im Freundesund Bekanntenkreis sowie im lokalen Vereinswesen ansetzen. Hier sollen sie durch ihren Charakter und ihr Engagement überzeugen, dadurch Ressentiments abbauen und letztlich auf eine breitere Akzeptanz bzw. bestenfalls eine Übernahme der von der JA Hessen vertretenen rechtsextremistischen Ideologie hinarbeiten. Überschneidungen mit der IBD | In einer unter anderem auf ihrem Facebook-Profil im Dezember 2019 veröffentlichten "Grundsatzerklärung" distanzierte sich die JA Hessen von "extremistischen Bestrebungen jedweder Weltanschauung". Trotzdem wurden 2022 zwei aktive Mitglieder der JA Hessen, darunter ein Funktionär, festgestellt, die an Veranstaltungen der IBD 2019 und 2021 teilgenommen hatten. Zu beiden Personen wurden in der Vergangenheit Publikationen veröffentlicht, welche die Teilnahmen an Veranstaltungen der IBD dokumentierten. Zudem bezeichnete sich der Funktionär der JA Hessen auf dem von ihm genutzte Twitter-Profil als "identitärer Aktivist" und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 115 RECHTSEXTREMISMUS verbreitete wiederholt das von der IBD geprägte Verschwörungsnarrativ des "Bevölkerungsaustauschs" bzw. des "großen Austauschs". In einem Beitrag vom 4. Februar 2022 schrieb er: "Der Kampf gegen den #Bevölkerungsaustausch ist die heilige Aufgabe unserer Generation. Mit uns entscheidet sich die Zukunft ganz Europas". In einem Beitrag des JA-Funktionärs vom 29. Juni 2022 hieß es: "Der Bevölkerungsaustausch findet statt und wer nichts dagegen tut, macht sich mitschuldig". Am 1. November 2022 warnte er unter Verwendung der Hashtags #Bevölkerungsaustausch, #TheGreatReplacement und #GreatReplacement, dass öffentliche Behörden nicht wollten, dass die Bevölkerung wisse, wie weit der "Bevölkerungsaustausch" bereits fortgeschritten sei. Mit dem von der IBD geprägten Begriff "Der große Austausch" wird der angebliche "Prozess, durch den die heimisch angestammte Bevölkerung durch außereuropäische Einwanderer verdrängt und ausgetauscht" werde, bezeichnet. Diese angebliche schrittweise Verdrängung werde durch die "Selbstabschaffungsideologie von Multikulti, die einen Großteil des gesellschaftlichen Entscheidungsbereichs einnimmt", hervorgerufen, wodurch, so die IBD, "unsere Völker" zur "Minderheit in den eigenen Ländern" und letztlich "völlig verschwunden" sein würden. Fremdenfeindliche Grundeinstellung | Der Funktionär der JA Hessen knüpfte in einem Twitter-Beitrag vom 1. November 2022 nahtlos an die 2018 mit fremdenfeindlichen Ressentiments versehene Publikation "Auswertung des Statistischen Jahrbuchs 2017, Frankfurt am Main - Harte Fakten - Unangenehme Fragen" der JA Hessen an. Darin attestierte die JA Hessen Teilen der Gesellschaft - in ihrem Sprachgebrauch als "herangezüchtete neue Mehrheitsbevölkerung" bezeichnet - eine "um sich greifende Eroberer-Mentalität". Außerdem lastete die JA Hessen diesen Teilen der Gesellschaft eine "gesundheitliche Gefährdung unserer Kinder" sowie eine Steigerung von Infektionskrankheiten an und befeuerte die Sorge vor einem "wirtschaftlichen Niedergang". Unter Verwendung des Hashtags #Diversität schrieb der Funktionär der JA Hessen ebenfalls am 1. November 2022: "#Diversität ist nicht unsere Stärke. Es reduziert Dein Einkommen, es unterminiert Deine Kultur, es erhöht die Kriminalität, es füllt die Krankenhäuser, es nimmt Wohnraum, es ruiniert Schulen, es macht Gesetze restriktiver, es nimmt dir Freiheit...Während sie dich Rassist nennen". (Schreibweise wie im Original.) 116 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Als das Hauptziel bezeichnete im Dezember des Berichtsjahrs ein Funktionär der JA Hessen den ",Erhalt der ethnok[ul]turellen Identität & Stopp des Bevölkerungsaustauschs'". JA als Teil der Mosaik-Rechten | Indem sie erwiesen rechtsextremistische und durch das BfV als Verdachtsfall geführte Gruppierungen zu ihrem Bundeskongress in Thüringen eingeladen hatte, bekannte sich die JA zur Neuen Rechten und damit auch zu der von ihr propagierten rechtsextremistischen Ideologie. Mitglieder des JA-Bundesvorstands erklärten im Rahmen des 2022 stattgefundenen Bundeskongresses, dass sie "Hand in Hand" mit dem "politischen Vorfeld" zusammenarbeiteten und dass niemand die JA und das "politische Vorfeld" trennen könne. Die "politische Sozialisation" der JA-Mitglieder geschehe teilweise durch das "politische Vorfeld". In einem Beitrag auf Twitter bezeichnete sich die JA als "Parteijugend des Widerstands" und "Teil eines größeren Mosaiks". Dabei handelt es sich bei der Mosaik-Rechten um eine arbeitsteilige Strategie. Sie soll bewirken, dass durch das verzahnte, wechselseitige Zusammenwirken von parlamentarischen und außerparlamentarischen Akteuren und Gruppierungen rechtsextremistisches Gedankengut der Neuen Rechten in alle (demokratischen) gesellschaftlichen Teilbereiche und Subkulturen getragen wird. Auf diese Weise sollen die Vorherrschaft im "metapolitischen" Raum erlangt und letztlich eine Gesellschaft und ein Staat nach den ideologischen Vorstellungen der Neuen Rechten geschaffen werden. STRUKTUREN Die 2013 in Darmstadt im Rahmen eines ersten Bundeskongresses gegründete JA bestand aus 16 Landesverbänden. In Hessen war die JA Hessen die offizielle Jugendorganisation der AfD Hessen. Die JA Hessen setzte sich aus mehreren Kreisund Ortsverbänden zusammen, wies jedoch keine flächendeckenden Strukturen auf. Dem Vorstand der JA Hessen gehörten im Berichtszeitraum zunächst vier und nach der angeblichen Neuwahl Anfang Juli fünf Personen an. Der Landesvorsitzende der JA Hessen, Manuel Wurm, wurde 2022 auf dem Bundeskongress der JA als stellvertretender Bundesschatzmeister in den Bundesvorstand gewählt und hatte diese Position auch im Berichtsjahr inne. BEWERTUNG/AUSBLICK Im Berichtsjahr war die JA Hessen sichtlich bemüht, sich als aktive und engagierte Parteijugend zu inszenieren. Sie nahm nicht nur an Veranstaltungen der Mutterpartei teil und unterstützte diese zum BeiHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 117 RECHTSEXTREMISMUS spiel mit Ordnerkräften, sondern nutzte die Veranstaltungen auch, um unter anderem durch Informationsstände Werbung in eigener Sache zu machen. Darüber hinaus nahm die JA Hessen an Veranstaltungen der AfD und JA in anderen Ländern teil. Die Vortragsreihe Dominik Aschs, des stellvertretenden Landesvorsitzenden der JA Hessen, spiegelt wiederum die Vernetzungsbestrebungen zentraler Akteure der Jugendorganisation wider, die über Deutschland hinausreichten. Während die JA Hessen im Wahlkampf der AfD zur hessischen Landtagswahl und bei außerhessischen Veranstaltungen aktiv war, wurden keine eigenen Veranstaltungen im Berichtsjahr festgestellt. Auch in den sozialen Medien war die JA Hessen nur begrenzt aktiv, ihre Internetseite war nicht aufrufbar. Die Teilnahme Manuel Wurms, des Landesvorsitzenden der JA Hessen, an einer Kundgebung in Erfurt (Thüringen) am 28. Oktober ist als aktives Bekenntnis der Jugendorganisation zur Ideologie der Neuen Rechten und deren Kernforderung nach "Remigration" zu betrachten. Auch die Ausführungen des stellvertretenden Landesvorsitzenden Dominik Asch im Rahmen des Podcasts "Neckarwerft" verweisen auf Ideologieelemente der Neuen Rechten und der demokratiefeindlichen Konservativen Revolution während der Weimarer Republik. Insgesamt versuchte die JA Hessen im Zusammenwirken mit anderen rechtsextremistischen Gruppierungen der Neuen Rechten zur weiteren Entgrenzung des Rechtsextremismus und der Verankerung rechtsextremistischen Gedankenguts im öffentlichen Diskurs der demokratischen Mehrheitsgesellschaft beizutragen. Somit manifestierte sich auch in der JA Hessen eine Entwicklung, die sich bereits auf dem Bundeskongress der JA 2022 abgezeichnet hatte. Dort bezeichnete sich die JA deutlich offensiver als in den Vorjahren als "Parteijugend des patriotischen Widerstands" und "Teil eines größeren Mosaiks". Die JA Hessen reiht sich somit in das innerhalb der Neuen Rechten propagierte Konzept der Mosaik-Rechten ein, die eine Gesellschaft und einen Staat nach den ideologischen Vorstellungen der Neuen Rechten schaffen will. 118 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Die HEIMAT DEFINITION/KERNDATEN Die Partei Die HEIMAT (vormals Nationaldemokratische Partei Deutschlands, NPD), vertritt nationalistische, völkische und revisionistische Positionen. Insgesamt weist ihre Programmatik eine ideologische und sprachliche Nähe zur Nationalsozialistischen Logo von Die HEIMAT Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) im "Dritten Reich" auf. Den verfassungsfeindlichen Charakter der NPD stellte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 17. Januar 2017 fest. Logo der JN EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Landesvorsitzender: Die Partei Die HEIMAT war in Hessen im Berichtszeitraum deutlich Stefan Jagsch aktiver als in den Vorjahren, in denen sie unter der Bezeichnung "NPD" firmierte. Die Agitation des Landesverbands der HEIMAT Bundesvorsitzender: Hessen richtete sich vor allem gegen die Migrations-, Energieund Frank Franz (Saarland) Umweltpolitik der Bundesregierung. Indem Die HEIMAT gesellMitglieder: schaftlich virulente Themen auch jenseits klassischer rechtsextreIn Hessen etwa 260 (seit 2019 mistischer Agitationsfelder aufgriff, versuchte sie, Anschluss an unverändert), die bundesweite nichtextremistische regierungskritische Proteste zu finden. Zahl lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor AUF EINEN BLICK Jugendorganisation: * Beteiligung an nichtextremistischen Protesten Junge Nationalisten (JN) * Dominierende Themen * Neujahrsempfang Medien (Auswahl): Deutsche Stimme (DS), * Bundesparteitag, Neuausrichtung und Umbenennung der Partei Internetpräsenzen * Jahreshauptversammlung des Bezirksverbands WetterauKinzig / * Landratswahl im Wetteraukreis * Entzug der staatlichen Parteienfinanzierung Beteiligung an nichtextremistischen Protesten | Zu Demonstrationen von nichtextremistischen Personen und Organisationen gegen die Politik der Bundesregierung, an denen die NPD bzw. Die HEIMAT mit entsprechenden Bannern teilnahm, kam es am 6. Januar, 10. März und 14. April in Büdingen (Wetteraukreis) und am 22. Mai in Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) sowie unter anderem am 29. Mai, am 20. August und am 3. Oktober in Aschaffenburg (Bayern). Im Fokus der Proteste der NPD bzw. der HEIMAT stand insbesondere die Asyl-, Energieund Umweltpolitik der Bundesregierung. Mitglieder und Funktionäre der Partei beteiligten sich darüber hinaus am 1. Mai in Herborn (LahnDill-Kreis) und am 16. Juli in Seligenstadt (Landkreis Offenbach) an Störungen von Wahlkampfauftritten der SPD-Spitzenkandidatin Nancy Faeser anlässlich der hessischen Landtagswahl am 8. Oktober. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 119 RECHTSEXTREMISMUS Die NPD bzw. Die HEIMAT trat selbst nicht zur Landtagswahl an. An einer von einer nichtextremistischen Bürgerinitiative angemeldeten "Mahnwache" am 23. Januar in Altenstadt (Wetteraukreis), die sich gegen die Unterbringung von Migranten richtete, beteiligten sich auch Mitglieder der HEIMAT. Um Anschluss an Nichtextremisten zu gewinnen, nahmen Angehörige der NPD bzw. der HEIMAT in der Regel an den regierungskritischen Protesten teil, ohne einen direkten Bezug zu ihrer Partei zu offenbaren. Eigene, das heißt von der NPD bzw. der HEIMAT angemeldete, Veranstaltungen in diesem Kontext gab es im Berichtsjahr nicht. Dominierende Themen | Bei einem Teil dieser Veranstaltungen und in Beiträgen der NPD bzw. der HEIMAT auf Facebook und auf Telegramm standen die Themen "steigende Lebenserhaltungsund Energiekosten" sowie die angeblichen Folgen der Migrationspolitik im Mittelpunkt. Als verantwortlich hierfür sah die NPD bzw. Die HEIMAT die Bundesregierung, den forcierten Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energieträgern sowie die Befürwortung der Sanktionen der Europäischen Union (EU) gegen Russland an. Dabei war die Haltung der NPD bzw. der HEIMAT sowohl auf Bundesals auch auf Landesebene in Bezug auf den russischen Überfall auf die Ukraine ambivalent. Während einerseits das ukrainische Recht auf freie Selbstbestimmung bekräftigt und das russische Vorgehen als "völkerrechtlich zumindest fragwürdig" bezeichnet wurde, wurden andererseits die USA für die "Eskalation" und die wirtschaftlichen Folgen verantwortlich gemacht. In diesem Kontext lehnte die NPD bzw. Die HEIMAT die Unterstützung der Ukraine durch Deutschland und dessen NATO-Partner ab. Vor allem in den sozialen Medien kritisierte die NPD bzw. Die HEIMAT Hessen in teils diffamierender Art und Weise die Wirtschafts-, Umwelt-, Migrations-, Grenzund Globalisierungspolitik und das entsprechende Krisenmanagement der Bundesregierung. Als Verursacherin dieser "Krisen" machte die NPD bzw. Die HEIMAT Hessen die Zuwanderung nach Deutschland verantwortlich, wobei sie versuchte, dieses Thema im Sinne ihrer verfassungsfeindlichen Ideologie zu instrumentalisieren. Vor diesem Hintergrund forderte die NPD bzw. Die HEIMAT Hessen die Schließung der deutschen Grenzen und Einsparungen bei den Ausgaben für Migranten. Auch sollten die deutschen Unterstützungsleistungen für Kriege im Ausland gekürzt werden. Neujahrsempfang | Ihren Neujahrsempfang führte die NPD Hessen am 14. Januar im Wetteraukreis durch, wobei sowohl der Landesvorsitzende Stefan Jagsch als auch sein Stellvertreter Daniel Lachmann 120 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS über die kommunale Arbeit der NPD berichteten. Jagsch bezog sich auf die Aktivitäten der NPD in der Gemeindevertretung von Altenstadt (Wetteraukreis) und im Ortsbeirat Waldsiedlung. Dabei betonte Jagsch die "Wichtigkeit des entschlosseneren Entgegentretens gegen die Ansiedlung von kulturfremden Ausländern über das Asylticket in den Städten & Gemeinden". Lachmann referierte über seine Arbeit im Kreistag des Wetteraukreises und in der Stadtverordnetenversammlung von Büdingen (Wetteraukreis) und unterstrich, "dass man als Patriot sich für unsere Heimat engagiere und das Herz am rechten Fleck" habe. Der Neujahrsempfang schloss mit dem Auftritt eines rechtsextremistischen Liedermachers. Bundesparteitag, Neuausrichtung und Umbenennung der Partei | Seit 2019 verfolgte der NPD-Bundesvorstand das Ziel, die Partei neu auszurichten und sie zu einer Sammlungsbewegung des rechtsextremistischen Spektrums zu formen. Bestandteile dieses Vorhabens waren unter anderem die Verschlankung des Parteiapparats, die Fokussierung auf die kommunalpolitische Arbeit, die Erhöhung der Anschlussfähigkeit als Dienstleister für andere rechtsextremistische Bewegungen und die Umbenennung der Partei in Die HEIMAT. Nachdem das Konzept der Neuausrichtung auf dem Bundesparteitag 2022 in Altenstadt (Wetteraukreis) gescheitert war, hielten sowohl der Bundesvorstand als auch der Landesverband Hessen daran fest. Am 13. Mai 2023 fand wiederum in Altenstadt der "3. Deutsche Stimme Netzwerktag" statt. Wie die vorherigen Veranstaltungen diente die Zusammenkunft dem Austausch bzw. der Vernetzung der bundesweiten rechtsextremistischen Szene. Im Berichtsjahr nahmen unter anderem der Bundesvorsitzende und der stellvertretende Bundesvorsitzende der NPD, der Vorsitzende der Partei Freie Sachsen (vom LfV Sachsen als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung eingestuft), der Chefredakteur der DS sowie parteiungebundene Rechtsextremisten an dem "Netzwerktag" teil. Ein rechtsextremistischer Liedermacher sorgte für das musikalische Programm, zudem waren verschiedene rechtsextremistische Organisationen mit Informationsständen vertreten. In einem Videobeitrag der DS zeigte sich der Moderator der Veranstaltung von dem Konzept der fortwährenden Vernetzung überzeugt. Trotz unterschiedlicher Meinungen sei deutlich geworden, dass man eine gemeinsame Stoßrichtung verfolge. Wichtig sei nun, praxisbezogen in Kontakt zu bleiben und miteinander zu kooperieren statt zu konkurrieren. Auf dem Bundesparteitag am 3. Juni in Riesa (Sachsen) stimmten 77 Prozent der Delegierten für die Umbenennung der NPD in Die Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 121 RECHTSEXTREMISMUS HEIMAT, wobei die zwölf Delegierten des Landesverbands Hessen geschlossen für die Umsetzung der Neuausrichtung votierten. Dass nicht alle Parteimitglieder die Neuausrichtung unterstützten, zeigt sich nicht nur in den 23 Prozent der Gegenstimmen, sondern insbesondere in dem im Zusammenhang mit der Abstimmung stehenden Ausscheiden des Landesverbandes Hamburg aus der Gesamtpartei. In einer Pressemeldung äußerte sich der Bundesparteivorsitzende wie folgt: "Wir haben lange überlegt, diskutiert, auch hart in der Sache gestritten. Aber nun ist der Weg für eine strategische Weiterentwicklung geebnet. Die Gründer unserer Partei formten vor fast 60 Jahren eine Sammlungsbewegung, weil deutsche Interessen von den Etablierten verraten wurden. In diesem Geiste sehen wir nun auch unseren heutigen Schritt. Die Heimat soll eine Sammlungsbewegung für alle schaffen, die ihre Heimat behalten wollen, die nicht nur meckern, sondern aktiv werden wollen. Die Proteste der letzten Jahre, ob gegen die Asylwelle, gegen die Corona-Maßnahmen oder gegen die politisch hausgemachte Energiekrise, haben gezeigt, dass der Widerstand wächst. Dieser Widerstand muss vernetzt werden. An diesem Netzwerk für die Heimat wollen wir mitwirken". Hatte die NPD Hessen die Bezeichnung Die HEIMAT trotz der 2022 gescheiterten Abstimmung auf der Ebene der Ortsund Regionalgruppen verwendet, so wurden die damals geschaffenen TelegramKanäle Heimat Büdingen und Heimat Wetterau geschlossen. Nunmehr erhielten die Facebook-Kanäle Heimat Wetterau und Heimat Lahn-Dill ein einheitliches Design mit dem Logo der Partei Die HEIMAT. So wurden über diese Kanäle Beiträge in Bezug auf die Kandidatur Lachsmanns zur Landratswahl im Wetteraukreis gepostet. Jahreshauptversammlung des Bezirksverbands Wetterau-Kinzig | Auf der Jahreshauptversammlung des Bezirksverbands WetterauKinzig am 31. Januar in Altenstadt (Wetteraukreis) wurde Stefan Jagsch einstimmig als Bezirksvorsitzender wiedergewählt. Zu seinen Stellvertretern wurden Daniel Lachmann und Björn Frisch bestimmt, wobei Lachmann erneut auch zum Schatzmeister gewählt wurde. Im Rahmen seines Kassenberichts erklärte Lachmann, dass die Kasse des Bezirksverbands durch regelmäßige Spenden gut gefüllt sei. Darüber hinaus gab der Bezirksvorstand an, dass die Teilnehmerzahl der monatlichen Stammtische zunehme und sich neue Ideen für Aktionen entwickelten. 122 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Landratswahl im Wetteraukreis | Anlässlich der Kandidatur des stellvertretenden Landesvorsitzenden der HEIMAT, Daniel Lachmann, zur Landratswahl am 8. Oktober im Wetteraukreis präsentierte sich die Partei mehrfach mit Informationsständen: So etwa am 23. September in Altenstadt, am 30. September in Bad Nauheim und am 7. Oktober in Büdingen, wo die Partei am 2. Oktober eine nichtöffentliche Wahlkampfveranstaltung durchführte. Bei der Wahl erhielt Lachmann 9.571 Stimmen (= 6,55 Prozent). Entzug der staatlichen Parteienfinanzierung | Nachdem am 3. Juni die mündliche Verhandlung über den Ausschluss der NPD bzw. der HEIMAT von der staatlichen Parteienfinanzierung vor dem Bundesverfassungsgericht stattgefunden hatte, erging am 23. Januar 2024 unter dem Aktenzeichen 2 BvB 1/19 das Urteil. Danach erhält die Partei für sechs Jahre keine staatlichen Zuwendungen, außerdem entfallen die steuerlichen Begünstigungen, wie etwa Steuervorteile bei Spenden. Waren die Vertreter der NPD bzw. der HEIMAT bereits dem mündlichen Verhandlungstermin ferngeblieben und hatte die Partei von einer "Justizsimulation" gesprochen, so äußerte sich der Parteivorsitzende Frank Franz in einer Presseerklärung über das Urteil wie folgt: "Der Staat, den sich das gegnerische Kartell zur Beute gemacht hat, schlägt in den letzten Monaten immer heftiger und unkontrollierter um sich. Dass politische Mitbewerber in einem angeblich demokratischen Rechtsstaat so dreist ihrer Chancengleichheit beraubt werden, indem man sie von der staatlichen Parteienfinanzierung ausschließt, ist im konkreten Fall zwar bitter. Es zeigt aber auch, dass die Luft für die herrschende Klasse dünner wird. Die Anzahl systemkritischer Bürger wächst unaufhörlich. Die derzeit Herrschenden schützen nicht die Demokratie, sondern kämpfen um ihr politisches Überleben. Das Urteil gegen die HEIMAT ist ein weiterer Beleg dafür, dass das System im Inneren krankt". Junge Nationalisten (JN) Die JN Hessen waren im Berichtszeitraum - im Gegensatz zu den Vorjahren - deutlich aktiver, was sich sowohl durch öffentlichkeitswirksame Aktionen und Kampagnen als auch durch Aktivitäten im Internet und in den sozialen Medien zeigte. Dabei stand die Agitation gegen Migration und gegen die LGBTQIA+-Bewegung im Vordergrund. Darüber hinaus beteiligten sich die JN Hessen an verHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 123 RECHTSEXTREMISMUS schiedenen Kampagnen der rechtsextremistischen Szene. In ihrer Schwerpunktsetzung lehnten sich die JN Hessen eng an die Themen der Mutterpartei an. Diese Verzahnung zwischen den JN und der NPD bzw. der HEIMAT spiegelte sich in Hessen auch personell wider. So war der Vorsitzende der JN Hessen, Thassilo Hantusch, zugleich einer der stellvertretenden Vorsitzenden der HEIMAT Hessen. AUF EINEN BLICK * Zustimmung zur Umbenennung der Mutterpartei * Treffen mit Vernetzungscharakter * Rechtsextremistische Kampagnen * Weitere Aktivitäten Zustimmung zur Umbenennung der Mutterpartei | Die JN hatten sich frühzeitig als Unterstützer der Umbenennung der NPD positioniert und wichen von dieser Haltung trotz des 2022 gescheiterten Antrags auf dem NPD-Bundesparteitag in Altenstadt (Wetteraukreis) nicht ab. Vor diesem Hintergrund begrüßten die JN die auf dem Bundesparteitag am 3. Juni 2023 in Riesa (Sachsen) vollzogene Umbenennung: "Junge Nationalisten gehen voran mit der HEIMAT! Glückwunsch zur Umbenennung. Der Weg ist geebnet, die Heimat hat wieder einen ernstzunehmenden Verteidiger. Unsere Mutterpartei ist: die Heimat". Thassilo Hantusch postete auf Instagram ein Bild mit der Aufschrift "Beginn einer neuen Kraft: HEIMAT!" Auch inhaltlich folgten die JN Hessen dem Ziel der Mutterpartei, sich zu einer "Heimatbewegung" auf der Grundlage einer verstärkten Vernetzung zu entwickeln. Treffen mit Vernetzungscharakter | Um dem Anspruch der Vernetzung gerecht zu werden, nahmen Hantusch und zwei weitere Mitglieder der JN Hessen am "2. Treffen der Generationen" in Eisenach (Thüringen) am 18. April teil. Im Rahmen der Zusammenkunft früherer und aktueller JN-Aktivisten kam es nach eigenen Angaben zu einem "intensiven Ideenund Planungsaustausch". Darüber hinaus waren die JN Hessen mit einem Informationsstand beim "3. Deutsche Stimme Netzwerktag" am 13. Mai in Altenstadt vertreten. Unter Leitung des Landesvorsitzenden der JN Hessen kamen am 9. September in Frankfurt am Main JN-Führungskräfte aus Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern zu einem Arbeitstreffen zusammen, um die künftigen Ziele der Jugendorganisation zu besprechen. Die Teilnehmer betonten, dass die Mutterpartei hinsichtlich ihrer "strategischen Ausrichtung auf einem richtigen Weg" sei. Die JN selbst wollten "auch in Zukunft weiterhin ein Motor sein, um inhaltliche Debatten in der Mutterpartei anzustoßen und eine Profilschärfung zu betreiben". 124 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Rechtsextremistische Kampagnen | Ihre seit Jahren bestehende bundesweite Kampagne "schülersprecher.info" setzten die JN im Berichtszeitraum fort. Als zentrale Medien der Kampagne dienten der 2021 eingerichtete Telegram-Kanal schuelersprecher.info, ein gleichlautender Instagram-Kanal sowie die Internetseite gleichen Namens. Neben Informationen zur Kampagne bot die Internetseite weiterhin die Möglichkeit des kostenlosen Downloads einer "SchülersprecherCD" mit einschlägigen Liedern aus der rechtsextremistischen Musikszene. Über den Telegram-Kanal wurde für Plakate, Sticker und Flyer der Kampagne geworben. Schwerpunkte des Propagandamaterials bildeten die Agitation gegen die Migration und gegen die LGBTQIA+-Bewegung. Zudem wurde auf dem Telegram-Kanal wiederholt über bundesweite Bannerund Klebeaktionen berichtet, darunter eine Aktion im Januar des Berichtsjahrs in Gießen (Landkreis Gießen), wo an einem Stromverteilerkasten Plakate mit den Aufschriften "Jugend ohne Migrationshintergrund" und "Kampfsport statt Kiffen - Deutsche Jugend zu uns!" angebracht worden waren. Ebenfalls wurde im Rahmen der Kampagne über Instagram für einen virtuellen Jugendstammtisch geworben, an dem sich am 21. Januar auch Personen aus Hessen beteiligten. Anfang Juni riefen unter anderem Rechtsextremisten den "Stolzmonat" als Gegenentwurf zum jährlich in diesem Monat stattfindenden "Pride Month" der LGBTQIA+-Bewegung aus. Damit sollte der "Stolz" auf Deutschland zum Ausdruck gebracht werden. Um ihre Unterstützung der Kampagne zu verdeutlichen, versahen verschiedene Akteure aus dem rechtsextremistischen Spektrum ihre Beiträge in den sozialen Medien mit dem Hashtag #Stolzmonat und färbten diese - in Abgrenzung zu den Regenbogenfarben der LGBTQIA+Bewegung - mit einem schwarz-rot-goldenen Hintergrund ein. Einen dementsprechenden Beitrag postete auch Thassilo Hantusch. Insgesamt zogen die JN ein positives Fazit der "Stolzmonat"-Kampagne und werteten diese als Zeichen der "Sichtbarkeit der Heimatverbundenheit". Die Bundesorganisation der JN warb über ihren Telegram-Kanal für die jährlich stattfindende rechtsextremistische Kampagne "Schwarze Kreuze", um "deutschlandweit an die Opfer multikultureller Gewalttaten" zu erinnern. Entsprechend wurden im Juli unter anderem in Hessen schwarzlackierte Kreuze in Frankfurt am Main, Glashütten und Königstein im Taunus (Hochtaunuskreis) aufgestellt. Im August veröffentlichte die JN-Bundesorganisation auf ihrem Telegram-Kanal einen Videobeitrag der JN Hessen mit dem Titel "ReHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 125 RECHTSEXTREMISMUS migration jetzt! - Hessen eine Zukunft geben", in der auch der Vorsitzende der JN Hessen, Thassilo Hantusch, zu Wort kam. Anlass waren die Ausschreitungen während des Eritrea-Festivals am 8. und 9. Juli in Gießen (Landkreis Gießen). Dem Videobeitrag war folgende Stellungnahme der JN beigefügt: "Die jüngsten Ausschreitungen rund um das Eritrea-Festival reichen sich die Hand mit täglichen Schlagzeilen über Ausländergewalt, Raub, Mord, Demütigung und Hass auf unser Land und unser Volk. Die Einwanderung kulturund artfremder Migranten nach Mitteleuropa hat Probleme geschaffen, die ohne konsequente Rückführungspolitik nicht mehr zu lösen sind. Als heimatverbundene deutsche Jugend werden wir nicht zusehen, wie sie unser Land verschachern und unsere Zukunft zerstören". In dem Video hielten Hantusch und sechs weitere, mit Sturmhauben in schwarz-rot-goldener Farbe vermummte Personen ein Banner mit der Aufschrift "Remigration jetzt!" Dabei gab die JN-Bundesorganisation an, dass die Sturmhauben als "Maske[n] für den Widerstand" im Rahmen der "Stolzmonat"-Kampagne produziert wurden. Außerdem enthielt das Video einen Hinweis auf den Instagram-Kanal der aufgelösten neonazistischen Gruppierung Scheiteljugend Kassel. Darauf wiederum war das Video "Remigration jetzt! - Hessen eine Zukunft geben" ebenso abrufbar wie auf einem weiteren InstagramKanal, wo der Beitrag mit der Frage verknüpft war, ob man aus Hessen komme und aktiv werden wolle. Während hinter der Antwortmöglichkeit "Ja" eine Deutschlandfahne abgebildet war, befand sich hinter "Nein" das Bild einer Regenbogenflagge. Zusätzlich gab es seit Dezember den Instagram-Kanal rechteschueler_lich, der regelmäßig von den JN und der HEIMAT verfasste Inhalte teilte. Weitere Aktivitäten | Anlässlich des 100. Todestages Albert Leo Schlageters, den ein französisches Kriegsgericht während der französischen und belgischen Besetzung des Ruhrgebiets wegen Spionage und Sabotage zum Tode verurteilt hatte, überklebten Aktivisten der JN Hessen am 26. Mai Straßennamenschilder in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Gießen (Landkreis Gießen) und Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) mit dessen Namen. Ein entsprechender Beitrag hierzu wurde auf dem Telegram-Kanal und der Homepage der JNBundesorganisation veröffentlicht. Darin hieß es: "Freiheitskämpfer - damals wie heute! Auch heute steht die rebellische Jugend im Kampf um die Freiheit der Nation". Gemäß eigener Berichterstattung führten die JN Hessen am 3. Oktober eine 17 km lange Wanderung mit Startund Endpunkt an der Burg Münzenberg im Wetteraukreis durch. Während der Wanderung 126 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS folgten die Aktivisten zeitweise dem ehemaligen römischen Grenzwall Limes. In einem im Internet veröffentlichten Beitrag hieß es: "Hier wurde einem bewusst, dass Deutschland nicht nur von 1945 bis 1989 von einer Mauer durchzogen war, sondern dass unser Volk schon vor 2000 Jahren dieses Schicksal erlitt. Auch damals war unser Volk gespalten". Darüber hinaus besuchten die Aktivisten ein Soldatenehrenmal auf einem Friedhof. Entsprechend enthielt der Internetbeitrag unter anderem ein Foto des Ehrenmals und ein Bild eines uniformierten Teilnehmers mit JN-Fahne. Nachdem die JN-Bundesorganisation über ihren Telegram-Kanal für den 19. November zur Beteiligung am "Heldengedenken" anlässlich des Volkstrauertags aufgerufen hatte, postete der Vorsitzende der JN Hessen, Thassilo Hantusch, zwei Tage später auf seiner FacebookSeite ein entsprechendes Bild. Demnach hatten die JN Hessen an einer Kranzniederlegung der HEIMAT Hessen an einem Kriegerdenkmal in Leun (Lahn-Dill-Kreis) teilgenommen. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Mit der Gründung der NPD 1964 in Hannover (Niedersachsen) sollten die zersplitterten Kräfte des rechtsextremistischen Lagers in der Bundesrepublik in einer Partei gebündelt werden. Der Großteil des Führungskaders der NPD bestand zunächst aus ehemaligen Mitgliedern der NSDAP. AUF EINEN BLICK * Anschein von Legalität * Krise der NPD * "Drei-Säulen-Konzept" - Erfolge in Ostdeutschland * Konzept der "seriösen Radikalität" * Erarbeitung eines neuen Konzepts zur künftigen Strategie der Partei Anschein von Legalität | Aus dem Verbot der SRP 1952 durch das Bundesverfassungsgericht zog die NPD den Schluss, sich um den Anschein von Legalität zu bemühen und eine öffentliche Verherrlichung des Nationalsozialismus weitgehend zu unterlassen. Diese Strategie trug dazu bei, dass die NPD bei der Bundestagswahl 1965 zwei Prozent (= 664.193 der Zweitstimmen) erreichte. Zwischen 1966 und 1968 zog die NPD in die Landtage von Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ein. Die Mitgliederanzahl stieg, wobei auf sämtlichen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 127 RECHTSEXTREMISMUS Parteiebenen etwa 20 Prozent der Mitglieder eine NSDAP-Vergangenheit aufwiesen. Ursache für den damaligen Auftrieb für die NPD waren zum Beispiel das Bestehen einer nur kleinen Opposition gegenüber der ersten Großen Koalition (1966 bis 1969), die konjunkturelle Schwäche in Deutschland und damit verbundene Verlustängste in der Bevölkerung. Krise der NPD | Bei der Bundestagswahl 1969 scheiterte die NPD mit 4,3 Prozent (= 1.422.010 der Zweitstimmen) relativ knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. In der Folge führten unter anderem die innere Zerstrittenheit der Partei, eine sich allmählich bessernde wirtschaftliche Lage sowie die kritische Berichterstattung in den Medien über Ausschreitungen im Zusammenhang mit NPD-Mitgliedern zu einer langjährigen Krise der Partei. Weitere interne Streitigkeiten über die programmatische Ausrichtung, der starke Rückgang der Mitgliederzahlen, der öffentliche Skandal um die Leugnung des Holocausts durch den damaligen NPD-Vorsitzenden Günter Deckert (1991 bis 1995) und das Auftauchen konkurrierender rechtsextremistischer Parteien zementierten die Krise der NPD bis in die 1990er Jahre hinein. "Drei-Säulen-Konzept" - Erfolge in Ostdeutschland | Mit der Wahl Udo Voigts zum Bundesvorsitzenden im Jahr 1996 steigerte die NPD vor allem in den neuen Ländern ihre Mitgliederzahl und erneuerte neben Organisation und Strategie ihre Programmatik. Das neue "Drei-Säulen-Konzept" enthielt folgende Punkte: "Kampf um die Köpfe", "Kampf um die Straße" und "Kampf um die Parlamente". 2004 kam der "Kampf um den organisierten Willen" hinzu. Im Zuge ihres "Kampfs um die Straße" öffnete sich die NPD vor allem gegenüber rechtsextremistischen Skinheads und Neonazis. Umgekehrt näherten sich diese der NPD an. Nach dem Scheitern des NPDVerbotsverfahrens 2003 setzte die Partei ihre Politik der Annäherung an die Neonaziszene fort und konzentrierte ihre Aktivitäten zunehmend auf Ostdeutschland. 2004, 2006, 2009 und 2011 zog die NPD in die Landtage von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ein, in denen sie inzwischen nicht mehr vertreten ist. Konzept der "seriösen Radikalität" | Holger Apfel, der 2011 gewählte Nachfolger Udo Voigts als Bundesvorsitzender, wollte mit seinem Konzept der "seriösen Radikalität" die NPD aus der Krise führen, in die sie unter anderem durch eine Reihe von Niederlagen bei Landtagswahlen sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands geraten war. Offensichtlich aus persönlichen Gründen legte Apfel 2013 sein Amt als Bundesvorsitzender nieder und trat aus der Partei aus. Vorübergehend übernahm sein Stellvertreter Udo Pastörs die Füh128 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS rung, bis 2014 Frank Franz, vorher Pressesprecher der Partei, zum neuen Bundesvorsitzenden gewählt wurde. Zuvor war die NPD bei den Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Mit dem Verlust der staatlichen Teilfinanzierung nach dem Ausscheiden aus dem Sächsischen Landtag und der damit verbundenen Einbuße von Mitarbeitern verlor die NPD eine wesentliche Grundlage ihrer bundesweiten politischen Arbeit. Erarbeitung eines neuen Konzepts zur zukünftigen Strategie der Partei | Nach weiteren Wahlniederlagen stimmten auf dem 37. ordentlichen Bundesparteitag ("Wir setzen uns durch - für unsere Heimat") in Riesa (Sachsen) die Delegierten Ende 2019 einem durch den Parteivorsitzenden Frank Franz zur Diskussion gestellten Entschließungsantrag über die zukünftige Strategie der Partei zu. Damit wurde der Parteivorstand beauftragt, bis Ende März 2020 ein Konzept für die Zukunft der NPD zu erarbeiten, wobei auch eine Umbenennung der Partei geprüft werden sollte. Das Konzept unter der Bezeichnung Die HEIMAT wurde auf dem Bundesparteitag 2022 in Altenstadt (Wetteraukreis) präsentiert, erhielt allerdings nicht die hierfür erforderliche Zweidrittelmehrheit. Diese kam erst ein Jahr später auf dem Bundesparteitag in Riesa zustande. IDEOLOGIE/ZIELE Die NPD bzw. Die HEIMAT steht für Antiparlamentarismus und Antipluralismus. Mit ihrer fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Programmatik wendet sie sich offen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. AUF EINEN BLICK * Überwindung des "Systems" * "Solidargemeinschaft aller Deutschen" - Islamfeindlichkeit - Antisemitismus Überwindung des "Systems" | Die NPD bzw. Die HEIMAT will die parlamentarische Demokratie von innen heraus, das heißt mittels Parteiarbeit, abschaffen. Sie will die politische und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, von ihr in Anlehnung an die Sprache des Nationalsozialismus als rein machtorientierte Herrschaft der "Systemparteien" diffamiert, durch eine ethnisch homogene "Volksgemeinschaft" ersetzen. Solidarität soll nur "ethnischen Deutschen" zuteilwerden. So heißt es im Parteiprogramm, das auch nach der Umbenennung weiterhin gültig war: Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 129 RECHTSEXTREMISMUS "Der ethnischen Überfremdung Deutschlands durch Einwanderung ist genauso entschieden entgegenzutreten wie der kulturellen Überfremdung durch Amerikanisierung und Islamisierung". Diejenigen, die in den Augen der NPD bzw. der HEIMAT "Fremde" sind, grenzt die Partei aus. So seien "Ausländer [...] aus dem deutschen Sozialversicherungswesen auszugliedern und einer gesonderten Ausländersozialgesetzgebung zuzuordnen. In ihrer Ausgestaltung von Pflichten und Ansprüchen hat sie auch dem Rückführungsgedanken Rechnung zu tragen. [...] Asylbewerber haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen". "Solidargemeinschaft aller Deutschen" - Islamfeindlichkeit - Antisemitismus | Der Globalisierung will die NPD bzw. Die HEIMAT begegnen, indem sie das bestehende "System" durch eine "Solidargemeinschaft aller Deutschen" ersetzt. Darüber hinaus werden Muslime diffamiert. Auch antisemitische Positionen sind in der Partei verbreitet. Sie vertritt zwar keine offen antisemitische Programmatik, streut aber entsprechende Vorurteile. STRUKTUREN Die 2010 vorgenommene Neugliederung des Landesverbands in zwei Unterbezirksund elf Kreisverbände erforderte bereits 2015 eine erneute Modifizierung. Es erfolgte eine Umgestaltung zu sechs Bezirksverbänden (Nordhessen, Osthessen, Mittelhessen, WetterauKinzig, Rhein-Main und Südhessen). Auf den ersten Blick scheint die Partei Die HEIMAT flächendeckend in Hessen vertreten zu sein. Die Umstrukturierung in größere Bezirksverbände macht jedoch deutlich, dass für feingliederige Strukturen das notwendige Personal fehlte. Die tatsächlich vorhandenen Strukturen waren in weiten Teilen Hessens nur schwach ausgeprägt. BEWERTUNG/AUSBLICK NPD bzw. Die HEIMAT Hessen | Im Berichtsjahr versuchte die Partei - neben dem Kernthema "Migration" - Aspekte wie die steigenden Lebenshaltungsund Energiekosten verstärkt in den Fokus zu rücken. Hierfür agitierte die NPD bzw. Die HEIMAT Hessen im Internet und in den sozialen Medien, ihre Anhänger waren aber auch bei regierungskritischen Kundgebungen zugegen. Sie versuchten als Impulsgeber zu fungieren, um Anschluss an die heterogene nichtextremistische Protestbewegung zu finden. Allerdings beteiligten sich nur 130 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS wenige Aktivisten der Partei an dem Protest auf der Straße; die regionalen Schwerpunkte lagen - wie im Jahr zuvor - im Wetteraukreis und Lahn-Dill-Kreis. Für die Zukunftsperspektive der Partei ist die Frage zentral, inwieweit sich deren Umbenennung und Neuausrichtung auswirken werden. Die Bemühungen der NPD bzw. der HEIMAT Hessen, sich zu einer rechtsextremistischen Netzwerkund Sammlungsbewegung zu entwickeln, gewannen an Dynamik, indem sie etwa ihre Präsenz im virtuellen Raum vergrößerte. Weiterhin zählte der Landesverband Hessen zum festen Unterstützerkreis der Neuausrichtung der Partei um den Bundesvorsitzenden Frank Franz. Allerdings ist fraglich, ob diese Bemühungen den steten Bedeutungsverlust der Partei aufhalten werden, da hinter der Neuausrichtung das alte Parteipersonal auf Landesund Bundesebene steht. In der Partei gibt es nach wie vor Differenzen über den künftigen Weg. So verweigerten 23 Prozent der Stimmberechtigten der Neuausrichtung ihre Zustimmung, der Landesverband Hamburg schied sogar aus der Partei aus. Der Ausschluss der HEIMAT von der staatlichen Parteienfinanzierung und der damit verbundene Wegfall von steuerlichen Begünstigungen dürfte es der Partei erschweren, die für die eigene Arbeit und den Unterhalt der Parteiinfrastruktur notwendigen finanziellen Mittel zu akquirieren. JN Hessen | Die Jugendorganisation der NPD bzw. der HEIMAT erhöhte ihr Aktivitätsniveau im Vergleich zu den Vorjahren deutlich. Dass die Anzahl der Kanäle in den sozialen Medien mit Bezug zu den JN Hessen zunahm, lässt auf einen personellen Zuwachs schließen, der - mit Blick auf die regionale Verortung der Accounts - vorwiegend in Nordund Mittelhessen lag. Dabei ist mit Sorge zu beobachten, dass die JN Hessen sich bemühten, Schüler für ihre rechtsextremistischen Bestrebungen zu interessieren und zu gewinnen. Darüber hinaus versuchten die JN Hessen, sich effektiver überregional zu vernetzen. So waren sie nicht nur bei außerhessischen Veranstaltungen präsent, sondern der Vorsitzende der JN Hessen, Thassilo Hantusch, leitete ein überregionales Koordinationstreffen von JNFührungskräften. Hantusch dürfte auch die treibende Kraft hinter diesen Vernetzungsbestrebungen sein. Aufgrund der Doppelfunktion Hantuschs als Vorsitzender der JN Hessen und als stellvertretender Landesvorsitzender der HEIMAT wird die enge Verzahnung zwischen beiden Organisationen bestehen bleiben, sodass zu erwarten ist, dass neue JN-Mitglieder zügig auch fester Personalbestandteil der Mutterpartei werden. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 131 RECHTSEXTREMISMUS Der Dritte Weg/Der III. Weg DEFINITION/KERNDATEN Die Partei Der Dritte Weg propagiert ein völkisch-antipluralisLogo der Partei tisches Menschenund Gesellschaftsbild. Unter den Schlagworten Der Dritte Weg "national", "revolutionär" und "sozialistisch" formuliert Der Dritte Bundesvorsitzender: Weg in seiner gleichnamigen Broschüre mit dem Begriff "RevoluMatthias Fischer (Brandenburg) tion" einen "grundlegenden, allumfassenden, systematischen und nachhaltigen Wandel" sowie die "Durchdringung der Politik und Sitz: Gesellschaft mit unserer Weltanschauung" als Ziele. Eine solche ReWeidenthal (Rheinland-Pfalz) volution sei nicht mit Waffengewalt zu erzwingen, wenngleich es Mitglieder: notwendig sein dürfte, dass "einige Scheiben" zerbrächen, wenn es In Hessen etwa 50, die bundesgelte, das deutsche Volk "in seiner ethnischen Existenz zu sichern" weite Zahl lag bei Redaktionsund eine "Jahrtausende umfassende Hochkultur zu retten". Unter schluss noch nicht vor den Mitgliedern der Partei, die überwiegend aus dem neonazistiMedien: schen Spektrum stammten, befanden sich Personen aus dem Internetpräsenzen, Umfeld des verbotenen Freien Netzes Süd (FNS), der völkisch gePublikationen prägten Neonaziszene sowie frühere Mitglieder der NPD. / EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Wie in den Vorjahren legte die Partei Der Dritte Weg großen Wert auf Agitation und Propaganda im Zuge öffentlichkeitswirksamer Auftritte. Einen Schwerpunkt bildete das Thema "Migration". Mit der Verteilung von Flugblättern agitierte die Partei regelmäßig gegen die Unterbringung von Migranten und propagierte eine Abschottungsund Rückführungspolitik, um jegliche Migration nach Deutschland zu minimieren. AUF EINEN BLICK * Gegen muslimische Migranten gerichtete Aktionen * Jugendarbeit * Thematisierung weltweiter Konflikte * "Gedenkveranstaltungen" * Weitere Veranstaltungen * Kontakte zu nationalistischen Gruppierungen im Ausland Gegen muslimische Migranten gerichtete Aktionen | Insbesondere der Stützpunkt Westerwald/Taunus des Dritten Wegs steigerte die Anzahl seiner Flugblattverteilungen, wobei der Lahn-Dill-Kreis einen Schwerpunkt bildete. Hier wurden zum Teil eigene Flugblätter mit lokalem Bezug verwendet wie zum Beispiel die Ehringshäuser Depesche und die Solmser Depesche. Zumeist verteilten die Aktivisten des Dritten Wegs jedoch überregionale Flugblätter der Bundespartei. Zum Beispiel wurde unter dem Slogan "Islamisierung? Wir 132 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS stellen uns quer!" vor einer angeblich zunehmenden "Überfremdung" gewarnt und den Muslimen das Recht auf freie Religionsausübung abgesprochen. Anlässlich einer Flugblattverteilung im Juni in Eppstein (Main-Taunus-Kreis) hieß es auf der Internetseite des Dritten Wegs: "Die Partei ,Der III. Weg' spricht sich nicht gegen den Islam als Religion aus, doch gehört dieser nicht nach Deutschland, sondern in jene Länder, die seit Jahrhunderten vom Islam geprägt sind. Eine Moschee ist nur ein weiteres Zeichen der zunehmenden Überfremdung Deutschlands. Nicht alle Moslems sind Terroristen, aber fast alle Terroristen sind Moslems". Eine "friedliche Co-Existenz mit der islamischen Welt", so Der Dritte Weg, sei nur durch eine "Stärke des Glaubens, der Identität und der Waffen" möglich. "Diese generelle Frontstellung wird durch die islamischen Parallelgesellschaften in Europa verstärkt. Islamischer Terror kann in erster Linie dort gedeihen, wo islamische Einwanderer in nennenswerter Zahl Fuß gefasst haben - sie stellen, gewollt oder ungewollt, das sprichwörtliche Wasser dar, in dem sich die Terroristen bewegen können". Von seinen Flugblattverteilungen fertigte Der Dritte Weg in der Regel Bilder an. Diese stellte er auf seine Homepage und in die sozialen Medien und bereitete sie in Form von Artikeln oder Postings auf. Derartige Flugblattverteilungen fanden unter anderem gezielt in Wohngebieten statt, in deren Umfeld Unterkünfte für Migranten eingerichtet werden sollten. Damit wollte Der Dritte Weg eine größtmögliche Wirkung erzielen bzw. Zuspruch aus der Bevölkerung erhalten. Manchmal verteilten Aktivisten Flugblätter bewusst in jenen LandHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 133 RECHTSEXTREMISMUS kreisen, in denen es Proteste oder Unmut über die Unterbringung von Migranten gab. Im Berichtsjahr fanden mindestens 16 Flugblattverteilungen statt. Betroffen waren folgende Kreise: Landkreis Limburg-Weilburg, Vogelsbergkreis, Lahn-Dill-Kreis, Rheingau-Taunus-Kreis, Main-Taunus-Kreis, Kreis Bergstraße, Landkreis DarmstadtDieburg und Landkreis Waldeck-Frankenberg. Regelmäßig berichtete Der Dritte Weg über von Menschen mit Migrationshintergrund begangene Gewaltverbrechen. Die Partei verband dies mit der Forderung nach einer Abschottung bzw. Abschiebung von Migranten und dem Aufruf, sich diesem Verlangen anzuschließen und Kampfsport zu betreiben. Nachdem im November ein 16-Jähriger während eines Dorffests in Crepol (Frankreich) erstochen und andere Personen zum Teil schwer verletzt worden waren, schrieb Der Dritte Weg auf seiner Homepage: "Der Fall Crepol zeigt deutlich, daß das von vielen Konservativen als letzte Hoffnung empfundene Landleben kein Schutzwall vor Überfremdung und Ausländerkriminalität mehr ist. Der lange Arm des Multikulturalismus mit all seinen Früchten erreicht jeden Ort in Europa, wenn er nur will. Deshalb kann die Losung nur heißen: Deutscher, mache dich wehrfähig! Körperliche Ertüchtigung und das Erlernen grundlegender Selbstverteidigungstechniken sollten für jeden aufrechten Deutschen angesichts der zunehmenden Bedrohung durch Ausländerkriminalität eine Selbstverständlichkeit sein. Mit der Arbeitsgemeinschaft ,Körper & Geist' hat unsere Partei ,Der III. Weg' genau den notwendigen Schritt, in die richtige Richtung getan!" Jugendarbeit | Der Dritte Weg legte seinen Schwerpunkt zunehmend auf die Rekrutierung und Ideologisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. So veröffentlichte die Partei im Berichtsjahr zum Beispiel das Buch "Nouvi Arditi - Handbuch der revolutionären Jugend", das sich explizit an jugendliche Aktivisten richtete. Der Dritte Weg beschrieb das Buch wie folgt: "38 Kapitel vereinigen sich zu einer Kriegserklärung an das herrschende System und sind Wegweiser, Motivator und Selbstbekenntnis zugleich. Das ,Handbuch der revolutionären Jugend' erklärt unter anderem Europas Ideale und die Bedeutung der Disziplin, erläutert die Rolle der Jugend in der Bewegung und beantwortet die Frage, welche Feinde eigentlich gegen diese revolutionäre Jugend stehen". Der Dritte Weg begründete die Veröffentlichung mit dem anhaltenden Zulauf von jungen und jugendlichen Mitgliedern; sie soll als "weltanschauliches Bekenntnis und Kampfansage" dienen. Der Buch134 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS titel nimmt Bezug auf die italienischen Arditi (italien. ardito, dt. kühn, mutig), die als Sturmtruppen im Ersten Weltkrieg kämpften. Thematisierung weltweiter Konflikte | Der Dritte Weg ergriff in Bezug auf den russischen Überfall auf die Ukraine weiterhin klar Partei für die Regierung in Kiew und kritisierte die Bundesregierung zum Beispiel für ihre zurückhaltende Position in Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie im Vorjahr erklärte Der Dritte Weg im Internet, Kampfausrüstung und medizinische Hilfsgüter in der Ukraine an nationalistische Kampfverbände übergeben zu haben. "Gedenkveranstaltungen" | Im Zusammenhang mit der "Darmstädter Brandnacht", die sich in der Nacht vom 11. auf den 12. September zum 79. Mal jährte, gedachte Der Dritte Weg wie in den vergangenen Jahren der Opfer eines englischen Bombenangriffs. Aktivisten der Partei entzündeten hierzu in Darmstadt bei einem Mahnmal und auf dem Darmstädter Waldfriedhof für die Opfer beider Weltkriege Kerzen mit Parteilogo und legten Flyer aus. Die "zentrale Gedenkveranstaltung" bildete für den Dritten Weg nach wie vor das traditionelle "Heldengedenken" anlässlich des Volkstrauertags. Im Unterschied zu den Vorjahren beging Der Dritte Weg das "Heldengedenken" nicht zentral in Wunsiedel (Bayern), sondern führte mehrere "Gedenkveranstaltungen" im gesamten Bundesgebiet durch. In Hessen pflegten Aktivisten der Partei im Bereich Weilburg (Landkreis Limburg-Weilburg) ein Grab bei einem Soldatendenkmal, legten einen Kranz nieder und entzündeten eine Kerze mit Parteilogo. Weitere Veranstaltungen | Zu den Parteiveranstaltungen, die in erster Linie das Gemeinschaftsgefühl stärken sollten, gehörten unter anderem Wanderungen und Treffen. Im Berichtsjahr fanden mehrere Wanderungen der Stützpunkte Westerwald/Taunus und Kurhessen statt sowie mehrere Treffen und Flugblattverteilungen. Zum Beispiel wanderten im September jugendliche Aktivisten des Stützpunkts Westerwald/Taunus zum Niederwalddenkmal in Rüdesheim am Rhein (Rheingau-Taunus-Kreis). Ein überregionales Ereignis war der vom Dritten Weg organisierte "Tag der Heimattreue" am 2. September in Hilchenbach (NordrheinWestfalen), zu dem auch zahlreiche Rechtsextremisten aus Hessen anreisten. Hierbei kam es zu Kampfsportvorführungen, ein rechtsextremistischer Musiker trug Lieder vor. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 135 RECHTSEXTREMISMUS Kontakte zu nationalistischen Gruppierungen im Ausland | Im Berichtszeitraum bemühte sich Der Dritte Weg weiterhin, die Vernetzung mit ausländischen Nationalisten voranzutreiben. So fanden mehrere Reisen von Parteiangehörigen des Dritten Wegs nach Spanien statt, wo man sich unter anderem zum kulturellen Austausch, zum Besuch von Gedenkstätten und zu gemeinsamen sportlichen Aktivitäten traf. Darüber hinaus bestanden Kontakte zu der amerikanischen Patriot Front sowie zu polnischen und französischen Nationalisten. Anknüpfungspunkte waren hierbei die nationalistische Gesinnung der Organisationen und die Vorliebe für Sport. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Die Partei Der Dritte Weg wurde 2013 in Heidelberg (Baden-Württemberg) gegründet. Nach und nach entstanden verschiedene länderübergreifende Stützpunkte, unter anderem auch der Stützpunkt Westerwald/Taunus, der im Wesentlichen den Landkreis LimburgWeilburg und den Lahn-Dill-Kreis sowie angrenzende Landkreise in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen umfasst. Seit ihrer Gründung führte die Partei vor allem Demonstrationen, "Heldengedenken" und gegen Flüchtlinge und die Flüchtlingspolitik gerichtete Flugblattverteilaktionen durch bzw. veröffentlichte entsprechende Verlautbarungen im Internet. IDEOLOGIE/ZIELE Das "Zehn-Punkte-Programm" des Dritten Wegs bezieht sich sowohl von der Bezeichnung als auch von seinem Inhalt her auf das 25Punkte-Programm der NSDAP und enthält dessen rechtsextremistische - im Detail nationalsozialistische - Programmatik. In diesem Programm verdeutlicht sich die damit verbundene antidemokratische Ausrichtung des Dritten Wegs, die auf die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielt. AUF EINEN BLICK * "Zehn-Punkte-Programm" * "National", "revolutionär", "sozialistisch" - "kultureller Kampf" * Das Volk als "Blut und Schicksalsgemeinschaft" - Liberalismus als "geistige Immunschwächekrankheit" "Zehn-Punkte-Programm" | In seinem Parteiprogramm benennt Der Dritte Weg einen "Deutschen Sozialismus, fernab von ausbeuterischem Kapitalismus sowie gleichmacherischem Kommunismus" als sein Ziel. Das deutsche Volk wird als "naturgesetzliche Gemeinschaft" gesehen. Eine Forderung der Partei besteht in der Förderung kinder136 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS reicher deutscher Familien zur "Abwendung des drohenden Volkstodes". Daneben gibt Der Dritte Weg die "Erhaltung und Entwicklung der biologischen Substanz des Volkes" als ein weiteres Ziel an. Darüber hinaus vertritt die Partei in ihrem "Zehn-Punkte-Programm" ein klar geschichtsrevisionistisches Deutschlandbild. So wird eine "friedliche [...] Wiederherstellung Gesamtdeutschlands in seinen völkerrechtlichen Grenzen" gefordert. Weitere Forderungen sind sowohl die Verstaatlichung sämtlicher Schlüsselindustrien als auch die Einführung der Todesstrafe für Kindermord und andere Kapitalverbrechen. "National", "revolutionär", "sozialistisch" - "kultureller Kampf" | Die Partei Der Dritte Weg begreift sich gemäß ihrem 2015 veröffentlichten Selbstverständnis als "nationalrevolutionär" und propagiert einen "deutschen Sozialismus" als "dritten Weg" abseits von Kommunismus und "Kapitalismus". Die Partei knüpft damit zumindest in Teilen an die Programmatik des linken Flügels der NSDAP an. Der Programmatik des Dritten Wegs liegt ein völkisches Menschenbild, das sich eng am Nationalsozialismus und der gewaltorientierten Kameradschaftsszene orientiert, zugrunde. So heißt es auf der Internetseite der Partei in Bezug auf die Kernbegriffe "national", "revolutionär" und "sozialistisch": "Nur diese drei Begriffe zusammengefasst ergeben eine ganzheitliche Wirkung, welche das politische, das wirtschaftliche, das soziale und das geistige Leben zu einer Synthese zusammenführt". Politischen Erfolg bemisst Der Dritte Weg "nicht allein an Wahlergebnissen", sondern an der Arbeit "vor allem im metapolitischen Raum": "Dieser umfasst sowohl den kulturellen Kampf, als auch den [...] Kampf um die weltanschaulich gefestigte Gemeinschaft. Erst wenn der Kampf um die Köpfe gewonnen ist, kann der politische Kampf final gewonnen werden. [...] Insbesonders die kämpferischen und idealistischen Teile der Jugend können durch bürgerlichen Populismus nicht gewonnen werden. ,Der III. Weg' arbeitet insbesondere im kulturellen Bereich daran, Menschen für das nationalistische Lager zu gewinnen. Weiterhin spielt Gemeinschaft eine wachsende Rolle". (Schreibweise wie im Original.) Das Volk als "Blut und Schicksalsgemeinschaft" - Liberalismus als "geistige Immunschwächekrankheit" | Gemäß seinem völkischen Menschenbild definiert Der Dritte Weg den Nationalismus als die "politische Idee, die die Interessen und das Überleben des eigenen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 137 RECHTSEXTREMISMUS Volkes in den Mittelpunkt aller Betrachtungen und Entscheidungen" rücke. So komme der "echte Nationalismus" nicht ohne eine "völkische Komponente" aus, wobei das Blut der "Schlüssel zum Verständnis der volkseigenen Kultur und der Seele des völkischen Lebens" sei. Das Volk sei nicht nur eine "Blut-, sondern auch eine Schicksalsgemeinschaft", aus deren "übergeordnete[m] Willen" sich die Nation bilde. Im Liberalismus hingegen verkörpere der "Einzelne den wichtigsten Wert" und habe den "europäische[n] Mensche[n]" - einer Immunschwächekrankheit gleich - "auf seine Existenz als Einzelwesen reduziert und seiner Kultur, Heimat und Identität beraubt". In diesem Kontext sieht sich Der Dritte Weg "unseren kulturund blutsverwandten Völkern in Europa verbunden". In Bezug auf ihre Feindbilder beschränkt sich die Partei keinesfalls nur auf Deutschland: "Egal ob Westoder Ost-, Süd[-] oder Nordeuropa, es sitzen überall die gleichen Verräter, die gleichen Vertreter des feigen Bürgertums und die gleichen Geldempfänger des Kapitals in den Parlamenten. Daher können wir sie gar nicht anders als gleichsam hassen und verachten. Wir fiebern jedem Schlag, ja jedem Nadelstich, den die verschiedenen europäischen Bewegungen den volksfeindlichen Systemen beibringen, entgegen, begeistern uns über jeden Erfolg und verneigen uns vor jedem Toten und jedem Verletzten des gesamteuropäischen Kampfes". STRUKTUREN Die im Jahr 2020 veränderten Strukturen, bei denen Gebietsverbände aufgelöst und Landesverbände gegründet wurden, dienten dazu, an Wahlen teilzunehmen, wie an der Bundestagswahl 2021. Im Berichtsjahr wurden die Stützpunkte Kurhessen (Hessen) und Nord/Ost (Mecklenburg-Vorpommern) neu gegründet, sodass die Partei im Berichtsjahr über 24 Stützpunkte verfügte. Zudem wurde der Landesverband Brandenburg gegründet, sodass es insgesamt vier Landesverbände gab. Die in Hessen aktiven Stützpunkte Westerwald/Taunus und Kurhessen waren dem Landesverband West zugeordnet. Der Stützpunkt Westerwald/Taunus umfasste den Landkreis Limburg-Weilburg und den Lahn-Dill-Kreis. Der Stützpunkt Kurhessen schloss nach eigenen Angaben die "Regionen Waldeck-Frankenberg, Marburg. Ziegenhain, Fritzlar, Bad Hersfeld, Hühnfeld, Fulda, Melsungen, Eschwege, Rothenburg, Kassel, Witzenhausen, Wolfhagen und Hofgeismar" ein (Schreibweise wie im Original). 138 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Am 2. September 2023 wurde Matthias Fischer als Bundesvorsitzender der Partei wiedergewählt. Aus der Satzung des Dritten Wegs geht hervor, dass ein Rechtsextremist aus Hessen als Beisitzer dem Bundesvorstand angehörte. Des Weiteren gehörte ein Rechtsextremist aus Hessen dem Vorstand des Landesverbands West als Beisitzer an. BEWERTUNG/AUSBLICK Wie in der Vergangenheit lag der Schwerpunkt der Aktivitäten des Dritten Wegs auf Agitation und Propaganda. Hierzu führte die Partei im Berichtsjahr etliche Veranstaltungen und Aktionen durch, wobei der Fokus auf den Themenfeldern "Asyl und Zuwanderung" sowie dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem Nahostkonflikt lag. Einen Schwerpunkt der Aktivitäten bildeten "Gedenkveranstaltungen", die zum einen der besseren Anschlussfähigkeit der Partei an die Mitte der Gesellschaft dienen und zum anderen einen Gegenentwurf zur demokratischen Erinnerungskultur entwerfen sollten. Außerdem dienten die "Gedenkveranstaltungen" der Stärkung des parteiinternen Gemeinschaftsgefühls. Darüber hinaus kritisierte Der Dritte Weg das angebliche Versagen der Politik der Bundesregierung. Dabei standen die Migrationspolitik, die steigende Zahl der Migranten und daraus angeblich resultierende negative Folgen für die Wirtschaft und den deutschen Sozialstaat, die sich vor allem für die einheimische Bevölkerung nachteilig auswirkten, im Vordergrund. Zur Verbreitung seiner Propaganda bediente sich Der Dritte Weg weiterhin verstärkt des Internets und verschiedener sozialer Medien. Insbesondere auf ihrer Homepage propagierte die Partei die Notwendigkeit einer völkischen Politik und einer damit verbundenen restriktiven Migrationspolitik. Mit ihrer Nationalrevolutionären Schriftenreihe bediente sich die Partei jedoch auch klassischer Medien zur Verbreitung ihrer Ideologie, wie zum Beispiel die im Berichtsjahr erschienene Publikation Nouvi Arditi - Handbuch der revolutionären Jugend zeigt. In Hessen verzeichnete Der Dritte Weg insbesondere im Bereich des Stützpunkts Westerwald/Taunus offenbar einen Zulauf von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen. Hierfür sprechen die verschiedenen Videoeinstellungen in den sozialen Medien sowie die Wanderung zum Niederwalddenkmal im August des Berichtsjahrs. Derartige Treffen dienten sowohl der Vernetzung untereinander als auch der Ideologisierung der Teilnehmer. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 139 RECHTSEXTREMISMUS Die verstärkten Aktivitäten der Partei sowie die Gründung des Stützpunktes Kurhessen dürften zu dem im Berichtsjahr festgestellten Anstieg des Personenpotenzials des Dritten Wegs geführt haben. RECHTSEXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN Im Vergleich zum Jahr 2022 stieg die Zahl der rechtsextremistischen Strafund Gewalttaten im Berichtsjahr um 394 auf 1.445 Delikte an, was einer Zunahme um mehr als einem Drittel entspricht. Dieser neue Höchstwert im Fünfjahreszeitraum 2019 bis 2023 resultierte insbesondere aus der Zunahme im Bereich "andere Straftaten". Die Deliktzahl in dieser Kategorie wuchs von 965 (2022) auf 1.345 an, davon waren deutlich mehr als die Hälfte (781) Propagandadelikte. Die rechtsextremistischen Gewalttaten blieben im Berichtsjahr in etwa auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr. Mit 48 Gewalttaten sank die Zahl gegenüber dem Jahr 2022 (50) leicht um vier Prozent. 140 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 RECHTSEXTREMISMUS Die Gewalttaten bestanden hierbei nahezu ausschließlich aus Körperverletzungsdelikten. (Siehe im Glossar unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität zur Erfassung politisch motivierter Strafund Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 141 RECHTSEXTREMISMUS 142 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Unter der Bezeichnung Reichsbürger und Selbstverwalter fasst der Angehörige: Verfassungsschutz Gruppierungen und Einzelpersonen zusammen, In Hessen etwa 1.200, die bundesdie aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Beweite Zahl lag bei Redaktionsgründungen das Grundgesetz, die Bundesrepublik Deutschland schluss noch nicht vor und deren Rechtssystem, die Staatsorgane und die demokratisch Medien: gewählten Repräsentanten nicht anerkennen und ihnen die LegitiInternetpräsenzen mation absprechen. Reichsbürger propagieren das Fortbestehen ei- \ nes historischen Deutschen Reichs, Selbstverwalter erfinden Fantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium. Insgesamt erkennen Reichsbürger und Selbstverwalter die Staatlichkeit und die Souveränität der Bundesrepublik nicht an. Sie definieren sich als außerhalb der geltenden Rechtsordnung stehend und fordern Behörden sowie Gerichte auf, behördliches Handeln einzustellen. Darüber hinaus können sich Bestrebungen von Reichsbürgern und Selbstverwaltern auch gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten. Wenn solche Aktivitäten mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, steht dies nicht mit dem Gedanken der Völkerverständigung in Einklang. Insgesamt sind Reichsbürger und Selbstverwalter in hohem Maße bereit, gegen Gesetze zu verstoßen. Um die eigene Weltanschauung zu verbreiten, sich auszutauschen und sich zu vernetzen, ist das Internet das vornehmliche Medium der Reichsbürger und Selbstverwalter. Mittels Internetseiten, Videoportalen oder Präsenzen auf Social-Media-Plattformen prangert die Szene angebliche Missstände sowie deren angebliche Verursacher an und verbreitet, teilt und diskutiert vermeintliche Lösungsund Argumentationsstrategien. Auch außerhalb des virtuellen Raums versucht die Szene ihre Ideologie zu verfestigen, in die Öffentlichkeit zu tragen und hier Stellung zu einzel144 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER nen Sachverhalten zu beziehen. Das Handlungsspektrum umfasst etwa Demonstrationen, Kundgebungen, Schulungsveranstaltungen, Vernetzungstreffen, Flugblattaktionen und Rundschreiben. Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachten die Reichsbürger und Selbstverwalter seit dem 22. November 2016 in Gänze. AUF EINEN BLICK * Heterogene Szene * Rechtsextremistische Positionen innerhalb der Szene * Strukturen innerhalb der Szene * Vereitelte Umsturzpläne einer Reichsbürgergruppierung * Personenpotenzial * Entzug von waffenrechtlichen Erlaubnissen * Widerstand gegen Staat und Verwaltung * "Malta-Masche" * Deliktfelder * Bewertung Heterogene Szene | Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter weist einen hohen Grad an Heterogenität auf, die sich sowohl in einer Vielzahl an Gruppierungen und Einzelpersonen als auch in einem breiten Spektrum an Weltanschauungen widerspiegelt. So umfasst die Szene Protagonisten von Verschwörungsnarrativen, Rechtsextremisten, Leichtgläubige, finanziell Gescheiterte sowie sogenannte Milieumanager, die vornehmlich kommerzielle Ziele verfolgen. Anhänger von Verschwörungsnarrativen sind davon überzeugt, dass die Bundesrepublik Deutschland kein souveräner Staat, sondern lediglich eine fremdbestimmte Kolonie respektive ein kommerziell ausgerichtetes Wirtschaftskonstrukt sei. Kontrolliert würden diese Gebilde von den Alliierten, Einzelpersonen oder Geheimlogen. Neben Verschwörungsnarrativen finden sich geschichtsrevisionistische, fremdenfeindliche, rassistische, antisemitische sowie fundamentalistisch-christliche und esoterische Positionen wieder. Personen, die durch den Vertrieb von Fantasiedokumenten oder durch das Anbieten von Rechtsberatungen, Seminaren und Schulungen vornehmlich versuchen, aus der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter finanziellen Profit zu schlagen, werden innerhalb des Phänomenbereichs den "Milieumanagern" zugerechnet. Diese versuchen durch Produktangebote aus dem unpolitischen Esoterikspektrum sowohl ihren Umsatz unter Reichsbürgern und Selbstverwaltern zu steigern, als auch unter noch unpolitischen Anhängern der Esoterikszene extremistische Verschwörungsnarrative zu verbreiten. "Milieumanager" befördern dadurch die Radikalisierung von Reichsbürgern und Selbstverwaltern. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 145 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Rechtsextremistische Positionen innerhalb der Szene | In der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter wird sichtbar, wie verschiedene Versatzstücke einzelner Verschwörungsnarrative für die eigene Weltsicht herangezogen und nutzbar gemacht werden. Zwar ist die Szene ihrem Wesen nach nicht originär rechtsextremistisch, dort, wo jedoch antisemitische, rassistische und nationalistische Argumentationsmuster aufeinandertreffen, sind die Anhänger entsprechender Positionen als rechtsextremistisch zu bewerten. Für Hessen sind rund 150 Personen bekannt, die sowohl als Reichsbürger und Selbstverwalter als auch als Rechtsextremisten bewertet werden. Strukturen innerhalb der Szene | Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Ansichten und Beweggründen in der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter wies diese keine allgemein anerkannten Strukturen oder Organisationen auf. So war das Gros des der Szene in Hessen zuzurechnenden Personenpotenzials nicht organisiert oder strukturell eingebunden. Zugleich nahmen im Berichtsjahr erneut die Aktivitäten zu, die für bzw. durch Szenegruppierungen durchgeführt wurden. Darunter fielen Bemühungen, das eigene verschwörungsnarrative Weltbild und szenetypische Narrative zu verbreiten sowie Schulungsund Vernetzungsveranstaltungen durchzuführen. In diesem Kontext sind insbesondere die Aktivitäten folgender Gruppierungen zu nennen: Königreich Deutschland (KRD), Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) und Indigenes Volk [der] Germaniten (IVG). Das KRD wurde 2009 zunächst als Verein NeuDeutschland von Peter Fitzek gegründet. Seit 2012 trat er als "König" bzw. "Oberster Souverän" der sektenähnlichen Gruppierung KRD in Erscheinung. Gemeinsam mit seinen Anhängern negierte Fitzek die hoheitlichen Befugnisse sowie die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland auf dem "Hoheitsgebiet" des KRD. Als Alternative zu den herkömmlichen Strukturen der Bundesrepublik versuchte das KRD eigene staatsähnliche Strukturen zu etablieren. Als das Ziel dieser Bestrebungen wurde der "Gemeinwohlstaat" beschrieben. Dazu sollten Unternehmen geworben, "Gemeinwohlkassen" gegründet und "Dorfprojekte" umgesetzt werden. Im Berichtszeitraum gab es in Hessen mehrere Unternehmen, die dem eigenen Bekunden nach dem KRD angehörten. Ende 2022 eröffnete der Verein LebensGlück e. V. in Frankfurt am Main ein Restaurant. Ziel war es unter anderem, dort Veranstaltungen durchzuführen. Weiter diente das Restaurant als Anlaufstelle für Personen, die dem KRD zuzurechnen sind. Die Öffnung des Restaurants sorgte für große öffentliche Aufmerksamkeit. Seitens der Politik und der Zivilgesellschaft kam es mehrfach zu Forderungen, das Restaurant zu schließen, denen die Betreiber der Gaststätte im Mai 2023 nachkamen. 146 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Der VHD als eine Untergruppierung der 2018 gegründeten Organisation Bismarcks Erben (auch Ewiger Bund oder Preußisches Institut) behauptet, dass das Deutsche Kaiserreich fortbestehe und sich noch immer in einem "Kriegsund Belagerungszustand" befinde. Ziel der Gruppierung ist die Wiederherstellung der rechtlichen Zustände des Deutschen Kaiserreichs unter der Führung des Oberhaupts des Hauses Hohenzollern. Infolgedessen versucht der sich in 24 "Armeekorpsbezirke" aufgliedernde VHD dem "Thronfolger" das Einnehmen seines "rechtmäßigen Platzes" zu ermöglichen, da nur "der deutsche Kaiser [...] zur Beendigung des Kriegsund Belagerungszustandes berechtigt" sei. Im Berichtsjahr führte der VHD mehrfach Veranstaltungen in Hessen durch. Insbesondere im "XVIII. Armeekorpsbezirk" des VHD im Raum Darmstadt fanden regelmäßig Veranstaltungen - zum Beispiel "Hilfsdiensttreffen" mit Mitgliedern der Gruppierung - statt. Wie in den vorherigen Berichtsjahren rief die Gruppierung zu "Fanale-Aktionen" auf, bei denen die Anhänger an Bismarckdenkmälern Leuchtkörper entzünden sollten. Im Berichtsjahr kam es zu vier bundesweiten "Fanale-Aktionen". Das IVG versteht sich als eigenständiges Volk bzw. als Weltanschauungsgemeinschaft und vertritt ein auf die Gruppierung zugeschnittenes Rechtsverständnis. Das IVG negiert die bundesdeutsche Rechtsanschauung nicht in Gänze, interpretiert deren Inhalt jedoch ausschließlich im eigenen Interesse. Die rechtmäßige Anwendung von Gesetzen und Maßnahmen sieht das IVG folglich als "unzulässigen Eingriff" in seine Angelegenheiten. Die Gruppierung tritt vornehmlich durch den massenhaften Versand umfangreicher Schreiben an Behörden auf. Unter diesen Schreiben befinden sich Dokumente, in denen aufgrund vermeintlicher Einschränkungen ihrer (Menschen-)Rechte oder wegen "Reputationsschadens" Anhänger der Gruppierung Schadensersatzforderungen stellen. In den Schreiben wird ein komplexes, größtenteils wirres Sprachmuster verwendet, das den Anschein juristischen Sachverstands vermitteln soll. Tatsächlich handelt es sich bei der Argumentation jedoch um eine unkoordiniert aneinandergereihte und unsachgemäße Verwendung juristischer Normen und Begriffe. Im Berichtsjahr nahm die Anzahl solcher Schreiben zu. Beispielhaft ist folgendes vom IVG verwendetes Schreiben: "Sehr geehrte Amtswalter/Besoldete (Söldner)/treaty bodies/Interessenvertreter des Bundes/der Länder [...], wie alle Angehörige es Indigenen Volkes Germaniten verlange auch ich (iura singulorum, iura consortii) [Name], geb am [Datum] in [Ort] Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 147 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER die unverzügliche Löschung jeglicher Angehörige des Indigenen Volkes Germaniten belastender/dikreditierender, stigmatisierender, als nicht integer bzw. als unzuverlässig, klassifizierender Daten. [...] Daß alle autochthonen Angehörigen des Indigenen Volkes Germaniten institutionell bzgl. Indigenenangehörigkeiten indoktriniert, belogen und betrogen wurden, und hierdurch materiellen, immateriellen, ideellen Schaden großen Ausmaßes erlitten, ist unstrittig und faktenbasierte Tatsache. Daß diese grobe, willkürliche Schädigung als Schadenseinschlag/Zielscheibenfehler und Ursache für jegliche Daten/Akten/Registerund Verzeichniseintragungen waren/sind, die sie bei belastenden Daten/Akten/Vorwürfe bzw. gegen autochthone Angehörige des Indigenen Volkes Germaniten stattgefundene Erhebungen schon ex tunc illegal bzw. waren zu keinem Zeitpunkt richtig legitim/wahrhaftig. Man belügt und betrügt nicht indigene Menschen, man behandelt/verwaltet sie nicht als/wie Objekte (des Staates) und entmenschlicht sie, zwingt sie nicht zu Handlungen, die nie erfolgt wären, wenn sie durch die Lügen und den Betrug, der an ihnen begangen wurde, um sie dann übelsten aggressiven Repressionen (u. a. Feindstrafrecht, ,völkerrechtlich zulässige Sanktionen' u.ä. Inquisitionsartige Mißhandlungen, auszusetzen, die offenkundig zur kompletten Entrechtung führ(t)en, um die Anwendung von Angriffs-/Konsensfindungsund Verteidigungsmitteln zu hinterziehen bzw. unbrauchbar zu machen. Die Anwendung solcher marzialischen, brutalen weißeFolter-Instrumenten war wider gültiger Schranken-Schranken und offenkundig wurden diese verhängt, um heimtückisch die Einforderung/Inanspruchname/Anwendung von Indigenenrechten/-rpivilegien, die die autochthonen Angehörigen des Indigenen Volkes Germaniten seit ihrer Geburt haben [...] zu verhindern. [...] FRI HALSA und mit friedlichen, freundlichen, heilenden, versöhnenden indigenen/indigenisierten Grüßen". (Schreibweise wie im Original.) Darüber hinaus meldeten Angehörige der Gruppierung ihre Kinder von der Schule ab, indem sie deren Recht auf "indigene" Bildung als Grund heranzogen. Demnach hätten Kinder besondere Bedürfnisse und müssten in die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bestrebungen der Gruppierung einbezogen werden. Das IVG war in Hessen vor allem in Kassel und im Landkreis Limburg-Weilburg aktiv. KRD, VHD und IVG verfolgten unterschiedliche Finanzierungsstrategien. Ein Großteil der finanziellen Mittel wurde durch Spenden von Mitgliedern erhoben, teilweise mussten auch jährliche Mitgliedsbeiträge gezahlt werden. Mitglieder des IVG versuchten stellenweise, alle ihre materiellen Güter an die Gruppierung zu überschreiben. Im Zusammenhang mit dem KRD gab es Unternehmen, die sich als "Un148 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER ternehmen im KRD" bezeichneten, was im Impressum der jeweiligen Internetseite stand. Es ist davon auszugehen, dass die erzielten Erträge dieser Firmen der Gruppierung zugutekamen. Vereitelte Umsturzpläne einer Reichsbürgergruppierung | Nachdem es im Dezember 2022 bundesweit zu Durchsuchungen bei Anhängern einer Gruppierung um den Reichsbürger Heinrich XIII. P. R. aus Hessen gekommen war, erhob die Bundesanwaltschaft Anklage gegen insgesamt 27 Personen, davon zehn vor dem OLG Frankfurt am Main - darunter Heinrich XIII. P. R. sowie eine ehemalige Bundestagsabgeordnete -, neun vor dem OLG Stuttgart und acht vor dem OLG München. Von den 27 Angeklagten stammen vier aus Hessen, denen unter anderem Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens vorgeworfen wurde. Seit August 2021, so einer der Vorwürfe der Anklageschrift, plante die terroristische Vereinigung, mit einer bewaffneten Gruppe in das Reichstagsgebäude in Berlin einzudringen, um dort Abgeordnete des Deutschen Bundestags festzunehmen und so den Systemumsturz herbeizuführen. Hierfür trat die Vereinigung in konkrete Vorbereitungen ein, wie die Rekrutierung von militärischem Personal, die Beschaffung von Ausrüstung und die Durchführung eines Schießtrainings. Personenpotenzial | Insgesamt unterschied sich das Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter in Hessen von dem anderer extremistischer Phänomenbereiche auch durch seine Zusammensetzung. Waren andere Extremisten häufig junge Erwachsene oder befanden sie sich im Übergang zum Erwachsenenalter, waren der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter vornehmlich Personen mittleren Alters zuzurechnen. Etwa 70 Prozent der Szeneangehörigen waren männlich. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wies die Szene zudem einen unterdurchschnittlichen Anteil an Akademikern auf. Auffällig ist, dass sich das Personenpotenzial im Berichtsjahr erneut um 100 Personen erhöhte. Gründe hierfür waren unter anderem der mit der COVID-19-Pandemie verbundene Protest oder die angebliche "Energiekrise". Das sorgte für eine erhöhte Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung, was einen Nährboden für extremistische Bestrebungen schuf. Entzug von waffenrechtlichen Erlaubnissen | Der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter ist eine hohe Waffenaffinität zu eigen. In Bezug auf waffenrechtliche Erlaubnisse und Schusswaffenbesitz gilt für Reichsbürger und Selbstverwalter - wie auch für andere extremistische Phänomenbereiche - eine Nulltoleranzstrategie der hessischen Sicherheitsbehörden. So wurden durch die enge Zusammenarbeit der hessischen Sicherheitsund Waffenbehörden Reichsbürgern und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 149 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Selbstverwaltern im unteren zweistelligen Bereich die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und deren Schusswaffen sichergestellt. Auch in Zukunft ist es das erklärte Ziel der Hessischen Landesregierung und der hessischen Sicherheitsbehörden, dass kein ihnen bekannter Reichsbürger oder Selbstverwalter waffenrechtliche Erlaubnisse oder Legalwaffen besitzt bzw. Legalwaffen im Fall des Besitzes entzogen werden. Widerstand gegen Staat und Verwaltung | Reichsbürger und Selbstverwalter bringen ihre Gesinnung auf unterschiedlichste Art und Weise zum Ausdruck: verbale Äußerungen gegenüber Polizisten und anderen Behördenmitarbeitern, Flucht vor polizeilichen Personenkontrollen, Widerstand gegen gerichtlich angeordnete Zwangsvollstreckungen oder die Rückgabe von amtlichen Identitätsnachweisen. Das Gros der Reichsbürger und Selbstverwalter aber wendet sich mit schriftlichen Eingaben an Behörden und deren Mitarbeiter, um die eigene Weltsicht argumentativ zu verdeutlichen, etwaige Strafen zu vermeiden und Ämter an ihrem rechtmäßigen Handeln zu hindern. Dieses Vorgehen ist auch unter dem Begriff paper terrorism bekannt. Der hohe Grad der Heterogenität der Szene spiegelt sich auch in der Art und in dem Umfang solcher Eingaben wider. Während ein Teil der Szene auf Vordrucke aus dem Internet zurückgreift, verfasst ein anderer Teil mitunter umfangreiche Schriftstücke, Pamphlete oder "Rechtsgutachten". Im Berichtsjahr fielen Szeneangehörige insbesondere durch eine hohe Zahl von reichsbürgertypischen Schreiben an Behörden auf. Dabei war der Tonfall einiger Schreiben erneut von aggressiven Gewaltäußerungen bis hin zu Todesdrohungen geprägt. Ebenso war weiterhin die bereits in der Vergangenheit beobachtete ausgeprägte Radikalität in Teilen der Szene wahrzunehmen. Das galt auch für die anhaltend hohe Bereitschaft, die Souveränität und das Gewaltmonopol des Staates in Frage zu stellen. Verschwörungsnarrative wirken häufig als "Brandbeschleuniger" und können Radikalisierungsprozesse von Gruppierungen und Einzelpersonen begünstigen. Zudem sind Verschwörungsnarrative aus Sicht ihrer Anhänger dazu geeignet, selbst schwerste (Gewalt-)Straftaten zu legitimieren. Entsprechende Erklärungsmuster fanden sich in Schreiben wieder, mit denen sich Reichsbürger und Selbstverwalter an Behörden, Amtsträger oder Mandatsträger wandten. Der nachfolgende Auszug steht beispielhaft für eine Vielzahl an Schreiben, die Angehörige der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter an Behörden und Behördenvertreter schicken. Das Schrei150 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER ben enthält verschiedene szenetypische Narrative, es besitzt keine stringente Struktur und ist zusammenhanglos verfasst. Der Adressat wird persönlich angeschrieben, verleumdet und bedroht. Durch diese Einschüchterungsmethoden wird versucht, von den Adressaten Handlungen zu erzwingen. Zudem fügen Szeneangehörige ihren Schreiben häufig sogenannte Lebendoder Willenserklärungen bei, mittels derer sie sich in Gänze außerhalb der geltenden Rechtsordnung stehend definieren: "Bedingte Akzeptanz Ihr Angebot wird unter folgenden Voraussetzungen angenommen: a) Sie erbringen Ihre amtliche Legitimation. [...] b) Sie erbringen eine notarielle Beglaubigung der Gründungsurkunde des Staates, auf den Sie Ihre Vereidigung begründen c) Sie erbringen eine notarielle Beglaubigung der Gründungsurkunde des Bundeslandes, sowie des Regierungspräsidiums der Stadt auf den Sie Ihre Vereidigung begründen Ihnen wird hiermit Gelegenheit gegeben, dieses innerhalb einer angemessenen Frist von einundzwanzig Tagen unter Eid und unter beschränkter Haftung zu erbringen. [...] Nutzen Sie diese Frist nicht [...] gilt dies sowohl; a) Als unwiderrufliche und absolute Zustimmung zu einem privaten, kommerziellen Pfandrecht in Höhe von 700.000,00 EUR von Person gemäß BGB SS 1 com 18. August 1896, Ihnen persönlich gegenüber, als auch Ihrer Behörde/Amt/Service/Center etc. in Höhe von 7.000.000,00 EUR (Haftung gemäß BGB SS823) b) Als Ihre unwiderrufliche [...] Zustimmung zur Publikation dieser Notizin einem von Person frei wählbaren internationalen Schuldnerverzeichnis und zur Publikation in den freien Medien c) Als Ihren unwiderruflichen und absoluten Verzicht auf jegliche rechtliche oder anderweitige Mittel ihrerseits". (Schreibweise wie im Original.) Reichsbürger und Selbstverwalter reichern ihre "Argumentationsketten" häufig mit tatsächlich vorhandenen Rechtsnormen an. Dadurch sollen ihre Schreiben eine juristische Anmutung erhalten und die Behörden beschäftigt und die Adressaten eingeschüchtert werden. Klassische Szeneschreiben entfalten allerdings keine Rechtsgültigkeit, da die aufgeführten Rechtsnormen zum überwiegenden Teil aus dem Zusammenhang gerissen sind und in Verbindung mit fiktiven oder mittlerweile historischen Gesetzen verwendet werden. Mitunter beauftragen Reichsbürger und Selbstverwalter auch Organisationen oder Einzelpersonen, die behaupten, rechtsgültige Gutachten ausstellen zu können. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 151 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER "Malta-Masche" | Reichsbürger und Selbstverwalter versuchten mitunter, sich nicht nur dem behördlichen Zugriff zu entziehen, sondern ihrerseits Behördenmitarbeiter widerrechtlich zu belangen. Hierfür erfanden Reichsbürger und Selbstverwalter im Zuge der "Malta-Masche" Schulden eines Behördenmitarbeiters und trugen diese in das amerikanische Onlineregister Uniform Commercial Code (UCC) ein. Anschließend wurden die Forderungen an ein maltesisches Inkassounternehmen abgetreten, um einen vollstreckbaren Titel nach dem europäischen Mahnverfahren zu erreichen. Nach Ansicht des damaligen Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz und des Auswärtigen Amts stellt dieses missbräuchliche Verfahren einen Betrugsversuch dar. Eine Durchsetzung ihrer erfundenen Forderungen gelang Szeneangehörigen bislang nicht. Obwohl im Berichtsjahr erneut keine konkreten Fälle der "Malta-Masche" in Hessen bekannt wurden, tauchten regelmäßig reichsbürgertypische Schreiben mit Verweis auf das UCC-Register Register sowie Drohungen gegenüber Behördenmitarbeitern, diese privat in Haftung zu nehmen, auf. Deliktfelder | Zu den szenetypischen strafrechtlich relevanten Deliktfeldern gehörten Betrug, Hausfriedensbruch, Nötigung und Sachbeschädigung, aber auch Gewaltund Drohdelikte. Da Reichsbürger und Selbstverwalter beanspruchen, Repräsentanten eines wie auch immer gearteten Deutschen Reichs bzw. einer eigenen Staatlichkeit zu sein, kam es zudem regelmäßig zu Amtsanmaßungen, Urheberrechtsverletzungen sowie Fälschungen von Fahrzeugkennzeichen und anderen Urkundenfälschungen. Bewertung | Aufgrund der hohen Heterogenität der Szene der Reichbürger und Selbstverwalter ist eine pauschale Bewertung der von ihnen ausgehenden Gefahren nur eingeschränkt möglich. Gemein ist der Szene jedoch die Negierung der Bundesrepublik Deutschland. Dies führt zur grundsätzlichen Ablehnung jeglicher hoheitlichen Handlungen, von denen Szeneangehörige betroffen sind. Staatliche Maßnahmen nimmt die Szene als illegitim wahr, weshalb sich aus ihrer Sicht ein selbstdeklariertes, vermeintliches "Recht auf Notwehr" ergibt. Reichsbürger und Selbstverwalter sind bereit, dieses "Recht" auch gegenüber Gerichtsvollziehern oder Polizisten durchzusetzen. In diesem Kontext kommt es immer wieder zu Widerstandshandlungen, in einigen Fällen sogar zum Gebrauch von (Schuss-)Waffen durch Szeneangehörige. Im Berichtsjahr wurde deutlich, dass innerhalb der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter verschiedene Finanzierungskonzepte seitens der einzelnen Gruppierungen bestehen. Der Gesetzgeber hat es dem LfV nunmehr ermöglicht, künftig seine Bearbeitungsan152 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER sätze zu erweitern und eine Intensivierung der Aufklärung im Bereich "Finanzflüsse und Strukturen" vorzunehmen. Zugleich setzte sich die bereits im Zusammenhang mit den "CoronaProtesten" zunehmende Vernetzung und Durchmischung von Teilen der Reichsbürger und Selbstverwalter sowie von Anhängern verschiedener Verschwörungsnarrative fort. Angetrieben von der Motivation, die eigene - häufig als Randerscheinung wahrgenommene - Ideologie bis in die demokratisch verfasste Gesellschaft zu tragen, werden eigene Positionen zu Gunsten einer erweiterten Anschlussfähigkeit partiell aufgeweicht. Diese Anschlussfähigkeit begünstigt das Entstehen von Schnittmengen unterschiedlicher Milieus. Diese zum Teil übergreifenden Mischszenen stellen neue Herausforderungen dar. Die Dynamik, die aus solchen Mischszenen erwachsen kann, zeigt sich in den Exekutivmaßnahmen gegen Heinrich XIII. P. R. vom Dezember 2022. Die Tatvorwürfe unterstreichen, welche großen Gefahren und Radikalisierungspotenziale von phänomenübergreifenden extremistischen Personenzusammenschlüssen aus verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen ausgehen. Dies lässt sich auch als "Entgrenzungsprozess" beschreiben. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 153 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER 154 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DEFINITION Der Verfassungsschutzverbund richtete 2021 den Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates ein. Im Zuge ihres gesetzlichen Auftrages nehmen die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern im Rahmen dieses Phänomenbereichs Akteure in den Blick, die verfassungsfeindlich und verächtlich machend gegen staatliche Einrichtungen, die staatliche Infrastruktur, staatliche Repräsentanten sowie demokratisch legitimierte Entscheidungsträger agitieren. Dem Sammelbeobachtungsobjekt Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates ordnet das LfV Einzelpersonen und Personenzusammenschlüsse zu, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen, die keinem anderen Phänomenbereich zuzuordnen sind. Dazu gehören Bestrebungen, die durch ein aktives, glaubhaftes und nachdrückliches Vorgehen auf die Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen sowie verfassungsfeindliche Bestrebungen, die sich gegen das Demokratieprinzip richten, die aufgrund ihrer Demokratiefeindlichkeit zu verfassungsfeindlich motivierten Strafund Gewalttaten aufrufen oder sich auf ein vermeintliches Widerstandsrecht berufen und sich dabei gegen das Rechtstaatsprinzip richten. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Mit Beginn der COVID-19-Pandemie und der Durchsetzung staatlicher "Corona-Maßnahmen" zu deren Bekämpfung kam es zu einer breiten gesellschaftspolitischen Debatte und legitimen Protesten. Auch im Berichtsjahr versuchten Extremisten die mit dem russischen Überfall auf die Ukraine verbundenen Themen "Inflation" und "Energiekrise" neben der Forderung nach der Aufarbeitung der "Corona-Politik" auf Protestveranstaltungen aufzugreifen. Nach dem terroristischen Überfall der HAMAS auf Israel fand das Thema Nahostkonflikt ebenfalls Eingang in die Proteste. Damit gab es einen weiteren anschlussfähigen Themenkomplex, den Extremisten insbesondere im Hinblick auf die Verbreitung antisemitisch codierter Verschwörungsnarrative für sich nutzten und gesellschaftliche Konflikte festigen konnten. Bewusst versuchten Extremisten bei politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, eventuell in Teilen der Bevölkerung vorhandene Ängste weiter zu schüren. 156 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG AUF EINEN BLICK * Ausgeprägte Anti-Haltungen * Rechtsextremisten - Reichsbürger und Selbstverwalter * Radikalisierungsprozesse - Antisemitismus Ausgeprägte Anti-Haltungen | Trotz der umfangreichen Themenvielfalt auf Protestveranstaltungen gelang es Extremisten nicht, eine bedeutende Reichweite und Mobilisierungskraft zu entfalten. Aufgrund der fehlenden Wertebasis und einem verbindenden Ziel existierte zwar eine anlassbezogene Querfront im "Dagegensein", in eine "kollektive Identität" bzw. Ideologie mündete dies jedoch nicht. Besonders charakteristisch war stattdessen das Bestehen einer demonstrierenden bzw. protestierenden Mischszene. So nahmen fortlaufend Rechtsextremisten sowie Reichsbürger und Selbstverwalter an den Protesten teil. Die Zahl der Veranstaltungen sowie die der Teilnehmer ging trotz weiterhin stattfindender Montagsspaziergänge stetig zurück, wenngleich intensiv für - auch außerhessische - Protestveranstaltungen geworben wurde. Rechtsextremisten - Reichsbürger und Selbstverwalter | Besonders das parteigebundene rechtsextremistische Spektrum sah in dem Protestgeschehen ein lohnenswertes Aktionsfeld, um seine Ideologie und Verschwörungsnarrative zu verbreiten. So unterstützten neben Reichsbürgern und Selbstverwaltern Angehörige der Parteien Die HEIMAT und Der Dritte Weg das Protestgeschehen, indem sie zum Beispiel in den sozialen Medien Veranstaltungen ankündigten oder verfassungsfeindliche Flugblätter in Hessen verteilten. Szenebekannte Personen veröffentlichten darüber hinaus Informationen über Demonstrationen und Veranstaltungen. Radikalisierungsprozesse - Antisemitismus | Radikaliserungsprozesse äußerten sich hauptsächlich im extremer werdenden Sprachgebrauch der Personen, die dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zugerechnet werden. Einschlägig waren hier die Vergleiche der aktuellen politischen Situation mit dem Nationalsozialismus sowie Vergleiche von heutigen Politikern mit nationalsozialistischen Protagonisten. Der auch in Hessen zunehmend bei Protestveranstaltungen thematisierte Nahostkonflikt bot Agitatoren weiteren Nährboden, vermeintliche Verbindungen zwischen in ihrem Kern antisemitischen Verschwörungsnarrativen und den Ereignissen in Israel herzustellen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 157 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG IDEOLOGIE/ZIELE Innerhalb des heterogenen Personenpotenzials des Phänomenbereichs Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates besteht folgender Minimalkonsens: Ablehnung der staatlich angeordneten "Corona-Maßnahmen" sowie Forderung nach einer Aufarbeitung des politischen Handelns während der COVID-19-Pandemie. In diesem Zusammenhang artikulieren Personen, die dem Phänomenbereich zuzuordnen sind, unter anderem ihre Ablehnung und Verachtung gegenüber dem in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verankerten Demokratieund Rechtsstaatsprinzip. Dabei greifen diese Personen auf unterschiedliche Narrative zurück und benutzen vor allem die sozialen Medien, um ihre Desinformationen zu verbreiten. Damit sollen demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierungen allgemein gesellschaftsfähig gemacht werden. AUF EINEN BLICK * Delegitimierung des Staates * Verschwörungsnarrative - Antisemitismus Delegitimierung des Staates | Gleichsetzungen der aktuellen politischen Situation mit Diktaturen oder anderen Unrechtsregimen zielen darauf ab, den öffentlichen Diskurs und somit das Vertrauen der Bevölkerung in die verfassungsmäßige Ordnung und in die demokratisch legitimierte Regierung zu erschüttern. Die agitatorische Verächtlichmachung des Staates sowie seiner Repräsentanten sollen die entsprechend demokratisch legitimierten Entscheidungen und Gesetze delegitimieren und kennzeichnen die ideologische Basis der Personen, die dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzurechnen sind. Diese Akteure sprechen demokratisch getroffenen Entscheidungen die Legitimation ab und sehen sich fälschlicherweise oft in einer angeblich gerechtfertigten Widerstandssituation. Die Grundrechte und deren Durchsetzung wird in diesem Zusammenhang häufig infrage gestellt oder gar vollständig bestritten. Bei dem aktuellen politischen System handele es sich nach Auffassung der Akteure um eine "Scheindemokratie" oder "Diktatur", sodass Forderungen nach einem "weg von der Zensur" und einem Loslösen von einer "totalen Überwachung" laut werden, da die Macht nicht vom Volk, sondern unter anderem von "Big Tech, Big Pharma und Big Data" ausgehe. Verschwörungsnarrative - Antisemitismus | Personen, die dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzuordnen sind, haben eine hohe Affinität zu Verschwö158 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG rungsnarrativen, die sie im Rahmen von Reden, Äußerungen im Internet und in Chatbeiträgen in den sozialen Medien verbreiten. Auch in der "realen Welt" hält sich auf Protestveranstaltungen zum Beispiel die Forderung "Nein zum Great Reset!" Darüber hinaus werden sowohl in den sozialen Medien als auch in der "realen Welt" Verschwörungsnarrative der QAnon-Bewegung verbreitet. Dabei handelt es sich um kurze Texte in zumeist kryptischer Form ("Q-Drops"), in denen behauptet wird, dass eine geheime Elite mit Hilfe eines "tiefen Staats" die USA kontrolliere, wobei manchmal auch versteckte antisemitische Äußerungen getätigt werden. Die "Q-Drops" beziehen sich häufig auf das aktuelle Weltgeschehen und werden durch eine entsprechende Interpretation vermeintlich argumentativ untermauert. Diese Interpretationen enthalten oft antisemitische Elemente. So stehen hinter den Begriffen "Globalisten" und "globale Bankenelite" Vorstellungen, die auf die - vermutlich vom russischen Geheimdienst während der Zarenzeit - gefälschte antisemitische Schrift "Protokolle der Weisen von Zion" zurückgehen. Zu den Angehörigen dieser "globalen Bankenelite" sollen unter anderem die jüdische Familie Rothschild sowie der jüdische Investor George Soros zählen. Darüber hinaus sprechen Personen, die dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzuordnen sind, in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland unter anderem von einer "Corona-Diktatur" und setzen die heutige Zeit mit der des nationalsozialistischen Unrechtsregimes gleich, sodass die zahlreichen nationalsozialistischen Verbrechen - insbesondere die Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen - verharmlost werden. BEWERTUNG/AUSBLICK Es besteht die Gefahr, dass Verschwörungsnarrative innerhalb des Phänomenbereichs Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zunehmend an Akzeptanz gewinnen werden. Durch die fortlaufende Verbreitung dieser Narrative kann sowohl die Radikalisierung von allein handelnden Personen als auch von Gruppen gefördert werden. Verschwörungsnarrative sind dazu geeignet, als Legitimation schwerster Gewaltstraftaten und als Legitimation zum "aktiven Widerstand" zu dienen. In diesem Kontext spielen auch antisemitische Tendenzen eine Rolle. Anhänger des Phänomenbereichs Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates reagieren in der Regel ohne großen zeitlichen Verzug auf gesellschaftspolitische Themen und Krisenlagen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 159 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG Insbesondere in Anbetracht des Nahostkonflikts besteht die Gefahr, dass Verschwörungsnarrative rund um eine angebliche jüdische Weltverschwörung auch den Weg für antisemitische Bestrebungen öffnen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass solche Narrative als "Vorbilder" für gewaltorientierte Akteure im Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates dienen, was ebenso für Rechtsextremisten sowie für Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene gilt. Auch ist weiterhin damit zu rechnen, dass das innerhalb des Phänomenbereichs Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates artikulierte Ausmaß von Staatsferne und Demokratiefeindlichkeit nicht abnehmen wird. Mit Blick auf den hohen verfassungsrechtlichen Stellenwert der freien Meinungsäußerung in einer Demokratie ist eine Verfassungsschutzrelevanz bei bloßer, wenn auch heftiger, Kritik weiterhin nicht gegeben, wenn diese im Kern auf eine Auseinandersetzung in der Sache abzielt und von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. 160 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS - MERKMALE - LINKSEXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL - AUTONOME UND ANARCHISTEN - SONSTIGE BEOBACHTUNGSOBJEKTE - LINKSEXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN LINKSEXTREMISMUS MERKMALE Die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Errichtung eines totalitären, sozialistisch-kommunistischen Systems oder einer angeblich "herrschaftsfreien Gesellschaft" sind Ziele linksextremistischer Bestrebungen. AUF EINEN BLICK * Orthodoxer Kommunismus * Anarchismus * Autonome Vorstellungen Orthodoxer Kommunismus | Protagonisten dieses Teils des Linksextremismus, so etwa die Deutsche Kommunistische Partei, orientieren sich insbesondere an den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels. Marx und Engels teilten Gesellschaften in Klassen ein und behaupteten, es gebe einen andauernden "Klassenkampf". Auf der Ausbeutung der Klasse der Arbeiter ("Proletariat") durch die Klasse der "Kapitalisten" fußt nach Auffassung orthodoxer Kommunisten der "Kapitalismus". Dieser führe zwangsläufig zu immer mehr Elend und Gewalt in der Gesellschaft. Der "Kapitalismus" könne nur durch eine Revolution, die eine Änderung der Eigentumsverhältnisse einschließe, beseitigt werden. Durch Umverteilung des Besitzes werde die alte Ordnung absterben und sich nach und nach eine kommunistische Gesellschaft entwickeln. Neben Marx und Engels berufen sich orthodoxe Kommunisten unter anderem auf Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Dieser glaubte, die Arbeiter könnten nur durch eine elitäre Kaderpartei zum richtigen "Klassenbewusstsein" und zu einer erfolgreichen Revolution geführt werden. Nach der Erringung der Macht sei es Aufgabe dieser Partei, mittels einer "Diktatur des Proletariats" die kommunistische Gesellschaft zu errichten und gewaltsam alle "konterrevolutionären" Elemente zu bekämpfen. Anarchismus | Anarchisten lehnen - im Unterschied zu kommunistischen Organisationen - jegliche Herrschaft ab. Sie sehen den Staat als unterdrückerische Zwangsinstanz an, die zerschlagen werden müsse, wobei es - im Unterschied zu Marxisten-Leninisten - keiner Kaderpartei bedürfe. Anarchisten wenden sich gegen jegliche Institutionen, insbesondere gegen Parteien und Parlamente; sie selbst organisieren sich in nur wenig strukturierten Gruppen. Von diesen in festeren Strukturen agierenden "syndikalistischen Anarchisten" sind "aufständische" oder auch "insurrektionalistische Anarchisten" zu un162 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS terscheiden, die in jüngerer Zeit durch verschiedene "Aktionen" außerhalb Hessens auffällig wurden. Für Anhänger der Strömung des "aufständischen/insurrektionalistischen Anarchismus" sind eine kompromisslose Opposition und permanente Attacken auf den sozialen und politischen Gegner zentrale Anliegen. Das bedeutet, dass diese Anarchisten gezielt auch Gewalttaten und Sabotageaktionen durchführen, um auf ihr Ziel, den Aufbau eines "antikapitalistischen" und völlig freien Systems hinzuarbeiten. Anhänger dieser Strömung des Anarchismus agieren für gewöhnlich alleine oder in informellen Kleinstgruppen. Autonome Vorstellungen | Die Positionen von Autonomen verfolgen - verglichen mit denjenigen orthodox-kommunistischer Parteien - kein starres Dogma. Sie vermischen verschiedene Ideologiefragmente zu einem mitunter brüchigen Gesamtbild, das von Gruppe zu Gruppe variieren kann. Nicht die Partei, sondern das selbstbestimmte Individuum steht bei Autonomen im Mittelpunkt ("Politik der ersten Person"). Nach autonomer Auffassung muss der Einzelne ständig um seine Befreiung von "strukturellen Zwängen" kämpfen. Mit orthodoxen Kommunisten verbindet Autonome aber die Vorstellung von einer Welt, in der jeder im Rahmen einer kommunistischen Gesellschaft nach seinen Bedürfnissen leben und sich selbst verwirklichen kann: Dazu müssten alle "Systeme", die dem Individuum Pflichten und Zwänge auferlegen, beseitigt werden. Zu diesen "Systemen" gehören nach dem Verständnis von Autonomen unter anderem Demokratie und rechtsstaatliches Handeln. Die Vorgehensweisen und die Zusammensetzung autonomer Zusammenschlüsse sind heterogen. Einige Autonome versuchen, Ideen anarchistischer Prägung in die Realität umzusetzen. Dies geschieht zum Beispiel durch die Errichtung "gewaltund herrschaftsfreier Räume" in Form von Besetzungen von Gebäuden und von zur Rodung vorgesehenen Waldgebieten. Andere Autonome, die auch als Postautonome bezeichnet werden, engagieren sich weiterhin in der Bündnisund Netzwerkarbeit, wobei sie auch nichtextremistische Unterstützer zu gewinnen versuchen. Um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen, halten Autonome generell die Anwendung von Gewalt für ein legitimes Mittel. Insbesondere auf Grund ihrer "militanten Aktionen" stellen Autonome eine konstante Bedrohung für die Innere Sicherheit in Deutschland dar. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 163 LINKSEXTREMISMUS LINKSEXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL1 Das linksextremistische Personenpotenzial nahm im Berichtsjahr (2.600) im Vergleich zum Vorjahr (2.650) geringfügig ab. Demgegenüber stieg die Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten in Hessen sehr deutlich von 600 (2022) auf 720 (2023). Gleichfalls stieg das Personenpotenzial der autonomen Szene in Hessen von 480 (2022) auf 490 leicht an und erreichte damit die höchste Zahl des Fünfjahreszeitraums 2019 bis 2023. Die Zahl der Anarchisten sank von 100 (2022) auf 80 (2023). Die Ursache für die Zunahme des gewaltorientierten Personenpotenzials dürften mehrere, teilweise sich gegenseitig bedingende Faktoren sein. Aufgrund der bundesund hessenweit steigenden Umfragewerte der AfD sah sich die linksextremistische Szene einer sich vergrößernden rechtsgerichteten Strömung in der Gesellschaft gegenüber, welche ihre bereits seit Jahrzehnten vorhandene 164 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS Anschauung in Bezug auf einen grundsätzlichen "Rechtsruck" in Deutschland nochmals bestätigte. Die von der linksextremistischen Szene als Verschärfung wahrgenommene Änderung des Hessischen Versammlungsfreiheitsgesetzes und der als zunehmende Kriminalisierung und Repression bewertete Prozess gegen die aus Kassel stammende Lina E. bekräftigten diese Sichtweise. Neben weiteren Faktoren wie etwa die seit Jahren andauernde Auseinandersetzung in Bezug auf den Umgang mit Migranten bedingte dies eine zunehmende gewaltorientierte Radikalisierung der linksextremistischen Szene und eine entsprechende Zunahme des gewaltorientierten linksextremistischen Personenpotenzials. (Siehe im Glossar auch die Erläuterung zum Begriff Personenpotenzial.) AUTONOME UND ANARCHISTEN DEFINITION/KERNDATEN Autonome sind undogmatische und organisationskritische Autonome Aktivisten: Linksextremisten, die sich zum Teil diffus an verschiedenen komIn Hessen etwa 490, die bundesmunistischen und anarchistischen Deutungsmustern orientieren. Das weite Zahl lag bei Redaktionsstaatliche Gewaltmonopol lehnen Autonome ab und sehen eigene schluss noch nicht vor Gewaltanwendung ("Militanz") zur Durchsetzung ihrer politischen Regionale Schwerpunkte: Ziele als legitim bzw. berechtigt an. Starren Organisationsstrukturen Frankfurt am Main, Marburg stehen "klassische" Autonome kritisch bis ablehnend gegenüber und (Landkreis Marburg-Biedenkopf), beharren stattdessen auf ihrer Selbstbestimmtheit. Autonome orgaGießen (Landkreis Gießen), nisieren sich überwiegend in losen Gruppen, zwischen denen oft nur Kassel und Darmstadt aktionsund anlassbezogene lockere Netzwerke bestehen. Medien : Swing (Erscheinungsweise Teile der autonomen Szene sind seit einigen Jahren allerdings von mehrmals jährlich), Internetdiesem Selbstverständnis abgerückt. Die mangelnde Strategie sopräsenzen \ wie die Organisationsund Theoriefeindlichkeit "klassischer" Autonomer erachten sie als wenig zielführend: Anstelle der Revolution bevorzugt dieser Teil der Szene, der als postautonom bezeichnet wird, eine langfristige Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Hierfür greifen Postautonome gesamtgesellschaftlich relevante Themen auf und setzen auf eine auch das gesamte linksextremistische Spektrum umfassende Bündnispolitik, die eine Zusammenarbeit mit nichtextremistischen Akteuren ausdrücklich einschließt. Dementsprechend vermeiden Postautonome in der Regel ein offenes Bekenntnis zur Gewalt. Stattdessen verwenden sie eher unbestimmte Begriffe wie "ziviler Ungehorsam" oder sprechen davon, "Polizeiketten durchfließen" zu wollen. Damit bieten Postautonome für ihre Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 165 LINKSEXTREMISMUS "Aktionen" einen weiten Interpretationsspielraum, der sowohl gewaltorientierten als auch gewaltablehnenden Personen eine Teilnahme ermöglicht. Die Interventionistische Linke (IL) war, wie bereits 2022, die bedeutendste Organisation im Bereich der postautonomen Szene. Ihre Aktivitäten trieb sie innerhalb Hessens über die drei Ortsgruppen Frankfurt am Main, Darmstadt und Marburg voran. Im Kontext der autonomen Szene beobachtet das LfV sogenannte aufständische anarchistische Strukturen wegen ihrer grundsätzlichen Gewaltaffinität. Entsprechende Zusammenhänge wurden in jüngerer Zeit außerhalb Hessens durch "Aktionen" auffällig. Kennzeichnend für Anhänger dieser Strömung im Anarchismus sind eine kompromisslose Opposition und permanente Attacken auf den gesellschaftlichen und politischen Gegner. Das bedeutet, dass aufständische Anarchisten gezielt auch Gewaltund Sabotageaktionen durchführen, um auf ihr Ziel des Aufbaus eines "antikapitalistischen" Systems bzw. einer von allen Zwängen völlig freien Gesellschaft hinzuarbeiten. Anhänger dieser Strömung agieren gewöhnlich allein oder in informellen Kleinstgruppen. Da diese Strukturen weiterhin aufgeklärt werden, können keine Zahlenangaben hinsichtlich des Personenpotenzials gemacht oder regionale Schwerpunkte in Hessen benannt werden. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Im Gegensatz zum Berichtsjahr 2022 legte die autonome und anarchistische Szene in Hessen den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf das Themenfeld "Antifaschismus". Trotz des russischen Angriffskriegs 166 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS gegen die Ukraine und des erneut aufgeflammten Nahostkonflikts geriet das virulente Themenund Handlungsfeld "Antimilitarisierung" aus dem unmittelbaren Fokus der Szene. Auch Aktionen im Kontext des Klimaund Umweltschutzes standen nicht im Vordergrund. Im Bereich des "Antifaschismus" kam es wie im Jahr zuvor zu zahlreichen Outings linksextremistischer Gruppen gegen Politiker der AfD, gegen Burschenschaften oder andere Gruppen, die sich aus linksextremistischer Sicht im "rechten Lager" bewegten. AUF EINEN BLICK * "Antifaschismus": Outings, Drohschreiben und Demonstrationen * Demonstration am 1. Mai * Linksextremistische Beeinflussung der Klimaund Umweltschutzbewegung "Antifaschismus": Outings, Drohschreiben und Demonstrationen | Als typische Aktionsform im Themenfeld linksextremistischer Antifaschismus waren auch im Berichtsjahr erneut eine Vielzahl an sogenannten Outings zu verzeichen. Diese richteten sich gegen Rechtsextremisten bzw. generell gegen als politische Gegner wahrgenommene Personen. Bei den Outing-Aktionen werden nicht nur Namen, Adressen und Bilder veröffentlicht, die Outings werden innerhalb der Szene auch als Aufforderung zu Angriffen gegen diese Personen oder ihr Eigentum verstanden. Dahinter steht die Absicht, den Betroffenen einen individuellen Schaden zuzufügen, ihre gesellschaftliche sowie mitunter berufliche Reputation zu beschädigen und sie in ihrem gegensätzlichen Denken und Handeln einzuschüchtern. Das Aktionsfeld dieser Outings reichte von Farbschmierereien über Posts im Internet bis hin zu nicht angemeldeten Demonstrationen vor der Wohnung der Betroffenen. Hatten sich im Vorjahr "antifaschistische Aktionen" vor allem im Raum Kassel gehäuft, so fanden diese nun auch in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) statt. Betroffen waren vor allem im Vorfeld bzw. Kontext der hessischen Landtagswahl am 8. Oktober meistens Angehörige von AfD und Burschenschaften. Hessenweit sind folgende Ereignisse erwähnenswert: * Marburg, 6. Januar: Auf der linksextremistischen Internetplattform de.indymedia.de wurde auf die Internetseite Lebensbund.org verwiesen, auf welcher eine Recherche zur Burschenschaft Germania Marburg veröffentlicht wurde. Motivation sei der beginnende Prozess gegen drei Angehörige der Burschenschaft gewesen, die drei Jahre zuvor eine benachbarte Verbindung angegriffen hätten. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 167 LINKSEXTREMISMUS * Frankfurt am Main, 29./30. Januar: Unbekannte Täter beschädigten die Räumlichkeiten des Vereins LebensGlück e. V. und das dazugehörige Restaurant Rohkosteria, die der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene zuzurechnen sind. In einem später auf den Internetplattformen antifa-frankfurt.org und de.indymedia.org eingestellten anonymen Selbstbezichtigungsschreiben hieß es: "Wir haben die Ladenfenster eingeschlagen und in einen Seiteneingang Buttersäure in den Versammlungsraum gespritzt. In der Vergangenheit gab es bereits einen Farbangriff und Proteste von Anwohner*innen und Antifaschist*innen. [...] Aktuell finden verschiedene Veranstaltungen ungestört statt. doch seit heute Nacht wird es ungemütlich, unter den Geruch von ätherischen Ölen mischt sich nun der beißende Gestank von Buttersäure Wir vertrauen im antifaschistischen Kampf weder auf Staat und Justiz, noch auf unsoziale Immobiliengesellschaften". (Schreibweise wie im Original.) * Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), 1. Februar: Unbekannte Täter outeten einen Angehörigen der IB mittels eines Beitrags im Internet sowie in der Nachbarschaft des Betroffenen und an der Philipps-Universität Marburg verteilten Flugblättern. * Frankfurt am Main, 8. März: Auf de.indymedia.org wurde unter der Überschrift "Flugblätter und Rosen - Outing zwei alter Burschenschaftsherren" ein Beitrag veröffentlicht, in dem auf die Recherchegruppe Lebensbund.org Bezug genommen wurde. In dem Beitrag vom 8. März hieß es, dass die Marburger Burschenschaft Germania ein "besonders gutes Beispiel" dafür sei, "wie diese Form des Networkings ganz bewusst von Nazis genutzt wird, um rechte Entwicklungen in der Gesellschaft voranzutreiben und daran zu arbeiten, die Grenzen gesellschaftlicher Tabuisierungen aufzuheben". Zeitgleich mit dem Outing im Internet wurde auf dem Fußboden im Eingangsbereich der Arbeitsstelle eines der beiden Betroffenen ein Graffiti aufgesprüht, das dessen Namen und die Aufschrift "Rechtes Schwein!" enthielt. * Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), 8. März: Das Haus der Burschenschaft Germania Marburg wurde mit der Parole "Nazivillen Dichtmachen! AFA" großflächig beschmiert. Hierzu erschien am 22. März auf de.indymedia.org ein Selbstbezichtigungsschreiben. * Frankfurt am Main, 18. März: Nachdem die örtliche linksextremistische Szene zu einer Demonstration mit dem Thema "Versammlungsfreiheitsgesetz nicht mit uns" aufgerufen hatte, nahmen daran etwa 700 Personen teil. Dabei wurden Transparente mit den Aufschriften "Versammlungsgesetz stoppen", "Gegen Überwachung" und ein Schild mit der Aufschrift "Peter Beuth 1 Schwein" gezeigt. In einem auf der linksextremistischen Internet168 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS plattform gegenmacht.info eingestellten Beitrag hieß es: "Am 18. März alle zusammen auf die Straße gegen das geplante hessische Versammlungs'heits'gesetz! Gerade in Zeiten von Inflation, Krieg und Rechtsruck machen kreative Aktionen, verschiedenste Ausdrucksformen und lebendiger Protest die Versammlungsfreiheit aus und sind für eine Demokratie von elementarer Bedeutung. Doch das geplante Versammlungsgesetzes der hessischen Landesregierung zielt auf Kontrolle, Einschränkungen und Kriminalisierung, statt Meinungsfreiheit zu schützen und zu stärken". (Schreibweise wie im Original.) * Nordhessen, 14. April: In Bezug auf die Gründung des Stützpunkts Kurhessen des Dritten Wegs verwies die Recherchegruppe gegen den Dritten Weg in Nordhessen auf eine entsprechende Internetseite, die einen Text mit Bildmaterial zu den Personen, Immobilien und Ereignissen mit Bezug auf die neonazistische Partei und die Scheiteljugend Kassel enthielt. * Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), 20. April: In einem auf de.indymedia.org eingestellten Outing eines angeblichen "Rassisten und Förderer[s] der AfD" hieß es: "Auf Bestrebungen als rechter Verleger und Autor, rassistische Aktivitäten und seine Förderung der AfD wurde seine Nachbarschaft durch einen Outingflyer aufmerksam gemacht. Außerdem wurde sein Wohnhaus mit einem Grafitti besprüht, so dass auch Passanten wissen, wer in diesem Haus wohnt. Keine Ruhe für alte Fascho Säcke". (Schreibweise wie im Original.) * Kassel, 1. Mai: Unbekannte Täter sprühten den Schriftzug "Fight AfD" auf die Fassade einer Gaststätte und schlugen eine Fensterscheibe ein. Später wurde auf de.indymedia.org ein entsprechender Beitrag veröffentlicht, der mit dem Aufruf "Der AfD die Räume nehmen! Den rechten Landtagswahlkampf sabotieren! Antifa in die Offensive" endete. * Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), 23. Mai: Auf die Fassade der städtischen Mediathek sprühten unbekannte Täter den zwei Meter langen Schriftzug "Burschis boxen". Im nahen Umfeld befinden sich mehrere Verbindungsund Burschenschaftshäuser. Einige Tage später wurde das Gebäude der Turnerschaft Schaumburgia mit schwarzen Farbbeuteln beworfen. * Dresden (Sachsen), 31. Mai: Das OLG Dresden verurteilte die in Hessen aufgewachsene Lina E. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, mehrfacher gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung, Urkundenfälschung, Diebstahl und Nötigung. Ihre Mitangeklagten erhielten Gesamtfreiheitsstrafen im Rahmen von zwei Jahren und fünf Monaten bis Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 169 LINKSEXTREMISMUS zu drei Jahren und zwei Monaten. Sowohl die Verteidiger der Angeklagten als auch die Bundesanwaltschaft legten Revision gegen das Urteil ein. Als Reaktion auf die Urteilsverkündung führten in Hessen linksextremistische Gruppierungen unter anderem in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) mit 80 bis 100 Teilnehmern und in Frankfurt am Main mit 20 bis 30 Personen nicht angemeldete Demonstrationen durch. Während die Veranstaltung in Marburg friedlich verlief, wurden in Frankfurt am Main mehrere Rauchtöpfe gezündet. Auf der Internetseite antifa-frankfurt.org war von einer "kraftvolle[n] Spontandemonstration" mit etwa 150 Teilnehmern die Rede, wobei angeblich Scheiben einer Werbetafel zerstört und ein Müllcontainer in Flammen aufgegangen seien. In der Nacht zum 1. Juni bewarfen unbekannte Täter das Amtsgericht in Kassel mit Steinen und Farbe, wobei ein Sachschaden in fünfstelliger Höhe entstand. In einem auf de.indymedia.org veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben hieß es: "In Gedanken waren wir bei unseren Freunden, die in Dresden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden". * 13. Juni: Auf de.indymedia.org wurde eine Person als Angehörige der zu diesem Zeitpunkt bereits aufgelösten Scheiteljugend Kassel geoutet. * Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), 27. Juli: Unbekannte Täter beschmierten die Außenwände verschiedener Verbindungshäuser sowie weitere Gebäude und Fahrzeuge mit verschiedenen Graffitis, unter anderem mit den Parolen "Burschis jagen" und "Antifa Area". * 6. August: Auf de.indymedia.de wurde ein Beitrag hochgeladen, der zum Teil ausführliche Texte zu den Kandidaten der AfD für die hessische Landtagswahl enthielt. Darin hieß es: "Es ist längst überfällig, die Partei und ihre handelnden Individuen entschlossen zu bekämpfen. Wir wollen ihnen gemeinsam mit euch die Räume streitig machen, in denen sie sich wie selbstverständlich bewegen, unbehelligt fühlen und in Sicherheit wähnen. Ob Restaurant, Verein oder Arbeitsplatz: wer andere aufgrund eines rassistischen, antisemitischen, sexistischen und queerfeindlichen Weltbildes ausschließen, einsperren oder entsorgen will, sollte sich über Gegenwehr und Ausschluss nicht beklagen". * Edermünde (Schwalm-Eder-Kreis), 11. September: Unbekannte Täter beschmierten die Fassade eines Mehrfamilienhauses, worin sich von der AfD genutzte Büroräume befanden. Dabei wurde auch der Schriftzug "No AfD" gesprüht. Zwei vor dem Haus geparkte Fahrzeuge wurden ebenfalls beschmiert. * Kassel, 6. Oktober: Unbekannte Täter verübten zwei Tage vor der hessischen Landtagswahl einen Brandanschlag auf das Fahrzeug des Vorsitzenden der AfD-Stadtverordnetenfraktion in Kassel-Stadt. 170 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS Auch nach der hessischen Landtagswahl am 8. Oktober kam es zu weiteren autonomen Outings, wobei deren Anzahl und Umfang zurückging. So erschien am 25. Oktober auf de.indymedia.org ein Beitrag über das Outing einer Person, die als "Faschist und Freund von JA, IB und AFD" bezeichnet wurde. Der Beitrag wurde ebenfalls auf der Seite www.antifa-frankfurt.org veröffentlicht. Am 7. November wurde unter anderem auf dieser Internetseite ein Outing einer Gießener Burschenschaft in Bezug auf deren Verbindungen eingestellt. Demonstration am 1. Mai | Wie in der Vergangenheit rief auch im Berichtsjahr das Bündnis Revolutionärer Erster Mai Frankfurt zu einer "revolutionären" Demonstration anlässlich des "Tags der Arbeit" am 1. Mai auf. Unter dem Motto "1. Mai - Preise runter! Aufrüstung stoppen!" versammelten sich etwa 2.000 Personen in Frankfurt am Main. Dabei wurden pyrotechnische Gegenstände abgebrannt und mehrere Sachbeschädigungen begangen. Mobilisiert worden war für die Demonstration vor allem durch linksextremistische Gruppen, so etwa Aurora Räteaufbau und Young Struggle. Um für eine "Gesellschaft, in der Ausbeutung, Sexismus und Rassismus der Vergangenheit angehören", erfolgreich kämpfen zu können, verwies das Bündnis Revolutionärer Erster Mai Frankfurt auf das Mittel des Streiks: "Denn wenn wir streiken[,] stehen die Maschinen still und wir durchbrechen die zerstörerische Normalität": "Die Kämpfe in der Vergangenheit und heute zeigen die Vielfalt und Kraft, die hinter Streik stecken: Wir können damit nicht nur Tarifauseinandersetzungen gewinnen, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich umwerfen. Denn Streik ist und bleibt politisch". Autonome Gruppierungen in Frankfurt am Main riefen nicht zur Teilnahme auf, sondern mobilisierten wie im Vorjahr für die Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), die friedlich verlief. Linksextremistische Beeinflussung der Klimaund Umweltschutzbewegung | Weiterhin versuchten linksextremistische Gruppierungen, die Klimaund Umweltschutzbewegung zu beeinflussen, um auf diese Weise ihre Ideologie über Themenfelder mit großer allgemeiner Relevanz und Tragweite in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. In der Nacht vom 11. auf den 12. September setzten unbekannte Täter auf dem Gelände eines Autohändlers in Frankfurt am Main 15 Fahrzeuge in Brand. Auf den linksextremistischen Internetplattformen de.indymedia.org und antifa-frankfurt.org begründeten anonyme Autoren anschließend ihre Tat in einem Selbstbezichtigungsschreiben mit der Überschrift "Teslas flambiert". Sie kritisierten, dass Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 171 LINKSEXTREMISMUS kurz zuvor in München (Bayern) die Internationale Automobil Ausstellung (IAA) in "klimatisierten Konferenzräumen [...] und Ausstellungshallen" stattgefunden habe, während es im Sommer wieder Brände und Überschwemmungen gegeben habe: "Die Existenzen vieler werden vernichtet. Diese tödlichen Katastrophen haben viele Ursachen. Die IAA ist einekleinedavon. Wir sagen switch off the system of destruction! Wir haben deswegen heute Nacht einige neue Teslas in Frankfurt am Main flambiert. Als Gruß an die Proteste in München. Als ein Angriff unter vielen auf die zerstörerische Autoindustrie". (Schreibweise wie im Original.) Der Autokonzern Tesla sei einer "unser prominentesten Feinde", der wie kein "Anderer die Ideologie eines grünen Kapitalismus und die weiter anhaltende globale und koloniale Zerstörung" repräsentiere. In der Nacht zuvor waren in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) zehn Fahrzeuge eines Autohändlers in Brand gesetzt worden. Auch in diesem Fall war auf de.indymedia.org ein anonymes Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht worden, wobei sich die Verfasser nicht ausdrücklich gegen Tesla gewandt, sondern gefordert hatten, dass man den "motorisierten Individualverkehr überwinden" müsse. Am 13. September erschien unter der Überschrift "Bitumen für TeslaNeuwagen" ein Beitrag auf einer Internetseite anarchistischer Akteure, worin es unter anderem hieß: "Die frisch produzierten Autos des Arschlochkonzerns Tesla in der 'Autostadt' Graz haben über Nacht ihren Glanz verloren. [...] Die Marke, die eine Zuspitzung auf allen Ebenen Vernichtung repräsentiert, ist der Gegenwarts-Albtraum aller Lebewesen. Unser Haas gilt eurem Feelgood-Lifestyle, den Tesla in 'grün' verkauft. Die Zukunft ist aber grau-braun und kein Automodell der Welt wird je eine 'Lösung' gegen Klimakatastrophen sein! [...] Unsere Solidarität gilt allen von Repression betroffenen Menschen der IAA-Proteste in München, deren Kampf gegen Institution 'Auto' wir teilen und trotz der enormen Bullenpräsenz aufbegehrt haben". (Schreibweise wie im Original.) Die im Selbstbezichtigungsschreiben mit der Überschrift "Teslas flambiert" genannte Mitmachkampagne Switch-off basierte auf einer regelmäßig aktualisierten Internetseite, die Linksextremisten eine Plattform für die Ankündigung oder Veröffentlichung von (geplanten) Aktionen, Angriffen und Sabotagen bot. Der Blog wurde auch für Texte und Analysen zum Themenkomplex "Klimaund Umweltschutz" 172 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS genutzt. Ebenso wurden Informationen und Berichte aus dem Ausland eingestellt, welche die hiesige linksextremistische Szene inspirieren sollten. Gleichzeitig diente die Internetseite dazu, die angeblich "Verantwortlichen der ökologischen Katastrophe" und die "Akteure des grünen Kapitalismus" zu benennen. Am Global Strike Bündnis Darmstadt beteiligten sich anlässlich des von der nichtextremistischen Fridays-for-Future-Bewegung ausgerufenen globalen Klimastreiks am 15. September in Darmstadt linksextremistische Gruppierungen. Darunter befanden sich die IL Darmstadt und die linksjugend ['solid] Darmstadt. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Die autonome Bewegung wurzelt in den europaweiten Studentenprotesten der späten 1960er und der 1970er Jahre. In dieser Zeit entstand die Selbstbezeichnung Autonome. AUF EINEN BLICK * Gewalt gegen Polizisten * Gewalt gegen "Faschisten" Gewalt gegen Polizisten | Für die große Öffentlichkeit zum ersten Mal erkennbar agierten Autonome, als sie 1980 in Bremen gegen die Vereidigung von Bundeswehrrekruten demonstrierten. Dabei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Als breite eigenständige Bewegung waren Autonome seit Anfang der 1980er Jahre auszumachen. Sie waren zunächst vor allem in der Friedensund in der Anti-Atomkraftbewegung sowie bei Hausbesetzungen aktiv. Auch gegen die in Wackersdorf (Bayern) geplante Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe agierten Autonome mit Gewalt; gleichfalls lieferten sie sich an der Startbahn West am Frankfurter Flughafen gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei, wobei während einer Demonstration am 2. November 1987 zwei Polizeibeamte erschossen wurden. Gewalt gegen "Faschisten" | Im Laufe der Zeit entwickelte die autonome Szene weitere "Anti"-Haltungen. So waren Autonome hauptverantwortlich für die massiven Ausschreitungen bei den Protesten gegen die Eröffnung der neuen Zentrale der Europäischen Zentralbank (EZB) 2015 in Frankfurt am Main und bei den Protesten gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg. Seitdem gab es - zum Beispiel bei Demonstrationen - bundesweit immer wieder teilweise auch sehr gezielte gewalttätige Angriffe, die sich insbesondere bei Veranstaltungen nicht nur gegen Polizeikräfte, sondern regelmäßig gegen tatsächliche oder vermeintliche "Faschisten" bzw. Rechtsextremisten Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 173 LINKSEXTREMISMUS richteten. Dabei ist bei gezielten Attacken davon auszugehen, dass es im Vorfeld eine umfängliche Recherche zu der Person einschließlich ihrer Lebensumstände gegeben hatte. IDEOLOGIE/ZIELE Das Ziel der Autonomen ist die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und des "kapitalistischen Systems" zugunsten einer "herrschaftsfreien" Gesellschaft. In ihr sollen sich unabhängige Individuen freiwillig vereinen und gemeinsam und gleichberechtigt handeln. Nach der Ansicht von Autonomen werden die Menschen durch "Kapitalismus", "Rassismus" und "Patriarchat" unterdrückt und ausgebeutet. Als Ursache hierfür betrachten Autonome die bürgerliche demokratische Gesellschaft und das freie Wirtschaftssystem im "Kapitalismus". "Imperialismus" und vor allem "Faschismus" sind in den Augen von Autonomen die maßgeblichen Werkzeuge dieser dreifachen Unterdrückung. AUF EINEN BLICK * "Anti"-Haltungen und Feindbilder * "Antikapitalismus" * "Antifaschismus" * "Antirassismus" * "Antigentrifizierung" - "selbstverwaltete Freiräume" * Klimaund Umweltschutzaktionen * Frage der Gewalt * Hauptströmungen der (post-)autonomen Szene in Hessen * Antiimperialisten * Antideutsche * Antinationale "Anti"-Haltungen und Feindbilder | Ihren "Anti"-Haltungen und Feindbildern entsprechend definieren Autonome ihre politischen Aktivitäten. So wird mittels des "Antifaschismus" gegen Personen, Gruppen und Institutionen agitiert, die als "Rechte" bzw. "Nazis" ausgemacht werden. Unter dem Label "Antirepression" wird insbesondere gegen Polizisten als öffentlich wahrnehmbare Vertreter des "staatlichen Repressionsapparats" vorgegangen. Sämtliche Feindbilder sind dabei auf eine "antikapitalistische" Grundhaltung zurückzuführen. Um ihre Bündnisund Mobilisierungsfähigkeit zu erhöhen, versuchen vor allem Postautonome mehrere Themenfelder bei ihren Aktivitäten zu verknüpfen. "Antikapitalismus" | Dieses Themenfeld bildet den Kern der Vorstellungen der autonomen Szene bzw. des gesamten linksextremistischen Spektrums. Dem Marxismus zufolge ist die "kapitalistische" 174 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS Wirtschaftsform das alles dominierende Element des menschlichen Daseins und bestimmt alle Lebensbereiche. Linksextremisten setzen auf dieser Basis die freiheitliche demokratische Grundordnung mit dem "Kapitalismus" gleich und bekämpfen diese, indem sie unter anderem soziale Themen für ihre Zwecke instrumentalisieren. "Antifaschismus" | Vor allem das Themenfeld "Antifaschismus" zeichnet sich für Autonome bzw. Linksextremisten dadurch aus, dass es eine hohe Anschlussfähigkeit an nichtextremistische Organisationen und Gruppierungen ermöglicht. Im Unterschied zur demokratischen Bekämpfung des Rechtsextremismus ist das linksextremistische "Antifaschismus"-Verständnis von Demokratiefeindlichkeit geprägt. In kommunistischer Tradition unterstellen Autonome bzw. Linksextremisten der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, selbst "faschistisch" oder "faschistoid" zu sein. Demnach bezeichnen sie auch Personen aus dem demokratischen Spektrum als "Faschisten". Sobald die Bewertung "Faschist" vergeben ist, ist der Betroffene, unabhängig von seinen tatsächlichen Überzeugungen, nach autonomem bzw. linksextremistischem Urteil legitime Zielscheibe von Diffamierungen und Gewalttaten. Unter "Antifaschismus" verstehen Autonome bzw. Linksextremisten also nicht nur die konsequente Ablehnung rechtsextremistischer Bestrebungen, vielmehr setzen sie den offensiven "Kampf gegen Rechts" mit dem "Kampf gegen das Ganze", das heißt gegen das "bürgerlich-kapitalistische System", gleich: Erst mit der Beseitigung des "Kapitalismus" sei die Gefahr des "Faschismus" als Form bürgerlicher Herrschaft gebannt. "Antirassismus" | Vor dem Hintergrund der europäischen Migrationspolitik akzentuieren Autonome seit mehreren Jahren wieder stärker die Beschäftigung mit rassistisch begründeten Verhältnissen der Ungleichheit und staatlicher Unterdrückung. Insbesondere "Aktionen", bei denen es zu schweren Gewalttaten gegen Menschen mit Migrationshintergrund oder wegen ihrer Hautfarbe kam, erhielten hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Das linksextremistische Spektrum war bislang bemüht, mit ideologisierten "Aktionen" in die Debatte einzugreifen. Entsprechend der autonomen bündnispolitischen Zielrichtung soll das szeneeigene Verständnis von "Antirassismus" möglichst langfristig und breit in der Mehrheitsgesellschaft etabliert werden. Dieses Verständnis konzentriert sich nicht nur auf die Thematisierung der Flüchtlingsproblematik: Autonome wollen vor allem die Öffentlichkeit mit vermeintlichen Beweise konfrontieren, wonach Staat und Gesellschaft selbst "rassistisch" seien und daher im linksextremistischen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 175 LINKSEXTREMISMUS Sinne bekämpft und überwunden werden müssten. Rechtmäßiges Handeln von Behörden gilt für Autonome in dieser Diktion als "rassistisch" und wird entsprechend kommentiert: "Nazis morden, der Staat schiebt ab - das ist das gleiche Rassistenpack". Aufgrund verschiedener Ereignisse, die teilweise auch international hohe Aufmerksamkeit in den Medien fanden - wie etwa die seit 2018 bekannt gewordenen Drohmails NSU 2.0, der durch Polizeigewalt verschuldete Tod des amerikanischen Staatsbürgers George Floyd und vergleichbare Fälle sowie der rechtsextremistisch motivierte Anschlag in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) - sahen sich Linksextremisten in ihren Wahrnehmungen bestätigt. Entsprechend versahen Teile der linksextremistischen Szene die Polizei in Hessen und insbesondere in Frankfurt am Main mit dem Schlagwort "Nazis", die IL schlug sogar eine "Entnazifizierungs"-Kampagne vor. Das Narrativ der "mit Rechtsextremisten durchsetzten Sicherheitsbehörden" (bzw. des Staates als Ganzes) ist elementarer Bestandteil linksextremistischer Ideologie. "Antigentrifizierung" - "selbstverwaltete Freiräume" | Autonome bzw. Linksextremisten schließen sich "Antigentrifizierungs"-Initiativen aus mehreren Gründen an: Indem sie sich für bezahlbaren Wohnraum einsetzen, können sie sich als sozialpolitische Akteure profilieren und gesellschaftliche Akzeptanz erreichen. Weiterhin ist es Autonomen auf diese Weise möglich, anschaulich ihre "antikapitalistische" Grundhaltung zu vermitteln. Schließlich sind sie oft selbst von Gentrifizierung betroffen, da die von ihnen genutzten "selbstverwalteten Freiräume" - also autonome Szeneund Treffobjekte - mitunter ebenso für entsprechende sogenannte Luxussanierungen vorgesehen sind. Insofern richten sich linksextremistische Aktionen in diesem Themenfeld gerade auch gegen Immobilienfirmen und Städtebaugesellschaften, die Eigentümer der Objekte sind. Klimaund Umweltschutzaktionen | Vor dem Hintergrund des fortschreitenden Klimawandels und der damit einhergehenden Auswirkungen auf Mensch und Umwelt sowie im Rahmen des Strebens nach einem sozialverträglichen ökologischen Miteinander gewann dieses Themenfeld zunehmend an Bedeutung für das autonome bzw. linksextremistische Spektrum und ist mittlerweile fester Bestandteil der entsprechenden Agitation. Damit lassen sich mehrheitsfähige gesellschaftliche Anliegen - wie etwa der Kampf gegen den Klimawandel (zum Beispiel die Forderungen nach einem Ausstieg aus dem Kohleabbau sowie nach einer Verkehrswende) - mit linksextremistischen Forderungen nach einem "selbstbestimmten Leben" durch das Schaffen "selbstverwalteter Freiräume" verbinden. Vor allem bietet sich für Autonome bzw. Linksextremisten die Möglichkeit, ihre "antikapitalistischen" Forderungen gegen angebliche "klimaschädliche" Unternehmen in Stellung zu bringen und in den gesellschaftlichen Diskurs mittels der Parole 176 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS "system change not climate change" einzubringen. Mit ihren Versuchen, die Klimaund Umweltschutzbewegung zu instrumentalisieren, wollen Autonome bzw. Linksextremisten ein Scharnier zwischen ihren Bestrebungen und nichtextremistischen Forderungen herstellen. Frage der Gewalt | Seit jeher versuchen Autonome ihre Ziele auch mit Gewalt zu erreichen. In der Anwendung von Gewalt sehen Autonome nicht nur ein "Mittel zum Zweck", sondern ebenso einen Akt der "individuellen Selbstbefreiung". Die phasenweise in der Szene geführte "Militanzdebatte" beschäftigt sich daher nicht mit der Legitimität von Gewaltanwendung, sondern mit der kontrovers diskutierten Frage, ob sich Gewalt "nur" gegen Sachen oder auch gegen Menschen richten darf. Dabei nehmen es Autonome billigend in Kauf, dass Menschen im Rahmen ihrer "Aktionen" verletzt oder sogar getötet werden. Linksextremisten in Hessen, vor allem gewaltbereite Autonome, zielen mit ihren "Aktionen" grundsätzlich auf Sachbeschädigungen ab oder kalkulieren diese ein. Bei diesen "aktionsorientierten" Handlungen kann es entsprechend spontan oder beabsichtigt zu gewaltsamen Angriffen auf Polizeibeamte oder ausgemachte "Feinde", also Anhänger des anderen politischen Lagers - darunter Rechtsextremisten - kommen. In der Gesamttendenz treten diese konfrontativen, offenen Gewalthandlungen im Vergleich zu konspirativ durchgeführten Beschädigungsaktionen an Sachen, wie Fahrzeugen und Gebäuden, in Hessen deutlich zurück. Hauptströmungen der (post-)autonomen Szene in Hessen | Es sind tendenziell drei Hauptströmungen zu unterscheiden: Antiimperialisten, Antideutsche und Antinationale. Sie stehen sich inhaltlich zum Teil diametral gegenüber. Nur über "antikapitalistische" und "antifaschistische" Grundhaltungen erzielen die drei Strömungen häufig einen Minimalkonsens. Zuletzt sind szeneinterne Konfliktlinien schwieriger auszumachen, da "klassische" Ideologieansätze zunehmend zugunsten eines aktionistischen Vorgehens und frei interpretierter Denkmuster aufweichen. Antiimperialisten | Antiimperialisten machen die vorgeblich durch den "Kapitalismus" bedingte "imperialistische" Politik "westlicher" Staaten, vorrangig der USA und Israels, für weltpolitische Konflikte verantwortlich. Diese Linksextremisten stehen daher fest an der Seite von "antiimperialistischen Befreiungsbewegungen" etwa in Südamerika oder in der arabischen Welt. Im Unterschied zu den Antideutschen solidarisieren sich Antiimperialisten besonders mit dem von der Palestine Liberation Organization (PLO, Palästinensische Befreiungsorganisation) im Jahr 1988 ausgerufenen Staat Palästina und agitieren gegen Israel. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 177 LINKSEXTREMISMUS Antideutsche | Antideutsche zeigen sich dagegen wegen der deutschen Verantwortung am Holocaust uneingeschränkt solidarisch mit Israel, aber auch mit den USA als dessen militärischer Schutzmacht. Arabische Regimes und islamistische Organisationen bezeichnen die Antideutschen als "rechtsradikal" oder "islamfaschistisch". Militärische Aktionen gegen eine mögliche Bedrohung Israels sehen Antideutsche grundsätzlich als positiv an. Damit widersprechen Antideutsche dem "antimilitaristischen" und gegen den Krieg gerichteten Selbstverständnis anderer autonomer Strömungen. Einige Autonome werfen Antideutschen daher "Kriegstreiberei" vor. Ferner sprechen Antideutsche der deutschen Nation mit Verweis auf den Holocaust die Existenzberechtigung ab. Den Antiimperialisten unterstellen sie - ebenso wie dem deutschen Volk im Allgemeinen - antizionistische und antisemitische Einstellungen. Antinationale | Mit den Antinationalen entwickelte sich spätestens seit 2006 bundesweit eine dritte ideologische Ausrichtung, die phasenweise in der autonomen Szene in Hessen prägend war und weiterhin präsent ist. Die Positionen der Antinationalen liegen zwischen Antiimperialisten und Antideutschen, sind jedoch den letzteren näher. Aus Sicht der Antinationalen ist jeder Staat im "Kapitalismus" zwangsläufig "imperialistisch". Kriege seien nur "Ausdruck der notwendigen Konflikte" im "kapitalistischen System", da die jeweiligen staatlichen Interessen gegenüber der globalen Konkurrenz durchgesetzt werden müssten. Die Antinationalen lehnen jedoch die einseitig positive Bezugnahme der Antiimperialisten auf revolutionäre "Befreiungsbewegungen" in der Dritten Welt ab, da diese letztlich auch nur nationalistische Ziele verfolgten und häufig reaktionäre Ideologien verträten, die es aus "antifaschistischer" Perspektive zu bekämpfen gelte. Dies trifft aus Sicht der Antinationalen insbesondere auf islamistische Gruppen zu. Den Antideutschen wiederum werfen Antinationale eine zu starke Fixierung auf den "historischen Sonderweg" Deutschlands und den daraus nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Staat Israel sowie eine Gleichsetzung von Islam und Islamismus vor. Zwar räumen Antinationale "Israel als Staat der Holocaustüberlebenden und als Schutzraum für die weltweit vom Antisemitismus bedrohten Jüdinnen und Juden" eine Sonderstellung ein, andererseits sehen sie in Israel - bei aller Solidarität mit dessen Volk - einen "kapitalistischen" Staat, der letztlich ebenso wie das gesamte Staatensystem abzuschaffen sei. 178 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS STRUKTUREN Wie in der Vergangenheit war Frankfurt am Main sowohl personell als auch strukturell der autonome Szeneschwerpunkt in Hessen. Weitere autonome Szenen gab es in den Universitätsstädten Kassel, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Gießen (Landkreis Gießen) und Darmstadt. AUF EINEN BLICK * Szeneschwerpunkt Frankfurt am Main * Regionale Szenen Szeneschwerpunkt Frankfurt am Main | Etwa die Hälfte aller Autonomen in Hessen war in Frankfurt am Main oder in den unmittelbar angrenzenden Kommunen (zum Beispiel Offenbach am Main) ansässig. Bundesweit gehörte Frankfurt am Main zu den Großstadtregionen mit einer kontinuierlichen Präsenz autonomer Zusammenhänge. Von anderen Szenen in Hessen unterschied sich der "harte Kern" der Szene in Frankfurt am Main durch seine bundesweite Vernetzung, das hohe Personenpotenzial auf engem Raum und eine weiterhin hohe Gewaltbereitschaft. Mit dem autonomen Szeneobjekt und ehemaligen Polizeigefängnis Klapperfeld verfügte die Szene in Frankfurt am Main über den bedeutendsten autonomen Anlaufpunkt in Hessen. Maßgeblich für die Träger des Klapperfelds waren nicht "die da draußen", sondern "wir, die Gegenkultur, hier drin". Ein Zweck des gesamten Gebäudes bestand für die linksextremistische Szene von Beginn an darin, ein "Symbol der Abgrenzung und der Gegenkultur" in einem zentralen Frankfurter Stadtteil zu etablieren. Darüber hinaus fungierten in Frankfurt am Main das Cafe ExZess, das Cafe KoZ und das Centro als wichtige Treffpunkte. Regionale Szenen | Die regionalen autonomen Szenen waren weiterhin aktiv und in örtlichen Gruppierungen und Strukturen, vor allem in den Ballungsräumen, organisiert. Erwähnenswert sind die Ortsgruppen der IL in Hessen (Darmstadt, Frankfurt am Main und Marburg). BEWERTUNG/AUSBLICK Aufgrund ihrer anhaltenden Fokussierung auf den "antifaschistischen Kampf" traten in der autonomen/anarchistischen Szene andere Themen wie zum Beispiel der "Antimilitarismus" und die Aktivitäten im Bereich der Klimaund Umweltschutzbewegung in den Hintergrund. Dies wurde besonders deutlich durch die Vielzahl von Outings, die Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 179 LINKSEXTREMISMUS sich im Vorfeld der hessischen Landtagswahl gegen Personen richteten, die Autonome/Anarchisten dem "rechten Lager" zuordneten. Ein Teil der autonomen/anarchistischen Szene in Hessen könnte für eine "Militanzdebatte", wie sie in anderen Ländern geführt wird, und damit verbundene Strafund Gewalttaten, zugänglich sein. Dort werden "Aktionen" gewalttätiger, stärker auf Personen anstatt auf Sachen ausgerichtet und "professioneller", wie vor allem die massiven Überfälle klandestin agierender Kleingruppen gegen Personen der rechtsextremistischen Szene zeigen. Eine Gesamtradikalisierung der autonomen/anarchistischen Szene mit entsprechenden "militanten Aktionen" ist in Hessen trotz des Anstiegs der Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten von 600 (2022) auf 720 jedoch weiterhin (noch) nicht zu beobachten. Straftaten in anderen Ländern deuten offenbar auf eine steigende Gewaltbereitschaft hin. Darüber hinaus agieren entsprechende Kleingruppen anscheinend ganz oder teilweise in Abspaltung von der restlichen Szene. Es gibt Hinweise, dass diese Akteure im anarchistischen Spektrum zu verorten sind, das heißt in der individualistischen Strömung, die auch als insurrektionalistisch bzw. aufständisch zu beschreiben ist. Angehörige dieser Szene sind offensichtlich bundesweit aktionsfähig, wobei die Zahl direkter "Aktionen" gegen Personen und Sachen im Vergleich mit den zurückliegenden Jahren zunahm. Die Qualität der Angriffe zeigt, dass sich die Täter teilweise offenbar über einen längeren Zeitraum mit ihren Angriffszielen und verschiedenen Tatoptionen beschäftigten. Gewalttätige "Aktionen" können sich insbesondere gegen politische Gegner richten mit der Absicht, den Betroffenen einen erheblichen Schaden zuzufügen. Autonome/Anarchisten behielten die für sie relevanten Themenfelder kontinuierlich im Fokus und besetzten diese - soweit nötig - zum Beispiel durch Veröffentlichungen. Grundsätzlich entspricht es der Strategie von Linksextremisten, bei gesellschaftlich strittigen Themen in "Protestbewegungen" einzusickern und dort zu versuchen, über eine gemeinsame Politisierung neue Anhänger zu gewinnen oder, wenn sich die Gelegenheit bietet, auf eine Radikalisierung der Aktionen und der politischen Ausrichtung hinzuwirken. Diesbezüglich spitzen Autonome/Anarchisten sich daraus ergebende Konflikte bei günstiger Gelegenheit bewusst zu, um vermeintlich "revolutionäre Momente" im Sinne der Entwicklung einer freien Gesellschaft der Individuen herbeizuführen. Entsprechend werden Autonome und Anarchisten auch in Zukunft politisch und in den Medien bedeutsame Themen aufgreifen und in ihrem Sinne instrumentalisieren. Da180 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS bei ist davon auszugehen, dass die linksextremistische Szene vor allem den "antifaschistischen Kampf" weiterhin nutzen wird, um politische Gegner anzugreifen und ihnen physisch und materiell zu schaden. SONSTIGE BEOBACHTUNGSOBJEKTE Neben autonomen und anarchistischen Gruppierungen gab es in Hessen im Berichtsjahr linksextremistische Parteien sowie Organisationen mit parteiähnlichem Charakter, die einen bedeutenden Teil des linksextremistischen Spektrums bildeten. Die wichtigsten von ihnen sind unten aufgeführt. AUF EINEN BLICK * Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Gründung in kommunistischer Tradition Strukturen - Mitgliederzahlen - Aktivitäten Bewertung/Ausblick * Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Jugendorganisation der DKP Strukturen - Mitgliederzahlen Aktivitäten Bewertung/Ausblick * Rote Hilfe e. V. (RH) Ideologie - Strukturen - Mitgliederzahlen "Rechtsberatung" für politisch motivierte Straftäter Bewertung * Aurora Räteaufbau (AR) Erstes Auftreten - Gründung in kommunistischer Tradition Gewaltbereitschaft - Kooperation mit anderen Gruppierungen Bewertung DEUTSCHE KOMMUNISTISCHE PARTEI (DKP) Gründung in kommunistischer Tradition | Die 1968 gegründete DKP versteht sich als "Partei der Arbeiterklasse und des wissenschaftlichen Sozialismus" in der Tradition der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), deren Mitbegründer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auch heute noch als ideologische Vorbilder der Partei propagandistisch verehrt werden. Das Ziel der DKP ist die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unter Realisierung des Machtanspruchs der Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 181 LINKSEXTREMISMUS "Arbeiterklasse". Dadurch soll der Weg zum Sozialismus mit einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft geebnet werden. Die DKP versteht sich als "Partei des Widerstandes gegen die sozialreaktionäre, antidemokratische und friedensgefährdende Politik der Herrschenden und [als] eine antifaschistische Partei; sie ist Partei des proletarischen Internationalismus". Strukturen - Mitgliederzahlen - Aktivitäten | Die DKP in Hessen gliederte sich offiziell in 15 Kreisorganisationen, denen rund 260 Personen zuzurechnen waren. Der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten lag in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau), Gießen (Landkreis Gießen) und Kassel. Diese Ortsverbände und die DKP Marburg-Biedenkopf publizierten ihre eigenen Kleinzeitungen. Die DKP Gießen veröffentlichte monatlich das Gießener Echo, die DKP Mörfelden-Walldorf die Monatszeitung blickpunkt. Dagegen gab die DKP Marburg-Biedenkopf im Berichtszeitraum nur eine Ausgabe des Marburger Echos heraus. Die Ortsverbände nutzten diese Kleinzeitungen, um über die eigenen Aktivitäten zu berichten und um kommunale und überregionale politische Themen zu kommentieren. So hieß es in einem Aufruf der DKP Darmstadt-Dieburg: "Die große Kriegskoalition in Berlin schraubt weiter an der Eskalation des Krieges gegen Russland. Und sie hält sich auch bei der Eskalation in Nahost nicht zurück". Darüber hinaus wollten die Kleinzeitungen mögliche Interessenten auf die DKP aufmerksam machen. Bei der hessischen Landtagswahl am 8. Oktober erhielt die DKP jedoch lediglich 0,1% (=2.229 Zweitstimmen). Bewertung/Ausblick | Die DKP blieb ihren traditionellen Sichtweisen und Einstellungen verhaftet, was zu ihrer weiteren strukturellen Schwächung führte. Das Aufgreifen aktueller Themen zeitigte keine nachhaltige Resonanz. Das Ergebnis der hessischen Landtagswahl 182 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS verdeutlicht, dass die DKP mit ihren traditionellen Themen kaum Wähler für sich zu gewinnen vermochte. Als ideologische Vordenkerin für die Verwirklichung des Sozialismus war die Partei in der linksextremistischen Szene jedoch nach wie vor etabliert. SOZIALISTISCHE DEUTSCHE ARBEITERJUGEND (SDAJ) Jugendorganisation der DKP | Die mit der DKP eng verbundene, formal aber von ihr unabhängige Jugendorganisation war in Hessen eigenen Angaben zufolge mit mehreren Ortsgruppen in folgenden Regionen aktiv: Landkreis Darmstadt-Dieburg, Frankenberg (Landkreis Waldeck-Frankenberg), Frankfurt am Main, Gießen (Landkreis Gießen), Landkreis Limburg-Weilburg, Marburg (Landkreis MarburgBiedenkopf), Mörfelden-Walldorf (Kreis GroßGerau) und Kassel. Strukturen - Mitgliederzahlen | Der SDAJ in Hessen waren - seit 2019 unverändert - rund 70 Personen zuzuordnen. Die Ortsgruppen unterschiedlicher Größe sollten die Einheit der SDAJ bei Aktionen stärken, um eine kollektive, bundesweite Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Das bedingte auch eine vernetzte Kommunikation der Ortsgruppen untereinander. Bildungsabende und Lesekreise vervollständigten ihr Handeln und stärkten den Zusammenhalt der Mitglieder. Auch unterstützte die SDAJ Hessen die DKP regelmäßig bei Veranstaltungen; außerdem kandidierten Mitglieder der SDAJ auf der Landesliste der DKP zur hessischen Landtagswahl. Aktivitäten | Im Berichtsjahr thematisierte die SDAJ unter anderem den Weltfrauentag, die Ostermärsche, den 1. Mai und "antifaschistische" Gedenktage und beteiligte sich an unterschiedlichen Kundgebungen von Nichtextremisten. Schwerpunkte der SDAJ-Aktivitäten bildeten erneut die Themenfelder "Antikapitalismus" und "Antimilitarismus". Damit versuchte die SDAJ vor allem Schüler, Auszubildende und Studierende für sich zu interessieren. Wie in der Vergangenheit stand die Nachwuchswerbung der Bundeswehr im Fokus der Kritik der SDAJ. In diesem Kontext baute sie im Bereich einer Schule einen Informationsstand auf; darüber hinaus führte die SDAJ eine Kundgebung gegen das Rüstungsunternehmen Kraus-Maffei Wegmann GmbH & Co. KG sowie eine Solidaritätsbekundung für Beschäftigte des Universitätsklinikums Gießen und Marburg durch. Im Rahmen der Einführungswochen an hessischen Universitäten zum Semesterbeginn organisierte die SDAJ Vorträge und Informationsstände, um neue Mitglieder zu gewinnen. Durch Veranstaltungen, wie zum Beispiel das Sommerfest "Fiesta Moncada" Ende Juli, das die SDAJ-Ortsgruppe Marburg in Anlehnung an den kubanischen Nationalfeiertag ausrichtete, versuchte die Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 183 LINKSEXTREMISMUS Jugendorganisation die Zusammenarbeit mit anderen linksextremistischen Gruppierungen - auch aus dem gewaltbereiten autonomen Spektrum - zu intensivieren. Ein besonderer Fokus der SDAJ Hessen lag auf der Solidarität mit einem ihrer Mitglieder, das nach ihrer Auffassung "Opfer staatlicher Repression" wurde. Wegen eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und Landfriedensbruchs bei der Demonstration "Revolutionärer 1. Mai - Tag der Wut - Kampftag der Arbeiter:innenklasse" im Jahr 2021 in Frankfurt am Main hatte das AG Frankfurt am Main das SDAJ-Mitglied am 27. Mai zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen a 30 Euro verurteilt. Nachdem sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung hiergegen Berufung eingelegt hatten, verschärfte das LG Frankfurt am Main am 31. Januar 2024 das Urteil mit einer siebenmonatigen Bewährungsstrafe. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Wegen seiner Vorstrafe lehnte das Hessische Kultusministerium den Antrag des SDAJ-Mitglieds auf Zulassung zum Referendariat für das Lehramt an Gymnasien ab. Darin sahen die DKP und die SDAJ eine Fortführung bzw. Wiederbelebung des "Radikalenerlasses" aus den 1970er Jahren, das heißt ein "Berufsverbot". Entsprechend beteiligte sich die SDAJ an der Unterschriftenaktion "Luca muss Lehrer bleiben!" Bewertung/Ausblick | Seit Jahren versucht die SDAJ in Hessen durch Aktionen an Schulen wieder neue Mitglieder zu gewinnen. Auch fanden an Universitäten "Werbungsmaßnahmen" und Treffen statt. Dabei wollte sich die SDAJ die häufige politische Unerfahrenheit von Heranwachsenden zunutze machen, um diese für sich zu interessieren, zu indoktrinieren und sie langfristig in eigenen Strukturen einzubinden. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die SDAJ weiterhin Aktionen an Schulen und Universitäten durchführen wird. ROTE HILFE E. V. (RH) Ideologie - Strukturen - Mitgliederzahlen | In Anlehnung an die 1924 in der Weimarer Republik von der KPD gegründete Rote Hilfe Deutschlands (RHD) versteht sich die RH laut ihrer Satzung als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation". Sie bezeichnet die Bundesrepublik Deutschland als ein "nationalstaatlich fixiertes, bürgerlich kapitalistisches Herrschaftssystem, das von unterschiedlichen Unterdrückungsmechanismen (wie Rassismus oder Sexismus) strukturiert und geprägt" werde. In Hessen verfügte die RH über Ortsgruppen in Darmstadt, Frankfurt am Main, Kassel, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) Gießen 184 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS (Landkreis Gießen) und Wiesbaden. Im Zusammenhang mit angeblichen "Verbotsprüfungen" der Organisation gelang es der RH, ihre Mitgliederzahl in Hessen erheblich zu steigern. Die Steigerung der Mitgliederzahl ist überdies ein Resultat medienwirksamer Ereignisse wie der strafrechtlichen Prozesse gegen Lina E., gegen das Netzwerk Antifa-Ost sowie Klimaschutzaktivisten. Der RH gehörten in Hessen etwa 1.200 Personen an. "Rechtsberatung" für politisch motivierte Straftäter | Die maßgeblich von Linksextremisten verschiedener Richtungen getragene RH unterstützt seit den 1970er Jahren inhaftierte bzw. inzwischen aus der Haft entlassene Straftäter. Neben politischer und finanzieller Hilfe versuchte die RH darüber hinaus mittels "Rechtsberatung" Personen, die politisch motivierte Straftaten begingen, der staatlichen Strafverfolgung zu entziehen oder sie bei ihren Verfahren zu unterstützen. Die RH empfahl daher den "Genoss_innen" die "konsequente Aussageverweigerung" als "beste Strategie im Umgang mit Repressionsbehörden". Die RH-Ortsgruppe Frankfurt am Main begleitete im Berichtsjahr bei Strafprozessen vorwiegend Angeklagte, die unter anderem linksextremistischen Gruppierungen zuzurechnen waren. Auf ihrer Homepage wies die RH auf anstehende Prozesse hin und rief Sympathisanten dazu auf, sich solidarisch mit den Angeklagten zu zeigen. Anlässlich des Prozesses gegen Lina E. und drei weitere Angeklagte vor dem OLG Dresden (Sachsen) rief die RH unter dem Motto "Free Lina - Free them all! Unsere Solidarität gegen ihre Repression" zu einer Spendenkampagne auf. Nach der Urteilsverkündung veröffentlichte der RH-Bundesvorstand auf seiner Internetseite einen Beitrag, worin es hieß: Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 185 LINKSEXTREMISMUS ",Mit diesem Urteil werden alle Antifaschist*innen kriminalisiert, es stellt eine klare Verschärfung der politischen Justiz dar. Daher rufen wir alle Menschen und Initiativen, die sich auf unterschiedlichsten Wegen gegen den Rechtruck in der Gesellschaft und den Nazi-Terror auf der Straße engagieren dazu auf, sich mit den heute Verurteilten zu solidarisieren und gegen die gesamte Prozessführung und die Urteile zu protestieren. Wir versichern ihnen unsere Solidarität und fordern ihre sofortige Freilassung.'" Anfang September erschien auf der linksextremistischen Internetplattform de.indymedia.org ein Beitrag, in dem der Polizei in Frankfurt am Main ein vermeintlicher "Repressionsskandal" vorgeworfen wurde. Eine Person namens "Jule Liebig" sei demnach regelmäßig von der Polizei kontrolliert und observiert worden. Die Betroffene sei als Pressesprecherin in verschiedenen "linken Projekten" aktiv und solle von der Polizei unter Druck gesetzt worden sein. In diesem Zusammenhang rief die RH-Ortsgruppe Frankfurt am Main bundesweit zu einer Demonstration ("Lasst Jule in Ruhe!") am 23. September in Frankfurt am Main auf, zu der etwa 180 Personen kamen. Dabei wurden pyrotechnische Gegenstände abgebrannt, verschiedene Fahnen der linksextremistischen "antifaschistischen" Szene und der türkischen linksextremistischen Jugendorganisation Young Struggle gezeigt. Bewertung | Die RH nimmt eine wichtige Stellung im Phänomenbereich Linksextremismus ein. Sie schafft einen Bezugsrahmen, das heißt Erwartungen, Festlegungen, Deutungsmuster und Bewertungen, für linksextremistische Aktivitäten und unterstützt auch die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele. In der linksextremistischen Szene genießt die RH ein hohes Ansehen für ihre "Solidaritätsund Antirepressionsarbeit" sowie für die Unterstützungsleistungen in juristischen Fällen. Linksextremisten des organisierten Spektrums dürften mit der Mitgliedschaft in der RH auch eigene politische Ziele verfolgen, während für Angehörige des gewaltorientierten linksextremistischen Spektrums vermutlich der Schutz vor "Repression" im Vordergrund steht. AURORA RÄTEAUFBAU (AR) Erstes Auftreten - Gründung in kommunistischer Tradition | Im Rahmen der Veranstaltungen zum 1. Mai 2021 in Frankfurt am Main trat der AR erstmals öffentlich in Erscheinung, indem er sich an der Organisation der zum Teil gewalttätigen Demonstration "Tag der Wut" beteiligte. Seitdem nahm der AR regelmäßig an Demonstrationen in Frankfurt am Main teil und richtete eigene Veranstaltungen aus. 186 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS Auf seiner Homepage veröffentlichte der AR im Dezember 2021 eine Art Manifest, worin er sein politisches Selbstverständnis dokumentierte. Demzufolge ist sein Anspruch "nicht weniger als die Revolution: ein radikaler Bruch und die Umwälzung des Bestehenden. [...] Wir müssen überall dort sein, wo gekämpft wird, die Initiative der Masse aufnehmen um eins mit ihr werden". Langfristig sei es das Ziel, eine "Sammlungsbewegung revolutionärer Kräfte" aufzubauen, in der eine "Strategie für den Aufstand, genauso wie Grundlagen für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft" erarbeitet und umgesetzt werden. Darüber hinaus heißt es im Selbstverständnis der Gruppierung: "Der demokratische Diskurs ist ein falsches Spiel, dessen einziges Ziel nur der Machterhalt". Aufgabe von "Revolutionärinnen" sei es, die "Feinde" zu "kennen" und zu "bekämpfen". Ziel müsse es sein, den "bürgerlichen Parlamentarismus nicht nur [zu] zerschlagen[,] sondern durch selbstverwaltete Rätestrukturen" zu ersetzen und letztlich eine "kommunistische Gesellschaft" zu schaffen. Wie die Revolution realisiert wird, überließ der AR der Vorstellung des Lesers, verwies zur Orientierung aber auf den sowjetischen Film "Oktober. Zehn Tage, die die Welt erschütterten" von Sergej Eisenstein sowie den Text "Vom Protest zum Widerstand" von Ulrike Meinhof. Der Film erschien 1928 in der Sowjetunion und glorifizierte die russische Oktoberrevolution von 1917. "Vom Protest zum Widerstand" wurde 1968 in der Zeitschrift Konkret veröffentlicht und sollte im Kontext der Proteste der Studentenbewegung der Legitimation begrenzter Gewaltanwendung dienen. Auch an anderen Stellen seines Selbstverständnisses verwies der AR auf Texte, Musik und Kunst der kommunistischen Bewegung. Damit orientierte sich der AR am Marxismus-Leninismus und stellte sich "bewusst in die Geschichte der revolutionären Bewegungen". Die Namensbestandteile des AR besitzen im orthodoxen Kommunismus eine eigenständige Bedeutung: Die aufgehende, rote Sonne - personifiziert in der römischen Göttin Aurora - ist das Zeichen für den Anbruch einer neuen Zeit. Aurora hieß zudem der russische Panzerkreuzer, der mit dem Abfeuern einer seiner Kanonen das Signal für den Angriff der Bolschewiki auf den Winterpalast des Zaren in St. Petersburg und damit die Oktoberrevolution 1917 gab. Der zweite Namensbestand bezieht sich auf das Rätesystem, so wie es etwa während der Pariser Kommune (1871) und in Deutschland im Rahmen der Novemberrevolution 1918 für kurze Zeit bestand. Gewaltbereitschaft - Kooperation mit anderen Gruppierungen | Bei Demonstrationen trat der AR häufig als eigenständiger Block auf, begleitet von Trommlern und Personen mit Megaphon. VeröffentlichunHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 187 LINKSEXTREMISMUS gen der Gruppierung, vor allem im Vorfeld von Demonstrationen, waren von einer aggressiven, kämpferischen Sprache geprägt, womit Gewaltbereitschaft verdeutlicht werden sollte. Zu Gewalt aus dem Block des AR heraus kam es bislang lediglich im Rahmen der 1.-MaiDemonstration 2021. Am 22. April 2023 schloss sich der AR mit anderen Gruppierungen unter dem Dach des Revolutionären Aufbaus Rhein-Main zusammen. Schon zuvor hatte eine enge Kooperation zwischen den Gruppen bestanden. So unterhielten sie ein eigenes "Infoportal", auf dem vorwiegend über ihre Aktivitäten berichtet und Beiträge anderer linksextremistischer Internetplattformen wie etwa de.indymedia.org gespiegelt wurden. Bewertung | Dem AR gelingt es, für Veranstaltungen seine Kräfte aus dem autonomen Spektrum kurzfristig zu bündeln und einen Rahmen für linksextremistische Aktivitäten zu schaffen. Jedoch ist bislang keine nachhaltige Stärkung der Organisation zwecks Durchsetzung ihrer politischen Ziele - auch unter der Befürwortung von Gewalt - feststellbar. Die Zusammenarbeit unter der neuen Dachorganisation entspricht der Strategie von Linksextremisten, über eine gemeinsame Politisierung neue Anhänger zu gewinnen. LINKSEXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN Die Gesamtzahl der linksextremistischen Strafund Gewalttaten stieg erheblich von 79 (2022) auf 138 im Berichtsjahr an. Während bei den Kapitalund Gewaltdelikten keine signifikanten Abweichungen festzustellen waren, nahmen Sachbeschädigungen sowie "andere Straftaten", worunter insbesondere Verstöße gegen das Hessische Versammlungsfreiheitsgesetz, Landfriedensbruch sowie Beleidigungen fielen, erheblich zu. Die Agitation der linksextremistischen Szene im Zusammenhang mit den Landtagswahlen führte im Bereich der Sachbeschädigungen zu erheblichen Auswirkungen. Auch wenn sich die Gewaltbereitschaft des linksextremistischen Personenpotenzials nicht unmittelbar gegen den politischen Gegner richtete, sank die Hemmschwelle zur Ausübung von Straftaten wie der Beschädigung von Wahlplakaten und Liegenschaften. 188 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 LINKSEXTREMISMUS Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 189 LINKSEXTREMISMUS 190 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS - MERKMALE - ISLAMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL - SALAFISMUS - LEGALISTISCHER ISLAMISMUS - SONSTIGE BEOBACHTUNGSOBJEKTE - ISLAMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN ISLAMISMUS MERKMALE Der Islam als Religion wird vom Verfassungsschutz nicht beobachtet. Muslime genießen - wie Anhänger aller anderen Religionen auch - in Deutschland das Grundrecht auf Religionsfreiheit nach Art. 4 GG. Unter Islamismus wird eine politische Ideologie verstanden, deren Zweck es ist, die bestehende Gesellschaftsordnung nach islamischen Vorstellungen vollständig zu verändern und deren Rechtsgrundlagen, Werte und Herrschaftsordnungen entscheidend umzugestalten oder gänzlich abzuschaffen. Um islamistische Bestrebungen handelt es sich, wenn das Handeln von Personen in einem oder für einen Personenzusammenschluss zielund zweckgerichtet danach ausgerichtet ist, gesellschaftliche und institutionalisierte Bereiche unter Berufung auf den Islam grundlegend und nachhaltig umzugestalten. Auf diese Weise zielen islamistische Bestrebungen darauf ab, einen oder mehrere zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehörende Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Dies kann mittels Gewaltanwendung oder Nutzung legaler Mittel geschehen. Diese Bestrebungen gründen sich auf einem Islamverständnis, das islamische Glaubensquellen und andere bedeutsame Überlieferungen in eigener Weise interpretiert. Islamistische Lesarten erheben dabei den Anspruch, eine allgemeinverbindliche Form des Islams erkannt zu haben und dessen Einhaltung diktieren zu können. AUF EINEN BLICK * Verfassungsfeindlichkeit des Islamismus * Entstehung des Islamismus * Ziele im Islamismus * Formen des Islamismus * Antisemitismus als verbindendes Element im Islamismus Verfassungsfeindlichkeit des Islamismus | Die totalitäre Veränderung einer Gesellschaft nach islamistischen Vorstellungen widerspricht elementar den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und dem demokratischen Gefüge generell: Rechtsstaatlichkeit sowie unveräußerliche Menschenund Bürgerrechte sollen vollständig überwunden werden. Das politische System einer demokratisch legitimierten Volksvertretung würde durch eine totalitär agierende Theokratie ersetzt werden, die von der rechtmäßig gewählten Legislative verabschiedeten Gesetze müssten einem sogenannten göttlichen Recht weichen. 192 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS Islamisten sind nicht auf Reformen bedacht, um im Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung friedlich in einer pluralistischen Gesellschaft zu leben, sondern streben nach einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse. Dabei verüben gewaltbereite Islamisten auch terroristische Gewalttaten. Die Mehrheit der Islamisten in Hessen, oft in Vereinen organisiert, nutzt weitaus subtilere Mittel: Sie strebt nach einflussreichen Positionen und versucht, ihre Interessen durch das Eindringen in relevante Bereiche von Politik und Gesellschaft zu vertreten. Entstehung des Islamismus | Der Islamismus nach heutigem Verständnis entwickelte sich im Nahen und Mittleren Osten des späten 18. und 19. Jahrhunderts als Gegenreaktion auf lokale Herrschaftsverhältnisse und als Reaktion auf den europäischen Kolonialismus: In zahlreichen islamisch geprägten Ländern versuchten Gruppierungen unterschiedlichsten Herkommens, sich gegen Benachteiligungen und Repressionen der Kolonialmächte zu wehren. Aus einer Wiederbelebung der islamischen Identität erhofften sich insbesondere Islamisten ein Erstarken ihrer Religion. Sie verbanden damit eine Universallösung für sämtliche gesellschaftliche Probleme. Nach islamistischer Auffassung würde erst das Überwinden "unislamischer" Herrscher den Weg ebnen, an "glorreiche Zeiten" des Frühislams anzuknüpfen, die Machtverhältnisse neu zu bestimmen und alle Muslime in eine Weltgemeinde zu führen. Ziele im Islamismus | Trotz unterschiedlicher Entwicklung ist islamistischen Bewegungen ein ideologischer Kern gemeinsam: Die Vorstellung, sämtliche Probleme der Gegenwart durch eine Rückkehr zu einer idealisierten islamischen Frühzeit zu heilen und auf diese Weise eine universelle Ordnung zu schaffen, die dem Islam und seiner Glaubensgemeinschaft den höchsten Stellenwert einräumt. Für Gegenwart und Zukunft soll der Islam die allein gültige gesellschaftliche und rechtliche Norm bilden. Islamisten akzeptieren in der Regel somit nur den Koran und die überlieferte Prophetentradition (Sunna) als Grundlage für islamrechtliche Entscheidungen und Regelungen. Darüber hinaus brandmarken Islamisten die Standpunkte der etablierten islamischen Rechtsschulen als ungültige Veränderungen des Islams oder interpretieren diese Positionen zugunsten der eigenen islamistischen Auffassungen. Dabei reduzieren sich die Mittel und Methoden vieler Islamisten zur Rechtsfindung auf wenige frühislamische Prinzipien. Nach der Auffassung von Islamisten soll der Rückgriff auf ursprüngliche islamische Quellen Antworten auf die Probleme und FragestelHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 193 ISLAMISMUS lungen der Moderne geben. Dies bildet den Ausgangspunkt für islamistische Aktivitäten. Würden die islamistischen Ziele konsequent umgesetzt werden, hätte dies die weltweite Islamisierung, abhängig von der jeweiligen Ausprägung des Islamismus, zur Folge. Am Ende stünde ein religiös institutionalisierter Machtbereich, der als staatsähnliche Ordnung dem Kalifat vergangener Zeiten gleichen würde. Formen des Islamismus | Alle Islamisten eint das Ziel, einen islamistischen Gottesstaat zu errichten. Die Wahl der Mittel und die zugrundeliegende Strategie zur Erreichung dieses Ziels unterscheiden sich allerdings. Vor diesem Hintergrund zeigt sich der Islamismus auch in Deutschland - abhängig von Zeit und Ort - in vielfältigen Formen. Häufig übernehmen Islamisten die ideologischen Grundlagen der Kernbewegungen aus dem Ausland. Das Nutzen legaler Mittel in einer Demokratie, die aus islamistischer Sicht keine Gültigkeit besitzt, ist ein Wesensmerkmal dieser Form des Islamismus. Das hierzu gehörende Personenpotenzial wird mit der Bezeichnung "Legalisten" beschrieben, der Phänomenbereich selbst wird als "legalistischer Islamismus" bezeichnet. "Legalisten" wie etwa die Anhänger der Muslimbruderschaft (MB) versuchen im Einklang mit den in Deutschland geltenden Gesetzen ihren Einflussraum durch politische Teilhabe auszudehnen. Mittels kommunaler, regionaler, aber auch landespolitischer Aktivitäten sollen Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unterminiert und auf lange Sicht überwunden werden, um den eigenen islamistischen Interessen Rechnung zu tragen. Extremismusvorwürfe weisen "Legalisten" konsequent und selbstbewusst zurück und versehen sie mit dem Etikett "Islamfeindlichkeit". Eine weitere Form des Islamismus stellt der Salafismus dar. Dessen Anhänger sehen sich als Verfechter eines ursprünglichen, unverfälschten Islams und geben vor, ihre religiöse Praxis und Lebensführung ausschließlich an den Prinzipien des Korans, an dem Vorbild des Propheten Muhammad und an den ersten drei muslimischen Generationen, den sogenannten rechtschaffenen Altvorderen (arab. alsalaf al-salih), auszurichten. Das Handeln nach deren Vorbild betrifft dabei nicht nur religiöse Fragen, sondern wird ausgeweitet auf praktisch alle Lebensbereiche, auch auf Politik und Gesellschaft. Folglich versuchen Salafisten, einen Gottesstaat nach ihrer Auslegung der Regeln der Scharia zu errichten, in dem die freiheitliche demokratische Grundordnung keine Geltung mehr hätte. Zur Umsetzung ihrer Ziele greifen Salafisten auf unterschiedliche Mittel bis hin zur Gewaltanwendung zurück. Dabei wird unterschieden zwischen dem in erster Linie missionierenden politischen und dem gewalttätigen jihadistischen Salafismus. 194 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS Der weltweite gewaltorientierte Jihadismus überzeugt seine Anhänger in erster Linie durch seine klare Ideologie, die sowohl moralische als auch politische Feinde zum Schutz des "wahren" Islams und der gesamten islamischen Gemeinschaft (arab. umma) gnadenlos bekämpft. Auch andere islamistische Gruppen schrecken zwecks Durchsetzung ihrer Ziele nicht vor der Anwendung von Gewalt zurück. Sie nutzen Deutschland in der Regel als Rückzugsraum, zur Generierung von Geldern oder auch für logistische Zwecke, um die jeweilige Gruppierung im Herkunftsland zu unterstützen. Antisemitismus als verbindendes Element im Islamismus | Der Antisemitismus und die dazugehörenden Verschwörungsnarrative sind ein verbindendes Element im Islamismus und Kernbestandteil jeder islamistischen Ideologie. In Hessen sind verschiedene islamistische Organisationen aktiv, die ein antisemitisches Weltbild vertreten. Hierzu gehören zum Beispiel die MB, die Milli-Görüs-Bewegung sowie Anhänger der salafistischen Szene. Das Mobilisierungspotenzial antisemitischer Ressentiments wird vor allem dann deutlich, wenn der israelisch-palästinensische Konflikt eine Eskalation erfährt. Aber auch die jährliche al-Quds-Demonstration in Frankfurt am Main vermag Anhänger zu mobilisieren. Für islamistische Organisationen wie die HAMAS oder die Hizb Allah (Partei Gottes) stellt der Kampf gegen die Existenz Israels das wesentliche Ziel dar, das mit militärischen und terroristischen Mitteln erreicht werden soll. Für andere islamistische Gruppen ist der Staat Israel stets ein zentrales Feindbild. ISLAMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL1 Gegenüber dem vorherigen Berichtsjahr stieg das islamistische Personenpotenzial in Hessen von 3.865 auf 3.890 Personen, was aus einer Zunahme im Bereich des Salafismus resultierte. Nachdem die Zahl der Salafisten in Hessen seit 2021 tendenziell zurückgegangen war, erhöhte sich das Personenpotenzial nun leicht im Vergleich zum Vorjahr, blieb jedoch noch unter dem Personenpotenzial aus dem Berichtsjahr 2021. Seit Dezember 2022 kam es in Hessen zunehmend zu Vortragsveranstaltungen salafistischer Prediger; vor allem in der ersten Hälfte des Berichtsjahrs fanden zahlreiche Vortragsveranstaltungen sowohl etablierter salafistischer Prediger als auch hauptsächlich im Internet Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 195 ISLAMISMUS agierender Salafisten statt. Gleichwohl sich daraus kein unmittelbarer Bezug zum gestiegenen Personenpotenzial ableiten lässt, tragen entsprechende Aktionen zur Gewinnung und Mobilisierung von Anhängern bei. Hier gilt es zu beobachten, ob zunehmende öffentliche Veranstaltungen eine Trendwende bei der seit 2021 rückläufigen Zahl der Salafisten einläuten. Zudem war das Berichtsjahr von emotionalen Ereignissen wie Koranverbrennungen und der Eskalation des Nahostkonflikts geprägt. Islamisten nutzten diese Ereignisse, um von einem vermeintlichen globalen Kampf des "Westens" gegen Muslime zu sprechen. Mit dieser Propaganda wollten sie auch außerhalb der Szene Anschluss finden und neue Anhänger an sich binden. (Siehe im Glossar auch die Erläuterung zum Begriff Personenpotenzial.) SALAFISMUS DEFINITION/KERNDATEN Der Salafismus setzt sich ideologisch aus einer politischen und einer jihadistischen Bewegung zusammen. Salafisten propagieren die idealisierte Reislamisierung gemäß angeblich unverfälschter Werte im Einklang mit den Geboten Allahs. Das salafistische Ziel liegt in der Wiederentdeckung des "reinen Islams", seiner Erhaltung und universellen Ausdehnung. Im Diesseits ist nach salafistischer Auffassung eine gottgefällige Lebensweise nur möglich, wenn die Lebensweise des Propheten Muhammad eine Nachahmung erfährt und die göttlichen Regeln und Prinzipien beachtet werden. Ein Kalifat nach historischem Vorbild wird in diesem Zu196 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS sammenhang häufig als geeignete Option für ein solches Gesellschaftsmodell angesehen. AUF EINEN BLICK * Salafistisches Personenpotenzial * Politischer Salafismus * Jihadistischer Salafismus Salafistisches Personenpotenzial | Die Anhänger des Salafismus lassen sich in zwei Strömungen einteilen: Politische Salafisten und jihadistische Salafisten. Mit einem Personenpotenzial von etwa 1.400 stieg im Berichtsjahr in Hessen die Gesamtzahl der Salafisten leicht im Vergleich zum Vorjahr (1.370) an und blieb somit weiterhin besorgniserregend hoch. In Hessen gehörte etwas mehr als die Hälfte der Salafisten dem Spektrum des jihadistischen Salafismus an. Der Übergang zwischen dem politischen und jihadistischen Salafismus ist in der Regel fließend. Es ließ sich jedoch feststellen, dass sich Radikalisierungsverläufe sehr schnell vollzogen und zunehmend im Internet abspielten. Eine tiefergehende religiös-ideologische "Bildung" wurde durch den massenhaften Konsum jihadistischer Propaganda über das Internet abgelöst. Im Berichtszeitraum drängte die salafistische Szene deutlich stärker in die Öffentlichkeit als in den vergangenen Jahren. Auftritte prominenter salafistischer Prediger wirkten sinnstiftend für junge Salafisten und stärkten deren Einbindung in die Szene. Gleichzeitig boten die Veranstaltungen eine Möglichkeit zur Verbreitung der eigenen Ideologie unter dem Mantel der religiösen "Fortbildung". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 197 ISLAMISMUS Politischer Salafismus | Der politische Salafismus ist in der Regel von gewaltlosen Aktivitäten gekennzeichnet. Politische Salafisten sind missionarisch aktiv, indem sie die Bekehrung zum Islam und dessen Verbreitung (arab. da'wa) betreiben und auch Formen der religiösen Erziehung und der Beratung (arab. nasiha) nutzen. Auf diese Weise wollen politische Salafisten ihr Umfeld auf den angeblich wahren Weg Allahs zurückführen und zum Übertritt zum Islam nach ihrem Verständnis bekehren. Grundsätzlich meiden Salafisten das politische Engagement, um die Reinheit der Doktrin des tauhid (Monotheismus) zu erhalten und vor angeblich islamfremden Einflüssen zu schützen. Salafisten sind daher in Hessen weder parteipolitisch noch in vergleichbarer Form im öffentlichen Diskurs im Rahmen gesamtgesellschaftlicher Gestaltungsprozesse aktiv. Dennoch kann die salafistische Doktrin auf gesellschaftliche Bereiche einwirken und somit politischen Einfluss entwickeln. Der Einsatz von Gewalt ist bei politischen Salafisten nicht kategorisch auszuschließen, stellt jedoch im Unterschied zu den Anhängern des globalen Jihadismus nicht per se ihr bevorzugtes Mittel zur Veränderung der Verhältnisse dar. Jihadistischer Salafismus | Jihadistische Salafisten teilen zentrale Glaubensprinzipien des politischen Salafismus, leiten daraus jedoch Legitimationen für eigene Handlungsmuster ab. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal ergibt sich aus dem Verhältnis zur Gewalt. Der "Anstrengung für Allah" (arab. jihad) messen Jihadisten eine gewaltorientierte, aktiv kämpferische Komponente bei, die zur individuellen Glaubenspflicht erhoben wird und dadurch in ihrer Perspektive die Durchsetzung revolutionärer Zwecke rechtfertigt. Entgegen der Agenda des politischen Salafismus sehen Jihadisten primär in der Gewaltanwendung die Möglichkeit, "Tyrannen" und "Ungläubige" zu bekämpfen. Verhaftet in den islamischen Überlieferungen vom Tag des Jüngsten Gerichts, streben Jihadisten nach der Auslöschung aller "unislamischen" und "ungläubigen" Elemente, die sie in Regierungen, anderen Religionen und auch anderen islamischen Glaubensgemeinschaften verkörpert sehen. Der gewaltsame "kleine Jihad" besitzt in den ideologischen Auffassungen der verschiedenen Gruppen, die insgesamt den globalen Jihadismus bilden, unterschiedliche Formen und wird entsprechend vielfältig legitimiert und angewendet. Während der "kleine Jihad" den kämpferischen Einsatz zur Verteidigung oder Ausdehnung des islamischen Herrschaftsgebiets beschreibt, bezeichnet der "große Jihad" das geistig-spirituelle Bemühen der Gläubigen, das richtige religiöse und moralische Verhalten gegenüber Allah und den Mitmenschen einzulösen. 198 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN IM POLITISCHEN SALAFISMUS Das Berichtsjahr war geprägt durch zahlreiche Vortragsveranstaltungen szenebekannter salafistischer Prediger in Hessen, insbesondere im Rhein-Main-Gebiet und in Osthessen. Prediger aus anderen Bundesländern erfuhren in der salafistischen Szene in Hessen großen Zuspruch, was sich in entsprechend hohen Besucherzahlen widerspiegelte. Während überregionale Prediger auch über die salafistische Szene hinaus auf große Resonanz stießen und so in der Lage waren, die salafistische Ideologie weiter zu verbreiten, schotteten sich langjährige Szeneangehörige gegenüber nichtsalafistischen Muslimen eher ab. AUF EINEN BLICK * Salafistische Prediger in Hessen * Salafistische Moscheen * Da'wa-Aktionen * Salafistische Sozialisation Salafistische Prediger in Hessen | Vor allem aus anderen Bundesländern reisten szenebekannte Prediger nach Hessen; die Besucherzahlen erreichten dabei eine bis zu dreistellige Höhe. Dies stand in deutlichem Kontrast zu den Vorjahren. Neben der Bekanntheit der Prediger resultierten die hohen Besucherzahlen aus einer entsprechenden Werbung in den sozialen Medien. Waren solche Vortragsveranstaltungen bis in die Mitte der 2010er Jahre nicht ungewöhnlich gewesen, stellte die Entwicklung im Berichtsjahr für Hessen ein Novum dar. In den letzten Jahren waren Vortragsveranstaltungen, für die öffentlich geworben worden war, nahezu bedeutungslos. Relevante Prediger aus Hessen traten eher in geschlossenen Veranstaltungen vor Szeneangehörigen auf. Prediger aus anderen Bundesländern spielten in den letzten Jahren ebenso kaum eine Rolle. Ursächlich für diese Entwicklung war unter anderem, dass sich einzelne Personen und Gruppen um Auftritte überregionaler Prediger in Hessen bemühten. Hervorzuheben ist hierbei die Gruppierung Islamkenntnis, die bislang vor allem durch Street-Da'wa-Aktionen in Wiesbaden in Erscheinung getreten war. So organisierte und vermarktete die aus nur wenigen Mitgliedern bestehende Gruppe unter anderem zwei Wochenendseminare mit den in der Szene prominenten salafistischen Predigern Hassan Dabbagh (alias Abul Hussain) aus Sachsen, Wissam Kouli und Mohamed Benshain (alias Abu Jamal) aus Nordrhein-Westfalen sowie Ahmad Armih (alias Abul Baraa) aus Berlin. Hierfür hatte Islamkenntnis in den sozialen Medien geworben. Während die erste Veranstaltung im Januar, wie von den Organisatoren Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 199 ISLAMISMUS geplant, in Frankfurt am Main stattfand, wurde die zweite im Juli kurzfristig nach Mainz (Rheinland-Pfalz) verlegt, nachdem die Räumlichkeiten gekündigt worden waren. Vorausgegangen waren Medienberichte über den salafistischen Charakter des Treffens. Beide Veranstaltungen erreichten niedrige dreistellige Besucherzahlen. Salafistische Moscheen | Salafistische Moscheen mit herausgehobener Bedeutung für die Szene gab es in Hessen im Berichtsjahr nicht, wohl aber weiterhin salafistisch beeinflusste Moscheen. Diese entfalteten keine größere Außenwirkung, sondern dienten lediglich als Treffund Kontaktorte für Personen aus dem entsprechenden Spektrum. Die Anzahl öffentlicher Veranstaltungen, die auch Personen ansprachen, die nicht der Szene angehörten, nahm zu. Dagegen schotteten sich langjährige Szeneangehörige eher ab. Sie besuchten zwar nichtsalafistische Moscheen, verhielten sich dort aber in der Regel unauffällig und praktizierten ihren Glauben bevorzugt in geschlossenen Gruppen. Entsprechend gehörten langjährige Szeneangehörige nicht zur Zielgruppe der überregionalen Prediger bei ihren Auftritten in Hessen. Da'wa-Aktionen | Seit 2021 kam es in Hessen zunehmend zu Aktivitäten der salafistischen Szene im öffentlichen Raum, beginnend mit einer Zunahme der Street-Da'wa-Aktionen im Rhein-Main-Gebiet. Im Berichtsjahr gelang es Gruppen wie Was ist Islam? und Islam kennenlernen aus Frankfurt am Main jedoch nicht, an die bundesweiten Street-Da'wa Aktionen wie LIES! und We love Muhammad anzuknüpfen. Offenbar konnten sie vor allem den Kreis der aktiv beteiligten Personen nicht erweitern. Wegen der niedrigen Zahl ihrer Angehörigen war es für Was ist Islam? und Islam kennenlernen schwierig, regelmäßig in der Öffentlichkeit aufzutreten. Auch engagierte Auftritte in den sozialen Medien hatten eine nur geringe Strahlkraft, sodass auch hierüber wohl kaum eine Rekrutierung weiterer Personen gelang. Salafistische Sozialisation | Verschiedene Angebote aus dem salafistischen Spektrum offerierten muslimischen Kindern und Jugendlichen eine Möglichkeit, scheinbar unverfänglich mehr über den Islam zu erfahren: Neben klassischem Koranoder Sprachunterricht wurden teilweise auf Blogs, mittels Apps oder in den sozialen Medien Geschichten und Lernmodule angeboten, deren Inhalte meistens keinen islamistischen Bezug aufwiesen. Ziel solcher Angebote war es, zunächst einen Zugang zu Kindern und Jugendlichen zu gewinnen. Zum Beispiel war es möglich, Livevideos in Echtzeit zu kommentieren und damit in eine Interaktion mit den Predigern zu treten. Dadurch sollte der Eindruck von Seriosität und Vertrauenswürdigkeit geschaffen werden. Salafistische Prediger versuchten mittels ihrer Ansprachen an muslimische Kinder und Jugendliche den Grundstein 200 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS für eine Erweiterung ihres Anhängerkreises und die Verbreitung ihrer islamistischen Ideologie zu legen. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN IM JIHADISTISCHEN SALAFISMUS Der Islamische Staat (IS) baute seine Untergrundstrukturen in seinen ehemaligen Einflussgebieten im Mittleren Osten weiter aus und nutzte diese für Anschläge auf lokale Machthaber und staatliche Strukturen. Auch in Nordund Westafrika sowie in Asien waren Ableger des IS weiterhin aktiv, wobei sie einschlägige Propaganda verbreiteten und Anschläge begingen. In ihrer Propaganda nahmen jihadistische Organisationen zu aktuellen Ereignissen Stellung und riefen zu Anschlägen im "Westen" auf. Die Verfasser stammten dabei sowohl aus dem Lager von al-Qaida als auch dem des IS. Darüber hinaus waren in der Vergangenheit verübte Anschläge geeignet, radikalisierte, allein handelnde Täter weiterhin zu schwersten Straftaten zu motivieren. Europa einschließlich Deutschland befand sich unverändert im Zielspektrum jihadistischer Attentäter und terroristischer Organisationen. AUF EINEN BLICK * Exekutivmaßnahmen * Verurteilungen * Propaganda jihadistischer Gruppierungen * Frauen und Kinder im IS * Bundesweite jihadistische Anschlagsplanungen * Jihadistisch motivierte Anschläge Exekutivmaßnahmen | Kurz bevor er die deutsch-österreichische Grenze erreichte, nahm die Polizei am 8. März einen 18-Jährigen in der Nähe von Passau (Bayern) fest und stellte bei der Durchsuchung seiner Wohnung verschiedene Datenträger sicher. Der aus dem Hochtaunuskreis stammende Festgenommene wollte auf dem Landweg in den Irak ausreisen, um sich dort dem IS anzuschließen und um ihn im Kampf zu unterstützen. Bereits 2022 war die Wohnung des Beschuldigten im Zuge eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat mittels einer Schusswaffe durchsucht worden. Damals fand die Polizei Speichermedien, auf denen sich Darstellungen der IS-Flagge sowie Bilder von Kampfhandlungen und Exekutionen befanden. Im weiteren Verlauf der Ermittlungen ergaben sich Hinweise, dass der Beschuldigte seine auf Frankfurt am Main bezogene Anschlagsplanung aus Furcht vor Entdeckung zurückgestellt hatte. Zudem scheiterte der Erwerb einer Schusswaffe, da der Beschuldigte nicht über Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 201 ISLAMISMUS genügend Geldmittel verfügt hatte. Vor diesem Hintergrund wollte der Beschuldigte ausreisen. Ebenfalls am 8. März nahm die Polizei in Wiesbaden eine Person wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, das heißt der Ahfad-al-Rasul-Brigaden und des IS, fest. Zudem durchsuchte die Polizei die Wohnräume des Festgenommenen, der in Syrien im Herbst 2012 eine bewaffnete Kampfeinheit gegründet hatte. Mit dieser hatte er sich im November 2012 in die Ahfad-aRasul-Brigaden eingegliedert, ein Sprengstoffattentat auf eine staatliche syrische Einrichtung geplant und befehligt. Spätestens Ende 2013 war der Beschuldigte von den Ahfad-al-Rasul-Brigaden zum IS übergelaufen und hatte sich dort einer IS-Kampfeinheit angeschlossen, die gegnerische Kämpfer entführt und hingerichtet hatte. Er war außerdem ein Vertrauter eines Anführers der Einheit gewesen und hatte als "Emir" die Kontrolle über einen Checkpoint ausgeübt. Im Auftrag der Bundesanwaltschaft durchsuchte die Polizei am 31. Mai bundesweit 19 Objekte und nahm sieben mutmaßliche ISUnterstützer fest. Jene waren in das Finanzierungsnetzwerk des IS eingebunden, indem sie Spenden sammelten und diese an die Terrororganisation weiterleiteten. Darüber hinaus durchsuchte die Polizei bundesweit mehr als 90 weitere Objekte im Auftrag der jeweils zuständigen Generalstaatsanwaltschaft. Den meisten Beschuldigten wurde vorgeworfen, Geldzahlungen an den IS getätigt zu haben. In Hessen wurden die Wohnungen von 14 Personen in Wiesbaden, Frankfurt am Main, Kassel, Offenbach am Main und Darmstadt sowie im Hochtaunuskreis, Rheingau-Taunus-Kreis, Landkreis Offenbach und Kreis Groß-Gerau durchsucht. Hierbei stellte die Polizei insbesondere schriftliche Unterlagen, Datenträger, Kommunikationsmittel, Bargeld, Krypto-Wallets und Waffen sicher. Eine Person wurde beschuldigt, innerhalb des IS-Finanzierungsnetzwerks als Mittelsmann tätig gewesen zu sein. Die übrigen Beschuldigten standen im Verdacht, von 2020 bis 2022 insgesamt etwa 16.000 Euro an Personen des Spendennetzwerks überwiesen zu haben. Verurteilungen | Am 24. März verurteilte das OLG Frankfurt am Main eine 30-Jährige unter anderem wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an den ausländischen terroristischen Vereinigungen Jabhat alNusra und IS zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren unter Strafaussetzung zur Bewährung. Gemeinsam mit ihrem Ehemann war die Frau 2013 über die Türkei nach Syrien ausgereist. Dort schlossen sich beide zunächst Jabhat al-Nusra, 2014 dann dem IS an. Nachdem die Frau 2019 von kurdischen Einheiten festgenommen worden war, befand sie sich gemeinsam mit ihren Kindern bis 2022 in kurdischen Gefangenenlagern. Das strafgerichtliche Urteil ist rechtskräftig. 202 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS Am 17. Juli sprach das OLG Frankfurt am Main eine 33-Jährige unter anderem der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland schuldig und erkannte auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren unter Strafaussetzung zur Bewährung. Nach ihrer Ausreise zum IS lebte die Frau von 2016 bis 2017 mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern in Raqqa (Syrien). 2017 war sie zudem maßgeblich an einer Finanztransaktion aus Deutschland in das Herrschaftsgebiet des IS beteiligt gewesen. Die immer gefährlicher werdende Lage in Raqqa veranlasste die Frau, nach Hama (Syrien) zu gehen, um von dort mittels eines Schleusers das IS-Gebiet verlassen zu können. Nachdem ihr Ehemann 2017 bei einem Bombenangriff getötet worden war, blieb sie jedoch im IS-Territorium und heiratete ein anderes IS-Mitglied. Nach ihrer Flucht Ende 2018 ergab sie sich kurdischen Sicherheitskräften und lebte bis zu ihrer Rückführung nach Deutschland 2019 in dem von der autonomen kurdischen Selbstverwaltung geführten Flüchtlingslager alHawl (Syrien). Das strafgerichtliche Urteil ist rechtskräftig. Propaganda jihadistischer Gruppierungen | Die Nutzung des Internets ermöglicht es jihadistischen Gruppierungen, ihr Propagandamaterial mit geringem logistischen Aufwand weltweit zu verbreiten. Dies geschah im gesamten Jahr in einer hohen Schlagzahl, in verschiedenen Sprachen und in einer ansprechenden Gestaltung, sodass es möglich war, einen großen Adressatenkreis zu erreichen und einen Bezug zu den jeweiligen Staaten der "Ungläubigen" herzustellen. Zudem wurden Anleitungen für Anschläge und das Herstellen von Sprengstoff verbreitet. Indem sich die Jihadisten außerdem auf emotionalisierende Ereignisse bezogen, animierten sie allein handelnde Täter und lieferten ihnen eine religiöse Legitimation für ihre Verbrechen. Die Propaganda begünstigte auch die Mobilisierung (potenzieller) Kämpfer, Anhänger und Unterstützer. Daher blieb die Propaganda ein zentrales Thema für die Terrororganisationen. Die jihadistische Onlinepropaganda versuchte, Personen außerhalb der organisationsgebundenen Strukturen und der Netzwerke für Anschläge zu gewinnen. Weltweit waren Sympathisanten des Jihads in der Lage, sich mit detailliertem "Lehrmaterial" aus dem Internet selbst auszubilden und in ihren Heimatländern zu agieren, ohne unmittelbar in eine Terrororganisation eingebunden sein zu müssen. Dies umfasste sämtliche jihadistische Aktionsformen: Propaganda, Anwerbung, Spendenakquise, Spenden bis hin zu Anschlägen. Gerade Kommunikationsplattformen im Internet waren geeignete Mittel, um Propaganda zu verbreiten, sich zu vernetzen und Kontakte aufzubauen. Im Berichtsjahr spielten die Koranverbrennungen und -schändungen in Schweden, Dänemark und den Niederlanden eine zentrale Rolle Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 203 ISLAMISMUS in der Propaganda jihadistischer Organisationen. Viele Akteure griffen die Aktionen auf und nutzten sie, um den "Westen" zu diskreditieren und ihm Islamfeindlichkeit vorzuwerfen. Nach der ersten Koranverbrennung am 21. Januar in Schweden veröffentlichten IS-nahe Medienstellen unter der kämpferischen Parole "Religionskrieg und kein Handeln Einzelner" Bildcollagen mit Anschlagsaufrufen. Im Juli appellierte Kern-al-Qaida an die Muslime auf der ganzen Welt, sich für die Koranschändungen zu rächen und rief zu Anschlägen im "Westen" auf. Sowohl die Initiatoren der Koranverbrennungen als auch jeder, der zu den Koranschändungen beigetragen habe, solle getötet werden. Ebenso solle gegen die dahinterstehenden "kreuzzüglerischen" Systeme Krieg geführt werden. In ihrer Propaganda zogen der IS und al-Qaida immer wieder frühere Attentäter als Vorbilder heran. Seit Mai veröffentlichte die IS-nahe Medienstelle I'lam Foundation wieder deutschsprachige Propaganda, das heißt unter anderem Kurznachrichten und Übersetzungen von Bildcollagen auch mit längeren Texten. Im Juni rief der IS zum "medialen Jihad", auch in deutscher Sprache, auf. In zahlreichen Bildcollagen ermunterte er seine Anhänger dazu, die Produktion und Verbreitung von Propaganda im Onlinebereich voranzutreiben. Dabei setzte der IS den "medialen Jihad" in seiner Bedeutung mit dem unmittelbaren Kampf gleich. Das englischsprachige Propagandamagazin Voice of Khurasan, das von der Medienstelle al-Azaim des Islamischen Staats Provinz Khorasan (ISPK) herausgegeben wurde, bezeichnete LGBTQ als "Agenda des Teufels" und moralische Aggression der Ungläubigen des "Westens". Als Beispiel wurde die Gründung einer homosexuellenfreundlichen Moschee in Berlin genannt und hierdurch ein unmittelbarer Bezug zu Deutschland hergestellt. Die Moschee wurde als "Ort der Verehrung von Teufeln" bezeichnet, da Männer und Frauen gemeinsam beten würden und Vollverschleierung verboten sei. Weiter behauptete das Propagandamagazin, dass nur der "Islam und der Jihad" die Menschheit vor dem "moralischen Untergang" bewahren könnten. Frauen und Kinder im IS | Frauen sowie zahlreiche Kinder und Jugendliche, die zum Teil im ehemaligen Herrschaftsgebiet des IS geboren wurden oder dorthin mit ihren Eltern ausgereist waren, gerieten im Zuge der Zerschlagung des "Kalifats" in Gefangenschaft der Anti-IS-Allianz. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass viele dieser Personen Traumatisierungen erlitten bzw. psychisch belastende Erfahrungen mit Krieg und Gewalt gemacht haben. Aufgrund der Größe der Lager, mit teilweise zehntausenden Personen - hauptsächlich Frauen und Kinder -, konnten die Sicher204 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS heitskräfte die dort untergebrachten Personen nur schwer kontrollieren. Hieraus ergab sich die Gefahr einer fortgesetzten oder sich sogar verstärkenden Radikalisierung und Indoktrination der Bewohner, insbesondere der leicht zu beeinflussenden Kinder, im Sinne der Ideologie des IS. Da diese Personen bei einer Rückkehr nach Deutschland eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen können, befassen sich deutsche (Sicherheits-)Behörden intensiv mit der Rückkehrerproblematik, insbesondere in Bezug auf jihadistische Frauen und deren Kinder, die sich in Gefangenschaft befinden bzw. befanden. Während es in den vergangenen Jahren mehrfach zu Rückführungen von Frauen und Kindern nach Hessen kam, war dies im Berichtsjahr nicht der Fall. Angehörige der salafistischen Szene riefen zur Unterstützung von "Glaubensschwestern" in den Camps in Nordostsyrien auf. Hieraus bildeten sich verschiedene Spendensammelaktionen, über die teilweise erhebliche Beträge generiert wurden. Die Spendensammlungen wurden dabei als humanitäre Unterstützungsleistung zu Unrecht festgehaltener Frauen oder zur Milderung einer nicht gerechtfertigten Bestrafung der Frauen dargestellt. Aufgrund der im Internet und in den sozialen Medien beschriebenen Lebensbedingungen in den Camps fanden diese Aktionen auch außerhalb islamistischer Kreise Unterstützung und trugen so zur Verbreitung salafistischer Inhalte bei. Bundesweite jihadistische Anschlagsplanungen | Am 6. Juli nahm die Polizei im Auftrag der Bundesanwaltschaft sieben Personen in Nordrhein-Westfalen fest. Zeitgleich wurden in den Niederlanden zwei weitere Personen in Gewahrsam genommen. Die Beschuldigten waren kurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine nach Deutschland eingereist. Ende Juni 2022 schlossen sie sich hier zu einer terroristischen Vereinigung mit dem Ziel zusammen, in Deutschland Anschläge im Sinne des IS zu verüben. Die Gruppierung stand in Kontakt mit sich im Ausland aufhältlichen Mitgliedern des regionalen IS-Ablegers ISPK. Zur Umsetzung ihres Vorhabens fassten die Beschuldigten bereits Anschlagsobjekte in Deutschland ins Auge, kundschafteten mögliche Tatorte aus und versuchten, sich Waffen zu beschaffen. Ein konkreter Anschlagsplan bestand allerdings noch nicht. Sechs der sieben Beschuldigten sammelten zudem seit April 2022 Geld für den IS und transferierten dieses wiederholt zu der Terrororganisation ins Ausland. Am 24. Dezember nahm die Polizei fünf Personen in NordrheinWestfalen fest, eine Person verblieb zur Gefahrenabwehr in Haft. Den Festgenommenen wurde vorgeworfen, an Silvester einen Anschlag Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 205 ISLAMISMUS offenbar im Sinne des ISPK mittels eines Fahrzeugs in Köln geplant zu haben. Aufgrund ihrer Verbindungen zu der inhaftierten Person setzte die Polizei am 31. Dezember vier weitere Personen fest, eine verblieb in Sicherungsgewahrsam. Jihadistisch motivierte Anschläge | Europa und somit auch Deutschland befanden sich unverändert im Zielspektrum jihadistischer Attentäter und terroristischer Organisationen: * Duisburg (Nordrhein-Westfalen), 9. und 18. April: Am 9. April stach ein Mann mit einem Messer auf sein Opfer ein, das noch am selben Tag verstarb. Der zunächst nicht gefasste Täter attackierte am 18. April in einem Fitnessstudio vier Personen mit einem Messer, wobei drei lebensbedrohlich verletzt wurden. Nach der Verhaftung des Täters übernahm die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen. Beide Taten wurden in einen Zusammenhang gestellt und Anklage wegen mutmaßlich islamistisch motivierter Angriffe erhoben. * Arras (Frankreich), 13. Oktober: In einer Schule erstach ein junger Mann einen Lehrer, mehrere Menschen verletzte er schwer. Der Täter rief laut Zeugen beim Angriff "Allahu Akbar". Er war den Sicherheitsbehörden als Gefährder bekannt und war erst tags zuvor kontrolliert worden. Die Antiterrorstaatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein. * Brüssel (Belgien), 16. Oktober: Auf dem Weg zu einem Fußballspiel erschoss ein Mann zwei schwedische Fußballfans und verletzte einen Taxifahrer. Kurz nach der Tat veröffentlichte der Angreifer ein Video in den sozialen Medien, in dem er sich der Tat rühmte. Am folgenden Tag erschoss die Polizei den Attentäter. Die Behörden stuften die Tat als Terroranschlag ein. * Paris (Frankreich), 2. Dezember: In der Nähe des Eifelturms erstach ein Angreifer einen deutschen Staatsbürger und verletzte während seiner Flucht vor der Polizei zwei weitere Personen unter anderem mit einem Hammer. Am folgenden Tag machte der Täter in einem auf der Plattform X (früher Twitter) veröffentlichten Video Frankreich für die Lage im Nahen Osten mitverantwortlich und bekannte sich zum IS. Der Täter war den französischen Sicherheitsbehörden bekannt. 2016 war er zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er einen Gewaltakt geplant hatte. Die Behörden nahmen Ermittlungen wegen Mordes mit terroristischem Hintergrund auf. Auch außerhalb Europas kam es im Berichtsjahr zu Anschlägen und Angriffen durch islamistische Einzeltäter oder Gruppierungen. Hierzu gehören folgende Anschläge: * Peschawar (Pakistan), 30. Januar: Bei dem Anschlag eines Selbstmordattentäters in einer Moschee starben mindestens 95 Personen, mehr als 220 wurden verletzt. Der Angriff ereignete 206 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS sich während des Mittagsgebets in einer Hochsicherheitszone, in der sich auch viele Polizeigebäude befinden. Medienberichten zufolge bekannten sich die Tehrik-i-Taleban Pakistan (TTP), die pakistanischen Taleban, zu dem Anschlag. * Mogadischu (Somalia), 24. Juli: Bei einem Selbstmordattentat kamen bis zu 30 Soldaten ums Leben, mehr als 70 wurden verletzt. Der Attentäter hatte sich in einer Akademie der Armee in die Luft gesprengt, als dort ein Zählappell stattfand. Die Terrormiliz Harakat al-Shabab al Mujahidin (al-Shabab) bekannte sich zu dem Angriff. * Provinz Khyber Pakhtunkhwa (Pakistan), 30. Juli: Bei einem Bombenanschlag während einer politischen Veranstaltung starben mindestens 46 Personen, mehr als 150 wurden verletzt. Der IS reklamierte den Selbstmordanschlag für sich. ENTSTEHUNG/ENTWICKLUNG Salafisten glorifizieren die Ära des Propheten Muhammad und der ersten drei Generationen der Muslime (etwa 610 bis 850) als Zeitalter des unverfälschten Islams ("goldene Epoche"). In rigider Form stellen Salafisten Allah als Ursprung und Zentrum aller rechtlichen und moralischen Fragen in den Mittelpunkt ihres Glaubens. Dabei ist die salafistische Szene durch zum Teil erhebliche Differenzen im Auslegen und Ausleben ihres Islamverständnisses gekennzeichnet. AUF EINEN BLICK * Wahhabitische Lesart des Islams * Salafisten ohne "klassische" Ausbildung Wahhabitische Lesart des Islams | In Deutschland waren salafistische Prediger etwa seit 2002 aktiv und bauten überregionale Missionierungsnetzwerke auf. Einige Prediger dieser ersten Generation erhielten ihre religiöse Ausbildung an Universitäten in Saudi-Arabien. Dies spiegelte sich teilweise in ihrer Interpretation der islamischen Glaubenslehre nach wahhabitischer Lesart wider, was allerdings nicht bedeutet, dass sie gegenüber dem saudischen Königshaus Loyalität zeigten. Salafistische Akteure in Deutschland beriefen sich vielmehr auf verschiedene Gelehrte und vertraten daher unterschiedliche Positionen, etwa in Bezug auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Anwendung von Gewalt erlaubt ist. Salafisten ohne "klassische" Ausbildung | Anders als einige Prediger der ersten Generation erhielt die wachsende Anzahl der gegenwärtigen Unterstützer und Sympathisanten des Salafismus oft keine religiöse Ausbildung an Universitäten, sondern schöpft ihr "Wissen" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 207 ISLAMISMUS aus Islamseminaren in Deutschland und aus dem Internet. Mittlerweile haben es einige dieser Salafisten ohne "klassische" Ausbildung geschafft, auch überregional als wichtige religiöse Instanzen wahrgenommen zu werden. In Teilen der salafistischen Szene sind diese Personen jedoch wegen ihrer fehlenden formalen Bildung umstritten. IDEOLOGIE/ZIELE Der Salafismus stellt innerhalb des Islamismus eine Strömung dar, die sich insbesondere durch ihre doktrinäre Auffassung des Islams hervorhebt. Die regional verhaftete, streng konservative sunnitische Islamauslegung des Wahhabismus beeinflusste die zeitgenössische salafistische Doktrin nachhaltig. Die salafistische Glaubenslehre (arab. 'aqida) absorbierte etliche wahhabitische Glaubensgrundsätze und ergänzte diese um eigene theologische Elemente. AUF EINEN BLICK * Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams * Strikter Monotheismus im Zentrum der salafistischen Doktrin * Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre * Islamistische Narrative Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams | Kulturelle Einflüsse, die den Islam seit seiner Verbreitung im 8. Jahrhundert fortwährend geprägt haben, werden in der salafistischen Islamauslegung als schädigende und gleichermaßen als unerlaubte Neuerung (arab. bid'a) stigmatisiert, da sie nicht der normativen bzw. islamrechtlich verbindlichen Vorbildfunktion der Prophetentradition entsprächen. Im Salafismus orientiert sich der Handlungsspielraum menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten an der "goldenen Epoche", das heißt an den ersten drei Generationen der Muslime. Der Salafismus begreift sich gleichzeitig als ewige Bastion gegen verschiedene theologische und kulturelle Entwicklungen im Islam. Das Zeitalter der Prophetentradition bildet für Salafisten somit den theologisch verbindlichen Bezugspunkt zum uneingeschränkten Monotheismus (arab. tauhid), den es unter allen Umständen vor Unglauben (arab. kufr) und Polytheismus (arab. shirk) zu schützen gelte. Dieses "goldene Zeitalter" ist gleichzeitig auch der moralische und rechtliche Maßstab für das menschliche Dasein und Handeln in der Gegenwart zur Erfüllung des göttlichen Willens. Auch weltliche Institutionen wie Gerichtsbarkeiten, die nicht vollständig der salafistischen Auslegung der islamischen Rechtsund Verhaltensnormen (arab. shari'a) unterworfen sind, lehnen Salafisten als Götzendienst (arab. taghut) ab. 208 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS Strikter Monotheismus im Zentrum der salafistischen Doktrin | Im Mittelpunkt der salafistischen Glaubenslehre steht das unerschütterliche Bekenntnis zu einem einzigen Gott. Nahezu identisch mit wahhabitischen Auslegungen fassen Salafisten die in den islamischen Glaubensquellen benannten Attribute Allahs wortwörtlich und nicht metaphorisch auf. Im Islam bezeichnet der Begriff tauhid die Lehre von der absoluten "Einheit und Einzigartigkeit Gottes" (Monotheismus). Salafisten leiten aus dem tauhid-Prinzip jedoch ab, dass Allah der alleinige Herrscher und die Scharia das einzig erlaubte Gesetz sei. Folglich lehnen Salafisten das Volk als Träger der Staatsgewalt und von Menschen gemachte Gesetze als "unislamisch" ab. Dieses tauhid-Verständnis als Wesenskern der salafistischen Doktrin gilt es nach Auffassung ihrer Anhänger unter allen Umständen vor inneren wie äußeren Verzerrungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schützen. Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre | Salafisten verstehen sich als Bestandteil der sogenannten erretteten bzw. auserwählten Gruppe (arab. at-ta'ifa-al-mansura und al-firqa-annajiya). Aus der Überzeugung, einer elitären Gruppe "wahrer Muslime" anzugehören, resultiert das moralische Überlegenheitsgefühl der Salafisten gegenüber Andersdenkenden. Aus diesem Grund fühlen sich Salafisten dazu berufen, ihr soziales Umfeld gemäß ihrer Überzeugung zu missionieren und nachhaltig zu verändern. Besonders deutlich wird der soziale Verhaltenskodex im Salafismus anhand der Forderung der Einhaltung islamischer Prinzipien, die gemäß der salafistischen Doktrin einen Leitmotivcharakter aufweisen. Salafisten streben danach, den Islam von angeblich schädigendem Einfluss zu bereinigen. Dementsprechend versuchen sie, sowohl die theologische Lehre im Islam als auch die Gesellschaft als Ganzes gemäß ihrer Doktrin zu gestalten. Salafisten folgen dem Prinzip der Loyalität und Lossagung (arab. al-wala'-wa-l-bara'), um sich durch das klare Bekenntnis zu ihrer Glaubensauslegung demonstrativ von allen anderen Glaubensformen oder angeblich "Ungläubigen" zu distanzieren. Die Nähe zu anderen Glaubensgemeinschaften sehen Salafisten als Gefahr, den eigenen Glauben im engeren Sinne zu verzerren und den Islam im weiteren Sinne zu verderben. Das genannte Konzept der Loyalität und Lossagung kann zur vollständigen Anwendung kommen, da es in der salafistischen Szene zunehmend professionalisierte Angebote gibt, die in der Gesamtheit nahezu alle Lebensbereiche umfassen, unter anderem Angebote des Konsums oder der (Weiter-)Bildung. Das Abgrenzungsprinzip al-wala'-wa-l-bara' bietet den Platzhalter für viele Formen der Fremdenfeindlichkeit und mündet oftmals in der Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 209 ISLAMISMUS islamtheologisch umstrittenen Praxis, einen Muslim für ungläubig zu erklären (arab. takfir), wenn Salafisten andere Muslime aufgrund angeblich frevelhafter Religionsausübung oder anderer Verfehlungen als Nichtmuslime brandmarken. Darüber hinaus vertieft dies auch den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Aus dem bedingungslosen Befolgen der salafistischen Doktrin resultieren somit verfassungsfeindliche Bestrebungen gegen die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Bestrebungscharakter im Salafismus ist prinzipiell totalitär, da das Diesseits nach seinen normativen Maßstäben zur Wahrung des Islams zu formen ist. Diese salafistische Doktrin enthält die idealisierte Vorstellung einer Welt, die den Anforderungen des "wahren Islams" vollumfänglich gerecht werden will: gesamtgesellschaftlich, global und konsequent gelebt bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Jedoch lässt sich innerhalb des Salafismus keine synchronisierte, homogene Bestrebung zu diesem Ziel hin feststellen. Da jihadistische Gruppierungen danach streben, eine islamische Gesellschaft ("Emirat"/"Kalifat") zu etablieren, haben Syrien und weite Teile der Levante (Länder am östlichen Mittelmeer) nach wie vor eine unvermindert große ideologische Bedeutung für sie. Nach jihadistischer Lesart erfüllen sich hier die apokalyptischen Verheißungen und Voraussagen islamischer Überlieferungen, das heißt die Voraussagen in Bezug auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Islamistische Narrative | Um eigene Anhänger zu mobilisieren und neue zu gewinnen, bedienen sich Salafisten verschiedener Narrative und greifen aktuelle soziale und gesellschaftliche Themen und Entwicklungen auf, was zum Teil zu einer hohen Emotionalisierung führen kann. Das gängigste und seit langem bestehende ist das Opfernarrativ. Hier wird eine sowohl in Deutschland als auch global bestehende Unterdrückung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Muslimen propagiert. Bestehende Missstände werden aufgezeigt und als Belege für einen vermeintlichen globalen Krieg des "Westens" gegen die islamische Gemeinschaft herangezogen. Soziale Medien dienen zur Veröffentlichung, emotionalen Kommentierung und viralen Verbreitung von beispielsweise privaten oder öffentlichen Ereignissen über tatsächlich oder vermeintlich erfahrenes Unrecht. Damit werden zum einen Ressentiments gegenüber der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland geschürt, zum anderen eine Szenerie der ständigen Gefährdung von Leib und Leben von Muslimen und der "islamischen Identität" heraufbeschworen. Diese Form der Angstkommunikation wird verknüpft mit der Forderung nach einer noch stärkeren Hinwendung zum Islam, um so den Ausweg aus der selbstverschuldeten, durch fehlende Frömmig210 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS keit vieler Muslime verursachten, kollektiven Misere zu finden. Auch auf eine vermeintliche innere Bedrohung der islamischen Gemeinschaft durch Vertreter eines liberalen Islams wird hingewiesen. Das Opfernarrativ dient im Jihadismus als Rechtfertigung zur Gewaltanwendung. Auch in anderen islamistischen Strömungen wird auf das Opfernarrativ zurückgegriffen. Hierüber ergibt sich zumindest im virtuellen Raum eine Anschlussfähigkeit zwischen den verschiedenen Strömungen. BEWERTUNG/AUSBLICK Politischer Salafismus | Nicht nur in Hessen, sondern bundesweit nahmen die Missionierungsaktivitäten wie Street-Da'wa, Vortragsveranstaltungen oder Islamseminare der salafistischen Szene zu. Nach verschiedenen staatlichen Maßnahmen gegen die salafistische Szene wie dem Verbot der bundesweit aktiven Organisation Die Wahre Religion mit ihrer LIES!-Kampagne (2016) und dem Verbot der Al-Medina-Moschee in Kassel (2017) verlagerte die salafistische Szene ihre Aktivitäten zunehmend in den privaten Raum. Die sogenannte Wohnungs-Da'wa trat an die Stelle öffentlicher Aktionen. Moscheen wurden bewusst gemieden oder waren wegen der staatlichen Maßnahmen nicht bereit, Salafisten aufzunehmen. In Hessen hielt diese "Privatisierung" der Szene länger als in anderen Ländern an. Zwar konnten Gruppen wie Was ist Islam? und Islam kennenlernen an die bundesweiten Street-Da'wa Aktionen wie LIES! und We love Muhammad anknüpfen und leisteten insofern zweifellos einen Beitrag zur Verbreitung der salafistischen Ideologie, blieben aber in ihrer Wirkung deutlich hinter vergleichbaren früheren Gruppierungen zurück. Zudem dauerte es, bis sich neue Prediger und entsprechende Strukturen für Vortragsveranstaltungen etablierten. Seit Ende 2022/Anfang 2023 nahmen die öffentlichen Aktivitäten politischer Salafisten in Hessen allerdings wieder zu. Auch wenn die Zahl der Treffen in der zweiten Hälfte des Berichtsjahrs gegenüber dem ersten Halbjahr zurückging, sprechen die hohen Teilnehmerzahlen dafür, dass auch künftig salafistische Veranstaltungen in Hessen abgehalten werden. Dies gilt insbesondere, da Veranstaltungen in der "realen Welt" die Möglichkeit bieten, Personen, die bisher noch keine oder wenige Anknüpfungspunkte mit der salafistischen Szene hatten, für die Ideologie zu gewinnen und an die Szene zu binden. Persönliche Kontakte und soziale Bindungen eignen sich, um Radikalisierungsverläufe voranzutreiben. Populäre überregionale Prediger wie Ahmad Armih (alias Abul Baraa) finden insbesondere beim jüngeren Publikum - auch außerhalb der salafistischen Szene - Anklang. Da gerade jünHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 211 ISLAMISMUS gere Personen leichter zu beeinflussen sind, besteht bei diesen eine besonders hohe Gefahr der Radikalisierung. Dass die Zunahme an Veranstaltungen in Hessen wahrscheinlich auf die Initiative einiger weniger Personen zurückgeht, zeigt, dass gefestigte überregionale Netzwerke bestehen. Hierdurch war es Salafisten in Hessen möglich, innerhalb kurzer Zeit entsprechende Treffen zu organisieren und auch auf kurzfristige Einschränkungen wie die Absage eines Veranstaltungsorts zu reagieren. Aufgrund des nur leicht angestiegenen Personenpotenzials im Vergleich zum Vorjahr lässt sich festhalten, dass die große Mehrzahl der Salafisten an ihrer Ideologie festhielt und auch neue Anhänger gewonnen werden konnten. Langjährige Angehörige der salafistischen Szene beteiligten sich nicht an öffentlichen Veranstaltungen und besuchten Moscheen, die nicht ihrer Ideologie entsprachen, ausschließlich zum Beten. Dieser harte Kern der salafistischen Szene in Hessen agierte weiterhin weitgehend konspirativ. Jihadistischer Salafismus | Die Gefahr eines jihadistischen Terroranschlags war in Europa und damit auch in Deutschland weiterhin unvermindert hoch. Sowohl die jihadistische Propaganda als auch "erfolgreiche" Anschläge können allein handelnde Personen oder Kleingruppen weltweit weiter radikalisieren und diese zu entsprechenden Taten motivieren. In der jihadistischen Propaganda wurden im Berichtsjahr aktuelle Geschehnisse gezielt aufgegriffen, um diese für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Anhänger sollten hierüber mobilisiert und Anschläge gerechtfertigt werden. Die Glorifizierung von Attentätern im Zusammenhang mit aktuellen Themen und Aufrufen zum Jihad kann für Sympathisanten eine zusätzliche Motivation darstellen, Anschläge zu begehen, um den Status als "Märtyrer" zu erlangen. Die Koranschändungen und die darauffolgenden Anschlagsaufrufe zeigten erneut, dass derlei Ereignisse in jihadistischen Kreisen eine besonders emotionalisierende Dynamik auslösen können. Damit erhöhte sich auch zeitweise die Gefährdung vor allem von Personen, Organisationen und Staaten, die hiermit seitens der Jihadisten in Verbindung gebracht wurden. Solche emotionalisierenden Ereignisse können aber auch zu einem späteren Zeitpunkt noch als Rechtfertigung für Terroranschläge herangezogen werden. Islamkritische Provokationen können auch außerhalb extremistischer Ideologien, vor allem in der muslimischen Gemeinschaft, hoch emotionalisierend wirken. Indem islamistische und jihadistische Akteure solche Themen aufgriffen, schufen sie Anknüpfungspunkte an die (muslimische) Ge212 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS meinschaft und erreichten mit ihrer Propaganda ein breiteres und möglicherweise auch neues Publikum. Solange es dem IS und anderen Terrorgruppen gelingt, ihre Botschaften und Ideologien insbesondere über die sozialen Medien weltweit und zielgruppenspezifisch zu verbreiten, ist auch in Zukunft nicht mit einer abnehmenden Anschlagsgefahr zu rechnen. Onlinepropaganda gehört weiterhin zu den wichtigsten Werkzeugen jihadistischer Gruppierungen, um die eigene Ideologie zu verbreiten, neue Anhänger zu rekrutieren und die Szene zu vernetzen und zu finanzieren. Verschärfen sich politische und gesellschaftliche Konflikte im Inund Ausland, kann dies im Rahmen der propagandistischen "Aufbereitung" durch die salafistische/jihadistische Szene dazu führen, dass die Bereitschaft von allein handelnden Personen und/oder Kleingruppen zunimmt, den "Brüdern" und "Schwestern" zur Seite zu stehen. Aufgrund seiner propagandistisch-ideologischen Überzeugungskraft wird der Jihadismus weiterhin eine breite Anhängerschaft anziehen und sowohl Gruppen formieren als auch allein handelnde Personen mobilisieren. Es ist davon auszugehen, dass sich die Entwicklungen des weltweiten Jihad auf Deutschland und somit auf Hessen auswirken und die hiesige Szene weiterhin beeinflussen werden. Die Aktivitäten der IS-Ableger, vor allem des ISPK, zeigen beispielhaft, wie anpassungsund widerstandsfähig jihadistische Terrorgruppen sind und über welches Maß an (propagandistischer) Wirkungsund Schlagkraft sie verfügen. Die Sicherheitsbehörden beobachten daher die weltweiten und regionalen Ereignisse und deren Auswirkungen im Inland weiterhin sehr genau, um rechtzeitig und zielgerichtet Maßnahmen treffen zu können. LEGALISTISCHER ISLAMISMUS Führung: Hizb ut-Tahrir (HuT, Partei der Befreiung) Ata Abu al-Rashta (alias Abu Yasin) DEFINITION/KERNDATEN Weltweit ist die HuT in über 40 Staaten mit etwa einer Million Anhänger: In Hessen etwa 100, die bundesMitgliedern präsent. Ziel der panislamischen Organisation ist weite Zahl lag bei Redaktionsdie "Befreiung" aller Muslime von "Unterdrückung" und deren Verschluss noch nicht vor einigung in einem weltweiten "Kalifat" mit islamischer Rechtsordnung. Aus Sicht der HuT haben "unterdrückte Muslime" das Recht Medien: Mehrsprachige Internetpräsenzen auf "Selbstverteidigung" mit allen Mitteln. Als Konsequenz billigt die HuT oftmals Gewalttaten anderer islamistischer Gruppierungen. / Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 213 ISLAMISMUS 2003 sprach der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot gegen die HuT aus, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2012 bestätigte. Dennoch setzen Anhänger der Organisation ihre Rekrutierungsbemühungen im Untergrund fort. Insbesondere in den sozialen Medien gibt es zahlreiche Gruppierungen mit Bezügen nach Hessen, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen. Hierzu gehört die in der Rhein-Main-Region ansässige Gruppierung Realität Islam (RI). EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Die Gruppierung RI war unter dem Leitspruch "Für die Bewahrung der islamischen Identität" schwerpunktmäßig in den sozialen Medien aktiv und griff globale Ereignisse sowie aktuelle gesellschaftliche Themen auf. Bis zum Ende des Berichtszeitraums wurde die RI-Facebook-Seite von etwa 37.000 Personen geliked und von 43.000 Personen abonniert, die RI-Instagram-Seite wies 32.000 Follower bei insgesamt 2.100 Veröffentlichungen auf. Der RI-YouTubeKanal hatte etwa 19.800 Abonnenten und wurde seit November 2015 mehr als 1,8 Millionen Mal aufgerufen. Der X-Account (früher Twitter) von RI hatte seit Neueröffnung im Oktober 2021 etwa 3.000 Follower. Der RI-Account auf der Plattform TikTok wies rund 3.700 Abonnenten und 59.000 "Gefällt-mir"-Angaben auf. AUF EINEN BLICK * Koranschändungen * Naturkatastrophen in der Türkei, Syrien, Marokko und Libyen * Stellungnahmen zur sexuellen Orientierung und Identität im Islam * Kopftuchdebatte * RI greift Überfall der HAMAS auf Israel aggressiv auf 214 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS Koranschändungen | Im Berichtsjahr kam es im Ausland - vornehmlich in Schweden - mehrfach zu Koranverbrennungen bzw. -schändungen, die auf der gesamten Welt und vor allem unter Muslimen emotionale Reaktionen hervorriefen. Auch islamistische Gruppierungen äußerten sich. So veröffentlichten weltweit Anhänger der HuT in unterschiedlichen Sprachen Stellungnahmen im Internet. Darin hieß es, dass sich der schwedische Staat schützend vor Rechtsextremisten stelle, die Koranverbrennungen unterstütze und Islamhass fördere. RI äußerte sich in den sozialen Medien ebenfalls zu den Ereignissen und zog einen Vergleich zum "staatlich geförderten Reformislam" in Deutschland. Dieser sei einer der größten Übel unserer Zeit und ein Frevel am Koran. Ebenso sei es eine Abscheulichkeit ohnegleichen, den Koran zu verbrennen. Darüber hinaus posteten einige HuT-nahe Personen aus Hessen in ihren Social-Media-Accounts Stellungnahmen und Veröffentlichungen islamistischer Gruppen zu den Koranverbrennungen. Am 4. Februar organisierte die HuT-nahe Gruppierung Muslim Interaktiv in Hamburg als unmittelbare Reaktion auf die erste Koranverbrennung in Schweden eine Demonstration unter dem Motto "Der Quran ist unsere Zukunft. Kundgebung gegen Koranverbrennung". Sowohl RI als auch einzelne Akteure der HuT-nahen Szene in Hessen beteiligten sich sowohl virtuell als auch in der "realen Welt". Naturkatastrophen in der Türkei, Syrien, Marokko und Libyen | Das Erdbeben im Südosten der Türkei und im Norden Syriens am 6. Februar, bei dem etwa 60.000 Menschen starben und rund 100.000 verletzt wurden, nutzten islamistische Gruppierungen wie die HuT für ihre Belange. Die HuT veröffentlichte auf ihrer Internetseite vornehmlich Beileidsbekundungen für die ums Leben gekommenen Muslime, wobei sie Opfer anderer Religionen nicht berücksichtigte. Im Kontext des Erdbebens erklärte RI in den sozialen Medien, dass Muslime schlimme Naturkatastrophen leichter überstehen würden, wenn alle gleich stark an ihrer islamischen Überzeugung festhalten würden. Eine Karikatur des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo zur Erdbebenkatastrophe auf Instagram kritisierte RI: Das Magazin zeige ein weiteres Mal die "hässliche Fratze des Liberalismus", als es davon gesprochen habe, dass nach dem Erdbeben zumindest keine Panzer mehr in der betroffenen Region benötigt würden. Für RI und viele Anhänger bewies die Veröffentlichung durch "Feinde des Islam", "Satanisten" und "herzlose Kreaturen", dass der Islam erneut verallgemeinernd angegriffen werde. In Kommentaren zum Post von RI wurde eine Doppelmoral angeprangert, wobei es hieß, dass Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 215 ISLAMISMUS ein Erdbeben in oder um Israel wohl kaum zur Veröffentlichung von hetzerischen Schlagzeilen oder Karikaturen über Israelis oder Juden geführt hätte. Darüber hinaus griffen HuT-nahe Akteure das Erdbeben in Marokko und die Überschwemmungen in Libyen infolge heftiger Regenfälle im September auf. Die Akteure sahen die Katastrophen als Prüfungen Allahs an und äußerten auf ihren Social-Media-Kanälen den Wunsch, "unsere [islamischen] Länder auf Grundlage des Islams [zu] vereinen und uns zu einem Kö[r]per [zu] machen". Bezüglich israelischer Hilfslieferungen und -angeboten an Marokko kursierten Videos auf X, die zeigten, dass einzelne Opfer Hilfen aus Israel explizit ablehnten. Sympathisanten der HuT teilten diese Videos. Stellungnahmen zur sexuellen Orientierung und Identität im Islam | Das Thema "sexuelle Orientierung und Identität im Islam" bildete einen fortwährenden Schwerpunkt für RI. Im gesamten Berichtsjahr veröffentlichte die Gruppierung in den sozialen Medien regelmäßig Beiträge, in denen alternative Identitätsformen und geschlechtliche Vielfalt abgelehnt und diffamiert wurden. RI proklamierte, dass aus islamischer Sicht kein anderes Lebensmodell außer "Mann und Frau" gültig sei. Die Gruppierung prangerte eine "westliche Doppelmoral" an, dass nämlich von Muslimen die Anerkennung alternativer sexueller Orientierungen gefordert würde, diese aber selbst nicht durchweg in allen politischen Parteien und in der Gesellschaft bestehe. RI sah in der Forderung nach der Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt eine Bedrohung der islamischen Identität. RI thematisierte diese "Gefahr" auch im Zusammenhang mit der vermeintlichen "islamfeindlichen Assimilationspolitik durch den deutschen Staats-,Islam'". Demnach müssten die islamische Identität und der islamische Glauben immerzu vor den Einflüssen des deutschen Staats geschützt werden. In Deutschland gebe es keine "Einzelfälle von Aktionismus gegen Muslime", sondern alles müsse im "Gesamtkontext der Assimilationspolitik" betrachtet werden, die Deutschland gegen die Minderheit der Muslime verfolge. Kopftuchdebatte | Wie in der Vergangenheit beschäftigte sich RI auch im Berichtsjahr mit dem Thema "Kopftuch". Seit ihrer Unterschriftenaktion 2018 ("Deine Stimme gegen das Kopftuchverbot") mit über 170.000 Unterschriften sprach die Gruppierung dieses Thema regelmäßig an. Dabei verteidigte sie ihre Haltung, dass es dem deutschen Staat verboten sei, über die islamischen Kleidungsvorschriften sowie Werte und Normen von Musliminnen bestimmen zu dürfen. RI behauptete, dass in Deutschland bald Zustände wie in anderen europäischen Staaten herrschen würden. Allen voran ermahnte RI "die Schwestern" im deutschsprachigen Raum, Frankreich 216 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS als "Negativbeispiel vor Augen" zu haben. Dort würden für Musliminnen "unhaltbare Zustände" herrschen, nicht zuletzt durch das im September erlassene Verbot der Abaya - ein den gesamten Körper bedeckendes islamisches Kleidungsstück für Frauen - an Schulen. RI verbreitete hierzu zahlreiche Videos und Veröffentlichungen, welche die "französischen Repressionsmaßnahmen gegen Muslime" anprangerten. RI greift Überfall der HAMAS auf Israel aggressiv auf | Auf den Terrorangriff der HAMAS gegen Israel am 7. Oktober und die darauf erfolgte israelische Gegenoffensive reagierte RI unter anderem mit einer Kundgebung in Frankfurt am Main, vor allem aber im digitalen Raum mit massiver Propaganda gegen Israel. In ihren Stellungnahmen verurteilte RI den israelischen Staat als Terrorstaat und Kindermörder. Dem deutschen Staat unterstellte sie die Rolle einer Konfliktpartei sowie eines "Mittäters". Aus Sicht von RI habe Deutschland den eskalierten Nahostkonflikt genutzt, um Muslime auch hierzulande zu diskreditieren und von der Mehrheitsgesellschaft auszuschließen. Mit ihrer Agitation versuchte RI eine zunehmende Emotionalisierung der eigenen Sympathisanten zu erzielen. (Einzelheiten zur Agitation von RI anlässlich des Überfalls der HAMAS auf Israel können dem Kapitel "Reaktionen von Extremisten auf den Terrorangriff der HAMAS gegen Israel" entnommen werden.) ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Die HuT wurde 1953 im damals von Jordanien besetzten Ostteil Jerusalems von dem palästinensischen Politiker Taqi ad-Din an-Nabhani, der auch der MB nahestand, gegründet. AUF EINEN BLICK * Gründung in Ost-Jerusalem * Betätigungsverbot in Deutschland Gründung in Ost-Jerusalem | Der Entschluss zur Gründung der HuT erwuchs aus der Unzufriedenheit an-Nabhanis und seiner Anhänger über die fehlende Unterstützung der MB für das palästinensische Volk im Kampf gegen Israel. Nach dem Tod an-Nabhanis trat in der HuT der Palästinabezug zugunsten der Forderung nach einem alle Muslime umfassenden "Kalifat" in den Hintergrund. In Deutschland verbreiteten HuT-Anhänger vor allem in Universitätsstädten Flugblätter und Zeitschriften mit antiisraelischen und "antiwestlichen" Inhalten. Betätigungsverbot in Deutschland | Am 25. Januar 2006 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht das am 10. Januar 2003 vom BunHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 217 ISLAMISMUS desminister des Innern erlassene Betätigungsverbot gegen die HuT. In dem Urteil hieß es unter anderem, dass die HuT zur gewaltsamen Beseitigung des Staates Israel und zur Tötung von Menschen aufgerufen und dadurch der friedlichen Lösung der israelisch-palästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt hat. In seiner Begründung verwies das Bundesverwaltungsgericht auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, wonach Vereinigungen verboten sind, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. IDEOLOGIE/ZIELE Ziel der HuT ist die Vereinigung der weltweiten Gemeinschaft der Muslime (arab. umma) in einem Gottesstaat ohne nationale Grenzen unter der Führung eines Kalifen. Er soll die göttliche Rechtsordnung, das heißt die Scharia als Grundlage und Maßstab staatlichen Handelns, im Kalifat verbindlich durchsetzen. Islam und Demokratie sind für die HuT nicht miteinander vereinbar. AUF EINEN BLICK * Verschweigen extremistischer Ziele * Verwirklichung eines HuT-Manifests * Islamische Identität Verschweigen extremistischer Ziele | Die Gruppierung RI weist eine ideologische Nähe zur HuT auf. Die islamistischen Ziele von RI und ihr ideologischer Hintergrund werden jedoch bei öffentlichen Aktivitäten verschwiegen. Inhalte werden aus dem Kontext gerissen wiedergegeben, Falschmeldungen verbreitet und eine manipulative Sprache verwendet, um auch außerhalb der Anhängerschaft Aufmerksamkeit zu erlangen und Einfluss zu nehmen. Unter dem Deckmantel, sich unter anderem für die angeblich bedrohte "islamische Identität" einzusetzen, wird so das extremistische Weltbild der HuT verbreitet. Dieses zeigt sich in der Publikation "Realität Islam[.] Eine Einführung[.] Gemeinsam für eine starke und bewusst agierende Gemeinschaft". In der Gesamtschau offenbart das von RI propagierte Weltbild Widersprüche zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Verwirklichung eines HuT-Manifests | Die HuT gab in den vergangenen Jahren zahlreiche Manifeste auf ihrer Internetseite für den deutschsprachigen Raum bekannt, die sich aufgrund ihrer islamistischen Programmatik eindeutig im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung befinden und diese überwinden wollen. Verlautbarungen von RI belegen, dass zwischen RI und HuT nicht nur eine ideologische Nähe besteht, sondern RI auch aktiv die 218 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS tatsächliche Umsetzung einiger HuT-Leitlinien betreibt. Die HuT-Programmatik sieht eine klare Abgrenzung der muslimischen Gemeinschaft gegenüber angeblich frevelhaften und moralisch verkommenen Regierungsformen vor. Der aktiven Arbeit dagegen - gemeint sind hier in erster Linie säkular geprägte Demokratien - müsse Überzeugungsarbeit vorausgehen, mit der den Muslimen die vermeintlichen Schwächen und Fehler der politischen Systeme, in denen sie leben, aufgezeigt würden. Auch RI-Verantwortliche kritisierten regelmäßig "Regierungssysteme", "Medienschaffende" und das demokratisch verfasste Wertesystem. RI-Protagonisten prangerten in ihren Videobotschaften die deutsche Politik und Gesellschaft an und kritisierten, dass "Muslime systematisch kriminalisiert und marginalisiert" würden. Islamische Identität | Im angeblichen staatlichen "Assimilationsdruck", der Muslime zur Übernahme "westlicher" Wertevorstellungen zwinge, sieht die HuT-nahe Gruppierung RI eine permanente Gefährdung der islamischen Identität. RI vertritt dabei eine antiliberale, antipluralistische und antidemokratische Haltung, die vor allem in ihren medialen Auftritten und Kampagnen zum Tragen kommt. Zudem wird ein elitäres Verständnis im Sinne einer Überlegenheit von Muslimen gegenüber der "westlichen" Gesellschaft deutlich. Gleichzeitig beklagt sich RI fortwährend, dass seitens des Staats keine Identifikationsangebote gemacht werden, die es Muslimen ermöglichen, an der Gesellschaft teilzuhaben, ohne ihre Identität aufzugeben. RI sieht die Gefahr, dass die islamische Identität vernichtet werden soll und zieht diesbezüglich Vergleiche zur Diskriminierung und anschließenden Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus. Vor staatlichen Repressionen seien Muslime nur in einem islamischen Kalifat sicher, das ihre islamische Identität bewahre. Diese Argumentationslinie ist für Anhänger von RI zunehmend identitätsstiftend. RI sieht die Muslime in einer Opferrolle und argumentiert in der Regel aus einer Verteidigungsperspektive heraus. Allerdings nimmt RI gegenüber manchen Personen des öffentlichen Lebens die Rolle einer Anklägerin ein und wirft diesen unter anderem vor, "Islamhasser" zu sein und sich an der "politischen Assimilationsagenda" zu beteiligen. Indem sich die Gruppierung des in islamistischen Kreisen gängigen Opfernarrativs bedient und als Schutzmacht der Muslime auftritt, versucht sie Anhänger an sich zu binden und Anklang in der demokratischen Gesellschaft zu finden. Ziel ist die Verbreitung und Implementierung ihrer Narrative. Hierfür macht sich RI die sozialen Medien im Internet zunutze, über die eine größere Reichweite erlangt wird als durch reine Veranstaltungen in der "realen Welt" mit Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 219 ISLAMISMUS begrenzter Teilnehmerzahl. Zudem ermöglicht die Nutzung sozialer Medien eine wesentlich größere bzw. nahezu permanente Präsenz. Trotz einer klaren Abgrenzung von Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele verwendet RI in ihrer Sprache teils kämpferische Aufrufe zur Verteidigung der bedrohten Identität angesichts der angeblich allgegenwärtigen Unterdrückung der Muslime. Ihre der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widersprechenden Konzepte werden dabei sprachlich in ein modernes Gewand verpackt. STRUKTUREN HuT-Angehörige traten in Deutschland wegen des Betätigungsverbots nicht offen in Erscheinung. Die Ideologie der HuT wurde indes durch Gruppierungen in die Gesellschaft lanciert, die nicht mit der HuT gleichzusetzen sind, dieser jedoch zumindest nahestanden. AUF EINEN BLICK * Messbarkeit von Vernetzung: "Virtuelle Welt" - "Realwelt" * Kontakte außerhalb Hessens Messbarkeit von Vernetzung: "Virtuelle Welt" - "Realwelt" | RI war zunächst eine auf Facebook aktive Gruppierung, die eine ideologische Nähe zur HuT aufwies. Im Gegensatz zu anderen HuT-nahen Facebook-Gruppierungen erweiterte RI ihr digitales Medienangebot auf Plattformen wie Instagram, YouTube, X (früher Twitter) und TikTok Jahr für Jahr. Im Berichtszeitraum nahm die für RI ursprünglich wichtige Vernetzungsplattform Facebook allerdings an Bedeutung weiter ab. Zwar mobilisierte RI dort für eine nicht angemeldete Kundgebung in Frankfurt am Main am 28. Oktober, darüber hinaus fanden aber keine weiteren Veranstaltungen statt. Die digitale Präsenz blieb somit für die Gruppierung grundsätzlich wesentlich wichtiger als Auftritte in der "realen Welt". Die tatsächliche Reichweite von RI war aufgrund der fast ausschließlichen digitalen Präsenz nur ungefähr messbar. Kontakte außerhalb Hessens | Da digitale Grenzen nicht existieren, können im Internet verbreitete Inhalte überall konsumiert werden. Im Berichtsjahr gab es zahlreiche virtuelle Kontakte in Form von gegenseitigem Retweeten, Liken, Kommentieren und positivem Bewerten von Beiträgen auf Social-Media-Plattformen von RI und anderen HuT-nahen Gruppierungen zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Berlin und Niedersachsen, wo früher Treffen in der "realen Welt" stattfanden, die auch der Vernetzung dienten. Diese Aktivitäten belegen die ideologischen Überschneidungen der Gruppierungen bundesweit. 220 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS BEWERTUNG/AUSBLICK Die Gruppierung RI nutzte im Berichtsjahr überwiegend die sozialen Medien, um eine möglichst hohe Wirkung ihrer Ideologie in der muslimischen - insbesondere der sunnitischen - Gemeinschaft zu erzielen. Dabei beanspruchte RI weiterhin, alleinige Vertreterin und ausschließliches Sprachrohr "der Muslime" in Deutschland zu sein. RI reagierte innerhalb kürzester Zeit auf Ereignisse und tagesaktuelle, gesellschaftlich relevante Themen und nahm hierzu über auf sozialen Medien veröffentlichten Videos Stellung. Dabei verdrehte die Gruppierung Tatsachen und interpretierte diese zu ihren Gunsten und im Sinne ihrer Ideologie. Mit ihren Stellungnahmen und den darin besprochenen Themen versuchte RI, eine zunehmende Emotionalisierung der eigenen Sympathisanten zu erzielen. Hierzu knüpfte RI gezielt an Diskriminierungserfahrungen muslimischer Mitbürger an und lehnte Integrationspolitik, die als "Assimilationsterror" und "Bekenntniszwang" verunglimpft wurde, ab. Mit ihrer Propaganda im Berichtsjahr versuchte RI, systematisch das Vertrauen ihrer Sympathisanten in die Gesellschaft sowie in das politische und rechtliche System der Bundesrepublik Deutschland zu zerstören. Dabei vermied RI in ihrer Rhetorik weitestgehend und sehr geschickt eindeutig extremistische Äußerungen. Daraus ergibt sich die Gefahr einer Abgrenzung bis hin zu einer Abschottung von der demokratischen Mehrheitsgesellschaft hin zu einer Parallelgesellschaft. Diese bietet einen Nährboden für extremistische Radikalisierung. Im Berichtsjahr knüpfte RI vor allem an Ereignisse im Ausland wie Koranverbrennungen, Naturkatastrophen und den Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober an und nutzte diese für ihre Zwecke. RI vertrat in diesem Kontext durchweg extremistische sowie antisemitische Positionen und äußerte diese entgegen ihrer bisherigen Agitation weitaus offener. Indem Sympathisanten der HuT Videos teilten, in denen einzelne Opfer des Erdbebens in Marokko Hilfen aus Israel explizit ablehnten, bekundeten auch diese antisemitische Haltungen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 221 ISLAMISMUS Muslimbruderschaft (MB)/Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) DEFINITION/KERNDATEN Die MB ist in zahlreichen Staaten der Welt, dabei in nahezu allen Staaten des Nahen Ostens, vertreten. Sie ist die einflussreichste und älteste islamistische Bewegung unter den Sunniten. Logo der MB Ziel der MB ist die Errichtung eines weltumspannenden GemeinFührung: wesens als Gottesstaat auf der Grundlage von Koran und Sunna. In Muhammad Badi (Ägypten) Deutschland ist die DMG die größte Organisation, welche die IdeoAnhänger: logie der MB vertritt. In Anlehnung an ihre ägyptische MutterorgaIn Hessen etwa 300 (seit 2019 nisation versucht die DMG, durch soziales und religiöses Engageunverändert), die bundesweite ment sowie durch Dialogangebote Akzeptanz in der Gesellschaft Zahl lag bei Redaktionsschluss zu finden. Letztlich zielen diese Versuche darauf ab, die Ideologie noch nicht vor der MB in Deutschland gesellschaftsfähig zu machen. Der DMG sind bundesweit verschiedene Moscheegemeinden und sogenannte IsZuzurechnende Organisalamische Zentren zuzuordnen, die formal von ihr unabhängig sind, tionen: aber Kontakte zu ihr unterhalten. In Hessen befinden sich solche Harakat al-Muqawama alZentren in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und Frankfurt Islamiya (HAMAS, Islamische Widerstandsbewegung) in am Main. In Deutschland ist die DMG, ehemals Islamische Gemeinden palästinensischen Autoschaft in Deutschland e. V. (IGD), mit Hauptsitz in Berlin die mitnomiegebieten (Gazastreifen) gliederstärkste Organisation von MB-Anhängern in Deutschland. in Israel, al-Nahda (Tunesien), Die DMG repräsentiert den ägyptischen Zweig der MB und ist seit al-Ikhwan al-Muslimun fi Suriya ihrer Gründung als IGD Mitglied des Council of European Muslims, (Die Muslimbrüder in Syrien) früher Federation of Islamic Organizations in Europe (FIOE, Föde- / ration islamischer Organisationen in Europa). EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Das in Frankfurt am Main ansässige Europäische Institut für Humanwissenschaften e. V. (EIHW), das der MB zuzurechnen ist, begann im Januar des Berichtsjahrs wieder mit dem ersten Semester seines islamischen Bildungsprogramms für Deutschsprachige. In Hessen führten MB-Angehörige ihre legalistische, dialogorientierte Unterwanderungsstrategie in Bezug auf Politik und Gesellschaft konsequent fort. AUF EINEN BLICK * DMG als Projektleitung eines Moscheeneubaus in Frankfurt am Main * Islamisches Bildungsprogramm für Deutschsprachige * Veranstaltungen des Fatwa-Ausschusses in Deutschland DMG als Projektleitung eines Moscheeneubaus in Frankfurt am Main | Die DMG trat im Berichtsjahr öffentlich als Projektleiterin des Moscheeneubaus des Islamischen Zentrums Frankfurt (IZF) auf. Ihr 222 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS Name stand im Grundbuch und auf Spendenaufrufen des IZF. Infolge verschiedener Medienveröffentlichungen gab das IZF in einer Stellungnahme bekannt, dass es sich bei dem Neubau um ein Projekt der DMG handele. Islamisches Bildungsprogramm für Deutschsprachige | Am 21. Januar begann am EIHW das erste Semester des islamischen Bildungsprogramms in deutscher Sprache als kostenpflichtiger Onlinestudiengang, für den öffentlich auf der Facebook-Seite des EIHW geworben wurde. Das fest etablierte Bildungsprogramm, das erstmalig 2021 stattfand, umfasste zwei Semester mit jeweils 80 Unterrichtsstunden. Laut der entsprechenden Facebook-Seite richtete sich das Bildungsprogramm im Allgemeinen an Deutschsprachige und im Speziellen an deutschsprachige Jugendliche. Wegen erhöhter Nachfrage musste laut EIHW die Anmeldefrist für den Studiengang verlängert werden. Das EIHW bot weiterhin verschiedene Arabischkurse auf unterschiedlichem Niveau an. Veranstaltungen des Fatwa-Ausschusses in Deutschland | Der FatwaAusschuss in Deutschland hielt im Berichtsjahr verschiedene Veranstaltungen ab, an denen Vertreter des EIHW und des European Council for Fatwa and Research (ECFR, Europäischer Rat für Fatwa und Forschung) als Redner teilnahmen. So referierten bei einem Onlinevortrag am 5. April eine Lehrkraft des EIHW und beim Onlinesymposium am 11. April zum Thema "Astronomische Berechnung als Grundlagen religiöser Feiertage" fünf Redner des ECFR, darunter drei aus der Führungsriege. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE In einer Phase des sozialen Umbruchs in Ägypten, in der sich ein neuer Mittelstand herausbildete, gründete 1928 der Volksschullehrer Hasan al-Banna die MB als Reaktion auf die zunehmende Europäisierung des Landes. Als Wohlfahrtsorganisation islamischer Prägung, die unter anderem Krankenhäuser und Schulen unterhielt, entwickelte sich die streng hierarchisch aufgebaute MB zunehmend zum Staat im Staat. Unter der Führung al-Bannas verfolgte die MB nach und nach im Wesentlichen folgende Ziele: die Eliminierung des britischen Einflusses in Ägypten, die Islamisierung von Staat und Gesellschaft sowie die Errichtung eines weltweiten Kalifats. Vor allem mit ihrer karitativen Arbeit gewannen die MB und ihre in anderen Ländern gegründeten Ableger immer mehr Anhänger. AUF EINEN BLICK * Vom Verbot zur Regierung * Die MB in Deutschland Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 223 ISLAMISMUS Vom Verbot zur Regierung | In den 1940er und 1950er Jahren waren die Beziehungen zwischen der MB und dem ägyptischen Staat von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt. 1948 wurde der ägyptische Ministerpräsident Mahmud Fahmi an-Nuqrashi ermordet, 1949 fiel Hasan al-Banna einem Attentat zum Opfer. 1954 verbot die Regierung die MB; ihr maßgeblicher Ideologe Sayyid Qutb wurde 1966 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ungeachtet der Generalamnestie für führende MB-Funktionäre 1971 dauerten die Gewalttaten militanter islamistischer Gruppen, die ihre Aktionen unter Berufung auf die Schriften Sayyid Qutbs rechtfertigten, an. Eine militante Abspaltung der MB ermordete 1981 den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat. Sein Nachfolger Husni Mubarak gewährte der MB den Status als religiöse Bewegung, nicht aber den einer politischen Partei. Als Konsequenz entsandte die MB vermeintlich unabhängige Bewerber und Kandidaten auf Wahllisten anderer Parteien in die Parlamentswahlen. Bei den Wahlen im Jahr 2005 vervierfachte die MB die Zahl ihrer Abgeordneten auf 88 und errang damit etwa ein Fünftel der Sitze im ägyptischen Parlament. Nach dem von Massenprotesten der Opposition erzwungenen Rücktritt Mubaraks 2011 erlangten die MB und andere Islamisten bei den Wahlen etwa 70 Prozent der Abgeordnetenmandate. Als politischer Arm der MB gründete sich 2011 die Hizb al-Hurriya wal-Adala (Partei der Freiheit und Gerechtigkeit). Ihr Vorsitzender Mohammed Mursi, zugleich ein führender MB-Funktionär, wurde 2012 zum ägyptischen Staatspräsidenten gewählt. Aufgrund der angespannten Wirtschaftslage und anhaltender Proteste gegen die Partei der Freiheit und Gerechtigkeit setzte das ägyptische Militär Mohammed Mursi im Juli 2013 ab. Im September 2013 verbot ein ägyptisches Gericht die MB nebst allen ihr zugehörigen Organisationen. Seit dem Dezember 2013 ist die MB in Ägypten als Terrororganisation eingestuft. 2019 verstarb Mursi, der sich seit seiner Absetzung in Haft befand, während einer Gerichtsverhandlung. Der MB-Anführer Muhammad Badi sowie sein Stellvertreter und neun weitere führende MB-Angehörige wurden 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt. Ägyptens höchstes Berufungsgericht bestätigte die lebenslangen Haftstrafen am 12. Juli 2021. Die MB in Deutschland | 1960 gründete Said Ramadan, ein Schwiegersohn al-Bannas und hoher MB-Funktionär, in München (Bayern) die Moscheebau-Kommission e. V. Zusammen mit Sayyid Qutb hatte er Ägypten in den 1950er Jahren verlassen und in Jordanien, Syrien, Saudi-Arabien sowie im Libanon Ableger der MB ins Leben gerufen. Durch Umbenennungen gingen aus der Moscheebau-Kommission e. V. 1962 die Islamische Gemeinschaft in Süddeutschland e. V. und 1982 die IGD hervor, die sich 2018 in die DMG umbenannte. 224 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS IDEOLOGIE/ZIELE Der ideologische Ursprung der MB geht auf ihren Gründer Hasan al-Banna zurück. Zentrale Elemente der MB-Ideologie sind bis heute im Selbstverständnis zahlreicher islamistischer und islamistisch-terroristischer Organisationen präsent. In dem von der MB angestrebten System bilden Islam und Politik eine unauflösbare Einheit, in der weder die Volkssouveränität noch die Freiheit und Gleichheit der Menschen einen demokratisch legitimierten und geschützten Raum finden. AUF EINEN BLICK * Durchsetzung der Scharia * Einschränkung von Grundrechten Durchsetzung der Scharia | Die Ideologie der MB zielt auf die Errichtung einer islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung, deren Grundlage Koran und Sunna sowie die Scharia bilden. Statt Begriffen wie "islamischer Staat" oder "Anwendung der Scharia" verwendet die MB teils neue, aber inhaltsgleiche Begriffe wie "Zivilstaat" und "islamischer Referenzrahmen". Dabei ist die umfassende Durchsetzung der Scharia oberstes Leitund Ordnungsprinzip und ein wesentlicher Bestandteil der MB-Ideologie, da sie die Rechtsund Gesellschaftsordnung bestimmt und somit die wichtigste Grundlage des politischen und sozialen Lebens ist. Yusuf al-Qaradawi, ein im September 2022 verstorbener wichtiger Ideologe der MB, sah den Islam als eine untrennbare Einheit von Gesetz, Macht, Staat und Jihad an. Ein Glauben ohne Scharia oder eine Trennung zwischen religiöser und politischer Macht war für ihn nicht möglich. Sein wasatiyya-Konzept (Mittelweg) gilt für die MB global als Referenzrahmen, wobei das Konzept als gemäßigter und konservativer Islam, als "Islam der Mitte" deklariert wird, tatsächlich aber eine islamistische Ideologie umfasst. Einschränkung von Grundrechten | Ein schariakonformer Staat geht mit der Begrenzung der Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten sowie mit Einschränkungen der Pressefreiheit, des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts auf freie Religionsausübung einher. Damit zusammenhängend werden bestimmte Gewaltformen wie der militante Jihad befürwortet. Vor allem hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konflikts werden gewalttätige und terroristische Mittel als legitim angesehen. Einige MB-Akteure sprechen sich zudem für hadd-Strafen (Körperstrafen) aus. Offiziell lehnt die MB Gewalt jedoch ab. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 225 ISLAMISMUS STRUKTUREN In Europa, das heißt auch in Deutschland, bestand ein weit verästeltes Netzwerk der MB, mit dessen Hilfe deren Sympathisanten und Angehörige versuchten, Ideologie und Ziele der Organisation zu verbreiten. Dabei trat die MB in Deutschland nicht offen in Erscheinung. AUF EINEN BLICK * Council of European Muslims (CEM) * ECFR * European Council of Imams (Europäischer Rat der Imame) * Rat der Imame und Gelehrten e. V. (RIG)/Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland (RIGD) * Fatwa-Ausschuss in Deutschland * EIHW Council of European Muslims (CEM) | In Europa wurde die streng hierarchisch organisierte MB durch den CEM, einen europäischen Dachverband MB-naher Organisationen mit Sitz in Brüssel (Belgien), vertreten. Eigenen Angaben zufolge vereinigte der CEM Organisationen aus 28 Staaten, darunter viele nationale Dachverbände. ECFR | Der in Dublin (Irland) ansässige ECFR, der bis 2018 unter dem Vorsitz des inzwischen verstorbenen MB-Ideologen Yusuf al-Qaradawi stand, gehörte dem europäischen Netzwerk der MB an und erließ regelmäßig Rechtsgutachten für die in Europa lebenden Muslime. Maßgebliche Aufgabe des ECFR war es, sich als religiöse Instanz in Europa zu etablieren. Hierfür veröffentlichte er 2019 die "Euro-Fatwa"-App, mit der die Nutzer die seit 1997 getroffenen ECFR-Fatwas und -Entscheidungen in den Sprachen Arabisch, Englisch, Italienisch und Spanisch thematisch sortiert abrufen konnten. European Council of Imams (Europäischer Rat der Imame) | 2019 trat in Paris (Frankreich) erstmals der Europäische Rat der Imame zusammen. Das Gremium bestand laut eigener Aussage aus rund 50 Mitgliedern aus etwa 20 europäischen Ländern. Unter den Mitgliedern des Rates befanden sich Personen aus Hessen, welche Verbindungen zum MB-/DMG-Netzwerk unterhielten. Ziel der Organisation war es unter anderem, die Aktivitäten verschiedener islamischer Organisationen zu koordinieren, als Interessenvertretung zu fungieren, die islamische Präsenz im demokratischen politischen und gesellschaftlichen Bereich zu fördern sowie die islamische Identität zu festigen. 226 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS Rat der Imame und Gelehrten e. V. (RIG)/Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland (RIGD) | Ähnlich wie der ECFR auf europäischer Ebene erhob der RIGD für Deutschland den Anspruch, als wissenschaftliche Autorität in Fragen der Koranauslegung für hier lebende Muslime zu fungieren. Der RIGD - seit 2004 mit Sitz in Frankfurt am Main - steht sowohl organisatorisch als auch ideologisch der DMG nahe. Fatwa-Ausschuss in Deutschland | Die Mitglieder des 2016 gegründeten Fatwa-Ausschusses in Deutschland waren teilweise Mitglieder des ECFR. Der Fatwa-Ausschuss in Deutschland übernahm die Fatwas des ECFR, übersetzte sie ins Deutsche und veröffentlichte sie auf der eigenen Internetseite sowie in sozialen Medien. Die Fatwas basierten zum Teil auf islamrechtlichen und islamisch-rituellen Vorgaben der Scharia, die nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu vereinbaren sind. Der Fatwa-Ausschuss in Deutschland hatte seinen Sitz in Frankfurt am Main. EIHW | 2012 wurde das EIHW mit Sitz in Frankfurt am Main nach dem Vorbild der Europäischen Institute für Humanwissenschaften in Großbritannien (European Institute of Human Sciences, EIHS) und in Frankreich (Institut Europeen des Sciences Humaines, IESH) als Verein gegründet. Im darauffolgenden Jahr nahm das EIHW seinen Lehrbetrieb auf. Als Schulungsstätte diente das EIHW der Verbreitung der MB-Ideologie und war eine Kaderschmiede für MBund DMG-Funktionäre. BEWERTUNG/AUSBLICK Auch im Berichtsjahr bemühten sich MB-Anhänger und der MB nahestehende Organisationen nach wie vor, ihre Ideologie gesellschaftsfähig zu machen und ihr breite Akzeptanz zu verschaffen. Dies geschah im Rahmen ihrer auf lange Frist angelegten Unterwanderungsstrategie. Da die MB hierbei nicht unter ihrem Namen agierte, sondern aus einem weitverzweigten Netzwerk von Organisationen und Vereinen heraus operierte, fiel es ihren Protagonisten oft leicht, als unbefangene Partner von Politik und Zivilgesellschaft aufzutreten. Um die Gesellschaft sukzessiv zu durchdringen, bedienen sich die MB und die ihr nahestehenden Vereine verschiedener Bildungsangebote. Ein Beispiel hierfür ist das islamische Bildungsprogramm des EIHW. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass die MB-Ideologie weiterhin verbreitet werden wird. Seit zwei Jahren ist erkennbar, dass das EIHW erfolgreich über deutschsprachige Studiengänge gleichsam Personen ohne Arabischkenntnisse anspricht. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 227 ISLAMISMUS Die DMG war auch im Berichtsjahr bemüht, öffentlich nicht als politische Agitatorin in Erscheinung zu treten. Vielmehr zielt die Organisation darauf ab, dass ihr Handeln den Anschein erweckt, als stünde sie im Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Aktuell leitet die DMG den Bau eines großen Moscheeund Veranstaltungskomplexes in Frankfurt am Main. Daher ist anzunehmen, dass die DMG bestrebt ist, ihre Strukturen in Hessen zu festigen und auszubauen. Mit dem EIHW, RIGD und Fatwa-Ausschuss in Deutschland haben drei wesentliche, der MB zuzurechnende Organisationen ihren Sitz in Hessen. Milli-Görüs-Bewegung DEFINITION/KERNDATEN Unter der Bezeichnung Milli-Görüs-Bewegung fasst das LfV bestimmte islamistische Bestrebungen türkischen Ursprungs zusammen. Ihr verbindendes Element liegt in der grundlegenden Orientierung an der Ideologie der türkischen Bewegung Milli Görüs (nationale Sicht). Diese Bewegung geht im Wesentlichen auf den Politiker Necmettin Erbakan zurück, der den Laizismus in der Türkei zugunsten einer islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung auf dem Fundament von Koran, Sunna und Scharia überwinden wollte. Erbakans Vision war es, eine "Großtürkei" nach dem Vorbild des Osmanischen Reiches zu errichten. Zur Milli-Görüs-Bewegung (seit 2019 unverändert etwa 1.450 Anhänger in Hessen) gehörten * die Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit), in Deutschland vertreten durch den Saadet Europa e. V. und in Hessen repräsentiert durch den Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. (im Folgenden als SP Europa oder SP Hessen bezeichnet), sowie * die Milli Gazete (Nationale Zeitung). EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Auch im zwölften Todesjahr Necmettin Erbakans standen die Erinnerung an ihn und an sein Lebenswerk im besonderen Fokus der Anhänger der Milli-Görüs-Bewegung. Nach wie vor wird Erbakan als universales Vorbild und geistiger Führer verehrt. Vielfältige Angebote der SP Hessen banden im Berichtsjahr sowohl langjährige Mitglieder als auch den Nachwuchs weiterhin fest an die Organisation. Die Tageszeitung Milli Gazete fungierte als Sprachrohr und Bindeglied innerhalb der Milli-Görüs-Bewegung und verbreitete wie in der Vergangenheit mehrfach antisemitische Propaganda aus der Türkei. 228 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS AUF EINEN BLICK * Necmettin Erbakan: "Lehrer und Vorbild" * Aktivitäten der SP Hessen * Enge Bindung an die SP in der Türkei * Milli Gazete als Verkünder der "göttlichen Wahrheit" * Antisemitismus in der Milli Gazete Necmettin Erbakan: "Lehrer und Vorbild" | Anlässlich des zwölften Todestags Necmettin Erbakans am 27. Februar organisierte die SP in der Türkei und im Umfeld der SP Europa wie in der Vergangenheit verschiedene Gedenkveranstaltungen im Rahmen der sogenannten ErbakanWoche. Die SP Hessen führte ihre Veranstaltung am 12. März in Großkrotzenburg (Main-Kinzig-Kreis) durch. Als Redner traten Funktionäre der SP Hessen, der SP Europa und der SP aus der Türkei auf, als Ehrengast hielt auch der frühere persönliche Assistent Erbakans eine Rede. Anfang Juni verstarb in Dormagen (Nordrhein-Westfalen) der frühere Weggefährte Erbakans, Hasan Damar, einer der Gründer der MilliGörüs-Bewegung in Europa. Damar war häufig Referent und Ehrengast auch bei Veranstaltungen der SP Hessen. Anlässlich seines Todes veröffentlichte die SP Beileidsbekundungen und gedachte seiner wichtigen Vorreiterrolle für die Bewegung. Aktivitäten der SP Hessen | Funktionäre und Anhänger kamen auch im Berichtszeitraum weiterhin regelmäßig in der "Zentrale" der SP Hessen in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) zusammen, um dort ihren Aktivitäten nachzugehen und Veranstaltungsund Bildungsangebote wahrzunehmen. Besonders in der ersten Hälfte des Berichtsjahrs bestimmte der Wahlkampf der SP in der Türkei die Aktivitäten. Treffen und Veranstaltungen standen im Zeichen der Parlamentsund Präsidentschaftswahlen am 14. Mai und sollten die Anhänger motivieren, sich für die SP zu engagieren. 2018 ging die SP in der Türkei ein Wahlbündnis mit anderen Parteien ein. Vertreter der SP Hessen suchten in Anlehnung daran Kontakte zu Personen und Vereinen in Hessen, bei denen eine Nähe zu anderen Parteien des Wahlbündnisses bestand. Zum Beispiel wurde das Fastenbrechen am 15. April in Hanau (Main-Kinzig-Kreis), zu dem die SP Europa eingeladen hatte, gemeinsam begangen. Per Videoübertragung wurde der SP-Vorsitzende Temel Karamollaoglu zugeschaltet. Im Falle eines Wahlerfolgs, erklärte er, werde man sich nicht das "Hemd der Zionisten" anziehen und "auch keine Verdienstmedaille von Zionisten entgegennehmen". Unvermindert versuchte die SP Hessen außerdem, ihren Nachwuchs an die Organisation zu binden und neue Anhänger für die Organisation zu gewinnen. Besonders im Jugendbereich wurden dazu Schulungsveranstaltungen, Vorträge, Ferienlager und andere FreiHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 229 ISLAMISMUS zeitaktivitäten angeboten, um mit Interessierten in Kontakt zu treten und sie an die Milli-Görüs-Bewegung heranzuführen. Wie in der Vergangenheit engagierten sich einige der in Hessen ansässigen und aktiven SP-Funktionäre auf höheren Organisationsebenen. Ein früherer Vorsitzender der SP Hessen bekleidete zum Beispiel ein Führungsamt bei der SP Europa und war damit maßgeblich für deren Aktivitäten verantwortlich. Den Vorsitz der Jugendabteilung der SP Europa hatte unverändert der ehemalige Leiter der Jugendabteilung der SP Hessen inne. In dieser Funktion war er Ende Dezember Delegationsleiter einer Bildungsreise jugendlicher SP-Anhänger nach Ankara (Türkei), bei der sie auch mit Vertretern der Parteiführung zusammenkamen. Unter den Teilnehmern waren auch Mitglieder der Jugendabteilung der SP Hessen. Die Milli Gazete berichtete am 27. Dezember, dass Temel Karamollaoglu die Jugendlichen zu einem stärkeren Engagement ermuntert habe. Sie müssten gut ausgebildet sein, um sich der Probleme der türkischen Staatsbürger in Europa annehmen zu können. Enge Bindung an die SP in der Türkei | Mehrfach kamen im Berichtsjahr hochrangige türkische Parteifunktionäre nach Deutschland, um ihre Anhänger über die politische Arbeit der SP in der Türkei zu informieren und die Aktivitäten der hiesigen Strukturen abzustimmen. So nahm in Hessen der Pressesprecher der SP in der Türkei als Gastreferent an einer "Ratssitzung" der SP Hessen am 22. Oktober in der "Zentrale" in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Das Volk trifft seine Vertreter" teil. Anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens fand am 11. November eine Veranstaltung der SP Europa in Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz) statt, wobei sowohl die türkische Führungsriege der SP als auch die der SP Europa auftraten und sich und ihre Arbeit präsentierten. So wurde geäußert, dass es Ziel der SP Europa sei, die Werte und Prinzipien der Milli-Görüs-Bewegung in Europa zu etablieren und das Wachstum der Organisation voranzutreiben. Auch die SP Hessen hatte im Vorfeld in den sozialen Medien für die Veranstaltung geworben. Mitglieder der Jugendabteilung der SP Hessen waren organisatorisch in die Veranstaltung eingebunden, während eine Abordnung erwachsener Anhänger der SP Hessen diese besuchte. Milli Gazete als Verkünder der "göttlichen Wahrheit"| In einem am 24. Januar veröffentlichten Beitrag wurde darüber berichtet, dass der Geschäftsführer der Europaausgabe der Milli Gazete gegenüber Besuchern der Geschäftsstelle in Frankfurt am Main angab, dass die Zeitung ihre Pressepolitik, gemäß derer die "göttliche Wahrheit" (türk. Hak) über allem stehe, auch in Zukunft fortsetzen werde. 230 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS Antisemitismus in der Milli Gazete | Die unverändert enge Verbindung zwischen Milli Gazete und Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei und in Europa war in der Berichterstattung allgegenwärtig. Auf diese Weise konsumierten die Leser auch die in den Artikeln regelmäßig verbreitete antisemitische Propaganda. Am 28. September erschien unter dem Titel "Kommt jetzt der Great Reset?" ein Artikel anlässlich der neuen Sitzungsperiode der Großen Türkischen Nationalversammlung und der Vorlage eines Klimaschutzgesetzes. Laut der Milli Gazete sei dieses Gesetz ein Versuch, die Türkei zur "Sklavin des internationalen Systems" zu machen. Unter dem Deckmantel der globalen Erwärmung und der Klimakrise würden "globale imperialistische und zionistische Zirkel" versuchen, ein "Projekt des Unheils" mit dem Ziel durchzusetzen, die Weltbevölkerung zu verringern, sämtliche Religionen zu vernichten, die Menschheit vollständig zu kontrollieren und zu versklaven. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE 1969 gründete Necmettin Erbakan in der Türkei die Milli-GörüsBewegung und stellte sich damit gegen die vom Gründer der modernen Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, eingeführte Trennung von Staat und Religion. Auf diese Weise wollte Erbakan die Säkularisierung des Landes rückgängig machen und das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben erneut islamisieren. AUF EINEN BLICK * Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei * Milli-Görüs-Bewegung in Deutschland * SP als Repräsentantin der Milli-Görüs-Bewegung Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei | 1970 wurde als politische Vertretung der Milli-Görüs-Bewegung die Milli Nizam Partisi (MNP, Nationale Ordnungspartei) gegründet. 1973 verfasste Erbakan das für die Ideologie der Bewegung noch immer wegweisende Buch "Milli Görüs" (Nationale Sicht). Über Parteiverbote und -neugründungen sowie ein zweimal verhängtes Politikverbot für Erbakan führte der Weg der Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei bis zur 2001 gegründeten und dort bis heute existierenden SP. Erbakan war in der Türkei mehrere Male stellvertretender Ministerpräsident und bekleidete 1996/97 das Amt des Ministerpräsidenten. Milli-Görüs-Bewegung in Deutschland | 1976 entstand in Köln (Nordrhein-Westfalen) als Ableger der Milli-Görüs-Bewegung die Türkische Union Europa e. V. Sie benannte sich 1982 in Islamische Union Europa e. V. (IUE) um. 1984 kam es innerhalb der IUE zu AuseinanHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 231 ISLAMISMUS dersetzungen über die politische Ausrichtung des Vereins. Als Folge gründete sich 1985 in Köln die Avrupa Milli Görüs Teskilatlari (AMGT, Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e. V.) als Nachfolgeorganisation der inzwischen bedeutungslos gewordenen IUE. Aus der AMGT gingen 1995 einerseits die Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft (EMUG) und andererseits die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) hervor. Die Organisation war fortan in einen wirtschaftlichen und einen religiös-ideellen Bereich getrennt. Aufgabe der EMUG war die umfangreiche Grundstücksverwaltung und Betreuung der AMGTund IGMG-Vereine. Die IGMG war auf die religiösen Belange ihrer Mitgliedsvereine ausgerichtet. Viele Moscheevereine änderten in der Folge den Namenszusatz AMGT in IGMG. Die Zugehörigkeit zur Milli-GörüsBewegung blieb jedoch teilweise bis in die Gegenwart erhalten und zeigte sich oftmals auch in personellen Überschneidungen von AMGT und IGMG. SP als Repräsentantin der Milli-Görüs-Bewegung | Auf politischer Ebene vertritt die von Necmettin Erbakan im Jahr 2001 gegründete SP die Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei. Die SP ging aus der verbotenen Fazilet Partisi (FP, Tugendpartei) Erbakans hervor, aus der damals auch die jetzige türkische Regierungspartei Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - kein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes) entstand. Obwohl sich die AKP mit der Zeit von der ursprünglichen Ideologie der MilliGörüs-Bewegung distanzierte, verbinden sie identische konservative Wurzeln mit der SP. IDEOLOGIE/ZIELE Ebenso wie andere islamistische Bewegungen will die Milli-GörüsBewegung eine auf den Rechtsvorschriften der Scharia beruhende islamische Ordnung realisieren. Da in der früher streng laizistisch orientierten Türkei das Propagieren eines entsprechenden Konzepts gravierende rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hätte, führte Erbakan neue Begrifflichkeiten ein. AUF EINEN BLICK * "Gerechte" und "nichtige" Ordnung * "Neue Welt für die gesamte Menschheit" * Alleinvertretungsanspruch und Antisemitismus in der Milli-Görüs-Bewegung "Gerechte" und "nichtige" Ordnung | Gemäß Erbakans Grundsätzen gibt es in der Welt eine "gerechte" (türk. adil düzen) und eine "nich232 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS tige" Ordnung (türk. batil düzen). Ziel müsse es sein, die schlechte, tyrannische, auf menschlicher Willkür gründende und damit vergängliche Ordnung durch die gute, von Allah vorgegebene und angeblich auf Wahrheit fußende Ordnung zu überwinden. Dies sei allein durch die Milli-Görüs-Bewegung zu erreichen. "Neue Welt für die gesamte Menschheit" | Die Verwirklichung dieser Gedanken propagiert die Milli-Görüs-Bewegung insbesondere in der Türkei, wo eine islamische Staatsund Gesellschaftsordnung nach den Grundlagen von Koran und Sunna geschaffen werden soll. Die Milli-Görüs-Bewegung verbindet in ihrer Gesamtheit einen universalen türkisch-nationalistischen mit einem islamistischen Ansatz. Dementsprechend stand der Vortrag des Generalsekretärs des Saadet Europa e. V. vor jugendlichen SP-Anhängern Ende 2022/Anfang 2023 in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) bei einer Veranstaltung unter der Überschrift "Eine neue Weltordnung". Alleinvertretungsanspruch und Antisemitismus in der Milli-GörüsBewegung | Antisemitische Aussagen sind von Beginn an fester Bestandteil der Milli-Görüs-Bewegung. In einem Interview nahm Erbakan 2010 für sich und die SP in Anspruch: "Wir sind das Volk, deswegen verändern wir die Türkei". Darüber hinaus erklärte er: "Wir werden eine neue Welt schaffen, auf der Basis von Wissenschaft und Vernunft, auf den Grundlagen der gerechten Ordnung, die uns die Osmanen hinterließen. Darin bekommt jeder sein Recht, auf den ihm angemessenen Platz. Auch den Juden und Christen würde so Recht zuteil, auch sie würden befreit". Offen artikulierte Erbakan in Bezug auf Juden und die territoriale Integrität des Staats Israel: "Seit 5700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen sollen. Sehen Sie sich diese Ein-Dollar-Note an. Darauf ist ein Symbol, eine Pyramide von 13 Stufen, mit einem Auge in der Spitze. Es ist das Symbol der zionistischen Weltherrschaft. Die Stufen stellen vier ,offene' und andere geheime Gesellschaften dar, dahinter gibt es ein ,Parlament der 300' und 33 Rabbinerparlamente, und dahinter noch andere, unsichtbare Lenker. Sie regieren die Welt über die kapitalistische Weltordnung. [...] Wenn die Israelis in Frieden leben wollen, wäre es vielleicht besser, wenn sie zum Beispiel in Amerika lebten". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 233 ISLAMISMUS STRUKTUREN Die Milli-Görüs-Bewegung setzt sich aus verschiedenen, grundsätzlich türkischstämmigen Gruppierungen zusammen. Ihre gemeinsame Basis bildet unverändert - in unterschiedlich starker Ausprägung - die Orientierung an den ideologischen und religiösen Vorstellungen Necmettin Erbakans, gepaart mit der fortwährenden Verehrung seiner Person und vielfältigen Aktivitäten zur Verbreitung seiner Botschaften. AUF EINEN BLICK * SP * Milli Gazete SP | Seit einigen Jahren existieren deutschlandweit regionale Ableger der SP Europa, die Anhängerund Wählerpotenzial in Deutschland zu aktivieren versuchten und so die Mutterpartei in der Türkei unterstützten. Dabei repräsentierten die SP-Strukturen in Deutschland die politische Ideologie Necmettin Erbakans innerhalb der Milli-Görüs-Bewegung. In Hessen war dies der Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. (SP Hessen) sowie alle in dessen Umfeld bestehenden Zusammenschlüsse und Gruppierungen. Milli Gazete | Die türkische Tageszeitung Milli Gazete, deren Europaausgabe in Frankfurt am Main verlegt wird, berichtete vornehmlich über die Aktivitäten der SP im Inund Ausland. In ihrem Selbstverständnis sieht sich die Milli Gazete als einzige und konstante Vertreterin der Milli-Görüs-Ideologie unter den Printmedien. Immer wieder hob die Zeitung in ihren Artikeln Erbakan als den Retter der Welt hervor und rühmte dessen Ideologie der Errichtung einer neuen Welt, in welcher der Islam wiederbelebt werde und über allen anderen Ordnungen stehe. Die Milli Gazete nimmt für die verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Milli-Görüs-Bewegung die Rolle eines wichtigen, verbindenden Mediums ein. BEWERTUNG/AUSBLICK Im Berichtsjahr waren sämtliche Gruppierungen, die der Milli-GörüsBewegung zuzurechnen sind, in Hessen in unterschiedlicher Ausprägung aktiv. Mit einem breiten Veranstaltungsangebot wurden die ideologischen Vorstellungen sowie die damit verknüpften gesellschaftspolitischen Ziele adressatenorientiert vermittelt. Necmettin Erbakan ist unverändert die identitätsstiftende Leitfigur der Milli-Görüs-Bewegung und hat somit weiterhin einen hohen Stellenwert und eine wichtige Vorbildfunktion. Vertreter der SP zeigten offen ihre anhaltende Verehrung Erbakans. 234 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS Die Vernetzung mit Akteuren und Strukturen in die Türkei zeigte sich im Berichtsjahr am deutlichsten bei der SP Hessen, die unverkennbar für Erbakans Ideen, das heißt seine "gerechte Ordnung", eintrat. Funktionäre aus Hessen waren bei allen Schulungen und Treffen der SP Europa präsent und vereinzelt Teil von Delegationen, die in der Türkei oder bei deren Deutschlandbesuchen mit der Parteiführung zusammenkamen. Dass sich einige der in Hessen ansässigen und aktiven SP-Funktionäre auf höheren Organisationsebenen engagieren, spiegelt den hohen Stellenwert der SP Hessen und ihrer Funktionäre für die SP Europa und auch die SP in der Türkei wider. Die Milli Gazete spielte weiterhin eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Ideologie und Propaganda der Milli-Görüs-Bewegung, wobei sie im Berichtszeitraum regelmäßig auch antisemitische Beiträge veröffentlichte und damit bei ihren Lesern für eine dauerhafte Präsenz und Verfestigung von antisemitischem Gedankengut sorgte. Somit förderte sie mit der Aufrechterhaltung alter Feindbilder eine Ablehnung des Gedankens der Völkerverständigung und einer pluralistischen Gesellschaft. SONSTIGE BEOBACHTUNGSOBJEKTE Neben den oben genannten Personenzusammenschlüssen gab es weitere islamistische Gruppierungen und einschlägige Veranstaltungen mit Hessenbezug, von denen die wichtigsten unten aufgeführt sind. AUF EINEN BLICK * Hizb Allah (Partei Gottes) im Spektrum des schiitischen Islamismus * Jährliche al-Quds-Demonstration in Frankfurt am Main * Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands e. V. (IGS) Hizb Allah (Partei Gottes) im Spektrum des schiitischen Islamismus | Die Anfang der 1980er Jahre im Libanon gegründete Hizb Allah fungierte zunächst als Miliz und operierte überwiegend im Verborgenen, wobei sie behauptete, den Libanon gegen Israel zu "verteidigen". Gleichzeitig formulierte die Terrororganisation politische Forderungen, sodass sich ihre politische Vertretung als feste Größe in der libanesischen Parteienlandschaft etablierte. Dessen ungeachtet rückte die Hizb Allah nicht von ihrem erklärten Ziel ab, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 235 ISLAMISMUS eine islamische Herrschaftsordnung im Libanon nach dem Vorbild der iranischen Theokratie errichten zu wollen. Die iranische Staatsführung ist bis heute ein gewichtiger Faktor, der Einfluss auf die Terrororganisation nimmt. Unverändert bestritt die Hizb Allah das Existenzrecht Israels und propagierte den bewaffneten, mit terroristischen Mitteln geführten Kampf als "legitimen Widerstand" gegen die "unrechtmäßigen Besatzer palästinensischen Bodens". Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat erließ 2020 ein Betätigungsverbot für die Hizb Allah, da sich die Tätigkeit der Organisation gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet und Strafgesetzen zuwiderläuft. Hessen bildete in den vergangenen Jahren keinen Schwerpunkt von Aktivitäten der Hizb Allah. Die Zahl der Anhänger bewegte sich nach wie vor im mittleren zweistelligen Bereich; sie waren nicht einheitlich organisiert, sondern trafen sich in einzelnen örtlichen Moscheevereinen. Ein Hizb-Allah-Bezug wurde häufig durch bewusst konspirative Verhaltensweisen und Abschottung vermieden. Zum Teil bekundeten jedoch auf Internetseiten vor allem jüngere Anhänger offen ihre Sympathien mit der Terrororganisation und vernetzten sich untereinander über die sozialen Medien. Jährliche al-Quds-Demonstration in Frankfurt am Main | Anlässlich des al-Quds-Tags fand am 15. April eine Demonstration mit über 650 Teilnehmern in Frankfurt am Main statt. Im Berichtsjahr war Frankfurt am Main die einzige Stadt in Deutschland, in welcher der antisemitische al-Quds-Tag in Form einer Demonstration begangen wurde. Der al-Quds-Tag war 1979 vom iranischen Revolutionsführer Ruhollah Musawi Khomeini als ein "Tag [zur Befreiung] der Heiligen [Stadt Jerusalem] von zionistischer Besatzung" ins Leben gerufen worden. "AlQuds" bedeutet "die Heilige" und ist die arabische Bezeichnung für die Stadt Jerusalem. Ziel des al-Quds-Tags, der jährlich am letzten Freitag des Fastenmonats Ramadan begangen wird, ist die weltweite Mobilisierung für die Eroberung Jerusalems und die vollständige islamische Herrschaft über die Stadt. In Deutschland fanden al-Quds-Demonstrationen bis 1995 in Bonn (Nordrhein-Westfalen) und seitdem in Berlin statt. Bis 2004 unterstützte das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) die Veranstaltungen; seit 2003 wurden diese in Berlin von einem dem IZH nahestehenden Verein organisiert. Auf den dortigen al-Quds-Demonstrationen wurden immer wieder Flaggen und Symbole der Hizb Allah gezeigt, was seit 2016 verboten ist. Seit 2015 fanden al-Quds-Demonstrationen auch in Frankfurt am Main statt, wobei diejenige im Berichtsjahr die bisher größte Veran236 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS staltung in der Rhein-Main-Metropole war. Für sie war international geworben worden. Die nach Geschlechtern getrennten Teilnehmerinnen und Teilnehmer zogen vom Hauptbahnhof zum Messegelände, wo die Abschlusskundgebung stattfand. Durch das scheinbar "unverfängliche" Motto "Stoppt den Krieg" sollte offenbar ein direkter Bezug zum antisemitisch konnotierten al-Quds-Tag verschleiert werden. Deutlich wurde die ideologische Nähe zum al-Quds-Tag und dem iranischen Regime jedoch durch die hohe Anzahl an iranischen Flaggen und Bildern der iranischen Revolutionsführer Khomeini und Khamenei an der Spitze des Demonstrationszugs. Die Teilnehmer skandierten unter anderem Parolen wie "Stoppt die Apartheid gegen Palästina" und "Muslime, Juden und Christen: Hand in Hand gegen Zionisten". Wie im vergangenen Jahr nannte auf der Abschlusskundgebung ein Redner Israel einen "Apartheidsstaat". Dabei verwies er auf einen Bericht von Amnesty International, worin es hieß, dass fast alle zivilen Verwaltungsund Militärbehörden Israels sowie staatlichen und quasistaatlichen Institutionen an der Durchsetzung des "Apartheidsystems gegen die Palästinenser*innen" beteiligt seien. Dagegen hatte bereits im Februar 2022 ein Sprecher des Auswärtigen Amts mit Bezug auf den Bericht von Amnesty International öffentlich erklärt: "Begriffe wie ,Apartheit", ebenso wie eine einseitige Fokussierung der Kritik auf Israel lehnen wir ab". Nach der al-Quds-Demonstration in Frankfurt am Main wurden Videos von der Veranstaltung in den sozialen Medien veröffentlicht, die mit antisemitischen Liedern unterlegt waren. Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands e. V. (IGS) | Die 2009 in den Räumlichkeiten des IZH gegründete und seit 2017 als gemeinnützig anerkannte IGS strebt eine Gleichstellung und Gleichbehandlung mit anderen Religionsgemeinschaften, die den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts besitzen, an. Der Dachverband IGS umfasste eigenen Angaben zufolge etwa 150 Mitgliedsvereine und versteht sich als Interessensvertretung der schiitischen Vereine in Deutschland. Offizielles Ziel der IGS ist die Einigung aller schiitischen Vereine in einer gemeinsamen Organisation, um die Interessen der Mitgliedsvereine nach innen und außen vertreten und fördern zu können. Über das IZH wurde die Programmatik der "iranischen Revolution" innerhalb der IGS verbreitet. Zentrale Elemente des islamistischen Herrschaftssystems sind die religiöse und politische Machtausübung durch eine einzelne Person, das heißt den Revolutionsführer, aktuell Ayatollah Ali Khamenei, und die weltweite Verbreitung der iranischen Revolutionsidee, wie diese im Iran bereits erfolgreich umgesetzt wurde. Das theokratische Herrschaftskonzept der Islamischen Republik Iran ist mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 237 ISLAMISMUS nicht vereinbar und würde bei einer Umsetzung in Deutschland unter anderem die Abschaffung der Trennung von Staat und Religion bedeuten. Das IZH stand im Berichtsjahr weiterhin unter der direkten Kontrolle des Büros des iranischen Revolutionsführers - somit des iranischen Regimes - und wurde von dort aus gesteuert. Die IGS begriff das IZH als "geistige Heimat" aller Schiiten in Deutschland und als bedeutende Referenzorganisation, die es zu "verteidigen" gelte. Bereits 2020 solidarisierten sich zahlreiche Vertreter von IGS-Mitgliedsvereinen als Reaktion auf die in Hamburg öffentlich erhobene Forderung nach Prüfung eines Vereinsverbots unter dem Hashtag "wir sind alle IZH". Die Einflussmöglichkeiten des IZH, das auch Mitgliedsverein in der IGS ist, waren darüber hinaus satzungsgemäß verankert. Der Leiter des IZH war als Vorsitzender des IGS-"Gelehrtenrats" institutionell in die IGS eingebunden und besaß über dieses Kontrollgremium weitreichende Befugnisse. Es ist davon auszugehen, dass das IZH der maßgeblich führende Verein innerhalb des IGS-Dachverbands ist. Verschiedene Akteure aus Hessen hatten in der Geschichte der IGS führende Positionen innerhalb des Verbands dauerhaft inne. Seit 2022 prüft das Bundesinnenministerium des Innern und für Heimat ein Verbotsverfahren gegen das IZH als "Drehscheibe der Operationen des iranischen Regimes in Deutschland". Im Berichtsjahr fanden bundesweit Durchsuchungsmaßnahmen im Rahmen eines vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen das IZH und dessen Teilorganisationen in 54 Objekten statt. In Hessen kam es zu Exekutivmaßnahmen im Raum Gießen, im Hochtaunuskreis und in Frankfurt am Main. Dabei wurden umfangreiche Asservate zwecks Auswertung sichergestellt. Die IGS sah die zuständigen Behörden auf einem "Pfad der Kriminalisierung" und wies den Extremismusverdacht zurück. In Frankfurt am Main war das Zentrum der Islamischen Kultur (ZIK) als einflussreichster Mitgliedsverein der IGS in Hessen Ziel der Ermittlungsmaßnahmen. Das ZIK hatte seit seiner vereinsrechtlichen Gründung zahlreiche Verbindungen zum IZH. So wurde das Grundstück des ZIK 2012 durch das IZH erworben und befand sich seitdem in dessen Eigentum. Personelle Verbindungen zum IZH waren auf der Führungsebene der IGS über Jahre, in persona des ZIK-Leiters, augenfällig, der bis November 2020 den Vorsitz in der IGS ausübte. In der Vergangenheit wurden im ZIK regelmäßig Veranstaltungen mit positivem Bezug zum iranischen Regime abgehalten, das heißt vor allem zum Todestag Ayatollah Khomeinis, des Gründers der Islamischen Republik Iran. 238 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ISLAMISMUS ISLAMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN Im Vergleich zu 2022 (27) nahm im Berichtsjahr die Anzahl der islamistischen Strafund Gewalttaten um 119 zu und stieg somit um mehr als das Fünffache. Die Zahl der Gewalttaten erhöhte sich von einem Delikt (2022) auf drei Delikte. Der erhebliche Gesamtanstieg resultierte aus der Zunahme der Delikte im Bereich "andere Straftaten" von 25 (2022) auf 139, wovon 29 Propagandadelikte waren. Im Berichtsjahr kam es - maßgeblich ausgelöst durch den erneut virulenten Nahostkonflikt - vermehrt zu Fällen der Belohnung und Billigung von Straftaten, der Volksverhetzung sowie des Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen bzw. des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Eine versuchte Tötung wurde zunächst als islamistisch motiviert klassifiziert, was sich jedoch nicht bestätigte. (Siehe im Glossar unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität zur Erfassung politisch motivierter Strafund Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 239 ISLAMISMUS 240 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG - MERKMALE - EXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL MIT AUSLANDSBEZUG - KURDISCHER EXTREMISMUS - TÜRKISCHER LINKSEXTREMISMUS - EXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN MIT AUSLANDSBEZUG EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG MERKMALE Der nichtreligiös motivierte Extremismus mit Auslandsbezug umfasst sicherheitsgefährdende extremistische und terroristische Bestrebungen in Deutschland, die im Zusammenhang mit politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen im Ausland stehen und überwiegend von Menschen mit Bezug zu den politischen Verhältnissen in einem anderen Staat getragen werden. AUF EINEN BLICK * Gegen Völkerverständigung und friedliches Zusammenleben der Völker gerichtet * Breites Spektrum von Bestrebungen mit Auslandsbezug Gegen Völkerverständigung und friedliches Zusammenleben der Völker gerichtet | Extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug richten sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung bzw. das friedliche Zusammenleben der Völker. Diese Bestrebungen gefährden die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland, indem ihre Urheber Gewalt anwenden oder darauf ausgerichtete Handlungen vorbereiten. Obwohl diese Bestrebungen nicht in erster Linie auf die Abschaffung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen, können sie die Sicherheit des Bundes oder der Länder gefährden. Breites Spektrum von Bestrebungen mit Auslandsbezug | Die Art der politischen Agitation zur Umsetzung dieser extremistischen Aktivitäten ist vielfältig. Sie reicht von Demonstrationen und Kundgebungen mit zum Teil gewalttätigem Verlauf bis hin zu "Spendensammelaktionen" und zur logistischen Unterstützung von Konfliktparteien im Herkunftsland. Das schließt die Unterstützung ausländischer terroristischer Gruppierungen ein. Die unterschiedlichen Zielrichtungen von Organisationen mit Auslandsbezug lassen sich im Wesentlichen unterteilen in * nationalistische, rechtsextremistische Bestrebungen, * linksextremistische Bestrebungen sowie * ethnisch motivierte Autonomiebzw. Unabhängigkeitsbestrebungen. Die Übergänge sind dabei oft fließend. 242 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG EXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL MIT AUSLANDSBEZUG1 Das der kurdischen Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) zuzuordnende Personenpotenzial befindet sich seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau; es orientiert sich vor allem an regelmäßigen Demonstrationslagen in Hessen und bildet die tatsächlichen aktiven PKK-nahen Kurden in Hessen ab. Dagegen fällt das - auch sehr kurzfristig aktivierbare - Mobilisierungspotenzial der PKK deutlich höher aus, was insbesondere für Großveranstaltungen mit Bezug zu ihrem in der Türkei inhaftierten Anführer Abdullah Öcalan oder bei Angriffen der türkischen Armee auf die PKK gilt. Im Bereich des türkischen Rechtsextremismus reduzierte sich das Personenpotenzial aufgrund inaktiver und geschlossener Vereine. Zudem gab es eine neuerliche Korrektur der Anzahl der virtuell aktiven nichtorganisierten Anhänger der Ülkücü-Bewegung. Diese Änderung resultierte aus der weiterhin vorgenommenen differenzierten Analyse des LfV in Bezug auf die Verwendung und Zuordnung vor allem von türkisch-nationalistischen Symbolen und Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 243 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Da Akteure im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug öffentlich kaum durch Aktionen auf sich aufmerksam machten - Ausnahme war die PKK - und überwiegend interne Veranstaltungen durchführten, ist in Hessen eine valide Quantifizierung der Gewaltorientierung entsprechender Personenzusammenschlüsse nicht möglich. Extremisten mit Auslandsbezug nutzten zum überwiegenden Teil friedliche Mittel, um nicht in den Fokus der Sicherheitsbehörden zu geraten. Deutschland diente eher als Rückzugsraum, um Spenden zu sammeln, Propaganda für die eigene Sache zu betreiben und mittels einer breiten gesellschaftlichen Vernetzung für das jeweils eigene Anliegen zu werben und Anhänger ideologisch zu binden. Vor diesem Hintergrund wird auf Bundesund Länderebene übereinstimmend die Anzahl der gewaltorientierten Personen im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug nicht ausgewiesen. (Siehe im Glossar auch die Erläuterung zum Begriff Personenpotenzial.) Logo der PKK Führung: Abdullah Öcalan (seit 1999 in KURDISCHER EXTREMISMUS der Türkei inhaftiert), Murat Karayilan (Irak), Cemil Bayik (Irak) Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Anhänger/Mitglieder: Kurdistans) In Hessen etwa 1.500 (seit 2019 unverändert), die bundesweite DEFINITION/KERNDATEN Zahl lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor Ursprüngliches Ziel der PKK war es, einen sozialistisch geprägten Staat ("Kurdistan") zu schaffen. Nachdem die strikt Bewaffnete Gruppen: Hezen Parastina Gel (HPG, hierarchisch aufgebaute Kaderpartei 1984 zur Erreichung dieses Volksverteidigungseinheiten), Ziels einen blutigen Guerillakrieg gegen die Türkei begonnen hatte, Teyrebazen Azadiya Kurdistan rückte sie seit 1999 zunehmend davon ab. Inzwischen fordert die (TAK, Freiheitsfalken Kurdistans) PKK die Anerkennung der kurdischen Identität und Autonomie. Laut Syrischer Ableger: eigenen Aussagen will die PKK dies vor allem auf politischem Wege Partiya Yekitiya Demokrat (PYD, erreichen. Seit November 1993 (bestandskräftig seit März 1994) ist Partei der Demokratischen die PKK in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegt. Die Union), deren militärischer Arm, EU stuft die PKK seit 2002 als terroristische Organisation ein. bestehend aus den Yekineyen Parastina Gel (YPG, Volksverteidigungseinheiten) und den Yekineyen Parastina Jin (YPJ, EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Frauenverteidigungseinheiten) Die seit etwa 2017 zu beobachtende Verlagerung von PKK-nahen Medien (Auswahl): Großveranstaltungen nach Frankfurt am Main setzte sich im BeYeni Özgür Politika (YÖP, Neue richtsjahr fort. Nach den zentralen Newroz-Feierlichkeiten (2017 bis Freie Politik) als Sprachrohr der 2022) und dem Zilan-Frauenfestival (2022) wurde auch das "InterPKK, Serxwebun (Unabhängignationale Kurdische Kulturfestival" wieder in Frankfurt am Main keit), Internetpräsenzen, Sterk TV/ NUCE-TV durchgeführt. Somit fanden mittlerweile regelmäßig PKK-nahe Großveranstaltungen mit mehreren tausend Teilnehmern in Hessen \ statt. Die Feier zum kurdischen Neujahrsfest Newroz erreichte dabei 244 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG im Berichtsjahr mit bis zu 35.000 Personen einen seit den 1990er Jahren nicht mehr erzielten Höchstwert. Wegen seiner zentralen Lage in Deutschland und Europa, der guten Verkehrsanbindung und der hohen Teilnehmerzahl bei der Newroz-Feier werden die PKKnahen Organisationen vermutlich auch künftig an Frankfurt am Main als Veranstaltungsort festhalten. AUF EINEN BLICK * Zentrale bundesweite Newroz-Feier * 31. "Internationales Kurdisches Kulturfestival" * Sachbeschädigungen - Demonstrationen * Anschlag in der Türkei Zentrale bundesweite Newroz-Feier | Wie im Vorjahr meldete die PKK-nahe Dachorganisation Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistaniyan e. V. (FCDK/KAWA, Demokratische Föderation der Gesellschaften Kurdistan e. V.) die zentrale Kundgebung zum kurdischen Neujahrsfest Newroz für den 25. März in Frankfurt am Main an. Das Motto lautete "Mit dem Widerstands[-]Geist des Newroz ist Freiheit ein Recht! - Freiheit für Öcalan". Erwartet wurden laut Anmeldung 15.000 Personen, tatsächlich versammelten sich am Veranstaltungstag bis zu 35.000 aus ganz Deutschland in Frankfurt am Main. Bundesweit mobilisierten PKK-nahe Vereine und Jugendverbände sowie deutsche und türkische linksextremistische Gruppierungen, aber auch Organisationen aus dem nichtextremistischen Spektrum für die Veranstaltung. Neben Musikdarbietungen kam es zu verschiedenen Redebeiträgen. Eine Videoeinspielung von Mitgliedern der PKK-Führung im Kandilgebirge (Irak) gab es im Unterschied zu 2022 nicht. Während der Veranstaltung zeigten die Teilnehmer verbotene Öcalan-Abbildungen und PKK-Fahnen und skandierten Parolen wie "Biji Serok Apo" (Es lebe der Vorsitzende Apo) und "Biji PKK" (Es lebe die PKK), sodass die Polizei die Organisatoren aufforderte, für das Unterlassen dieser Aktivitäten zu sorgen. Die sich in Hessen verfestigende Zusammenarbeit zwischen deutschen und kurdisch-türkischen Linksextremisten zeigte sich bei den Merchandise-/Literaturund Informationsständen, die unter anderem von folgenden Organisationen betrieben wurden: Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), Marksist Leninist Komünist Partisi (MLKP, Marxistische Leninistische Kommunistische Partei) und die MLKP-Jugendorganisation Young Struggle. Gegen die von Besuchern des türkischen Spektrums mitgebrachten Fahnen mit dem Abbild der verstorbenen MLKP-"Märtyrerin" Ivana Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 245 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Hoffmann (Nordrhein-Westfalen) und Fahnen der LGTBQ-Bewegung regte sich unter den kurdischen Besuchern Widerstand. In einem kurzen Gerangel versuchten sie, den türkischen Teilnehmern die Fahnen zu entreißen bzw. das weitere Zeigen zu unterbinden. Hiervon und von einzelnen Verstößen gegen das Vereinsund Versammlungsgesetz wie dem Zeigen von Öcalan-Abbildungen abgesehen, verlief die Newroz-Feier störungsfrei. Allerdings behauptete die PKK, dass während der gesamten Feier (verbotene) PKK-Parolen skandiert worden seien. Mit den zum Preis von 10 bis 20 Euro verkauften Bustickets, die gleichzeitig als Eintrittskarten dienten, und den Einnahmen aus dem Verkauf von Speisen und Getränken erwirtschaftete die PKK wahrscheinlich einen hohen sechsstelligen Betrag. Dazu kommen die vom PKK-nahen Heyva Sor a Kurdistane (Kurdischer Roter Halbmond) gesammelten Gelder für die Opfer des Erdbebens am 6. Februar im Südosten der Türkei und im Norden Syriens. 31. "Internationales Kurdisches Kulturfestival" | Auch die neben der Newroz-Feier größte jährlich stattfindende PKK-nahe Veranstaltung fand am 9. September in Frankfurt am Main statt. Verantwortlich zeichnete sich wie in der Vergangenheit die FCDK/KAWA, die im März bereits die Newroz-Feier ausgerichtet hatte. Im Gegensatz hierzu versammelten sich zum "Internationalen Kurdischen Kulturfestival" mit 12.000 Personen deutlich weniger Besucher. Redebeiträge und Musikdarbietungen prägten das "Kulturfestival", allerdings musste die Polizei immer wieder das Zeigen von ÖcalanAbbildungen unterbinden. So trug eine 150-köpfige Personengruppe im Bereich einer Parkfläche entsprechende Kleidungsstücke und Armbinden, die sie aufgrund der Ansprache durch die Polizei ablegten. Auf dem Veranstaltungsgelände leistete ein Standbetreiber der Aufforderung der Polizei Folge, keine T-Shirts mit dem Konterfei Öcalans zu verkaufen. Vor der Bühne wurden während der Veranstaltung vereinzelt verbotene Flaggen gezeigt, wobei die Veranstaltungsleiter und Ordner immer wieder versuchten, dies durch Lautsprecherdurchsagen zu unterbinden. Vor Beginn der insgesamt friedlichen Veranstaltung kam es zu Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamte, als diese bei zwei Festivalbesuchern, die auf dem Weg zum Einlass ein Öcalan-Plakat mit sich führten, eine Identitätsfeststellung vornehmen wollten. Mehrere Besucher halfen einer der Personen sich der polizeilichen Kontrolle zu entziehen, während andere ihren Unmut über die polizeiliche Maßnahme äußerten. Nur indem sie weitere Kräfte einsetzte und unmittelbaren Zwang ausübte, vermochte die Polizei die Situation zu 246 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG beruhigen. Im Rahmen einer weiteren Personenkontrolle während des "Kulturfestivals" solidarisierten sich Besucher erneut mit einem Festgenommenen. Dabei warfen sie Flaschen, Holzlatten, Warnbarken und Straßenschilder auf die Einsatzkräfte, ein Polizist wurde leicht, eine Polizistin schwer verletzt. Wiederum musste die Polizei unmittelbaren Zwang anwenden, um die Lage zu deeskalieren. Sachbeschädigungen - Demonstrationen | Am 24. März, das heißt einen Tag vor der zentralen Newroz-Feier in Frankfurt am Main, beschmierten unbekannte Täter in Michelstadt (Odenwaldkreis) elf Fahrzeuge und ein Motorrad in einem Parkhaus mit Parolen wie "PKK" und "Her Biji Kurdistan" (Lang lebe Kurdistan). Am 2. November kam es zu einem mutmaßlich von PKK-nahen Gruppen initiierten Brandanschlag auf ein Gebäude in Offenbach am Main, in dem neben verschiedenen Firmen drei türkische Vereine ihre Räumlichkeiten hatten. Auf die Fassade wurden die Parolen "Biji PKK, Biji PJK" (Es lebe die PKK, es lebe die PJK) und "Tod dem Faschismus" gesprüht, durch eine eingeschlagene Scheibe wurden Molotow-Cocktails ins Treppenhaus geworfen, wobei es der Feuerwehr gelang, den Brand zeitnah zu löschen. Später wurde auf der PKK-nahen Internetplattform Nuce Ciwan (Junge Nachrichten) ein Bekennervideo veröffentlicht, worin zu sehen war, wie eine dunkel gekleidete Person mit Kapuze - mutmaßlich eine Frau - die Molotow-Cocktails entzündete und durch die zerborstene Scheibe warf. Der Beitrag war betitelt mit "Eine Aktion des zivilen Ungehorsams, die die jungen Anhängerinnen Öcalans möglich gemacht haben". Am Vorabend des Brandanschlags war es zu zwei prokurdischen Veranstaltungen gekommen: Im Rahmen des "Welt-Kobane-Tags" demonstrierten in Frankfurt am Main etwa 150 Personen - überwiegend deutsche und türkische Linksextremisten -, während ebenfalls in der Mainmetropole im Cafe KoZ zeitgleich die Veranstaltung "30 Jahre PKK-Verbot - 30 Jahre Repression und Verleugnung" stattfand. Anschlag in der Türkei | Vor dem Eingangsbereich des Ministeriums für innere Angelegenheiten in Ankara (Türkei) sprengten sich am 1. Oktober zwei Selbstmordattentäter in die Luft, wobei zwei Polizisten verletzt wurden. Daraufhin griff die türkische Luftwaffe PKKStellungen im Nordirak an, die türkische Polizei nahm in mehreren Provinzen mehr als 50 Personen fest. Die PKK-nahe Nachrichtenagentur Ajansa Nuceyan a Firate (ANF) zitierte aus einem angeblichen Bekennerschreiben der HPG, dass der Anschlag nach Plan verlaufen und eine Reaktion auf das türkische Vorgehen in den kurdischen Gebieten gewesen sei. Am 21. Dezember demonstrierten in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) etwa 700 Personen - darunter Linksextremisten Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 247 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG - gegen den "Angriffskrieg der türkischen Regierung in Nordund Ostsyrien" und erklärten ihre "Solidarität mit Rojava". ENTSTEHUNG/GESCHICHTE 1978 als eine Partei mit marxistisch-leninistischer Ausrichtung gegründet, suchte die PKK mit ihren bewaffneten Einheiten seit dem 15. August 1984 die Auseinandersetzung mit dem türkischen Militär. Den Kampfhandlungen fielen seitdem mehrere zehntausend Menschen zum Opfer. AUF EINEN BLICK * Wandlungen der PKK * Verurteilung Öcalans * Umbenennungen Wandlungen der PKK | Die ursprünglich marxistisch-leninistisch orientierte Terrororganisation wurde am 27. November 1978 gegründet und strebte danach, durch einen Guerillakrieg einen revolutionären Umbruch zu erreichen und anschließend einen eigenen kurdischen Staat zu gründen. Im Laufe der Jahre veränderte sich diese Forderung hin zu einer konföderalen Vorstellung, die den Kurden in ihren Gebieten weitgehende kulturelle und politische Autonomie und Selbstbestimmung bringen soll. Hierzu sollen zum Beispiel ein eigenes Parlament, eigene Wirtschaftsund Finanzstrukturen, eine anerkannte eigene Sprache und eine eigene Fahne gehören. Vor allem die beiden letzten Punkte sind für die PKK besonders symbolträchtig. Von Beginn an sah die PKK Gewalt als ein wichtiges Mittel im revolutionären Kampf an. Gewalt wurde innerhalb der Terrororganisation - zum Beispiel gegen Abweichler - ebenso angewendet wie im Rahmen bewaffneter Aktionen und Anschläge insbesondere in der Türkei. Dabei gab es, abhängig von der jeweiligen innenpolitischen Entwicklung, immer wieder Phasen eines von der PKK verkündeten "Waffenstillstands" gegenüber der türkischen Regierung. In Europa und Deutschland versuchte die PKK seit Jahren - zumindest nach außen hin - den Eindruck einer politischen Neuorientierung zu erwecken und sich vor allem durch ihren Kampf gegen den IS in Syrien als zuverlässige Partnerin europäischer Staaten darzustellen. Dies geschah auch deshalb, um eine Streichung von der EU-Terrorliste bzw. die Aufhebung des Betätigungsverbots in Deutschland zu erreichen. Verurteilung Öcalans | 1998 entzog Syrien auf massiven Druck der Türkei dem PKK-Anführer Abdullah Öcalan die Unterstützung und veranlasste ihn, sein dortiges Exil aufzugeben. Nach verschiedenen 248 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Aufenthalten in Europa und Afrika wurde Öcalan am 15. Februar 1999 in Kenia festgenommen und in die Türkei gebracht. Am 29. Juni 1999 vom Staatssicherheitsgericht in Ankara zum Tode verurteilt - die Strafe wurde mit Abschaffung der Todesstrafe am 3. Oktober 2002 in lebenslange Haft umgewandelt -, befand sich Öcalan seitdem auf der Gefängnisinsel Imrali in Haft. Für die PKK gilt der 15. Februar als "schwarzer Tag in der Geschichte des kurdischen Volkes". Sie spricht in diesem Zusammenhang von einem "internationalen Komplott". Umbenennungen | 2002 benannte sich die PKK in Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdistane (KADEK, Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans) um. 2003 folgte die Umbenennung in Kongreya Gele Kurdistane (KONGRA GEL, Volkskongress Kurdistans). Damit versuchte die PKK, sich von der "Stigmatisierung" als Terrororganisation zu befreien und sich als politisch neu ausgerichtete Organisation zu präsentieren. 2005 gründete sich die Koma Civaken Kurdistan (KCK, Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans), die sich die Verwirklichung des "demokratischen Konföderalismus" zum Ziel setzte. Darunter versteht die PKK einen nichtstaatlichen Verbund aller Kurden in der Türkei, in Syrien, im Iran und Irak, den sie mit eigenen Regierungsorganen und mit dem Anspruch einer eigenen Staatsbürgerschaft versieht. Die staatlichen Grenzen der Länder, in denen Kurden leben, sollen in diesem virtuellen Verbund unangetastet bleiben. PKK und KCK sind im Wesentlichen strukturell identisch. In der Binnenkommunikation sprechen Funktionäre, Mitglieder und Anhänger - unbeschadet aller jeweils aktuellen Bezeichnungen der Organisation - seit jeher von PKK. Im Außenverkehr tituliert sich die PKK hingegen, wenn sie ihr organisatorisches Ganzes meint, als KCK. Die unterschiedlichen Bezeichnungen der letzten Jahre hinsichtlich der Struktur und personellen Zusammensetzung haben insoweit zu keinen grundsätzlichen Umgestaltungen der PKK geführt. Die Ursprungsorganisation besteht im Wesentlichen fort. IDEOLOGIE/ZIELE Ziel der terroristischen PKK war ursprünglich die staatliche Unabhängigkeit der auf mehrere Staaten im Nahen Osten zersplitterten kurdischen Siedlungsgebiete. Der kurdische Staat ("Kurdistan") sollte in der Türkei aus Südostanatolien, Regionen im Nordosten Syriens ("Rojava"), Gebieten im Norden des Iraks und Gebieten im Westiran bestehen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 249 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG AUF EINEN BLICK * Autonomie in der Türkei * Öcalan als ideologische Führungsfigur Autonomie in der Türkei | Die PKK behauptet, ihr Ziel der staatlichen kurdischen Unabhängigkeit zugunsten eines einheitlichen länderübergreifenden Siedlungsverbunds aller Kurden aufgegeben zu haben, in dessen Rahmen die Grenzen der betroffenen Staaten Bestand haben sollen. Was die in der Türkei lebenden Kurden betrifft, kämpft die PKK für die staatliche Anerkennung ihrer kulturellen und politischen Identität, die in Südostanatolien mittels eines Autonomiestatus - ähnlich der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak - verwirklicht werden soll. Im Zuge des syrischen Bürgerkriegs und der nach wie vor nicht beendeten Auseinandersetzungen mit dem IS streben die PKK und ihr syrischer Ableger PYD auch im Norden Syriens nach Autonomie. Dabei beansprucht die PKK, die Interessen aller Kurden zu vertreten. Öcalan als ideologische Führungsfigur | Der in der Türkei inhaftierte Abdullah Öcalan fungiert weiterhin als ideologische Führungsfigur der Terrororganisation, da er einer der Mitgründer der PKK ist und damals sogleich zum Vorsitzenden gewählt wurde. Darüber hinaus verfasste Öcalan Schriften, die noch heute als Material bei der Kaderschulung dienen. Auch nach seiner Inhaftierung hatte Öcalan jahrelang wichtige Entscheidungen der PKK inhaltlich mitgeprägt, so etwa die Zielsetzung der kulturellen und politischen Autonomie, die an die Stelle der Etablierung eines eigenen "Kurdenstaats" trat. Seit mehreren Jahren ist allerdings nicht mehr bekannt, ob Öcalan die inhaltliche Ausrichtung der PKK noch mitbestimmt. Vor diesem Hintergrund hat Öcalan innerhalb der Terrororganisation weiterhin eine absolut herausgehobene Stellung inne. Im Laufe der Zeit wurde er immer stärker verklärt, sowohl seine Verhaftung 1999 als auch seine Einzelhaft auf der Gefängnisinsel Imrali wurden im Sinne der PKK historisiert. Insgesamt wird Öcalan schon heute als lebender Märtyrer verehrt, der wegen seines Engagements für eine "richtige und gute Sache" zu Unrecht verfolgt, inhaftiert und isoliert werde. Angesichts fehlender Informationen über Öcalan und seine Situation wird bei PKK-Veranstaltungen immer wieder die Forderung erhoben, dass über seinen Gesundheitszustand und seine Haftbedingungen berichtet und ein glaubhaftes Lebenszeichen von ihm abgegeben wird. Bei Gerüchten über eine Verschlechterung seiner Lebensumstände oder seines Tods organisieren PKK-Anhänger sofort Solidaritätsaktionen. 250 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG STRUKTUREN Die Strukturen der PKK in Europa sind weder organisatorisch selbstständig noch sind sie, gleich wo die Führung der Terrororganisation ihren Sitz in der Türkei oder angrenzenden Staaten hat, unabhängig. Zum einen sind diese Strukturen vollständig in den PKK-Aufbau eingegliedert, zum anderen werden auch politisch-ideologische Ziele und die Art und Weise ihrer Umsetzung seitens der PKK-Führung vorgegeben. AUF EINEN BLICK * Regionen und Gebiete * Dachverbände PKK-naher Vereine * Weitere Teilorganisationen * PKK-nahe Medien * Weiteres Umfeld der PKK im Nahen Osten Regionen und Gebiete | Die PKK teilt Deutschland in neun Regionen mit insgesamt 31 Gebieten ein, wobei jede Region - auch Hessen bildet eine solche - von einem konspirativ tätigen Führungskader geleitet wird, dessen Verwendung meistens zeitlich begrenzt ist. Mittels örtlicher kurdischer Vereine steuert die PKK sowohl Informationen als auch verschiedene Vorgaben an ihre Anhänger. Dachverbände PKK-naher Vereine | Als Dachverband der PKK-nahen Vereine in Deutschland fungiert die Almanya'daki Mezopotamya Topluluklar Konfederasyonu (KON-MED, Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland). Ihr gehören fünf Föderationen an, darunter die FCDK/KAWA mit Sitz in Darmstadt. In Hessen sind neun Vereine in verschiedenen Föderationen organisiert. Gemessen am Mobilisierungspotenzial befand sich in Frankfurt am Main und in Darmstadt die größte kurdische Community in Hessen mit PKK-Bezug. Im Unterschied zu Kassel, Gießen (Landkreis Gießen), Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und Frankfurt am Main agierten die PKK-Anhänger in Darmstadt im Berichtsjahr weitgehend autark. Eine signifikante Vermischung oder Unterwanderung mit bzw. durch deutsche und türkische Linksextremisten fand hier seltener statt. Als Dachorganisation für Europa fungiert der Kongreya Civaken Demokratik li Kurdistaniyen Ewropa (KCDK-E, Kurdischer Demokratischer Gesellschaftskongress in Europa). Weitere Teilorganisationen | Darüber hinaus trugen im Berichtsjahr weitere Teilorganisationen die Aktivitäten der PKK: Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 251 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG * Propagandabzw. Frontorganisation (politischer Arm): Koordinasyona Civaka Demokratik a Kurdistan (CDK, Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft). * Tevgera Ciwanen Soresger Soresger (TCS, Bewegung der revolutionären Jugend). * Tevgera Jinen Ciwan en Tekoser (Teko-Jin, Bewegung der kämpferischen jungen Frauen), früher Jinen Ciwanen Azad (Bewegung junger Frauen). * Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V. (Civika Azad). * Heyva Sor a Kurdistane (HSK, Kurdischer Roter Halbmond). * Yekitiya Xwendekaren Kurdistan (YXK, Verband der Studierenden aus Kurdistan). * Jinen Xwendekaren Kurdistan (JXK, Studierende Frauen aus Kurdistan). Als Studierendenverbände waren die JXK und der YXK im Berichtsjahr an hessischen Universitäten in Kassel, Gießen (Landkreis Gießen), Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Frankfurt am Main und Darmstadt aktiv. PKK-nahe Medien | PKK-Positionen werden insbesondere über eigene Medienstrukturen umgesetzt. Neben einem PKK-Fernsehsender (Sterk-TV/NUCE-TV) gibt es die PKK-nahe Nachrichtenagentur ANF (Sitz in den Niederlanden) sowie verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (unter anderem die vom Betätigungsverbot nicht betroffene YÖP, die in Neu-Isenburg im Landkreis Offenbach erscheint, sowie Serxwebun und Ciwanen Azad). Weiteres Umfeld der PKK im Nahen Osten | Mit der PKK verbunden sind die PYD in Syrien sowie die Partiya Jiyana Azad a Kurdistane (PJAK, Partei für ein freies Leben in Kurdistan) und die Partiya Careseriya Demokratik a Kurdistane (PCDK, Partei für eine politische Lösung in Kurdistan) im Irak. Als Schwesterparteien wollen auch sie die Interessen von Kurden vertreten. BEWERTUNG/AUSBLICK Trotz nach wie vor für die PKK virulenter Themen (Haftbedingungen Abdullah Öcalans, dessen ungewisser Gesundheitszustand und anhaltende türkische Maßnahmen bzw. Militäroperationen gegen die Terrororganisation) gelang es ihrer Anhängerschaft in Deutschland im Berichtsjahr nicht, die Intensität des Demonstrationsgeschehens der Vorjahre zu erreichen. Allerdings bildete Frankfurt am Main mit der bundesweiten Newroz-Feier und dem "Kurdischen Kulturfestival" weiterhin einen sehr wichtigen Veranstaltungsort für PKK-nahe Or252 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG ganisationen. Die Veranstaltungen von PKK-Anhängern in Hessen verliefen wie in den Vorjahren weitgehend friedlich. Somit hielt die PKK grundsätzlich an ihrer seit Jahren praktizierten Doppelstrategie fest: Militanz in der Türkei, Gewaltverzicht in Europa. Insgesamt dürfte sich die Bereitschaft der PKK in Hessen, ihre Anliegen durch Kundgebungen und Demonstrationen sichtbar zu machen, vermehrt auf zentrale Großveranstaltungen konzentrieren. In diesem Kontext solidarisieren sich deutsche und türkische Linksextremisten vor allem unter dem Stichwort "Kurdistan" mehr und mehr mit den Belangen der PKK, ohne dass deren Protagonisten diese Entwicklung forcieren. Insbesondere bei jugendlichen Anhängern ist weiterhin davon auszugehen, dass sie zum Beispiel Parteibüros oder Medienanstalten besetzen bzw. Aktionen an symbolträchtigen Örtlichkeiten durchführen werden, um auf die Ziele der PKK aufmerksam zu machen. Dabei sind auch Sachbeschädigungen türkischer Einrichtungen - vor allem von regierungsnahen oder von PKK-Anhängern als nationalistisch bewerteten Einrichtungen - wahrscheinlich. Da sich mittlerweile deutsche Linksextremisten an solchen "Aktionen" beteiligen, wird es immer schwieriger, die Täterschaft genau zuzuordnen. Da die PKK unverändert dafür eintritt, die Aufhebung des Betätigungsverbots und die Streichung von der EU-Terrorliste zu erreichen, wird sie aller Voraussicht nach weiterhin ausloten werden, inwieweit sie hierfür politische Unterstützung erhalten bzw. durch ihr Agieren das Betätigungsverbot unterminieren sowie an dessen juristischer Aufhebung arbeiten kann. TÜRKISCHER LINKSEXTREMISMUS Sonstige Beobachtungsobjekte Neben der PKK gab es in Hessen weitere Organisationen, die im Berichtszeitraum einen bedeutenden Teil des Spektrums im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug bildeten. Die wichtigsten von ihnen sind unten aufgeführt. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 253 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG AUF EINEN BLICK * Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP-C, Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) Gründung und Ideologie Strukturen - Anhängerpotenzial Solidarität mit "politischen Gefangenen" Bewertung/Ausblick * Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist (TKP/ML, Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten) Entstehung und Ideologie - Mitgliederpotenzial Strukturen Erdbeben in der Türkei und in Syrien "Antiimperialismus" und "Antimilitarismus" "Gedenkveranstaltungen" Bewertung/Ausblick * Marksist Leninist Komünist Partisi (MLKP, Marxistische Leninistische Kommunistische Partei) Entstehung und Ideologie Strukturen - Anhängerpotenzial Erdbeben in der Türkei und in Syrien 10. Deutschlandkongress von Young Struggle Kampf für Gleichberechtigung "Antikapitalismus" Bewertung/Ausblick Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP-C, Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) Gründung und Ideologie | Die DHKP-C wurde 1994 als Nachfolgeorganisation der seit 1983 in Deutschland verbotenen Devrimci Sol (Dev Sol, Revolutionäre Linke) gegründet. Von der EU ist die in Deutschland 1998 verbotene Organisation seit 2002 als terroristische Organisation eingestuft. Ähnlich wie Yürüyüs (Marsch), das Publikationsorgan der DHKP-C, dessen Verbreitung seit 2015 durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat verboten ist, ist auch die Musikband Grup Yorum, die in der Vergangenheit regelmäßig Konzerte in Deutschland gab, ein integraler Bestandteil der Terrororganisation. Auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus strebt die DHKP-C einen revolutionären Umsturz der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung und die Errichtung einer klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft in der Türkei an. Die DHKP-C propagiert einen bewaffneten Volkskampf unter ihrer Führung und ist in der Türkei immer wieder auch für Selbstmordanschläge verantwortlich. Zuletzt fand ein solcher Anschlag auf einen Bus der Bereitschaftspolizei in Istanbul 2017 statt. 254 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Strukturen - Anhängerpotenzial | Die DHKP-C gliedert sich in einen politischen und einen militärischen Arm: die Devrimci Halk Kurtulus Partisi (DHKP, Revolutionäre Volksbefreiungspartei) und die Devrimci Halk Kurtulus Cephesi (DHKC, Revolutionäre Volksbefreiungsfront). An deren Spitze steht das Zentralkomitee, dem wiederum Regionalund Gebietsleiter untergeordnet sind. In Deutschland tritt die DHKP-C vornehmlich als Volksfront (Halk Cephesi) und als Anatolische Föderation (Anadolu Federasyonu) auf. Die Jugendorganisation Devrimci Genclik (Dev-Genc, Revolutionäre Jugend) arbeitet eng mit der Führung auf den jeweiligen Ebenen zusammen. In Hessen verfügte die DHKP-C im Berichtsjahr über etwa 65 Anhänger. Solidarität mit "politischen Gefangenen" | Nachdem die Bundesanwaltschaft 2022 drei hochrangige DHKP-C-Funktionäre (zwei türkische Staatsangehörige und einen deutschen Staatsangehörigen) hatte festnehmen lassen und am 2. Januar 2023 Anklage erhoben hatte, begann am 14. Juni vor dem OLG Düsseldorf die Hauptverhandlung. Aus Protest führten DHKP-C-Anhänger bundesweit Solidaritätsveranstaltungen im Rahmen der Kampagne "Weg mit den Paragraphen SS 129, SS 129a und SS 129b!" durch. Vor dem Bundesministerium der Justiz wurde ein "Solidaritätszelt" errichtet, darüber hinaus kam es zu mehreren befristeten Hungerstreiks. Eine Person befand sich im "Todesfasten". Auch der jährlich stattfindende "lange Marsch" stand im Zeichen der "Solidaritätsaktionen". Er startete am 22. Januar in Köln (Nordrhein-Westfalen) und führte durch mehrere Länder, in Hessen machte er in Darmstadt, Frankfurt am Main und Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) Halt. Über das gesamte Berichtsjahr hinweg verteilten DHKP-C-Anhänger unter anderem in Darmstadt und Frankfurt am Main Flugblätter und plakatierten Wandzeitungen. Auch hier ging es häufig um die Solidarität mit den Inhaftierten bzw. die Kampagne "Weg mit den Paragraphen SS 129, SS 29a und SS 129b!" Darüber hinaus kritisierten DHKP-CAngehörige auf Flugblättern die geplante Cannabis-Legalisierung. Im Drogenkonsum sah die DHKP-C die Gefahr einer Degenerierung der Jugend, die es ausdrücklich zu bekämpfen gelte. Bewertung/Ausblick | Die Solidaritätsarbeit für die vor Gericht stehenden Funktionäre nahm im Berichtsjahr unter den DHKP-C-Anhängern einen großen zeitlichen und organisatorischen Raum ein. Die Hungerstreiks und die damit verknüpften Forderungen führten jedoch nicht zum gewünschten Erfolg. Die Festnahmen schwächten die DHKP-C in Deutschland, da wichtige Funktionen abrupt unbesetzt waren und kurzfristig aus unteren Reihen nachbesetzt werden mussten. Außerdem schreckte die Furcht vor einer Strafverfolgung viele Anhänger ab, öffentlich für die Organisation in Erscheinung zu Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 255 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG treten. Insgesamt ist die Aktionsfähigkeit der DHKP-C mittlerweile bereits auf lokaler Ebene stark beeinträchtigt. Die Solidaritätsarbeit für die vor Gericht stehenden Funktionäre stärkten aber den Zusammenhalt von Teilen der Organisation, was vor allem Jugendliche zu faszinieren schien. Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist (TKP/ML, Türkische Kommunistische Partei/MarxistenLeninisten) Entstehung und Ideologie - Mitgliederpotenzial | Die TKP/ML wurde von Ibrahim Kaypakkaya 1972 in der Türkei als kommunistische Kaderorganisation gegründet. 1994 führte eine Spaltung der Partei zur Bildung zweier miteinander konkurrierender Fraktionen: der TKP/MLPartizan und der Maoist Komünist Partisi (MKP, Maoistisch-Kommunistische Partei). 2019 spaltete sich die TKP/ML erneut, sodass sich wiederum zwei Organisationen bildeten, die sich im Namen nur durch ein Schriftzeichen unterscheiden: die TKP/ML und die TKP-ML. In Hessen waren im Berichtsjahr überwiegend die TKP-ML bzw. deren Umfeldorganisationen aktiv, die über etwa 90 Anhänger verfügten. In der Türkei sind die TKP/ML und die aus ihr hervorgegangenen Gruppierungen als Terrororganisationen verboten. Sowohl die ursprüngliche TKP/ML als auch die seit 2019 bestehenden Organisationen waren und sind ideologisch vom Marxismus-Leninismus geprägt, folgen aber auch einer maoistischen Linie. Ihr Ziel ist der revolutionäre Umsturz des politischen Systems in der Türkei und die Schaffung eines "demokratischen Volksstaats" unter der Herrschaft des "Proletariats". Daher führte die TKP/ML von Beginn an einen "bewaffneten Kampf" gegen den türkischen Staat. Um Anschläge in der Türkei verüben zu können, unterhält die heutige TKP/ML in der Türkei die militante Türkiye Isci Köylü Kurtulus Ordusu (TIKKO, Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee). Im Verlauf bewaffneter Auseinandersetzungen getötete Organisationsangehörige werden als "Märtyrer" und "Vorbilder" verehrt. Strukturen | In Deutschland agierte die TKP-ML unter der Dachorganisation Avrupa Türkiyeli Isciler Konfederasyonu (ATIK, Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa) mit der ihr angehörenden Almanya Türkiyeli Isciler Federasyonu (ATIF, Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V.). Diese Umfeldorganisationen waren in lokalen Vereinen organisiert und leisteten in erster Linie propagandistische Unterstützungsarbeit. Durch eine alljährliche Spendenkampagne trugen sie außerdem zur Finanzierung der Partei bei. 256 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Die Yeni Demokratik Genclik (YDG, Neue demokratische Jugend) fungierte als Jugendorganisation der ATÄdegK, die an die ATÄdegF-Ortsvereine angegliedert war. Zu den Umfeldorganisationen gehörte zudem die Yeni Kadin (Neue Frau), die in mehreren Städten - unter anderem in Frankfurt am Main - aktiv war. ATIF-Vereine existierten in OberRamstadt (Landkreis Darmstadt-Dieburg), Darmstadt, Frankfurt am Main und Wiesbaden. Der Verein in Frankfurt am Main betrieb das Jugendzentrum KAGEF, das als Vereinstreff und für Veranstaltungen innerhalb der türkisch-linksextremistischen Szene genutzt wurde. Erdbeben in der Türkei und in Syrien | Nach dem verheerenden Erdbeben am 6. Februar im Südosten der Türkei und im Norden Syriens (etwa 60.000 Tote) wurden das Katastrophenmanagement und der mangelnde Erdbebenschutz in der Türkei öffentlich stark kritisiert. Da vor allem kurdische Gebiete betroffen waren, warfen die Bevölkerung sowie inund ausländische Hilfsorganisationen der Türkei und Syrien unter anderem eine zu langsame Hilfe vor. Türken in Deutschland nahmen Verwandtschaft aus den betroffenen Gebieten auf oder leisteten vor Ort Hilfe. So auch Angehörige der ATIK, die in die Katastrophenregion reisten, dort unterstützten oder in Deutschland Spenden für die Opfer sammelten. Es kam bundesweit - in Hessen vor allem in Frankfurt am Main - zu Solidaritätsveranstaltungen, bei denen Hilfe gefordert, aber auch der Vorwurf verbreitet wurde, dass die staatliche Behörde für Notfallund Katastrophenmanagement der Türkei mit Absicht eklatante Fehler machte. "Antiimperialismus" und "Antimilitarismus" | Die YDG organisierte mehrere Vortragsund Diskussionsveranstaltungen zum Thema "Militarismus". Nach Auffassung der ATIK-Jugendorganisation führe das weltweite Aufrüsten zu mehr militärischen Auseinandersetzungen und Kriegen, die wiederum die "kapitalistisch" geprägte Rüstungsindustrie unterstützen und weiter befeuern würden. Besonders die "imperialistischen" Mächte weiteten ihre Macht auf diese Weise weiter aus. Auch das "31. Jugend-, Kunstund Kulturfestival" am 11. November in Frankfurt am Main widmete sich unter dem Motto "Organisiere die Wut der Jugend gegen Militarisierung" diesem Themenkomplex, der auch kurz vor Festivalbeginn Gegenstand einer Demonstration in der Mainmetropole war. Darüber hinaus wurde der "Militarismus" auch in der YDG-Zeitschrift Solution aus mehreren Blickwinkeln der Jugend beleuchtet. Dies betraf die Jugend, Frauen und Kapitalismuskritiker. "Gedenkveranstaltungen" | Auch im Berichtsjahr gedachte die ATIF verschiedener, für die Ziele der Organisation gestorbener "Märtyrer". Darüber hinaus erinnerte sie an andere ideologisch ähnlich orientierte Personen wie zum Beispiel Rosa Luxemburg und Karl LiebHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 257 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG knecht. Gleichfalls gedachte die ATIF größerer Personengruppen wie der 1982 durch das iranische Regime getöteten Kurden in Mahabad (Iran) und der Menschen, die 2015 bei einem Selbstmordanschlag des IS in Suruc (Türkei) ums Leben gekommen waren. Bewertung/Ausblick | Im Berichtsjahr beschäftigte sich die ATIF mit vielen unterschiedlichen Themen; besonders die Jugendorganisation YDG organisierte Veranstaltungen, die neben internen Treffen auch Diskussionsabende und öffentliche Versammlungen umfassten. Durch die Vielzahl an unterschiedlichen Themen sprachen die ATÄdegFGruppierungen ein breites Publikum an, was sich künftig auf ihre Mitgliederzahlen auswirken könnte. Darüber hinaus wurden auch langjährige Mitglieder stärker angesprochen, sodass eine bessere Bindung an die Organisation gegeben war. Marksist Leninist Komünist Partisi (MLKP, Marxistische Leninistische Kommunistische Partei) Entstehung und Ideologie | 1994 entstand aus dem Zusammenschluss der Türkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist Hareketi (TKP/ML-H, Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-LeninistenBewegung) mit der Türkiye Komünist Isci Hareketi (TKIH, Türkische Kommunistische Arbeiterbewegung) die Marksist Leninist Komünist Parti-Kurulus (MLK-P-Kurulus, Marxistische-Leninistische Kommunistische Partei-Aufbau). Seit 1995 nennt sich die Partei nur noch MLKP, wobei sie in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist. 2016 unterzeichneten die MLKP und die PKK eine Deklaration, in der sie gemeinsam mit anderen Gruppen dem türkischen Staat den Kampf ansagten. Die MLKP will in der Türkei eine kommunistische Gesellschaft nach den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels unter Berücksichtigung leninistischer Leitlinien aufbauen. Durch einen Volksaufstand soll die Revolution "aus dem Herzen des Volkes" ausgelöst und die "Diktatur des Proletariats" in der Türkei eingeführt werden. Strukturen - Anhängerpotenzial | In Deutschland war die MLKP hauptsächlich über ihre Umfeldorganisationen tätig: die Avrupa Ezilen Göcmenler Konfederasyonu (AvEG-Kon, Konföderation der unterdrückten Immigranten in Europa) und die Almanya Göcmen Isciler Federasyonu (AGIF, Föderation der ArbeitsimmigrantInnen aus der Türkei in Deutschland e. V.). Beide stehen der MLKP ideologisch nahe, so besetzen sie dieselben Themen. Die Jugendorganisation Young Struggle, bei der sich nicht nur türkische, sondern auch deutsche Jugendliche engagierten, beschäftigte sich vor allem mit den 258 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Themen "Klassenkampf" und "Antirassismus". Die Anzahl der MLKPAnhänger in Hessen ist nicht bekannt. Erdbeben in der Türkei und in Syrien | Wie auch die ATIF engagierten sich MLKP-Angehörige für die Opfer des Erdbebens am 6. Februar, einige reisten in die betroffenen Gebiete, um dort Hilfe zu leisten. Vor allem in Frankfurt am Main kam es zu Solidaritätskundgebungen und Spendensammlungen. "10. Deutschland Kongress" | Am 16. und 17. Dezember kamen in Frankfurt am Main etwa 100 jugendliche Teilnehmer zusammen, um unter dem Motto "Noch mehr Mut, noch mehr Widerstand!" "Diskussionen über vergangene und zukünftige Arbeiten zu führen". Unter anderem wurde über die weitere gemeinsame Strategie im Kampf gegen "Faschismus" und "Imperialismus" gesprochen. Der Kongress endete mit der Parole "Jugend, Zukunft, Sozialismus!" Kampf für Gleichberechtigung | Auch im Berichtsjahr beschäftigen sich MLKP-nahe Gruppen mit dem Thema "Frauensolidarität". Vor allem Young Struggle führte mehrere Veranstaltungen durch und griff unter anderem den "Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen", der jedes Jahr am 25. November begangen wird, auf. Ebenfalls beschäftigte sich die Gruppierung im Rahmen von "Pride Rebellion" mit den Rechten der LGBTQ+-Bewegung. "Antikapitalismus" | Young Struggle organisierte eine Vortragsveranstaltung und mehrere Kundgebungen, die sich mit der Inflation nach der COVID-19-Pandemie und dem russischen Überfall auf die Ukraine beschäftigten. Unter dem Hashtag #Nicht auf unserem Rücken warben sie in den sozialen Medien für Kundgebungen, die sie zum Teil selbst organisierten. Den Grund für Inflation und "Ausbeutung" sah Young Struggle im "Kapitalismus", wobei der Wohlstand auf Kosten der Mehrheit der Gesellschaft einer privilegierten Minderheit zu Gute komme. Bewertung/Ausblick | Gerade die Jugendorganisation Young Struggle besetzte im Berichtsjahr in Hessen öffentlichkeitswirksame Themen. Die Mitglieder der AGÄdegF traten jedoch nur selten in Erscheinung, sodass deutlich wurde, dass sich Young Struggle thematisch von der AGIF abgrenzte bzw. vor allem Themen für die Jugend besetzte. Der Bezug zur Türkei und innertürkische Themen rückte für die Jugendlichen in den Hintergrund, sodass sie überwiegend Themen im Rahmen ihrer eigenen Lebensumstände aufgriffen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 259 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG EXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN MIT AUSLANDSBEZUG Die Anzahl der Strafund Gewalttaten stieg im Vergleich zu 2022 (37) mit 105 Delikten stark an, was aus der Zunahme des Demonstrationsgeschehens nach einer "Phase der Ruhe" während der COVID19-Pandemie resultierte. Darüber hinaus ist die signifikante Erhöhung mit Resonanzstraftaten im Kontext des Terrorüberfalls der HAMAS auf Israel zu erklären. Zwei Delikte (eine Tötung und eine versuchte Tötung) waren zunächst als extremistisch motiviert klassifiziert worden, was sich jedoch nicht bestätigte. (Siehe im Glossar unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität den Eintrag zur Erfassung politisch motivierter Strafund Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund.) 260 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL REAKTIONEN VON EXTREMISTEN TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL Am 7. Oktober drangen HAMAS-Terroristen vom palästinensischen Gazastreifen aus nach Israel ein und ermordeten etwa 1.200 Menschen, darunter viele Besucher eines Konzerts. Rund 5.400 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Dabei gingen die Terroristen auf eine unsäglich brutale und grausame Art und Weise vor, indem sie ihre Opfer unter anderem folterten und vergewaltigten und entsprechende Videos in den sozialen Medien verbreiteten. Die Terroristen nahmen etwa 240 israelische und ausländische Staatsbürger als Geiseln und verschleppten sie in den Gazastreifen. Israel erklärte einen Tag später den Kriegszustand und startete zur Bekämpfung der HAMAS eine militärische Offensive zu Land, zu Wasser und in der Luft. Laut Angaben des von der HAMAS geführten Gesundheitsministeriums im Gazastreifen seien bis zum Ende des Berichtsjahrs seit dem 7. Oktober im Gazastreifen angeblich mehr als 20.000 Menschen ums Leben gekommen und mehr als 60.000 Menschen verletzt worden, wobei sich die humanitäre Lage im palästinensischen Autonomiegebiet zunehmend prekär gestaltete. Israel gab an, etwa 7.860 Terroristen der HAMAS getötet zu haben. Jihadistische Organisationen wie der IS und al-Qaida sowie jihadistische Einzelpersonen riefen weltweit zu Anschlägen, besonders in Israel, Europa und im "Westen" auf. Auch in Deutschland reagierten Akteure und Gruppierungen aller extremistischen Phänomenbereiche auf den erneut ausgebrochenen Nahostkonflikt. Dabei kam es bundesweit, das heißt auch in Hessen, bei propalästinensischen Demonstrationen teilweise zu antisemitischen und das Existenzrecht Israels verneinenden Reaktionen, mitunter auch zu Ausschreitungen. In Hessen verliefen die Veranstaltungen vorwiegend friedlich, das heißt bei einigen kam es zu Straftaten (Zeigen verbotener Symbole, Verunglimpfungen Israels) oder zu Ordnungswidrigkeiten. In den sozialen Medien nahmen judenund israelfeindliche Hasskommentare und Hetze jedoch massiv zu. Insgesamt wurden in Hessen bis zum Ende des Berichtsjahrs 228 Veranstaltungen im Kontext Nahostkonflikt gezählt, wovon 98 proisraelisch und 80 propalästinensisch orientiert waren. AUF EINEN BLICK * HAMAS * Betätigungsverbote und Exekutivmaßnahmen * Islamistische Szene und jihadistische Drohpropaganda * Versammlungsverbote * Demonstrationen unter Beteiligung von Linksextremisten und Extremisten mit Auslandsbezug * "From the river to the sea" * Ambivalente Haltung der rechtsextremistischen Szene * Bewertung 262 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL HAMAS | Die sunnitische HAMAS ging aus der ägyptischen MB hervor und etablierte sich im Zuge der ersten Intifada 1987 in den palästinensischen Gebieten. Ihr Ziel ist die Errichtung eines islamischen Staats unter anderem auf dem Gebiet von Israel, was dessen Vernichtung bedeuten würde. Die HAMAS gliedert sich in einen politischen und in einen militärischen Arm (Izz-al-Din-al-Qassam-Brigaden). Sie verfügt über religiöse und karitative Einrichtungen, um sich den Rückhalt der Bevölkerung zu sichern. 2006 erlangte die HAMAS die vollständige Kontrolle über den Gazastreifen. Die Izz-al-Din-al-Qassam-Brigaden sind für Selbstmordattentate, Raketenangriffe auf Israel und Entführungen - vornehmlich israelischer Soldaten - verantwortlich. Seit 2001 werden die Izz-al-Din-al-Qassam-Brigaden auf der EU-Terrorliste geführt, seit 2003 die HAMAS insgesamt. Betätigungsverbote und Exekutivmaßnahmen | Am 2. November 2023 verhängte die Bundesministerin des Innern und für Heimat ein Betätigungsverbot für die HAMAS, weil ihre Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderläuft, sie sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet und sie sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt und gefährdet. Die Terrororganisation nutzte Deutschland bislang als Rückzugsort, um vornehmlich Spenden zu sammeln und Propaganda zu verbreiten. Außerdem verbot die Bundesministerin des Innern und für Heimat die Betätigung der internationalen Vereinigung Samidoun - Palestinian Solidarity Network. Dies betraf ebenso die Teilorganisation Samidoun Deutschland, die auch unter den Bezeichnungen HIRAK - Palestinian Youth Mobilization Jugendbewegung (Germany) und Hirak e. V. tätig war. Am 14. Dezember ließ die Bundesanwaltschaft aufgrund von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters des BGH vier HAMAS-Mitglieder festnehmen, davon drei Personen in Berlin und eine Person in Rotterdam (Niederlande). Ihnen wird vorgeworfen, Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Europa geplant zu haben. Spätestens seit dem Frühjahr 2023 hatte einer der Festgenommenen versucht, im Auftrag der HAMAS ein Erddepot mit Waffen in Europa ausfindig zu machen, das die Terrororganisation dort früher konspirativ angelegt hatte. Seine Weisungen hatte die Person von Führungskadern der HAMAS im Libanon entgegengenommen. Die Waffen hätten nach Berlin gebracht und für mögliche Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Europa bereitgehalten werden sollen. Im Oktober hatten sich zwei der in Berlin Festgenommenen und die in den Niederlanden festgenommene Person in unterschiedlicher Zusammensetzung mehrfach von Berlin aus auf die Suche nach den Waffen gemacht. Dabei waren sie von einer weiteren in Berlin festgenommenen Person unterstützt worden. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 263 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL Islamistische Szene und jihadistische Drohpropaganda | In Hessen agierten im Berichtszeitraum einzelne HAMAS-Anhänger und -Sympathisanten in den sozialen Medien gegen Israel. Jedoch hielten sie sich auffallend zurück, was die öffentliche Verurteilung des israelischen Vorgehens und das aggressive Eintreten für palästinensische Belange betraf. Ähnlich verhielten sich mit der HAMAS sympathisierende Organisationen. Seit dem Terrorangriff der HAMAS nahm die der HuT nahestehende Gruppierung RI täglich - vornehmlich auf Instagram - Stellung zum Nahostkonflikt. Am 28. Oktober führte RI in Frankfurt am Main eine nicht angemeldete Kundgebung unter dem Motto "Erhebe dich für Palästina! Kein Internet & kein Mobilfunk im Gaza! Öffentlicher Genozid unserer Geschwister!" durch, wozu die Gruppierung über TikTok aufgerufen hatte. In der Spitze waren etwa 300 Teilnehmer zugegen, darunter zwei RI-Funktionäre, wobei einer als Sprecher der Kundgebung auftrat. Am 1. November veröffentlichte RI auf ihrem Instagram-Kanal einen Beitrag ("Wärst du bereit, für ,Israel' zu sterben?"), worin die Gruppierung behauptete, die deutsche Staatsräson verlange letztlich von jedem Menschen die Bereitschaft, für Israel zu sterben. Um dies zu beweisen, stellte RI Zitate des Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier und eines CDU-Bundestagsabgeordneten verzerrt und aus dem Kontext gerissen dar. Wer zu einem solchen Opfer nicht bereit sei, solle sich, so RI, gegen das "Meinungsdiktat" erheben, das Deutschland zur Konfliktpartei und zu einem "Mittäter" mache. Bundesweit verbreitete RI den Beitrag auch als Flugblatt in gedruckter Form; in Hessen fanden unter anderem Verteilungen in Eschborn (Main-Taunus-Kreis), Hanau (Main-Kinzig-Kreis), Frankfurt am Main und in Wiesbaden statt, unter anderem auch an Hochschulen. Am 6. November hieß es auf der RI-Facebook-Seite: "Schon lange bevor die Muslime Palästinas durch westliche Regierungen und Medienvertreter entmenschlicht wurden, hat ,Israel' unsere Geschwister unter die Stufe von Tieren gestellt. Wie bei jedem ,israelischen' Massaker gegen die Muslime Palästinas versammeln sich auch dieses Mal zahlreiche ,Israelis' an höher gelegenen Orten, um die Bombardierung Gazas zu beobachten". Am 22. Dezember kam es zu einem "Twitterstorm", zu dem RI tags zuvor aufgerufen hatte. So hieß es in einem Post: "Ob ,Israel' als Staatsräson oder das Bekenntnis zur ,deutschen Leitkultur': Die islamfeindliche Assimilationspolitik in Deutschland radikalisiert sich zunehmend". Weitere Gruppierungen aus dem HuT-Spektrum teilten den Aufruf. Der von RI gewählte Hashtag #NeinZurWertediktatur 264 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL wurde ergänzt durch die Aufrufe "Mach mit" sowie "Stehe ein für unsere islamische Identität! Mehrere tausend User beteiligten sich mit schriftlichen Beiträgen, aber auch Bildcollagen an dem "Twitterstorm". Laut Angaben von RI sowie anderen HuT-nahen Gruppierungen über Instagram seien während der Kampagne insgesamt 53.500 Posts mit dem Hashtag veröffentlicht worden. Dabei wurden Israel mehrfach mit dem nationalsozialistischen Terrorund Unrechtsregime und der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu oder andere israelische Politiker mit Adolf Hitler gleichgesetzt. In weiteren Collagen wurden die israelischen Soldaten mit IS-Terroristen verglichen. Israel wurde somit das Attribut eines Terrorstaats bzw. den israelischen Soldaten wurden die Eigenschaften von Terroristen zugeschrieben. Weiterhin wurden die USA und Israel als Kindermörder diffamiert. Die Reaktionen in der salafistischen Szene waren von einer ambivalenten Einstellung in Bezug auf den Nahostkonflikt und die propalästinensischen Demonstrationen geprägt. So riefen einige salafistische Akteure und Prediger zu Bittgebeten auf. Sie kritisierten die Haltung Deutschlands im Nahostkonflikt, äußerten sich gleichzeitig aber ablehnend zu den Demonstrationen. Der bundesweit aktive salafistische Prediger und Imam der Bilal Moschee in Frankfurt am Main, Amen Dali, bezeichnete in seiner Freitagspredigt am 13. Oktober das Vorgehen Israels als Genozid bzw. ethnische Säuberung und kritisierte die Unterstützung Deutschlands für Israel, unterstellte jedoch gleichzeitig den Demonstranten fehlende Glaubensfestigkeit. Gegen die Teilnahme an Demonstrationen sprach sich die Da'wa-Organisation Islamkenntnis aus, da es keine Geschlechtertrennung gebe. Man solle stattdessen in die Moschee gehen. Beide Aussagen entsprechen einer konsequenten Anwendung der salafistischen Ideologie. Vor diesem Hintergrund nahmen Salafisten nur in Ausnahmefällen am Demonstrationsgeschehen teil. Auch gab es nur wenige Äußerungen mit HAMAS-Bezug seitens der salafistischen Szene. Die wenigen Beiträge in den sozialen Medien wie etwa die des in der Szene in Hessen einflussreichen salafistischen Predigers Abdellatif Rouali vermittelten den Eindruck einer glorifizierenden Betrachtung der HAMAS. Im Rahmen der Ereignisse seit dem 7. Oktober rückten vor allem israelische Einrichtungen als Anschlagsziele in den Fokus des IS und des al-Qaida-Netzwerks. Mitunter machten die Terrororganisationen konkrete Vorschläge, wie Anschläge durchgeführt werden könnten. Versammlungsverbote | Vor allem unmittelbar nach dem 7. Oktober kam es teilweise zu einem gerichtlichen Verbot propalästinensischer Versammlungen. So hieß es am 16. Oktober in einer Pressemitteilung Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 265 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Kassel (Mitteilung Nr. 19/2023 zum Beschluss vom 16.10.2023, Az. 2 B 1423/23) in Bezug auf eine für denselben Tag in Frankfurt am Main ("Ein freies Palästina") geplante Versammlung: Die Vorkommnisse bei ähnlichen Versammlungen würden die Gefahr begründen, "dass die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der heutigen Versammlung unmittelbar gefährdet sei. [...] Daher seien auch bei der heute anstehenden Versammlung gewalttätige Auseinandersetzungen, Angriffe auf Polizeieinsatzkräfte und weitere Straftaten wie Volksverhetzung, die öffentliche Aufforderung zu und die Billigung von Straftaten, zu befürchten. [...] Bei der geplanten Versammlung [...] seien hochgradig israelfeindliche und in den Antisemitismus reichende Äußerungen zu erwarten - bis hin zur Negierung des Existenzrechts Israels. Überdies werde eine erhebliche Gewaltbereitschaft vermittelt". Demonstrationen unter Beteiligung von Linksextremisten und Extremisten mit Auslandsbezug | Ebenso erklärten Akteure aus der linksextremistischen Szene und dem Spektrum des Extremismus mit Auslandsbezug ihre Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung im Nahen Osten und riefen zum Waffenstillstand sowie zu humanitärer Hilfe im Gazastreifen auf. Darüber hinaus machten sie auf die prekäre Lage der dortigen Bevölkerung aufmerksam, kritisierten die militärische Reaktion Israels und den damit einhergehenden Einmarsch in "Palästina". Entsprechende Demonstrationen waren häufig von einer hohen Emotionalität geprägt. Die extremistischen Akteure meldeten Veranstaltungen an, wirkten daran mit, betätigten sich als Redner, waren als Teilnehmer zugegen oder riefen zur Teilnahme an Demonstrationen auf. Derartige Veranstaltungen fanden etwa in Kassel, Frankfurt am Main, Hanau (Main-Kinzig-Kreis) und Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) statt. Zudem kam es bei einigen Demonstrationen zu extremistischen und antisemitischen Äußerungen. Im Januar hatte bereits die Jugendorganisation YDG, die der türkischen TKP-ML zuzurechnen ist, einen israelischen Militäreinsatz in Dschenin im palästinensischen Westjordanland verurteilt. Das entsprechende Statement schloss mit dem Aufruf: "Es lebe ein freies Palästina! Nieder mit dem israelischen Besatzungsstaat und seinen Kollaborateuren!" Young Struggle, die Jugendorganisation der türkischen MLKP, organisierte eine entsprechende Protestveranstaltung. Am 15. Mai, dem propalästinensischen Tag der "Nakba" (Unglück, Katastrophe), beteiligte sich Young Struggle in Frankfurt am Main an einer entsprechenden Demonstration. Nach dem Terrorangriff der HAMAS im Oktober solidarisierten sich Young Struggle, die ebenfalls der TKP-ML nahestehende ATÄdegK und die MLKP-nahe AGÄdegF mit dem 266 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL bewaffneten Kampf der Palästinenser, wobei sich die ATIK von dem Massaker der HAMAS an der israelischen Zivilbevölkerung distanzierte. In ihrer Solidarität mit "Palästina" diente sowohl der AGIF als auch der ATIK der "kurdische Freiheitskampf" als Vorbild. Die YDG organisierte mehrere Veranstaltungen der "Palästinasolidarität" und beteiligte sich ebenso wie die AGIF, Young Struggle und die der MLKP nahestehende Frauengruppierung Zora an einigen von anderen Akteuren veranstalteten Kundgebungen und Demonstrationen. So warben die YDG und Young Struggle für eine Kundgebung am 12. Oktober in Frankfurt am Main, die unter dem Motto "Palästina, Kurdistan - Intifada Serhildan!" stand. Für den 21. Oktober meldete die YDG in Frankfurt am Main eine Demonstration ("Solidarität mit der Zivilbevölkerung in Palästina und Israel") an, wobei sich unter den Teilnehmern Personen aus dem deutschen und türkischen linksextremistischen Spektrum befanden. Die deutsche linksextremistische IL-Frankfurt/Main rief zur Teilnahme an der Kundgebung "Stoppt den Krieg gegen die Menschen in Gaza! Waffenstillstand jetzt sofort und auf Dauer" für den 2. Dezember in Frankfurt am Main auf. Während der Veranstaltung unterband die Polizei das Zeigen von Plakaten mit zuvor von der Stadt Frankfurt am Main verbotenen Aussagen wie "Stoppt den Genozid in Gaza". SDAJ-Mitglieder nahmen an Kundgebungen und Demonstrationen teil und veröffentlichten Solidaritätsbekundungen mit den Palästinensern. Die SDAJ-Ortsgruppen Kassel und Frankfurt am Main sowie die DKP Frankfurt am Main beteiligten sich unter anderem in Berlin und Frankfurt am Main an mehreren Kundgebungen. In ihren sozialen Medienkanälen positionierte sich die SDAJ "klar gegen die israelische Besatzungspolitik" bzw. das "Apartheitsregime Israel" sowie "gegen deutsche Waffenlieferungen an Israel" und rief zur Solidarität mit "Palästina" auf: "Hoch die internationale Solidarität, free Palestine!" Darüber hinaus behauptete die DKP im Internet, dass die "Offensive" der HAMAS eine "unmittelbare Folge jahrzehntelanger aggressiver Unterdrückung" durch die israelische "Kolonialund Apartheidpolitik" sei. Die Verantwortung für die Eskalation im Nahostkonflikt wies die DKP unmittelbar Israel und den Verbündeten der israelischen Politik, darunter die Bundesregierung, zu. Die DKP erklärte sich solidarisch mit dem palästinensischen Volk und kritisierte die propalästinensischen Versammlungsverbote in Frankfurt am Main und bundesweit. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 267 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL Ihre zumeist antiisraelischen Äußerungen nutzte die linksextremistische Szene auch, um gegen die Politik der Bundesregierung zu argumentieren. Hierzu gehörten Äußerungen wie "Deutschland finanziert und Israel bombardiert". Die MLPD war bei zwei Veranstaltungen mit propalästinensischem Kontext in Frankfurt am Main zugegen, wobei unter anderem "Stoppt den Genozid in Gaza" und "From the river to the sea - Palestine will be free" skandiert wurde. Die DKP kritisierte das Verbot von Samidoun Deutschland und erklärte im Internet: "Es ist Ausdruck der Politik der Bundesregierung, die sich bedingungslos an die Seite der israelischen Besatzungsmacht und der rechtsextremen Regierung in Tel Aviv stellt und kein Wort über den Mord an tausenden von Zivilisten, darunter sehr viele Kinder, im Gazastreifen verliert". "From the river to the sea" | Mit der Parole "From the river to the sea, Palestine will be free" wird ein "freies Palästina" vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer gefordert. Dieses würde das Gebiet des Staats Israel sowie die von Israel besetzten palästinensischen (Autonomie-)Gebiete im Gazastreifen und Westjordanland sowie Ost-Jerusalem umfassen. In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, inwieweit das Äußern dieser Parole ohne das Hinzutreten weiterer Umstände, etwa einem direkten HAMAS-Bezug oder dem Aufruf zur Vernichtung Israels, bereits für sich strafbar ist. Die Parole sagt als solches zwar noch nichts darüber aus, wie dieses Ziel erreicht werden soll und lässt somit mehrere Mittel und Wege zur Zielerreichung zu. Gleichwohl zielen Extremisten mit der Äußerung der Parole "From the river to the sea" auch auf die Vernichtung Israels ab. Die Parole wird wiederkehrend auf öffentlichen propalästinensischen Versammlungen bzw. Veranstaltungen geäußert und ist daher immer wieder Gegenstand verwaltungsbehördlicher und verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen bzw. von Ermittlungsund Strafverfahren. So wurde bei einer Versammlung am 3. November in Frankfurt am Main ("Waffenruhe in Gaza") ein Schild gezeigt, auf dem eine Israelflagge in einem Mülleimer abgebildet war, betitelt mit dem Satz "Keep the world clean". Auf der Rückseite befand sich wiederum die Parole "From the river to the sea". Auf einem anderen Plakat stand "Allah ist gross", wobei die beiden letzten Buchstaben die Form von SS-Runen aufwiesen. Bei der Demonstration kamen in der Spitze etwa 850 Personen zusammen. 268 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL Bei einer weiteren Versammlung am 25. November 2023 in Frankfurt am Main ("Krieg beenden, Waffenstillstand in Palästina/Israel"), an der etwa 1.600 Personen teilnahmen, wurden Darstellungen mit Bezug zu der Organisation Samidoun gezeigt und es wurde die Parole "From the river to the sea!" gerufen. Bei jener Versammlung kam es zu antisemitischen Äußerungen. Bei einer Kundgebung am 2. Dezember in Frankfurt am Main ("Frieden im Nahost") wurde über einen Lautsprecherwagen von einer Rednerin ebenfalls die Parole "From the river to the sea - Palestine will be free" skandiert, die verschiedene Teilnehmer wiederholten. Allerdings hatte kurz zuvor der VGH Kassel eine Verfügung der Stadt Frankfurt am Main vom 30. November bestätigt, dass bei der Kundgebung unter anderem nicht zur Vernichtung Israels aufgerufen werden darf und die Parolen "From the river to the sea" sowie "Juden Kindermörder" zu unterlassen sind. Vor diesem Hintergrund wies die Polizei die Rednerin auf die Auflagenverfügung hin und leitete ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren ein. An die Versammlungsteilnehmer wurde über den Lautsprecherwagen appelliert, derartige Ausrufe zu unterlassen. Ambivalente Haltung der rechtsextremistischen Szene | Eigene (öffentlichkeitswirksame) Aktionen oder Veranstaltungen von Rechtsextremisten in Bezug auf den Nahostkonflikt gab es in Hessen im Berichtszeitraum nicht. Jedoch teilte sich die rechtsextremistische Szene in zwei Lager. Das erste Lager gab Israel die Schuld an der Eskalation und kritisierte - wie etwa Der Dritte Weg - den nach seiner Auffassung unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt. Das zweite Lager, dem offensichtlich die Mehrheit der Rechtsextremisten angehörte, solidarisierte sich weder mit Israel noch mit den Palästinensern, sondern gab sich "neutral". Letzterem gehörten unter anderem Die HEIMAT und Vertreter der Neuen Rechten an, deren Anhänger argumentierten, dass eine Solidarisierung mit einer der beiden Parteien nicht im Interesse Deutschlands sei. Allerdings gab es auch in diesem Lager Stimmen, die den Staat Israel verunglimpften, indem ihm zum Beispiel Völkermord an den Menschen im Gazastreifen vorgeworfen wurde. Aufgrund des in der rechtsextremistischen Szene virulenten Antisemitismus war für Rechtsextremisten eine Solidarisierung mit Israel undenkbar. Zugleich war eine Solidarisierung mit den Palästinensern aufgrund islamophober und fremdenfeindlicher Einstellungen kaum möglich, da in der rechtsextremistischen Szene konstant gegen die angebliche "Islamisierung" und die "Überfremdung" agitiert wird. Somit beschränkten sich viele Rechtsextremisten auf eine ambivalente Haltung, um innerhalb der Szene keinen Widerspruch zu provozieren Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 269 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL und keinen Ansatzpunkt für staatliche Maßnahmen zu bieten. So erklärte Daniel Lachmann (Die HEIMAT Hessen) auf Telegram: ",Wir sind alle Israelis' zwitschert das Baerbock. Falsch. Ich bin weder Israeli noch stehen mir die Palästinenser nahe. Ich bin einfach nur Deutscher. Ich denke zuerst an Deutschland. Ich muss auch keinen Schuldkult pflegen. Erst wenn es Deutschland und dessen Volk sehr gut geht, kommt der Rest". Darüber hinaus war die offizielle deutsche Haltung im Nahostkonflikt das Ziel rechtsextremistischer Diffamierung. So sprach Der Dritte Weg auf seiner Internetseite von "Liebedienerei vor dem Judenstaat", der ein "Besatzerstaat sei": "Als weltweit einziger Staat erklärt das Konstrukt BRD, seinerseits ein Besatzungsprovisorium, das Existenzrecht eines anderen Staates [i. e. Israel], der ebenfalls auf der Grundlage von Besatzerwillkür erschaffen wurde, zu seiner Staatsräson". Zeitweise kursierten in der rechtsextremistischen Szene verschiedene Verschwörungsnarrative. Demnach habe es sich bei dem Terroranschlag der HAMAS um eine "False-Flag"-Operation gehandelt, von der Israel gewusst bzw. sie zugelassen habe, um den Krieg im Gazastreifen zu rechtfertigen. Ebenso schürten andere Narrative die Angst vor dem Ausbruch eines Dritten Weltkriegs mit dem Hinweis auf einen Kriegseintritt des Iran und der USA. In Bezug auf den Nahostkonflikt veröffentlichte Der Dritte Weg Artikel, die mit der Parole "Terrorstaat Israel" versehen waren. Auf diese Weise bediente sich die Partei antisemitischer Narrative und warf Israel eine unverhältnismäßige Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung im Gazastreifen vor, ohne sich mit der HAMAS zu solidarisieren. Der Dritte Weg verurteilte den Staat Israel wegen seiner "zionistischen Attacken" und bezeichnete dessen Vorgehen als "ethnische Säuberung". Außerdem kritisierte die Partei die Solidarität Deutschlands mit Israel. Das Verbot "propalästinensischer" Demonstrationen wertete die Partei einerseits als Einschränkung der Meinungsund Versammlungsfreiheit, während sie andererseits vor muslimischen Migranten aus dem Krisengebiet warnte. In Bezug auf die deutsche Haltung hinsichtlich der Forderung der Vollversammlung der Vereinten Nationalen (UN) nach einer Waffenruhe hieß es auf der Internetseite des Dritten Wegs: "Die Bundesregierung, als Israels treueste Stiefellecker, konnte sich nicht dazu entschließen, die symbolische Forderung nach einer humanitären Waffenruhe zu unterstützen". 270 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL Bewertung | Nahm zum Ende des Berichtsjahrs die Zahl der propalästinensischen Veranstaltungen mit antisemitischen und israelfeindlichen Vorkommnissen bzw. Äußerungen deutlich ab, so wird die weitere Entwicklung des Demonstrationsgeschehens maßgeblich von den künftigen Ereignissen im Nahen Osten abhängen. Das Vorgehen Israels in den palästinensischen Autonomiegebieten sowie die Aktivitäten der terroristischen HAMAS und anderer Feinde Israels bergen ein hohes Emotionalisierungs-, Mobilisierungsund Eskalationspotenzial. Mit weiteren Veranstaltungen und in diesem Kontext typischen Straftaten ist zu rechnen. Dies gilt auch für die antisemitische und israelfeindliche Agitation in den sozialen Medien. Das Anmelden, Mitwirken, Aufrufen oder Teilnehmen von Extremisten in Bezug auf propalästinensische Veranstaltungen bedeutet nicht zwangsläufig, dass allen Rednern und Teilnehmern ein extremistischer Hintergrund zuzuschreiben ist. Es wird jedoch deutlich, dass Extremisten aktuelle und vor allem emotionalisierende Themen aufgreifen und darüber Anknüpfungspunkte in die demokratische Gesellschaft suchen und finden. Teilweise gab es bei der Organisation und Durchführung von Veranstaltungen Kooperationen zwischen extremistischen und nichtextremistischen Gruppierungen bzw. Personen. Auch die teils hohen Teilnehmerzahlen zeigen, dass Extremisten hierbei Erfolg haben: Mittels der Veranstaltungen wird versucht, antisemitische und damit auch antidemokratische Einstellungen zu verbreiten und in die demokratische Gesellschaft einzubringen. Möglicherweise werden neue Kontakte geknüpft, Menschen radikalisiert, Anhänger gewonnen oder bereits bestehende Radikalisierungen vorangetrieben. Al-Qaida und der IS instrumentalisierten den Nahostkonflikt gezielt, um potenziell allein handelnde Täter anzusprechen und für Anschläge im "Westen" zu motivieren. Die Gefahr, die vom islamistischen Terrorismus ausgeht, ist daher sehr hoch. Im Bereich des legalistischen Islamismus ragte im Berichtszeitraum vor allem die Gruppierung RI als Akteurin hervor. Mittels eines sowohl in der "realen" als auch virtuellen Welt verbreiteten Flugblatts gelang es der Gruppierung, mit ihren Positionen Anklang zu finden. Konsequent setzte RI das Wort Israel in Anführungszeichen und sprach dem israelischen Staat und dessen Bürgern damit das Existenzrecht ab. Auch die Gleichsetzung der israelischen Militäraktion gegen die Terrororganisation HAMAS mit einem Genozid an der palästinensischen Bevölkerung war Teil der islamistischen Strategie, den Staat Israel zu dämonisieren und zu delegitimieren. Linksextremisten und Extremisten mit Auslandsbezug positionierten sich im Berichtszeitraum uneinheitlich, was aus grundlegend unterHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 271 TERRORANGRIFF DER HAMAS GEGEN ISRAEL schiedlichen ideologischen Auffassungen und Schlussfolgerungen aus der Bewältigung des Nationalsozialismus resultierte. Einerseits sahen sich Linksextremisten den Juden und dem Staat Israel gegenüber zur Solidarität verpflichtet, andererseits standen sie an der Seite der "Unterdrückten", zu denen sie auch die Palästinenser rechneten. Vor allem "antiimperialistische" Linksextremisten solidarisierten sich mehrheitlich mit dem Widerstand und Kampf der Palästinenser gegen die aus ihrer Sicht von Israel ausgehende Unterdrückung. Die Solidarität mit "Palästina" eröffnete den der türkischen MLKP nahestehenden Gruppierungen Young Struggle und Zora neue Kooperationsmöglichkeiten und eine bessere Anschlussfähigkeit an einige dogmatische linksextremistische Organisationen, deren Sichtweise des Nahostkonflikts ihrer Perspektive ähnelte. Die neuen Bündnisse werden die Arbeit und den Schwerpunkt der MLKP-Gruppierungen auch künftig beeinflussen. Die öffentlichen Positionierungen von Rechtsextremisten zeigen, dass die Szene in ihrer Bewertung des Nahostkonflikts zwiegespalten war: Rechtsextremisten hielten sowohl an antisemitischen als auch an islamfeindlichen Haltungen fest. Das ermöglichte es ihnen, beide Lager zu diffamieren und sich dadurch einen "neutralen" Anschein zu geben. Sie untermauerten diese Haltung durch die Argumentation, dass Deutschland sich aus dem Nahostkonflikt heraushalten und weder die israelische Regierung noch die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen unterstützen solle. 272 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT ORGANISIERTE KRIMINALITÄT Die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) ist in Hessen sowohl Aufgabe der Polizei als auch des LfV. Die Komplexität dieses Kriminalitätsphänomens zeigt sich in seinen grenzüberschreitenden Aktivitäten und einem hohen Maß an professionellem Organisationsaufbau, weshalb eine strukturierte Zusammenarbeit des LfV mit Polizeibehörden unter Beachtung des Trennungsgebots wichtig ist. Im Unterschied zur polizeilichen Bearbeitung kommt dem LfV die Rolle des "Frühwarnsystems" zu. Ziel ist es, in der Bearbeitung eine Schnittstelle zur Spionageabwehr und den extremistischen Phänomenbereichen zu etablieren. AUF EINEN BLICK * OK-Definition * Missbrauch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung - Tätigkeit der Sicherheitsbehörden * Rockerkriminalität * Russisch-eurasische OK * Italienische OK * Maßnahmen OK-Definition | Als Rechtsgrundlage für die Bearbeitung der OK im LfV dient SS 2 Abs. 2 Nr. 5 HVSG. Nach der 1990 von der bundesweiten Gemeinsamen Arbeitsgruppe Justiz/Polizei (GAG) verabschiedeten Arbeitsdefinition ist die OK die von Gewinnund Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind, durch mehr als zwei Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig tätig werden * unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, * unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohung oder * unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft. Als OK wird kriminelles Verhalten immer dann qualifiziert, wenn alle Merkmale dieser Definition und zudem mindestens ein Merkmal der dreigliedrigen Aufzählung erfüllt sind. Missbrauch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung - Tätigkeit der Sicherheitsbehörden | Personen, die der OK angehören, verhalten sich in der Regel unauffällig und konspirativ. Dabei missbrauchen sie die freiheitliche demokratische Grundordnung, um allein in Deutschland hohe Schäden zu verursachen. Laut des Bundeslagebilds Organisierte Kriminalität des BKA für das Jahr 2022 wurden Schäden in Höhe von 1,3 Milliarden Euro festgestellt, was gegenüber 274 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT 2021 einem Rückgang von 0,9 Milliarden Euro entspricht, aber immer noch deutlich über dem Niveau von 2020 liegt. OK-Gruppierungen bedrohen die Grundlagen unserer Gesellschaft, indem sie die Macht einer kriminellen Organisation durch Gewalt (Körperverletzung, Bedrohung, Mord), Geld (Bestechung, Firmenbeteiligungen, Immobilienerwerb) und massive Einflussnahme (Politik, Verwaltung, Justiz, Medien, Wirtschaft) durchsetzen wollen. Rockerkriminalität | Das Phänomen der Rockerkriminalität stellt seit vielen Jahren im Bereich der OK einen Beobachtungsschwerpunkt des LfV dar. Das LfV beobachtete streng hierarchisch organisierte Outlaw Motorcycle Gangs (OMCG) wie zum Beispiel die Hells Angels, den Bandidos MC und andere rockerähnliche Gruppierungen. OMCG sind als Hauptakteure von Machtansprüchen im "Rotlichtsektor" (Menschenhandel, Zwangsprostitution) anzusehen. Russisch-eurasische OK | Im Bereich der russisch-eurasischen OK sind besonders die sogenannten Diebe im Gesetz von Bedeutung, aber auch OK-Strukturen, die von Personen dominiert werden, die in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion geboren wurden und eine entsprechende kulturelle Prägung (zum Beispiel durch Tradition, Sprache und Geschichte) erfahren haben. Italienische OK | Das Rhein-Main-Gebiet war und ist unverändert Rückzugsund Aktionsraum der italienischen OK. Deliktische Schwerpunkte waren - neben der Geldwäsche - der internationale Kokainhandel/-schmuggel sowie die Schutzgelderpressung bei italienischen Restaurantbetreibern. Maßnahmen | Seinem Auftrag entsprechend agiert das LfV bei der Beobachtung und Aufklärung der OK im Vorfeld konkreter Straftaten. Ziel ist die Erkenntnisgewinnung in Bezug auf personelle, logistische, organisatorische, finanzielle sowie deliktische Strukturen. Neben dem Ansatz der frühzeitigen Erkenntnisgewinnung bietet die Beobachtung durch Nachrichtendienste den Vorteil einer langfristigen und nicht auf einzelne Strafverfahren bezogenen Beobachtung. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 275 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT 276 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Der Fokus des LfV lag im Bereich der Spionageund Cyberabwehr vor allem auf der Beobachtung der gegen Deutschland gerichteten Spionage und Einflussnahme. Das galt auch für Proliferationsaktivitäten sowie für nachrichtendienstlich gesteuerte Cyberangriffe fremder Nachrichtendienste. Aufgrund des fortdauernden russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der "westlichen" Sanktionen gegen Russland sowie der Unterstützung der Ukraine durch "westliche" Staaten hatten insbesondere russische Nachrichtendienste ein erhöhtes Spionageinteresse an Deutschland. Neben der russischen Aggression gab es weitere Krisenherde wie etwa den Nahostkonflikt - vor allem nach dem Angriff der terroristischen HAMAS auf Israel - und das politisch-wirtschaftliche Agieren Chinas (zum Beispiel das weiterhin aggressive Auftreten gegenüber Taiwan). Vor diesem Hintergrund überprüfte das LfV Hinweise auf nachrichtendienstliche Aktivitäten, die gegen deutsche Interessen gerichtet waren. Dabei bildete der Wirtschaftsschutz als präventiver Teil der Spionageabwehr seit jeher einen festen Bestandteil der Aufgaben des Verfassungsschutzes. Darüber hinaus richtete das LfV sein Augenmerk auf Aktivitäten chinesischer, iranischer, türkischer, indischer, syrischer, pakistanischer, vietnamesischer und nordkoreanischer Spionageaktivitäten. Cyberangriffe bildeten nach wie vor eine große Bedrohung für deutsche Unternehmen, Wissenschaftsund Forschungseinrichtungen sowie für Politik und Verwaltung. Das galt auch für Desinformationskampagnen. So wurden mittels hybrider Aktionen insbesondere im Cyberraum falsche und irreführende Informationen verbreitet, um die Bevölkerung in Deutschland zu verunsichern, das Vertrauen in die Demokratie zu erschüttern und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. AUF EINEN BLICK * Aufgaben * Klassische Agententätigkeit * Proliferation * Ausspähung von Oppositionellen * Russische Spionage - (hybride) Gefahrenlage * Nachrichtenund Sicherheitsdienste der Volksrepublik China * Islamische Republik Iran * Republik Türkei * Sozialistische Republik Vietnam * Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) * Nachrichtendienste der Islamischen Republik Pakistan * Republik Indien * Arabische Republik Syrien * Wirtschaftsschutz 278 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Aufgaben | Die Spionageabwehr befasst sich mit dem folgenden Aufgabenspektrum: * Aufklärung von geheimdienstlicher Agententätigkeit und Ausspähung von Personen, die in Opposition zu den Verhältnissen im Herkunftsland stehen, * Cyberabwehr, * Proliferationsabwehr, * Aufklärung von Einflussnahmen fremder Staaten auf die Meinungsbildung und die Politik in Deutschland mittels Desinformation, Propaganda und hybrider Kriegsführung, * Wirtschaftsschutz und * Aufklärung von Staatsterrorismus. Klassische Agententätigkeit | Nach SS 99 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) ist strafbar, wer für den Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland ausübt, die auf die Mitteilung oder Lieferung von Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gerichtet ist, oder gegenüber dem Geheimdienst einer fremden Macht oder einem seiner Mittelsmänner sich zu einer solchen Tätigkeit bereit erklärt. Agententätigkeiten wurden meist konspirativ - also im Verborgenen - ausgeführt. Zudem nutzten fremde Staaten für ihre nachrichtendienstlichen Operationen neben amtlichen Einrichtungen (zum Beispiel Botschaften, Generalkonsulaten) halbamtliche Vertretungen wie etwa Presseagenturen und Fluggesellschaften, aber auch Wirtschaftsunternehmen. Einfache Gesprächsaufklärung und Anbahnungen fanden dabei oft auch im Rahmen eines vermeintlich unverfänglichen Austauschs im wirtschaftlichen oder diplomatischen Umfeld statt. Spätestens seit der Corona-Pandemie verschoben sich diese Aktivitäten teilweise in den virtuellen Raum. Ansprachen und Anbahnungen fanden verstärkt über Plattformen der sozialen Medien, Business-Netzwerke und per E-Mail statt. Proliferation | Um ihre Beschaffungsaktivitäten im Bereich der Waffenproliferation zu verschleiern, nutzten fremde Staaten unter anderem: * gefälschte Exportdokumente, * Zwischenhändler in Drittländern oder im eigenen Land, * Tarnfirmen, Scheinfirmen, Briefkastenfirmen sowie * unwahre Angaben über den Endverbleib. Ausspähung von Oppositionellen | Fremde Nachrichtendienste spähten weiterhin in Deutschland ansässige Organisationen und Volksgruppen aus, die im Herkunftsland als Oppositionelle politisch verfolgt oder beobachtet wurden. Oft geschah dies im Rahmen von Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 279 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Demonstrationen und Kundgebungen. Nach wie vor war die Hemmschwelle fremder Nachrichtendienste niedrig, entsprechende Personen auch in Deutschland auszuforschen, zu bedrohen oder gar zu verschleppen. Russische Spionage - (hybride) Gefahrenlage | Russland betrieb im Berichtsjahr klandestine und aggressive Spionageoperationen gegen Institutionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Militär und Verwaltung. Unmittelbar mit Beginn der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine verstärkten die deutschen Sicherheitsbehörden ihre Aufmerksamkeit in Bezug auf die Aktivitäten russischer Nachrichtendienste. So konzentrierte sich das LfV unter anderem auf das Feststellen bzw. Aufspüren (Detektion) von entsprechender Ausspähung und Sabotage von KRITIS sowie von militärischen Objekten. Darüber hinaus gab es etliche nachrichtendienstliche Verdachtsfälle, über die das LfV durch andere Behörden oder mittels Hinweisen aus der Bevölkerung informiert wurde. Die Zahl der dem LfV gemeldeten Verdachtsfälle in Bezug auf die Ausspähung von militärischen Einrichtungen, Firmengeländen, die der Energiewirtschaft und deren Zulieferern gehören, stieg weiter an. Gezielte Drohnenüberflüge und unbekannte hochmobile Personen, die Fotound Videoaufnahmen von KRITIS-Bereichen fertigten, zählten hierbei zu den häufigsten Sachverhalten. Auch in den Bereichen Proliferation und Ausspähung/Verfolgung von Oppositionellen entfaltete Russland wie in der Vergangenheit anhaltend viele Aktivitäten. Der Slushba Wneschnej Raswedki (SWR, Dienst der Außenaufklärung der Russischen Föderation) war für zivile Objekte und Themen (speziell für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft/Technologien) zuständig. Die Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU, Hauptverwaltung beim Generalstab der Streitkräfte der Russischen Föderation) interessierte sich für das gesamte militärische Spektrum, insbesondere für neue Technologien in der Entwicklung und im Einsatz. Auch die Aktivitäten des russischen Inlandsnachrichtendiensts Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation) hielten auf hohem Niveau an. Vor allem Reisen von Ausländern nach Russland ließen auf eigenem Territorium eine risikolose Ansprache von Personen zu. Die von Russland ausgehende hybride Bedrohung in den Bereichen (Wirtschafts-)Spionage, Sabotage, Cyberangriffe sowie Propaganda und Desinformation in Medien und sozialen Medien hielt an. 280 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Im Berichtsjahr intensivierte Russland seine Cyberaktivitäten gegen Ziele in der Ukraine und die dortige KRITIS. Zugleich befanden sich "westliche" Ziele im Fokus russischer Cybergruppierungen, um Mitgliedsstaaten der NATO auszuspionieren. Wiederholt wurde mittels Phishing-E-Mails versucht, an die Zugangsdaten der Opfer zu gelangen. Ebenfalls auf hohem Niveau wurden insbesondere in den sozialen Medien prorussische bzw. "antiwestliche" Propaganda und Desinformation verbreitet. So untersuchten Analysten des Auswärtigen Amts den Kurzbotschaftendienst X und fanden mehr als 50.000 gefälschte Nutzerkonten, von denen aus mehr als eine Million deutschsprachiger Tweets verbreitet wurden. In den Tweets wurden oft behauptet, dass die Bundesregierung die eigene Bevölkerung zugunsten der Ukraine vernachlässige. Erneut detektierten deutsche Sicherheitsbehörden Aktivitäten (pro-) russischer Cybercrimegruppierungen und sogenannter Hacktivisten. Diese führten meistens DDoS-Angriffe (Distributed Denial of Service) auf die Internetseiten von Behörden und Unternehmen durch, um diese zu überlasten und deren Verfügbarkeit zu stören. Die Attacken dienten vorrangig propagandistischen Zwecken. Darüber hinaus setzte sich der Trend fort, wonach die Grenzen zwischen (staatlich gesteuerten) Cyberangriffen und der Cyberkriminalität verwischten, sodass sich diese Angriffsstrukturen weiterhin untereinander verbanden. Mit seiner hybriden Kriegsführung nutzte Russland letztlich alle Bereiche der Spionage und Sabotage, um sowohl langfristige Pläne als auch kurzfristige taktische Ziele zu erreichen. Insgesamt stellen klassische russische Spionage sowie russische Cybergruppierungen weiterhin eine große Bedrohung für deutsche Unternehmen, Wissenschaftsund Forschungseinrichtungen sowie für Politik und Verwaltung dar. Es besteht die Gefahr von weiteren Desinformationskampagnen mit dem Ziel, das Vertrauen in die Demokratie und die Regierenden zu unterminieren. Nachrichtenund Sicherheitsdienste der Volksrepublik China | Um seine langfristig angelegten strategischen Ziele, die in den Masterplänen "Made in China 2025" und die "Neue-Seidenstraße-Initiative" fixiert sind, zu erreichen, führte China nach wie vor Cyberangriffe durch. Unternehmen, die im Umfeld dieser Strategien für China wichtig waren, standen im Fokus der Angriffe. So wurden Vorbereitungshandlungen chinesischer Cybergruppierungen detektiert, die ZeroDay-Schwachstellen auszunutzen versuchten. Dabei handelt es sich um Schwachstellen, die in das Visier von Angreifern geraten, bevor das betroffene Unternehmen und der jeweilige Softwareherausgeber von deren Existenz wissen. Chinesische Cyberangriffe und Ausspähungen richteten sich zudem weiterhin gegen Oppositionelle. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 281 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Zum Schutz des in Deutschland und Hessen vorhandenen Knowhows betrachtete das LfV auch strategische Investments chinesischer Unternehmen in Hessen. Diese Investments folgten oft nicht privatwirtschaftlichen Interessen, sondern waren Teil der Masterpläne. Um die politische, wirtschaftliche und militärische Informationsbeschaffung der chinesischen Dienste bei Besuchen von Unternehmen und Behörden in China abzuwehren, kam in Anbetracht der vielfältigen technischen Überwachungsmöglichkeiten des chinesischen Staats der Prävention und Sensibilisierung eine große Bedeutung zu. Dies gilt auch für die Zukunft. Islamische Republik Iran | Das primäre Aufklärungsinteresse des iranischen Nachrichtendiensts Vezarat-e-ettelaat jomhuri-ye eslami-ye iran/Ministry of Intelligence (VAJA/MOIS) sowie des Auslandsaufklärungsdiensts der Revolutionary Guard Corps (RGC, Revolutionsgarden) galt im Berichtsjahr weiterhin der militantesten und aktivsten Oppositionsgruppe, das heißt den Mojahedin-e-Khalq (MEK, Volksmojahedin). Neben den MEK standen Monarchisten, Republikaner, "linke" Organisationen sowie projüdische bzw. proisraelische Einrichtungen im Fokus des iranischen Ausspähungsinteresses. Indem der VAJA/MOIS aktive oder ehemalige Mitglieder dieser Organisationen im Inund Ausland als Agenten anwarb, versuchte er weiterhin, Informationen über deren regimefeindliche Aktivitäten zu gewinnen. Republik Türkei | Eine Aufgabe türkischer Nachrichtendienste im Ausland war es, Oppositionelle auszuspähen, dort die Meinungsbildung zu beeinflussen und Einfluss auf gesellschaftlicher und politischer Ebene auszuüben. Bei ihrem Tätigwerden konnten die türkischen Nachrichtendienste auf eine breite Infrastruktur der türkischen Diaspora in Deutschland zurückgreifen. Der Milli Istihbarat Teskilati (MIT, Nationaler Nachrichtendienst) verfügte über 8.000 bis 9.000 Mitarbeiter und untersteht seit 2017 direkt dem türkischen Staatspräsidenten. Als wichtigster Nachrichtendienst der Republik Türkei war der MIT sowohl im Inals auch im Ausland tätig. Außerhalb der Türkei war der MIT maßgeblich an der Ausspähung von Organisationen und Einzelpersonen, die in Opposition zur regierenden AKP und Recep Tayyip Erdogan standen, beteiligt. Im Mittelpunkt der Ausspähungsbemühungen des MIT standen insbesondere die PKK und die Gülen-Bewegung. Sozialistische Republik Vietnam | Der vietnamesische Nachrichtendienst Tong cuc 2 (TC2) war im Inund Ausland tätig. Es lagen Anhaltspunkte vor, wonach der TC2 die Cyberkampagne OceanLotus, die Möglichkeiten der Cyberspionage in allen nachrichtendienstli282 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ chen Feldern birgt, weiter ausbaute. Dies galt vor allem für die Ausspähung von Oppositionellen. Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) | Neben Aktivitäten im Rahmen der Wirtschaftsspionage zielten nordkoreanische Cyberangriffe auf die Devisenbeschaffung, wobei der Staat Nordkorea Cybercrimemethoden anwendete. Die Aktivitäten der nordkoreanischen Cyberkampagne Lazarus bzw. Hidden Cobra (Advanced Persistent Threat 38) betrafen weiterhin Unternehmen aus der Rüstungssowie der Luftund Raumfahrtbranche. Darüber hinaus interessierte sich Nordkorea für proliferationsrelevante Dual-User-Güter, die es für Antriebsund Stabilisierungskomponenten für Langstreckenraketen verwendete. Nachrichtendienste der Islamischen Republik Pakistan | Der InterServices Intelligence (ISI) war der führende und wichtigste Geheimdienst Pakistans und war operativ für die Erfassung, Verarbeitung und Analyse von Daten weltweit zuständig. Er war unter anderem für das Ausforschen pakistanischer Oppositioneller im Ausland verantwortlich. Republik Indien | Indien sammelte weiterhin Informationen über Angehörige der Sikhs, die für ein unabhängiges "Khalistan" eintraten, und über deren Veranstaltungen sowie über Angehörige der oppositionellen Kaschmir-Bewegung. Als eine der größten Gemeindeeinrichtungen der Sikhs in Deutschland befand sich der Sikhs-Tempel in Frankfurt am Main im Fokus indischer Spionageaktivitäten. Arabische Republik Syrien | Die syrischen Geheimdienste wurden vom Nationalen Sicherheitsbüro des Regionalkommandos der syrischen Ba'ath-Partei koordiniert und bildeten eine tragende Säule des Regimes von Baschar al-Assad. Neben den klassischen Aufgabenfeldern waren die syrischen Dienste in der Überwachung von nationalen und internationalen Medien, Oppositionellen, Dissidenten und Ausländern tätig. Die Dienste beeinflussten in Syrien die öffentliche Meinung, forschten systematisch Regimegegner aus und unterhielten eigene Haftanstalten für politische Gefangene. Als Hauptaufnahmeland syrischer Flüchtlinge in Europa stand Deutschland unverändert im Fokus syrischer Nachrichtendienste, wobei es auch in Hessen nach wie vor Hinweise auf entsprechende Aktivitäten gab. Wirtschaftsschutz | Ziel des Wirtschaftsschutzes ist es, die Spionage fremder Staaten zu verhindern sowie Wirtschaft, Wissenschaft, Forschung, Politik und Verwaltung in Hessen durch Beratung und Aufklärung vor entsprechenden Aktivitäten zu schützen. Hierzu ist es notwendig, die Sensibilität von Unternehmen, wissenschaftlichen und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 283 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ öffentlichen Einrichtungen gegenüber Gefahren, die durch Angriffe drohen, zu stärken, Kenntnisse über Methoden und Ziele fremder Nachrichtendienste zu vermitteln und Hilfestellung beim Einsatz geeigneter Schutzmaßnahmen zu leisten ("Prävention durch Information"). Im LfV obliegt dem Wirtschaftsschutz zudem die Bearbeitung von Spionageverdachtsfällen sowie eine sich anschließende, zielgerichtete und vertrauensvolle Beratung. Die Anzahl der Sensibilisierungsgespräche mit Unternehmen stieg im Berichtsjahr erneut leicht an, die Zahl der Hintergrundgespräche nahm deutlich zu. Die Anzahl der in Präsenz durchgeführten Präventionsveranstaltungen lag nach wie vor unter dem Niveau des mit der COVID-19-Pandemie verknüpften Zeitraums. Der russische Überfall auf die Ukraine bildete für den Wirtschaftsschutz erneut einen Schwerpunkt bei Beratungsanfragen. Von besonderem Interesse war - wie im Vorjahr - die Frage, ob in Hessen tätige Mitarbeiter in Unternehmen mit russischer wie auch ukrainischer Staatsangehörigkeit besonderen Risiken oder Gefahren ausgesetzt waren und wie mit Bewerbungen von Staatsangehörigen dieser Staaten umzugehen ist. Zudem zählten sämtliche Aspekte der KRITIS sowie den Sabotageschutz betreffende Themen zu den häufig vom LfV bearbeiteten Anfragen. Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Initiative des Wirtschaftsschutzes, die Universitäten und Hochschulen in Hessen im Hinblick auf die Gefahren von Know-how-Abfluss und Wissenstransfer im Bereich Wissenschaft und Forschung zu sensibilisieren. Hierbei wurden und werden sämtliche Aspekte des Gastwissenschaftlerverfahrens in den Blick genommen. Im Rahmen des Prinzips "Single Point of Contact" stand der Wirtschaftsschutz auch im Berichtsjahr den hessischen Unternehmen als vermittelnder Ansprechpartner für alle Sachverhalte mit extremistischen Bezügen zur Verfügung. Das galt sowohl für extremistische Angriffe und Bedrohungen aus allen Phänomenbereichen gegen Unternehmen als auch für Radikalisierungen von Mitarbeitern in Unternehmen. Die Übermittlung technischer Indikatoren zu Cyberangriffen (IoC) an potenziell betroffene Unternehmen sowie zu Präventionszwecken wurde weiterhin fortgeführt und ausgebaut. Bei Fragen und Hinweisen zum Wirtschaftsschutz wenden Sie sich an: Telefonnummer: 0611/7203600 E-Mail-Adresse: wirtschaftsschutz@lfv.hessen.de 284 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Der Wirtschaftsschutz und die Cyberabwehr des LfV beantworten alle Anfragen so zeitnah wie möglich, sind jedoch nicht für Gefahrenabwehr zuständig und gewährleisten daher keine durchgängige Erreichbarkeit außerhalb der üblichen Bürozeiten. In dringenden Fällen wenden Sie sich daher bitte an die Polizei. Für die Kommunikation und Datenübermittlung in sensiblen Sachverhalten bietet das LfV verschlüsselte und vertrauliche Übertragungswege an (zum Beispiel personifizierte Uploadund Downloadlinks). Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 285 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ 286 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GEHEIMSCHUTZ GEHEIMSCHUTZ In den Bereich des Geheimschutzes fällt insbesondere die Mitwirkung des Verfassungsschutzes im Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen nach dem Hessischen Sicherheitsüberprüfungsund Verschlusssachengesetz (HSÜVG). Auf dieser Grundlage unterstützt das LfV Behörden und Unternehmen, die mit staatlichen Verschlusssachen (VS) umgehen müssen, bei der Bewältigung dieser Sicherheitsaufgaben. Die Anforderungen an den Geheimschutz stiegen im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. AUF EINEN BLICK * Definition und Aufgabe des Geheimschutzes * Personeller Geheimschutz * Materieller Geheimschutz * Geheimschutzverfahren des Bundes und der Länder Definition und Aufgabe des Geheimschutzes | Informationen, deren Bekanntwerden den Bestand, die Sicherheit oder die Interessen des Bundes oder eines Landes gefährden können (Verschlusssachen), bedürfen bei ihrer Bearbeitung und Aufbewahrung eines besonderen Schutzes. Dies gilt für öffentliche Stellen und die Privatwirtschaft gleichermaßen. Verschlusssachen sind je nach dem Schutz, dessen sie bedürfen, in folgende Geheimhaltungsgrade einzustufen: * VS - Nur für den Dienstgebrauch, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein kann. * VS - Vertraulich, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder schädlich sein kann. * Geheim, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann. * Streng geheim, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann. Maßnahmen zum Schutz von Verschlusssachen richten sich nach dem HSÜVG und der Verschlusssachenanweisung (VSA) für das Land Hessen. Dabei regelt die VSA unter anderem die Herstellung, Aufbewahrung, Weitergabe und Vernichtung von Verschlusssachen. Das LfV berät alle Behörden und Unternehmen in Hessen, die Umgang mit Verschlusssachen haben. Es informiert, wie Verschlusssachen durch geeignete personelle und materielle Maßnahmen vor unberechtigtem Zugriff geschützt werden können. Staatliche Verschlusssachen werden durch eine Vielzahl von Maßnahmen perso288 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GEHEIMSCHUTZ neller und organisatorisch-technischer Natur geschützt (personeller und materieller Geheimschutz). Personeller Geheimschutz | Zweck des personellen Geheimschutzes ist es, zu verhindern, dass mit einem Sicherheitsrisiko behaftete Personen Zugang zu Verschlusssachen erhalten oder an sicherheitsempfindlichen Stellen innerhalb von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt werden. Ein Sicherheitsrisiko besteht zum Beispiel bei: * Unzuverlässigkeit, * fehlender Verfassungstreue, * Erpressbarkeit durch Überschuldung oder * bei besonderer Gefährdung durch Werbungsversuche ausländischer Nachrichtendienste, insbesondere bei Reisen in entsprechende Länder. Das HSÜVG regelt, dass ab dem Geheimhaltungsgrad VS - Vertraulich nur Personen Zugang zu Verschlusssachen erhalten, die zuvor eine Sicherheitsüberprüfung erfolgreich durchlaufen haben. Das LfV ist mitwirkende Behörde bei den Sicherheitsüberprüfungen und wird auf Ersuchen der zuständigen Stelle (Behörde oder sonstige öffentliche Stelle, die eine Person mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betrauen will oder eine Verschlusssache an eine nicht öffentliche Stelle weitergeben will) tätig. Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen des Geheimschutzes in der Wirtschaft veranlasst das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen. Im Bereich des personellen Geheimschutzes werden entsprechend der vorgesehenen sicherheitsempfindlichen Tätigkeit und des damit verbundenen Zugangs zu Verschlusssachen drei Arten von Sicherheitsüberprüfungen unterschieden: * Einfache Sicherheitsüberprüfung nach SS 7 HSÜVG (Ü1) bei Zugang zu als VS - Vertraulich eingestuften Verschlusssachen oder bei Tätigkeiten in einem Sicherheitsbereich, * erweiterte Sicherheitsüberprüfung nach SS 8 HSÜVG (Ü2) bei Zugang zu als Geheim eingestuften Verschlusssachen oder Zugang zu einer hohen Anzahl als VS - Vertraulich eingestuften Verschlusssachen oder einer Tätigkeit an einer sicherheitsempfindlichen Stelle sowie * erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit Sicherheitsermittlungen nach SS 9 HSÜVG (Ü3) bei Zugang zu als Streng Geheim eingestuften Verschlusssachen oder Zugang zu einer hohen Anzahl als Geheim eingestuften Verschlusssachen oder bei Personen, die beim LfV tätig sind. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 289 GEHEIMSCHUTZ Eine Überprüfung findet nur mit Einwilligung des Betroffenen statt. Im Rahmen der Mitwirkung an Sicherheitsüberprüfungen wurden im Berichtsjahr 652 Überprüfungen abgeschlossen. Lebensund verteidigungswichtige Einrichtungen können - insbesondere aus terroristischen Motiven - Ziel von Sabotagehandlungen werden. Die Mitwirkung bei Sicherheitsüberprüfungen von Beschäftigten an sicherheitsempfindlichen Stellen innerhalb einer lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtung (vorbeugender personeller Sabotageschutz) ist daher ebenfalls Aufgabe des LfV. In diesem Zusammenhang schloss das LfV als mitwirkende Behörde im Berichtsjahr weitere 475 Sicherheitsüberprüfungen ab. Materieller Geheimschutz | Geheimschutzvorschriften zur Handhabung und zum Umgang mit Verschlusssachen gewährleisten Vertraulichkeit und schaffen unter anderem die Grundlage für eine vertrauensvolle nationale und internationale Zusammenarbeit. Daher ist es auch die Aufgabe des materiellen Geheimschutzes, bei allen Fragen rund um die "Verschlusssache" - angefangen von der Entstehung und Einstufung einer Verschlusssache mit einem bestimmten Verschlusssachengrad, über die korrekte Aufbewahrung und den Transport, bis hin zur effektiven Vernichtung einer Verschlusssache - zu beraten und zu unterstützen. Um einen einheitlichen Standard bei Verschlusssachen hinsichtlich Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität (Unversehrtheit) zu gewährleisten, werden durch den materiellen Geheimschutz organisatorische und technische Maßnahmen zum Schutz von Verschlusssachen und von räumlichen Sicherheitsbereichen erarbeitet. Dies bedeutet, dass bereits durch bauliche Maßnahmen ein ausreichend hohes Schutzniveau erreicht werden soll. Zum Beispiel wird durch die Einrichtung von Zutrittsbeschränkungen zu einem Sicherheitsbereich (als einem von vielen Prinzipien des Geheimschutzes) dem Grundsatz "Kenntnis, nur wenn nötig" entsprochen. Bei der Realisierung von Schutzmaßnahmen, die sich mit der Erhöhung des Verschlusssachengrades und/oder der Anzahl der Verschlusssachen verstärken, geht dabei auch immer eine Abwägung zwischen den aufzuwendenden Mitteln und dem zu erreichenden Schutzziel einher. Das LfV hat auch hier eine mitwirkende Funktion, das heißt, es berät und unterstützt Dienststellen, die Verschlusssachen erstellen und bearbeiten. Im Berichtsjahr wurden im Rahmen der Mitwirkung an Maßnahmen zum materiellen Geheimschutz 14 hessische Behörden beraten. 290 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GEHEIMSCHUTZ Zum Bereich des materiellen Geheimschutzes gehört auch der ITGeheimschutz. Die Nutzung von IT-Systemen bei der Verarbeitung von Verschlusssachen birgt besondere Risiken für die entsprechenden Daten. Erwähnt sei hier zum Beispiel die kompromittierende Abstrahlung elektrisch betriebener, datenverarbeitender Geräte, die ermöglicht, dass als Verschlusssache eingestufte Inhalte rekonstruiert werden können. Im Rahmen des IT-Geheimschutzes werden daher, ergänzend zum allgemeinen materiellen Geheimschutz, durch weitere Sicherheitsvorkehrungen die Schutzziele Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität bei der Datenverarbeitung gesichert. Aufgrund der Komplexität und zunehmenden Bedeutung wird hierfür ein Verantwortlicher für den IT-Geheimschutz bestimmt, der den Geheimschutzbeauftragten bei der Umsetzung der VSA unterstützt. Die zunehmende Verzahnung von IT-Infrastrukturen sowie die zunehmende Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 291 GEHEIMSCHUTZ Ablösung der analogen Welt durch die Digitalisierung erzeugen neue Herausforderungen für den IT-Schutz von Verschlusssachen. Geheimschutzverfahren des Bundes und der Länder | Die materiellen und formellen Voraussetzungen für Unternehmen, die einem Geheimschutz unterliegende Aufträge von staatlichen Stellen erhalten, sind durch das Geheimschutzverfahren des Bundes und der Länder geregelt. Die Fachaufsicht über dieses Verfahren, das auch als Geheimschutzbetreuung bezeichnet wird, obliegt dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz oder dem jeweils auf Landesebene zuständigen Ministerium, in Hessen dem Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen. Das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen ist gemäß SS 24 HSÜVG zuständig für den Geheimschutz in der Wirtschaft in Hessen. Es arbeitet auf der Basis öffentlich-rechtlicher Verträge mit hessischen Unternehmen zusammen, denen ein dem Geheimschutz unterliegender Auftrag erteilt wurde. Befindet sich die staatliche Stelle außerhalb Hessens oder handelt es sich um eine Bundesbehörde, ist die Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums dieses Landes bzw. des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gegeben. Für die Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen von zu ermächtigenden Personen - also denjenigen Mitarbeitern im Unternehmen, die zur Erfüllung des einem Geheimschutz unterliegenden Auftrags eingesetzt werden sollen - ist der Verfassungsschutz des Landes zuständig, in dem das Unternehmen angesiedelt ist. 292 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV Mitwirkungsaufgaben sind der bedeutende und umfassende Auftrag an den Verfassungsschutz, Extremisten etwa von sicherheitsempfindlichen Infrastrukturen fernzuhalten, ihren legalen Waffenbesitz oder die Verfestigung ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern. AUF EINEN BLICK * Gesetzlicher Auftrag * Überprüfung der Zuverlässigkeit * Waffengesetz * Gewerbeordnung * Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) * Erteilung von Aufenthaltstiteln * Einbürgerung * Visumverfahren * Konsultationsverfahren im Asylprozess * Statistik Gesetzlicher Auftrag | Die Mitwirkungsaufgaben des LfV leisten als integraler Bestandteil der Sicherheitsarchitektur einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der öffentlichen Sicherheit in unserem Land. Dem LfV kommt dabei die wesentliche Aufgabe zu, auf Ersuchen von Behörden bei der Überprüfung von Antragstellern mitzuwirken (SS 2 Abs. 3 HVSG). Das LfV wertet im Rahmen seiner Mitwirkungsaufgaben die ihm vorliegenden Erkenntnisse aus (SS 4 Abs. 5 HVSG). Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kommt dabei nicht in Betracht. Insbesondere die SSSS 19a, 20b Abs. 1 und 20c Abs. 2 HVSG regeln die Übermittlung von Erkenntnissen an die ersuchenden Behörden im Rahmen der Mitwirkungsaufgaben. Überprüfung der Zuverlässigkeit | Personen können an sicherheitsempfindlichen Stellen nur dann eingesetzt werden oder Zugang zu Waffen, Munition oder Sprengstoffen erhalten, wenn sie zuvor auf ihre Zuverlässigkeit überprüft worden sind. Die maßgebliche Mitwirkung des LfV bei der Überprüfung der Zuverlässigkeit ist in vielen gesetzlich geregelten Verfahren vorgeschrieben, so etwa nach den folgenden Bestimmungen: * Waffengesetz (WaffG), * Bundesjagdgesetz (BJagdG), * Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), * Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (SprengG), * Gewerbeordnung (GewO) und * Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (AtG). 294 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV Werden dem LfV nach Beantwortung einer Anfrage Erkenntnisse bekannt, die für die Beurteilung der Zuverlässigkeit von Bedeutung sind, hat das LfV die zuständige Behörde über die Erkenntnisse zu informieren (sogenannte Nachberichtspflicht). Waffengesetz | Mit Wirkung zum 20. Februar 2020 wurde das WaffG verschärft. Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des WaffG und weiterer Vorschriften (3. WaffRÄndG) wird es Extremisten erschwert, legalen Zugang zu erlaubnispflichtigen Waffen und Munition zu erhalten bzw. in deren Besitz zu bleiben. SS 5 Abs. 5 Nr. 4 WaffG begründet eine verpflichtende Regelanfrage der Waffenbehörden bei den Verfassungsschutzbehörden. Die Regelanfrage wird von einer Nachberichtspflicht der Verfassungsschutzbehörden flankiert: Die Verfassungsschutzbehörden unterrichten die Waffenbehörden, wenn nachträglich Erkenntnisse erlangt werden, die Zweifel an der Zuverlässigkeit des Erlaubnisinhabers wecken. Aus SS 5 WaffG wird auch eine Zuverlässigkeitsüberprüfung nach dem BJagdG abgeleitet. So haben die Jagdbehörden nach SS 17 Abs. 1 Satz 2 BJagdG vor Erteilung eines Jagdscheins auch die waffenrechtlichen Anforderungen an die Zuverlässigkeit im Sinne des SS 5 WaffG zu prüfen. Mit dem 3. WaffRÄndG wurde auch das SprengG geändert. Mit der Neufassung des SS 8a Abs. 2 Nr. 3 SprengG begründet auch die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung die Regelvermutung der sprengstoffrechtlichen Unzuverlässigkeit. SS 8a Abs. 5 Nr. 4 SprengG erweitert die Verpflichtung der Sprengstoffbehörden bei jeder Zuverlässigkeitsprüfung, die Verfassungsschutzbehörde zu beteiligen. Beschränkte sich die Regelanfrage bislang auf Erlaubnisse nach SS 7 SprengG für den gewerblichen Bereich, wurde die Zuverlässigkeitsüberprüfung um die Erlaubnisse nach SS 27 SprengG für den nicht gewerblichen Bereich erweitert. Gewerbeordnung | Bewachungsgewerbetreibende und mit der Leitung eines Betriebs beauftrage Personen sind auf ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen (SS 34a GewO). Auch bei Personen, die mit Bewachungsaufgaben, wie etwa der Bewachung von Asylunterkünften oder von zugangsgeschützten Großveranstaltungen, betraut werden, wirkt das LfV mit. Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) | Am 12. Juli 2023 trat das novellierte HSOG in Kraft. Für "Personen, die eine Tätigkeit als Bedienstete in einer Behörde mit VollHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 295 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV zugsaufgaben" anstreben, ist nun in SS 13a Abs. 2 Satz 3 HSOG in Verbindung mit SS 13a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a HSOG die Regelanfrage beim LfV vorgesehen. Dies betrifft insbesondere Bewerber für den Justizvollzug und für die Ausbildung des gehobenen Polizeivollzugsdiensts bei der HöMS. In den übrigen Fällen der SSSS 13a und 13b des HSOG wird das LfV nur dann in die Überprüfungen einbezogen, wenn dies im Einzelfall erforderlich ist und die betroffene Person einwilligt. So wirkt das LfV etwa bei der Überprüfung von Personen mit, die einen unbegleiteten Zutritt zu staatlichen Einrichtungen erhalten sollen. Gleiches gilt bei Personen, für die ein privilegierter Zutritt zu einer Veranstaltung einer Behörde oder öffentlichen Stelle oder zu einer besonders gefährdeten Veranstaltung in nicht öffentlicher Trägerschaft beantragt wird. Auf Grundlage des SS 13a HSOG wirkt das LfV bei der Überprüfung von Personen mit, die im sicherheitssensiblen Bereich von Veranstaltungen, wie etwa dem Hessentag, eingesetzt werden sollen. Schließlich wirkt das LfV auch bei der Zuverlässigkeitsüberprüfung von an der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH) beschäftigten Dolmetschern mit. 296 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV Erteilung von Aufenthaltstiteln | Die Ausländerbehörden übermitteln vor erstmaliger Erteilung oder Verlängerung von Aufenthaltstiteln die personenbezogenen Daten der Antragsteller an das LfV, um zu prüfen, ob Versagungsgründe vorliegen (SS 73 Abs. 2 AufenthG, Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet). Werden dem LfV nachträglich sicherheitsrelevante Informationen bekannt, ist es verpflichtet, diese mitzuteilen (Nachberichtspflicht nach SS 73 Abs. 3 AufenthG). Seit 2009 besteht in Hessen eine regelmäßig tagende Arbeitsgruppe, an der unter anderem Vertreter des Hessischen Ministeriums des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz, der Polizei und des LfV teilnehmen. Die Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit Personen, die aus Sicht von Polizei und LfV unter anderem dem extremistischen, terroristischen Spektrum oder der OK zuzuordnen sind. Ziel ist eine enge behördenübergreifende Zusammenarbeit bei Einzelfällen, die eine besondere Sicherheitsrelevanz aufweisen und bei denen aufenthaltsbeendende oder aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen geboten sind. Einbürgerung | Auch bei Einbürgerungsbewerbern, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, fragen die zuständigen Regierungspräsidien vor ihrer Entscheidung im Einbürgerungsverfahren beim LfV nach Erkenntnissen an (SSSS 32 u. 37 Abs. 2 StAG, Staatsangehörigkeitsgesetz). Visumverfahren | Beantragt ein Ausländer aus einem konsultationspflichtigen Staat bei einer Auslandsvertretung ein Visum zur Einreise nach Deutschland bzw. in das Gebiet der Schengener Staaten, ist eine Vielzahl inländischer Stellen, wie etwa die nationalen SicherHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 297 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV heitsbehörden, zu beteiligen. Zur Feststellung eventueller Versagungsgründe oder sonstiger Sicherheitsbedenken ist dabei eine Übermittlung von personenbezogenen Daten über das Bundesverwaltungsamt (BVA) als technischen Dienstleister an das BfV möglich. Ergibt sich bei einem automatisierten Datenabgleich mit dem Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) eine Eintragung des LfV, wird es an dem Verfahren beteiligt (SS 73 Abs. 1 AufenthG). Konsultationsverfahren im Asylprozess | Seit 2017 wird bei unerlaubt eingereisten bzw. aufhältigen Personen sowie bei Asylund Schutzsuchenden mit der Erstregistrierung im Ausländerzentralregister ein automatisierter Sicherheitsabgleich initiiert, an dem das LfV - dem Visumverfahren vergleichbar - beteiligt wird (SS 73 Abs. 1a u. 3a AufenthG). Statistik | 2023 wurden 253.308 Anfragen (2022: 238.559) an das LfV gerichtet. Zu den zahlenmäßig größten Mitwirkungsaufgaben zählten insbesondere die Beteiligung bei Aufenthaltstiteln, Einbürgerungen, die Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem WaffG, BJagdG, LuftSiG, der GewO und bei Veranstaltungen. Die anfragestärksten Überprüfungen wurden statistisch erfasst. Im Bereich Sonstige sind unter anderem enthalten: Konsultationsverfahren im Asylprozess, SprengG, AtG, Visa, Bedienstete mit Vollzugsaufgaben und EAEH. 298 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ANHANG - ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS - GLOSSAR - EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN UND GRUPPIERUNGEN - REGISTER - GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Abs. Gesetz über die friedliche VerAbsatz wendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren Abt. Abteilung ATÄdegF Almanya Türkiyeli Isciler FedeAfD rasyonu (Föderation der ArbeiAlternative für Deutschland ter aus der Türkei in DeutschAG land e. V.) Amtsgericht ATÄdegK AGIF Avrupa Türkiyeli Isciler KonfeAlmanya Göcmen Isciler Fedederasyonu (Konföderation der rasyonu (Föderation der ArArbeiter aus der Türkei in beitsimmigrantInnen aus der Europa) Türkei in Deutschland e. V.) AufenthG AKP Gesetz über den Aufenthalt, Adalet ve Kalkinma Partisi (Pardie Erwerbstätigkeit und die Intei für Gerechtigkeit und Auftegration von Ausländern im schwung) Bundesgebiet al-Shabab AvEG-Kon Harakat al-Shabab al-Mujahidin Avrupa Ezilen Göcmenler Kon(Bewegung der Mujahidin-Jufederasyonu (Konföderation gend) der unterdrückten ImmigranAMGT ten in Europa) Avrupa Milli Görüs Teskilatlari AWD (Vereinigung der neuen WeltAtomwaffen Division sicht in Europa e. V.) BAFA AN Bundesamt für Wirtschaft und utonome Nationalisten Ausfuhrkontrolle ANF BAMAD Ajansa Nuceyan a Firate (FiratBundesamt für den Militärinews Agency) schen Abschirmdienst AR BAMF Aurora Räteaufbau Bundesamt für Migration und arab. Flüchtlinge arabisch BfV Art. Bundesamt für VerfassungsArtikel schutz AtG BGH Bundesgerichtshof 300 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS BJagdG Dev-Genc Bundesjagdgesetz Devrimci Genclik (Revolutionäre Jugend) BKA Bundeskriminalamt DEXT Fachstellen für DemokratieförBND derung und phänomenüberBundesnachrichtendienst greifende ExtremismusprävenBPol tion Bundespolizei DGB BRD Deutscher Gewerkschaftsbund Bundesrepublik Deutschland DHKC [inoffizielle Abkürzung] Devrimci Halk Kurtulus CeBVA phesi (Revolutionäre VolksbeBundesverwaltungsamt freiungsfront) BVerfSchG DHKP BundesverfassungsschutzgeDevrimci Halk Kurtulus Partisi setz (Revolutionäre Volksbefreibzw. ungspartei) beziehungsweise DHKP-C CDK Devrimci Halk Kurtulus PartisiKoordinasyona Civaka DemoCephesi (Revolutionäre Volkskratik a Kurdistan (Koordination befreiungspartei-Front) der kurdisch-demokratischen DKP Gesellschaft) Deutsche Kommunistische ParCDU tei Christlich Demokratische DMG Union Deutsche Muslimische GeCEM meinschaft e. V. Council of European Muslims DMS Co. DokumentenmanagementKompanie/Kompagnon system DAP Dr. Deutsche Arbeiterpartei Doktor DDoS DS Distributed Denial of Service Deutsche Stimme (verteilte Verweigerung des dt. Dienstes) deutsch Dev Sol DVU Devrimci Sol (Revolutionäre Deutsche Volksunion Linke) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 301 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS e. V. FIOE eingetragener Verein Federation of Islamic Organizations in Europe (Föderation isEAEH lamischer Organisationen in Erstaufnahmeeinrichtung des Europa) Landes Hessen FNS ECFR Freies Netz Süd European Council for Fatwa and Research (Europäischer FP Rat für Fatwa und Forschung) Fazilet Partisi (Tugendpartei) eigentl. FPÖ eigentlich Freiheitliche Partei Österreichs EIHS FSB European Institute of Human Federalnaja Slushba BesopasSciences (Europäisches Institut nosti (Föderaler Dienst für Sifür Humanwissenschaften) cherheit der Russischen Föderation) EIHW Europäisches Institut für HuGAG manwissenschaften e. V. Gemeinsame Arbeitsgruppe Justiz/Polizei EMUG Europäische Moscheebauund GBA Unterstützungsgemeinschaft Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof EU Europäische Union GETZ Gemeinsames ExtremismusEuropol und TerrorismusabwehrzenEuropäisches Polizeiamt trum EZB GewO Europäische Zentralbank Gewerbeordnung FAP GG Freiheitliche Arbeiterpartei Grundgesetz Deutschlands GI FCDK-KAWA Generation Identitaire Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistaniyan e. V. (DemoGIZ kratische Föderation der GeGemeinsames Internetzentrum sellschaften Kurdistan e. V.) GmbH ff. Gesellschaft mit beschränkter folgende [Seiten] Haftung 302 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS GRU HöMS Glawnoje Raswedywatelnoje Hessische Hochschule für öfUprawlenije (Hauptverwaltung fentliches Management und Sibeim Generalstab der Streitcherheit kräfte der Russischen FöderaHPA tion) Hessische Polizeiakademie GTAZ HPG Gemeinsames TerrorismusabHezen Parastina Gel (Volksverwehrzentrum teidigungseinheiten) GU hrsg. GegenUni herausgegeben GUS HSK Gemeinschaft Unabhängiger Heyva Sor a Kurdistane (KurdiStaaten scher Roter Halbmond) GZD HSOG Generalzolldirektion Hessisches Gesetz über die öfHAMAS fentliche Sicherheit und OrdHarakat al-Muqawama al-Islanung miya (Islamische WiderstandsHSÜVG bewegung) Hessisches SicherheitsüberprüHessen3C fungsund VerschlusssachenHessen CyberCompetencegesetz Center HuT HETAZ Hizb ut-Tahir (Partei der BefreiHessisches Extremismusund ung) Terrorismusabwehrzentrum HVSG HKE Hessisches VerfassungsschutzHessisches Informationsund gesetz Kompetenzzentrum gegen Exi. e. tremismus id est (lat., dt. das ist) HLKA i. V. m. Hessisches Landeskriminalamt in Verbindung mit HMdI IAA Hessisches Ministerium des Internationale Automobil AusInnern, für Sicherheit und stellung Heimatschutz IB HNG Identitäre Bewegung Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deIBD ren Angehörige e. V. Identitäre Bewegung Deutschland e. V. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 303 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS IBH italien. Identitäre Bewegung Hessen italienisch IBÖ IUE Identitäre Bewegung ÖsterIslamische Union Europa e. V. reich IVG IESH Indigenes Volk [der] GermaniInstitut Europeen des Sciences ten Humaines (Institut für HumanIZF wissenschaften) Islamisches Zentrum Frankfurt IfS IZH Institut für Staatspolitik Islamisches Zentrum Hamburg IGD JA Islamische Gemeinschaft in Junge Alternative für DeutschDeutschland e. V. land IGMG JN Islamische Gemeinschaft Milli Junge Nationalisten Görüs e. V. JXK IGS Jinen Xwendekaren Kurdistan Islamische Gemeinschaft der (Studierende Frauen aus Kurschiitischen Gemeinden distan) Deutschlands e. V. KADEK IHRA Kongreya Azadi u Demokrasiya International Holocaust ReKurdistane (Freiheitsund Demembrance Alliance mokratiekongress Kurdistans) IL KAGEF Interventionistische Linke Interkulturelles Jugendforum IoC e. V. Indicators of Compromise KCDK-E (KompromittierungsindikatoKongreya Civaken Demokratik ren) li Kurdistaniyen Ewropa (KurdiIS scher Demokratischer GesellIslamischer Staat schaftskongress in Europa) ISI KCK Inter-Services Intelligence Koma Civaken Kurdistan (Gemeinschaft der Kommunen ISPK Kurdistans) Islamischer Staat Provinz Khorasan KdN Kampf der Nibelungen IT Informationstechnik KG Kommanditgesellschaft 304 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS KIA MB Koordinierte InternetauswerMuslimbruderschaft tung MC KONGRA GEL Motorcycle Club Kongreya Gele Kurdistane MDR (Volkskongress Kurdistans) Mitteldeutscher Rundfunk KON-MED MEK Almanya'daki Mezopotamya Mojahedin-e-Khalq (VolksmoTopluluklar Konfederasyonu jahedin) (Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in MÄdegT Deutschland) Milli Istihbarat Teskilati (Nationaler Nachrichtendienst) KOREX Kompetenzzentrum RechtsexMKP tremismus Maoist Komünist Partisi (Maoistisch-Kommunistische Partei) KPD Kommunistische Partei MLKP Deutschlands Marksist Leninist Komünist Partisi (Marxistische Leninistische KRD Kommunistische Partei) Königreich Deutschland MLK-P-Kurulus KRITIS Marksist Leninist Komünist Kritische Infrastruktur Parti-Kurulus (Marxistische-Lelat. ninistische Kommunistische lateinisch Partei-Aufbau) LfV MLPD Landesamt für VerfassungsMarxistisch-Leninistische Partei schutz Deutschlands LG MMA Landgericht Mixed-Martial-Arts LGBTQIA+ MNP Lesbian, Gay, Bisexual, TransMilli Nizam Partisi (Nationale gender, Queer, Intersexuel, Ordnungspartei) Asexuel (lesbisch, schwul, biseMOIS xuell, transgeschlechtlich, Ministry of Intelligence queer, intersexuell, asexuell) NADIS LPP Nachrichtendienstliches InforLandespolizeipräsidium mationssystem LuftSiG Luftsicherheitsgesetz Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 305 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS NATO PCDK North Atlantic Treaty OrganizaPartiya Careseriya Demokratik tion (Nordatlantische Vertrags- a Kurdistane (Partei für eine poorganisation) litische Lösung in Kurdistan) NF PIAS Nationalistische Front Polizeiliche Informationsund Analysestelle NIAS Nachrichtendienstliche InforPJAK mationsund Analysestelle Partiya Jiyana Azad a Kurdistane (Partei für ein freies Leben NPD in Kurdistan) Nationaldemokratische Partei Deutschlands PKK Partiya Karkeren Kurdistan (ArNr. beiterpartei Kurdistans) Nummer PKV NS Parlamentarische KontrollkomNationalsozialismus mission Verfassungsschutz NSBM PLO National Socialist Black Metal Palestine Liberation OrganizaNSDAP tion (Palästinensische BefreiNationalsozialistische Deutungsorganisation) sche Arbeiterpartei PMK NSU Politisch motivierte Kriminalität Nationalsozialistischer UnterPYD grund Partiya Yekitiya Demokrat (ParOK tei der Demokratischen Union) Organisierte Kriminalität RAC OLG Rock Against Communism Oberlandesgericht RGC OMCG Revolutionary Guard Corps Outlaw Motorcycle Gangs (Revolutionsgarden) ORTET RH Online Recherche Team Rote Hilfe e. V. Extremismus Terrorismus RHD PAAF Rote Hilfe Deutschlands PhänomenbereichsübergreiRI fende wissenschaftliche AnalyRealität Islam sestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit RIG Rat der Imame und Gelehrten e. V. 306 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS RIGD TAK Rat der Imame und Gelehrten Teyrebazen Azadiya Kurdistan in Deutschland (Freiheitsfalken Kurdistans) RuW TC2 Recht und Wahrheit Tong cuc 2 s. TCS siehe Tevgera Ciwanen Soresger (Bewegung der revolutionären JuS. gend) Seite Teko-Jin SA Tevgera Jinen Ciwan en TekoSturmabteilung ser (Bewegung der kämpferiSDAJ schen jungen Frauen) Sozialistische Deutsche ArbeiTHS terjugend Thüringer Heimatschutz SP TÄdegKKO Saadet Partisi (Partei der GlückTürkiye Isci Köylü Kurtulus Orseligkeit) dusu (Türkische Arbeiterund SPD Bauernbefreiungsarmee) Sozialdemokratische Partei TKÄdegH Deutschlands Türkiye Komünist Isci Hareketi SprengG (Türkische Kommunistische ArGesetz über explosionsgefährbeiterbewegung) liche Stoffe TKP/ML SRP Türkiye Komünist Partisi/MarkSozialistische Reichspartei sist-Leninist (Türkische KommuSS nistische Partei/Marxisten-LeniSchutzstaffel nisten) StAG TKP/ML-H Staatsangehörigkeitsgesetz Türkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist Hareketi (Türkische StGB Kommunistische Partei/MarxisStrafgesetzbuch ten-Leninisten-Bewegung) SWR TTP Slushba Wneschnej Raswedki Tehrik-i-Taleban Pakistan (Dienst der Außenaufklärung der Russischen Föderation) türk. türkisch SZ sonstige Zuordnung u. und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 307 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS UCC YDG Uniform Commercial Code Yeni Demokratik Genclik (Neue demokratische Jugend) UN United Nations (Vereinte YÖP Nationen) Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik) USA United States of America (VerYPG einigte Staaten von Amerika) Yekineyen Parastina Gel (Volksverteidigungseinheiten) USBV Unkonventionelle Sprengund YPJ Brandvorrichtung Yekineyen Parastina Jin (Frauenverteidigungseinheiten) v. von/vom YXK Yekitiya Xwendekaren KurdisVAJA/MOIS tan (Verband der Studierenden Vezarat-e-ettelaat jomhuri-ye aus Kurdistan) eslami-ye iran/Ministry of Intelligence ZF Zentrale Fortbildung VG Verwaltungsgericht ZIK Zentrum der Islamischen Kultur VGH Verwaltungsgerichtshof ZKA Zollkriminalamt vgl. vergleiche VHD Vaterländischer Hilfsdienst VPN Violence Prevention Network VS Verschlusssache VSA Verschlusssachenanweisung WaffG Waffengesetz WaffRÄndG Gesetz zur Änderung des Waffengesetzes und weiterer Vorschriften 308 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR GLOSSAR ... waren ein zwischen 2012 und 2014 bestehender Militärverband, Ahfad-al-Rasul-Brigaden der das syrische Regime mit Waffengewalt stürzen wollte. (Vgl. https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/ Pressemitteilungen/DE/2023/Pressemitteilung-vom-08-032023.html, abgerufen im April 2024.) Neben rechtsterroristischen Gruppierungen stellten in der jüngeren Allein handelnde Täter Vergangenheit vor allem sogenannte einzelagierende Täter eine besondere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden dar. Dieser Tätertypus radikalisiert sich meist über das Internet und hat entweder keine oder nur eine geringe Anbindung an etablierte rechtsextremistische Strukturen und Organisationen. Die Täter der rechtsterroristischen Anschläge in Halle (Sachsen-Anhalt) im Oktober 2019 und in Hanau (Hessen) im Februar 2020 entsprechen genau diesem Tätertypus. (Vgl. Kompendium des BfV. Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz. Köln 2024, S. 26, abgerufen im April 2024 unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/ allgemein/2024-03-08-kompendium-des-bfv-darstellungausgewaehlter-arbeitsbereiche-und-beobachtungsobjekte.pdf? __blob=publicationFile&v=6.) Im Gegensatz zu anderen linksextremistischen Richtungen fehlt es Anarchismus dem Anarchismus an verbindlichen Theorien und gemeinsamen Organisationsstrukturen. Anarchismus ist vielmehr eine Sammelbezeichnung für politische Auffassungen und Bestrebungen, die auf die Abschaffung jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen abzielen. Das Feindbild aller anarchistischen Strömungen ist der Staat. Die Institution des Staats gilt im anarchistischen Selbstverständnis als repressive Zwangsinstanz, die zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft aufgelöst oder zerschlagen werden muss. Dabei differenzieren Anarchisten nicht zwischen demokratisch und diktatorisch organisierten Staaten. Nach anarchistischer Vorstellung soll sich die Gesellschaft auf Basis völliger Freiwilligkeit selber organisieren. Häufig schließt eine solche Auffassung einen grundsätzlichen Antiinstitutionalismus mit ein. So gelten auch Parlamente, Parteien, Kirchen und Vereine als Einrichtungen, die einer freiwilligen Assoziation von emanzipierten und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 309 GLOSSAR mündigen Menschen entgegenstehen. Im Mittelpunkt stehen Freiheit, Freizeit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Die Ablehnung von Hierarchie und Unterordnung führt zu einer generellen Skepsis gegenüber politischen Organisationsformen. Anarchisten bilden deshalb zumeist nur lose strukturierte Gruppierungen. Gegenwärtig bestehen nur wenige Kleinorganisationen, die sich dezidiert dem Anarchismus verschrieben haben, daneben sind jedoch auch die meisten autonomen Gruppierungen durch anarchistische Theoriefragmente beeinflusst. (Vgl. http://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/ideologie/anarchismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) "Antifaschismus" ... als Begriff wird auch von Demokraten verwendet, um ihre Ablehnung des Rechtsextremismus zum Ausdruck zu bringen. Linksextremisten versuchen den breiten gesellschaftlichen Konsens gegen den Rechtsextremismus zu nutzen, um von Demokraten als Partner akzeptiert zu werden. Im linksextremistischen Sinn ist "Antifaschismus" weit mehr als das Engagement gegen Rechtsextremismus. Er steht für eine grundsätzliche Ablehnung von Parlamentarismus und demokratischem Verfassungsstaat. "Antifaschismus" im linksextremistischen Sinn behauptet, dass die bürgerliche Gesellschaftsordnung mit ( ) "Kapitalismus", Parlamentarismus und Rechtsstaat die Ursache von Faschismus und Rechtsextremismus sei. Demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland wird unterstellt, sich unausweichlich in Richtung eines neuen Faschismus zu entwickeln. Das politische Ziel linksextremistischer "Antifaschisten" ist deshalb die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Begriff "Antifaschismus" geht zurück auf die inneritalienische Opposition gegen die Herrschaft Benito Mussolinis zwischen 1922 und 1943. Die Wurzeln des deutschen "Antifaschismus" liegen im Widerstand gegen die Diktatur des "Dritten Reichs". Neben dem bürgerlich-liberal geprägten "Antifaschismus", der für den Erhalt bzw. die Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintrat, entwickelte sich ein kommunistisch orientierter, der alle nichtmarxistischen Systeme als potenziell faschistisch oder zumindest als Vorstufe zum Faschismus betrachtet. Der Faschismus gilt dabei als die reaktionärste, chauvinistischste und imperialistischste Form des "Kapitalismus". Nur wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft und ein sozialistisches System errichtet werde, könne der "Faschismus" zerstört werden. Die Forderung nach der Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist die folgerichtige Konsequenz. 310 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR "Antifaschismus" ist nicht generell linksextremistisch. Es kommt vielmehr darauf an, was die jeweiligen Akteure konkret unter "Faschismus" verstehen und welche Forderungen sie daraus ableiten. Entscheidend sind dabei folgende Fragen: Richtet sich die Ablehnung nur gegen den Rechtsextremismus oder gegen den demokratischen Verfassungsstaat? Werden die Regeln des Verfassungsund Rechtsstaats akzeptiert oder werden Rechtsextremisten als Menschen ohne Rechte betrachtet, gegen deren Aktivitäten jedes Mittel recht ist? (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/aktionsfelder/antifaschismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Die Stadt gilt insbesondere gewaltorientierten Linksextremisten tra"Antigentrifizierung" ditionell als zentraler Ort des Klassenkampfs, als Ort der Zuspitzung der Klassengegensätze. Durch die Verbindung mit anderen Gruppen erhoffen sich Linksextremisten Möglichkeiten der Massenmilitanz, die in Städten leichter organisierbar ist als in bevölkerungsschwachen Räumen. Ziel gewaltorientierter Linksextremisten ist insbesondere der Erhalt sogenannter ( ) selbstverwalteter Freiräume, die von der Szene als notwendige Widerstandsstrukturen angesehen werden. Mit dem Thema "Antigentrifizierung" versuchen Linksextremisten ihre eigenen Interessen in eine aktuelle stadtund gesellschaftspolitische Diskussion einzubetten und damit in größeren Bevölkerungskreisen politisch Akzeptanz zu finden. Der Begriff "Gentrifizierung" kommt ursprünglich aus der Stadtsoziologie und bezeichnet soziale Umstrukturierungsprozesse in Stadtteilen, die zu steigenden Mieten und einer Verdrängung der bisherigen Bewohner führen. Viele Bewohner von Großstädten beschäftigt dieses Thema. Es bilden sich Initiativen, die in aller Regel von demokratischen Kräften getragen werden. Linksextremisten versuchen, sich diesen Initiativen anzuschließen bzw. im gleichen Themenfeld eigene Aktionen zu entwickeln, um damit ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu steigern und sich vordergründig als sozialpolitische Akteure zu profilieren, wobei sie extremistische Ziele verfolgen, die deutlich über die Sozialpolitik hinausreichen. Autonome Linksextremisten entwickeln im Zusammenhang mit dem Themenfeld "Antigentrifizierung" auch gewalttätige Aktivitäten: Insbesondere Immobilienmakler werden von ihnen als Mitverantwortliche für die "Gentrifizierung" und damit als Feindbild wahrgenommen. Büros und Fuhrparks von Immobilienfirmen sind immer wieder Ziel militanter Attacken aus der linksextremistischen Szene. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 311 GLOSSAR (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus /definition/aktionsfelder/antigentrifizierung/index.html, abgerufen im April 2024.) "Antiimperialismus" Der Imperialismus, bei dem russischen revolutionären Politiker Wladimir I. Lenin als "höchstes Stadium des Kapitalismus" definiert, ist für Linksextremisten ein Gegenstand heftigster Ablehnung. Nach der klassischen marxistisch-leninistischen Imperialismustheorie neigen "kapitalistische" Ökonomien und Staaten dazu, sich zur Maximierung des Profits Märkte für Rohstoffe, Arbeitskräfte und den Absatz von Produkten notfalls gewaltsam zu erschließen, was zu Kolonialismus und Kriegen zwischen "kapitalistischen" Staaten führe. Diese Analyse legt für Linksextremisten eine "antiimperialistische" und "internationalistische" Ausrichtung nahe: Sie verstehen sich als solidarisch mit den "um ihre nationale Befreiung von kolonialistischer Ausbeutung kämpfenden Völkern", falls letztere ein "sozialistisches" Regime errichten wollen. (Vgl. Rudolf van Hüllen: "Antiimperialistische" und "antideutsche" Strömungen im deutschen Linksextremismus, https://www.bpb.de/politik/extremismus/linksextremismus/33626/ antideutsche-und-antiimperialisten, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Anti-IS-Allianz Die wichtigsten Mitglieder der Allianz waren die USA, Großbritannien und Frankreich. Weitere Partner waren Australien, Dänemark, Belgien, Kanada, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Katar, Jordanien und die Türkei, wobei sich letztere nicht an Kampfhandlungen beteiligte. (Vgl. https://www.srf.ch/news/international/das-sind-die-wichtigstenmitglieder-der-anti-is-allianz, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags abgerufen im April 2024.) "Antikapitalismus" s. "Kapitalismus" "Antimilitarismus" ... ist ein klassisches linksextremistisches Aktionsfeld, dessen Wurzeln bis in die Anfänge der kommunistischen Bewegung zurückreichen. Im Gegensatz zum Pazifismus geht es Linksextremisten nicht nur um die Abschaffung des Militärs, sondern darüber hinaus um die Besei312 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR tigung der parlamentarischen Demokratie. Aus linksextremistischer Perspektive dient das Militär dazu, angebliche kapitalistische Expansionsbestrebungen nach außen durchzusetzen und im Inneren den ( ) "Kapitalismus" und dessen "Ausbeutungsstrukturen" zu stabilisieren. Eine klassenlose Gesellschaft kann demzufolge nur erreicht werden, wenn neben der "kapitalistischen" Wirtschaftsordnung und der sie tragenden bürgerlichen parlamentarischen Demokratie auch das Militär abgeschafft wird. Die linksextremistische Szene wendet den "Antimilitarismus" auf die Bundeswehr an. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sowie die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Systemen kollektiver Sicherheit wie der NATO stehen dabei im Fokus. Der "antimilitaristischen" Ideologie zufolge dient die Bundeswehr nur der Durchsetzung imperialer Politik und "kapitalistischer" Interessen. Ignoriert wird dabei, dass es sich bei der Bundeswehr um ein sogenanntes Parlamentsheer handelt, dessen bewaffnete Streitkräfte auf der Grundlage einer Entscheidung des Deutschen Bundestags bzw. auf Basis der Charta der UN ins Ausland entsandt werden. Im Rahmen ihrer Bündnispolitik versuchen Linksextremisten Einfluss auf Initiativen zu nehmen, die die Rolle und Aufgabe einer Armee in einem demokratischen Staat kritisch hinterfragen. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/aktionsfelder/antimilitarismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) ... ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die im Hass auf Juden Antisemitismus Ausdruck finden kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nichtjüdische Individuen und/oder ihr Eigentum, gegen Institutionen jüdischer Gemeinden und religiöse Einrichtungen. Diese Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wurde am 26. Mai 2016 in Bukarest (Rumänien) von der Vollversammlung der damals 31 Mitgliedsstaaten beschlossen. Die IHRA nennt praktische Beispiele für Antisemitismus und antisemitisches Handeln, die im Folgenden in veränderter und ergänzter Form dargestellt werden: 1. Menschen oder Gruppen rufen zur Tötung/Schädigung von Juden im Namen einer radikalen/extremistischen Ideologie oder einer radikalen/extremistischen Religionsanschauung auf. 2. Menschen oder Gruppen fordern zur Beihilfe zu solchen Taten auf oder versuchen, diese zu rechtfertigen. 3. Menschen oder Gruppen bringen falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen einzelne Juden oder die Macht von Juden als Kollektiv vor; dazu Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 313 GLOSSAR können Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle von Medien, Wirtschaft, Regierung oder gesellschaftlicher Institutionen zählen. Dabei werden Nichtjuden als "Handlanger" von Juden dargestellt oder als "Kryptojuden" (geheime Juden). 4. Juden werden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar Nichtjuden (vgl. Punkt 3) verantwortlich gemacht. 5. Leugnung von Tatsachen, des Ausmaßes, der Mechanismen (zum Beispiel von Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Juden durch das nationalsozialistische Regime und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkriegs. 6. Der Vorwurf gegenüber Juden als Volk oder dem Staat Israel, den ( ) Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen. 7. Der Vorwurf, Juden fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen (vgl. Punkt 3) stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer. 8. Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, zum Beispiel durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen. 9. Der Vorwurf, Juden fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen (vgl. Punkt 3) stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer. 10. Die Anwendung doppelter Standards bei der Beurteilung des Staates Israel. 11. Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus oder christlichem Antijudaismus in Verbindung stehen, um Israel, Bürger Israels oder Juden zu beschreiben. 12. Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik des nationalsozialistischen Regimes. 13. Das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen der Regierung, öffentlicher Institutionen oder Parteien des Staates Israel. 14. Die Behauptung, Juden seien am Antisemitismus aufgrund ihrer Verhaltensweise (vgl. Punkte 3-4, 6-7, 9), bestimmter Stereotypen (3, 6-9, 11) oder Handlungen (vgl. Punkt 10, 12-13) selbst verantwortlich. Seit der Annahme der nicht rechtsverbindlichen Arbeitsdefinition von Antisemitismus durch die Vollversammlung der IHRA haben die EU-Institutionen und Mitgliedstaaten zunehmend von der Definition Gebrauch gemacht. Die Europäische Kommission verwendet sie seit Januar 2017 und das Europäische Parlament übernahm die IHRA-Ar314 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR beitsdefinition von Antisemitismus am 1. Juni 2017 mit seiner Entschließung zur Bekämpfung von Antisemitismus. Am 6. Dezember 2018 verabschiedeten die EU-Mitgliedstaaten einstimmig die Erklärung des Rates zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Entwicklung eines gemeinsamen Sicherheitskonzepts für einen besseren Schutz jüdischer Gemeinden und Einrichtungen in Europa, in der der Rat "die Mitgliedstaaten, die dies noch nicht getan haben, [aufruft], die von der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken verwendete nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition von Antisemitismus als nützliche Orientierungshilfe in der allgemeinen und beruflichen Bildung" zu übernehmen und "auch für die Strafverfolgungsbehörden in ihren Bemühungen um eine effizientere und effektivere Ermittlung und Untersuchung antisemitischer Angriffe" zu empfehlen". (Vgl. https://www.antisemitismusbeauftragte.nrw/de/antisemitismus# definition u. https://report-antisemitism.de/documents/IHRADefinition_Handbuch.pdf, unter diesen Adressen die jeweils komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) ... ist die unter PKK-Anhängern übliche Bezeichnung für ihren inhafApo tierten Anführer Abdullah Öcalan. ... ist eines der sich am dynamischsten verändernden KriminalitätsCyberkriminalität phänomene. Täter passen sich flexibel an technische und gesell(Cybercrime) schaftliche Entwicklungen an, agieren global und greifen dort an, wo es sich aus ihrer Sicht finanziell lohnt. Cybercrime ist heutzutage ein professionelles Geschäft. In der Underground Economy gibt es zahlreiche Marktplätze, auf denen illegale Güter wie Drogen, Waffen oder Kinderpornografie, gestohlene Daten und Identitäten, aber auch Dienstleistungen zur Begehung von Cyberstraftaten angeboten werden. Cyberangriffe haben dabei ein enormes Schadenspotenzial. Sie können für Wirtschaftsunternehmen existenzbedrohend sein und haben bei Angriffen auf KRITIS wie Krankenhäuser oder Energieversorger schnell dramatische Auswirkungen auf die Bevölkerung. (Vgl. https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/ Cybercrime/cybercrime_node.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Salafisten geben ihren Propagandaaktivitäten den Anschein einer leda'wa gitimen Religionsausübung und bezeichnen sie verharmlosend als Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 315 GLOSSAR "Missionierung" (da'wa). Es handelt sich in Wahrheit jedoch um eine systematische Indoktrinierung, die oft den Beginn einer weitergehenden Radikalisierung darstellt. Da'wa (wörtlich "Einladung") bezeichnet zunächst die ständige Einladung durch Gott und die Propheten zum Islam. Hieraus leitet sich die Pflicht eines jeden Muslims ab, durch ein vorbildliches Leben und/oder durch Worte da'wa zu betreiben und andere vom Islam zu überzeugen. Vor allem Salafisten bezeichnen ihre Aktivitäten als da'wa. Salafistische Inhalte werden insbesondere online vermittelt und auch ein Großteil der Kommunikation findet virtuell statt. Im öffentlichen Raum ist die Präsenz von Salafisten seit einigen Jahren zwar deutlich rückläufig, allerdings agieren aktuell einzelne Akteure wieder sichtbarer (zum Beispiel auf Vortragsveranstaltungen). Indem sie beispielsweise Formate wie Kurzvideos auf TikTok nutzen, adaptieren die Akteure neue Entwicklungen in der Kommunikation in sozialen Medien und sprechen so auch sehr junge Adressatengruppen an. Es findet eine klar zielgruppengerechte Differenzierung statt und neben Angeboten zur Onlinekonversion werden auch gezielt Kontakte vermittelt. Die Darstellung der Angebote ist oft professionell und leicht konsumierbar. Zudem finden sich im Umfeld auch Angebote für professionelle Dienstleistungen wie zum Beispiel Onlinehandel oder Reisevermittlung. (Vgl. Kompendium des BfV. Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz. Köln 2024, S. 116, abgerufen im April 2024 unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/ allgemein/2024-03-08-kompendium-des-bfv-darstellung -ausgewaehlter-arbeitsbereiche-und-beobachtungsobjekte.pdf? __blob=publicationFile&v=6.) Diebe im Gesetz Eine besondere Bedeutung innerhalb der kriminellen Syndikate in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), das heißt ehemaliger Mitgliedsstaaten der Sowjetunion, kommt den weltweit etwa 1.000 Dieben im Gesetz zu, die sich als Führungspersonen der OKSzene der GUS durchgesetzt haben. Der Begriff "Diebe im Gesetz" stammt aus den 1920er Jahren, als sich in sowjetischen Gefängnissen und Lagern, den sogenannten Gulags, die Anführer der kriminellen Strafgefangenen gegen die Anführer der politischen Häftlinge durchsetzten und so die Oberhand gewannen. Diese kriminellen Anführer nannten sich nun Diebe im Gesetz und stellten mit den "Diebesgesetzen" einen eigenen Verhaltenskodex auf. Dieser sieht vor, dass Konflikte durch eigene Autoritätspersonen - notfalls auch mit Gewalt - geregelt werden und keine Zusammenarbeit mit der Polizei und Justiz stattfindet. Mit Gemeinschaftskassen ("Obschtschjak") werden 316 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR vor allem strafrechtlich verfolgte oder inhaftierte Gruppenmitglieder sowie ihre Angehörigen unterstützt. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/weitere_aufgaben/ organisierte_kriminalitaet/russische_ok/index.html, abgerufen im April 2024.) vgl. Proliferation Dual-Use-Güter vgl. "Antifaschismus" Faschismus ... richtet sich gegen Menschen, die sich durch Herkunft, Nationalität, Fremdenfeindlichkeit (vgl. auch Religion oder Hautfarbe von der als "normal" erachteten Umwelt unRassismus) terscheiden. Die mit dieser Zuweisung typischerweise verbundenen vermeintlich minderwertigen Eigenschaften werden als Rechtfertigung für einschlägige Straftaten missbraucht. Insbesondere das rechtsextremistische Weltbild ist geprägt von einer Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit, aus der unter anderem Fremdenfeindlichkeit resultiert. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bremen.de/oeffentlichkeitsarbeit/ glossar-11578?begriff=F&lang=de#glossar_2132, abgerufen im April 2024.) ... galt als das Grundgesetz nationalsozialistischer Weltanschauung. "Führerprinzip" Es verpflichtete nach dem Motto "Führer befiehl, wir folgen" zu blindem Gehorsam und bedingungsloser Treue gegenüber Adolf Hitler als dem obersten "Führer" sowie die jeweilige Gefolgschaft zu Gehorsam gegenüber den Befehlen der Führer auf mittlerer und unterer Ebene. Das "Führerprinzip" war unter Berufung auf Hitlers Buch "Mein Kampf" als Gegensatz zu jeder Art von demokratischer Entscheidung und Mitbestimmung formuliert und fand im Kult um die Person Hitlers seinen höchsten Ausdruck. Im Willen des Diktators war alle hoheitliche Gewalt des Reichs verkörpert. Nach der damals gültigen Definition des einflussreichen Verfassungsjuristen Ernst Rudolf Huber war die "Führergewalt" nicht durch Kontrollen gehemmt, sie war ausschließlich und unbeschränkt. Mit der Anerkennung des nationalsozialistischen "Führerprinzips" verzichteten die Deutschen auf alle bürgerlichen Rechte der Gestaltung ihrer Verhältnisse und damit auch auf rationale Strukturen der Politik, die nun ausschließlich vom Willen der "Führer" gesteuert wurde. Das "Führerprinzip" galt nicht nur im politischen und sozialen Bereich, auch die Wirtschaft wurde nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 317 GLOSSAR gelenkt. Das "Führerprinzip" war Inbegriff der Selbstaufgabe des Individuums im nationalsozialistischen Staat. Als Anspruch ist das "Führerprinzip" auch für den modernen Rechtsextremismus typisch und kennzeichnender Ausdruck antidemokratischer Gesinnung. (Vgl. https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossierantisemitismus/504210/fuehrerprinzip/, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) "Führerstaat" Der "Führerabsolutismus" (Martin Broszat) gründete sich nicht allein auf Hitlers Machtwillen oder besondere persönliche Qualitäten, sondern auch und vor allem auf die Zustimmungsund Unterordnungsbereitschaft in Verwaltung und Gesellschaft sowie auf die besondere Herrschaftsmechanik im nationalsozialistischen Führerstaat. Der "Führer"-Mythos wurde zum gemeinsamen Nenner der inneren Herrschaftsmechanik sowie der Legitimation durch die Gesellschaft. Bereits während der Aufstiegsphase der NSDAP war Hitler zum machtpolitischen und ideologischen Bezugspunkt der nationalsozialistischen Bewegung geworden. Er hatte zudem diese Machtstellung durch die "Führer"-Erwartung innerhalb der NSDAP sowie durch den "Führer"-Kult propagandistisch verstärken bzw. überhöhen können. Nach der Machtübernahme 1933 übertrug sich dieser Prozess der wechselseitigen Verstärkung von allgemeiner Erwartung einer charismatischen Erlöserund Retterfigur und von dem nunmehr staatlichen Kult um den "Führer" auf die gesamte Gesellschaft. (Vgl. Hans-Ulrich Thamer: Ausbau des Führerstaates, http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossiernationalsozialismus/39550/ausbau-des-fuehrerstaates?p=all, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Gentrifizierung s. "Antigentrifizierung" "Great Reset" ... ist ein Narrativ, das behauptet, dass eine "globale Elite" in Politik und Wirtschaft eine globalisierte Struktur anstrebe. Ursprünglich stammt die Formulierung "Great Reset" von einer Initiative des Weltwirtschaftsforums, die insbesondere auf ökonomische Reformen für mehr Nachhaltigkeit und soziale Partizipation setzt. (Vgl. Kompendium des BfV. Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungs318 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR schutz. Köln 2024, S. 29, abgerufen im Mai 2024 unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/ allgemein/2024-03-08-kompendium-des-bfv-darstellungausgewaehlter-arbeitsbereiche-und-beobachtungsobjekte.pdf? __blob=publicationFile&v=6.) Gewalt spielt im Salafismus auch als religiös legitimierte Gewalt bei hadd der Vollstreckung des islamischen Rechts eine Rolle. Nach salafistischer Auffassung ist das islamische Recht uneingeschränkt anzuwenden. Das umfasst auch die Verhängung von Körperstrafen für bestimmte Vergehen. Körperstrafen werden im islamischen Strafrecht für zahlreiche Delikte verhängt, so zum Beispiel für die sogenannten Grenzvergehen (von arab. hadd, dt. Grenze) sowie für Mord und Totschlag. Als Grenzvergehen werden diejenigen Verbrechen bezeichnet, die der Koran und die Überlieferungen des Propheten als Kapitalverbrechen benennen und die mit einem bestimmten Strafmaß belegt sind. Sie heißen Grenzvergehen, da sie nicht menschliches Recht, sondern das Recht Allahs verletzen. Es muss daher genau die im Koran bzw. in der Überlieferung vorgesehene Strafe vollstreckt werden, das heißt die irdische Justiz besitzt bei der Festlegung der Strafe keinen Ermessensspielraum. Islamische Juristen schreiben strenge Voraussetzungen für die Tatfeststellung vor, sodass historisch betrachtet solche Strafen sehr selten ausgesprochen wurden. Salafisten ignorieren die islamischen Rechtstraditionen; für sie sind die im Koran verankerten Grenzstrafen gottgewollt und unbedingt anzuwenden. Zu den Grenzvergehen gehören: Ehebruch und Unzucht, Verleumdung/falsche Beschuldigung wegen illegalen Geschlechtsverkehrs, schwerer Diebstahl, schwerer Straßenraub und Raubmord sowie Alkoholgenuss. Die für die Grenzvergehen verhängten Körperstrafen reichen vom Auspeitschen über das Abtrennen von Hand und/oder Fuß bis hin zur Steinigung und Enthauptung. (Vgl. Salafistische Bestrebungen in Deutschland. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz und Landesbehörden für Verfassungsschutz. Köln 2012, S. 10f.) Der Nationalsozialismus ist nach wie vor Vorbild für große Teile der "Heldengedenken" rechtsextremistischen Szene. Die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur werden dabei ausgeblendet. Vor allem die militärische Komponente des Nationalsozialismus übt auf heutige Rechtsextremisten nach wie vor eine hohe Faszination aus. Dies zeigt sich sowohl in der Verehrung der im Zweiten Weltkrieg kämpfenden Verbände, einschließlich der Waffen SS, wie auch in der Leugnung der durch deutsche Soldaten begangenen Verbrechen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 319 GLOSSAR Viele Rechtsextremisten sammeln Gegenstände mit Bezug zum "Dritten Reich". Dazu zählen neben Fahnen und militärischen Gegenständen auch Bilder und Büsten von maßgeblichen nationalsozialistischen Protagonisten. Darüber hinaus interessieren sich viele Rechtsextremisten für Liedgut, Literatur und Filme des "Dritten Reichs". Die positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus äußert sich auch in der Verehrung, die Rechtsextremisten bis heute nationalsozialistischen Führungspersonen entgegenbringen. Eine besondere Rolle nimmt dabei der Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß ein, der in der neonazistischen Szene als Märtyrer verehrt wird. Heß, der in den Nürnberger Prozessen zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, saß bis zu seinem Selbstmord am 17. August 1987 im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau. Gerade dieses Datum wird von Rechtsextremisten und Neonazis zum Anlass genommen, im Rahmen von Demonstrationen und "Gedenkveranstaltungen" der ehemaligen nationalsozialistischen Größen zu erinnern und hierbei revisionistische Geschichtsbilder und Verschwörungsnarrative zu den Todesumständen von Heß zu propagieren. Im Kern der rechtsextremistischen Narrative zum Tod von Rudolf Heß steht die Behauptung, dass Heß nicht Selbstmord begangen habe, sondern durch die Alliierten ermordet worden sei. Das Grab von Rudolf Heß befand sich bis 2011 auf dem städtischen Friedhof der Stadt Wunsiedel (Bayern). Der Ort hat für Rechtsextremisten bis heute einen hohen Symbolwert und dient nach wie vor einmal jährlich als Veranstaltungsort für die Partei Der Dritte Weg und ihre "Heldengedenken"-Veranstaltung. Seit 2005 steht in Deutschland die Verherrlichung des nationalsozialistischen Regimes unter Strafe. Auf Grundlage der entsprechenden Strafvorschrift sind seither Rudolf-Heß-Gedenkmärsche in Wunsiedel verboten. Die "Heldengedenken" des Dritten Wegs finden nur noch unter strengen behördlichen Auflagen statt. Unter anderem werden die namentliche Nennung von Rudolf Heß oder andere direkte Bezugnahmen zu seiner Person im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen regelmäßig untersagt. Rechtsextremisten sind daher bestrebt, ihre Verehrung möglichst indirekt auszudrücken bzw. auf andere von konkreten Verbotsauflagen unberührte Personen mit Bezug zum Nationalsozialismus zu beziehen. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/ definition/ideologie/nationalsozialismus/index.html, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags abgerufen im April 2024.) Holocaust Seit den 1970ern ist Holocaust eine nahezu weltweit gebräuchliche Bezeichnung für den Mord an den Juden Europas durch das natio320 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR nalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Holocaust stammt vom griechischen Wort holocauston ab und bedeutet "Brandopfer" (wörtlich übersetzt ganz verbrannt). Das Symbol des Brandoder Sühneopfers macht den Begriff jedoch insofern zwiespältig, weil die Massenvernichtung keine religiöse oder kultische Handlung war, sondern ein systematisch geplanter und durchgeführter Mord. In Deutschland setzte sich der Begriff ab 1979 durch, nach der Ausstrahlung der gleichnamigen TV-Serie im deutschen Fernsehen. Das Wort Holocaust stellt für viele jüdische Überlebende wegen des ursprünglich christlichen Hintergrunds ein Problem dar, weshalb von Juden auch oft der Begriff Shoah verwendet wird. (Vgl. https://www.yadvashem.org/de/holocaust/lexicon.html, abgerufen im April 2024.) ... bedeutet, dass staatliche und nichtstaatliche Akteure im Interesse Hybride Bedrohung eines fremden Staates in koordinierter Weise konventionelle und unkonventionelle Methoden einsetzen, um Gesellschaften zu destabilisieren und deren öffentliche Meinung zu beeinflussen. Hybride Bedrohungen sind gekennzeichnet durch die Anwendung einer großen Bandbreite offener und verdeckter Mittel im Interesse eines fremden Staates. Zum Einsatz kommen hierbei meist Nachrichtendienste, andere staatliche Stellen, staatlich beeinflusste Organisationen, aber auch private Institutionen und Akteure oder soziale Medien. Ein wesentliches Element sind Desinformationskampagnen. Auch die Bundesrepublik Deutschland und die EU sind seit Jahren Ziel von hybriden Bedrohungen, zum Beispiel von Seiten der Russischen Föderation und der Volksrepublik China. Desinformationskampagnen und andere Einflussnahmeaktivitäten fremder Staaten erfolgen zielgerichtet. Es besteht die Absicht, die öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen, die Öffentlichkeit über die Faktenlage zu verwirren, von eigenen Aktivitäten abzulenken oder diese zu verschleiern. Zudem sollen kontroverse Debatten durch den Einsatz von Desinformation emotionalisiert und damit verstärkt werden, um gesellschaftliche Spannungen zu vertiefen und das Misstrauen in staatliche Institutionen und das Regierungshandeln zu schüren. Häufig werden zur Verfolgung eigener Interessen bereits vorhandene Stimmungen aufgegriffen, verstärkt und mit eigenen Narrativen oder falschen Deutungen verbunden. Ziel ist die Diskreditierung des demokratischen Verfassungsstaates. Es geht um das Schwächen oder Zerstören des Vertrauens in die Stabilität und die Integrität unseres demokratischen Rechtsstaates, seiner Grundwerte, Institutionen und Repräsentanten. Weitere Ziele sind die Beschädigung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des Vertrauens in unabhängige Medien. Über eine solche hybride Vorgehensweise wollen fremde Staaten Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 321 GLOSSAR ihre Machtposition im globalen Gefüge politisch und wirtschaftlich ausbauen. Dazu gehört auch, dass sie ihr Vorgehen und ihr Gesellschaftsmodell als dem demokratischer Verfassungsstaaten überlegen darstellen. (Vgl. https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/themenfelder/ desinformation-und-hybride-bedrohungen#:~:text=b)%20Als %20%E2%80%9Ehybride%20Bedrohung%E2%80%9C,deren%20% C3%B6ffentliche%20Meinung%20zu%20beeinflussen, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Ideologie ... (griechisch für Wissenschaft der Anschauungen) sind identitätsstiftende Ideensysteme, die Wertund Handlungsorientierungen prägen. Der Begriff ist bis heute mehrdeutig und vielschichtig. Er wird deskriptiv und negativ-wertend gebraucht. Nebeneinander stehen seine sozialkritische und seine erkenntniskritische Verwendung. Die Unbestimmtheit des Begriffs wird auch in seiner Geschichte deutlich. Die im deutschen Sprachgebrauch vorherrschende negativ-wertende Bedeutung sagt aus, dass Ideologien zur Verabsolutierung des Partiellen neigen, dass sie Vorurteile und Ressentiments durch einseitige Wahrnehmungsmuster fördern, dass sie illusionäre und realitätsferne Weltdeutungen propagieren. (Vgl. Reinhard Hempelmann, Ideologie/Ideologiekritik, https://www.ezw-berlin.de/publikationen/lexikon/ideologie-/ideologiekritik/ideologie, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Imperialismus ... seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlicher Begriff für ungleiche regionale Beziehungen, die mit direkten oder indirekten Formen der Beherrschung bzw. der Abhängigkeit zwischen Staaten/Regionen verbunden sind. Als formelle Gebietsherrschaft ist der Imperialismus besonders in seiner klassischen Phase (etwa 1880-1914) durch häufig gewaltsam herbeigeführte Kolonialisierung in Erscheinung getreten. Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff mit informellen Herrschaftsformen politisch, wirtschaftlich oder militärisch mächtiger Staaten oder auch großer, multinationaler Unternehmen in Verbindung gebracht. Marxisten sahen im Imperialismus den Ausweg, auf den sich der Kapitalismus vorläufig vor dem Zusammenbruch gerettet hatte. Für Wladimir I. Lenin war der Imperialismus das letzte Stadium eines faulenden Kapitalismus mit monopolistischer Verschmelzung von Industrie und Banken zu Finanzkapital sowie heftigen Konflikten. 322 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR (Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/imperialismus/ 3701, hier die komplette Fassung, u. Lexikon zur Überseegeschichte. Hrsg. v. Hermann Hiery im Auftrag der Gesellschaft für Überseegeschichte. Stuttgart 2015, S. 356, abgerufen im April 2024.) ... findet seit 1992 jedes Jahr im September statt und hatte in der VerInternationales Kurdisches gangenheit bis zu 40.000 Teilnehmer. Bislang wurde das Festival in Kulturfestival Deutschland ausgerichtet. Im Jahr 2019 fand erstmals eine Ausrichtung im niederländischen Maastricht statt. Das Festival stellt einen der Höhepunkte der regelmäßig stattfindenden PKK-Großveranstaltungen dar. Neben der von der PKK propagierten "Pflege der kurdischen Kultur" dient das Festival dabei vor allem der Verbreitung politischer Botschaften der Organisation. Zudem ist es ein wichtiger Treffpunkt von PKK-Kadern. Das Rahmenprogramm besteht weitgehend aus Musikdarbietungen und politischen Redebeiträgen, zu deren Darbietung zumeist eine große Bühne aufgebaut wird. Regelmäßig stehen zudem verschiedene Stände zur Verpflegung der Besucher und zum Erwerb kurdischer Literatur oder PKK-Propagandamaterialien zur Verfügung. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/hintergruende/ DE/auslandsbezogener-extremismus/rekrutierung-von-kaempfernfuer-die-pkk-in-deutschland.html, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Die wörtliche Übersetzung des Begriffes Jihad ist Anstrengung, Bejihad mühung oder auch Kampf. Es gibt zwei Formen des Jihads: die geistig-spirituelle Bemühung des Gläubigen um das richtige religiöse und moralische Verhalten gegenüber Gott und den Mitmenschen (sogenannter großer Jihad) und der kämpferische Einsatz zur Verteidigung, Errichtung oder Ausdehnung eines islamischen Herrschaftsgebietes (sogenannter kleiner Jihad). Von militanten Gruppen wird der Jihad häufig als religiöse Legitimation für Terroranschläge verwendet. Islamistische Terroristen führen unter dem Leitprinzip dieses Jihads ihren gewalttätigen Kampf ("heiligen Krieg") gegen die angeblichen Feinde des Islams. Für Jihadisten ist diese Form des Jihads die individuelle Plicht eines jeden "Gläubigen". Der jihadistische Salafismus ist eine besondere Ausprägung des Salafismus. Unter Berufung auf den Islam propagieren, praktizieren und unterstützen Jihadisten den Einsatz von Gewalt, um ihre Gegner zu bekämpfen und die von ihnen angestrebte Staatsund Gesellschaftsordnung zu erreichen. Jihadistischer Salafismus bildet eine Teilmenge des islamistischen Terrorismus. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 323 GLOSSAR (Vgl. Kompendium des BfV. Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz. Köln 2024, S. 112, abgerufen im April 2024 unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/ allgemein/2024-03-08-kompendium-des-bfv-darstellungausgewaehlter-arbeitsbereiche-und-beobachtungsobjekte.pdf? __blob=publicationFile&v=6.) Kalifat .. ist eine autokratische Herrschaftsform, in der sowohl die politische als auch die religiöse Herrschaft durch eine Person, das heißt den Kalifen, ausgeübt wird. (Vgl. Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam, Bd. 1. Hrsg. v. Richard Heinzmann in Zusammenarbeit mit Peter Antes, Martin Thurner, Mualla Selcuk u. Halis Albayrak. Freiburg, Basel u. Wien 2013, S. 392f.) "Kapitalismus" Unter diesem Begriff verstehen Linksextremisten die untrennbare Einheit von marktwirtschaftlicher Eigentumsordnung und demokratischem Rechtsstaat, welche gemäß ihrer Auffassung allein der Manifestierung von Ausbeutungsund Unterdrückungsverhältnissen dient. In einem solchen System würden sich, so die Einschätzung, wenige Privilegierte auf Kosten der Arbeiterklasse bereichern. Deshalb sei der "Kapitalismus" als "Wurzel allen Übels" unvereinbar mit der Vorstellung einer auf Freiheit und Gleichheit aller Menschen beruhenden Gesellschaft. Die somit unausweichliche Überwindung des "Kapitalismus" könne jedoch nicht durch politische Reformen, sondern allein durch einen Umsturz der bisherigen Staatsund Gesellschaftsordnung erfolgen. (Vgl. Kompendium des BfV. Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz. Köln 2024, S. 79, abgerufen im April 2024 unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/ allgemein/2024-03-08-kompendium-des-bfv-darstellungausgewaehlter-arbeitsbereiche-und-beobachtungsobjekte.pdf? __blob=publicationFile&v=6.) Kommunismus ... ist die Bezeichnung für eine Gesellschaftsordnung, die durch das Gemeineigentum an Produktionsmitteln bzw. an allen Wirtschaftsgütern (einschließlich Konsumgütern) charakterisiert ist. Der Begriff kann sich sowohl auf Theorien der politischen Ideengeschichte beziehen, die eine solche Gesellschaftsform propagieren, als auch auf 324 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR politische Bewegungen sowie Herrschaftsund Gesellschaftsordnungen, die eine solche Ordnung verwirklichen wollen. Der Begriff "Kommunismus" wird erst seit den 1840er Jahren verwendet, kommunistische Theorien wurden jedoch bereits in der Antike und in der frühen Neuzeit formuliert. Mit der Französischen Revolution gewann eine Variante des Kommunismus stark an Bedeutung, deren zentrale Forderung lautete: Abschaffung des Privateigentums und planwirtschaftliche Organisation der Produktionsprozesse. Verwirklicht werden sollte die Planwirtschaft unter der Leitung einer Avantgarde mittels einer gewalttätigen Übergangsdiktatur. In Abgrenzung von verschiedenen Frühsozialisten, welche die kommunistische Gesellschaft auf einem friedlichen, zum Teil eher reformorientierten Weg durchsetzen wollten, entwickelten Karl Marx und Friedrich Engels keine kommunistische Utopie, sondern eine wissenschaftliche Theorie des Kommunismus. Sie gaben vor, die objektiven ökonomischen Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, die den Geschichtsprozess (Geschichte, Geschichtsphilosophie) determinieren und schließlich mit Notwendigkeit den Kommunismus herbeiführen. Der Schwerpunkt ihres Werks lag deshalb nicht auf der Beschreibung der kommunistischen Gesellschaftsordnung, sondern auf der Analyse der ökonomischen Gesetze, welche die Geschichte bestimmen. Nach Marx ist der vollendete Kommunismus am Ende des Geschichtsprozesses die Rückkehr zu einer Einheit des Menschen mit sich selbst, die es bereits am Anfang der Geschichte im sogenannten Urkommunismus gab. Mit der Entstehung des Privateigentums kam jedoch der Unterschied zwischen dem (besitzlosen) Arbeiter und dem Kapitalisten auf, der im Besitz der Produktionsmittel ist. Dieser Gegensatz tritt im ( ) "Kapitalismus" deutlich zu Tage. Der Arbeiter wird hier auf seine ökonomische Funktion reduziert und kann mit dem Arbeitslohn bestenfalls seine physische Subsistenz (und die seiner Familie) sichern. Der Kapitalist wird durch den Wettbewerb gezwungen, die Ausbeutung der Arbeiter stetig zu verschärfen. Durch eine Reihe von Wirtschaftskrisen schreitet die Verelendung der Arbeiter voran. Gleichzeitig erleichtert die Konzentration des Kapitals in immer größeren Fabriken die Organisation des Proletariats und deren Führung durch die Kommunistische Partei. Beide Faktoren zusammengenommen führen nach der Auffassung von Marx und Engels mit Notwendigkeit zur Revolution, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben und die "Diktatur des Proletariats" unter der Führung der Kommunistischen Partei eingeführt wird. Nach einer Zwischenphase wird die Endphase des vollendeten Kommunismus erreicht, in der es keine Klassen und keinen Staat mehr gibt. Darüber hinaus ist hier die Entfremdung des Menschen, die durch das Aufkommen des Privateigentums verursacht wurde, vollständig überwunden. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 325 GLOSSAR Sahen sich schon Marx und Engels mit erheblichen Richtungskämpfen zwischen verschiedenen Strömungen des Kommunismus konfrontiert, so verlor dieser nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems 1989/90 weltweit an Bedeutung. In Russland löste Nationalismus die kommunistische Ideologie ab. Gleiches gilt für China, auch wenn das Land sich immer noch als kommunistisch bezeichnet. Einer der letzten verbliebenen kommunistischen Staaten ist Nordkorea. (Vgl. Hendrik Hansen, Kommunismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, https://www.staatslexikon-online.de/ Lexikon/Kommunismus, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Konservative Revolution ... bezeichnet eine geistig-politische Sammelbewegung jungkonservativer Kräfte in der Weimarer Republik (1918-1933), die sich für einen autoritären Staat einsetzten und den liberalen Werten der Weimarer Demokratie deutlichen Widerstand entgegenbrachten. Sie grenzten sich sowohl von den Ideen der Französischen Revolution und der Aufklärung wie von bloßer Restauration ab und forderten nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs eine "neue abendländische Einheit unter deutscher Führung". Die Konservative Revolution verstand sich als Gegenrevolution, die nach dem Umsturz der bestehenden Ordnung konservative Maßstäbe setzen und die Auflösung der abendländischen Kultur verhindern wollte. Durch eine Rede Hugo von Hofmannsthals im Jahre 1927 wurde die paradoxe Wortkombination zum politischen Schlagwort. Die Ideen der Konservativen Revolution bildeten keine politische "Lehre" oder geschlossene Weltanschauung, sondern sie waren geprägt durch unterschiedlichste Strömungen. Gemeinsam war ihnen die Kritik am Liberalismus, Parlamentarismus und am Weimarer Parteienstaat, der mit der deutschen Kultur nicht in Einklang zu bringen und dem Deutschen Reich nach dessen Niederlage im Ersten Weltkrieg aufgezwungen worden wäre. Die Konservative Revolution versuchte demgegenüber einen eigenständigen "deutschen Weg" aufzuzeigen. Eine harmonische Volksgemeinschaft sollte an die Stelle des konfliktbeladenen Parteienstaats und der modernen, in verschiedene Klassen gespaltenen Gesellschaft treten, geführt von einer allen Parteieneinflüssen unabhängigen, freien Staatsspitze. Obwohl nie streng parteipolitisch organisiert, hatten die intellektuellen Vertreter der Konservativen Revolution wie Edgar Jung, der einen durch eine Elite geführten autoritären Staat propagierte, großen Einfluss auf die Ausprägung des politischen Bewusstseins der jüngeren Kriegsgeneration. Deren Erfahrungen im Ersten Weltkrieg versuchte die Konservative Revolution in die Politik der 1920er Jahre 326 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR miteinzubringen. Die Gemeinschaft in den Schützengräben des Kriegs sollte als Grundlage der nun "wiedererwachenden" Volksgemeinschaft dienen. Einer der Haupttheoretiker der Konservativen Revolution war Arthur Moeller van den Bruck, dessen Buchtitel "Das dritte Reich" von den Nationalsozialisten als politisches Schlagwort übernommen wurde. Wesentliche Einflüsse gingen auch von der pessimistischen Kulturphilosophie Oswald Spenglers aus, die er in seinem zweibändigen Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes" (1918-1922) entwickelte. In ihren sozialromantischen, antiparlamentarischen und antidemokratischen Tendenzen wurden Gruppen der Konservativen Revolution zu geistigen Wegbereitern des ( ) Nationalsozialismus. (Vgl. Arnulf Scriba u. Daniel Wosnitzka, Konservative Revolution, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/ innenpolitik/konservative-revolution.html, abgerufen im April 2024.) ... bedeutet Unglaube oder etwas zu leugnen - im koranischen Kufr Sprachgebrauch ist es die Leugnung der Offenbarung des Korans und des Gesandten Muhammad und bezog sich ursprünglich auf die Polytheisten Mekkas. Dabei kann auch das Vertreten bestimmter, als unislamisch verstandenen Positionen als kufr bezeichnet werden. Dabei gilt es zwischen dem größeren, kufr akbar, und dem kleineren Unglauben, kufr asghar, zu unterscheiden: Ersterer führt zur Aberkennung des Muslimseins und Ausgrenzung aus der islamischen Gemeinschaft (Umma), letzterer kann vergeben werden. Ein Ungläubiger ist ein kafir (Plural kuffar), und die Handlung, einem Muslim sein Muslimsein abzusprechen, heißt takfir. Die Unterteilung der Welt in zwei Pole - Muslime und Nichtgläubige, Islam und Unglaube - ist ein zentraler Bestandteil islamistischer Strömungen. (Vgl. Simon Conrad, Kufr, https://www.kas.de/de/web/extremismus/islamismus/kufr, abgerufen im April 2024.) ... ist eine Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich entstandene BeLaizismus zeichnung für eine politische Bewegung, die sich gegen jeden Einfluss des Klerus auf Staat, Kultur und Erziehung wendet, sich für die Trennung von Staat und Kirche ausspricht und die Kirchen in den rein sakralen Bereich zurückdrängen will. (Vgl. https://www.wissen.de/lexikon/laizismus, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 327 GLOSSAR Marxismus-Leninismus ... war die offizielle Weltanschauung der früheren Sowjetunion. Er basiert auf den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels und wurde unter Wladimir I. Lenin zur Staatsdoktrin der Sowjetunion und zur theoretischen Vorgabe für den internationalen Klassenkampf. Der Marxismus-Leninismus unterstreicht vor allem die revolutionäre Seite des Marxismus und entwickelt dazu konkrete organisatorische und strukturelle Vorgaben. Lenin ging davon aus, dass das Proletariat als revolutionäres Subjekt auf sich allein gestellt nicht das notwendige politische Bewusstsein entwickeln kann. Dieses Bewusstsein muss ihm durch eine revolutionäre Kaderpartei erst vermittelt werden. Alle Macht innerhalb der Partei soll dabei in der Hand einer möglichst kleinen Zahl von Berufsrevolutionären konzentriert sein, die den Parteiapparat straff organisieren. Die Beschlüsse der Leitungsgremien sind strikt zu befolgen, abweichende Meinungen oder Fraktionen werden nicht geduldet. Eine demokratische Willensbildung findet nicht statt. Nach marxistisch-leninistischer Auffassung entwickelt sich die Geschichte nach allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten: Am Anfang steht eine - gewaltsame - Revolution der Arbeiterklasse ("Proletarische Revolution"), die die in den sogenannten bürgerlichen Gesellschaften herrschenden Kapitalisten beseitigt. Die so errungene Macht wird durch eine "Diktatur des Proletariats" abgesichert. Als sogenannte "Avantgarde der Arbeiterklasse" führt die marxistisch-leninistische Kaderpartei das allein nicht handlungsfähige Proletariat. Das private Eigentum an Produktionsmitteln (Kapitalismus) wird beseitigt und die Volkswirtschaft nach zentralen Plänen entwickelt ("Planwirtschaft"). Eine "sozialistische Kulturrevolution" soll die "bürgerliche Intelligenz" verdrängen und eine "sozialistische Intelligenz" schaffen. Die sozialistischen Länder schließen sich zusammen ("Internationalismus") und verteidigen den Sozialismus gegen äußere und innere Feinde mit allen Mitteln. Nach marxistisch-leninistischer Auffassung ist der Sozialismus die erste (niedere) Phase der Gesellschaftsform des ( ) Kommunismus. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/ideologie/marxismus_leninismus/index.html, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Maoismus Unter der Führung von Mao Zedong bildete sich in China nach dem kommunistischen Sieg 1949 eine Theorie und Praxis heraus, die sich als historisch-konkrete Anwendung und kritische Weiterentwicklung des ( ) Marxismus-Leninismus auf die speziellen Bedingungen Chinas verstand. In Westeuropa war der Maoismus Vorbild für große Teile der 1968er-Bewegung. Ausgehend von der "Strategie der Umzingelung der Städte durch das Land" erhob Mao die unterdrückte 328 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR Landbevölkerung - und nicht wie bei Wladimir I. Lenin die städtische Arbeiterschaft - zum Träger der Revolution. Nach Maos Auffassung war die Revolution in einem Land der "Dritten Welt" durch einen Guerillakrieg bäuerlicher Partisanen auszulösen. Auch Mao betonte allerdings die führende Rolle der Kommunistischen Partei in diesem Krieg, der sich zu einem Volkskrieg ausweiten sollte mit dem Ziel, die herrschende Klasse zu stürzen und die "Diktatur des Proletariats" zu errichten. Von den unterentwickelten Agrarländern sollte die Revolutionswelle in die Städte der Industrienationen getragen werden und so letztlich zur Weltrevolution führen. Revolutionäre Zentren waren für Mao demnach die Entwicklungsländer, nicht hingegen die imperialistischen Länder des Westens und auch nicht die Sowjetunion mit ihrem Vormachtanspruch. In einer langen Serie politischer Kampagnen mobilisierte Mao das Volk immer wieder zur Durchsetzung der Ziele der Kommunistischen Partei und zur "Säuberung" der Gesellschaft von "Klassenfeinden". Zu diesen "Klassenfeinden" zählte er insbesondere auch Intellektuelle und Vertreter der bürgerlichen Kultur. Im Rahmen der 1965/66 eingeleiteten "Großen Proletarischen Kulturrevolution" wurden Hunderttausende teilweise auf grausame Weise umgebracht. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/ideologie/maoismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) ... ist im Unterschied zum Polytheismus das Bekenntnis und die VerMonotheismus ehrung nur eines einzigen Gottes, der im Glauben als personales Gegenüber verstanden wird und im Verständnis der Gläubigen als Schöpfer und Erhalter der Welt gilt. Theologisch zeichnet sich der Monotheismus somit durch den Ausschließlichkeitscharakter und Universalitätsanspruch Gottes aus. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. d. Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 442f.) ... sammeln Informationen über die innere oder äußere Sicherheit eiNachrichtendienste nes Staats gefährdende Bestrebungen und werten sie aus. Hierbei können die Nachrichtendienste verdeckt arbeiten. Die Ergebnisse der Analyse werden in Berichtsform zusammengefasst und den politischen Entscheidungsträgern sowie den Kontrollgremien zur Verfügung gestellt. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es drei Nachrichtendienste: den Inlandsnachrichtendienst in Gestalt der Verfassungsschutzbehörden (BfV und LfV), den AuslandsnachrichtenHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 329 GLOSSAR dienst BND sowie das BAMAD. Der Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland ist föderal organisiert. Dementsprechend existieren 17 Verfassungsschutzbehörden, ein Bundesamt (BfV) und 16 LfV. Sie arbeiten gemäß dem Bundesverfassungsschutzgesetz bzw. Landesverfassungsschutzgesetzen in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zusammen. Die Verfassungsschutzbehörden der Länder können als untergeordnete Abteilung unmittelbar im jeweiligen Innenministerium angesiedelt sein oder sind als eigenständige Landesoberbehörde dem jeweiligen Innenministerium nachgeordnet. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/glosaareintraege/DE/N/nachrichtendienste.html, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Nationalismus ... Nationalismus wird definiert als Ideologie, welche die Merkmale der eigenen ethnischen Gemeinschaft (zum Beispiel Sprache, Kultur, Geschichte) überhöht bzw. absolut setzt. Diese Ideologie gipfelt in dem übersteigerten Verlangen nach der Einheit von Volk und Raum. Nationalisten erheben die eigene Nation über andere und definieren sie als höchstes Ziel, dem der einzelne alle anderen Ziele unterzuordnen habe. Diejenigen, die angeblich nicht zur deutschen Nation gehören, werden ausgegrenzt, als minderwertig angesehen oder gar verfolgt. (Vgl. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17889/ nationalismus/, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Nationalsozialismus ... umfasst die von Adolf Hitler geprägte Ideologie und Herrschaft der NSDAP (ab 1920, 1919 als Deutsche Arbeiterpartei, DAP, gegründet). Offizielles Symbol der NSDAP war das Hakenkreuz, als Sonnenrad in vielen Kulturen bekannt und ab Ende des 19. Jahrhunderts bei völkischen und antisemitischen Gruppen verwendet. Die Hakenkreuzfahne entwarf Hitler 1920. Nationalsozialismus als Ideologie basierte unter anderem auf der Schrift "Nationaler Sozialismus" von Rudolf Jung (1919) sowie maßgeblich auf den von Hitler 1920 verkündeten 25 Punkten des NSDAP-Parteiprogramms, auf Hitlers Buch "Mein Kampf" (1925/26) und den Schriften von Alfred Rosenberg. Kernelemente waren ( ) Sozialdarwinismus, deutsches Volkstum, ( ) Rassismus, ( ) Antisemitismus, Antibolschewismus sowie Ablehnung von Demokratie und Liberalismus. Das Naturrecht pervertierend und die Ideologie dem taktischen Bedarf anpassend, wurde aus dem angeblichen "Naturrecht des Stärkeren" vieles abgeleitet: das ( ) Füh330 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR rerprinzip, die Überlegenheit der "arisch-nordischen Rasse" mit deutscher ( ) "Volksgemeinschaft" und deutscher Kultur als Kern, die Minderwertigkeit von Juden, "Farbigen", "Zigeunern", Slawen, die Aberkennung des Lebensrechts von Behinderten, die Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung von politischen Gegnern, Juden, Homosexuellen, "Asozialen", die Eroberung von "Lebensraum" durch Angriffsund Vernichtungskriege. Der Nationalsozialismus gab sich teils vage religiös und "gottgläubig", teils nationalkirchlich im Sinn der Deutschen Christen, teils agnostisch und atheistisch. Nationalsozialismus als konkrete Herrschaftsausübung beruhte auf rücksichtsloser Gewalt in allen Formen, von der Ausschaltung von Demokratie und Rechtsstaat über den Konformitätsdruck in Betrieb, Schule sowie Hitlerjugend und über soziale Ausgrenzung und Beraubung zum Straßenterror der Sturmabteilung (SA), zur Polizeiwillkür der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), zu den Konzentrationslagern der SS, zum Brennen und Morden im Krieg bis zum ( ) Holocaust. Dem dienten, in manchem ans faschistische und sowjetische Vorbild angelehnt, Organisierung und Mobilisierung möglichst aller Bereiche von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft unter der Führung der Partei sowie Terror nach innen und außen. (Vgl. Peter Geiger, Nationalsozialismus (NS), https://historischeslexikon.li/Nationalsozialismus_(NS), hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Unter die Bezeichnung Neue Rechte wird ein informelles Netzwerk Neue Rechte von Gruppierungen, Einzelpersonen und Organisationen gefasst, in dem nationalkonservative bis rechtsextremistische Kräfte zusammenwirken, um anhand unterschiedlicher Strategien teilweise antiliberale und antidemokratische Positionen in Gesellschaft und Politik durchzusetzen. Hierfür werden parlamentarische und außerparlamentarische Bewegungen, metapolitische Theoriebildung und Praxis - also die Einflussnahme auf den vorpolitischen Raum, die den Boden für die erfolgreiche politische Verwirklichung dieser antidemokratischen Positionen bereiten soll - mit Protest und Demonstrationsinitiativen eng verzahnt. Die Akteure füllen innerhalb dieses Netzwerks unterschiedliche und teils komplementäre Funktionen und Rollen aus, die dem gemeinsamen Ziel einer "Kulturrevolution von rechts" dienen sollen und sich jeweils an unterschiedliche Zielgruppen richten. Rechtsextremistische Bezüge ergeben sich aus Verstößen gegen die Menschenwürde, das Rechtsstaatsund/oder das Demokratieprinzip in unterschiedlicher Ausformung. (Vgl. Verfassungsschutzbericht 2022. Hrsg. v. Bundesministerium des Innern und für Heimat. Berlin [2023], S. 72f, die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags auf S. 72 bis 80.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 331 GLOSSAR Newroz Bei den alljährlich in Deutschland stattfindenden Newroz-Feierlichkeiten wird neben dem Beginn des neuen Jahres auch der Frühlingsanfang gefeiert. Vor dem Hintergrund einer alten kurdischen Legende wird Newroz auch als Fest des Widerstands gegen Tyrannei und als Symbol für den kurdischen Freiheitskampf verstanden. Die Feierlichkeiten stellen einen der Höhepunkte der regelmäßig stattfindenden Großveranstaltungen aus dem kurdischen und dem PKK-nahen Spektrum dar. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/hintergruende/ DE/auslandsbezogener-extremismus/rekrutierung-von-kaempfernfuer-die-pkk-in-deutschland.html, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Outings Als besondere Form der "Aufklärung" praktizieren Linksextremisten das Outing: Sie publizieren private Informationen von tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtsextremisten. Sowohl Gruppierungen als auch Einzelpersonen können zu Zielen werden. Namen, Adressen, Bilder, Telefonnummern, Arbeitgeber sowie private Lebensumstände und Gewohnheiten von tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtsextremisten werden systematisch und über einen längeren Zeitraum ausgeforscht, teilweise über Jahre hinweg. Auf die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen nehmen die Akteure keine Rücksicht. Der Zweck solcher Aktionen ist es, die Betroffenen einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren, bloßzustellen und als "Nazi" zu brandmarken. Als Outing-Plattform dient allem die überwiegend von Linksextremisten genutzte Internetseite de.indymedia.org. Flugblattverteilungen und Plakataktionen im unmittelbaren Umfeld des "Geouteten" sind weitere beliebte Methoden, um die gesammelten Informationen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. In Einzelfällen wird entsprechendes Material bestimmten Presseorganen oder dem Arbeitgeber zugespielt. Die Möglichkeit, dass ein derart öffentlich präsentierter politischer Gegner persönlichen Gefährdungen und Benachteiligungen ausgesetzt ist, wird zumindest billigend in Kauf genommen. (Vgl. https://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/Outingaktionen+ der+gewaltorientierten+linksextremistischen+Szene+zum+Nachteil+von+Zentrum+Automobil+e_+V_, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Personenpotenzial, ... ist ein verfassungsschutzspezifischer Begriff, unter dem die Bezifextremistisches ferung der Menge all jener Personen verstanden wird, die einem extremistischen Phänomenbereich, zum Beispiel dem Rechtsextremismus, zugerechnet wird. Das Personenpotenzial eines Phänomen332 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR bereichs setzt sich aus dem Personenpotenzial der einzelnen Beobachtungsobjekte zusammen. Die kontinuierliche Beobachtung des Personenpotenzials seitens des Verfassungsschutzes dient der Einschätzung der personellen Entwicklung und somit der Reichweite und Handlungsfähigkeit der jeweiligen extremistischen Gruppierungen. Grundsätzlich werden einem Personenzusammenschluss bzw. einem Beobachtungsobjekt alle jene Personen zugerechnet, die ihm entweder erkennbar angehören oder dessen Ziele nachhaltig unterstützen. Ein Beobachtungsobjekt kann jedwede Gruppierung sein, von einer Partei bis hin zu einem losen Personenzusammenschluss. In der Folge ist auch die Art der Bindung der Personen an die jeweilige Gruppierung unterschiedlich. Zum Personenpotenzial zählen daher unter anderem Funktionäre, Mitglieder, Angehörige oder Aktivisten, aber auch solche Personen, die eine Gruppierung offen oder verdeckt unterstützen, etwa durch die Teilnahme an Veranstaltungen oder Spenden. Da nicht alle Personen über längere Zeiträume kontinuierlich in einer oder für eine Gruppierung aktiv sind, muss die Angabe eines Personenpotenzials unter Einbeziehung und sorgfältiger Abwägung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse geschätzt werden. Zum 1. Januar 2001 wurden mit Beschluss der InnenministerkonfePolitisch motivierte renz das Definitionssystem PMK sowie die Richtlinien für den KrimiKriminalität (PMK) nalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität eingeführt, um für politisch motivierte Straftaten eine einheitliche polizeiliche Datenerhebung, -erfassung und -auswertung zu ermöglichen. Der PMK werden alle Straftaten zugeordnet, die einen oder mehrere Straftatbestände der sogenannten klassischen Staatsschutzdelikte erfüllen, dies unabhängig davon, ob eine politische Motivation im Einzelfall festgestellt werden kann. Zu den Staatsschutzdelikten zählen unter anderem: Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit, Straftaten gegen ausländische Staaten, Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen, Bildung terroristischer Vereinigungen, Straftaten gegen die Landesverteidigung, Bildung terroristischer Vereinigungen, kriminelle oder terroristischer Vereinigungen im Ausland sowie Volksverhetzung. Neben den Staatsschutzdelikten fallen unter die PMK auch diejenigen Straftaten, die in der Allgemeinkriminalität begangen werden können (wie zum Beispiel Tötungsund Körperverletzungsdelikte, Brandstiftungen, Widerstandsdelikte, Sachbeschädigungen), wenn in Würdigung der gesamten Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte für eine politische Motivation Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 333 GLOSSAR gegeben sind. Die von der PMK erfassten Straftaten werden folgenden staatsschutzrelevanten Phänomenbereichen zugeordnet: * PMK - rechts: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie einer rechten Orientierung zuzurechnen sind, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftsetzung oder Abschaffung eines Elements der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben muss, insbesondere wenn Bezüge zum völkischen ( ) Nationalismus, ( ) Rassismus, ( ) Sozialdarwinismus oder ( ) Nationalsozialismus ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren. * PMK - links: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie einer linken Orientierung zuzurechnen sind, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftsetzung oder Abschaffung eines Elements der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben muss, insbesondere wenn Bezüge zu ( ) Anarchismus oder ( ) Kommunismus einschließlich Marxismus ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren. * PMK - ausländische Ideologie: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine aus dem Ausland stammende nichtreligiöse Ideologie entscheidend für die Tatbegehung war, insbesondere wenn die Tat darauf gerichtet ist, Verhältnisse und Entwicklungen im Inund Ausland zu beeinflussen. * PMK - religiöse Ideologie: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine religiöse Ideologie entscheidend für die Tatbegehung war und die Religion zur Begründung der Tat instrumentalisiert wird. Wichtig ist: Im Rahmen der PMK wird zwischen politisch und extremistisch motivierten Straftaten unterschieden, das heißt, extremistisch politisch motivierte Straftaten sind Delikte, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie auf die Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzielen. Sie werden als extremistisch motiviert eingestuft und stellen als solche lediglich eine Teilmenge der PMK dar. (Vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/579832/%E2%80 %A6/WD-7-194-18-pdf-data.pdf, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Proliferation ... ist die Weiterverbreitung atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen, von Trägersystemen wie Raketen oder Drohnen sowie von Entwicklung und Produktionsmitteln. Dazu gehört auch die Weitergabe von diesbezüglichem Know-how in jeglicher Form. Zur Herstellung der Waffen dienen auch handelsübliche Maschinen, Messgeräte und Materialien, die im zivilen Bereich an zahlreichen Stellen eingesetzt werden. Diese werden als Dual-Use334 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR Güter bezeichnet. Sie sind sowohl für zivile Anwendungen als auch für militärische Zwecke nutzbar und unterliegen besonderen Kontrollund Ausfuhrbestimmungen. Auch ihre Weiterverbreitung fällt unter den Begriff der Proliferation. Die Beschaffung dieser Produkte erfolgt dabei häufig über Drittländer (sogenannte Umgehungsausfuhren) unter Einsatz von Tarnfirmen oder mit falschen Angaben über den Verwendungszweck. Der Finanztransfer läuft bei derartigen Geschäften über breit gefächerte Firmenund Bankennetzwerke, um den Ursprung der Käufer zu verschleiern. Proliferation betreibende Staaten setzen auch Studierende und Forschende an deutschen Hochschulen, wissenschaftlichen Instituten und in Forschungsabteilungen der Wirtschaft zur Beschaffung von entsprechendem Wissen ein. Eine wachsende Bedeutung bei Proliferationsrisiken haben dabei Emerging Technologies wie künstliche Intelligenz oder Quantencomputing. (Vgl. Kompendium des BfV. Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz. Köln 2024, S. 190f, abgerufen im April 2024 unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/ allgemein/2024-03-08-kompendium-des-bfv-darstellungausgewaehlter-arbeitsbereiche-und-beobachtungsobjekte.pdf? __blob=publicationFile&v=6.) Allen Rechtsextremisten gemeinsam ist die Auffassung, die ZugehöRassismus rigkeit zu einer Ethnie, Nation oder "Rasse" entscheide über den Wert eines Menschen. Rassisten gehen von nicht oder kaum veränderbaren "Rassen" aus. Sie leiten daraus "naturbedingte" Besonderheiten und Verhaltensweisen von Menschen ab und unterscheiden zwischen "höherwertigen" und "minderwertigen" Menschen. Mit der Bezeichnung als "Rasse" werden Menschen nach ethnischen Besonderheiten in Gruppen aufgeteilt. Ab Ende des 17. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert versuchten zahlreiche Wissenschaftler dies zu belegen. Sie scheiterten allesamt. Dennoch fand der Rassismus weite Verbreitung. Über die Kriterien zur trennscharfen Definition von "Rassen" bestand keine Einigkeit. Die Anhänger des "Rasse"Konzepts benannten die verschiedensten Unterscheidungsmerkmale. Mal war von nur zwei, mal von über 60 "Rassen" die Rede. Bis heute sind menschliche "Rassen" biologisch nicht belegt. Belegt sind dagegen soziologische Funktionen des Rassismus: "Rassen" werden bemüht, um Menschen auszugrenzen und Zugehörigkeit zu erzeugen. Das "Rasse"-Modell bietet einfache Erklärungen. Rechtsextremisten finden es daher attraktiv. Rassisten meinen, "Rassen" optisch unterscheiden zu können. Äußere Merkmale werden dadurch zum entscheidenden Kriterium, ob einer Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 335 GLOSSAR Person bestimmte Rechte zustehen oder nicht. Rassisten in Deutschland werten die "weiße" bzw. "arische Rasse" auf und sehen alle anderen "Rassen" als minderwertig an. Dabei haben sie keine einheitliche Vorstellung einer "weißen" oder "arischen Rasse": Die einen denken dabei an "Deutsche" und Skandinavier, andere meinen alle Europäer, einige verstehen darunter alle optisch als "Weiße" erkennbare Menschen. Nach der Vorstellung von Rechtsextremisten soll das deutsche Volk vor der Integration "rassisch minderwertiger Ausländer" und vor einer "Völkervermischung" bewahrt werden. Rechtsextremisten befürchten den Untergang der "Rasse" des deutschen Volks infolge einer "Durchmischung mit fremdem Blut". Der Rassismus verstößt gegen elementare Menschenrechte und damit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die Ausgrenzung jener Menschen, die nicht dem "rassischen" Ideal der Rechtsextremisten entsprechen, widerspricht dem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Die Würde des Menschen ist bedingungsund voraussetzungslos jedem Menschen eigen und nicht von der biologisch-genetischen Teilhabe an der Volksgemeinschaft abhängig (Art. 1 GG). (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/ definition/ideologie/rassismus/index.html, abgerufen im April 2024.) Revisionismus, Der das Bestreben nach einer kritischen Überprüfung von Erkenntrechtsextremistischer nissen beschreibende Begriff Revisionismus wird von Rechtsextremisten zur Umdeutung der Vergangenheit verwendet. Ihnen geht es dabei nicht um eine wissenschaftlich objektive Erforschung der Geschichte, sondern um die Manipulation des Geschichtsbilds, um insbesondere den Nationalsozialismus in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen. Man kann unterscheiden zwischen einem Revisionismus im engeren Sinn, der den Holocaust leugnet, und einem Revisionismus im weiteren Sinn, der etwa die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bestreitet. Der zeitgeschichtliche Revisionismus bedient sich unterschiedlicher Aussagen und Methoden. So enthält die Leugnung des ( ) Holocausts, das Ausmaß der Ermordung von Millionen europäischer Juden durch das nationalsozialistische Regime zu verharmlosen oder sogar abzustreiten. Dabei werden vorhandene Dokumente auf unseriöse Weise fehlinterpretiert oder fadenscheinige Vorwände zur Leugnung der Ereignisse gesucht. Forschungsergebnisse seriöser Historiker, die eindeutig belegen, dass die "Endlösung der Judenfrage" unzweifelhaft stattgefunden hat, werden durch rechtsextremistische Revisionisten bewusst ignoriert. 336 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bremen.de/oeffentlichkeitsarbeit/ glossar-11578?begriff=R&lang=de&max=10, abgerufen im April 2024.) ... ist das religiös begründete, auf Offenbarung zurückgeführte Recht Scharia des Islams. Es regelt nicht nur Rechtsfragen (zum Beispiel Eheoder Strafrecht), sondern enthält der Idee nach die Gesamtheit der aus der Offenbarung zu gewinnenden Normen für das Handeln des Menschen im Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen. Nach traditioneller, heute jedoch nicht mehr von allen Muslimen geteilter Überzeugung ist die Verwirklichung der Scharia ein zentraler, unverzichtbarer Bestandteil der islamischen Religion. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. der Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 289.) Mit Ausnahme von Irland sind alle EU-Staaten dem Schengener AbSchengen-Raum kommen beigetreten. Das EU-Mitgliedsland Zypern wendet den Schengen-Acquis bislang nur teilweise an. Für Bulgarien und Rumänien gilt entsprechend dem Beschluss des Rates vom 30. Dezember 2023, dass seit dem 31. März 2024 die Personenkontrollen an den Luftund Seebinnengrenzen zu und zwischen Bulgarien und Rumänien abgeschafft worden sind. An den Landbinnengrenzen werden weiterhin Personenkontrollen durchgeführt. Zuzüglich zu den genannten EU-Mitgliedsländern gehören auch Island, Norwegen, Schweiz und Liechtenstein zu den Schengener Staaten. Inhaber eines gültigen Schengen-Visums können sich im gesamten Schengen Raum bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen aufhalten, soweit dies durch die zulässige Nutzungsdauer des Visums abgedeckt ist. Das gleiche gilt für Inhaber der meisten nationalen Aufenthaltstitel sowie nationaler Visa der Kategorie "D", die von den jeweiligen Schengen-Staaten für längerfristige Aufenthalte von mehr als 90 Tagen ausgestellt werden. Für die anderen EU-Staaten, die keine Schengen-Staaten sind, wird gegebenenfalls ein gesondertes Visum benötigt. (Vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/fragenkatalognode/17-schengenstaaten/606502, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) ... ist eine Aktionsform, die ursprünglich im linksextremistischen auSchwarzer Block tonomen Spektrum entwickelt wurde und vor allem bei DemonstraHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 337 GLOSSAR tionen angewandt wird. Der schwarze Block, der aus vermummten Aktivisten in einheitlich schwarzer Kleidung besteht, ist keine zentral organisierte und koordinierte Organisationsform, sondern ein punktueller Zusammenschluss gewaltorientierter Linksextremisten. Ziel dieses Auftretens ist die erschwerte Zuordnung von Strafund Gewalttaten zu Einzelpersonen durch die Polizei. Jeder schwarze Block enthält jedoch ein einzelfallbezogenes, spezifisch zu bestimmendes Gewaltpotenzial, das sich je nach Lageentwicklung dynamisch und auch kurzfristig noch verändern kann. Wenngleich der schwarze Block überwiegend ein Ausdruck linksextremistischer Massenmilitanz (Straßenkrawalle im Rahmen von Demonstrationen) ist, schließt die Teilnahme eines schwarzen Blocks an einer Demonstration keinesfalls einen friedlichen Demonstrationsverlauf aus. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bremen.de/oeffentlichkeitsarbeit/ glossar-11578?begriff=S&lang=de&max=10#glossar_2162, abgerufen im April 2024.) "Selbstverwaltete Freiräume" Linksextremisten lehnen das bestehende Gesellschaftssystem ab und erkennen die öffentliche Ordnung, den Staat sowie dessen Regelungsund Gewaltmonopol nicht an. Sie ignorieren bestehende Eigentumsverhältnisse und errichten Orte, an denen sie selbst über die Regeln des Zusammenlebens bestimmen wollen. Diese "Freiräume" sollen aus Sicht von Linksextremisten Orte frei von rechtsstaatlicher Einflussnahme und Überwachung sowie "kapitalistischer Verwertungslogik" sein, in denen das staatliche Gewaltmonopol außer Kraft gesetzt ist und alternative Formen des Zusammenlebens erprobt werden können. Solche "Freiräume" können beispielsweise besetzte Häuser, kollektive Wohnprojekte oder selbstverwaltete Kulturzentren sein. Neben einer hohen Bedeutung als Symbole des Widerstands haben "Freiräume" auch eine praktische Bedeutung für die linksextremistische Szene, da sie häufig als Ausgangspunkt vor und Rückzugsort nach militanten Aktionen und Straftaten genutzt werden. Auf den drohenden Verlust von Szeneobjekten reagieren Linksextremisten regelmäßig äußerst aggressiv. Auslöser können das Auslaufen von Nutzungsoder Mietverträgen, städtische Umstrukturierungsmaßnahmen in der unmittelbaren Nähe von Szeneobjekten oder Eigentümerwechsel aber auch staatliche Maßnahmen wie Durchsuchungen oder Räumungen auf Antrag der Eigentümer sein. Linksextremisten beantworten solche als "Angriffe" auf ihre "Freiräume" bezeichneten Ereignisse mit Protesten sowie Sachbeschädigungen und Brandstiftungen an "Luxusimmobilien" oder Fahrzeugen, Maschinen und Gebäuden von Bauoder Immobilienunternehmen. Zudem gehört die Veröffentlichung von Bildern und ande338 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR ren personenbezogenen Daten der mutmaßlich Verantwortlichen sowie Drohungen gegen diese zum typischen Vorgehen gewaltbereiter Linksextremisten. Auch gezielte Angriffe auf Polizeikräfte oder Gebäude und Fahrzeuge der Polizei werden häufig mit der Verteidigung von Szeneobjekten begründet. Bei Demonstrationen und Protesten im Zusammenhang mit Räumungen oder Hausdurchsuchungen, bei denen sich Linksextremisten und Polizei gegenüberstehen, werden Polizeibedienstete regelmäßig erheblich attackiert. Aber auch im Vorfeld oder Nachgang von Räumungen oder komplett unvermittelt, zum Beispiel bei Streifenfahrten in der Nähe besetzter Objekte, kommt es zu gezielten Angriffen durch Steinwürfe oder den Bewurf mit Pyrotechnik. (Vgl. Kompendium des BfV. Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz. Köln 2024, S. 84f, abgerufen im April 2024 unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/a llgemein/2024-03-08-kompendium-des-bfv-darstellungausgewaehlter-arbeitsbereiche-und-beobachtungsobjekte.pdf? __blob=publicationFile&v=6, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags.) ... ist die Übertragung der von Charles Darwin beschriebenen MeSozialdarwinismus chanismen der "Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" auf Sozialbeziehungen des Menschen. Insbesondere Herbert Spencer, der auch die Formel vom "Überleben der Tüchtigsten" (engl. survival of the fittest) prägte, legt die Grundsteine des Sozialdarwinismus. Letzterer geht davon aus, dass eine übergroße Population nur diejenigen überleben lässt, die sich im "Kampf ums Dasein" überlegen zeigen. Selektion ist damit der Motor jeden Fortschritts. Bejahung umfassender sozialer Auslese und Legitimation der vorhandenen gesellschaftlichen Ungleichheiten leitet der Sozialdarwinismus aus dieser Biologisierung sozialer Verhältnisse ab. Als rational kann danach nur eine Politik gelten, die den schon vorhandenen Selektionsdruck ungehindert walten lässt bzw. noch verstärkt. Wirkungsmächtig wurden sozialdarwinistische Konzepte vor allem im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang ist auf zwei folgenreiche Ausformungen hinzuweisen. So greifen Rassenlehren Kampfsemantik und Ausmerzungsvokabular des Sozialdarwinismus auf. Er diente zur Begründung des kolonialistischen Ausgreifens europäischer Staaten und der USA. Binnengesellschaftlich entwickelt sich eine sozialdarwinistische Eugenik, die in der Existenz von körperlich und geistig "Minderwertigen" eine Bedrohung für den "Überlebenskampf" der jeweiligen Gesellschaft, des "Volkes", sieht. Faschismus und Nationalsozialismus griffen diese Ideen auf Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 339 GLOSSAR und legitimierten mit den wissenschaftlich unhaltbaren Vereinfachungen des Sozialdarwinismus ihre Ausrottungspolitik. (Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/sozialdarwinismus/ 1903, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Sunna ... ist die Gesamtheit der vom Propheten Muhammed überlieferten Aussprüche, Entscheidungen und Verhaltensweisen. Die Sunna ist neben dem Koran eine der Hauptquellen des islamischen Rechts. Die Muslime, die sich an die Sunna halten, werden Sunniten genannt. Die Schiiten haben ihre eigene Sunna, die auf einer gesonderten, auf Ali und seine Angehörigen zurückgeführten, Tradition beruht. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. der Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 618.) Terroristische Vereinigung/ Terroristische Straftaten stellen die extremste Ausprägung der ( ) PoTerrororganisation litisch motivierten Kriminalität dar. Der Begriff des Terrorismus ist über die terroristische Vereinigung (SSSS 129a, 129b StGB) gesetzlich definiert. Jedes Delikt, das in Verfolgung der Ziele einer terroristischen Vereinigung oder zu deren Aufrechterhaltung begangen wird, ist eine (eigene) terroristische Straftat. Als Terrorismus werden darüber hinaus schwerwiegende politisch motivierte Gewaltdelikte (Katalogtaten des SS 129a StGB) angesehen, die im Rahmen eines nachhaltig geführten Kampfs planmäßig begangen werden, in der Regel durch arbeitsteilig organisierte und verdeckt operierende Gruppen. Weiterhin werden die SSSS 89a, 89b, 89c und 91 StGB dem Terrorismus zugeordnet. Terroristische Straftaten können, soweit sie Katalogstraftaten des SS 129a StGB sind, auch durch Einzeltäter begangen werden, wenn deren Ziele bei der Tatbegehung darauf gerichtet sind, * die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern oder * öffentliche Stellen oder internationale Organisationen rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder * die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen des Bundes, eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören. Terroristische Straftaten durch ausländische Gruppierungen, die über keine eigenständige Teilorganisation in der Bundesrepublik Deutschland verfügen, werden von SS 129b StGB erfasst. 340 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR (Vgl. https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/ pmk_node.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) ... ist ein Gottesstaat bzw. eine Gottesherrschaft und bezeichnet ein Theokratie geistliches Regiment, das in Vertretung der Gottheit ausgeübt wird. Die Regierungsgewalt dieser Staatsform geht unmittelbar von Gott aus und wird durch einen von ihm erwählten Stellvertreter ausgeübt. Charakteristisch ist ein priesterliches Verhältnis des Regenten zur Gottheit. Im Laufe der Geschichte hat es zahlreiche Theokratien gegeben. Heute gibt es nur wenige Theokratien, in denen Kirche und Staat eng verbunden gemeinsam regieren. Der Vatikan, regiert vom Papst als Oberhaupt der Katholischen Kirche, ist ein völlig unabhängiger Staat. Theokratische Ordnungen finden sich in Staaten des Islams. So wurden zum Beispiel Iran und Pakistan auf der Basis der Religionen gegründet und religiöse Lehren sind in staatliche Gesetze eingeflossen. (Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/theokratie/8053, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) ... ist als das auf Leo Trotzki zurückgehende Modell des Sozialismus Trotzkismus keine in sich geschlossene eigenständige Lehre, sondern eine Modifikation des ( ) Marxismus-Leninismus. Der Trotzkismus entstand vor allem aus der Opposition Trotzkis zu Josef Stalin. Wesentliche Elemente des Trotzkismus sind die Theorie der "permanenten Revolution", der Glaube an die Weltrevolution (im Unterschied zu Stalins "Sozialismus in einem Land"), das Ziel der Errichtung einer "Diktatur des Proletariats" in Form einer Rätedemokratie und das Festhalten am "proletarischen Internationalismus". Dem Trotzkismus zufolge reicht eine einmalige Revolution nicht aus. Proklamiert wird stattdessen eine weltweite "permanente Revolution", die von einer "proletarischen Internationalen" getragen werden soll. Charakteristische Strategie für trotzkistische Vereinigungen ist der Entrismus. Darunter versteht man die taktische, meist verdeckte Unterwanderung einer demokratischen Organisation oder Partei. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/ideologie/trotzkismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 341 GLOSSAR Ülkücü-Bewegung ... hat in Deutschland mehr als 12.000 Anhänger (Stand 2022). Sie entstand Mitte des 20. Jahrhunderts in der Türkei und fußt auf einer nationalistisch, antisemitisch und rassistisch orientierten rechtsextremistischen Ideologie. Die Wurzeln der Ülkücü-Ideologie liegen im Panturkismus/Turanismus. Der Panturkismus basiert auf der Idee eines gemeinsamen ethnischen Ursprungs aller "Turkvölker", verbunden mit dem Bestreben, diese Völker in einer gemeinsamen Heimat unter Führung der Türken zu vereinigen. Dieses gemeinsame Reich soll dann die Bezeichnung "Turan" tragen. Je nach Auffassung könnte sich dieser neue Staat vom Balkan bis nach Westchina oder Japan erstrecken. Im Laufe der Zeit wurde die Bewegung ideologisch erweitert. Ihre Bandbreite reicht heute von neuheidnischen Elementen über einen nationalistischen Kemalismus bis in den Randbereich des Islamismus. Gemeinsames Ziel bleibt die Verteidigung und Stärkung des Türkentums. Die Ülkücü-Bewegung sieht die türkische Nation sowohl politischterritorial als auch ethnisch-kulturell als höchsten Wert an. Die so unterstellte kulturelle und religiöse Überlegenheit äußert sich in der Überhöhung der eigenen türkischen Identität und resultiert in einer - auch völkerverständigungswidrigen - Herabwürdigung anderer Volksgruppen, die zu "Feinden des Türkentums" erklärt werden. Symbol und bekanntestes Erkennungszeichen der Ülkücü-Bewegung ist der "Graue Wolf" ("Bozkurt") und der daraus abgeleitete sogenannte Wolfsgruß, bei dem die Finger der rechten Hand am ausgestreckten Arm den Kopf eines Wolfs formen. Oft werden Anhänger der Ülkücü-Bewegung daher auch als "Graue Wölfe" ("Bozkurtlar") bezeichnet. Von den mehr als 12.000 in Deutschland lebenden Anhängern der Ülkücü-Bewegung sind etwa 10.500 (Stand 2022) in drei großen Dachverbänden organisiert. Diese vertreten in unterschiedlicher Ausrichtung die verschiedenen Ausprägungen der Ülkücü-Ideologie; teilweise handelt es sich bei den Verbänden um Auslandsorganisationen extrem nationalistischer türkischer Parteien. Die Verbände sind in der Außendarstellung um ein gemäßigtes Auftreten bemüht und pflegen ihre rechtsextremistische Ideologie eher nach innen; vor allem in den ihnen zugehörigen Vereinen. Dementsprechend zeigt sich auch die Anhängerschaft bei der Teilnahme an Demonstrationen und Kundgebungen sowie beim Zurschaustellen von Ülkücü-Symbolen in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend. Die unorganisierten Anhänger der Ülkücü-Bewegung leben ihre meist rassistischen und/oder antisemitischen Feindbilder unterschiedlich aus: häufig in den sozialen Medien, aber auch beim öffentlichen Aufeinandertreffen mit ihren politischen Gegnern, vor allem den Kurden. Hierbei zeigt sich immer wieder das in der unorganisierten Szene vorherrschende hohe Gewaltpotenzial. 342 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR (Vgl. Kompendium des BfV. Darstellung ausgewählter Arbeitsbereiche und Beobachtungsobjekte. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz. Köln 2024, S. 171f, abgerufen im April 2024 unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/a llgemein/2024-03-08-kompendium-des-bfv-darstellungausgewaehlter-arbeitsbereiche-und-beobachtungsobjekte.pdf? __blob=publicationFile&v=6, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags.) Das rechtsextremistische Motto "Du bist nichts, dein Volk ist alles!" "Volksgemeinschaft"/ verdeutlicht die Ideologie des völkischen Kollektivismus, die in vielen Völkischer Kollektivismus Ausprägungen rechtsextremistischer Ideologie eine zentrale Rolle spielt. "Volksgemeinschaft" war ein zentraler Begriff im Dritten Reich. Nationalsozialisten verstanden darunter eine Schicksalsgemeinschaft, in der die Interessen des Einzelnen bedingungslos der Gemeinschaft der "Volksgenossen" untergeordnet wurden. Das Wohl der so definierten "Volksgemeinschaft" ging allen anderen Interessen vor. Die pauschale Überbewertung der Interessen der "Volksgemeinschaft" zu Lasten der Interessen und Rechte des Einzelnen führt zu einer Aushöhlung der Grundrechte. Daher steht der völkische Kollektivismus im Widerspruch zum Menschenbild des Grundgesetzes, das die Würde jedes einzelnen Menschen und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Der Staat wird im völkischen Kollektivismus als "ethnisch-rassisch" homogene "Volksgemeinschaft" angesehen. Der vermeintlich einheitliche Wille des Volks soll dabei von staatlichen Führern intuitiv umgesetzt werden. In einem so verstandenen autoritären Staat würden damit wesentliche Kontrollelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung fehlen, zum Beispiel das Recht des Volks, die Staatsgewalt in Wahlen auszuüben oder das Recht auf Bildung und Ausübung einer Opposition. (Vgl. http://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/ definition/ideologie/voelkischer_kollekivismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) 1942/43 verbreitete die Münchner Gruppe Weiße Rose sechs FlugWeiße Rose blätter gegen das nationalsozialistische Regime. Den Kern der Gruppe bildeten die Studenten Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf und der Professor Kurt Huber. Weitere Studenten, Schüler, Lehrer, Professoren, Ärzte, Schriftsteller und Buchhändler hatten losen Kontakt zur Weißen Rose. In einer ersten Aktionsphase im Juni/Juli 1942 veröffentlichte die Gruppe vier Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 343 GLOSSAR "Flugblätter der Weißen Rose" in einer Auflage von jeweils etwa 100 Exemplaren. Verteilt wurden diese Flugblätter an einen kleinen Kreis ausgesuchter Adressaten, von denen die meisten Akademiker in München und Umgebung waren. Im Januar 1943 entstand ein fünftes Flugblatt. Es erschien in einer Auflage von 6.000 bis 9.000 und tauchte in mehreren Städten Süddeutschlands und in Österreich auf. Ab Februar 1943 unternahm die Gruppe nächtliche Aktionen, bei denen sie verschiedene Gebäude in München mit Parolen wie "Nieder mit Hitler", "Hitler Massenmörder" und "Freiheit" beschrifteten. Ebenfalls im Februar 1943 entstand das sechste Flugblatt der Gruppe. Es richtete sich an die Münchner Studentenschaft und forderte vor dem Hintergrund der Schlacht um Stalingrad dazu auf, sich vom nationalsozialistischen System zu befreien. Bei der Verteilung dieses Flugblatts wurden die Geschwister Scholl am 18. Februar 1943 in der Münchner Universität beobachtet und verhaftet. Sie wurden am 22. Februar zusammen mit Christoph Probst vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet. In einem weiteren Prozess wurden Graf, Schmorell und Huber am 19. April 1943 ebenfalls zum Tode verurteilt; auch sie wurden hingerichtet. Bis Mitte Oktober 1944 fanden noch fünf Prozesse statt, bei denen Freiheitsstrafen bis zu zwölf Jahren ausgesprochen wurden. (Vgl. Bernhard Struck, Die "Weiße Rose", https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/widerstandim-zweiten-weltkrieg/die-weisse-rose.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2024.) "Zilan-Frauenfestival" ... findet seit 2004 in Deutschland alljährlich statt. Eingebettet in ein umfangreiches Kulturprogramm mit musikalischen und folkloristischen Darbietungen sowie einem eigenen Kinderprogramm werden politische Themen, vor allem die Stellung der Frauen und deren systematische Benachteiligung, erörtert. Bei der Namensgeberin des Festivals, Zeynep Kinaci (Deckname Zilan), handelt es sich um eine Selbstmordattentäterin der PKK, die sich am 30. Juni 1996 bei einer militärischen Feier in der Türkei in die Luft sprengte. Bei diesem Selbstmordanschlag kamen sieben Menschen ums Leben, 33 weitere Personen wurden verletzt. Für die Tat wird Zilan von PKK-Anhängern als "Märtyrerin" und Vorbild verherrlicht. Das Festival soll vor allem dazu dienen, die weiblichen Anhänger stärker an die Organisation zu binden und neue Anhänger zu gewinnen. Das Beispiel zeigt, dass die Veranstaltungen der PKK-nahen Frauenorganisationen alles andere als harmlose Festivals oder Kulturveranstaltungen sind. 344 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 GLOSSAR (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/hintergruende/ DE/auslandsbezogener-extremismus/rekrutierung-von-kaempfernfuer-die-pkk-in-deutschland.html, abgerufen im April 2024.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 345 EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN UND GRUPPIERUNGEN In der untenstehenden Übersicht sind die in diesem Verfassungsschutzbericht genannten Organisationen und Gruppierungen aufgeführt, bei denen die hier bekannten Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 HVSG oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Organisation/Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, es sich mithin um eine verfassungsfeindliche Organisation/Gruppierung handelt. Organisationen/Gruppierungen aus den Phänomenbereichen Organisierte Kriminalität und Spionageabwehr wurden nicht in die Übersicht aufgenommen. Rechtsextremismus Junge Nationalisten (JN) Indigenes Volk [der] Germaniten (IVG) Atomwaffen Division (AWD) Kameradschaft Aryans Königreich Deutschland utonome Nationalisten (AN) Knockout 51 (KRD) Blood and Honour Nationaldemokratische Partei Vaterländischer Hilfsdienst Deutschlands (NPD) Deutsche Volksunion (DVU) (VHD) Nationalistische Front (NF) Der Dritte Weg/Der III. Weg Linksextremismus Nationalsozialistischer UnterDie HEIMAT (vormals Natiogrund (NSU) Aurora Räteaufbau (AR) naldemokratische Partei Deutschlands, NPD) Recht und Wahrheit Deutsche Kommunistische Partei (DKP) DIE RECHTE Reichstrunkenbold Interventionistische Linke (IL) Faust Scheiteljugend Kassel linksjugend ['solid] Freies Netz Süd (FNS) Sozialistische Reichspartei (SRP) Marxistisch-Leninistische ParFreiheitliche Arbeiterpartei tei Deutschlands (MLPD) Deutschlands (FAP) Streitmacht Rote Hilfe e. V. (RH) GegenUni (GU) Sturm 18 e. V. Sozialistische Deutsche ArHilfsorganisation für natioSturmrebellen beiterjugend (SDAJ) nale politische Gefangene Thule Seminar e. V. und deren Angehörige e. V. Islamismus (HNG) Thüringer Heimatschutz (THS) al-Ikhwan al-Muslimun fi SuIdentitäre Bewegung (IB) riya (Die Muslimbrüder in SyIdentitäre Bewegung Reichsbürger und Selbstverrien) Deutschland e. V. (IBD) walter al-Nahda Identitäre Bewegung Hessen Bismarcks Erben (auch Ewial-Qaida (IBH) ger Bund oder Preußisches Institut) al-Shabab Junge Alternative (JA) 346 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN Council of European Muslims Jahbat al-Nusra (Al-Nusra Anadolu Federasyonu (Ana(CEM) Front) tolische Föderation) Deutsche Muslimische GeLIES! Avrupa Ezilen Göcmenler meinschaft e.V. (DMG) Konfederasyonu (AvEG-Kon, Milli Gazete (Nationale ZeiKonföderation der unterEuropean Council for Fatwa tung) drückten Immigranten in and Research (ECFR, EuroMuslimbruderschaft (MB) Europa) päischer Rat für Fatwa und Forschung) Rat der Imame und GelehrAvrupa Türkiyeli Isciler Konfeten e. V. (RIG)/Rat der Imame derasyonu (ATIK, KonföderaEuropean Council of Imams und Gelehrten in Deutschtion der Arbeiter aus der Tür(Europäischer Rat der land (RIGD) kei in Europa) Imame) Realität Islam (RI) Devrimci Genclik (Dev-Genc, Europäisches Institut für HuRevolutionäre Jugend) manwissenschaften e. V. Saadet Deutschland Regio(EIHW) nalverein Hessen e. V. (SP Devrimci Halk Kurtulus CeHessen) phesi (DHKC, Revolutionäre Fatwa-Ausschuss in DeutschVolksbefreiungsfront) land Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) Devrimci Halk Kurtulus Partisi Federation of Islamic Organi(DHKP, Revolutionäre Volkszations in Europe (FIOE, FöTehrik-i-Taleban Pakistan befreiungspartei) deration Islamischer Organi(TTP) sationen in Europa) Devrimci Halk Kurtulus ParWas ist Islam? tisi-Cephesi (DHKP-C, RevoHarakat al-Muqawama al-IslaWe Love Muhammad lutionäre Volksbefreiungsparmiya (HAMAS, Islamische Witei-Front) derstandsbewegung) Zentrum der Islamischen Kultur (ZIK) Federasyona Civaka DemoHizb Allah (Partei Gottes) kratik a Kurdistaniyan (FCDKHizb ut-Tahrir (HuT, Partei der Extremismus mit AuslandsKAWA, Föderation der deBefreiung) bezug mokratischen Gesellschaften Kurdistans e. V.) Islam Kennenlernen Almanya'daki Mezopotamya Topluluklar Konfederasyonu Halk Cephesi (Volksfront) Islamische Gemeinschaft der (KON-MED, Konföderation schiitischen Gemeinden Heyva Sor a Kurdistane (HSK, der Gemeinschaften MesoDeutschlands e. V. (IGS) Kurdischer Roter Halbmond) potamiens in Deutschland) Islamischer Staat (IS) Hezen Parastina Gel (HPG, Almanya Göcmen Isciler FeVolksverteidigungseinheiten) Islamischer Staat Provinz derasyonu (AGIF, Föderation Khorasan (ISPK) der ArbeitsimmigrantInnen Jinen Xwendekaren Kurdisaus der Türkei in Deutschland tan (JXK, Studierende Frauen Islamisches Zentrum Franke. V.) aus Kurdistan) furt (IZF) Almanya Türkiyeli Isciler FeKoma Civaken Kurdistan Islamisches Zentrum Hamderasyonu (ATIF, Föderation (KCK, Gemeinschaft der burg (IZH) der Arbeiter aus der Türkei in Kommunen Kurdistans) Islamkenntnis Deutschland e. V.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 347 EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN Kongreya Azadi u DemokraTürkiye Komünist Partisi - siya Kurdistane (KADEK, FreiMarksist-Leninist (TKP-ML, heitsund DemokratiekonTürkische Kommunistische gress Kurdistans) Partei - Marxisten-Leninisten) Kongreya Civaken DemokraYekineyen Parastina Gel tik a Kurdistaniyen Ewropa (YPG, Volksverteidigungsein(KCDK-E, Kurdischer Demoheiten) kratischer GesellschaftskonYekineyen Parastina Jin (YPJ, gress in Europa) FrauenverteidigungseinheiKongreya Gele Kurdistane ten) (KONGRA GEL, VolkskonYekitiya Xwendekaren Kurdisgress Kurdistans) tan (YXK, Verband der StuMarksist Leninist Komünist dierenden aus Kurdistan) Partisi (MLKP, Marxistische Yeni Demokratik Genclik Leninistische Kommunisti(YDG, Neue demokratische sche Partei ) Jugend) Maoist Komünist Partisi (MKP, Yeni Kadin (Neue Frau) Maoistisch Kommunistische Partei) Young Struggle Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) Partiya Yekitiya Demokrat (PYD, Partei der Demokratischen Union) Tevgera Ciwanen Soresger (TCS, Bewegung der revolutionären Jugend) Tevgera Jinen Ciwan en Tekoser (Teko-Jin, Bewegung der kämpferischen jungen Frauen) Teyrebazen Azadiya Kurdistan (TAK, Freiheitsfalken Kurdistans) Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist (TKP/ML, Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten) 348 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REGISTER REGISTER A Alternative für Deutschland (AfD) Avrupa Ezilen Göcmenler Konfederasyonu 49, 50, 53, 54, 111, 112, 113, 117, (AvEG-Kon, Konföderation der unterdrückten A., Franco 71, 72 118, 164, 167, 169, 170, 171, 300 Immigranten in Europa) 258, 300, 347 Abu Jamal s. Benshain, Mohamed Amnesty International 237 Avrupa Milli Görüs Teskilatlari (AMGT, Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e. V.) Abu Yasin s. al-Rashta, Ata Abu Amtsgericht Frankfurt am Main 184 232, 300 Abul Baraa s. Armih, Ahmad Amtsgericht Fritzlar 93 Avrupa Türkiyeli Isciler Konfederasyonu (ATIK, Abul Hussain s. Dabbagh, Hassan Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Amtsgericht Kassel 55, 170 Europa) 256, 257, 267, 300, 347 Adalet ve Kalkinma Partisi an-Nabhani, Taqi ad-Din (1009-1977) 217 (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) 232, 282, 300 an-Nuqrashi, Mahmud Fahmi (1888-1948) 224 B Ägypten 222, 223, 224 Anarchisten 54, 162, 163, 164, 165, Bad Hersfeld (Landkreis Hersfeld-Rotenburg) Ahfad-al-Rasul-Brigaden 202, 309 166, 172, 179, 180, 181, 309, 310, 334 138 Ahnenrad der Moderne 91, 92 Anatolische Föderation Bad Homburg vor der Höhe (Hochtaunus(Anadolu Federasyonu) 255, 347 kreis) 35 Ahrens, Erik 47, 83, 84, 85 Ankara (Türkei) 230, 247, 249 Bad Nauheim (Wetteraukreis) 123 Ajansa Nuceyan a Firate (ANF) 247, 252 antifa-frankfurt.org [Internetplattform] Bad Wildungen (Landkreis Waldeckal-Assad, Baschar 283 Frankenberg) 48, 49, 96, 97, 98 168, 170, 171 al-Azaim 204 Baden-Württemberg 76, 114, 124, 127, 136 Anti-IS-Allianz 204, 312 al-Banna, Hasan Badi, Muhammad 222, 224 Apfel, Holger 128 (1906-1949) 223, 224, 225 Arditi 134, 135, 139 Baerbock, Annalena Charlotte Alma 270 al-Hawl (Syrien) 203 Ariadne 92 Bahrain 312 al-Ikhwan al-Muslimun fi Suriya (Die Muslimbrüder in Syrien) 222, 346 Armih, Ahmad 199, 211 Bandidos MC 275 Almanya Göcmen Isciler Federasyonu (AGIF, Arras (Frankreich) 206 Bayern 57, 76, 119, 124, 127, 135, Föderation der ArbeitsimmigrantInnen aus 172, 173, 201, 224, 320 der Türkei in Deutschland e. V.) Asch, Dominik 112, 113, 114, 115, 118 258, 259, 267, 300, 347 Bayik, Cemil 244 Aschaffenburg (Bayern) 119 Almanya Türkiyeli Isciler Federasyonu (ATIF, Belgien 57, 126, 206, 226, 312 as-Sadat, Anwar (1918-1981) 224 Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Benoist, Alain de 86, 88 Deutschland e. V.) Atomwaffen Division (AWD) 256, 257, 258, 259, 300, 347 71, 72, 300, 346 Benshain, Mohamed 199 Almanya'daki Mezopotamya Topluluklar Aufklärungsamt für BevölkerungsberatungsNetzwerk hessen - Mobile InterKonfederasyonu (KON-MED, Konföderation politik und Rassenpflege 92 vention gegen Rechtsextremismus 34 der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland) 251, 304, 347 Aurora Räteaufbau (AR) 56, 171, 181, Beratungsstelle Hessen - Religiöse 186, 187, 188, 300, 346 Toleranz statt Extremismus 34 al-Medina-Moschee 211 Australien 312 Berlin 24, 95, 149, 182, 199, 204, 220, al-Nahda (Tunesien) 222, 346 222, 236, 263, 267, 320 Auswärtiges Amt 152, 237, 281 al-Qaida 63, 201, 204, 262, 265, 271, 346 Beuth, Peter 30, 168 Autonome 54, 100, 101, 162, 163, 164, al-Qaradawi, Yusuf (1926-2022) 225, 226 165, 166, 167, 171, 173, 174, 175, 176, 177, Bilal Moschee [in Frankfurt am Main] 265 178, 179, 180, 181, 184, 188, 300, 310, 311, al-Rashta, Ata Abu 213 Bismarcks Erben 147, 346 337, 346 Altenstadt (Wetteraukreis) Blickpunkt 182 Autonome Nationalisten (AN) 101, 300, 346 50, 120, 121, 122, 123, 124, 129 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 349 REGISTER Bloc Identitaire - Le mouvement social Bundesrat 15 Der Dritte Weg/Der III. Weg europeen 78 45, 49, 51, 53, 70, 101, 108, 132, Bundesverfassungsgericht 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, Blood and Honour 101, 346 14, 15, 16, 99, 119, 123, 127 140, 157, 169, 269, 270, 320, 346 Bonn (Nordrhein-Westfalen) 236 Bundesverwaltungsamt (BVA) 298, 301 Deutsche Arbeiterpartei (DAP) 301, 330 Brandenburg 85, 129, 132 Bundesverwaltungsgericht 217, 218 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 56, 162, 181, 182, 183, 184, Bremen 99, 127, 173 Bundeswehr 33, 56, 71, 72, 173, 183, 313 267, 268, 301, 346 Broszat, Martin (1926-1989) 318 Busse, Friedhelm (1929-2008) 100 Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. Brüssel (Belgien) 206, 226 Butler, Judith 88 (DMG) 60, 222, 223, 224, 226, 227, 228, 301, 346 Budapest (Ungarn) 109 Deutsche Stimme (DS) 119, 121, 124, 301 Büdingen (Wetteraukreis) C 35, 119, 121, 122, 123 Deutsche Volksunion (DVU) 99, 301, 346 Cafe ExZess 179 Bukarest (Rumänien) 313 Deutscher Bundestag 28, 149, 313 Cafe KoZ 179, 247 Bulgarien 337 Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) Centro 179 171, 301 Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) 24, 25, 27, 300, 330 Charlie Hebdo 215 Devrimci Genclik (Dev-Genc, Revolutionäre Jugend) 255, 301, 347 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge China 65, 278, 281, 282, 321, (BAMF) 24, 27, 300 326, 328, 342 Devrimci Halk Kurtulus Cephesi (DHKC, Revolutionäre Volksbefreiungsfront) Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Christchurch (Neuseeland) 83 255, 301, 347 16, 25, 26, 31, 39, 81, 84, 86, 115, 117, 298, 300, 329, 330 Christlich Demokratische Devrimci Halk Kurtulus Partisi (DHKP, Union Deutschlands (CDU) 264, 301 Revolutionäre Volksbefreiungspartei) Bundesamt für Wirtschaft und 255, 256, 301, 347 Ausfuhrkontrolle (BAFA) 27, 300 Christophersen, Thies (1929-2008) 99 Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi Bundesanwaltschaft s. Ciwanen Azad 252 (DHKP-C, Revolutionäre VolksbefreiungsparGeneralbundesanwalt beim Bundesgerichtstei-Front) 62, 254, 255, 256, 301, 347 Council of European Muslims (CEM) hof 222, 226, 301, 346 Devrimci Sol (Dev Sol, Revolutionäre Linke) Bundesgerichtshof (BGH) 72, 300 254, 301 Crepol (Frankreich) 134 Bundeskriminalamt (BKA) 24, 25, 26, Die HEIMAT (ehemals Nationaldemokratische Crew 38 104 27, 274, 301 Partei Deutschlands) 48, 49, 50, 53, 70, 99, 100, 103, 104, 119, 120, 121, 122, Bundesminister des Innern 214, 217, 218 123, 124, 126, 127, 129, 130, 131, 132, Bundesministerin des Innern D 157, 269, 270, 346 und für Heimat 104, 164, 263 Dabbagh, Hassan 199 DIE RECHTE 68, 70, 101, 102, 346, 380 Bundesministerium der Justiz 255 Dali, Amen 265 Die Wahre Religion 211 Bundesministerium der Justiz und Damar, Hasan (1954-2023) 229 Diebe im Gesetz 275, 316 für Verbraucherschutz 152 Dänemark 57, 77, 204, 312 Dippmann, Ine 31 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 28, 236, 254 Darmstadt 52, 55, 56, 117, 135, 147, Dormagen (Nordrhein-Westfalen) 229 165, 166, 173, 179, 182, 184, 202, Bundesministerium für Wirtschaft Dresden (Sachsen) 54, 55, 109, 169, 170 251, 252, 255, 257 und Energie 292 Darwin, Charles (1809-1882) 339 Dschenin (Westjordanland) 266 Bundesnachrichtendienst (BND) 24, 25, 26, 27, 301, 330 de.indymedia.de [Internetplattform] Dublin (Irland) 226 167, 168, 169, 170, 171, 172, Bundespolizei (BPol) 24, 25, 26, 27, 36, 301 Duisburg (Nordrhein-Westfalen) 206 186, 188, 332 Bundespolizeidirektion Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) 172 Deckert, Günter (1940-2022) 128 Flughafen Frankfurt am Main 36, 37 350 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REGISTER E European Institute of Human Sciences (EIHS) Franz, Frank 50, 119, 123, 129, 131 227, 302 E., Lina 31, 53, 54, 56, 109, 165, 169, 185 Freie Sachsen 121 Ewiger Bund s. Bismarcks Erben E., Marvin 71 Freies Netz Süd (FNS) 132, 302, 346 Edermünde (Schwalm-Eder-Kreis) 170 Freiheitliche Arbeiterpartei Deutschlands F (FAP) 100, 302, 346 Edertalschule [in Frankenberg (Landkreis Waldeck-Frankenberg)] 35 F., Bernd 72 Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) 114 Ehringshäuser Depesche 51, 132 F., Robin 72 Freiheitliches Bildungsinstitut der Freiheitlichen Partei Österreichs 114 Ein Prozent e. V. 86 F., Tim 71, 72 Freisler, Roland (1893-1945) 344 Eisenach (Thüringen) 110, 124 Facebook 59, 113, 115, 120, 122, 127, 214, 220, 223, 264 Fridays for Future 55, 173 Eisenstein, Sergej (1898-1948) 187 Fachstellen für Demokratieförderung und Frisch, Björn 122 Eltville (Rheingau-Taunus-Kreis) 113 phänomenübergreifende ExtremismuspräFritzlar (Schwalm-Eder-Kreis) 93, 138 Engels, Friedrich (1820-1895) 162, 258, vention (DEXT) 34, 35, 301 325, 326, 328 Fulda (Landkreis Fulda) 35, 79, 138 Faeser, Nancy 119 Eppstein (Main-Taunus-Kreis) 133 Fatwa-Ausschuss in Deutschland 222, 223, 226, 227, 228 Erbakan, Necmettin (1926-2011) G 228, 229, 231, 232, 233, 234, 235 Faust 104, 107, 346 G-10-Kommission des Erdogan, Recep Tayyip 282 Hessischen Landtags 19, 20 Faye, Guillaume (1949-2019) 85 Erfurt (Thüringen) 110, 112, 113, 118 Gazastreifen 63, 64, 222, 262, 263, 264, Fazilet Partisi (FP, Tugendpartei) 232, 302 266, 267, 268, 269, 270, 272 Eritrea 126 Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen GegenUni (GU) 46, 47, 48, 75, 83, 84, Erstaufnahmeeinrichtung des Föderation) 280, 302 85, 86, 87, 88, 90, 302, 346 Landes Hessen (EAEH) 296, 301 Federasyona Civaka Demokratik a KurdistaGehlen, Arnold (1904-1976) 88 Eschborn (Main-Taunus-Kreis) 264 niyan e. V. (FCDK/Kawa, Demokratische FödeGelnhausen (Main-Kinzig-Kreis) 113 Eschwege (Werra-Meißner-Kreis) 138 ration der Gesellschaften Kurdistan e. V.) 245, 246, 251, 347 Gemeinsame Arbeitsgruppe Justiz/Polizei Europäische Kommission 314 (GAG) 274, 302 Federation of Islamic Organizations in Europe Europäische Moscheebauund Unterstüt(FIOE, Föderation islamischer Organisationen) Gemeinsames Extremismusund Terroriszungsgemeinschaft (EMUG) 232, 302 222, 302, 346 musabwehrzentrum (GETZ) 24, 26, 302 Europäische Union (EU) 91, 120, 244, Fischer, Matthias 132, 139 Gemeinsames Internetzentrum (GIZ) 248, 253, 254, 263, 302, 314, 315, 321, 337 24, 25, 302 Fitzek, Peter 146 Europäische Zentralbank (EZB) 173, 302 Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum Floyd, George (1973-2020) 176 Europäischer Gerichtshof für Menschen(GTAZ) 24, 25, 26, 302 rechte 214 Foucault, Michel (1926-1984) 88 Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Europäisches Institut für HumanwissenschafFrankenberg (Landkreis Waldeck-Franken303, 316 ten e. V. (EIHW) 222, 223, 226, 227, berg) 35, 183 Generalbundesanwalt beim Bundesgerichts228, 302, 346 Frankfurt am Main 35, 52, 55, 56, 60, 61, hof (GBA) 24, 25, 302 Europäisches Parlament 314 63, 71, 79, 89, 116, 124, 125, 146, 165, 168, Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main 170, 171, 172, 173, 176, 179, 183, 184, 186, Europäisches Polizeiamt (Europol) 27, 302 27, 28 195, 200, 201, 202, 217, 220, 222, 227, 228, 230, 234, 235, 236, 237, 238, 244, 245, 246, Generalzolldirektion (GZD) 27, 303 European Council for Fatwa and Research 247, 251, 252, 255, 257, 259, 264, 265, 266, (ECFR, Europäischer Rat für Fatwa und For267, 268, 269, 283 Generation Identitaire (GI) 78, 302 schung) 223, 226, 227, 302, 346 Frankreich 57, 77, 78, 86, 88, 91, 92, Gießen (Landkreis Gießen) 125, 126, European Council of Imams (Europäischer 126, 134, 136, 206, 215, 216, 217, 226, 165, 171, 179, 182, 183, 184, 185, Rat der Imame) 226, 346 227, 312, 325, 326, 327 238, 251, 252 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 351 REGISTER Gießener Echo 182 Herborn (Lahn-Dill-Kreis) 119 HIRAK - Palestinian Youth Mobilization Jugendbewegung (Germany) 263 Glashütten (Hochtaunuskreis) 72, 125 Heß, Rudolf (1894-1987) 90, 100, 320 Hirak e. V. 263 Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije Hessen CyberCompetenceCenter (GRU, Hauptverwaltung beim Generalstab (Hessen3C) 38, 303 Hitler, Adolf (1889-1945) 100, 101, der Streitkräfte der Russischen Föderation) 102, 265, 317, 318, 320, 330, 344 280, 302 Hessisch Lichtenau (Werra-Meißner-Kreis) 113 Hitlerjugend 331 Global Strike Bündnis Darmstadt 173 Hessische Bereitschaftspolizei 16 Hizb al-Hurriya wa-l-Adala (Partei der Gnauk, Hannes 111 Freiheit und Gerechtigkeit) 224 Hessische Hochschule für öffentliches MaGraf, Willi (1918-1943) 343, 344 nagement und Sicherheit (HöMS) Hizb Allah (Partei Gottes) 195, 235, 31, 36, 37, 38, 296, 303 236, 346 Groß, Dr. Walter (1904-1945) 92 Hessische Landesregierung Hizb ut-Tahir (HuT, Partei der Befreiung) Großbritannien 101, 227, 312 19, 52, 150, 169 59, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 264, 265, 303, 346 Große Türkische Nationalversammlung Hessische Lehrkräfteakademie 33 60, 231 Hochtaunuskreis 35, 72, 112, 125, Hessische Polizeiakademie (HPA) 36, 303 201, 202, 238 Großkrotzenburg (Main-Kinzig-Kreis) 229 Hessischer Landtag 19, 20, 54 Höcke, Björn 50, 112, 113 Grup Yorum 254 Hessischer Rechnungshof 20, 21 Hofbauer, Hannes 88 Gülen-Bewegung 282 Hessisches Extremismusund TerrorismusabHoffmann, Ivana (1995-2015) 246 H wehrzentrum (HETAZ) 22, 24, 27, 28, 303 Hofmannsthal, Hugo von (1874-1929) 326 Halle (Saale, Sachsen-Anhalt) 97, 309 Hessisches Informationsund Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) Hohe Landesschule Hanau Hama (Syrien) 203 27, 34, 35, 303 [(Main-Kinzig-Kreis)] 35 Hamburg 122, 131, 173, 215, 220, 238 Hessisches Kultusministerium 56, 186 Huber, Ernst Rudolf (1903-1990) 317 Hammersbach (Main-Kinzig-Kreis) 36 Hessisches Landeskriminalamt (HLKA) Huber, Kurt (1893-1943) 343, 344 Hammerskins Deutschland 104, 105 28, 37, 303 Humboldt-Schule [in Bad Homburg Hammerskins Nation Deutschland 105 Hessisches Ministerium des Innern vor der Höhe (Hochtaunuskreis)] 35 und für Sport 64, 102 Hanau (Main-Kinzig-Kreis) 35, 60, 176, 229, 230, 248, 264, 266, 309 Hessisches Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz I Hannover (Niedersachsen) 127 19, 20, 21, 31, 38, 64, 297 I'lam Foundation 204 Hantusch, Thassilo 124, 125, 126, 127, 131 Hessisches Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen 56 Identitäre Bewegung (IB) 46, 68, 70, Harakat al-Muqawama al-Islamiya (HAMAS, 74, 79, 303, 346 Islamische Widerstandsbewegung) Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Ener30, 38, 53, 63, 156, 195, 217, 221, 222, gie, Verkehr, Wohnen und ländlichen Identitäre Bewegung Deutschland e. V. (IBD) 260, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, Raum 289, 292 46, 47, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 270, 271, 278, 303, 346 82, 83, 85, 86, 115, 116, 303, 346 Hessisches Präventionsnetzwerk Harakat al-Shabab al Mujahidin (al-Shabab, gegen Salafismus 34 Identitäre Bewegung Hessen (IBH) Bewegung der Mujahidin-Jugend) 46, 47, 74, 75, 76, 77, 82, 303, 346 207, 300, 346 Heyva Sor a Kurdistane (HSK, Kurdischer Roter Halbmond) 246, 252, 303, 347 Identitäre Bewegung Österreich (IBÖ) Haunetal, Ortsteil Odensachsen 76, 78, 83, 303 (Kreis Hersfeld-Rotenburg) 113 Hezen Parastina Gel (HPG, Volksverteidigungseinheiten) 244, 247, 303, 347 Indien 278, 283 Heidelberg (Baden-Württemberg) 136 Hilchenbach (Nordrhein-Westfalen) 135 Indigenes Volk [der] Germaniten (IVG) Heinrich XIII. P. R. 149, 153 52, 146, 147, 148, 304, 346 Hilfsorganisation für nationale politische GeHells Angels 275 fangene und deren Angehörige e. V. (HNG) Instagram 59, 124, 125, 126, 214, 101, 303, 346 215, 220, 264, 265 Helmholtzschule [in Frankfurt am Main] 35 352 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REGISTER Institut Europeen des Sciences Humaines J Katar 312 (IESH) 227, 303 Jabhat al-Nusra 202 Kaypakkaya, Ibrahim (1948-1973) 256 Institut für Staatspolitik (IfS) 81, 84, 85, 86, 303 Jagsch, Stefan 119, 120, 122 Kemal Mustafa (Atatürk, 1881-1938) 231 Inter-Services Intelligence (ISI) 283, 304 Jerusalem (Israel) 60, 217, 236, 268 Kenia 249 Interventionistische Linke (IL) Jinen Ciwanen Azad (Bewegung "Khalistan" 283 166, 267, 304, 346 junger Frauen) 252 Khamenei, Ali 60, 237 Irak 201, 244, 245, 247, 249, 250, 252 Jinen Xwendekaren Kurdistan (JXK, StudieKhomeini, Ruhollah Musawi (1902-1989) rende Frauen aus Kurdistan) Iran 60, 65, 236, 237, 238, 249, 250, 60, 236, 237 252, 304, 347 258, 270, 278, 282, 341 Khyber Pakhtunkhwa (Pakistan) 207 Jordanien 217, 224, 312 Irland 226, 337 Kiew (Ukraine) 135 Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main 38 Islam kennenlernen 200, 211, 347 Kinaci, Zeynep (1972-1996) 344 Jung, Edgar (1894-1945) 326 Islamische Gemeinschaft der schiitischen GeKlapperfeld 179 meinden Deutschland e. V. (IGS) Jung, Rudolf (1882-1945) 330 235, 237, 238, 304, 347 Knockout 51 30, 108, 110, 346 Junge Alternative (JA) Baden-Württemberg Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. 114 Köln (Nordrhein-Westfalen) (IGD) 222, 224, 303 26, 206, 231, 232, 255 Junge Alternative (JA) Brandenburg 85, 113 Islamische Gemeinschaft in Süddeutschland Koma Civaken Kurdistan (KCK, Gemeinschaft Junge Alternative (JA) Hessen e. V. 224 der Kommunen Kurdistans) 249, 304, 347 49, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 118 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) Junge Alternative für Deutschland (JA) (IGMG) 232, 304 181, 184, 305 50, 85, 86, 111, 112, 113,114, 115, Islamische Union Europa e. V. (IUE) 116, 117, 118, 171, 304, 346 Kompetenzzentrum Rechtsextremismus 231, 232, 304 (KOREX) 22, 36, 37, 304 Junge Nationalisten (JN) 48, 99, 119, Islamischer Staat (IS) 57, 63, 93, 201, 123, 124, 304, 346 Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdistane 202, 203, 204, 205, 206, 207, 213, 225, (KADEK, Freiheitsund Demokratiekongress Junk, Prof. Dr. Julian 31 248, 250, 258, 262, 265, 271, 304, 305, Kurdistans) 249, 304, 347 312, 347 Justizakademie Hessen des Hessischen MiKongreya Civaken Demokratik li Kurdistanisteriums der Justiz und für den Rechtsstaat Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) niyen Ewropa (KCDK-E, Kurdischer Demokrati35 57, 204, 205, 206, 213, 304, 347 scher Gesellschaftskongress in Europa) K 251, 304, 347 Islamisches Zentrum Frankfurt (IZF) 60, 222, 223, 304, 347 Kongreya Gele Kurdistane (KONGRA GEL, Kaczynski, Theodore (1942-2023) 86 Volkskongress Kurdistans) 249, 304, 347 Islamisches Zentrum Hamburg (IZH) KAGEF 257, 304 236, 237, 238, 304, 347 Königreich Deutschland (KRD) Kaiser, Benedikt 86 52, 146, 148, 149, 305, 346 Islamkenntnis 199, 265, 347 Kameradschaft Aryans 96, 97, 346 Königstein im Taunus (Hochtaunuskreis) Island 91, 337 112, 125 Kampf der Nibelungen (KdN) Israel 30, 37, 38, 53, 60, 63, 64, 156, 105, 109, 110, 304 konkret 187 157, 177, 178, 195, 216, 217, 218, 221, 222, 225, 233, 235, 236, 237, 260, 262, Kanada 312 Koordinasyona Civaka Demokratik a Kurdis263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, tan (CDK, Koordination der kurdisch-demo271, 272, 278, 282, 314 Karamollaoglu, Temel 229, 230 kratischen Gesellschaft) 252, 301 Istanbul (Türkei) 254 Karayilan, Murat 244 Koordinierte Internetauswertung (KIA) 26, 304 Italien 64, 79, 135, 274, 275, 304, 310 Karben (Wetteraukreis) 112 Kouli, Wissam 199 Izz-al-Din-al-Qassam-Brigaden 263 Kassel 36, 38, 52, 53, 55, 90, 99, 138, 148, 165, 167, 169, 170, 179, Kraus-Maffei Wegmann GmbH & Co. KG 182, 183, 184, 202, 211, 251, 252, 266 183 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 353 REGISTER Krebs, Dr. Pierre 48, 90, 91, 92, 93 Landtag von Baden-Württemberg 114 Marburger Echo 182 Kreis Bergstraße 134 Lauterbach (Vogelsbergkreis) 36 Marksist Leninist Komünist Parti (MLKP, Marxistische-Leninistische Kommunistische Kreis Groß-Gerau 182, 183, 202 Lautertal (Vogelsbergkreis) 36 Partei) 62, 245, 246, 254, 258, 259, 266, 267, Kreis Hersfeld-Rotenburg 113 Lebensbund.org 167, 168 272, 305, 347 Kreutzmann, Thomas 31 LebensGlück e. V. 52, 146, 168 Marksist Leninist Komünist Parti-Kurulus Kritische Infrastruktur (KRITIS) Lenin (eigentl. Uljanow), Wladimir Iljitsch (MLK-P-Kurulus, Marxistische-Leninistische 65, 280, 281, 284, 305 (1870-1924) 162, 312, 322, 328, 329 Kommunistische Partei-Aufbau) 258, 305 Kühnen, Michael (1955-1991) 100 Leun (Lahn-Dill-Kreis) 127 Marokko 59, 214, 215, 216, 221 "Kulturzentrum Ludenbeck" 48, 93, 95 LGBTQ-Bewegung/LGBTQIA+-Bewegung Mars Ultor 92 50, 57, 63, 123, 125, 204, 259, 305 Kurdisches Zentrum für ÖffentlichkeitsMartell, Karl (688/691-741) 78 arbeit e. V. (Civika Azad) 252 Libanon 224, 235, 236, 263 Marx, Karl (1818-1883) 88, 162, 258, "Kurdistan" 253 Libyen 59, 214, 215, 216 325, 326, 328 Liebknecht, Karl (1871-1919) 181, 257 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 245, 268, 305, 346 L Liechtenstein 337 Mecklenburg-Vorpommern 89, 128, 138 Lachmann, Daniel 120, 121, 122, 123, 270 LIES! 200, 211, 347 Meinhof, Ulrike (1934-1976) 187 Lahn-Dill-Kreis 36, 51, 119, 126, 127, Limeshain (Wetteraukreis) 36 Meldestelle Hessen gegen Hetze 29, 38 131, 132, 134, 136, 138 linksjugend ['solid] Darmstadt 173, 346 Melsungen (Schwalm-Eder-Kreis) 112, 138 Landesamt für Verfassungsschutz BrandenLudwigshafen (Rheinland-Pfalz) 230 burg 85, 112 Michelstadt (Odenwaldkreis) 247 Luxemburg, Rosa (1871-1919) 181, 257 Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen Milli Gazete (Nationale Zeitung) 121 60, 228, 229, 230, 231, 234, 235, 347 Landesamt für Verfassungsschutz Thüringen M Milli Istihbarat Teskilati (MIT, Nationaler 50, 112 Nachrichtendienst) 282, 305 Maastricht (Niederlande) 323 Landgericht Frankfurt am Main 72, 184 Milli Nizam Partisi (MNP, Nationale Magdeburg (Sachsen-Anhalt) 112, 113 Ordnungspartei) 231, 305 Landgraaf (Niederlande) 61 Mahabad (Iran) 258 Milli-Görüs-Bewegung 60, 195, 228, Landkreis Darmstadt-Dieburg 134, 183, 257 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235 Main-Kinzig-Kreis 35, 36, 60, 113, 176, Landkreis Fulda 35, 79, 104 229, 230, 248, 264, 266 Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) 31, 305 Landkreis Gießen 125, 126, 165, 179, Maintal (Main-Kinzig-Kreis) 113 Mixed Martial Arts (MMA) 108 182, 183, 185, 251, 252 Main-Taunus-Kreis 133, 134, 264 Moeller van den Bruck, Arthur (1886-1925) Landkreis Hersfeld-Rotenburg 113 327 Mainz (Rheinland-Pfalz) 200 Landkreis Kassel 48, 95 Mogadischu (Somalia) 207 Malta 152 Landkreis Limburg-Weilburg 36, 45, 52, Mojahedin-e-Khalq (MEK, Volksmojahedin) 73, 134, 135, 136, 138, 148, 183 Mao Zedong (1893-1976) 328, 329 282, 305 Landkreis Marburg-Biedenkopf Maoist Komünist Partisi (MKP, Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) 60, 126, 165, 167, 168, 169, 170, Maoistisch-Kommunistische Partei) 182, 183 179, 183, 184, 222, 251, 252, 255, 266 256, 305, 347 Moscheebau-Kommission e. V. 224 Landkreis Offenbach 119, 202, 252 Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) 60, 126, 138, 165, 167, 168, 169, 170, Mubarak, Husni (1928-2020) 224 Landkreis Waldeck-Frankenberg 179, 182, 183, 184, 222, 251, 252, 255, 266 35, 48, 49, 96, 97, 134, 138, 183 München (Bayern) 172, 224, 344 Marburger Burschenschaft Germania Landkreis Waldeck-Frankenberg Mursi, Mohammed (1951-2019) 224 167, 168 35, 48, 49, 96, 97, 134, 183 354 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REGISTER Muslim Interaktiv 215 O Partiya Yekitiya Demokrat (PYD, Partei der Demokratischen Union) Muslimbruderschaft (MB) 59, 60, 194, Oberlandesgericht Dresden 54, 169, 185 244, 250, 252, 306, 347 195, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 263, 305, 347 Oberlandesgericht Düsseldorf 62, 255 Passau (Bayern) 201 Mussolini, Benito (1883-1945) 310 Oberlandesgericht Frankfurt am Main Pastörs, Udo 128 71, 72, 149, 202, 203 Patriot Front 136 Oberlandesgericht München 149 N Peschawar (Pakistan) 207 Oberlandesgericht Stuttgart 149 Nachrichtendienstliche Informationsund Peutenhausen (Bayern) 76, 77 Ober-Ramstadt (Landkreis DarmstadtAnalysestelle (NIAS) 25, 305 Dieburg) 257 Phalanx Europa 75 Nachrichtendienstliches Informationssystem Öcalan, Abdullah 243, 244, 245, Phänomenbereichsübergreifende wissen(NADIS) 22, 298, 305 246, 247, 248, 249, 250, 252, 315 schaftliche Analysestelle Antisemitismus und Nationaldemokratische Partei Deutschlands Fremdenfeindlichkeit (PAAF) Odenwaldkreis 247 32, 37, 38, 39, 306 (NPD) s. Die HEIMAT Offenbach am Main 61, 179, 202, 247 Philipps-Universität Marburg 168 Nationales Sicherheitsbüro des Regionalkommandos der syrischen Ba'ath-Partei Organisierte Kriminalität (OK) Plauen (Sachsen) 76, 77 283 17, 18, 64, 273, 274, 297, 306, 316, 346, 362 Poitiers (Frankreich) 78 Nationalistische Front (NF) 100, 305, 346 Österreich 76, 79, 112, 201, 344 Polizeiliche Informationsund Nationalpolitische Erziehungsanstalt 99 Analysestelle (PIAS) 25, 26, 306 Ostritz (Sachsen) 109 Nationalsozialistische Deutsche Polizeipräsidium Osthessen 35 Arbeiterpartei (NSDAP) 92, 119, 127, Otte, Dr. Lars 31 128, 136, 137, 306, 318, 330 Potsdam (Brandenburg) 85 Outlaw Motorcycle Gangs (OMCG) Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) 64, 275, 306 Preußisches Institut 147, 346 100, 176, 306, 346 Probst, Christoph (1919-1943) 343, 344 Neonazis 48, 49, 51, 68, 70, 96, 93, 97, 99, 100, 101, 102, 103, 106, P 107, 108, 126, 128, 132, 169, 320 Pakistan 57, 65, 207, 278, 283, 341 Q Neue Rechte 39, 47, 48, 68, 69, 74, 79, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 93, Palästina 37, 60, 63, 64, 177, 195, QAnon-Bewegung 159 115, 117, 118, 269, 331 217, 218, 222, 225, 236, 237, Qutb, Sayyid (1906-1966) 224 262, 263, 264, 265, 266, 267, Neumann, Bernd 30 268, 269, 271, 272 Neuseeland 83 Palestine Liberation Organization (PLO, Palästinensische Befreiungsorganisation) R Niederlande 57, 61, 204, 205, 252, 263 177, 306 Rabanus-Maurus-Schule [in Fulda Niedersachsen 99, 113, 127, 220 (Landkreis Fulda)] 35 Paris (Frankreich) 187, 206, 226 Nordkorea 278, 283, 326 Ramadan, Said (1926-1995) 224 Parlamentarische Kontrollkommission Nordrhein-Westfalen 26, 55, 57, 79, Verfassungsschutz (PKV) 19, 20, 306 Raqqa (Syrien) 203 110, 135, 136, 172, 199, 205, 206, Partiya Careseriya Demokratik a Kurdistane Rassenpolitisches Amt 92 220, 229, 231, 233, 236, 246, 255 (PCDK, Partei für eine politische Lösung in North Atlantic Treaty Organization (NATO, Kurdistan) 252, 306 Rat der Imame und Gelehrten e. V. (RIG) Nordatlantische Vertragsorganisation) 227, 306, 347 Partiya Jiyana Azad a Kurdistane (PJAK, Partei 120, 281, 305, 313 für ein freies Leben in Kurdistan) 252, 306 Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland Norwegen 337 (RIGD) 226, 227, 228, 306, 347 Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, ArbeiterparNuce Ciwan (Junge Nachrichten) 247 tei Kurdistans) 61, 62, 243, 244, 245, Realität Islam (RI) 37, 59, 63, 214, 215, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 253, 258, 282, 306, 315, 323, 264, 265, 271, 306, 347 332, 344, 347 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 355 REGISTER Recht und Wahrheit Saadet Europa e. V. (SP Europa) Sindelfingen (Baden-Württemberg) 76 46, 48, 93, 94, 95, 306, 346 228, 229, 230, 234, 235 Skinheads, rechtsextremistische Reichsbürger und Selbstverwalter Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) 96, 100, 101, 104, 105, 128 29, 35, 39, 41, 51, 52, 53, 93, 143, 60, 228, 307, 347 144, 145, 146, 149, 150, 151, 152, Slushba Wneschnej Raswedki (SWR, Dienst 153, 157, 160, 168, 346 Saarland 119 der Außenaufklärung der Russischen Föderation) 280, 307 Reichstrunkenbold 104, 107, 346 Sachsen 50, 76, 77, 104, 109, 121, 124, 128, 129, 169, 199, 309 Solmser Depesche 51, 132 Revolutionäre Einheit Darmstadt 56 Sachsen-Anhalt 49, 74, 84, 97, Solution 257 Revolutionärer Aufbau Rhein-Main 56, 188 112, 113, 309 Somalia 57, 207 Revolutionärer Erster Mai Frankfurt 171 Salafisten 43, 57, 58, 63, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 205, Soros, George 159 Revolutionary Guard Corps 207, 208, 209, 210, 211, 212, 265, (RGC, Revolutionsgarden) 282, 306 Sowjetunion 187, 275, 316, 326, 315, 316, 319, 323 328, 329, 331 Rheingau-Taunus-Kreis 113, 134, 135, 202 Samidoun - Palestinian Solidarity Network Sozialdemokratische Partei Deutschlands 263, 268 Rheinland-Pfalz 124, 127, 132, 136, (SPD) 119, 307 200, 230 Samidoun Deutschland 263, 268, 269 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend Riesa (Sachsen) 121, 124, 129 Saudi-Arabien 207, 224, 312 (SDAJ) 56, 181, 183, 184, 267, 306, 346 Ring Freiheitlicher Jugend Steiermark 114 Schanze Eins 75 Sozialistische Reichspartei (SRP) 99, 127, 307, 346 Roeder, Manfred (1929-2014) 99 Scheiteljugend Kassel 48, 96, 97, 98, 99, 103, 126, 169, 170, 346 Spangenberg (Schwalm-Eder-Kreis) 71 Rohkosteria 168 Schlageter, Albert Leo (1894-1923) 126 Spanien 136 "Rojava" 248, 250 Schleswig-Holstein 127 Sparta 75, 80, 81 Rosenberg, Alfred (1893-1946) 90, 330 Schmitt, Carl (1888-1985) 88 Spencer, Herbert (1820-1903) 339 Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) 89 Schmorell, Alexander (1917-1943) 343, 344 Spengler, Oswald (1880-1936) 327 Rote Hilfe Deutschlands (RHD) 184, 306 Schnellroda (Sachsen-Anhalt) 84 St. Petersburg (Russland) 187 Rote Hilfe e. V. (RH) 56, 181, 184, 185, 186, 306, 346 Scholl, Hans (1918-1943) 343, 344 Staatliches Schulamt Fulda 35 Rotes Mainz 56 Scholl, Sophie (1921-1943) 343, 344 Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main - Abteilung Staatsschutz 28 Rothschild 159 Schönborn, Meinolf 48, 93, 94, 95 Stalin (eigentl. Dschugaschwilli, Rotterdam (Niederlande) 263 Schöneck (Main-Kinzig-Kreis) 113 Josef W., 1878-1953) 341 Rouali, Abdellatif 265 Schutzstaffel (SS) 99, 268, 307, 318, 330 Stalingrad (Sowjetunion) 344 Rüdesheim am Rhein Schwalm-Eder-Kreis 71, 112, 170 Steinmeier, Dr. Frank-Walter 264 (Rheingau-Taunus-Kreis) 135 Schwalmstadt, Ortsteil Ziegenhain Sterk TV/NUCE-TV 244, 252 Rumänien 313, 337 (Schwalm-Eder-Kreis) 138 Streitmacht 104, 346 Russland 64, 65, 120, 135, 139, 156, Schweden 57, 59, 204, 206, 215 159, 166, 182, 187, 205, 259, 274, Sturm 18 e. V. 101, 102, 346 275, 278, 280, 281, 288, 312, 321, 326 Schweiz 91, 337 Sturmabteilung (SA) 306, 331 Selen, Sinan 31 Sturmrebellen 104, 107, 346 S Seligenstadt (Landkreis Offenbach) 119 Stuttgart (Baden-Württemberg) 114 Saadet Deutschland Regionalverein Hessen Sellner, Martin 49, 77, 81, 86 Subkulturell orientierte Rechtsextremisten e. V. (SP Hessen) 60, 228, 229, 230, Serxwebun (Unabhängigkeit) 244, 252 45, 48, 49, 70, 81, 96, 104, 105, 234, 235, 347 106, 107, 110, 117 Sezession 81, 85 Suruc (Türkei) 258 356 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 REGISTER Swing 165 Türkiye Isci Köylü Kurtulus Ordusu (TIKKO, Verwaltungsgericht Dresden 109 Türkische Arbeiterund BauernbefreiungsarSyrien 59, 65, 202, 203, 205, 210, mee) 256, 307 Verwaltungsgerichtshof Kassel 266, 269 214, 215, 222, 224, 244, 246, 248, 249, 250, 252, 254, 257, 259, 278, Türkiye Komünist Isci Hareketi (TKIH, TürkiVezarat-e-ettelaat jomhuri-ye eslami-ye 283, 309, 346 sche Kommunistische Arbeiterbewegung) iran/Ministry of Intelligence (VAJA/MOIS) 258, 307 282, 307 Türkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist HaVietnam 65, 278, 282 T reketi (TKP/ML-H, Türkische Kommunistische Violence Prevention Network (VPN) Partei/Marxisten-Leninisten-Bewegung) Taiwan 278 27, 34, 308 258, 307 Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP) VK [Internetplattform] 94 Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist 207, 307, 347 (TKP/ML, Türkische Kommunistische Vogelsbergkreis 36, 134 Partei/Marxisten-Leninisten) Telegram 50, 74, 75, 76, 77, 86, 62, 254, 256, 307, 347 Voice of Khurasan 204 88, 94, 107, 120, 122, 125, 126, 127, 270 Turnerschaft Schaumburgia 169 Voigt, Udo 128 Tesla 55, 171, 172 Twitter 115, 116, 117, 206, 214, Volksfront (Halk Cephesi) 255, 347 Tevgera Ciwanen Soresger Soresger (TCS, Be220, 264, 265 wegung der revolutionären Jugend) 252, 307, 347 W Tevgera Jinen Ciwan en Tekoser (Teko-Jin, Bewegung der kämpferischen jungen Frauen) U Wackersdorf (Bayern) 173 252, 307, 347 Ukraine 65, 120, 135, 139, 156, Wackre Schwaben 114 167, 205, 259, 278, 280, 281, 284, 288 Teyrebazen Azadiya Kurdistan (TAK, Freiheitsfalken Kurdistans) Wagenknecht, Sahra 88 Uljanow, Wladimir Iljitsch s. Lenin 244, 307, 347 Waldbrunn (Landkreis Limburg-Weilburg) Ülkücü-Bewegung 243, 342 Thaler, Philip 74 45, 73 Ungarn 109 Thommen, Lukas 81 Was ist Islam? 200, 211, 347 Uniform Commercial Code (UCC) 152, 307 Thule-Gesellschaft 90 We love Muhammad 200, 211, 347 Universitätsklinikum Gießen und Marburg Thule-Seminar e. V. 46, 48, 90, 91, 92, 93 Wehrsportgruppe Hoffmann 100 183 Thüringen Weidenthal (Rheinland-Pfalz) 132 50, 110, 112, 117, 118, 124, 129 Weilburg (Landkreis Limburg-Weilburg) Thüringer Heimatschutz (THS) V 36, 134 100, 307, 346 Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) Weinbach (Landkreis Limburg-Weilburg) 36 52, 146, 147, 148, 308, 346 Thüringer Oberlandesgericht 110 Weiße Rose 81, 343, 344 Venner, Dominique (1935-2013) 91 TikTok 47, 59, 84, 85, 214, 220, 264, 316 Weltwirtschaftsforum 318 Verein LebensGlück e. V. 52, 146 Tong cuc 2 (TC2) 282, 307 Werra-Meißner-Kreis 113 Verein NeuDeutschland 146 Trotzki, Leo (1879-1940) 341 Wesertal (Landkreis Kassel) 48, 95 Vereinigte Arabische Emirate 312 Tunesien 222 Westjordanland 266, 268 Vereinigte Staaten von Amerika (USA) Türkei 59, 60, 61, 62, 65, 186, 202, 85, 92, 105, 120, 159, 177, 178, Wetteraukreis 35, 36, 50, 104, 112, 214, 215, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 265, 270, 307, 312, 339 119, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 233, 234, 235, 243, 244, 245, 246, 129, 130, 131 247, 248, 249, 250, 251, 253, 254, Vereinte Nationen (United Nations, UN) 256, 257, 258, 259, 266, 267, 272, 270, 307, 313 Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) 36, 119, 126 278, 282, 312, 342, 344 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung Wien (Österreich) 76, 114 Türkische Union Europa e. V. 231 des Staates 42, 53, 156, 157, 158, 159, 160 Wiesbaden 21, 36, 185, 199, 202, 257, 264 Verlag Antaios 86 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 357 REGISTER Witzenhausen (Werra-Meißner-Kreis) 138 Wolfgang-Ernst-Gymnasium [in Büdingen (Wetteraukreis)] 35 Wolfhagen (Landkreis Kassel) 138 Worch, Christian 100, 101 Wulff, Thomas 100 Wunsiedel (Bayern) 135, 320 Wurm, Manuel 50, 111, 112, 113, 117, 118 X X [soziales Netzwerk] 47, 59, 74, 76, 94, 206, 214, 216, 220, 281 Y Yekineyen Parastina Gel (YPG, Volksverteidigungseinheiten) 244, 308, 348 Yekineyen Parastina Jin (YPJ, Frauenverteidigungseinheiten) 244, 308, 348 Yekitiya Xwendekaren Kurdistan (YXK, Verband der Studierenden aus Kurdistan) 252, 308, 348 Yeni Demokratik Genclik (YDG, Neue demokratische Jugend) 62, 257, 258, 266, 267, 308, 348 Yeni Kadin (Neue Frau) 257, 348 Yeni Özgür Politika (YÖP, Neue Freie Politik) 244, 252, 308 Young Struggle 62, 171, 186, 245, 254, 258, 259, 266, 267, 272, 348 YouTube 59, 78, 86, 95, 99, 103, 107, 214, 220 Yürüyüs (Marsch) 254 Zentrale Fortbildung Hessen 36 Zentrum der Islamischen Kultur (ZIK) 238, 308, 347 Zilan s. Kinaci, Zeynep Zollkriminalamt (ZKA) 24, 308 Zora 267, 272 Z-Versand 48, 94 Zypern 337 358 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZ GESETZ HVSG in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Juli 2023 PRÄAMBEL Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Er ist Dienstleister der Demokratie und hält insbesondere die analytischen Kompetenzen zur Beurteilung jener Gefahren vor, die Demokratie und Menschenrechten durch extremistische Bestrebungen drohen. Er tauscht sich mit Wissenschaft und Gesellschaft aus. Hierzu gehört auch der öffentliche Diskurs. Er berücksichtigt gesellschaftliche Vielfalt und gesellschaftliche Entwicklungen. ERSTER TEIL Organisation und Aufgaben des Landesamts SS1 ORGANISATION DES LANDESAMTS (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz (Landesamt) untersteht als obere Landesbehörde dem für den Verfassungsschutz zuständigen Ministerium. Es darf mit Polizeidienststellen organisatorisch nicht verbunden werden. (2) Verfassungsschutzbehörden anderer Länder dürfen in Hessen nur im Einvernehmen, das Bundesamt für Verfassungsschutz nur im Benehmen mit dem Landesamt tätig werden. Das Landesamt darf in anderen Ländern nur tätig werden, soweit die Rechtsvorschriften der anderen Länder dies zulassen. SS2 AUFGABEN DES LANDESAMTS (1) Das Landesamt ist zuständig für die Zusammenarbeit Hessens mit dem Bund und den anderen Ländern in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes. Aufgabe des Landesamts ist es, es den zuständigen Stellen zu ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu treffen. Das Landesamt hat auch die Aufgabe, den in Abs. 2 genannten Bestrebungen und Tätigkeiten durch Information, Aufklärung und Beratung entgegenzuwirken und vorzubeugen (Prävention). Zur Aufklärung der Öffentlichkeit erstellt das Landesamt mindestens einmal jährlich einen Bericht über Bestrebungen und Tätigkeiten nach Abs. 2 oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür. Der Bericht wird von dem für den Verfassungsschutz zuständigen Ministerium herausgegeben und auf der Internetseite des Landesamts für fünf Jahre bereitgestellt. (2) Aufgabe des Landesamts ist die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder die eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 359 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ 3. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 4. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), gerichtet sind, 5. Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität im Geltungsbereich des Grundgesetzes. (3) Das Landesamt wirkt mit bei Sicherheitsüberprüfungen und Überprüfungen nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2632). (4) Das Landesamt ist zuständig für Sicherheitsüberprüfungen nach SS 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) vom 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, 2998), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Juli 2021 (BGBl. I S. 2274). SS3 BEGRIFFSBESTIMMUNGEN (1) Die Begriffsbestimmungen des SS 4 Abs. 1 Satz 1 bis 4 sowie Abs. 2 des Bundesverfassungsschutzgesetzes finden Anwendung. (2) Erheblich beobachtungsbedürftig sind Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 Nr. 2 oder solche Bestrebungen, die allgemein, insbesondere nach Verhaltensoder Wirkungsweise, geeignet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes erheblich zu beeinträchtigen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Bestrebungen 1. zur Zielverfolgung a) Gewalt anwenden, androhen, fördern oder befürworten, b) zu Hass oder Willkürmaßnahmen anstacheln oder c) andere Straftaten begehen oder darauf gerichtet sind, 2. verdeckt vorgehen, insbesondere Ziele, Organisation, Finanzierung, Beteiligte, Zusammenarbeit oder Aktionen in wesentlichem Umfang verschleiern, 3. erhebliche gesellschaftliche Bedeutung besitzen, insbesondere unter Berücksichtigung der Anzahl der Beteiligten, deren Mobilisierungsfähigkeit, der Finanzkraft sowie der Aktionsfähigkeit oder 4. in erheblichem Umfang gesellschaftlichen Einfluss auszuüben suchen, insbesondere durch a) Vertretung in Ämtern und Mandaten, b) wirkungsbreite Publikationen, Bündnisse, Unterstützerstrukturen, c) systematische Desinformationen in öffentlichen Prozessen politischer Willensbildung oder zur Verächtlichmachung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, auch durch systematische Verunglimpfung ihrer Institutionen und Repräsentanten, oder d) Herbeiführung einer Atmosphäre der Angst oder Bedrohung zur Förderung ihrer Zielverfolgung. (3) Voraussetzung für die Einstufung gemäß Abs. 2 ist, dass hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Sachverhalte nach Abs. 2 Satz 1 vorliegen. Die Beobachtungsbedürftigkeit ist jährlich zu überprüfen. Die Einstufung der 360 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Beobachtungsbedürftigkeit nach Abs. 2 Satz 1 entfällt in der Regel, wenn nach fünf Jahren kein die Einstufung nach Abs. 2 Satz 2 begründender Sachverhalt hinreichend festgestellt ist oder eine fünf Jahre zurückliegende Feststellung sich zwischenzeitlich nicht neuerlich bestätigt hat. Wird im Rahmen der Überprüfung nach Satz 2 festgestellt, dass ein Sachverhalt nach Abs. 2 Satz 1, der einer bereits richterlich angeordneten Maßnahme zugrunde liegt, zwischenzeitlich entfallen ist, so ist die betreffende Maßnahme zu beenden, auch wenn die Frist der richterlichen Anordnung noch nicht abgelaufen ist. (4) Organisierte Kriminalität im Sinne dieses Gesetzes ist die von Gewinnoder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind, durch mehr als zwei Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig tätig werden 1. unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, 2. unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohung oder 3. unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft. ZWEITER TEIL Befugnisse des Landesamts SS4 INFORMATIONSERHEBUNG (1) Das Landesamt darf die zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 Abs. 1 und 2 erforderlichen Informationen erheben und verarbeiten. Einzelheiten zum Umgang mit den erhobenen Informationen regelt eine von dem für den Verfassungsschutz zuständigen Ministerium zu erlassende Dienstvorschrift. (2) Das Landesamt darf personenbezogene Daten aus allgemein zugänglichen Quellen erheben und verarbeiten, um zu prüfen, ob tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen. (3) Liegen bei der betroffenen Person tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vor oder wird das Landesamt nach SS 2 Abs. 3 oder 4 tätig, darf es Auskünfte bei öffentlichen Stellen oder Dritten einholen, wenn die Daten 1. nicht aus allgemein zugänglichen Quellen, 2. nur mit übermäßigem Aufwand oder 3. nur durch eine die betroffene Person stärker belastende Maßnahme erhoben werden können. Würde durch die Erhebung von Auskünften nach Satz 1 der Zweck der Maßnahme gefährdet oder die betroffene Person unverhältnismäßig beeinträchtigt, darf das Landesamt Akten und Register öffentlicher Stellen einsehen. Im Übrigen gilt SS 18 Abs. 4. (4) Das Landesamt muss Ersuchen auf Auskunft oder Einsicht nicht begründen, soweit dies dem Schutz der betroffenen Person dient oder eine Begründung den Zweck der Maßnahme gefährden würde. Es hat die Ersuchen aktenkundig zu machen. Über die Einsichtnahme nach Abs. 3 Satz 2 hat das Landesamt einen Nachweis zu führen, aus dem der Zweck, die ersuchte Behörde und die Aktenfundstelle hervorgehen. Der Nachweis ist gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. (5) Zur Beantwortung von Übermittlungsersuchen nach SS 20b Abs. 1 darf das Landesamt personenbezogene Daten nur erheben, soweit dies zur Überprüfung der dem Landesamt bereits vorliegenden Informationen erforderlich ist. Abs. 3 bleibt unberührt. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 361 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ (6) Werden Daten bei der betroffenen Person oder bei Dritten außerhalb des öffentlichen Bereichs offen erhoben, so sind die Befragten auf die Freiwilligkeit ihrer Angaben hinzuweisen. Gegenüber der betroffenen Person ist der Erhebungszweck anzugeben. Die Befragten sind bei einer Sicherheitsüberprüfung nach SS 2 Abs. 3 oder 4 auf eine dienst-, arbeitsrechtliche oder sonstige vertragliche Mitwirkungspflicht hinzuweisen. (7) Ein Ersuchen des Landesamts um Übermittlung personenbezogener Daten darf nur diejenigen personenbezogenen Daten enthalten, die für die Erteilung der Auskunft unerlässlich sind. Schutzwürdige Interessen der betroffenen Person dürfen nur in unvermeidbarem Umfang beeinträchtigt werden. (8) Zur Aufgabenerfüllung nach SS 2 dürfen personenbezogene Daten von Personen, bei denen keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie selbst Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des SS 2 Abs. 2 nachgehen (Unbeteiligte), nur erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn 1. dies für die Erforschung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorübergehend erforderlich ist, 2. die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre und 3. überwiegende schutzwürdige Belange der betroffenen Personen nicht entgegenstehen. Personenbezogene Daten Unbeteiligter dürfen auch erhoben werden, wenn sie mit zur Aufgabenerfüllung erforderlichen Informationen untrennbar verbunden sind. (9) Daten, die für das Verständnis der zu speichernden Informationen nicht erforderlich sind, sind unverzüglich zu löschen. Dies gilt nicht, wenn die Löschung nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand möglich ist; in diesem Fall dürfen die Daten nicht verwertet werden. SS5 INFORMATIONSERHEBUNG MIT NACHRICHTEN DIENSTLICHEN MITTELN (1) Das Landesamt darf Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln erheben. Für personenbezogene Daten gilt dies nur, wenn 1. bei der betroffenen Person tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen und anzunehmen ist, dass auf diese Weise zusätzliche Erkenntnisse erlangt werden können, 2. tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass auf diese Weise die zur Erforschung von Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 erforderlichen Quellen gewonnen werden können, 3. dies zum Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Einrichtungen, Gegenstände und Informationsquellen des Landesamts gegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist oder 4. dies zur Überprüfung der Nachrichtenehrlichkeit und der Eignung von Vertrauensleuten erforderlich ist. (2) Nachrichtendienstliche Mittel sind Mittel und Methoden, die mittelbar oder unmittelbar dem von der betroffenen oder außenstehenden Person nicht erkennbaren Erheben von Daten dienen. Als nachrichtendienstliche Mittel darf das Landesamt einsetzen: 1. Überwachung des Brief-, Postund Fernmeldeverkehrs im Sinne des Art. 10 des Grundgesetzes einschließlich notwendiger Begleitmaßnahmen nach SS 6, 2. technische Mittel zur Wohnraumüberwachung nach SS 7, 362 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ 3. technische Mittel zur Ortung von Mobilfunkendgeräten nach SS 9, 4. besondere Auskunftsersuchen nach SS 10 zu a) den Umständen des Postverkehrs bei Unternehmen, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen oder daran mitwirken, b) Telekommunikationsverbindungsund Teledienstenutzungsdaten bei Unternehmen, die geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste und Teledienste erbringen oder daran mitwirken, c) Daten bei Verkehrsunternehmen, Betreibern von Computerreservierungssystemen und globalen Distributionssystemen sowie bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen, 5. Observation nach SS 11, 6. Verdeckte Mitarbeiterinnen, Verdeckte Mitarbeiter und Vertrauensleute nach den SSSS 12 und 13, 7. verdeckte Ermittlungen und Befragungen, 8. Tonund Bildaufzeichnungen außerhalb der Schutzbereiche der Art. 10 und 13 des Grundgesetzes mit und ohne Inanspruchnahme technischer Mittel, 9. Tarnmittel, 10. Funkbeobachtungen, 11. Beobachtung des Internets; dies beinhaltet auch die verdeckte Teilnahme an der im Internet geführten Kommunikation, insbesondere in Foren und elektronischen Kommunikationsplattformen. (3) Nachrichtendienstliche Mittel dürfen auch angewendet werden, wenn Dritte hierdurch unvermeidbar betroffen werden. Sofern dieses Gesetz keine strengeren Anforderungen vorsieht, dürfen Personen, die nicht selbst an einer Bestrebung oder Tätigkeit gemäß SS 2 Abs. 2 beteiligt sind (Unbeteiligte), nur in eine Überwachungsmaßnahme einbezogen werden, wenn die Überwachung gerade dieser Personen zur Aufklärung einer Bestrebung oder Tätigkeit gemäß SS 2 Abs. 2 im Einzelfall geboten ist. Eine Überwachung Unbeteiligter ist dabei so zu begrenzen, dass deren Grundrechtsbeeinträchtigungen in angemessenem Verhältnis zu dem im Einzelfall erwartbaren Aufklärungsbeitrag stehen. (4) Einzelheiten regelt das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium durch Dienstvorschrift, insbesondere die organisatorische Zuständigkeit für die Anordnung von Informationserhebungen mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Die Dienstvorschrift ist der Parlamentarischen Kontrollkommission nach SS 1 des Gesetzes zur parlamentarischen Kontrolle des Verfassungsschutzes in Hessen vom 25. Juni 2018 (GVBl. S. 302, 317) zu übersenden. (5) Gemeinden, Gemeindeverbände und die sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie die Gerichte und Staatsanwaltschaften und das Landesamt leisten sich gegenseitig Amtsund Rechtshilfe. Dies gilt insbesondere für die technische Hilfe bei Tarnmaßnahmen. Polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse stehen dem Landesamt nicht zu. Das Landesamt darf auch nicht im Wege der Amtshilfe Polizeibehörden um Maßnahmen ersuchen, zu denen es selbst nicht befugt ist. (6) Zur Erfüllung von Aufgaben aufgrund eines Gesetzes nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b und c des Grundgesetzes stehen dem Landesamt die Befugnisse zu, die es zur Erfüllung der entsprechenden Aufgaben nach diesem Gesetz hat. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 363 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ SS5a GERICHTLICHE KONTROLLE (1) Wird der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel durch dieses Gesetz unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung gestellt, liegt die Zuständigkeit für die richterlichen Entscheidungen beim Amtsgericht am Sitz des Landesamts; über Beschwerden entscheidet das in SS 120 Abs. 4 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I S. 1077), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2606), bezeichnete Gericht. (2) Für das Verfahren gelten die Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586, 2587), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Februar 2023 (BGBl. I Nr. 51), entsprechend mit der Maßgabe, dass eine Anhörung oder Unterrichtung der Betroffenen durch das Gericht unterbleibt. Die Rechtsbeschwerde ist ausgeschlossen. (3) Der Antrag ist hinreichend substantiiert zu begründen; insbesondere sind dem Gericht alle beurteilungsrelevanten Tatsachen mitzuteilen. Im Antrag sind anzugeben: 1. bei gezielt gegen bestimmte Personen gerichteten Maßnahmen die Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, soweit möglich, mit Name und Anschrift, 2. bei Maßnahmen nach SS 7 Abs. 1 die zu überwachende Wohnung oder die zu überwachenden Wohnräume, 3. Art, Umfang und Dauer der Maßnahme, 4. der Sachverhalt sowie 5. eine Begründung. (4) Das Gericht prüft, ob die beantragte Maßnahme den gesetzlichen Voraussetzungen entspricht. Die Anordnung ergeht schriftlich gegenüber der beantragenden Stelle. In der Anordnung sind anzugeben: 1. bei gezielt gegen bestimmte Personen gerichteten Maßnahmen die Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, soweit möglich, mit Name und Anschrift, 2. bei Maßnahmen nach SS 7 Abs. 1 die zu überwachende Wohnung oder die zu überwachenden Wohnräume, 3. Art, Umfang und Dauer der Maßnahme sowie 4. die wesentlichen Gründe. (5) Bei Maßnahmen gemäß SSSS 12 und 13 gelten Abs. 3 und 4 mit der Maßgabe, dass Gegenstand von Antrag und Anordnung der Einsatz der verdeckten Mittel zur Aufklärung einer bestimmten nachrichtendienstlich beobachtungsbedürftigen Bestrebung oder Tätigkeit ist, ohne dabei konkrete Verdeckte Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter oder Vertrauenspersonen zu benennen. Sollen im Rahmen der Maßnahme gemäß SS 12 oder SS 13 konkrete Einzelpersonen nicht nur punktuell durch die Maßnahme betroffen, sondern dauerhaft Ziel eines personenbezogenen Aufklärungsansatzes sein, so sind sie mit in die gerichtliche Entscheidung aufzunehmen. (6) Bei Gefahr im Verzug kann die Behördenleitung oder ihre Vertretung die Anordnung treffen; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. SS6 ÜBERWACHUNG DES BRIEF, POST UND FERNMELDE VERKEHRS UND DER TELEKOMMUNIKATION Die Überwachung des Brief-, Postund Fernmeldeverkehrs im Sinne des Art. 10 des Grundgesetzes richtet sich nach dem Artikel 10-Gesetz mit den in Satz 2 bis 4 bestimmten Maßgaben und dem Hessischen Ausführungsgesetz zum Artikel 10-Gesetz vom 16. Dezember 1969 (GVBl. I S. 303), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. 364 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ September 2012 (GVBl. I S. 290), in der jeweils geltenden Fassung. Ist eine laufende Kontrolle nach SS 4 Abs. 1 Satz 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10Gesetz durch die G 10-Kommission noch nicht beendet, ist die Dokumentation nach SS 3a Abs. 1 Satz 10 des Artikel 10 Gesetzes bis zum Abschluss der laufenden Kontrolle aufzubewahren. SS 4 Abs. 1 Satz 5 des Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Protokolldaten sechs Monate nach der Mitteilung oder nach der Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach SS 12 Abs. 1 Satz 1 oder 5 des Artikel 10-Gesetzes zu löschen sind. SS 4 Abs. 1 Satz 6 des Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Löschung der Daten auch unterbleibt, soweit die Daten für eine Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Beschränkungsmaßnahme nach SS 4 Abs. 1 Satz 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz durch die G 10-Kommission von Bedeutung sein können. SS7 VERDECKTER EINSATZ TECHNISCHER MITTEL ZUR WOHNRAUMÜBERWACHUNG (1) Das Landesamt darf bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine dringende Gefahr für 1. den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes, 2. Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder 3. solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Bundes oder eines Landes oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt, zu deren Abwehr in einer Wohnung verdeckt technische Mittel einsetzen, um das nicht-öffentlich gesprochene Wort abzuhören und aufzuzeichnen sowie Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen herzustellen. (2) Die Anordnung einer Wohnraumüberwachung ist nur zulässig, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre und geeignete polizeiliche Hilfe für das betroffene Rechtsgut nicht rechtzeitig erlangt werden kann. Die Maßnahme darf sich nur gegen eine Person richten, von der aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass sie für die Gefahr verantwortlich ist (Zielperson), und nur in deren Wohnung durchgeführt werden. In der Wohnung einer anderen Person ist die Maßnahme nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass sich die Zielperson dort zur Zeit der Maßnahme aufhält, sich dort für die Erforschung des Sachverhalts relevante Informationen ergeben werden und der Zweck der Maßnahme nicht allein unter Beschränkung auf die Wohnung der Zielperson zu erreichen ist. (3) Werden in Privaträumen Gespräche mit Personen des persönlichen Vertrauens geführt, ist die Anwendung von Mitteln nach Abs. 1 unzulässig. Dies gilt nicht, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass 1. den Gesprächen insgesamt ein höchstvertraulicher Charakter fehlen wird oder 2. die Gespräche unmittelbar die Besprechung oder Planung von Straftaten, die sich gegen die in Abs. 1 genannten Rechtsgüter richten, zum Gegenstand haben werden. (4) Die Maßnahme ist im Übrigen unzulässig, soweit tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass durch sie allein Erkenntnisse gewonnen werden würden 1. aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder 2. bei einer Rechtsanwältin, einem Rechtsanwalt, einem Kammerrechtsbeistand, einer der in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. März 2022 (BGBl. I S. 571), genannten Person oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 365 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ gleichstehenden Person, über die der Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte. Erfolgen Maßnahmen bei einem der im Übrigen in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder 5 der Strafprozessordnung genannten Berufsgeheimnisträger oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, sind das öffentliche Interesse an den von dem Berufsgeheimnisträger wahrgenommenen Aufgaben und das Interesse an der Geheimhaltung der diesem anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen besonders zu berücksichtigen. Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 gelten nicht bei Maßnahmen zur Aufklärung von eigenen Bestrebungen oder Tätigkeiten der genannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. (5) Ergeben sich während der Überwachung tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne von Abs. 4 Satz 1, ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen, sobald dies ohne Gefährdung von Leib oder Leben eingesetzter Personen möglich ist. Bestehen insoweit Zweifel, darf nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Unterbleibt ein Abbruch aufgrund einer Gefährdung nach Satz 1, sind die Tatsache des Eindringens in den Kernbereich privater Lebensgestaltung und die Umstände des Fortsetzens der Maßnahme zu dokumentieren. Sind das Abhören und Beobachten nach Satz 1 unterbrochen worden, so darf die Maßnahme fortgeführt werden, wenn keine Anhaltspunkte nach Abs. 4 Satz 1 vorliegen. Daten, die durch eine Maßnahme nach Abs. 1 erlangt worden sind, sind dem für die Anordnung zuständigen Gericht unverzüglich vorzulegen. Dieses entscheidet unverzüglich über die Verwendbarkeit oder Löschung der Daten. Soweit Erkenntnisse im Sinne von Abs. 4 Satz 1 durch eine Maßnahme nach Abs. 1 erlangt worden sind, dürfen sie nicht verwendet werden und sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Dokumentation ist sechs Monate nach der Mitteilung oder nach Erteilung der gerichtlichen Zustimmung zur Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach SS 8 Abs. 4 zu löschen. (6) Bei Gefahr im Verzug können die Erkenntnisse, die durch eine Maßnahme nach Abs. 1 erlangt worden sind, unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat, gesichtet werden. Die oder der Bedienstete entscheidet im Benehmen mit der oder dem Datenschutzbeauftragten des Landesamts über eine vorläufige Verwertung der Erkenntnisse. Die Bediensteten sind zur Verschwiegenheit über die ihnen bekannt gewordenen Erkenntnisse, die nicht verwertet werden dürfen, verpflichtet. Die gerichtliche Entscheidung nach Abs. 5 Satz 5 und 6 ist unverzüglich nachzuholen. SS8 VERFAHREN BEI MASSNAHMEN NACH SS 7 (1) Der Einsatz technischer Mittel nach SS 7 bedarf einer richterlichen Anordnung. Die Anordnung ist auf höchstens einen Monat zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als einen weiteren Monat sind zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Verlängerung ist die Gesamtdauer der Maßnahme zu berücksichtigen. (2) Das Landesamt prüft unverzüglich und sodann in Abständen von höchstens sechs Monaten, ob die erhobenen personenbezogenen Daten für Zwecke nach Abs. 6 erforderlich sind. Soweit dies nicht der Fall ist, sind sie unverzüglich unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat, zu löschen. Die Löschung ist zu protokollieren. Die Protokolldaten dürfen ausschließlich zur Durchführung der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Protokolldaten sind sechs Monate nach der Mitteilung oder nach Erteilung der gerichtlichen Zustimmung zur Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach Abs. 4 zu löschen. Die Löschung der Daten unterbleibt, soweit die Daten für eine Mitteilung nach Abs. 4 oder für eine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme von Bedeutung sein können. In diesem Fall sind die Daten in der Verarbeitung einzuschränken; sie dürfen nur zu diesen Zwecken verwendet werden. 366 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ (3) Die verbleibenden Daten sind zu kennzeichnen. Die Behördenleitung oder ihre Stellvertretung kann anordnen, dass bei der Übermittlung auf die Kennzeichnung verzichtet wird, wenn dies unerlässlich ist, um die Geheimhaltung einer Maßnahme nicht zu gefährden, und das für die Anordnung zuständige Gericht zugestimmt hat. Bei Gefahr im Verzug kann die Anordnung bereits vor der Zustimmung getroffen werden. Wird die Zustimmung versagt, ist die Kennzeichnung durch den Übermittlungsempfänger unverzüglich nachzuholen; die übermittelnde Behörde hat ihn hiervon zu unterrichten. Nach einer Übermittlung ist die Kennzeichnung durch den Empfänger aufrechtzuerhalten. (4) Eine Maßnahme nach SS 7 ist der betroffenen Person nach ihrer Einstellung mitzuteilen. Die Mitteilung unterbleibt, solange eine Gefährdung des Zwecks der Beschränkung nicht ausgeschlossen werden kann oder solange der Eintritt übergreifender Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes absehbar ist. Erfolgt die nach Satz 2 zurückgestellte Mitteilung nicht binnen zwölf Monaten nach Beendigung der Maßnahme, bedarf die weitere Zurückstellung der Zustimmung des für die Anordnung zuständigen Gerichts. Das Gericht bestimmt die Dauer der weiteren Zurückstellung. Einer Mitteilung bedarf es nicht, wenn das Gericht festgestellt hat, dass 1. eine der Voraussetzungen in Satz 2 auch nach fünf Jahren nach Beendigung der Maßnahme noch vorliegt, 2. sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft vorliegt und 3. die Voraussetzungen für eine Löschung sowohl beim Landesamt als auch beim Empfänger vorliegen. Eine Mitteilung kann auch auf Dauer unterbleiben, wenn überwiegende Interessen einer betroffenen Person entgegenstehen oder wenn die Identität oder der Aufenthaltsort einer betroffenen Person nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu ermitteln ist. Die Mitteilung obliegt dem Landesamt. Wurden personenbezogene Daten übermittelt, erfolgt die Mitteilung im Benehmen mit dem Empfänger. (5) Die aus der Anordnung sich ergebenden Maßnahmen sind unter Verantwortung des Landesamts und unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten vorzunehmen, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat. Die Maßnahmen sind unverzüglich zu beenden, wenn sie nicht mehr erforderlich sind oder die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vorliegen. Die Beendigung ist dem für die Anordnung zuständigen Gericht anzuzeigen. (6) Personenbezogene Daten, die durch eine Maßnahme der optischen Wohnraumüberwachung erlangt wurden, dürfen nur weiterverarbeitet und an andere Stellen übermittelt werden, soweit dies zur Abwehr einer dringenden Gefahr im Sinne des SS 7 Abs. 1 erforderlich ist. Personenbezogene Daten aus einer Maßnahme der akustischen Wohnraumüberwachung dürfen darüber hinaus zur Strafverfolgung übermittelt werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand eine besonders schwere Straftat im Sinne der SS 100c Abs. 1, SS 100b Abs. 2 der Strafprozessordnung begangen hat. (7) Dient der Einsatz technischer Mittel nach SS 7 ausschließlich dem Schutz der für den Verfassungsschutz bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen, erfolgt die Anordnung abweichend von Abs. 1 durch die Behördenleitung oder ihre Vertretung. Eine anderweitige Verwendung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zulässig, wenn zuvor richterlich festgestellt wurde, dass die Maßnahme rechtmäßig ist und die Voraussetzungen des SS 7 Abs. 1 vorliegen; Abs. 1 Satz 3 gilt entsprechend. Im Übrigen sind die Daten unverzüglich zu löschen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 367 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ SS9 ORTUNG VON MOBILFUNKENDGERÄTEN (1) Das Landesamt darf im Einzelfall, soweit dies zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 erforderlich ist, technische Mittel einsetzen 1. zur Ermittlung der Geräteoder Kartennummer und 2. zur Ermittlung des Standorts eines aktiv geschalteten Mobilfunkendgeräts. (2) Technische Mittel nach Abs. 1 Nr. 2, die 1. nicht lediglich im Zusammenhang mit anderen operativen Maßnahmen zu deren Ermöglichung eingesetzt werden, insbesondere für Zwecke von Observationsmaßnahmen nach SS 11 zur Bestimmung des Standorts der eingeloggten Funkzelle, sondern um anhand der Standortdaten die Bewegungen des Mobiltelefons nachzuverfolgen (Bewegungsprofil) und 2. zu diesem Zweck an mehr als drei aufeinanderfolgenden Tagen mehrfach täglich eingesetzt werden, dürfen nur eingesetzt werden, soweit dies zur Aufklärung einer erheblich beobachtungsbedürftigen Bestrebung oder Tätigkeit gemäß SS 3 Abs. 2 im Einzelfall geboten ist. (3) SS 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 und die SSSS 9 und 10 Abs. 2 und 3 des Artikel 10-Gesetzes gelten entsprechend. Maßnahmen nach Abs. 2 bedürfen einer richterlichen Anordnung. Die Anordnung ist auf höchstens sechs Monate zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als sechs weitere Monate sind zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Verlängerung ist die Gesamtdauer der Maßnahme zu berücksichtigen. SS10 BESONDERE AUSKUNFTSERSUCHEN (1) Das Landesamt darf im Einzelfall, soweit dies zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 erforderlich ist, bei denjenigen, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen oder Telemedien anbieten oder daran mitwirken, Auskünfte über Daten, die für die Begründung, inhaltliche Ausgestaltung, Änderung oder Beendigung eines Vertragsverhältnisses über Postdienstleistungen oder Telemedien gespeichert worden sind, einholen. (2) Das Landesamt darf im Einzelfall zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen, bei 1. Verkehrsunternehmen sowie Betreibern von Computerreservierungssystemen und Globalen Distributionssystemen für Flüge zu Namen und Anschriften von Kunden sowie zu Inanspruchnahme und Umständen von Transportleistungen, insbesondere zum Zeitpunkt von Abfertigung und Abflug und zum Buchungsweg, 2. Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen zu Konten, Konteninhabern und sonstigen Berechtigten sowie weiteren am Zahlungsverkehr Beteiligten und über Geldbewegungen und Geldanlagen, insbesondere über Kontostand und Zahlungseinund -ausgänge, Auskünfte einholen. Im Fall des SS 2 Abs. 2 Nr. 1 gilt dies nur für Bestrebungen, die bezwecken oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, 1. zu Hassoder Willkürmaßnahmen gegen Teile der Bevölkerung aufzustacheln oder deren Menschenwürde durch Beschimpfen, böswilliges Verächtlichmachen oder Verleumden anzugreifen und dadurch die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt zu fördern und den öffentlichen Frieden zu stören oder 2. Gewalt anzuwenden oder vorzubereiten, einschließlich des Befürwortens, Hervorrufens oder Unterstützens von Gewaltanwendung, auch durch Unterstützen von Vereinigungen, die Anschläge gegen Personen oder Sachen veranlassen, befürworten oder androhen. 368 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Für die Zwecke von Ersuchen nach Satz 1 Nr. 2 darf das Landesamt das Bundeszentralamt für Steuern ersuchen, bei den Kreditinstituten die in SS 93b Abs. 1 der Abgabenordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Oktober 2002 (BGBl. I S. 3866; 2003 I S. 61), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2730), bezeichneten Daten abzurufen, wenn dies zur Aufklärung von Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 im Einzelfall geboten ist. (3) Das Landesamt darf im Einzelfall, soweit dies aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zur Aufklärung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 erforderlich ist, von denjenigen, die geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringen oder daran mitwirken, Auskünfte über die nach den SS 3 Nr. 6 und SS 172 des Telekommunikationsgesetzes vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Juli 2022 (BGBl. I S. 1166), erhobenen Daten verlangen (SS 174 Abs. 1 Satz 1 des Telekommunikationsgesetzes). Dies gilt auch für Daten, mittels derer der Zugriff auf Endgeräte oder auf Speichereinrichtungen, die in diesen Endgeräten oder hiervon räumlich getrennt eingesetzt werden, geschützt wird (SS 174 Abs. 1 Satz 2 des Telekommunikationsgesetzes). Die Auskunft darf auch anhand einer zu einem bestimmten Zeitpunkt zugewiesenen Internetprotokoll-Adresse verlangt werden (SS 174 Abs. 1 Satz 3 des Telekommunikationsgesetzes); diese Rechtsgrundlage und die tatsächlichen Anhaltspunkte, die dieses Auskunftsverlangen veranlassen, sind aktenkundig zu machen. Die Auskunft darf nur verlangt werden, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für das Nutzen der Daten vorliegen. (4) Das Landesamt darf im Einzelfall zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes bei Personen und Unternehmen, die geschäftsmäßig 1. Postdienstleistungen erbringen oder daran mitwirken, Auskünfte zu den sonstigen Umständen des Postverkehrs, 2. Telekommunikationsdienste erbringen oder daran mitwirken, Auskünfte zu Verkehrsdaten nach SS 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 5 des Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetzes vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1982, 2022 I S. 1045), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. August 2021 (BGBl. I S. 3544), 3. Telemedien anbieten oder daran mitwirken, Auskünfte über a) Merkmale zur Identifikation des Nutzers von Telemedien, b) Beginn und Ende sowie über den Umfang der jeweiligen Nutzung und c) die vom Nutzer in Anspruch genommenen Telemedien einholen. (5) Auskünfte nach Abs. 3, soweit Daten nach SS 174 Abs. 1 Satz 2 und 3 des Telekommunikationsgesetzes betroffen sind, und Auskünfte nach Abs. 4 dürfen nur auf Anordnung des für den Verfassungsschutz zuständigen Ministeriums eingeholt werden. Die Anordnung ist durch die Behördenleitung schriftlich zu beantragen. Der Antrag ist zu begründen. Das Ministerium unterrichtet unverzüglich die G 10-Kommission nach SS 2 Abs. 1 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz über die Anordnung vor deren Vollzug und holt deren Zustimmung ein. Bei Gefahr im Verzug kann das Ministerium den Vollzug der Anordnung auch bereits vor Unterrichtung der G 10-Kommission anordnen. Die G 10-Kommission prüft von Amts wegen oder aufgrund von Beschwerden die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Einholung von Auskünften. SS 15 Abs. 5 des Artikel 10-Gesetzes ist entsprechend anzuwenden. Anordnungen, welche die G 10-Kommission für unzulässig erklärt, hat das Ministerium unverzüglich aufzuheben. SS 12 Abs. 1 und 3 des Artikel 10-Gesetzes findet entsprechende Anwendung. (6) Bei Maßnahmen nach Abs. 2 und 4 ist SS 4 des Artikel 10-Gesetzes, für Maßnahmen nach Abs. 2 mit Ausnahme des SS 4 Abs. 4 des Artikel 10-Gesetzes, mit der Maßgabe nach SS 6 Satz 3 und 4 dieses Gesetzes anzuwenden, die SSSS 9, 10 Abs. 2 und 3, SS 11 Abs. 1 und 2, SS 12 Abs. 1 und 3, SS 17 Abs. 3 des Artikel 10-Gesetzes sowie SS 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz sind Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 369 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ entsprechend anzuwenden. Abweichend von SS 10 Abs. 3 des Artikel 10-Gesetzes genügt eine räumlich und zeitlich hinreichende Bezeichnung der Telekommunikation, sofern anderenfalls die Erreichung des Zwecks der Maßnahme aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Soweit dem Verpflichteten keine Entschädigung nach besonderen Bestimmungen zusteht, findet SS 20 des Artikel 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. Im Übrigen hat der Verpflichtete die Auskunft unentgeltlich zu erteilen. (7) Die zur Erteilung der Auskunft erforderlichen Daten müssen unverzüglich, vollständig und richtig übermittelt werden. Das Auskunftsersuchen und die übermittelten Daten dürfen der betroffenen Person oder Dritten vom Verpflichteten nicht mitgeteilt werden. (8) Auf Auskünfte nach Abs. 4 Nr. 2 sind die Vorgaben des SS 8b Abs. 8 Satz 4 und 5 des Bundesverfassungsschutzgesetzes anzuwenden. Für die Erteilung von Auskünften nach Abs. 1, 2 und 4 Nr. 3 gilt die Nachrichtendienste-Übermittlungsverordnung vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I S. 2117), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Mai 2021 (BGBl. I S. 990). (9) Dem Verpflichteten ist es verboten, allein aufgrund eines Auskunftsersuchens einseitige Handlungen vorzunehmen, die für die betroffene Person nachteilig sind und die über die Erteilung der Auskunft hinausgehen, insbesondere bestehende Verträge oder Geschäftsverbindungen zu beenden, ihren Umfang zu beschränken oder ein Entgelt zu erheben oder zu erhöhen. Die Anordnung ist mit dem ausdrücklichen Hinweis auf dieses Verbot und darauf zu verbinden, dass das Auskunftsersuchen nicht die Aussage beinhaltet, dass sich die betroffene Person rechtswidrig verhalten hat oder ein darauf gerichteter Verdacht bestehen müsse. (10) Auskunft nach Abs. 1 bis 4 darf bei Unternehmen eingeholt werden, die in Deutschland 1. eine Niederlassung haben oder 2. Leistungen erbringen oder hieran mitwirken. SS11 OBSERVATION (1) Das Landesamt darf außerhalb der Schutzbereiche der Art. 10 und 13 des Grundgesetzes Personen verdeckt mit oder ohne Inanspruchnahme technischer Mittel planmäßig observieren, insbesondere das nichtöffentlich gesprochene Wort mithören, abhören und aufzeichnen sowie Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen anfertigen, sofern dies zur Aufklärung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 im Einzelfall geboten ist. (2) Die Maßnahme ist im Einzelfall länger als 48 Stunden oder an mehr als drei Tagen innerhalb einer Woche (langfristige Observation) nur zulässig, wenn dies zur Aufklärung einer erheblich beobachtungsbedürftigen Bestrebung oder Tätigkeit gemäß SS 3 Abs. 2 im Einzelfall geboten ist. (3) Eine Maßnahme nach Abs. 2 darf sich gezielt nur gegen eine Person richten, von der auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass sie entweder 1. an der Bestrebung oder Tätigkeit beteiligt ist oder 2. mit einer Person nach Nr. 1 in Kontakt steht und a) von der Bestrebung oder Tätigkeit Kenntnis hat oder b) die Person nach Nr. 1 sich ihrer zur Förderung der Bestrebung oder Tätigkeit bedient und eine Maßnahme gegen die Person nach Nr. 1 allein nicht zur Erforschung des Sachverhalts ausreicht. (4) Maßnahmen der langfristigen Observation nach Abs. 2 bedürfen einer richterlichen Anordnung. Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu befristen. 370 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Verlängerungen um jeweils nicht mehr als drei weitere Monate sind zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Verlängerung ist die Gesamtdauer der Maßnahme zu berücksichtigen. (5) Die Maßnahme ist unzulässig, soweit tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass durch sie allein Erkenntnisse gewonnen werden würden 1. aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder 2. bei einer Rechtsanwältin, einem Rechtsanwalt, einem Kammerrechtsbeistand, einer der in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung genannten Person oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, über die der Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte. Erfolgen Maßnahmen bei einem der im Übrigen in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder 5 der Strafprozessordnung genannten Berufsgeheimnisträger oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, sind das öffentliche Interesse an den von dem Berufsgeheimnisträger wahrgenommenen Aufgaben und das Interesse an der Geheimhaltung der diesem anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen besonders zu berücksichtigen. Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 gelten nicht bei Maßnahmen zur Aufklärung von eigenen Bestrebungen oder Tätigkeiten der genannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. (6) Erfolgt während der Maßnahme eine unmittelbare Kenntnisnahme und ergeben sich tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne von Abs. 5 Satz 1, ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen, sobald dies ohne Gefährdung von Leib oder Leben eingesetzter Personen möglich ist. Unterbleibt ein Abbruch aufgrund einer Gefährdung nach Satz 1, sind die Tatsache des Eindringens in den Kernbereich privater Lebensgestaltung und die Umstände des Fortsetzens der Maßnahme zu dokumentieren. Vor der Weitergabe von Informationen hat die eingesetzte Mitarbeiterin oder der eingesetzte Mitarbeiter zu prüfen, ob durch die Informationen oder die Art und Weise, in der sie erlangt wurden, Erkenntnisse im Sinne von Abs. 5 Satz 1 berührt sind. Entsprechende Erkenntnisse dürfen nicht zur Verwertung weitergegeben werden. Sind das Abhören und Beobachten nach Satz 1 unterbrochen worden, so darf die Maßnahme fortgeführt werden, wenn keine Anhaltspunkte nach Abs. 5 Satz 1 vorliegen. Soweit Erkenntnisse im Sinne von Abs. 5 Satz 1 durch die Maßnahme erlangt worden sind, dürfen sie nicht verwendet werden und sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Dokumentation ist sechs Monate nach der Mitteilung oder nach Zustimmung der Behördenleitung zur endgültigen Nichtmitteilung nach Abs. 8 zu löschen. (7) Bestehen Zweifel, ob oder wie lange die Voraussetzungen nach Abs. 6 Satz 1 vorliegen, darf die Maßnahme ausschließlich als automatische Aufzeichnung fortgeführt werden. Diese ist unverzüglich dem für die Anordnung zuständigen Gericht vorzulegen. Dieses entscheidet unverzüglich über die Verwendbarkeit oder Löschung der Daten. Bei Gefahr im Verzug können Aufzeichnungen nach Satz 1 unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat, gesichtet werden. Die oder der Bedienstete entscheidet im Benehmen mit der oder dem Datenschutzbeauftragten des Landesamts vorläufig über eine Verwendung der Erkenntnisse. Die Bediensteten sind zur Verschwiegenheit über die ihnen bekannt gewordenen Erkenntnisse, die nicht verwendet werden dürfen, verpflichtet. Die gerichtliche Entscheidung nach Satz 2 und 3 ist unverzüglich nachzuholen. (8) Dauert eine langfristige Observation nach Abs. 2 durchgehend länger als eine Woche oder findet sie an mehr als 14 Tagen innerhalb eines Monats statt, ist die Maßnahme der betroffenen Person nach ihrer Einstellung mitzuteilen. Die Mitteilung unterbleibt, solange eine Gefährdung des Zwecks der Beschränkung nicht ausgeschlossen werden kann oder solange der Eintritt übergreifender Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes absehbar ist. Erfolgt die nach Satz 2 zurückgestellte Mitteilung nicht binnen zwölf Monaten nach Beendigung der Maßnahme, bedarf die weitere Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 371 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Zurückstellung der Zustimmung der Behördenleitung. Die Behördenleitung bestimmt die Dauer der weiteren Zurückstellung. Einer Mitteilung bedarf es nicht, wenn 1. eine der Voraussetzungen in Satz 2 auch nach fünf Jahren nach Beendigung der Maßnahme noch vorliegt, 2. sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft vorliegt und 3. die Voraussetzungen für eine Löschung vorliegen. Eine Mitteilung kann auch auf Dauer unterbleiben, wenn überwiegende Interessen einer betroffenen Person entgegenstehen oder wenn die Identität oder der Aufenthaltsort einer betroffenen Person nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu ermitteln ist. Die Mitteilung obliegt dem Landesamt. SS12 VERDECKTE MITARBEITERINNEN UND VERDECKTE MITARBEITER (1) Das Landesamt darf eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter einer ihnen verliehenen und auf Dauer angelegten Legende (Verdeckte Mitarbeiterinnen und Verdeckte Mitarbeiter) einsetzen, wenn dies zur Aufklärung einer bestimmten nachrichtendienstlich beobachtungsbedürftigen Bestrebung oder Tätigkeit im Einzelfall geboten ist. Der Einsatz Verdeckter Mitarbeiterinnen und Verdeckter Mitarbeiter für eine Dauer von länger als sechs Monaten ist nur zulässig, wenn dieser zur Aufklärung einer erheblich beobachtungsbedürftigen Bestrebung oder Tätigkeit gemäß SS 3 Abs. 2 unerlässlich ist. (2) Eine Maßnahme nach Abs. 1 darf sich gezielt nur gegen eine Person richten, von der auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass sie entweder 1. an der Bestrebung oder Tätigkeit beteiligt ist oder 2. mit einer Person nach Nr. 1 in Kontakt steht und a) von der Bestrebung oder Tätigkeit Kenntnis hat oder b) die Person nach Nr. 1 sich ihrer zur Förderung der Bestrebung oder Tätigkeit bedient und eine Maßnahme gegen die Person nach Nr. 1 allein nicht zur Erforschung des Sachverhalts ausreicht. (3) Maßnahmen nach Abs. 1 bedürfen einer richterlichen Anordnung. Die Anordnung ist auf höchstens zwölf Monate zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als zwölf weitere Monate sind zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Verlängerung ist die Gesamtdauer der Maßnahme zu berücksichtigen. (4) Bei der Planung von Einsatzumständen sollen nach Möglichkeit Situationen vermieden werden, bei denen regelmäßig Erkenntnisse gewonnen werden würden 1. aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder 2. bei einer Rechtsanwältin, einem Rechtsanwalt, einem Kammerrechtsbeistand, einer der in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung genannten Person oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, über die der Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte. Bei einem gegen eine Person gerichteten Einsatz darf unter keinen Umständen der Kernbereich zum Ziel staatlicher Ermittlungen gemacht werden. Insbesondere dürfen zum Aufbau oder zum Erhalt eines Vertrauensverhältnisses keine intimen Beziehungen oder vergleichbar engste persönliche Bindungen begründet oder fortgeführt werden. Entstehen solche Bindungen, ist der Einsatz gegen diese Person abzubrechen. (5) Erfolgt während der Maßnahme eine unmittelbare Kenntnisnahme und ergeben 372 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ sich tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne von Abs. 4 Satz 1, ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen, sobald dies ohne Gefährdung von Leib oder Leben oder Enttarnung eingesetzter Personen möglich ist. Unterbleibt ein Abbruch aufgrund einer Gefährdung nach Satz 1, sind die Tatsache des Eindringens in den Kernbereich privater Lebensgestaltung und die Umstände des Fortsetzens der Maßnahme zu dokumentieren. Die Maßnahme darf fortgeführt werden, wenn keine Anhaltspunkte nach Abs. 4 Satz 1 mehr vorliegen. Soweit Erkenntnisse im Sinne von Abs. 4 Satz 1 durch eine Maßnahme erlangt worden sind, dürfen sie nicht verwendet werden und sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Dokumentation ist am Ende des Kalenderjahres, das der Protokollierung folgt, zu löschen. (6) Vor der Weitergabe von Informationen hat die Verdeckte Mitarbeiterin oder der Verdeckter Mitarbeiter zu prüfen, ob durch die Informationen oder die Art und Weise, in der sie erlangt wurden, Erkenntnisse im Sinne von Abs. 4 Satz 1 berührt sind. Entsprechende Erkenntnisse dürfen nicht zur Verwertung weitergegeben werden. (7) Bestehen Zweifel, ob bei einer Maßnahme Erkenntnisse im Sinne von Abs. 4 Satz 1 gewonnen worden sind, entscheidet der behördliche Datenschutzbeauftragte. Dieser entscheidet unverzüglich über die Verwendbarkeit und Löschung der Daten. (8) Verdeckte Mitarbeiterinnen und Verdeckte Mitarbeiter dürfen weder zur Gründung von Bestrebungen nach SS 2 Abs. 2 noch zur steuernden Einflussnahme auf derartige Bestrebungen eingesetzt werden. Sie dürfen in Personenzusammenschlüssen oder für diese tätig werden, auch wenn dadurch ein Straftatbestand verwirklicht wird. Im Übrigen dürfen Verdeckte Mitarbeiterinnen und Verdeckte Mitarbeiter im Einsatz bei der Beteiligung an Bestrebungen solche Handlungen vornehmen, die 1. nicht in Individualrechte eingreifen, 2. von den an den Bestrebungen Beteiligten derart erwartet werden, dass sie zur Gewinnung und Sicherung der Informationszugänge unumgänglich sind, und 3. nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine Verdeckte Mitarbeiterin oder ein Verdeckter Mitarbeiter rechtswidrig einen Straftatbestand von erheblicher Bedeutung verwirklicht hat, wird ihr oder sein Einsatz unverzüglich beendet und die Strafverfolgungsbehörde unterrichtet. Über Ausnahmen von Satz 4 entscheidet die Behördenleitung oder ihre Vertretung. (9) Bei Einsätzen zur Erfüllung der Aufgabe nach SS 2 Abs. 2 Nr. 5 gilt SS 9a Abs. 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes entsprechend. (10) Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die verdeckt Informationen in sozialen Netzwerken und sonstigen Kommunikationsplattformen im Internet erheben, gelten Abs. 8 und 9 sowie SS 9a Abs. 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes entsprechend, auch wenn sie nicht unter einer auf Dauer angelegten Legende tätig werden. SS13 VERTRAUENSLEUTE (1) Für den Einsatz von Privatpersonen, deren planmäßige, dauerhafte Zusammenarbeit mit dem Landesamt Dritten nicht bekannt ist (Vertrauensleute), gilt SS 12 Abs. 1 bis 9 entsprechend. Vor der Weitergabe von Informationen an die VP-Führung haben Vertrauensleute selbst zu prüfen, ob durch die Informationen oder die Art und Weise, in der sie erlangt wurden, Erkenntnissen im Sinne von SS 12 Abs. 4 Satz 1 berührt sind. Die VP-Führung hat die gewonnenen Informationen auf Erkenntnisse im Sinne von SS 12 Abs. 4 Satz 1 überprüfen, bevor sie zur Verwertung weitergegeben werden. (2) Über die Verpflichtung von Vertrauensleuten entscheidet die Behördenleitung oder ihre Vertretung. Vertrauensleute müssen nach ihren persönlichen und charakterlichen Voraussetzungen für die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 373 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ geeignet sein. Diese Eignung ist fortlaufend durch das Landesamt zu überprüfen. Als Vertrauensleute dürfen Personen nicht angeworben und eingesetzt werden, die 1. nicht voll geschäftsfähig, insbesondere minderjährig sind, 2. von den Geldoder Sachzuwendungen für die Tätigkeit auf Dauer als alleinige Lebensgrundlage abhängen würden, 3. an einem Aussteigerprogramm teilnehmen, 4. Mitglied des Europäischen Parlaments, des Deutschen Bundestages, eines Landesparlaments oder Mitarbeiterin oder Mitarbeiter eines solchen Mitglieds sind oder 5. im Bundeszentralregister mit einer Verurteilung wegen eines Verbrechens oder zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, eingetragen sind. Die Behördenleitung oder ihre Vertretung kann eine Ausnahme von Satz 4 Nr. 5 zulassen, wenn die Verurteilung nicht als Täter eines Totschlags (SSSS 212, 213 des Strafgesetzbuchs in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert durch Gesetz vom 4. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2146) oder einer allein mit lebenslanger Haft bedrohten Straftat erfolgt ist und der Einsatz zur Aufklärung von Bestrebungen unerlässlich ist, die auf die Begehung von in SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes oder SS 100b Abs. 2 der Strafprozessordnung bezeichneten Straftaten gerichtet sind. Im Falle einer Ausnahme nach Satz 5 ist der Einsatz nach höchstens sechs Monaten zu beenden, wenn er zur Erforschung der in Satz 5 genannten Bestrebungen nicht zureichend gewichtig beigetragen hat. Auch im Weiteren ist die Qualität der gelieferten Informationen fortlaufend zu bewerten. SS14 SCHRANKEN NACHRICHTENDIENSTLICHER MITTEL (1) Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat das Landesamt diejenige zu treffen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt. (2) Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. (3) Eine Maßnahme ist nur zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann. (4) Eine Maßnahme ist unzulässig, soweit tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass durch sie allein Erkenntnisse gewonnen werden würden 1. aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder 2. bei einer Rechtsanwältin, einem Rechtsanwalt, einem Kammerrechtsbeistand, einer der in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung genannten Person oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, über die der Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte. Erfolgen Maßnahmen bei einem der im Übrigen in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder 5 der Strafprozessordnung genannten Berufsgeheimnisträger oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, sind das öffentliche Interesse an den von dem Berufsgeheimnisträger wahrgenommenen Aufgaben und das Interesse an der Geheimhaltung der diesem anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen besonders zu berücksichtigen. Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 gelten nicht bei Maßnahmen zur Aufklärung von eigenen Bestrebungen oder Tätigkeiten der genannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. (5) Erfolgt während der Maßnahme eine unmittelbare Kenntnisnahme und ergeben sich tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne von Abs. 4 Satz 1, ist die Maßnahme un374 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ verzüglich zu unterbrechen, sobald dies ohne Gefährdung von Leib oder Leben oder Enttarnung eingesetzter Personen möglich ist. Unterbleibt ein Abbruch aufgrund einer Gefährdung nach Satz 1, sind die Tatsache des Eindringens in den Kernbereich privater Lebensgestaltung und die Umstände des Fortsetzens der Maßnahme zu dokumentieren. Die Dokumentation ist dem behördlichen Datenschutzbeauftragten zur unverzüglichen Entscheidung über die Verwertbarkeit und Löschung der Datenerhebung vorzulegen. Die Maßnahme darf fortgeführt werden, wenn keine Anhaltspunkte nach Abs. 4 Satz 1 mehr vorliegen. Soweit Erkenntnisse im Sinne von Abs. 4 Satz 1 durch eine Maßnahme erlangt worden sind, dürfen sie nicht verwendet werden und sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Dokumentation ist am Ende des Kalenderjahres, das der Protokollierung folgt, zu löschen. DRITTER TEIL Verarbeitung personenbezogener Daten SS15 GELTUNG DATENSCHUTZRECHTLICHER VORSCHRIFTEN Bei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 2 durch das Landesamt findet das Hessische Datenschutzund Informationsfreiheitsgesetz vom 3. Mai 2018 (GVBl. S. 82), zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. November 2021 (GVBl. S. 718), wie folgt Anwendung: 1. SS 1 Abs. 8, die SSSS 4, 14 Abs. 1 und 3, SS 19 sowie der Zweite Teil finden keine Anwendung, 2. die SSSS 41, 46 Abs. 1 bis 4 und die SSSS 47 bis 49, 57, 59, 78 und 79 sind entsprechend anzuwenden. SS16 SPEICHERUNG, BERICHTIGUNG, LÖSCHUNG UND VERARBEITUNGSEINSCHRÄNKUNG (1) Das Landesamt darf zur Erfüllung seiner Aufgaben personenbezogene Daten in Dateien speichern, verändern und nutzen, wenn 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen, 2. dies für die Erforschung und Bewertung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 erforderlich ist oder 3. das Landesamt nach SS 2 Abs. 3 tätig wird. Unterlagen, die nach Satz 1 gespeicherte Angaben belegen, dürfen auch gespeichert werden, wenn in ihnen weitere personenbezogene Daten Dritter enthalten sind. Eine Abfrage von Daten Dritter ist unzulässig. (2) Umfang und Dauer der Speicherung personenbezogener Daten sind auf das für die Aufgabenerfüllung des Landesamts erforderliche Maß zu beschränken. (3) Das Landesamt darf Daten über eine minderjährige Person unter 14 Jahren in Dateien und zu ihrer Person geführten Akten nur speichern, wenn tatsächliche AnhaltsHessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 375 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ punkte dafür bestehen, dass sie eine der in SS 3 Abs. 1 und 1a des Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. (4) In Dateien oder zu ihrer Person geführten Akten gespeicherte Daten über eine minderjährige Person sind nach zwei Jahren auf die Erforderlichkeit der Speicherung zu überprüfen und spätestens nach fünf Jahren zu löschen, es sei denn, dass nach Eintritt der Volljährigkeit weitere Erkenntnisse angefallen sind, die eine Fortdauer der Speicherung rechtfertigen. Nicht erforderliche Daten sind zu löschen. (5) Personenbezogene Daten, die erhoben worden sind, um zu prüfen, ob Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen, dürfen in Dateien erst gespeichert werden, wenn sich tatsächliche Anhaltspunkte für derartige Bestrebungen oder Tätigkeiten ergeben haben. Bis zu diesem Zeitpunkt dürfen auch keine zur Person geführten Akten angelegt werden. (6) Unrichtige personenbezogene Daten sind zu berichtigen. Wird bei personenbezogenen Daten in Akten festgestellt, dass sie unrichtig sind, oder wird ihre Richtigkeit von der betroffenen Person bestritten, so ist dies zu vermerken oder auf sonstige Weise festzuhalten. (7) Das Landesamt prüft bei der Einzelfallbearbeitung und im Übrigen nach von ihm festgesetzten angemessenen Fristen, spätestens jedoch nach fünf Jahren, ob gespeicherte personenbezogene Daten zur Aufgabenerfüllung noch erforderlich sind; wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine Person eine der in SS 3 Abs. 1 und 1a des Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat, erfolgt die Prüfung in der Regel erst nach zehn Jahren. Gespeicherte personenbezogene Daten über Bestrebungen nach SS 2 Abs. 2 Nr. 1 und 3 bis 5 sind spätestens 15 Jahre nach dem Zeitpunkt der letzten gespeicherten relevanten Information zu löschen, es sei denn, die Behördenleitung trifft im Einzelfall ausnahmsweise eine andere Entscheidung. Enthalten Sachakten oder Akten zu anderen Personen personenbezogene Daten, die nach Satz 2 zu löschen sind, dürfen sie nicht mehr verwendet werden. Soweit Daten automatisiert verarbeitet oder Akten automatisiert erschlossen werden, ist auf den Ablauf der Fristen nach Satz 1 und 2 hinzuweisen. Nicht erforderliche Daten sind zu löschen. (8) Personenbezogene Daten sind nicht zu löschen, sondern nur in der Verarbeitung einzuschränken, wenn 1. Grund zu der Annahme besteht, dass schutzwürdige Belange der betroffenen Person beeinträchtigt würden, 2. die Daten zur Behebung einer bestehenden Beweisnot unerlässlich sind oder 3. die Verwendung der Daten zu wissenschaftlichen Zwecken erforderlich ist. In den Fällen des Satz 1 Nr. 3 sind die Daten zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu anonymisieren. (9) Die Verpflichtung nach SS 4 Abs. 1 und 2 des Hessischen Archivgesetzes vom 13. Oktober 2022 (GVBl. S. 493) bleibt unberührt. (10) Akten oder Auszüge aus Akten dürfen auch in elektronischer Form geführt werden. Insoweit kommen die Regelungen zu personenbezogenen Daten in Akten zur Anwendung. Eine Abfrage personenbezogener Daten mittels automatisierter Verarbeitung ist insoweit nur zulässig, wenn die Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder 2 vorliegen. Der automatisierte Abgleich dieser personenbezogenen Daten ist nur beschränkt auf Akten eng umgrenzter Anwendungsgebiete zulässig. Bei jeder Abfrage sind für Zwecke der Datenschutzkontrolle der Zeitpunkt, die Angaben, die die Feststellung der abgefragten Daten ermöglichen, sowie Angaben zur Feststellung des Abfragenden zu protokollieren. Die protokollierten Daten dürfen nur für Zwecke der Datenschutzkontrolle, der Datensicherung oder zur Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Betriebs der Datenverarbeitungsanlage verwendet werden. Die Protokolldaten sind am Ende des Kalenderjahres, das der Protokollierung folgt, zu löschen. (11) Zum Zweck der gegenseitigen Information über den Einsatz von Vertrauenspersonen darf das Landesamt zusammen mit den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der anderen Länder eine Übersicht als gemeinsame Datei führen. Die Übersicht 376 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ kann Angaben über wesentliche Eigenschaften der Vertrauenspersonen und deren Einsatzbereiche enthalten. Das Landesamt und das Hessische Landeskriminalamt koordinieren den jeweiligen Einsatz von Vertrauenspersonen; Näheres regeln gemeinsame Richtlinien. SS17 ZWECKBINDUNG (1) Das Landesamt darf personenbezogene Daten auch über den für die Datenerhebung maßgebenden Anlass hinaus zum Zweck der Aufgabenerfüllung des Verfassungsschutzes im Sinne des SS 2 nutzen. Die Übermittlung personenbezogener Daten an eine andere Stelle stellt eine Nutzung für andere Zwecke dar und ist nur nach Maßgabe der SSSS 20 bis 24 zulässig. (2) Personenbezogene Daten dürfen auch zur Ausübung von Aufsichtsund Kontrollbefugnissen übermittelt und in dem dafür erforderlichen Umfang verwendet werden. SS18 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH ÖFFENTLICHE STELLEN AN DAS LANDESAMT (1) Die Behörden, Gerichte hinsichtlich der dort geführten Register, sonstigen öffentlichen Stellen des Landes Hessen sowie die Gemeinden, Gemeindeverbände und sonstigen der Aufsicht des Landes Hessen unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts haben dem Landesamt die ihnen bei Erfüllung ihrer Aufgaben bekanntgewordenen Informationen einschließlich personenbezogener Daten auch ohne vorheriges Ersuchen des Landesamts zu übermitteln, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Informationen für die Erfüllung der Aufgaben des Landesamts erforderlich sein können. SS 18 Abs. 1a und 1b des Bundesverfassungsschutzgesetzes bleibt unberührt. Die Übermittlung kann auch durch Einsichtnahme des Landesamts in Akten und Dateien der jeweiligen öffentlichen Stelle erfolgen, soweit die Übermittlung in sonstiger Weise den Zweck der Maßnahme gefährden oder einen übermäßigen Aufwand erfordern würde. Über die Einsichtnahme in amtlich geführte Dateien führt das Landesamt einen Nachweis, aus dem der Zweck und die eingesehene Datei hervorgehen; die Nachweise sind gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr ihrer Erstellung folgt, zu löschen. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 übermitteln die Staatsanwaltschaften außerdem Anklageschriften und Urteile. (2) Das Landesamt überprüft die übermittelten Informationen nach ihrem Eingang unverzüglich darauf, ob sie für die Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich sind. Ergibt die Prüfung, dass die Informationen nicht erforderlich sind, werden sie unverzüglich gelöscht. Die Löschung kann unterbleiben, wenn die Trennung von anderen Informationen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand erfolgen kann; in diesem Fall dürfen die nicht erforderlichen Informationen nicht verwendet werden. (3) Die Übermittlung personenbezogener Daten nach Abs. 1, die aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a der Strafprozessordnung bekannt geworden sind, ist nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass jemand eine der in SS 3 Abs. 1 und 1a des Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. Auf die dem Landesamt nach Satz 1 übermittelten Kenntnisse und Unterlagen findet SS 4 Abs. 1 und 4 bis 6 des Artikel 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. (4) Die in Abs. 1 genannten Stellen sind zur Übermittlung verpflichtet, wenn im Einzelfall ein Ersuchen des Landesamts nach SS 4 Abs. 3 vorliegt. Hält die ersuchte Stelle das Verlangen nach Auskunft oder Einsichtnahme nach SS 4 Abs. 3 nicht für rechtmäßig, so teilt sie dies dem Landesamt mit. Besteht dieses auf dem Verlangen nach Auskunft oder Einsichtnahme, so entscheidet die für die ersuchte Stelle zuständige oberste Aufsichtsbehörde, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 377 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ SS19 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LAN DESAMT AN ÜBERGEORDNETE BEHÖRDEN UND AUF KLÄRUNG DER ÖFFENTLICHKEIT (1) Das Landesamt unterrichtet die Ministerien und die Staatskanzlei über Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür, die für deren Zuständigkeitsbereich von Bedeutung sind. Dabei dürfen auch personenbezogene Daten übermittelt werden. (2) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium und das Landesamt dürfen personenbezogene Daten zum Zweck der Aufklärung der Öffentlichkeit über Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür öffentlich bekanntgeben, wenn die Bekanntgabe für das Verständnis des Zusammenhangs oder der Darstellung von Organisationen erforderlich ist und das Allgemeininteresse das schutzwürdige Interesse der betroffenen Person überwiegt. SS19a ÜBERMITTLUNG PERSONENBEZOGENER DATEN DURCH DAS LANDESAMT AN ANDERE STELLEN (1) Eine Übermittlung personenbezogener Daten durch das Landesamt an eine andere Stelle ist nur zulässig, soweit die Übermittlung der betreffenden Daten zur Erfüllung der Aufgaben der betreffenden Stelle im Einzelfall geboten ist und SS 23 nicht entgegensteht. (2) Die Übermittlung mit nachrichtendienstlichen Mitteln ersterhobener personenbezogener Daten an öffentliche Stellen ist darüber hinaus nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen der SSSS 20 bis 20c zulässig. Die Übermittlung personenbezogener Daten an ausländische öffentliche Stellen und an Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs ist nur nach Maßgabe der SSSS 21 und 22 zulässig. (3) Soweit personenbezogene Daten übermittelt werden, die mit Maßnahmen nach SS 6 bzw. SSSS 7, 8 gewonnen wurden, richtet sich die Übermittlung an andere Stellen nach SS 4 Abs. 4 des Artikel-10-Gesetzes bzw. SS 8 Abs. 6, wobei eine Übermittlung nach SS 4 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 des Artikel-10 Gesetzes nur zulässig ist, wenn die fraglichen Daten auch nach SSSS 20 oder 20a übermittelt werden dürften. (4) Der Empfänger darf die Informationen nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt worden sind. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung hinzuweisen. (5) Zur Übermittlung ist auch das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium befugt. (6) Jede Übermittlung mit nachrichtendienstlichen Mitteln ersterhobener personenbezogener Daten an andere Stellen ist unter Nennung der der Übermittlung zugrunde gelegten Rechtsvorschrift zu protokollieren. SS20 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDESAMT AN POLIZEIBEHÖRDEN SOWIE ZUM EINSATZ OPERATIVER ZWANGSBEFUGNISSE Das Landesamt darf mit nachrichtendienstlichen Mitteln ersterhobene personenbezogene Daten an Polizeibehörden übermitteln, soweit dies erforderlich ist zur Abwehr einer wenigstens konkretisierten Gefahr für 1. die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes, 2. den Bestand oder die Sicherheit anderer Staaten oder internationaler Organisationen, denen Deutschland angehört, oder das friedliche Zusammenleben der Völker, 378 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ 3. Menschenwürde, Leib, Leben, Gesundheit, sexuelle Selbstbestimmung oder Freiheit einer Person oder 4. Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im besonderen öffentlichen Interesse geboten ist. Satz 1 gilt auch für die Übermittlung an sonstige Gefahrenabwehrbehörden, wenn sie den Einsatz operativer Zwangsbefugnisse ermöglichen soll. SS20a INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDESAMT AN STRAFVERFOLGUNGSBEHÖRDEN Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, dass jemand eine besonders schwere Straftat begangen (SS 25 des Strafgesetzbuchs), an der Begehung teilgenommen (SSSS 26, 27 des Strafgesetzbuchs) oder die Beteiligung versucht (SSSS 22, 23, 30 des Strafgesetzbuchs) hat, darf die Verfassungsschutzbehörde mit nachrichtendienstlichen Mitteln ersterhobene personenbezogene Daten an die Strafverfolgungsbehörden übermitteln, soweit dies zur Verfolgung der Tat erforderlich ist. Besonders schwere Straftaten sind solche, die mit einer Höchststrafe bedroht sind von mindestens a) zehn Jahren Freiheitsstrafe oder b) fünf Jahren Freiheitsstrafe, wenn sie im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer beobachtungsbedürftigen Bestrebung i. S. d. SS 2 Abs. 2 Nr. 1, 3, 4 oder 5 oder in Ausübung einer beobachtungsbedürftigen Tätigkeit i. S. d. SS 2 Abs. 2 Nr. 2 begangen werden. Besonders schwere Straftaten sind ferner sonstige gegen Leib, Leben, Gesundheit, sexuelle Selbstbestimmung, Freiheit oder Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im besonderen öffentlichen Interesse geboten ist, gerichtete Straftaten, soweit im Einzelfall tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Tatentschluss auf einem rassistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggrund oder Ziel beruht, und die Tat geeignet ist, 1. Personen zu instrumentalisieren, indem ihnen wiederkehrend oder in beträchtlichem Ausmaß körperliches oder seelisches Leid oder wirtschaftlicher Schaden zugefügt wird, 2. Personen von der Teilhabe an der demokratischen Willensbildung auszuschließen oder nachhaltig zu hindern oder 3. das Vertrauen von Teilen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts zu erschüttern. SS20b INFORMATIONSÜBERMITTLUNG AN SONSTIGE INLÄNDISCHE ÖFFENTLICHE STELLEN (1) Das Landesamt darf mit nachrichtendienstlichen Mitteln ersterhobene personenbezogene Daten an sonstige inländische öffentliche Stellen übermitteln, wenn eine gesetzliche Regelung, die den Schutz eines der in SS 20 genannten Rechtsgüter bezweckt, eine Mitwirkung des Landesamts vorsieht und die Datenübermittlung im Einzelfall erforderlich ist 1. zur Überprüfung der Zuverlässigkeit der betroffenen Person a) im Rahmen eines Erlaubniserteilungsverfahrens auf Ersuchen der überprüfenden Stelle oder b) zur Erfüllung einer gesetzlichen Nachberichtspflicht, wenn dem Landesamt im Nachhinein Informationen bekannt werden, die für die Beurteilung der Zuverlässigkeit der betreffenden Person von Bedeutung sind, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 379 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ 2. zur Prüfung der Frage, ob von der betroffenen Person oder Organisation eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, oder ob gegen diese Person oder Organisation sonstige Sicherheitsbedenken bestehen, a) auf Ersuchen der überprüfenden Stelle oder b) zur Erfüllung einer gesetzlichen Unterrichtungspflicht, wenn nachträglich sicherheitserhebliche Erkenntnisse über die überprüfte Person bekannt werden. (2) Das Landesamt darf von sich aus mit nachrichtendienstlichen Mitteln ersterhobene personenbezogene Daten an sonstige inländische öffentliche Stellen zum Schutz eines der in SS 20 genannten Rechtsgüter übermitteln, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dies im Einzelfall zur Erfüllung der Aufgaben des Empfängers erforderlich ist. (3) Das Landesamt darf mit nachrichtendienstlichen Mitteln ersterhobene personenbezogene Daten an Vereinsverbotsbehörden im Sinne des SS 3 Abs. 2 des Vereinsgesetzes vom 5. August 1964 (BGBl. I S. 593), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. November 2020 (BGBl. I S. 2600), übermitteln, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Informationsübermittlung zur Vorbereitung oder Durchführung einer Maßnahme nach SS 3 Abs. 1 Satz 1 des Vereinsgesetzes im Einzelfall erforderlich ist. SS20c INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LAN DESAMT AN ÖFFENTLICHE STELLEN ZU ARBEITS UND DIENSTRECHTLICHEN ZWECKEN (1) Das Landesamt darf mit nachrichtendienstlichen Mitteln ersterhobene personenbezogene Daten für Zwecke dienstoder arbeitsrechtlicher Maßnahmen an personalführende öffentliche Stellen übermitteln, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die betroffene Person Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 verfolgt oder unterstützt. (2) Das Landesamt darf darüber hinaus mit nachrichtendienstlichen Mitteln ersterhobene personenbezogene Daten an personalführende öffentliche Stellen übermitteln zum Zwecke der Überprüfung der Verfassungstreue von Personen, die sich um Einstellung in den öffentlichen Dienst bewerben in den Fällen des SS 13a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Januar 2005 (GVBl. I S. 14), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29. Juni 2023 (GVBl. S. 456). SS21 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDESAMT AN AUSLÄNDISCHE ÖFFENTLICHE STELLEN (1) Das Landesamt darf personenbezogene Daten an ausländische öffentliche Stellen sowie an überund zwischenstaatliche Stellen übermitteln, wenn die Übermittlung im Einzelfall zur Wahrung erheblicher Sicherheitsinteressen des Empfängers erforderlich ist. Sind die Daten mit nachrichtendienstlichen Mitteln ersterhoben worden, sind die SSSS 20 bis 20b entsprechend anzuwenden. Die Übermittlung unterbleibt, wenn erkennbar ist, dass 1. auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland oder 2. überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen entgegenstehen, insbesondere, wenn hierdurch Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder sonstige elementare Menschenrechte gefährdet würden oder Verletzungen von elementaren rechtsstaatlichen Grundsätzen drohen oder 380 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ 3. im Einzelfall ein datenschutzrechtlich angemessener Umgang mit den Daten beim Empfänger nicht hinreichend gesichert ist. Bei der Prüfung, ob eine Übermittlung zu unterbleiben hat, berücksichtigt das Landesamt insbesondere den bisherigen Umgang des Empfängers mit übermittelten Daten. (2) Der Empfänger darf die Informationen nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt worden sind. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt sich vorbehält, Auskunft über die Verwendung der Daten zu verlangen. Das Landesamt kann bei der Übermittlung ausschließen, dass die übermittelten Informationen für die Anwendung operativer Befugnisse genutzt werden. SS22 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDESAMT AN STELLEN AUSSERHALB DES ÖFFENTLICHEN BEREICHS (1) Das Landesamt darf personenbezogene Daten an Personen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs nicht übermitteln, es sei denn, dass dies zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Gewährleistung der Sicherheit von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen im Einzelfall erforderlich ist und das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium im Einzelfall seine Zustimmung erteilt hat. Das Landesamt führt über die Auskunft nach Satz 1 einen Nachweis, aus dem der Zweck der Übermittlung, die Fundstelle und der Empfänger hervorgehen; die Nachweise sind gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. Der Empfänger darf die übermittelten personenbezogenen Daten nur für den Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt wurden. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt sich vorbehält, Auskunft über die Verwendung der Daten zu verlangen. Satz 1 bis 4 finden keine Anwendung, wenn personenbezogene Daten zum Zwecke von Datenerhebungen nach SS 4 übermittelt werden. (2) Der Empfänger darf die Informationen nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt worden sind. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt sich vorbehält, Auskunft über die Verwendung der Daten zu verlangen. SS23 ÜBERMITTLUNGSVERBOTE Die Übermittlung von Informationen nach diesem Teil unterbleibt, wenn 1. erkennbar ist, dass unter Berücksichtigung der Art der Informationen und ihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen der betroffenen Person das Interesse der Allgemeinheit oder des Empfängers an der Übermittlung überwiegen, 2. überwiegende Sicherheitsinteressen, insbesondere Gründe des Quellenschutzes oder des Schutzes operativer Maßnahmen, dies erfordern oder 3. besondere gesetzliche Regelungen entgegenstehen; die Verpflichtung zur Wahrung gesetzlicher Geheimhaltungspflichten oder von Berufsoder besonderen Amtsgeheimnissen, die nicht auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, bleibt unberührt. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 381 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ SS24 MINDERJÄHRIGENSCHUTZ (1) Personenbezogene Daten minderjähriger Personen dürfen nach den Vorschriften dieses Gesetzes übermittelt werden, solange die Voraussetzungen ihrer Speicherung nach SS 16 Abs. 3 erfüllt sind. Liegen diese Voraussetzungen nicht mehr vor, bleibt eine Übermittlung nur zulässig, wenn sie zur Abwehr einer erheblichen Gefahr oder zur Verfolgung einer der in SS 100a der Strafprozessordnung genannten Straftaten erforderlich ist. (2) Personenbezogene Daten minderjähriger Personen dürfen nach den Vorschriften dieses Gesetzes nicht an ausländische oder überoder zwischenstaatliche Stellen übermittelt werden. SS25 NACHBERICHTSPFLICHT Erweisen sich personenbezogene Daten nach ihrer Übermittlung nach den Vorschriften dieses Gesetzes als unvollständig oder unrichtig, sind sie unverzüglich gegenüber dem Empfänger zu berichtigen, wenn dies zu einer anderen Bewertung der Daten führen könnte oder zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der betroffenen Person erforderlich ist. SS26 AUSKUNFT (1) Das Landesamt erteilt der betroffenen Person über zu ihrer oder seiner Person gespeicherte Daten auf Antrag unentgeltlich Auskunft, soweit die betroffene Person hierzu ein besonderes Interesse an einer Auskunft darlegt. Legt die betroffene Person nach Aufforderung ein besonderes Interesse nicht dar, entscheidet das Landesamt nach pflichtgemäßem Ermessen. Die Auskunft erstreckt sich nicht auf 1. die Herkunft der Daten und die Empfänger von Übermittlungen und 2. Daten, die nicht strukturiert in automatisierten Dateien gespeichert sind, es sei denn, die betroffene Person macht Angaben, die das Auffinden der Daten ermöglichen, und der für die Erteilung der Auskunft erforderliche Aufwand steht nicht außer Verhältnis zu dem von der betroffenen Person dargelegten Auskunftsinteresse. Das Landesamt bestimmt das Verfahren, insbesondere die Form der Auskunftserteilung, nach pflichtgemäßem Ermessen. (2) Die Auskunftserteilung unterbleibt, soweit durch sie 1. eine Gefährdung der Erfüllung der Aufgaben zu besorgen ist, 2. Nachrichtenzugänge gefährdet sein können oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise des Landesamts zu befürchten ist, 3. die öffentliche Sicherheit gefährdet oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes ein Nachteil bereitet würde oder 4. Daten oder die Tatsache ihrer Speicherung preisgegeben werden, die nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, insbesondere wegen der überwiegenden berechtigten Interessen eines Dritten, geheim gehalten werden müssen. Die Entscheidung trifft die Behördenleitung oder eine von ihr besonders beauftragte Mitarbeiterin oder ein von ihr besonders beauftragter Mitarbeiter. (3) Die Ablehnung der Auskunftserteilung bedarf keiner Begründung. Sie enthält einen Hinweis auf die Rechtsgrundlage für das Fehlen der Begründung und darauf, dass sich die betroffene Person an die Hessische Datenschutzbeauftragte oder den Hessischen Datenschutzbeauftragten wenden kann. Mitteilungen der oder des Hessischen 382 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 HESSISCHES VERFASSUNGSSCHUTZGESETZ Datenschutzbeauftragten an die betroffene Person dürfen ohne Zustimmung des Landesamts keine Rückschlüsse auf den Kenntnisstand des Landesamts zulassen. SS27 DATEIANORDNUNGEN (1) Für den erstmaligen Einsatz einer automatisierten Datei nach SS 16 trifft das Landesamt in einer Dateianordnung, die der Zustimmung des für den Verfassungsschutz zuständigen Ministeriums bedarf, die in SS 14 Abs. 1 Satz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes genannten Festlegungen. Die oder der Hessische Datenschutzbeauftragte ist vor Erlass einer Dateianordnung anzuhören. Das Gleiche gilt für wesentliche Änderungen von Dateianordnungen. Das Landesamt führt ein Verzeichnis der geltenden Dateianordnungen. (2) Das Landesamt hat in angemessenen Abständen die Notwendigkeit der Weiterführung oder Änderung der Dateien zu überprüfen. (3) Ist im Hinblick auf die Dringlichkeit der Aufgabenerfüllung die vorherige Mitwirkung der in Abs. 1 genannten Stellen nicht möglich, so kann das Landesamt eine Sofortanordnung treffen. Das Verfahren nach Abs. 1 ist unverzüglich nachzuholen. VIERTER TEIL Schlussvorschriften SS28 EINSCHRÄNKUNG VON GRUNDRECHTEN Aufgrund dieses Gesetzes können die Grundrechte auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes, Art. 14 Abs. 1 der Verfassung des Landes Hessen), Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 des Grundgesetzes, Art. 12 der Verfassung des Landes Hessen) und Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes, Art. 8 der Verfassung des Landes Hessen) eingeschränkt werden. SS29 AUFHEBUNG BISHERIGEN RECHTS Das Gesetz über das Landesamt für Verfassungsschutz vom 19. Dezember 1990 (GVBl. I S. 753), zuletzt geändert durch Gesetz vom 3. Mai 2018 (GVBl. S. 82), wird mit Ausnahme der SSSS 20 bis 22 aufgehoben; die SSSS 20 bis 22 werden mit Ablauf des 17. Januar 2019 aufgehoben. SS30 INKRAFTTRETEN Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.1) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 - 383 IMPRESSUM Herausgeber Hessisches Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz Friedrich-Ebert-Allee 12 65185 Wiesbaden Redaktionsschluss: 14. Juni 2024 Gestaltungskonzept & Artwork Nina Faber de.sign, Wiesbaden Bildnachweise S. 5: (c) HMdIS | S. 9 +13: (c) Landesamt für Verfassungsschutz Hessen, Wiesbaden | S. 40: (c) picture alliance/Arne Dedert, (c) picture alliance/Andreas Arnold, (c) picture alliance/Markus Scholz, (c) picture alliance/Arne | Dedert, (c) picture alliance/Andrea DiCenzo, (c) picture alliance/Boris Roessler | S. 66: (c) picture alliance/Markus Scholz | S. 143: (c) picture alliance/Patrick Seege | S. 155: (c) Pixabay/InstagramFOTOGRAFIN | S. 161: (c) picture alliance/Arne Dedert | S. 191: (c) picture alliance/Andrea DiCenzo, (c) picture alliance/Boris Roessler | S. 241: (c) picture alliance/Andreas Arnold | S. 260: stock.adobe.com | S. 273: (c) picture alliance/Boris Roessler | S. 277: (c) picture alliance/Ulrich Baumgarten | S. 287: (c) picture alliance/Matthias Balk | S. 193: (c) picture alliance/Thoralf Plath, (c) picture alliance/Jochen Zick, (c) picture alliance/Andreas Arnold, (c) picture alliance/Julian Stratenschulte Kontakt Landesamt für Verfassungsschutz Hessen Konrad-Adenauer-Ring 49 65187 Wiesbaden Tel.: 0611-7200 Fax: 0611-7201139 Internet: www.verfassungsschutz.hessen.de Druck AC Medienhaus GmbH, Wiesbaden FSC - zertifiziertes Papier Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Hessischen Landesregierung herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zweck der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Landtags-, Bundestagsund Kommunalwahlen sowie Wahlen zum Europaparlament. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl darf die Druckschrift nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der Landesregierung zugunsten einzelner Gruppen verstanden werden könnte. Die genannten Beschränkungen gelten unabhängig davon, wann, auf welche Weise und in welcher Anzahl diese Druckschrift dem Empfänger zugegangen ist. Den Parteien ist es jedoch gestattet, die Druckschrift zur Unterrichtung ihrer einzelnen Mitglieder zu verwenden. 384 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2023 Hessisches Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz Friedrich-Ebert-Allee 12 65185 Wiesbaden www.hessen.de