Hessisches Ministerium des Innern und für Sport VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Bericht 2022 Hessisches Ministerium des Innern und für Sport VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Bericht 2022 INHALTSVERZEICHNIS ZU DIESEM BERICHT 5 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN 13 Freiheitliche demokratische Grundordnung 14 Aufgaben, Befugnisse, Mitwirkungsaufgaben 15 Methoden 17 Kontrolle 18 Strukturen, Organisation, Haushalt 20 Wesentliche institutionelle Elemente der Sicherheitsarchitektur auf Bundesebene und in Hessen 23 Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit 27 EXTREMISMUS IN HESSEN - EIN ÜBERBLICK 39 Wesentliche Eckpunkte 40 Rechtsextremismus 42 Reichsbürger und Selbstverwalter 53 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 54 Linksextremismus 55 Islamismus 60 Extremismus mit Auslandsbezug 64 Organisierte Kriminalität (OK) 67 Spionageund Cyberabwehr/Wirtschaftsschutz 68 RECHTSEXTREMISMUS 71 Merkmale 72 Rechtsextremistisches Personenpotenzial 72 Rechtsterrorismus und schwere Gewaltstraftaten 74 Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen 77 Sonstige parteiunabhängige Strukturen 95 Lose strukturierter Rechtsextremismus 100 Parteigebundene Strukturen bzw. Parteien 115 "Heißer Herbst": "Strukturaufbau, Community-Organizing" statt "Aufständen, Revolten oder anderen Tag-X-Szenarien" 143 Kommunikationsstrategien von Rechtsextremisten 147 Flüchtlinge im Visier von Rechtsextremisten 149 Rechtsextremistische Strafund Gewalttaten 152 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER 155 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 167 2- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 INHALTSVERZEICHNIS LINKSEXTREMISMUS 175 Merkmale 176 Linksextremistisches Personenpotenzial 178 Autonome und Anarchisten 179 Sonstige Beobachtungsobjekte 198 Linksextremistische Strafund Gewalttaten 204 ISLAMISMUS 205 Merkmale 206 Islamistisches Personenpotenzial 210 Salafismus 211 Legalistischer Islamismus 229 Sonstige Beobachtungsobjekte 257 Islamistische Strafund Gewalttaten 262 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG 265 Merkmale 266 Extremistisches Personenpotenzial mit Auslandsbezug 267 Kurdischer Extremismus 268 Türkischer Linksextremismus 281 Extremistische Strafund Gewalttaten mit Auslandsbezug 291 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT 293 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ 297 GEHEIMSCHUTZ 307 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV 313 ANHANG 319 Abkürzungsverzeichnis 320 Glossar 330 Extremistische Organisationen und Gruppierungen 368 Register 371 Gesetz zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen 381 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 -3 ZU DIESEM BERICHT 4- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ZU DIESEM BERICHT Liebe Bürgerinnen und Bürger, unsere freiheitliche demokratische Grundordnung wird nach wie vor von einem breiten demokratischen Konsens getragen. Wie der vorliegende Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Hessen für das Jahr 2022 zeigt, sieht sich unsere Demokratie aber einer Vielzahl von inneren und äußeren Bedrohungen gegenüber, über die der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem unserer Demokratie informiert. Die vorliegenden Informationen dieses Berichts sollen den Bürgerinnen und Bürgern wie auch öffentlichen Stellen dazu dienen, bestmöglich verfassungsfeindliche Bestrebungen als solche erkennen zu können. Der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 stellte eine Zäsur dar. Die russische Aggression hat den äußeren Druck auf unsere Demokratie erhöht. Seine bereits vor der militärischen Aggression gegen den "Westen" gerichteten Einflussnahmeund Destabilisierungs- / kampagnen treibt Russland energischer denn je voran. Nach wie vor richten russische Akteure Spionageoperationen und Cyberangriffe gegen Stellen in Staat, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Militär in Deutschland. Der Trend, dass staatlich gesteuerte Cyberangriffe und Cyberkriminalität verschwimmen, setzte sich fort. Ebenso verbreiten russische Akteure vor allem über digitale Kommunikationswege Desinformationen. Gezielt wird versucht, Stimmung - meist mittelbar gegen das demokratische System - zu machen und bestehende gesellschaftliche Spannungen zum Zweck der Spaltung unserer Gesellschaft zu verstärken. Teilweise ist eine beunruhigende Wechselwirkung zwischen russischen und "antiwestlichen" innerdeutschen Akteuren bzw. Positionen entstanden. In der Summe hielt die von Russland ausgehende hybride Bedrohung - auch in den Bereichen Propaganda und Desinformation - an. Der Berichtszeitraum 2022 war teilweise noch geprägt von der CoronaPandemie und ihren Auswirkungen. Es zeigte sich dabei, dass kleine Teile der Gesellschaft unseren demokratischen Grundkonsens verlassen haben. Die Akteure einte die Kritik an und die gemeinsame Agitation gegen die Institutionen unseres Staates und seiner Repräsentanten, um die Legitimität unserer demokratischen Verfasstheit systematisch zu untergraben. Der "Corona-Protest", der sich vor allem im Internet und in sozialen Medien abspielte, hält mit anderen Inhalten bis zum heutigen Tag an. Der Verfassungsschutz fasst dies im Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zusammen. Der Rechtsextremismus ist unvermindert die größte Gefahr für unsere Demokratie. Neben dem Blick auf die - in allen extremistischen Phänomenbereichen virulente - Gewaltorientierung will die Neue Rechte Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 -5 ZU DIESEM BERICHT die "Grenzen des Sagbaren" verschieben und so rechtsextremistische Thesen schleichend salonfähig machen. Im Berichtsjahr stieg das rechtsextremistische Personenpotenzial um 20 Personen gegenüber dem Vorjahr auf 1.730 an. Das LfV Hessen beobachtet sehr intensiv die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter, deren Personenpotenzial sich im vergangenen Jahr um zehn Prozent auf 1.100 Personen erhöht hat. Ende vergangenen Jahres gingen die Sicherheitsbehörden in Hessen und im ganzen Bundesgebiet in einer konzertierten Aktion mit Erfolg gegen mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer einer Reichsbürgergruppierung vor, die per Staatsstreich gewaltsam die Macht an sich reißen wollte. Es ist mitunter das Verdienst des LfV Hessen und dessen guter Zusammenarbeit mit dem Hessischen Landeskriminalamt, dass letztlich nahezu im gesamten Bundesgebiet gegen mutmaßlich miteinander vernetzte Reichsbürger und Demokratiefeinde vorgegangen werden konnte. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LfV Hessen und des Hessischen Landeskriminalamts hatten das richtige Gespür und sind drangeblieben: Sie waren es, die erste Erkenntnisse zu der Gruppierung weiter aufgeklärt und verdichtet haben. In der Folge haben sie ihre Erkenntnisse zielgerichtet mit den Partnerbehörden in Bund und Ländern geteilt. So konnte ein Gesamtbild des mutmaßlichen Netzwerks herausgearbeitet werden und das wohl bundesweit größte Ermittlungsverfahren im Bereich der politisch motivierten Kriminalität der jüngeren Vergangenheit entstehen. Dies zeigt, dass unsere Sicherheitsbehörden Gefahren frühzeitig erkennen und diese erfolgreich abwenden können. Außerdem belegt der Schlag gegen die Reichsbürgergruppierung: Unsere Demokratie ist wehrhaft. Auch wenn die Anzahl der Salafisten und Islamisten in Hessen im vergangenen Jahr leicht zurückging, wird die Gefahr eines jihadistischen Terroranschlags in Europa und somit auch in Deutschland weiterhin als unvermindert hoch eingeschätzt. Vor allem allein handelnde Täter stellten die Sicherheitsbehörden wie in der Vergangenheit vor große Herausforderungen, weil sie unvermittelt, spontan und ohne vorhergehende Kommunikation mit jihadistischen Netzwerken Anschlagsvorhaben umsetzen könnten. Belege für die weiterhin virulente Gefahr, die von jihadistischen Salafisten ausgeht, sind die auch im Jahr 2022 zahlreich erfolgten Exekutivmaßnahmen und Verurteilungen in dem Bereich. Als weiterer Aufgabenschwerpunkt des vergangenen Jahres kristallisierte sich die zunehmende Gewaltorientierung in der linksextremistischen Szene heraus. Grund hierfür ist etwa die in der linksextremistischen Szene wahrgenommene angebliche Notwendigkeit, den Kampf gegen Rechtsextremisten zu intensivieren. In Hessen gab es "antiimperialistisch" orientierte Gruppierungen, bei deren Anhängern ebenfalls teilweise ein Anwachsen der Gewaltorientierung erkennbar war. Die 6- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ZU DIESEM BERICHT Aktivitäten der autonomen und der anarchistischen Szene in Hessen nahmen im Vergleich zum Vorjahr weiter zu. Die von Linksextremisten gestellte "Systemfrage" verlagerte sich von pandemiebedingten Gesundheitsthemen auf Anliegen der Klimaund Umweltschutzbewegung. Die beispielhaften Entwicklungen zeigen: Unsere Demokratie ist nicht unverwundbar. In einer Zeit, in der unsere Demokratie sowohl von innen als auch von außen herausgefordert wird wie selten zuvor, ist es wichtig, extremistischen Bestrebungen jeglicher Couleur so früh wie möglich mit Nachdruck Einhalt zu gebieten und die Möglichkeiten des Rechtsstaats vollständig zu nutzen. Dazu gehören starke und wachsame Sicherheitsbehörden wie das LfV Hessen. Sein Aufgabenfokus wurde in den vergangenen Jahren anhand der bestehenden Herausforderungen neu ausgerichtet - unter anderem mit der Schaffung einer eigenen Abteilung zur Bearbeitung des Rechtsextremismus - und die Arbeit insgesamt operativer aufgestellt. Darüber hinaus hat das LfV eine massive personelle Aufstockung erfahren. Nunmehr verfügt es über 381 Planstellen - so viele wie nie zuvor. Den Kampf gegen den Rechtsextremismus führen wir seit Jahren mit aller Entschlossenheit. Die Hessische Landesregierung hat in den vergangenen Jahren die hessischen Sicherheitsbehörden massiv personell, materiell wie auch strategisch gestärkt. Ein besonderer Fokus hat dabei auf Verbesserungen bei Polizei und Verfassungsschutz zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus gelegen. Mit der BAO Hessen R hat die Landesregierung einen klaren Schwerpunkt auf die Verfolgung rechter Straftaten gelegt. Mit dem im März 2019 gegründeten Hessischen Extremismusund Terrorismus-Abwehrzentrum (HETAZ), in dem hessische Sicherheitsbehörden und Justiz institutionalisiert Informationen austauschen, sichern wir die enge Zusammenarbeit im Bereich Extremismusund Terrorabwehr. Den Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung denken wir dabei umfassend, gesamtgesellschaftlich und gesamtstaatlich. Zum besseren Schutz unserer kritischen Infrastrukturen haben wir jüngst einen Hessischen Sicherheitsund Resilienzrat gegründet. Er soll eine Strategie erarbeiten, mit der wir das Resilienzniveau der gesamten Gesellschaft weiter steigern wollen. Zum besseren Schutz der Verwaltungen in Hessen vor Cyberangriffen haben wir eine Rechtsgrundlage geschaffen, die es uns künftig unter anderem ermöglichen wird, Cybergefahren für unsere Landesverwaltung besser abzuwehren. Darüber hinaus leistet die Hessische Landesregierung mit zahlreichen zielgerichteten Maßnahmen einen Beitrag, um die gesellschaftliche Resilienz gegen Extremismus zu erhöhen, Hass und Hetze im Internet zu bekämpfen und unsere Demokratie zu stärken. Seit vielen Jahren Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 -7 ZU DIESEM BERICHT setzen wir uns für eine lebendige und starke Demokratie ein und haben dazu 2015 das Landesprogramm "Hessen - aktiv für Demokratie und gegen Extremismus" ins Leben gerufen. Die derzeit rund 120 Projekte richten sich sowohl an Einzelpersonen, Schulen, Vereine, Kommunen, aber auch an Hochschulen und Universitäten. Hierfür stehen im Jahr 2023 rund elf Millionen Euro, darunter rund 2,2 Millionen Euro weitergeleitete Bundesmittel, zur Verfügung. Dabei setzen wir auch gezielt auf die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger. So ist seit Februar dieses Jahres das Sicherheitsportal Hessen (sicherheitsportal.hessen.de) für alle Bürgerinnen und Bürger die zentrale Anlaufstelle, wenn es um Sicherheit geht. Auch extremistische Aktivitäten, Schmierereien oder Hate Speech im Netz können über das Onlineportal gemeldet werden. Die rege Nutzung der Meldestelle HessenGegenHetze zeigt, dass die Behörden auf die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger sowie deren Zivilcourage zählen können. Im Mai 2022 haben wir das Hessische Präventionsnetzwerk gegen Verschwörungserzählungen als eine weitere wesentliche Säule der ganzheitlichen Extremismusprävention in Hessen geschaffen. Das Präventionsnetzwerk mit dem neuen Internetportal Der Fabulant soll aufklären, indem es Informationen zu Desinformationen und Verschwörungserzählungen sowie deren Hintergründen bereitstellt. Zugleich vermittelt das neue Internetportal Kontakte zu Beratungsund Unterstützungsangeboten. Aktiv für Demokratie und gegen Extremismus einzutreten, ist nicht nur eine Aufgabe des Staates und zivilgesellschaftlicher Organisationen, sondern auch von Bürgerinnen und Bürgern. Jede und jeder kann einen Beitrag leisten, um Demokratie tagtäglich vorzuleben und sich für demokratische Werte zu engagieren. Das mahnt uns auch das diesjährige Jubiläum von 175 Jahren Paulskirche. Der Verfassungsschutz ist als Frühwarnsystem und Seismograph wichtiger denn je. Ich danke Bernd Neumann, dem neuen Präsidenten des LfV, und seinen unermüdlich engagierten und sachkundigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich für ihren Einsatz für unsere Demokratie. Ihre Expertise und ihr Einsatz tragen auch maßgeblich dazu bei, dass Hessen ein sicheres Land ist und bleiben wird. Peter Beuth Hessischer Minister des Innern und für Sport 8- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ZU DIESEM BERICHT Liebe Bürgerinnen und Bürger, Anfang des Jahres von Staatsminister Peter Beuth zum neuen Präsidenten des LfV ernannt und zuvor in verschiedenen Funktionen in der Behörde - zuletzt als Vizepräsident - tätig, darf ich Ihnen zum ersten Mal den Hessischen Verfassungsschutzbericht vorlegen. Der Bericht bestätigt aufs Neue die Notwendigkeit eines institutionalisierten Verfassungsschutzes. Der Verfassungsschutz ist wichtiger denn je. Letztlich ist es aber das Ziel des Berichts, Ihnen als Bürgerinnen und Bürger sachkundige Informationen und Bewertungen zur Verfügung zu stellen. Als Verfassungsschutz ist es unser Anliegen, Sie im privaten und beruflichen Alltag - etwa im Bekanntenund Freundeskreis, bei der gemeinnützigen Arbeit in Vereinen - zu unterstüt- / zen, wenn Sie für unsere Demokratie Partei ergreifen. Für die Demokratie und ihre Werte muss unablässig und engagiert gearbeitet und geworben werden, statt sie als Selbstverständlichkeit zu nehmen. Demokratie ist kein Selbstläufer, sie bedarf einer fortwährenden Kraftanstrengung. Die Feinde der Demokratie kennen sehr genau deren Möglichkeiten. Sie nutzen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung, unterschätzen jedoch die Stärke und Entschlossenheit der Demokratie. So hat sich etwa das autoritäre Russland, das seit Jahren einen Propagandakrieg mittels Desinformation und Cyberangriffen gegen den "Westen" führt, getäuscht, als es die Ukraine überfiel und glaubte, leichtes Spiel mit dem "dekadenten Westen" zu haben. Offensichtlich auch von antidemokratischen und autoritären Entwicklungen in und außerhalb Europas motiviert, unterliegen Extremisten in Deutschland ebenfalls dieser Fehleinschätzung. Sie treten zunehmend selbstbewusster auf und versuchen - ebenso wie die äußeren Feinde der Demokratie - unsere Werteordnung zu destabilisieren und letztlich zu überwinden. Wasser auf die Mühlen von Extremisten sind Enttäuschungen, Unsicherheiten und Zukunftsängste in der Bevölkerung, wie sie spätestens seit der Bankenkrise 2008 und im Zuge weiterer Krisen (Migrationsbewegungen, Corona-Pandemie) virulent geworden sind. Extremisten glauben, aus diesem Reservoir der Stimmungen schöpfen zu können. So agitieren Reichsbürger und Selbstverwalter gegen unsere rechtsstaatlichen Institutionen und versuchten eigene Strukturen zu etablieren oder schmiedeten sogar Pläne, um unsere demokratische Ordnung mit Waffengewalt zu stürzen. Offenbar bildet die Reichsbürgerund Selbstverwalterszene ein Auffangbecken für Aussteiger und Unzufriedene, die sich mit unserer Gesellschaft und Demokratie nicht mehr identifizieren können und wollen. In einem bis vor kurzer Zeit nicht vorstellbaren Ausmaß hat sich ein Teil der Szene organisiert und eine entsprechende Dynamik gewonnen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 -9 ZU DIESEM BERICHT Linksextremisten versuchen zunehmend das Gewaltmonopol des Staates zu unterminieren und reklamieren in der Bekämpfung des "Faschismus" einen Alleinvertretungsanspruch, der nicht nur zu Outings von "Rechten" und Rechtsextremisten führt, sondern sogar in gewalttätige Selbstjustiz mündet. Dabei ist bemerkenswert, dass Linksextremisten unter "Faschismus" nicht nur sogenannte Rechte, sondern insgesamt die "bürgerliche Gesellschaft" - also unsere freiheitliche Demokratie - verstehen. Islamisten agitieren gegen einen vermeintlichen "westlichen" Anpassungsdruck, der Muslime angeblich ihre "Identität" raube und sie zur Übernahme "westlicher" Wertevorstellungen zwinge. Darüber hinaus nimmt nach Jahren trügerischer Ruhe die salafistische Agitation, insbesondere die Missionierungstätigkeit (Da'wa), wieder zu. Die Da'wa, die überwiegend jüngere Menschen anspricht und auch über das Internet sowie die sozialen Medien läuft, kann den Nährboden für einen gewalttätigen Jihadismus bereiten. Unter anderem vor diesem Hintergrund ist die Gefahr eines jihadistisch motivierten Anschlags nach wie vor als hoch einzuschätzen. Die größte Gefahr geht aktuell weiterhin vom Rechtsextremismus aus. Mehr als 80 Prozent aller extremistischen Strafund Gewalttaten in Hessen werden dem Rechtsextremismus zugerechnet. Von insgesamt 60 extremistischen Gewalttaten waren 50 rechtsextremistisch motiviert. Besorgniserregend ist auch, dass die Gesamtzahl der Straftaten der politisch motivierten Kriminalität - rechts - im Themenfeld "Asyl/Flucht" wieder anstieg und nach dem Jahr 2020 im Zeitraum von 2018 bis 2022 den zweithöchsten Wert erreichte. Darüber hinaus versuchen Rechtsextremisten mit ihrer Propaganda und ihren Aktivitäten in die Mitte der Gesellschaft hineinzuwirken. Vor allem Akteure und Gruppierungen im Bereich der Neuen Rechten entwickeln und verbreiten öffentlich Vorstellungen und Strategien, wie durch Veränderungen in der Sprache und mittels einer Umwertung im Denken die Grenze zwischen Rechtsextremismus und Demokratie durchlässig gemacht und letztlich beseitigt werden kann. Aus dem während der zurückliegenden Krisen entstandenen Protestpotenzial versuchen Rechtsextremisten ein neues "soziales Milieu" zu formen, das sich strikt von unserer freiheitlichen demokratischen Werteordnung unterscheidet und allmählich bei Wahlen die Oberhand gewinnt. Neben der Beobachtung dieses breiten und hochdynamischen Spektrums extremistischer Bestrebungen ist es ein besonderes Anliegen des LfV - quer durch alle extremistischen Phänomenund Themenbereiche - antisemitische Aktivitäten zu erkennen und zu 10 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ZU DIESEM BERICHT analysieren. Abgesehen von den Gefahren, mit denen unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern konfrontiert sind - nicht nur durch Rechtsextremisten, sondern auch durch Islamisten -, sind Ausmaß und Intensität des Antisemitismus seit jeher ein Gradmesser dafür, wie es um die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft bestellt ist. Angesichts des von Russland entfesselten Kriegs gegen die Ukraine haben die Bedeutung von Spionageabwehr und Wirtschaftsschutz stark zugenommen. Hessen bietet mit seinen zahlreichen Wirtschaftsstandorten und Forschungseinrichtungen, das heißt seinem immensen Wissenspool, eine große Angriffsfläche für Cyberangriffe und Ausforschungsversuche. Aufgrund der raschen und komplexen Veränderungen in unserer Welt und der damit verknüpften vielfältigen Herausforderungen gilt es also, sich mehr denn je für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung einzusetzen. Verfassungsschutz ist wichtiger als je zuvor. Vor diesem Hintergrund lautet die Maxime unserer Behörde: Kontinuität im Wandel. Wir führen den in den vergangenen Jahren eingeleiteten Optimierungsprozess konsequent fort. Ebenso stehen wir dem Fortschritt in Technologie und Wissenschaft - insbesondere der Digitalisierung und den neuen Möglichkeiten der virtuellen Welt - aufgeschlossen gegenüber und integrieren diese in die alltägliche Arbeit und in die Entwicklung von Zukunftskonzepten. Dabei verstehen wir uns als eine selbstkritische, reflektierende und lernende Behörde, die auch Anstößen von außen gegenüber offen zugewandt ist. Dass wir das LfV seit Jahren operativer ausgerichtet haben, hat sich bewährt. Diesen Weg werden wir fortsetzen. Das gilt auch für den zielorientierten Austausch mit dem Verfassungsschutzverbund und für die Kommunikation innerhalb Hessens. So sind wir in Gestalt des Hessischen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrums (HETAZ) effektiv mit Polizei und Justiz vernetzt. Damit Extremismus sich nicht ausbreitet bzw. die Gesellschaft sich frühzeitig davon abgrenzen und Gegenmaßnahmen einleiten kann, intensivieren wir weiterhin unsere Präventionsarbeit. Zum Beispiel informiert das LfV verschiedene Bedarfsträger wie Kommunen, Schulen und Vereine über Bestrebungen von Extremisten und deren Versuche, die Deutungshoheit über Ereignisse und Entwicklungen zu gewinnen. Angesichts der in vielfältiger Art und Weise von den inneren und äußeren Feinden der Demokratie verbreiteten Desinformationen und Verschwörungsnarrative kommt der Präventionsarbeit des LfV eine nach wie vor steigende Bedeutung zu. Da wir in dieHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 11 ZU DIESEM BERICHT sem Kontext auch großen Wert auf Transparenz legen, war es äußerst wichtig, dass wir uns nach dem Abflauen der "Corona-Pandemie" den Bürgerinnen und Bürgern wieder als Ansprechpartner auf dem diesjährigen Hessentag präsentieren konnten. Bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des LfV bedanke ich mich besonders für Ihre Arbeit. Sie nehmen die täglichen Herausforderungen ohne zu zögern an und gestalten den Wandel in der Behörde aktiv mit. Auf diese Weise leisten Sie einen unverzichtbaren Beitrag zum Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung und tun dies jeden Tag engagiert und kompetent. Bernd Neumann Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen 12 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN - FREIHEITLICHE DEMOKRATISCHE GRUNDORDNUNG - AUFGABEN, BEFUGNISSE, MITWIRKUNGSAUFGABEN - METHODEN - KONTROLLE - STRUKTUREN, ORGANISATION, HAUSHALT - WESENTLICHE INSTITUTIONELLE ELEMENTE DER SICHERHEITSARCHITEKTUR AUF BUNDESEBENE UND IN HESSEN - ÖFFENTLICHKEITSUND PRÄVENTIONSARBEIT VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN FREIHEITLICHE DEMOKRATISCHE GRUNDORDNUNG Die unverzichtbaren Grundwerte des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaats der Bundesrepublik Deutschland gehen aus der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hervor. In ihr sind tragende Grundprinzipien festgeschrieben, die absolute Werte und unverzichtbare Schutzgüter sind. Resultierend aus den Erkenntnissen über das Scheitern der Weimarer Republik (1918 bis 1933) und aus den furchtbaren Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Terrorund Unrechtsregime (1933 bis 1945) ist die Demokratie in Deutschland heute streitbar und abwehrbereit. Die Demokratie ist willens und fähig, sich gegen Angriffe ihrer Feinde zu verteidigen. Der Verfassungsschutz hat hierbei die wichtige Funktion eines "Frühwarnsystems". AUF EINEN BLICK * Demokratie und Rechtsstaatlichkeit * Werteprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung * Garantie der Menschenwürde als Ausgangspunkt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit | Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist unsere Demokratie eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung. In ihr sind die Grundrechte der Bürger garantiert; es ist jedem Bürger möglich, staatliche Entscheidungen durch unabhängige Gerichte nachprüfen zu lassen. Jeder Bürger genießt Rechtssicherheit. Diese Ordnung gründet sich auf dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit, auf der Freiheit und Gleichheit aller Menschen, auf der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Gerichte. Werteprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung | Zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die unabänderliche oberste Werteprinzipien als Kernbestand unserer Demokratie enthält, zählen: * die im Grundgesetz (GG) konkretisierten Menschenrechte, * das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, * die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, 14 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN * das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, * die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, * die Unabhängigkeit der Gerichte und * der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft. Garantie der Menschenwürde als Ausgangspunkt | Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 17. Januar 2017 (2 BvB 1/13) auf den Antrag des Bundesrates, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands einschließlich ihrer Teilorganisationen als verfassungswidrig einzustufen und aufzulösen, Folgendes erklärt: "Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 GG beinhaltet die zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind. Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit. Auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte sind damit nicht vereinbar. Daneben sind im Rahmen des Demokratieprinzips die Möglichkeit gleichberechtigter Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung aller Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) konstitutive Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Hinsichtlich des Rechtsstaatsprinzips gilt dies für die Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt, die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte und das staatliche Gewaltmonopol". AUFGABEN, BEFUGNISSE, MITWIRKUNGSAUFGABEN Aufgabe des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) ist, es den zuständigen Stellen zu ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu treffen. Darüber hinaus erstellt das LfV Lageberichte und Analysen. Zu diesem Zweck sammelt es Informationen - insbesondere in Form von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen - über extremistische Bestrebungen und sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten und wertet diese aus. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 15 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN AUF EINEN BLICK * Gesetzliche Grundlage der Tätigkeit und Befugnisse des LfV * Definition des Begriffs "extremistische Bestrebungen" - Aufgaben * Befugnisse - Kein Einsatz von Zwangsmitteln * Mitwirkungsaufgaben des LfV Gesetzliche Grundlage der Tätigkeit und Befugnisse des LfV | Die Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes sind gesetzlich festgelegt. In allen Ländern bestehen hierfür eigene gesetzliche Grundlagen. In Hessen sind die Aufgaben und Befugnisse im Hessischen Verfassungsschutzgesetz (HVSG) geregelt. Darüber hinaus regelt das Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) die Aufgaben und die Rechtsstellung des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) sowie die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern. Definition des Begriffs "extremistische Bestrebungen" - Aufgaben | Extremistische Bestrebungen im Sinne des HVSG sind politisch bestimmte zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, die auf die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen. Darüber hinaus können unter bestimmten Voraussetzungen auch Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln, extremistische Bestrebungen im Sinne des HVSG sein. Nicht extremistisch ist die kritische Auseinandersetzung mit Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, ohne dass diese Auseinandersetzung das Ziel der Überwindung derselben verfolgt. Neben extremistischen Bestrebungen, die auf die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen, beobachtet das LfV * sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, * Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, * Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG), gerichtet sind, und * Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität (OK) im Geltungsbereich des Grundgesetzes. 16 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Befugnisse - Kein Einsatz von Zwangsmitteln | Das LfV hat keine operativen Zwangsbefugnisse. Es darf zum Beispiel Personen weder vorladen noch festnehmen oder Durchsuchungen durchführen. Die Zusammenarbeit mit dem LfV beruht für Privatpersonen auf Freiwilligkeit. Um Maßnahmen, zu denen es selbst nicht befugt ist, darf das LfV die Polizei nicht ersuchen, was eine der Ausprägungen des Trennungsgebots zwischen Verfassungsschutz und Polizei darstellt. Mitwirkungsaufgaben des LfV | Neben den oben beschriebenen Aufgaben unterstützt das LfV im Bereich des Geheimund Wirtschaftsschutzes Behörden und Unternehmen mit seinen Erkenntnissen und seinem Wissen. Ebenso wirkt das LfV mit bei * Aufenthalts-/Einbürgerungsverfahren und * Zuverlässigkeitsüberprüfungen (unter anderem für die Bereiche Luftsicherheit, Atomkraftanlagen und nach dem Waffenund Sprengstoffrecht). METHODEN Um mittels kontinuierlicher Beobachtung verfassungsschutzrelevante Bestrebungen und Tätigkeiten zu erkennen und in fundierten Analysen zu beschreiben, bedient sich das LfV verschiedener Methoden. Sie reichen von der Informationsgewinnung aus allgemein zugänglichen Quellen über das Verwenden technischer Mittel bis hin zum Einsatz von Vertrauensleuten. AUF EINEN BLICK * Informationserhebung auf der Grundlage allgemein zugänglicher Quellen * Informationserhebung mit nachrichtendienstlichen Mitteln Informationserhebung auf der Grundlage allgemein zugänglicher Quellen | Die zur Erfüllung seiner Aufgaben notwendigen Informationen gewinnt das LfV vornehmlich aus allgemein zugänglichen Quellen. Dazu gehören unter anderem * Publikationen, * Internetinhalte sowie * öffentliche Veranstaltungen. Informationserhebung mit nachrichtendienstlichen Mitteln | Verfassungsfeinde und andere Personen bzw. Gruppierungen, die dem Beobachtungsauftrag des LfV unterliegen, arbeiten oft konspirativ, das heißt, sie versuchen ihre wahren Ziele und Aktivitäten zu verschleiern Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 17 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN oder geheim zu halten. Das Sammeln allgemein zugänglichen Materials durch das LfV und der Informationsaustausch mit anderen Behörden und anderen Stellen genügen deshalb zuweilen nicht, um ein vollständiges und sachgerechtes Bild von verfassungsfeindlichen Bestrebungen sowie von geheimdienstlichen Tätigkeiten und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen sowie von Spionagetätigkeiten und Aktivitäten der OK zu erhalten. Daher ist das LfV befugt, nachrichtendienstliche Mittel einzusetzen. Dazu gehören zum Beispiel: * die Überwachung des Brief-, Postund Fernmeldeverkehrs, * der Einsatz technischer Mittel zur Fahrzeuginnenraumund Wohnraumüberwachung, * der Einsatz technischer Mittel zur Ortung von Mobilfunkendgeräten, * die kurzund langfristige Observation, * das Fertigen von Bildund Tonaufzeichnungen, * die Beobachtung des Internets, dies enthält die verdeckte Teilnahme an der im Internet geführten Kommunikation, sowie * der Einsatz von verdeckten Mitarbeitern sowie von Vertrauensleuten. Die Vertrauensleute gehören nicht dem Verfassungsschutz an, liefern aber Informationen über extremistische Bestrebungen. Nachrichtendienstliche Mittel dürfen in Bezug auf personenbezogene Daten nur dann angewendet werden, wenn hierfür bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Die entsprechenden Regelungen sind in den SSSS 5ff. HVSG festgelegt. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel unterliegt gesetzlichen Schranken (SS 14 HVSG), wobei insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. KONTROLLE Die Tätigkeit des LfV wird auf vielfältige Weise kontrolliert. Dies geschieht insbesondere durch die Parlamentarische Kontrollkommission Verfassungsschutz (PKV) des Hessischen Landtags. Die Regularien, welche die parlamentarische Kontrolle und die PKV als Institution betreffen, sind im Gesetz zur parlamentarischen Kontrolle des Verfassungsschutzes in Hessen (Verfassungsschutzkontrollgesetz, VSKG) festgeschrieben. 18 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN AUF EINEN BLICK * Wahl der PKV-Mitglieder aus der Mitte des Hessischen Landtags * Pflichten der Hessischen Landesregierung * Befugnisse der PKV * G-10-Kommission * Rechtsund Fachaufsicht * Weitere Kontrollen Wahl der PKV-Mitglieder aus der Mitte des Hessischen Landtags | Die PKV besteht aus sieben Mitgliedern, die der Hessische Landtag gemäß SS 1 Abs. 2 VSKG aus seiner Mitte wählt. Demnach bestimmt die Volksvertretung die Zahl der Mitglieder, die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der PKV. Die Beratungen der PKV sind geheim. Pflichten der Hessischen Landesregierung | Die Pflicht der Hessischen Landesregierung zur Unterrichtung der PKV sowie deren Befugnisse sind durch das im Juni 2018 in Kraft getretene Gesetz zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen (Art. 2 VSKG) präzisiert und erweitert worden. Neben der umfassenden Unterrichtung der Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 19 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN PKV durch das für das LfV zuständige Hessische Ministerium des Innern und für Sport über die allgemeine Tätigkeit des LfV und über Vorgänge von besonderer Bedeutung wird die PKV über weitere Sachverhalte informiert: so etwa über besondere Auskunftsersuchen, den verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Wohnraumüberwachung, die Ortung von Mobilfunkendgeräten und Observationen sowie den Einsatz von verdeckten Mitarbeitern und Vertrauensleuten (SSSS 10, 7, 9, 11, 12 u. 13 HVSG). Befugnisse der PKV | Jedes Mitglied der PKV kann die Einberufung einer Sitzung und die Unterrichtung der PKV verlangen. Darüber hinaus hat jedes Mitglied das Recht der Akteneinsicht; falls erforderlich, ist dabei auch Zutritt zu den Dienststellen des LfV zu gewähren. Mit Zwei-Drittel-Mehrheit kann die PKV einen Sachverständigen mit der Durchführung von Untersuchungen beauftragen, welcher der PKV über das Ergebnis berichten muss. Darüber hinaus hat die PKV das Recht, den Haushaltsplan des LfV mitzuberaten. G-10-Kommission | Maßnahmen, die mit einem Eingriff in Art. 10 GG (Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis) verbunden sind, bedürfen der Zustimmung der G-10-Kommission des Hessischen Landtags. Rechtsund Fachaufsicht | Das Hessische Ministerium des Innern und für Sport nimmt die Rechtsund Fachaufsicht über das LfV wahr, das heißt, es prüft die Rechtund Zweckmäßigkeit des Handelns des LfV, indem es dessen Aufgabenerledigung kontrolliert. Dies geschieht etwa mittels Strategieund Programmplanungen, Zielvereinbarungen, Besprechungen, Weisungen und Erlassen. Weitere Kontrollen | Darüber hinaus kontrollieren der Hessische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, der Hessische Rechnungshof und - mittelbar auf dem Wege der Berichterstattung und Kommentierung - die Medien die Tätigkeit des LfV. Die Speicherung personenbezogener Daten, Auskunftserteilungen und die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht, die das LfV zu Lasten Betroffener vornimmt, unterliegen darüber hinaus der vollständigen gerichtlichen Kontrolle. STRUKTUREN, ORGANISATION, HAUSHALT Der Verfassungsschutz ist als Inlandsnachrichtendienst der Bundesrepublik Deutschland föderal organisiert. Der Bund und die 16 Länder unterhalten jeweils eigene Verfassungsschutzbehörden. 20 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 21 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN AUF EINEN BLICK * Organisation * Anzahl der Planstellen - Ausgabenbudget Organisation | Als obere Landesbehörde untersteht das LfV dem Hessischen Ministerium des Innern und für Sport. Das LfV hat seinen Sitz in Wiesbaden und gliedert sich in sechs der Amtsleitung unterstehende Abteilungen. An die Amtsleitung angebunden sind ebenso der Stab, die Interne Revision, der Geheimschutzbeauftragte sowie die Datenschutzbeauftragte. Darüber hinaus verfügt das LfV in Hessen über Außenstellen. Wie in jeder Behörde gibt es einen Personalrat, eine Schwerbehindertenvertretung und eine Gleichstellungsbeauftragte. 22 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Anzahl der Planstellen - Ausgabenbudget | Die Personalmittel sowie die Finanzmittel für Personalund Sachausgaben sind im Haushaltsplan des Landes Hessen ausgewiesen. Für das Jahr 2022 standen dem LfV 381 Planstellen zur Verfügung. Das Ausgabenbudget für das Jahr 2022 belief sich auf 33.092.500,Euro. WESENTLICHE INSTITUTIONELLE ELEMENTE DER SICHERHEITSARCHITEKTUR AUF BUNDESEBENE UND IN HESSEN Die Sicherheitsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland wurde in den letzten Jahren ausgebaut und modifiziert. Die Zielsetzung war hierbei, auf Gefahren und Bedrohungen flexibler und schneller reagieren zu können sowie Wissen und Kompetenzen verschiedener Sicherheitsbehörden zu bündeln. Relevante Informationen sollen unter Beachtung der jeweiligen Zuständigkeiten und gesetzlichen Vorgaben zusammengeführt und bewertet werden, ohne die organisatorische Trennung der Sicherheitsbehörden in Frage zu stellen. AUF EINEN BLICK * Kernelemente der bundesweiten Sicherheitsarchitektur * Hessisches Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (HETAZ) * Nationale Sicherheitsstrategie Kernelemente der bundesweiten Sicherheitsarchitektur | Die bundesweite Sicherheitsarchitektur besteht im Wesentlichen aus folgenden Einrichtungen: * dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) zur Abwehr und Bekämpfung des islamistischen Terrorismus, * dem Gemeinsamen Internetzentrum (GIZ) und * dem Gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ). Am GTAZ in Berlin sind Vertreter folgender Behörden beteiligt: * Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, * Bundeskriminalamt (BKA), * Bundesnachrichtendienst (BND), * Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA), * Bundespolizei (BPol), * Zollkriminalamt (ZKA), * Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), * Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) und die * Landeskriminalämter. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 23 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Im GTAZ gibt es darüber hinaus zwei voneinander institutionell getrennte Einrichtungen: die Nachrichtendienstliche (NIAS) und die Polizeiliche Informationsund Analysestelle (PIAS). NIASund PIASMitglieder kooperieren in verschiedenen Arbeitsgruppen eng miteinander, um bestimmte Fälle aktuell zu bearbeiten sowie Gefahrenprognosen und mittelbzw. längerfristige Analysen zu erstellen. Nach dem Vorbild des GTAZ arbeiten im GIZ Vertreter des * BfV, * BKA, * BND, * BAMAD und * der GBA eng zusammen. Darüber hinaus steht das GIZ in ständigem Austausch mit den zuständigen Landesbehörden. Aufgabe der Vertreter der am GIZ mitwirkenden Behörden ist die Beobachtung, Auswertung und Analyse von Veröffentlichungen mit is24 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN lamistischen und jihadistischen Inhalten im Internet, um frühzeitig extremistische und terroristische Strukturen und Aktivitäten zu identifizieren. Das GETZ ist als "Dachorganisation" für die Bekämpfung folgender Phänomenbereiche zuständig: * Rechtsextremismus/-terrorismus, * Linksextremismus/-terrorismus, * Extremismus mit Auslandsbezug und * Spionageabwehr und Proliferation. Die Federführung obliegt dem BfV und dem BKA. Die Koordinierte Internetauswertung (KIA) erfolgt beim BfV in Köln (NordrheinWestfalen). Am GETZ als Informationsund Kommunikationsplattform beteiligen sich - analog zu den Aufgaben des GTAZ - zur Bündelung der FachHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 25 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN expertise und der Sicherstellung eines möglichst lückenlosen und schnellen Informationsflusses folgende Behörden: * Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, * BKA, * BPol, * das Europäische Polizeiamt (Europol), * GBA, * Generalzolldirektion (GZD), * BND, * BAMAD, * BAMF, * Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) und * die Landeskriminalämter. Hessisches Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (HETAZ) | Das in Hessen am 11. März 2019 konstituierte HETAZ hat seine Geschäftsstelle im LfV. Es fungiert als anlassbezogene Kommunikations-, 26 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Informationsund Kooperationsplattform unter ständiger Beteiligung des Hessischen Landeskriminalamts (HLKA), der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main - Abteilung Staatsschutz, der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main sowie des LfV. Abhängig von konkreten Gefährdungsund Bedrohungssachverhalten werden Vertreter weiterer Behörden, wie zum Beispiel von Polizeipräsidien, Ausländerbehörden und Jugendämtern, im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereichs und ihrer Zuständigkeit hinzugezogen. Ziel ist es unter anderem, einen abgestimmten, fortlaufenden und nachhaltigen Informationsaustausch mit kurzen Kommunikationswegen unter Berücksichtigung der gesetzlichen Übermittlungsvorschriften und des für den Verfassungsschutz und die Polizei geltenden informationellen Trennungsgebots zu gewährleisten. Durch Bündelung, Verdichtung und Bewertung der Informationen soll die Erkenntnislage der zuständigen Behörden verbessert und der Austausch über operative Maßnahmen in enger Kooperation erleichtert werden. So soll eine noch effektivere und effizientere Gestaltung der Strafverfolgung erreicht werden. Im Berichtsjahr fanden sieben Sitzungen des HETAZ statt. Thematisch befasste es sich unter anderem mit den Auswirkungen des russischen Angriffs auf die Ukraine. Nationale Sicherheitsstrategie | Vor dem Hintergrund, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die Freie Demokratische Partei (FDP) in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hatten, "im ersten Jahr der neuen Bundesregierung eine umfassende Nationale Sicherheitsstrategie vor[zu]legen", wurde auf der 218. Herbstkonferenz der Innenminister und -senatoren (30. November bis 2. Dezember 2022) der Beschluss gefasst, die Länder bei deren Erarbeitung zu beteiligen. Über die im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien formulierte Absicht debattierte der Bundestag am 31. März 2023 aus Anlass eines Antrags der Unionsfraktion ("Deutschland braucht eine Nationale Sicherheitsstrategie"), der nach der ersten Beratung an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen wurde. ÖFFENTLICHKEITSUND PRÄVENTIONSARBEIT Extremisten verfolgen das Ziel, die Grundwerte unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beseitigen. Eine erfolgreiche gesellschaftliche Auseinandersetzung mit extremistischen Positionen und Aktivitäten kann jedoch nur dann gelingen, wenn die Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 27 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Bürger und Medien über sachgerechte Informationen verfügen. Um die Öffentlichkeit über extremistische Bestrebungen zu informieren und für deren Gefahren zu sensibilisieren, hat das LfV seine Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit in den letzten Jahren auf einem hohen Niveau etabliert. Die Präventionsinhalte werden dabei stets an den aktuellen Entwicklungen in den verschiedenen Phänomenbereichen ausgerichtet. AUF EINEN BLICK * Pressearbeit * Kontakt * Herbstgespräch * Hessischer Verfassungsschutzbericht * Präventionsarbeit im Allgemeinen * Aufklärende Prävention * Beratende Prävention * Zielgruppen * Kooperationspartner * Prävention für die Wirtschaft * Prävention für Justiz und Polizei * Ausbau der (digitalen) Präventionsarbeit - Prävention im Kultusbereich * Weitere Präventionsmaßnahmen * Meldestelle Hessen gegen Hetze * Informationsangebote des LfV * Präventionsarbeit in Zahlen * Kontakt und Internetpräsenz Pressearbeit | Etwa 90 Journalisten von mehr als 40 verschiedenen Medien wandten sich im Berichtsjahr an die Pressestelle des LfV. Die Anzahl der Presseanfragen lag bei knapp 130. Besonders großes Medieninteresse galt zum Beispiel den bundesweiten Durchsuchungen gegen eine Reichsbürgergruppierung im Dezember. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Phänomenbereiche war das Interesse am Rechtsextremismus und der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter am größten, es folgten die Bereiche Spionage-/Cyberabwehr und Linksextremismus. Kontakt | Die Pressestelle des LfV ist per E-Mail unter folgender Adresse erreichbar: pressestelle@lfv.hessen.de. Herbstgespräch | Das 23. Herbstgespräch des LfV widmete sich am 29. November dem Thema "Angriff auf die Wahrheit - Wie Desinformation unsere freiheitliche Demokratie gefährdet". Wegen der weiterhin bestehenden Pandemielage fand das Herbstgespräch noch nicht im gewohnt großen Rahmen, sondern mit etwa hundert 28 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Präsenzgästen statt. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, die Veranstaltung per Live-Stream zu verfolgen. Der Hessische Minister des Innern und für Sport, Peter Beuth, warnte in seinem Impulsvortrag vor den Gefahren von Desinformation: "Fake-News, Falschmeldungen, Deep-Fakes, Verschwörungserzählungen und Desinformation sind die Schlagworte, hinter denen sich 'Angriffe auf die Wahrheit' verbergen. Diese Angriffe zielen auf unsere Werte und damit auf unsere Demokratie". Stabile freiheitliche Demokratien hätten eine große Strahlkraft und würden von autokratischen Staaten wie Russland und China als Bedrohung wahrgenommen. Grundprinzipien wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit stellten autoritäre Regime infrage. Daher sei Autokraten daran gelegen, so der Hessische Innenminister, Demokratien als zerstritten, heuchlerisch und schwach darzustellen. Bei ihren Aktivitäten könnten Desinformationsakteure im Ausland auch auf Unterstützung hierzulande bauen. Wegen des sinkenden Interesses an dem Thema "Corona-Maßnahmen" hätten nicht wenige Extremisten einen thematischen Schwenk hin zu prorussischen Standpunkten vollzogen; daher könnten diese Personen im Hinblick auf Desinformation nicht getrennt von Akteuren aus dem Ausland betrachtet werden. Beuth verwies auch auf den Zusammenhang zwischen "Fake News" und Verschwörungsnarrativen, die in der jüngeren Vergangenheit an Bedeutung gewonnen hätten. Verschwörungsnarrative könnten Menschen, die an sie glauben, zur Rechtfertigung schwerer Straftaten bis hin zu Gewalttaten dienen. Die anschließende Podiumsdiskussion drehte sich vor allem um folgende Fragen: Wie groß ist die Gefahr, die von Desinformation für unsere freiheitliche Demokratie ausgeht? Welchen Strategien verfolgen inländische Extremisten und ausländische Akteure bei der Verbreitung von Falschmeldungen und Verschwörungsnarrativen? Wie lässt sich die Resilienz gegen Desinformation stärken? Unter der Moderation von Thomas Kreutzmann (Journalist, Autor) brachten Dr. Andreas Fahrner (Bereichsleiter Auswertung, BND), Julia Smirnova (Analystin, Institute for Strategic Dialogue), Florian Flade (Journalist, WDR) und Tom Buschardt (Kommunikationsund Medientrainer) als Podiumsgäste ihre jeweiligen Standpunkte ein. Wie ein roter Faden zog sich durch die Diskussion die Thematisierung der Screenshots von Fake-Seiten bzw. Falschmeldungen aus dem Internet, die dem Publikum beispielhaft zur Sensibilisierung für Desinformation gezeigt wurden, so etwa eine täuschend echt wirkende, aber gefälschte Internetseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Julia Smirnova erläuterte die Beispiele und deren Verbreitung über Chatgruppen und die sozialen Medien. Einigkeit herrschte unter den Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 29 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Podiumsteilnehmern darüber, dass eine möglichst große Medienkompetenz der Bevölkerung ein wichtiger Schlüssel im Umgang mit Desinformation ist. Kommunikationsberater Tom Buschardt betonte, dass "Fake News" häufig erst durch Personen ohne hinreichende Medienkompetenz "Metastasen" bekämen und unkontrolliert weiterverbreitet würden. Florian Flade merkte an, dass russische Desinformationskampagnen häufig nicht überzeugen, sondern verwirren sollten. Julia Smirnova ergänzte, dass die russische Propaganda voller Widersprüche sei; so werbe man in Russland für die Impfkampagne gegen das Corona-Virus (und insbesondere für russische Impfstoffe), während man im Ausland Impfskeptiker unterstütze. Dr. Andreas Fahrner führte aus, dass das Ziel der Propagandaund Desinformationskampagnen autokratischer Staaten die Delegitimierung demokratischer Wahlen und letztlich die Beschädigung demokratischer Systeme sei. In diesem Zusammenhang sprach Florian Flade von der "kritischen Infrastruktur Demokratie", die man ebenso gegen Angriffe schützen müsse wie andere kritische Infrastrukturen. Hessischer Verfassungsschutzbericht | Im Mittelpunkt der Unterrichtung der Öffentlichkeit steht der vom Hessischen Ministerium des Innern und für Sport herausgegebene jährliche Verfassungsschutzbericht. Er informiert über die wesentlichen während des Berichtsjahrs gewonnenen Erkenntnisse des LfV und bewertet diese. Präventionsarbeit im Allgemeinen | Die hohe Nachfrage nach Präventionsveranstaltungen beim LfV belegt deutlich die Notwendigkeit der Extremismusprävention, die seit 2018 im HVSG explizit als Aufgabe des LfV gesetzlich geregelt ist. Das LfV wurde dadurch in seiner Funktion als Frühwarnsystem und Dienstleister der Demokratie gestärkt. Um die konsequente Stärkung der Prävention auch organisatorisch zu verankern, wurde im September 2020 die Abteilung 6 (Prävention und phänomenübergreifende Analyse) geschaffen. In der Abteilung ist außerdem die seit 2016 bestehende Phänomenbereichsübergreifende wissenschaftliche Analysestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (PAAF) angesiedelt. Letztere führt regelmäßig eigene wissenschaftliche Forschungsprojekte in den Themenbereichen "Antisemitismus" und "Fremdenfeindlichkeit" durch. Diese dienen nicht nur der internen Beratung, sondern deren Ergebnisse werden auch für eine breitere Öffentlichkeit publiziert und fließen in die Präventionsveranstaltungen des LfV ein. Neben den etablierten Präventionsangeboten wie zielgruppenorientierte Sensibilisierungsveranstaltungen (aufklärende Prävention) und Beratungsleistungen in konkreten Fällen (beratende Prävention) 30 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN hat das LfV in den letzten Jahren zahlreiche auf langfristige Zusammenarbeit angelegte Kooperationen forciert, um für die Gesellschaft ein aktiver Partner und Dienstleister im Umgang mit Extremismus zu sein. So beteiligte sich das LfV im Berichtsjahr an öffentlichen Veranstaltungen, zum Beispiel im Rahmen von Podiumsdiskussionen und Vorträgen. Ziel war es, am gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben und als Ansprechpartner zu fungieren, insbesondere auch hinsichtlich einer kritischen Auseinandersetzung mit Sicherheitsbehörden. Aufklärende Prävention | Um einen relevanten Beitrag zur Immunisierung der Gesellschaft gegen Extremismus zu leisten, versucht das LfV, möglichst viele Menschen sowohl in staatlichen als auch nichtstaatlichen Stellen über Gefahren, die von extremistischen Bestrebungen ausgehen, aufzuklären. Das LfV bietet zu sämtlichen extremistischen Phänomenbereichen Fortbildungen an, bei denen es über Ideologiemerkmale, Erscheinungsformen, (Verschwörungs-) Narrative, Strategien und Anhaltspunkte für Radikalisierung informiert. Die Veranstaltungsteilnehmer sollen damit in die Lage versetzt werden, extremistische Bestrebungen, die ihnen möglicherweise im Alltag begegnen, zu erkennen. Das LfV informiert darüber hinaus bestimmte Bedarfsträger, wie zum Beispiel den Kultusbereich oder Kommunen, anlassbezogen über aktuelle Entwicklungen wie Kampagnen und Aktionsformen in den verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen. Beratende Prävention | Um den Bedarfsträgern Handlungssicherheit im Erkennen von und im Umgang mit extremistischen Bestrebungen zu vermitteln, bietet die beratende Prävention ergänzend zur aufklärenden Prävention einzelfallbezogene Beratungsleistungen an. Mit dieser Zielrichtung geht das LfV je nach Einzelfall vor allem eigeninitiativ auf Schulen zu, die von einem extremistischen Sachverhalt betroffen sind, und bietet Aufklärung, Beratung und Unterstützung an. Zielgruppen | Eine der wichtigsten Zielgruppen der Präventionsarbeit sind Multiplikatoren im Bereich der (Jugend-)Bildung, wie zum Beispiel Lehrkräfte. Seit 2009 ist das LfV durch die Hessische Lehrkräfteakademie als Anbieter von Fortbildungen akkreditiert. Das Fortbildungsangebot kann über die Staatlichen Schulämter oder auch von einzelnen Schulen wahrgenommen werden. Darüber hinaus sind besonders die hessischen Kommunen wichtige Partner bei der Extremismusprävention. So ist das LfV - zusätzlich zu den angebotenen Vorträgen für und mit Kommunen - in zahlreichen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 31 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN kommunalen Präventionsgremien vertreten bzw. arbeitet eng mit diesen zusammen und steht den Gremien als direkter Ansprechpartner zur Verfügung. Ein besonderer Schwerpunkt der Fortbildungsmaßnahmen liegt weiterhin in den Bereichen Schule, Polizei, Kommunen und Justiz. Weitere Adressaten sind Bildungseinrichtungen, zivilgesellschaftliche Träger, religiöse Träger sowie Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Neben den etablierten Bedarfsträgern hat das LfV immer wieder auch neue Zielgruppen angesprochen und das Präventionsangebot erweitert. Im Zentrum der Präventionsarbeit des LfV steht die Nachhaltigkeit. So stehen die Mitarbeiter der Prävention den Bedarfsträgern auch im Anschluss an Sensibilisierungsveranstaltungen oder Projekte als Ansprechpartner zur Verfügung. Der Erfolg der vertrauensvollen Zusammenarbeit hat sich in den letzten Jahren in vielen Folgeveranstaltungen und Weiterempfehlungen des Angebots gezeigt. Kooperationspartner | Das LfV ist bei der Bekämpfung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen eng mit dem Hessischen Informationsund Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) und den zivilgesellschaftlichen Trägern vernetzt. Das 2013 eingerichtete HKE übernimmt die zentrale Steuerung und Koordinierung der Maßnahmen zur Extremismusprävention und -intervention in Hessen. Das LfV ist im Rahmen des organisationsund ressortübergreifenden Ansatzes in der Lenkungsgruppe des HKE vertreten. Das HKE ist über www.hke.hessen.de erreichbar. Das LfV gehört dem Expertenpool des landesweiten beratungsNetzwerks hessen - Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus an. In dem Expertenpool sind staatliche Institutionen und zivilgesellschaftliche Initiativen miteinander vernetzt. Das beratungsNetzwerk hessen - Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus ist über www.beratungsnetzwerk-hessen.de erreichbar. Zudem ist das LfV Mitglied im Fachbeirat des Hessischen Präventionsnetzwerks gegen Salafismus. Das 2014 gegründete Netzwerk war das erste landesweite Präventionsprojekt gegen Salafismus in Deutschland. Im Mittelpunkt des Präventionsnetzwerks steht die Beratungsstelle Hessen - Religiöse Toleranz statt Extremismus, die beim zivilgesellschaftlichen Träger Violence Prevention Network (VPN) angebunden wurde. Die Ausstiegshilfe und -begleitung von islamis32 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN tisch Radikalisierten sowie die Beratung des sozialen Umfelds stehen im Zentrum der Arbeit der Beratungsstelle Hessen. Über das Landesprogramm "Hessen - aktiv für Demokratie und gegen Extremismus" wurden seit 2020 in Landkreisen, kreisfreien Städten und Sonderstatusstädten Fachstellen für Demokratieförderung und phänomenübergreifende Extremismusprävention (DEXT) eingerichtet. Die DEXT-Fachstellen sind auf lokaler und regionaler Ebene Ansprechpartner in Bezug auf alle extremistischen Phänomenbereiche. Die Schwerpunkte der Arbeit orientieren sich am jeweils örtlichen Bedarf. Das LfV führte mit den DEXT-Fachstellen einige Fortbildungen - insbesondere für Mitarbeiter kommunaler öffentlicher Stellen sowie für die Zivilgesellschaft - durch. Mittels der DEXT-Fachstellen können anlassbezogene Informationen des LfV über extremistische Entwicklungen noch gezielter an die Bedarfsträger vor Ort transportiert und somit die regionale Vernetzung in Sachen Extremismusprävention gestärkt werden. Die Ansprechpartner der DEXT-Fachstellen sind über www.hke. hessen.de, das heißt die Homepage des HKE, erreichbar. Im November 2022 referierte das LfV auf Einladung der DEXT-Stelle des Lahn-Dill-Kreises in Wetzlar zum Thema "Linksextremismus: Ideologie, Ziele und Einflussnahme auf die Klimabewegung". Prävention für die Wirtschaft | Informationen über die Aktivitäten und Dienstleistungen des LfV zum Thema Wirtschaftsschutz finden Sie im Kapitel Spionageund Cyberabwehr/Wirtschaftsschutz. Prävention für Justiz und Polizei | Im Justizressort führt das LfV regelmäßig Sensibilisierungsmaßnahmen durch. Das LfV bildet dabei auch Justizvollzugsbeamte fort. Zudem veranstaltet das LfV jährlich Justizseminare zu den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, Reichsbürger und Selbstverwalter sowie Islamismus für Richter, Staatsanwälte und Bewährungshelfer in Zusammenarbeit mit der Justizakademie Hessen des Hessischen Ministeriums der Justiz. Das LfV ist regelmäßig und anlassbezogen in die Ausund Fortbildung der Hessischen Polizei eingebunden und hält auf Anfrage Vorträge an der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS) vor Studiengruppen. Das LfV beteiligt sich auch mit Vorträgen für Staatsschützer an den Staatsschutzmodulen der Hessischen Polizeiakademie (HPA), die Teil der HöMS ist. Seit 2020 führt das LfV ein eigenes Wahlpflichtmodul an der HöMS in Kassel für das jeweilige Abschlusssemester des Fachbereichs PoHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 33 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN lizei zum Thema "Extremismus" durch. Seit 2019 hat das Kompetenzzentrum Rechtsextremismus (KOREX) des LfV eine sehr hohe Zahl an Führungskräften mehrerer hessischer Polizeibehörden im Rahmen einer Vielzahl von Einzelterminen über Erscheinungsformen, (Verschwörungs-)Narrative, Strategien und Ideologieelemente des Rechtsextremismus aufgeklärt und sensibilisiert. Im Berichtsjahr wurden insbesondere die Fortbildungsmaßnahmen des KOREX für die Hessische Bereitschaftspolizei intensiviert und systematisiert. Ziel war es unter anderem, die Polizeibeamten auf ein möglicherweise gravierendes Protestgeschehen von Extremisten im Herbst und Winter vorzubereiten. So wurden bei einer Vielzahl von Fortbildungsterminen sämtliche Organisationseinheiten an allen Standorten der Hessischen Bereitschaftspolizei fortgebildet. Auch bei der Bundespolizei führte das KOREX zahlreiche Fortbildungen für Führungskräfte der Direktion Flughafen Frankfurt am Main durch. Ausbau der (digitalen) Präventionsarbeit - Prävention im Kultusbereich | Während der Corona-Pandemie vermittelte das LfV sein Präventionsangebot mittels digitaler Formate. Mit dem Abflauen der Pandemie war es im Berichtsjahr möglich, wieder verstärkt Präsenzveranstaltungen durchzuführen. Die nun etablierten Onlinefortbildungen werden auch künftig bei Bedarf angeboten, sodass auch ein breit verteiltes Publikum mit geringem Aufwand erreicht werden kann. Mit den eigenständig entwickelten und produzierten Erklärvideos zu den Themen "Die Neue Rechte" und "Extremistische Beeinflussung des Corona-Protestgeschehens" offeriert das LfV ein zusätzliches digitales Bildungsangebot - insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene. Die Videos sind Teil der Präventionsarbeit des LfV und werden für Lehrkräfte im Kultusbereich zur selbständigen Extremismusprävention unterstützend angeboten. Die Erstellung von Erklärvideos und anderen digitalen Formaten soll in Zukunft intensiviert werden. Zusammen mit dem Kultusministerium und dem HKE setzte das LfV seine Präventionsarbeit im Berichtsjahr zum Beispiel mit der Beteiligung an der Fortbildung der "Netzwerk-Lotsen" fort. Diese "Lotsen" sind an Schulen federführend für die Extremismusprävention zuständig. Schulamtsübergreifend und schulamtsbezogen führte das LfV eine Vielzahl von Fortbildungen zu verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen durch. Nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Fortbildungsreihe zu einzelnen extremistischen Phänomenbereichen für das Staatliche Schulamt Fulda erweiterte das LfV sein Fortbildungsformat und etablierte 34 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN das Austauschforum Extremismus, das aus Lehrkräften und LfV-Mitarbeitern besteht. Das Forum fungiert als Fortsetzungsmodul für die Basisfortbildungen des Staatlichen Schulamts Fulda zu extremistischen Phänomenbereichen. Im Forum wurden aktuelle Themen, wie zum Beispiel die extremistische Einflussnahme auf das Protestgeschehen in Bezug auf den "heißen Herbst", behandelt. Mit dem Austauschforum besteht eine regelmäßige Kommunikationsund Kooperationsplattform, welche die Möglichkeit bietet, interdisziplinär an Lösungsstrategien zum Umgang mit Extremismus im schulischen Bereich zu arbeiten. Sein Präventionsangebot im Kultusbereich richtet das LfV generell an Lehrkräfte. Präventionsveranstaltungen für Schüler finden nur auf Anfrage von Schulen und bei anlassbezogenen Ausnahmen statt. Die Veranstaltungen des LfV sind dabei in das pädagogische Konzept der jeweiligen Schule eingebettet. Im Berichtsjahr führte das LfV Workshops zu verschiedenen extremistischen Phänomenen unter anderem an folgenden Schulen durch: Modellschule Obersberg in Bad Hersfeld, Blumensteinschule in Wildeck (Landkreis Hersfeld-Rotenburg), Rabanus-Maurus-Schule in Fulda (Landkreis Fulda), Ernst-Ludwig-Schule in Bad Nauheim, Wolfgang-Ernst-Gymnasium in Büdingen (Wetteraukreis) und Brüder-Grimm-Schule in Steinau an der Straße (Main-Kinzig-Kreis). Weitere Präventionsmaßnahmen | Seit 2020 veranstaltet das LfV jährlich ein Seminar zu den verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen für die Zentrale Fortbildung (ZF) des Landes Hessen. Führungskräfte und Beschäftigte des Landes Hessen sollen über das fest ins Programm der ZF aufgenommene Angebot die Möglichkeit erhalten, sich in einem interdisziplinären Teilnehmerfeld auszutauschen und zu den verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen übergreifend fortzubilden. Das LfV setzte im Berichtsjahr verstärkt auf die Beteiligung an öffentlichen Veranstaltungen. Neben der Veranstaltung der DEXT-Stelle des Lahn-Dill-Kreises zum Thema "Linksextremismus: Ideologie, Ziele und Einflussnahme auf die Klimabewegung" referierte das LfV in Bad Nauheim (Wetteraukreis) zum Thema "Demokratie in Gefahr? Rechtsextremisten und Verfassungsfeinde im Kontext des aktuellen Protestgeschehens - Aktuelle Entwicklung und Ausblick für den Herbst und Winter". Zu der Veranstaltung mit anschließender Podiumsdiskussion hatte die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Wetterau e. V. in Kooperation mit der Initiative Demokratie schützen Bad Nauheim geladen. Beide Veranstaltungen richteten sich primär an die Zivilgesellschaft. Insbesondere die rege Teilnahme an der DisHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 35 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN kussionsund Fragerunde im Anschluss zeigte das große Interesse der Zuhörer. Meldestelle Hessen gegen Hetze | Mit der 2020 gegründeten Meldestelle Hessen gegen Hetze unterhielt das LfV eine Kooperation. Dabei wurden insbesondere ein regelmäßiger Austausch gepflegt, mehrere Schulungen zu den verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen für deren Mitarbeiter durchgeführt und Präventionstermine gemeinsam wahrgenommen. Ziel der durch das Hessen CyberCompetenceCenter (Hessen3C) des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport betriebenen Meldestelle ist es, den Bürgern die Möglichkeit zu bieten, den zuständigen Behörden Hate Speech einfach und schnell zu melden. Seit dem 3. Februar 2023 können der Meldestelle Hessen gegen Hetze auch Sachverhalte gemeldet werden, die keinen Onlinebezug haben. Darunter fallen zum Beispiel extremistische Aktivitäten wie Flugblattverteilungen und Informationsstände, die nicht direkt mit Hate Speech in Verbindung stehen. Die Meldestelle ist erreichbar unter: www.hessengegenhetze.de. Informationsangebote des LfV | Damit sich die Bürger gezielt mit verschiedenen extremistischen Phänomenbereichen auseinandersetzen können, gibt das LfV Informationsbroschüren heraus. Folgende Publikationen können derzeit beim LfV direkt angefordert bzw. über dessen Internetpräsenz abgerufen werden (siehe unten Kontakt und Internetpräsenz): * Verfassungsschutz in Hessen - Beobachten, analysieren und informieren, * Extremismus erkennen - Handreichung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Flüchtlingshilfe, * Salafismus: Extremistische Bestrebungen in Hessen, * "Die "Neue Rechte" - Eine Gefahr für unsere Demokratie", * Kennzeichen und Symbole der Rechtsextremisten, * Gedenkund Jahrestage von Rechtsextremisten, * Rechtsextremismus und Sonnwendfeiern, * Verfassungsfeindliche Bestrebung: "Reichsbürger" und "Selbstverwalter", * Mit Militanz zur Errichtung einer "herrschaftsfreien Gesellschaft", * PAAF Analysen 1 - "... und diese Gerüchte stammen nicht von irgendwelchen Nazis!" Eine Studie zu Erscheinungsformen und ideologischen Hintergründen antisemitischer Agitation in den sozialen Netzwerken, * PAAF Analysen 2 - Filter ohne Blase. Wie die rechtsextremistische Szene sich über das politische Tagesgeschehen informiert. 36 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Darüber hinaus finden sich weitere Informationsmaterialien auf den Internetseiten des BfV (www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen) und der anderen Landesämter für Verfassungsschutz. Präventionsarbeit in Zahlen | Im Vergleich zu den beiden Vorjahren (2020: 162, 2021: 199) nahm die Anzahl der Präventionstermine (295) im Berichtsjahr deutlich zu. Die meisten Präventionsveranstaltungen beschäftigten sich mit dem Phänomenbereich Rechtsextremismus, dann folgten Veranstaltungen zum Islamismus, Linksextremismus und zu der Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates. Die pandemiebedingten Terminausfälle in den Jahren 2020 und 2021 sind in der Tabelle nicht enthalten. Kontakt und Internetpräsenz | Alle Bürgerinnen und Bürger können sich an das LfV wenden. Die Homepage des LfV ist unter Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 37 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN www.lfv.hessen.de aufrufbar. Auf der Homepage steht auch ein Kontaktformular zur Verfügung. Bei Fragen zur Prävention ist das LfV unter der Telefonnummer 0611-720/1966 und der E-Mail-Adresse praevention@lfv.hessen.de zu erreichen. Fragen zum Thema Wirtschaftsschutz können an die E-Mail-Adresse wirtschaftsschutz@ lfv.hessen.de gerichtet werden. 38 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN - EIN ÜBERBLICK - WESENTLICHE ECKPUNKTE - RECHTSEXTREMISMUS - REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER - VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES - LINKSEXTREMISMUS - ISLAMISMUS - EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG - ORGANISIERTE KRIMINALITÄT (OK) - SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ EXTREMISMUS IN HESSEN WESENTLICHE ECKPUNKTE Extremistisches Personenpotenzial in Hessen - Gewaltorientierung | Mit 13.295 Personen ging das gesamte extremistische Personenpotenzial in Hessen im Berichtsjahr gegenüber 2021 (13.680) um 385 Personen zurück (= minus 2,8 Prozent). Dies resultierte vor allem aus einer Abnahme des extremistischen Personenpotenzials mit Auslandsbezug (2022: 4.100, 2021: 4.350), des islamistischen (2022: 3.865, 2021: 4.000) sowie des linksextremistischen Personenpotenzials (2022: 2.650, 2021: 2.770). Dagegen nahm das Personenpotenzial des Rechtsextremismus von 1.710 (2021) auf 1.730 zu (= plus 1,1 Prozent). Die Anzahl der gewaltorientierten Personen stieg ebenfalls an (2022: 880, 2021: 860), sodass deren Anteil am gesamten rechtsextremistischen Personenpotenzial weiterhin bei etwas mehr als 50 Prozent lag. Das Personenpotenzial der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene erhöhte sich von 1.000 (2021) auf 1.100, was einem Zuwachs von zehn Prozent gleichkam. Dabei verdeutlichten die im Dezember unter anderem in Hessen von der Polizei vorgenommenen Durchsuchungen, dass von Angehörigen dieser Szene eine hohe Gefahr ausgeht. In Bezug auf das Personenpotenzial des Phänomenbereichs Verfassungsschutz- * Abzüglich Mehrfachzählungen im Bereich Reichsbürger und Selbstverwalter. 40 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN relevante Delegitimierung des Staates liegen nach wie vor keine validen Angaben vor. Die Anzahl der als gewaltorientiert einzustufenden Linksextremisten nahm von 590 (2021) auf 600 (2022) zu und betrug damit fast 23 Prozent ihrer Gesamtzahl. Eine valide Quantifizierung der Gewaltorientierung in den Phänomenbereichen Islamismus und Extremismus mit Auslandsbezug war weiterhin nicht möglich, da die klandestinen Verhaltensweisen - insbesondere von Anhängern des gewaltorientierten Salafismus/Jihadismus - und die Anonymisierungsmöglichkeiten sozialer Medien bzw. Netzwerke nicht immer die entsprechende Zuordnung zu einer bestimmten Person ermöglichten. Nach dem Rückgang 2021 reduzierte sich die Zahl der Islamisten im Berichtsjahr erneut, das heißt von 4.000 (2021) auf 3.865 (2022), was einem Minus von 3,3 Prozent entspricht. Hierfür war die Abnahme des salafistischen Personenpotenzials mitverantwortlich. Eine geringere jihadistische Anschlagsgefahr war hiermit allerdings nicht verbunden, diese war weiterhin unvermindert hoch. Entwicklung der Gesamtzahl der extremistischen Strafund Gewalttaten | Gegenüber 2021 erhöhte sich im Berichtszeitraum die Gesamtzahl der extremistischen Strafund Gewalttaten von insgesamt 1.172 (2021) auf 1.243 (= plus sechs Prozent). Innerhalb des Fünfjahreszeitraums 2018 bis 2022 erreichte die Gesamtzahl der extremistischen Strafund Gewalttaten des Berichtsjahrs - nach dem Rückgang im Jahr 2021 von 1.393 (2020) auf 1.172 - damit ihren zweithöchsten Stand. Am deutlichsten nahmen die Strafund Gewalttaten im Phänomenbereich Rechtsextremismus zu: Sie stiegen von 946 (2021) auf 1.051, was einem Plus von elf Prozent entspricht. Steigerungen gab es auch in den Phänomenbereichen Extremismus mit Auslandsbezug und Islamismus: von 28 (2021) auf 37 (2022) bzw. von 22 (2021) auf 27 (2022). Dagegen nahmen die Strafund Gewalttaten im Phänomenbereich Linksextremismus signifikant ab: Sie verminderten sich von 131 (2021) auf 79 (2022), was einem Minus von 40 Prozent entspricht. Abnahme der Gewalttaten | Nach dem besorgniserregenden Fünfjahreshoch (2018 bis 2022) der Gesamtzahl der extremistischen Gewalttaten in Hessen im Jahr 2021 (91) sank die Anzahl dieser Delikte auf 60, was einem Rückgang um 34 Prozent gleichkommt. Dabei entfielen nahezu alle Gewalttaten auf die Phänomenbereiche Rechtsextremismus (50) und Linksextremismus (neun); ein Delikt wurde im Phänomenbereich Islamismus verübt. Die rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten stiegen von 42 (2021) auf 50 (2022) an (= plus Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 41 EXTREMISMUS IN HESSEN 19 Prozent), während sich die Gewalttaten im Phänomenbereich Linksextremismus deutlich von 42 (2021) auf neun (2022) verringerten (= minus 79 Prozent). In die Kategorie "nicht zuzuordnen" (NZ), die 2021 zum ersten Mal in der Statistik der extremistisch motivierten Strafund Gewalttaten in Hessen Aufnahme fand, entfielen 49 Delikte (2021: 45). RECHTSEXTREMISMUS Personenund Gewaltpotenzial - anhaltende rechtsterroristische Gefahr | Das rechtsextremistische Personenpotenzial wuchs im Berichtsjahr um 20 auf 1.730 Personen an, womit die Gesamtzahl der Rechtsextremisten in Hessen im Rahmen einer kontinuierlichen Steigerung erneut den höchsten Wert im zurückliegenden Fünfjahreszeitraum von 2018 bis 2022 erreichte. Die Zunahme resultierte vor allem aus einer Erhöhung im Bereich der parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen, wobei es sich vor allem um Neonazis handelte. Mit 880 Personen erhöhte sich die Anzahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten gegenüber 2021 um 20. Damit besteht mehr 42 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN denn je die Gefahr, dass Szeneangehörige aufgrund ihrer persönlichen Situation, ihres sozialen Umfelds, ihrer Beeinflussung durch außen oder ihres Radikalisierungsgrads zu Handlungen neigen, die in tatsächliche Gewalt münden. Dass nach wie vor die Gefahr rechtsextremistisch motivierter Anschläge bestand, zeigen zwei Prozesse vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main. In beiden Fällen wurde den Angeklagten unter anderem die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat vorgeworfen. Einen 21-jährigen Angeklagten verurteilte das OLG im Mai 2023 zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten wegen versuchter Gründung einer terroristischen Vereinigung als Rädelsführer und Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Das Gericht war zu der Überzeugung gekommen, dass er vollständig die Ideologie der Atomwaffen Division (AWD) übernommen hatte. Deren Ziel sei es, einen "Rassen"und Bürgerkrieg zu beginnen, um die angebliche Verdrängung der "weißen Bevölkerung" zu verhindern. Opfer sollten Juden, Muslime, insgesamt Personen sein, die nicht den von der AWD gesetzten Normen entsprächen. Nach dem ideologischen Vorbild der AWD hatte der Verurteilte versucht, eine unabhängige und regional auf Hessen beschränkte sowie dauerhaft agierende Gruppierung mit dem Namen Atomwaffen Division Hessen zu gründen. Das Urteil war zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses des vorliegenden Berichts noch nicht rechtskräftig. Den ehemaligen Bundeswehroffizier Franco A. verurteilte das OLG Frankfurt am Main unter anderem wegen der Vorbereitung einer Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 43 EXTREMISMUS IN HESSEN schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Dabei stellte das Gericht fest, dass Franco A. eine besondere Abneigung gegenüber Menschen jüdischen Glaubens hege, denen er das Streben nach einer "Weltherrschaft des Zionismus" unterstelle. Dieser "Zionismus" führe demnach einen systematischen "Rassenkrieg" und sei letztlich an der "Auslöschung der deutschen Rasse" schuld. Verantwortlich für die vermeintliche "Zersetzung der deutschen Nation" seien nach Auffassung von Franco A. insbesondere hochrangige Politiker und Personen des öffentlichen Lebens, die sich durch ihr flüchtlingsfreundliches Engagement besonders auszeichneten. Das Urteil war zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses des vorliegenden Berichts noch nicht rechtskräftig. Das Urteil des OLG Frankfurt am Main vom 28. Januar 2021 gegen den Mörder des früheren Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke, in dem das Gericht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten feststellte, ist rechtskräftig. Der Freispruch für die in dem Verfahren wegen Beihilfe angeklagte weitere Person ist ebenfalls rechtskräftig. Strafund Gewalttaten | Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Strafund Gewalttaten in Hessen erhöhte sich von 946 (2021) auf 1.051 und erreichte damit innerhalb des Fünfjahreszeitraums von 2018 bis 2022 nach 2020 (1.216) den zweithöchsten Wert. Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten stieg von 42 (2021) auf 50, was der höchste Wert des zurückliegenden Zeitintervalls ist, und verdoppelte sich somit seit 2018 (25). Angesichts der gegenüber 2021 erhöhten Anzahl gewaltorientierter Rechtsextremisten (880) misst das LfV der Beobachtung der rechtsextremistischen Szene höchste Priorität zu. Flüchtlinge im Visier von Rechtsextremisten | Im Kontext rechtsextremistischer Gewalt ist vor allem besorgniserregend, dass die Gesamtzahl der Straftaten der politisch motivierten Kriminalität (PMK) - rechts 44 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN - im Themenfeld "Asyl/Flucht" im Berichtsjahr zunahm: Sie stieg von 33 (2021) auf 42 und erreichte damit im Zeitraum 2018 bis 2022 nach dem Jahr 2020 (70) den zweithöchsten Wert. Die Zahl der rechtsextremistischen Delikte, die sich speziell gegen Asylbewerber/ Flüchtlinge richteten, erhöhte sich von 30 (2021) auf 36, die der gegen Asyl-/Flüchtlingsunterkünfte gezielten von drei (2021) auf sechs. Zu Straftaten, die sich gegen Hilfsorganisationen und Helfer richteten, kam es im Berichtsjahr - wie bereits 2021 - nicht. Nachdem es 2022 weder zu einem "heißen Herbst" noch einem "Wutwinter" kam und die rechtsextremistische Szene sich wieder stärker bemühte, in der Bevölkerung vorhandene Ängste in Bezug auf das Thema "Asylbewerber/Flüchtlinge" zu schüren, ist zu befürchten, dass die Gesamtzahl der Straftaten der PMK - rechts - in diesem Bereich weiter steigen wird. Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen: Identitäre Bewegung Deutschland e. V. (IBD)/Identitäre Bewegung Hessen (IBH) | Der bereits 2021 erkennbare Trend, wonach die Aktivitäten der IBH zurückgingen, hielt im Berichtsjahr an. Aktivisten beteiligten sich zunächst an Protesten gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" und fokussierten sich im Zuge der allmählich abflauenden Pandemie wieder mehr auf ihr eigentliches Thema, das heißt die Migrationsund Asylpolitik, und sprachen von einer "irren Multikulti-Ideologie". Die unter anderem wegen des in Frankreich verhängten Verbots der Mutterorganisation Generation Identitaire initiierte strategische Neuausrichtung der IBD nahm konkretere Formen an. Auf den Telegramund Instagram-Kanälen Aktives Hessen veröffentlichten IBHAktivisten regelmäßig Berichte über Aktionen. Damit wollten sie den "Extremismusgehalt" der Identitären Bewegung (IB) und deren Organisationsstruktur verschleiern. Allerdings verwendete die IBH bei Aktionen ihre alten Symbole, etwa bei der Verteilung von Flugblättern und bei einer Protestaktion gegen die Errichtung eines Windparks im Reinhardswald (Landkreis Kassel). Hatte die IBD im Vorjahr das "Alpenlager 2021" durchgeführt, so fand nun das "Bundeslager 2022" statt. In Erinnerung an den im "Heiligen Land" um 1190 gegründeten und später vor allem in Preußen und im Baltikum tätigen Deutschen Orden sollte ins Bewusstsein gerufen werden, was "Wille, Disziplin und Mut zu schaffen vermögen, wenn eine verschworene Gemeinschaft von Männern sich unter ihrem Banner versammelt". Vergleichbar zum maskulin geprägten "Alpenlager" hieß es in einer Kurzbeschreibung des "Bundeslagers": "Überall stand die Frage im Raum: Wie können wir stärkere, klügere, fähigere, kurz: bessere Männer werden?" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 45 EXTREMISMUS IN HESSEN Angesichts der mit dem russischen Überfall auf die Ukraine einhergehenden öffentlichen Diskussion über eine bevorstehende Gasverknappung forderten IB-Aktivisten, die Gaspipeline Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen. Mit der "Aktion Solidarität" protestierten sie außerdem gegen "Teuerungen, [die] suizidale Sanktionsund Migrationspolitik und die Vernichtung Deutscher Interessen, Deutscher Zukunft und Deutscher Identität". Bereits in der Kurzbeschreibung des "Bundeslagers" hatte es geheißen: "Wir lassen den Sommerurlaub sausen, um uns gemeinsam für einen heißen Herbst und kalten Winter zu wappnen". "Strukturaufbau" statt "heißer Herbst" | Die vielerorts befürchteten "Aufstände" im Zuge des "heißen Herbsts" blieben jedoch aus. Seit Oktober ging die Zahl der Demonstranten, die gegen Inflation, Preissteigerungen, Energieknappheit und insgesamt gegen die Regierungsmaßnahmen protestierten, kontinuierlich zurück. Zuletzt nahmen bei den schwerpunktmäßig in Ostdeutschland stattfindenden Protesten vor allem Rechtsextremisten, Verschwörungsanhänger, Reichsbürger und Selbstverwalter sowie Personen teil, die dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzurechnen sind. Maßgebliche Protagonisten der Neuen Rechten, darunter Martin Sellner, der führende Kopf der IB im deutschsprachigen Raum, erhofften sich jedoch einen aus den Protesten resultierenden "Nachbrenneffekt": Vor allem im Osten Deutschlands sollte ein neues "soziales Milieu" entstehen, das als "Markstein" für einen Zwischenschritt auf dem rechtsextremistischen Weg zur Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dienen sollte. Das Protestgeschehen sollte als ein Instrument fungieren, um im "metapolitischen" Raum dominierenden Einfluss auf das Denken und Handeln der demokratischen Mehrheitsgesellschaft zu gewinnen. So gab ein anderer wichtiger Protagonist der Neuen Rechten die Devise aus, dass man keine "Aufstände, Revolten oder andere Tag-X[-]Szenarien" erwarten, sondern stattdessen auf "nachhaltigen Strukturaufbau, Community-Organizing in der Fläche und die Kampagnenfitness für das rechte Lager" setzen solle: "Denn die Herausbildung eines sozialen Milieus ist kein plötzlicher Akt". Vor diesem Hintergrund ist trotz der nachlassenden Proteste in Bezug auf die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung keine Entwarnung zu geben, sodass es gilt, die Bestrebungen der Neuen Rechten - insbesondere die Versuche ihrer Einflussnahme auf die Mitte der Gesellschaft in Form der Entgrenzung des Rechtsextremismus - weiterhin genau zu beobachten. 46 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN Sonstige parteiunabhängige Strukturen: GegenUni (GU) - Thule-Seminar e.V. - Recht und Wahrheit | Im Sinne der Entgrenzung des Rechtsextremismus und des Aufbaus eines neuen "sozialen Milieus" agierte auch das vor allem im Internet aktive, von einem Rechtsextremisten aus Hessen im Sommer 2021 gegründete "Bildungsprojekt" GU. Als Gegenentwurf zu den als "Zwingburg[en] des antideutschen ideologischen Staatsapparats" verunglimpften Hochschulen beabsichtigte die GU, den "Kampf um den geistigen Raum der Nation" zu führen. Dabei wollte die GU langfristig den "metapolitischen" Sieg erringen. Durch virtuelle Lesekreise und Seminare - etwa über die Konservative Revolution während der Weimarer Republik und deren maßgeblichen Repräsentanten Carl Schmitt - versuchte sie, die "junge, rechte Intelligenz" aus ihren "verstreuten Nischen" zu holen, um deren Ideen zu verbreiten. Darüber hinaus war die GU in der "realen Welt" tätig, indem sie zum Beispiel in Zusammenarbeit mit dem Institut für Staatspolitik (IfS, Verdachtsfall des BfV im Berichtsjahr) in Sachsen-Anhalt eine Frühjahrsund Sommerakademie ausrichtete. Die Kooperation mit dem IfS, dem maßgeblichen "Thinktank" und Impulsgeber der Neuen Rechten, zeigt, dass es der GU in kurzer Zeit gelang, zu einer festen und "anerkannten" Größe innerhalb dieses Spektrums aufzusteigen. Dr. Pierre Krebs, der Leiter und Gründer des Thule-Seminars e.V., das sich als "geistig-geschichtliche Ideenschmiede für eine künftige Neuordnung aller europäischen Völker" versteht, betrieb weiterhin seine Homepage, den Eigenverlag Ahnenrad der Moderne und den Buchund Kunstversand Ariadne. In Brandenburg nahm Krebs an einem von der Deutschen Stimme, dem Presseorgan der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, organisierten "Netzwerktag" teil. Für den Überfall Russlands auf die Ukraine machte Krebs "Washington, das Mekka der Mörder aller Völker" verantwortlich. Es sei ein Krieg zwischen der "liberalen/merkantilen Welt des völkervernichtenden Globalismus" des "Westens" und der "russischen zivilisierten Welt der identitären Völker und Kulturen". Der in Wesertal (Landkreis Kassel) in einem ehemaligen Hotel wohnhafte Rechtsextremist Meinolf Schönborn gab nach wie vor die Publikation Recht und Wahrheit heraus, wobei im Rahmen der Veröffentlichung der Zeitschrift ein "Arbeitskreis" tätig war und Stammtische angekündigt wurden. Beide Zirkel setzten sich aus Angehörigen des neonazistischen Spektrums, der rechtsextremistischen Parteien sowie der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene zusammen. Darüber hinaus betrieb Schönborn den Z-Versand und machte Werbung für das "Kulturzentrum Ludenbeck", das der Vernetzung "Gleichgesinnter" dienen sollte. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 47 EXTREMISMUS IN HESSEN Lose strukturierter Rechtsextremismus: Neonazis und subkulturell orientierte Rechtsextremisten | Im Zuge der nachlassenden COVID19-Pandemie und des allmählichen Auslaufens der staatlichen "Corona-Maßnahmen" nahmen die öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Neonaziszene zu. So beteiligten sich Neonazis vor allem an Protestund Gedenkmärschen. Es kam zu kleineren regionalen Veranstaltungen und Treffen, die der Vernetzung und Harmonisierung der Szene dienten. Auch das Internet bzw. die sozialen Medien bildeten für Neonazis unverändert einen wichtigen Agitations-, Aktionsund Vernetzungsraum. Dabei fungierte die virtuelle Welt als Plattform, um Kontakte zu Personen zu knüpfen, die bisher keinen Bezug zum Rechtsextremismus hatten. Wegen des Verdachts der Fortführung der verbotenen Organisation Combat 18 Deutschland (C 18 Deutschland) nahm die Polizei im April Durchsuchungsmaßnahmen gegen 21 Rechtsextremisten vor, darunter drei Personen aus Hessen. Ihnen wurde unter anderem vorgeworfen, den organisatorischen Zusammenhalt von C 18 Deutschland aufrechterhalten und trotz des Verbots neue Mitglieder geworben zu haben. Die neonazistische Gruppierung Scheiteljugend Kassel betrieb mehrere Accounts in den sozialen Medien und warb um neue Mitglieder, vor allem aus dem Bereich Nordhessen. Dabei gab sich die Gruppierung "gemäßigt" und verwendete in ihren Veröffentlichungen vordergründig harmlos wirkende Begriffe wie "Patriotismus", "Naturverbundenheit" und "Brauchtumspflege". Zuletzt war in Bezug auf die Agitation im virtuellen Raum jedoch eine sukzessive Abkehr von dieser Verschleierungstaktik zu beobachten. Ebenso war die Scheiteljugend Kassel in der "realen" Welt aktiv, wie in den sozialen Medien veröffentlichte Fotodokumentationen zeigten. Wie im Vorjahr fanden in Hessen zwei rechtsextremistische Musikveranstaltungen statt. Darüber hinaus löste die Polizei im Dezember einen Liederabend mit dem rechtsextremistischen Sänger Lunikoff im Szeneobjekt Teutonicus in Leun (Lahn-Dill-Kreis) auf. Da rechtsextremistische Musik als jugendorientiertes Medium unvermindert eine bedeutende Rolle für subkulturell orientierte Rechtsextremisten spielte, stand diese Szene weiterhin im Fokus des LfV. Ziel der zuständigen Behörden in Hessen war es, rechtsextremistische Musikveranstaltungen unter Ausschöpfen aller rechtlichen Möglichkeiten zu verhindern oder aufzulösen. Rechtsextremistische Musik bietet Jugendlichen verschiedene Identifikationsmöglichkeiten: das Pflegen eines stark emotionalisierten Gemeinschaftsverständnisses, das Beschwören von Feindbildern ("Migranten", "Muslime", "Juden", "Staat" und dessen Repräsentanten), das Verherrlichen von Gewalt 48 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN sowie das Verharmlosen und Glorifizieren des Nationalsozialismus. Diesen Bestrebungen gilt es, mittels der rechtlich gebotenen Instrumentarien auch künftig einen Riegel vorzuschieben. Neben der Musik nahm der Kampfsport in der erlebnisfixierten Welt der subkulturell orientierten Rechtsextremisten eine zentrale Rolle ein. Der Kampfsport diente dabei als verbindendes Element zwischen verschiedenen Strömungen der Szene. So trafen Neonazis auf Angehörige des parteigebundenen Rechtsextremismus, wobei die ideologischen Unterschiede teilweise in den Hintergrund traten. Dafür rückten andere Themen wie "Volksgesundheit" und "Wehrhaftigkeit" in den Fokus. Sie sollten dazu dienen, einen "neuen Menschenschlag", der stark an das im Nationalsozialismus propagierte Ideal des "Herrenmenschen" angelehnt ist, zu schaffen. So propagierte die neonazistische Partei Der Dritte Weg (Kampf-)Sport als "Mittel zur Gemeinschaftsbildung" und als eine Betätigungsform, in welcher der "deutsche und westeuropäische Mann sich seiner Männlichkeit noch bewusst sein" dürfe. In diesem Kontext führte die Polizei im April in elf Ländern bei insgesamt 50 Personen Durchsuchungen durch und nahm vier Personen - darunter ein Rechtsextremist aus Hessen - fest. Die Festgenommenen waren dringend verdächtig, als maßgebliche Protagonisten der rechtsextremistischen Kampfsportgruppe Knockout 51 mehr als 50 Körperverletzungsdelikte begangen sowie andere Personen ideologisch indoktriniert und für den Straßenkampf vorbereitet zu haben. Bearbeitung integrierter bzw. abgetauchter Rechtsextremisten (BIAREX) | In Anbetracht der Erkenntnisse im Mordfall Dr. Walter Lübcke wurde im Juli 2019 in der Abteilung 2 des LfV (Rechtsextremismus/-terrorismus) die Organisationseinheit BIAREX geschaffen. Sie unterzieht Rechtsextremisten, die in der Vergangenheit zwar einschlägig rechtsextremistisch in Erscheinung traten, in der Gegenwart aber - womöglich bereits seit vielen Jahren - eine unauffällige Biographie aufweisen, sukzessive einer vertieften Einzelfallanalyse. Dabei wird insbesondere überprüft, ob aktuell Radikalisierungspotenziale feststellbar sind oder ob eine Loslösung von der rechtsextremistischen Szene plausibel erscheint. Durch die fokussierte Analyse von Einzelpersonen sollen Radikalisierungspotenziale frühzeitig erkannt werden, sodass Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können. Der Ansatz einer vertieften Individualanalyse mit standardisierten Betrachtungsebenen stellt eine Ergänzung der bisherigen Methoden der Auswertung und einen weiteren Schritt im Ausbau der Analysekompetenz des LfV dar. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 49 EXTREMISMUS IN HESSEN Die vertiefte Einzelfallanalyse durch BIAREX geschieht auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse aus den Bereichen der Extremismusforschung, Kriminologie und Soziologie unter Anwendung eines standardisierten Mehraugenprinzips. Von besonderer Bedeutung ist für die Analyse die Betrachtung des individuellen Verhaltens, eingebettet in die biographischen und sozialen Rahmenbedingungen der jeweiligen Person. Hierbei sollen die jedem Einzelfall inhärente individuelle Einstellung aufgedeckt und hieraus individuelle Handlungsmuster abgeleitet werden. Hierzu werden Erkenntnisse biographisch aufbereitet und durch geeignete Maßnahmen - wie die Informationserhebung bei anderen Behörden, Ermittlungen oder die Recherche im Internet nach (Selbst-)Darstellungen der Person - ergänzt. Es wird somit der Rückgriff auf generalisierende und simplifizierende Muster vermieden. Fokussierte operative Bearbeitung herausragender Akteure im Rechtsextremismus (FOBAREX) | Außerdem wurde im LfV im September 2020 die Einheit FOBAREX geschaffen, um die Bearbeitung des personenbezogenen Ansatzes im Phänomenbereich Rechtsextremismus zu intensivieren. Dabei nahm FOBAREX Rechtsextremisten in den Fokus, die als besonders relevant eingestuft werden. FOBAREX unterzog Rechtsextremisten, auf die folgende Merkmale zutrafen, einer engmaschigen qualitativen personenspezifischen Analyse: * Vorhandensein eines vergleichsweise hohen Radikalisierungspotenzials, * Tätigkeit als Vernetzungsakteure, wobei sie in besonderem Maße zur Vernetzung innerhalb der rechtsextremistischen Szene beitragen, * ihren Schwerpunkt im Bereich rechtsextremistischer Aktivitäten (etwa als Initiatoren von Veranstaltungen) haben oder * der rechtsextremistischen Szene als Finanzierungsquelle dienen. Zudem wurde durch FOBAREX die Analysekompetenz besonders für den Bereich des Internets gestärkt, da in den letzten Jahren eine immer stärker werdende Verschiebung von Aktivitäten von Rechtsextremisten in den virtuellen Raum festzustellen ist. Parteigebundene Strukturen bzw. Parteien: Junge Alternative (JA) Hessen | Indem sie erwiesen rechtsextremistische und im Berichtsjahr durch das BfV als Verdachtsfall geführte Gruppierungen "aus dem politischen Vorfeld" zu ihrem Bundeskongress in Thüringen eingeladen hatte, bekannte sich die JA zur Neuen Rechten und damit auch zu der von ihr propagierten rechtsextremistischen Ideologie. Die JA Hessen charakterisierte den Bundeskongress unter anderem als "fortschrittliches Wochenende" und wies damit der Zusammenarbeit mit diesen - im Sinne der Neuen Rechten - "metapolitischen" Gruppie50 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN rungen eine wichtige Funktion zu. Darüber hinaus propagierte ein Funktionär der JA Hessen wiederholt das von der IBD verbreitete rechtsextremistische Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs", während Mitglieder der JA und der JA Hessen im Rahmen einer Protestaktion gegen die Errichtung eines Windparks in Nordhessen mit der Parole "Umweltschutz ist Heimatschutz" eine weitere gängige rechtsextremistische Formel benutzten. Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) - Junge Nationalisten (JN) | Lediglich einige Bezirksverbände der NPD Hessen waren im Berichtsjahr aktiv und traten - wie etwa die Bezirksverbände Mittelhessen und Wetterau-Kinzig - öffentlich in Erscheinung. Damit setzte sich der Trend der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der NPD fort. Auch im Berichtsjahr kritisierte die Partei die staatlichen "Corona-Maßnahmen", wobei ihre Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit nach dem weitgehenden Wegfall der Beschränkungen kaum zunahm. Auf dem Landesparteitag im Oktober wurde Stefan Jagsch zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. In diesem Rahmen gab er die Losung an die Anwesenden aus, sich in Anbetracht des Krieges in der Ukraine an regierungskritischen Protesten zu beteiligen, um "Demonstrationen gegen die Deutschland-Abschaffer, die offensichtlich mit einer hirnlosen Energiepolitik unsere Heimat zerstören wollen", zu unterstützen. Den Grund für die hohen Energiepreise sah die NPD in dem durch die Politik forcierten Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energien und in den Sanktionen gegen Russland. Dabei nahm die NPD gegenüber dem Aggressor und dem Verteidiger eine ambivalente Haltung ein. Sie unterstrich das ukrainische Recht auf freie Selbstbestimmung und bezeichnete das russische Vorgehen als "völkerrechtlich zumindest fragwürdig"; andererseits betrachtete die NPD die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) als Verantwortliche des Konflikts und kritisierte die Unterstützung der Ukraine durch die North Atlantic Treaty Organization (NATO). Die NPD forderte einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine, sofortige Friedensverhandlungen und die Aufhebung aller Sanktionen gegen Russland. Sowohl die Bundespartei als auch die NPD Hessen befürworteten das Konzept einer Neuausrichtung der Partei, womit auch die Namensänderung in Die Heimat verbunden war. Der entsprechende Vorschlag des Bundesvorstands auf dem Bundesparteitag im Mai in Altenstadt (Wetteraukreis) verfehlte jedoch die nötige Zweidrittelmehrheit. Trotz dieser Niederlage trat Frank Franz wieder zur Wahl des Bundesparteivorsitzenden an und wurde in seinem Amt bestätigt. Allerdings gab es in der Partei weiterhin Differenzen über den künftigen Weg der NPD. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 51 EXTREMISMUS IN HESSEN Die Aktivitäten der JN, welche die Haltung der Mutterpartei in Sachen Neuausrichtung unterstützten, gingen im Berichtsjahr erneut zurück. Das galt für die "reale" und virtuelle Welt, das heißt die JN entfalteten selbst nach der schrittweisen Rücknahme der staatlichen "Corona-Maßnahmen" nur in einem sehr geringen Maße wahrnehmbare Aktivitäten in Hessen, was auch auf ihre Kampagne schuelersprecher.info zutraf. Ursache hierfür waren die weiterhin bestehenden strukturellen und personellen Probleme der JN. Der Dritte Weg/Der III. Weg | Im Unterschied zur NPD ergriff der neonazistische Dritte Weg eindeutig Partei für die Ukraine und unterstützte das ukrainische Asov-Regiment, zu dem bereits früher Kontakte bestanden hatten. So berichtete Der Dritte Weg auf seiner Homepage über Hilfslieferungen, die Aktivisten der Partei an die Front in der Ukraine gebracht hätten. Zugleich versuchte Der Dritte Weg die aus der russischen Aggression resultierende Gasknappheit und die damit verbundenen negativen sozialökonomischen Auswirkungen für die eigenen Belange nutzbar zu machen. Bei Veranstaltungen und im Internet behauptete Der Dritte Weg: "Die wahre Krise ist dieses System, das schon lange moralisch und nun auch zunehmend wirtschaftlich bankrott ist. [...] Wir sind die Wende!" Darüber hinaus beteiligten sich Aktivisten der Partei im Rahmen der Proteste gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" nach eigenen Angaben regelmäßig an "Spaziergängen" in Hessen. Auf diese Weise versuchte Der Dritte Weg, Anschluss an nichtextremistische Teile der Bevölkerung zu finden, um sich weiteres Anhängerpotenzial zu erschließen. Wie in der Vergangenheit führte Der Dritte Weg zahlreiche andere Veranstaltungen durch, so etwa den traditionellen "Gedenkmarsch" für die Opfer des alliierten Bombenangriffs 1945 auf Dresden (Sachsen), die "Gedenkveranstaltung" "8. Mai - wir feiern nicht!" und das traditionelle "Heldengedenken" in Wunsiedel (Bayern). Über die Aktivitäten des Stützpunkts Westerwald/Taunus des Dritten Wegs wurde auf der parteieigenen Homepage berichtet. Zu den Veranstaltungen, die in erster Linie eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls bezweckten, gehörten unter anderem regelmäßig stattfindende Stammtische. Außerdem veranstaltete der Stützpunkt Westerwald/Taunus "Stützpunktabende", eine Wanderung in Nordhessen, Flugblattverteilungen im Lahn-Dill-Kreis, Selbstverteidigungskurse im Westerwald, Rechtsschulungen und eine Feldbergfahrt im Taunus. 52 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Signifikant gestiegenes Personenpotenzial - bundesweite Durchsuchungen | Blieb das Personenpotenzial der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene in den zurückliegenden Jahren in Hessen mit etwa 1.000 Personen konstant, so stieg es im Berichtsjahr auf 1.100 an. Davon waren rund 150 Personen dem Phänomenbereich Rechtsextremismus zuzurechnen. Bundesweit nahm das Personenpotenzial von 21.000 (2021) auf 23.000 zu. Bereits diese hohen Zahlen deuten auf die von der Szene der Reichsbürgerund Selbstverwalter ausgehende Gefahr hin, ebenso wie die umfangreichen staatlichen Exekutivmaßnahmen: Mehr als 3.000 Polizisten durchsuchten im Dezember in elf Ländern mehr als 160 Objekte. Dabei wurde 52 Personen vorgeworfen, als mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer einer Reichsbürgerorganisation sich die gewaltsame Beseitigung der staatlichen Ordnung sowie die anschließende Machtübernahme zum Ziel gesetzt zu haben. Unter den Betroffenen befanden sich auch in Hessen wohnhafte Personen; insgesamt wurden 25 Personen festgenommen. Die Polizei fand etliche legale und illegale Waffen sowie Datenträger, Namenslisten und andere Unterlagen. Laut dem GBA folgten die Mitglieder der terroristischen Vereinigung einem Gemenge aus Verschwörungsmythen, das aus Narrativen der Reichsbürgerund QAnon-Ideologie bestand. Die Beschuldigten waren der festen Überzeugung, dass Deutschland von Angehörigen eines "Deep State" regiert werde. "Befreiung" verspreche nach Einschätzung der Mitglieder der Vereinigung das unmittelbar bevorstehende Einschreiten der "Allianz", eines technisch überlegenen Geheimbunds von Regierungen, Nachrichtendiensten und Militärs verschiedener Staaten, einschließlich Russlands und der USA. Die Vereinigung sei, so der GBA, der festen Überzeugung, dass sich Angehörige der "Allianz" bereits in Deutschland aufhielten und deren Angriff auf den "Deep State" zeitnah bevorstehe. Fortbestand des Deutschen Reichs - Fantasiestaaten | Insgesamt propagierten Reichsbürger das Fortbestehen eines Deutschen Reichs; Selbstverwalter erfanden Fantasiestaaten und beanspruchten für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium. Sowohl Reichsbürger als auch Selbstverwalter - unter ihnen Anhänger von Verschwörungsnarrativen - erkannten die Bundesrepublik nicht als Staat an. Sie verstanden sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend und forderten Behörden sowie Gerichte auf, geltendes Recht nicht anzuwenden; außerdem leisteten Reichsbürger und Selbstverwalter mitunter Widerstand gegen gerichtlich angeordnete Zwangsvollstreckungen oder gaben amtliche Identitätsnachweise zuHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 53 EXTREMISMUS IN HESSEN rück. Das Gros der Szene wandte sich mit schriftlichen Eingaben an Behörden und deren Mitarbeiter, um etwa die eigene Weltsicht - oft in pseudojuristischer Sprache und Argumentation - als die einzig richtige kundzutun. Das Internet diente Reichsbürgern und Selbstverwaltern als bevorzugtes Medium zur Verbreitung ihrer "Weltanschauung" sowie zur Kommunikation und Vernetzung. Erfolglos versuchte in Hasselroth (Main-Kinzig-Kreis) ein dem Königreich Deutschland (KRD) zuzurechnender Aktivist ein Lebensmittelgeschäft und Projektzentrum des KRD zu eröffnen. In Frankfurt am Main machte der dem KRD zuzurechnende Verein LebensGlück e. V. vorübergehend ein Restaurant auf. Der Vaterländische Hilfsdienst (VHD) führte - mit Schwerpunkt in Südhessen - mehrere Veranstaltungen durch. Obwohl 2020 verboten, gab es Nachfolgeaktivitäten der Vereinigung Geeinte Deutsche Völker und Stämme, indem etwa Aktivisten im Reinhardswald (Landkreis Kassel) Schilder aufstellten, die das Gebiet als Eigentum einer Führungsperson der Vereinigung deklarierten und unter deren "Schutz" stellten. In Mittelhessen versuchte die Gruppierung Indigenes Volk Germaniten erfolglos, eine Veranstaltung durchzuführen, und verschickte reichsbürgertypische Schreiben an öffentliche Stellen. Affinität zu Waffen - Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse | Vor allem aufgrund der Waffenaffinität der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene und des ihr eigenen Aggressionspotenzials gilt seitens der hessischen Behörden in Bezug auf waffenrechtliche Erlaubnisse und Schusswaffenbesitz - wie auch für andere extremistische Phänomenbereiche - eine Nulltoleranzstrategie. So wurden durch die enge Zusammenarbeit der hessischen Sicherheitsund Waffenbehörden zahlreichen Reichsbürgern und Selbstverwaltern die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und deren Schusswaffen sichergestellt. Auch in Zukunft ist es das erklärte Ziel der Hessischen Landesregierung und der Sicherheitsbehörden, dass kein ihnen bekannter Extremist und somit auch kein Reichsbürger oder Selbstverwalter waffenrechtliche Erlaubnisse oder Legalwaffen besitzt bzw. Legalwaffen im Fall des Besitzes entzogen werden. VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES In den im April 2021 neu durch den Verfassungsschutzverbund eingerichteten Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates fallen unter anderem Aktionen gegen staatliche Einrichtungen, gegen die staatliche Infrastruktur oder ge54 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN gen staatliche Repräsentanten und demokratisch gewählte Entscheidungsträger, welche die Funktionsfähigkeit des Staats erheblich beeinträchtigen wollen. Dazu gehören Bestrebungen, die durch ein aktives, glaubhaftes und nachdrückliches Vorgehen auf die Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen, sowie extremistische Bestrebungen, die sich gegen das Demokratieprinzip richten, die aufgrund ihrer Demokratiefeindlichkeit zu extremistisch motivierten Strafund Gewalttaten aufrufen oder sich auf ein vermeintliches Widerstandsrecht berufen und sich dabei gegen das Rechtsstaatsprinzip richten. Unter anderem versuchten Personen, die diesem Phänomenbereich zuzuordnen waren, die Themen "Inflation", "Preissteigerungen", "Energieverknappung" und "Krieg in der Ukraine" mit den seit 2020 virulenten Protesten gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" zu verknüpfen. Das Bestreben dieser Personen war es außerdem, Teile der demokratischen Mehrheitsgesellschaft für sich zu gewinnen und für ihre Agenda zu aktivieren. An den Protesten nahmen unter anderem Angehörige der NPD und des Dritten Wegs teil; punktuell beteiligten sich Personen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene. Insgesamt war eine Vermischung unterschiedlicher extremistischer Phänomenbereiche bei den Veranstaltungen zu beobachten. Weiterhin verwendeten Personen, die dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzurechnen waren, eine radikale Sprache, in der sie antisemitische und verschwörungsnarrative Elemente miteinander vermischten. So wurde zum Beispiel die politische Lage mit der "Parteiendiktatur" einer "zionistisch-jesuitischen Elite" gleichgesetzt. LINKSEXTREMISMUS Personenpotenzial | Das linksextremistische Personenpotenzial reduzierte sich von 2.770 (2021) auf 2.650 Personen, wobei diese Veränderung auf einen Rückgang des Personenpotenzials in der Kategorie "sonstige Linksextremisten (Marxisten-Leninisten, Trotzkisten u. a.)" zurückzuführen ist. Die Anzahl der gewaltorientierten Linksextremisten belief sich auf etwa 600 (2021: 590), was einem Anteil von nahezu 23 Prozent entsprach. Damit ist für die drei zurückliegenden Jahre ein leichtes, aber kontinuierliches Anwachsen der Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten zu beobachten. Die Anzahl der linksextremistischen Gewalttaten ging besonders deutlich von 42 (2021) auf neun Delikte zurück, wobei sich insbesondere die Zahl der Körperverletzungen von 23 (2021) auf vier reduHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 55 EXTREMISMUS IN HESSEN zierte. Nach wie vor bildete die Großstadtregion Frankfurt am Main - sowohl personell als auch strukturell - den Schwerpunkt der autonomen Szene in Hessen. Unverändert beobachtete das LfV aufgrund des spätestens seit 2019 in anderen Ländern erkennbaren Trends der zunehmenden (gewalttätigen) Konfrontation mit dem politischen Gegner sogenannte aufständische anarchistische Strukturen im autonomen Spektrum. Anhänger dieser anarchistischen Strömung zeichneten sich durch eine kompromisslose Opposition und permanente Attacken auf den gesellschaftlichen und politischen Gegner aus. Da diese Strukturen derzeit aufgeklärt werden, können keine Zahlenangaben hinsichtlich des Personenpotenzials gemacht oder regionale Schwerpunkte in Hessen benannt werden. Szenebeherrschende Themen | Im Vergleich zu 2021 nahmen "antifaschistische" Aktionen zu; hessenweit - mit einer Schwerpunktbildung im Raum Kassel - outeten Angehörige der autonomen/anarchistischen Szene Personen als "Faschisten", die sie als "Feinde" bzw. als Rechtsextremisten betrachteten. So bekannten sich Autonome auf der linksextremistischen Internetplattform de.indymedia.org zu einem Farbanschlag auf die Wohnung des Vorsitzenden der Fraktion der Alternative für Deutschland (AfD) in der Kasseler Stadtverordnetenversammlung und veröffentlichten dessen private Adresse. Ebenso stellten Unbekannte auf de.indymedia.org. ein Selbstbezichtigungsschreiben ein, worin sich "einige Autonome" zu einer Sach56 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN beschädigung an dem Haus des Gründers der rechtsextremistischen GegenUni in Hattersheim am Main (Main-Taunus-Kreis) bekannten. Darin hieß es: "Rechte haben Namen und Adressen! Rechten entgegentreten auf allen Ebenen mit allen Mitteln!" Die Demonstration am 1. Mai in Frankfurt am Main, bei der es 2021 zu zahlreichen gegen Polizeibeamte gerichteten Körperverletzungen gekommen war, verlief im Berichtsjahr weitgehend friedlich. Hatten im Vorjahr in der Spitze etwa 3.500 Personen teilgenommen, so waren es im Berichtsjahr rund 1.000. Wegen interner Differenzen hatten sich autonome Gruppierungen nicht an dem Bündnis Revolutionärer 1. Mai beteiligt, das für die Demonstration verantwortlich zeichnete. Hatte das Thema "Antimilitarismus" 2021 in der linksextremistischen Szene an Bedeutung eingebüßt, so fanden in Hessen im Berichtsjahr verschiedene linksextremistische und linksextremistisch beeinflusste Veranstaltungen statt, die sich im Allgemeinen gegen "militärische Aufrüstung", damit verbundene "kapitalistische" Interessen sowie im Speziellen gegen den "Krieg in der Ukraine" und gegen die zusätzlichen Finanzmittel für die Bundeswehr richteten. So riefen die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands und die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend zu einer "Offensive gegen Aufrüstung" und eine entsprechende Demonstration in Frankfurt am Main auf. Auf dieser und auf ähnlich gelagerten Veranstaltungen wurden auch im Phänomenbereich Linksextremismus gepflegte Stereotypen propagiert, so etwa dass die NATO der eigentliche Aggressor oder dass Sicherheit in Europa nur mit und nicht ohne Russland möglich sei. Das linksextremistisch beeinflusste Bündnis Rheinmetall entwaffnen organisierte in Kassel einen "antimilitaristischen Sommer", da dort wichtige Rüstungsunternehmen ansässig sind. Aufgrund der ebenfalls im Sommer in Kassel stattfindenden Kunstausstellung documenta fifteen versprach sich das Bündnis eine größere Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit und somit eine entsprechende Resonanz hinsichtlich seiner Anliegen und Aktionen. Ein "antimilitaristisches Camp" fungierte als Ausgangspunkt für verschiedene "Aktionen" im Kasseler Stadtgebiet. So versuchten Aktivisten das Gelände des Rüstungsunternehmens Krauss-Maffei Wegmann GmbH & Co. KG zu blockieren, wobei es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Außerdem verübten im Kasseler Stadtteil Bad Wilhelmshöhe unbekannte Täter einen Brandanschlag auf zwei Zivilfahrzeuge der Bundeswehr, die dabei zerstört wurden. Wie in den Vorjahren hielten die Bestrebungen linksextremistischer Gruppierungen an, die Klimaund Umweltschutzbewegung zu beeinflussen. Dabei dienten ihnen entsprechende Themen als Vehikel, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 57 EXTREMISMUS IN HESSEN um ihre linksextremistische Ideologie in die demokratische Mehrheitsgesellschaft zu tragen. So enthielt ein auf de.indymedia.org veröffentlichtes Selbstbezichtigungsschreiben in Bezug auf drei in der Nähe des Riederwalds in Brand gesetzte Baufahrzeuge den Appell, sich "entschlossen gegen das Kapital und die Zerstörung unserer Lebensgrundlage" zu stellen: Die "Fesseln, die dieses kranke System" den Menschen "mit ihrer Geburt angelegt" habe, sollten überwunden werden. Die "Aktion" sei auch ein "Zeichen unserer eigenen Wut. Ein Zeichen unserer Hilflosigkeit". Im Frankfurter Riederwald richtete sich die linksextremistisch beeinflusste Besetzung ("autonome Zone - no cops, no nazis") gegen die geplanten Rodungsmaßnahmen anlässlich des Baus des Riederwaldtunnels; in Darmstadt beteiligten sich linksextremistische Gruppierungen am von der Fridays-for-Future-Bewegung ausgerufenen globalen Klimastreik. Die höchste Aufmerksamkeit in der linksextremistischen Szene erhielt jedoch die Klimaschutzaktivistin "Ella", die 2020 während der Räumung des Dannenröder Walds von der Polizei festgenommen worden war und sich weigerte, Angaben zu ihrer Person zu machen. Nachdem das Amtsgericht (AG) Alsfeld "Ella" zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten unter anderem wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte verurteilt hatte, führte die autonome Szene im Januar und März 2022 verschiedene "Solidaritätsaktionen" für "Ella" und gegen "staatliche Repression" in Frankfurt am Main und Kassel durch. Im April verurteilte das Landgericht (LG) Gießen "Ella" in zweiter Instanz zu einem Jahr und neun Monaten Freiheitsstrafe, wogegen sie Revision einlegte. Nachdem "Ella" ihren Namen preisgegeben hatte, wurde sie aus der Untersuchungshaft entlassen. Strafund Gewalttaten | Die Zahl der linksextremistisch motivierten Strafund Gewalttaten in Hessen ging von 131 (2021) auf 79 (= minus 39,6 Prozent) und die der Gewalttaten von 42 (2021) auf neun zurück. Dabei erreichte die Anzahl der Strafund Gewalttaten im Phänomenbereich Linksextremismus im Fünfjahreszeitraum 2018 bis 2022 den bislang dritthöchsten Wert. Angesichts der grundsätzlichen Gewaltaffinität der autonomen/anarchistischen Szene und der in Hessen erneut (leicht) gestiegenen Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten - von 590 (2021) auf 600 - misst das LfV der Beobachtung dieser Szene und den damit verbundenen Entwicklungen weiterhin hohe Bedeutung bei. Deutsche Kommunistische Partei (DKP) | Wie in der Vergangenheit gelang es der DKP Hessen weder, der allgemeinen, strukturellen Schwächung und Überalterung der Gesamtpartei zu begegnen, 58 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN noch sich als Bündnispartnerin von Gruppierungen der Klimaund Umweltschutzbewegung zu etablieren. Hinsichtlich des Überfalls Russlands auf die Ukraine orientierte sich die DKP in ihren Verlautbarungen an den Narrativen des Aggressors: Unter Einbeziehung "faschistischer Kräfte" und mit "Duldung der NATO, der EU und Deutschlands" führe die Ukraine einen "(Bürger-)Krieg [...] gegen die Menschen im Donbass". Letztlich gehörten "wir in der BRD", so die DKP, zu den "Hauptleidtragenden", die "bald ganz solidarisch nicht nur frieren, sondern [...] auch hungern werden müssen". Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) - Kommunistische Organisation (KO) | Die eng mit der DKP verbundene Jugendorganisation SDAJ führte ihre "Informationskampagne" im Zusammenhang mit der schulischen Bildung fort, so bot sie in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und in Kassel "offene Schülertreffen" an. Außerdem organisierte die SDAJ die Veranstaltung "Sommer, Sonne, Sozialismus". Dies geschah vor dem Hintergrund, dass die SDAJ einen Kontrapunkt setzen wollte zu der angeblich "kapitalistischen" "Bewirtschaftung der 'Ressource' Bildung": Gemäß dieser Lesart der SDAJ sollten Jugendliche dem "Kapital" und damit den "Unternehmen möglichst früh und vorselektiert zur Verfügung stehen". Die KO, eine stalinistisch orientierte Abspaltung der SDAJ, rief zu einer prorussischen Kundgebung in Frankfurt am Main auf ("NATO raus aus der Ukraine und Osteuropa! Deutschland raus aus der NATO") und betrachtete die deutsche Unterstützung der Ukraine als eine "Verharmlosung des ukrainischen Faschismus und [eine] Dämonisierung der Sowjetunion", die für eine "Rehabilitierung NS-Deutschlands" genutzt würde. Rote Hilfe e. V. (RH) | Die RH hatte in Hessen unverändert eine wichtige Rolle in der linksextremistischen Szene inne und genoss eine entsprechende Reputation. So begleitete die Ortsgruppe FrankHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 59 EXTREMISMUS IN HESSEN furt am Main Angeklagte bei Strafprozessen und wies auf ihrer Homepage auf anstehende Prozesse hin. Außerdem veranstaltete die Ortsgruppe eine Onlinepodiumsdiskussion über das Thema "50 Jahre Radikalenerlass - Weg mit Berufsverboten & Klassenjustiz!" Zusammen mit dem Offenen Antifaschistischen Treffen (OAT) Kassel richtete die RH-Ortsgruppe Kassel unter dem Motto "Heraus mit den Gefangenen! Heraus zum 18. März" eine Demonstration sowie eine Veranstaltungsreihe aus. Weltweit gilt dieses Datum als "internationaler Tag der politischen Gefangenen". ISLAMISMUS Jihadistischer und politischer Salafismus | Die Gefahr eines jihadistischen Terroranschlags war in Europa und somit auch in Deutschland weiterhin unvermindert hoch. Im Berichtsjahr kam es in Norwegen und in Belgien zu islamistisch motivierten Anschlägen, bei denen insgesamt drei Menschen starben. Für die Radikalisierung von allein handelnden Personen oder Kleingruppen spielte weltweit die in dichter Folge veröffentlichte jihadistische Onlinepropaganda eine maßgebliche Rolle, indem sie unter anderem detaillierte Anleitungen für Anschläge in mehreren Sprachen zur Verfügung stellte. Onlinemagazine aus dem Spektrum der al-Qaida und des Islamischen Staats (IS) gewannen in diesem Rahmen im Berichtsjahr wieder mehr an Bedeutung. Vor allem allein handelnde Täter stellten die Sicherheitsbehörden wie in der Vergangenheit vor große Herausforderun60 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN gen, weil sie unvermittelt, spontan und ohne vorhergehende Kommunikation mit jihadistischen Netzwerken Anschlagsvorhaben umsetzen können. In seinen ehemaligen Einflussgebieten im Mittleren Osten baute der IS seine Untergrundstrukturen weiter aus und nutzte diese für Anschläge auf lokale Machthaber und staatliche Strukturen. Seit der Machtübernahme der Taleban in Afghanistan verübte der dortige ISAbleger Islamischer Staat Provinz Khorasan vermehrt Anschläge, da zwischen beiden Gruppierungen sowohl eine ideologische als auch eine machtpolitische Konkurrenz besteht. Auch in Nordund Westafrika sowie in Asien waren Ableger des IS weiterhin aktiv, wobei sie einschlägige Propaganda verbreiteten und Anschläge begingen. In Hessen verlor die salafistische Ideologie wie im Vorjahr nach außen offenbar weiter an Strahlkraft und Attraktivität. Vor diesem Hintergrund ging die Zahl der Salafisten in Hessen im Fünfjahreszeitraum von 2018 bis 2022 erneut zurück, das heißt von 1.450 (2021) auf 1.370 (= minus 5,5 Prozent), während sich die Gesamtzahl der Islamisten im selben Zeitraum von 4.000 (2021) auf 3.865 reduzierte (= minus 3,3 Prozent). Wie im Vorjahr kam es in Hessen zu Exekutivmaßnahmen und Verurteilungen im Bereich des jihadistischen Salafismus. So nahm die Polizei eine Frau fest, weil sie, so der Vorwurf der Bundesanwaltschaft, als Heranwachsende eine ausländische terroristische Vereinigung unterstützt haben soll. Das OLG Frankfurt am Main verurteilte einen Mann rechtskräftig wegen eines Kriegsverbrechens zu einer Jugendstrafe. Als Kämpfer der Freien Syrischen Armee hatte er sich mit der Leiche eines gegnerischen Soldaten filmen und fotografieren lassen, dem Getöteten in den Bauch getreten und ihn als "Hund" bezeichnet. Strafund Gewalttaten | Die Zahl der islamistisch motivierten Delikte erhöhte sich von 22 (2021) auf 27, was vor allem auf eine Steigerung in der Kategorie "andere Straftaten (insbesondere Propagandadelikte)" zurückzuführen ist. Die Anzahl der Gewalttaten ging von zwei (2021) auf ein Delikt zurück. Da die in die ehemaligen Jihadgebiete ausgereisten Frauen und deren Kinder bei ihrer Rückkehr nach Deutschland eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen können, beschäftigte sich der Verfassungsschutz weiterhin intensiv mit der Rückkehrerproblematik. Es bestand die Gefahr, dass die Radikalisierung der Frauen und ihrer Kinder in den prekären Umständen der Camps auch nach ihrer Rückkehr wirksam war bzw. andauerte. Wie in der VerHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 61 EXTREMISMUS IN HESSEN gangenheit riefen in Deutschland Angehörige der salafistischen Szene zur Unterstützung ihrer "Glaubensschwestern" in den syrischen Camps auf, sodass diese mittels einzelner Spendenprojekte finanziell unterstützt wurden. Im Bereich des politischen Salafismus erreichten Prediger ihr Publikum hauptsächlich über das Internet, vor allem über soziale Medien, Videoplattformen und Onlinekurse. Ihre Propaganda setzte dabei auf allgemeinreligiöse Themen und Diskussionen, auch um Kinder und Jugendliche anzusprechen. Dabei versuchten die Prediger, seriös und modern zu erscheinen. An die Stelle aufgezeichneter Vorträge traten zunehmend kürzere Formate. Aufgrund ihrer subtilen Aufmachung waren diese allerdings nicht immer leicht als islamistisch zu erkennen. Fragen nach - aus islamischer Sicht - korrektem Verhalten in Alltagssituationen standen im Vordergrund. Allerdings fehlten im Bereich des politischen Salafismus in Hessen identitätsstiftende und damit gemeinschaftsfördernde ideologische Führungsfiguren bzw. überregional tätige Hauptakteure. Salafistische Moscheen mit herausgehobener Bedeutung für die Szene wurden in Hessen nicht festgestellt. Zwar gab es weiterhin salafistisch beeinflusste Moscheen, die aber keine größere Außenwirkung entfalteten, sondern als Treffund Kontaktorte für Salafisten dienten. Die salafistische Missionierung im öffentlichen Raum (Street-Da'wa) wurde fortgesetzt. Unter dem Vorwand, allgemein über den Islam informieren zu wollen, versuchten zumeist junge Männer ihre salafistische Ideologie zu verbreiten. Schwerpunkt in Hessen war dabei Frankfurt am Main, wobei es auch in Wiesbaden Street-Da'wa-Aktionen gab. Diese blieben im Berichtsjahr in Größe und öffentlicher Wahrnehmung jedoch weit hinter den Aktionen früherer Jahre zurück. Dem Auftritt vor Ort folgte meist ein Beitrag in den sozialen Medien. 62 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN Hizb ut-Tahir (HuT, Partei der Befreiung) - Realität Islam (RI) | Die der HuT nahestehende Gruppierung RI sprach sich in verschiedenen sozialen Medien vor allem für die "Bewahrung der islamischen Identität" aus und agierte gegen die staatliche bzw. vom Staat geförderte Präventionsarbeit. Nach Auffassung von RI solle die "sogenannte Islamismusprävention [...] die Deutungshoheit über den Islam in staatliche Hände" legen und "uns Muslime im Sinne der politischen Assimilationspläne in Lager" spalten. Der Islam solle, so RI, dämonisiert, die islamische Lebensweise verteufelt und dagegen der "sogenannte Reformislam" als alleinige Wahrheit dargestellt werden. Anhänger und Sympathisanten der Gruppierung griffen die von ihr in den sozialen Medien verbreiteten Hashtags - zum Beispiel #Wertediktatur und #Islamhass - auf und bestimmten auf diese Weise die jeweilige Hashtag-Kampagne mit. Das Verhalten des "Westens" im Rahmen des russischen Überfalls auf die Ukraine bezeichnete RI als Doppelmoral, da den aus der Ukraine Geflüchteten die Einreise nicht so schwer gemacht würde, wie seinerzeit Menschen, die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nach Deutschland geflohen seien. Muslimbruderschaft (MB) | Anhänger der MB versuchten durch soziales und religiöses Engagement sowie durch Dialogangebote Akzeptanz in der demokratischen Mehrheitsgesellschaft zu finden, um die Ideologie der MB gesellschaftsfähig zu machen. In Deutschland war die Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG), der bundesweit verschiedene Moscheegemeinden und sogenannte Islamische Zentren zuzuordnen waren, die größte Organisation, welche die MB-Ideologie vertrat. In Hessen befanden sich solche Zentren in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und Frankfurt am Main. In einem Nachruf bezeichnete die DMG den im Berichtsjahr in Katar verstorbenen MB-Ideologen Yusuf al-Qaradawi als einen "der kompetentesten und prominentesten Gelehrten der muslimischen Welt". Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) | Die unter anderem im Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. (SP Hessen) organisierten Anhänger der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung versuchten weiterhin Nachwuchs für ihre Organisation zu gewinnen. Einige in Hessen ansässige und aktive SP-Funktionäre engagierten sich unverändert auch auf höherer Organisationsebene. So übernahm ein langjähriger Funktionär den Vorsitz der Jugendabteilung der SP Europa und organisierte in dieser Eigenschaft ein zweitägiges Bildungscamp für nachgeordnete Funktionäre. Insgesamt bestand nach wie vor eine enge Anbindung an die SP in der Türkei; zum Beispiel nahmen mehrere Stellvertreter des Parteivorsitzenden der SP, Temel Karamollaoglu, an Vorstandssitzungen europäischer Niederlassungen, darunter auch die Zentrale in Hanau (Main-Kinzig-Kreis), teil. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 63 EXTREMISMUS IN HESSEN Die Tagesszeitung Milli Gazete, das Sprachrohr der Milli-GörüsBewegung, verbreitete regelmäßig antisemitische Propaganda aus der Türkei. So bezeichnete sie den israelischen Staatspräsidenten Jitzchak Herzog als "Zionisten" und sprach vor dem Hintergrund von Landkäufen durch "Zionisten" im türkischen Teil Zyperns von der angeblichen Gefahr einer "zionistischen Besatzung". Es ist davon auszugehen, dass die Milli Gazete durch solche und andere Aussagen bei den Lesern zu einer dauerhaften Präsenz und Verfestigung antisemitischen Gedankenguts beitrug. Somit förderte die Tageszeitung nicht nur die Aufrechterhaltung alter Feindbilder, sondern auch die Ablehnung des Gedankens der Völkerverständigung und einer pluralistischen Gesellschaft. Jährliche al-Quds-Demonstration in Frankfurt am Main | 1979 vom iranischen Revolutionsführer Ruhollah Musawi Khomeini zum "Tag [zur Befreiung] der Heiligen [Stadt Jerusalem] von zionistischer Besatzung" ausgerufen, fanden seit 2015 al-Quds-Demonstrationen auch in Frankfurt am Main statt. Im Berichtsjahr demonstrierten etwa 360 Personen aller Altersklassen aus dem Inund Ausland, darunter etliche Familien. Dabei wurden Bilder Khomeinis und des gegenwärtigen Religionsführers Ali Khamenei gezeigt. Ebenso wurden Parolen wie "Stoppt Israels Apartheid!" sowie "Keine Waffen an Zionisten, denn Zionisten sind Terroristen!" skandiert. Auf der Abschlusskundgebung bezeichnete ein Redner den Staat Israel mehrfach als "Verbrecher". EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Personenpotenzial | Das Personenpotenzial im Bereich Extremismus mit Auslandsbezug sank von 4.350 (2021) auf 4.100 Personen (= minus 5,7 Prozent), wobei die Zahl der Extremisten türkischen Ursprungs zurückging, was aus einer differenzierteren Beobachtung und Analyse türkisch-nationalistischer Bestrebungen im Internet resultierte. Dagegen blieb das der Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) zuzuordnende Personenpotenzial mit 1.500 Personen wie in den Vorjahren gleich. PKK | Im Berichtsjahr bestätigte sich der Trend, wonach Hessen neben Nordrhein-Westfalen zum bevorzugten Veranstaltungsraum für PKK-nahe Großveranstaltungen avancierte. Nachdem es zuletzt pandemiebedingt keine bundesweite zentrale Newroz-Feier gegeben hatte, nahmen im Berichtsjahr in Frankfurt am Main im März wieder bis zu 17.000 PKK-Anhänger an der Veranstaltung teil. Wie in der Vergangenheit wurden insbesondere die Freilassung des in der Tür64 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN kei inhaftierten PKK-Anführers Abdullah Öcalan und die Streichung der PKK von der Terrorliste der Europäischen Union (EU) gefordert. Zum 16. Zilan-Frauenfestival kamen im Juni rund 1.500 überwiegend weibliche Festivalbesucher nach Frankfurt am Main; bei dieser Gelegenheit wurde auf die besondere Rolle der Frauen im "Kampf gegen die Dunkelheit, die der Faschismus überall schaffen will", verwiesen. Darüber hinaus führten der PKK nahestehende Anhänger und Organisationen bundesweit Informationsstände durch, um gegen das PKK-Betätigungsverbot zu protestieren, und warben für die Streichung der Organisation von der EU-Terrorliste. Unmittelbar nachdem die türkische Armee im November eine weitere Offensive gegen Stellungen der PKK und ihres militärischen Ablegers in Syrien, der Yekineyen Parastina Gel (Volksverteidigungseinheiten), begonnen hatte, rief die Gruppe RiseUp4Rojava den "Tag X" aus: PKK-Anhänger und -Sympathisanten sollten im Rahmen von "action days" aktiv werden. An den Protesten beteiligten sich auch türkische und deutsche linksextremistische Gruppierungen und Bündnisse, die aber auch eigenständig und ohne Zutun seitens örtlicher PKK-Anhänger Aktionen durchführten. Linksextremistische Organisationen mit türkischem Ursprung | In diesem Segment des Phänomenbereichs Extremismus mit Auslandsbezug waren vor allem folgende Organisationen aktiv: die Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP-C, Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front), die Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 65 EXTREMISMUS IN HESSEN (TKP/ML, Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten), die Marksist Leninist Komünist Parti (MLKP, Marxistische-Leninistische Kommunistische Partei) und die Demokratik Isci Dernekleri Federasyonu e. V. (DIDF, Föderation Demokratischer Arbeitervereine e. V.). Aus Protest gegen eine von der Bundesanwaltschaft veranlasste Verhaftung dreier DHKP-C-Funktionäre führten Anhänger der Organisation bundesweit, das heißt auch in Frankfurt am Main und Darmstadt, Solidaritätskundgebungen für "politische Gefangene" durch. Ein im Internet angekündigtes Konzert von Grup Yorum, ein der DHKP-C zuzurechnendes Musikerkollektiv, wurde kurzfristig abgesagt. Ein von der Gruppe produzierter Film, der die Implikationen einer Gentrifizierungskampagne in einem Stadtviertel in Istanbul (Türkei) beschrieb, wurde in Frankfurt am Main aufgeführt. Sowohl "Antigentrifizierung" als auch "Antikapitalismus" bildeten wichtige Themen für die DHKP-C. Anlässlich ihres fünfzigjährigen Bestehens führte die TKP/ML bundesweit, das heißt auch in Hessen, in Bezug auf ihre Geschichte und ihre "Märtyrer" eine Jubiläumsfeier durch. Die der TKP/ML zuzurechnende Yeni Demokratik Genclik (Neue demokratische Jugend) veranstaltete in Frankfurt am Main das 30. Jugend-, Kunstund Kulturfestival. Auch bei diesem Anlass wurde der "Märtyrer" gedacht und die Arbeit der im Umfeld der TKP/ML tätigen Organisationen gewürdigt. Darüber hinaus fanden unter anderem ein Kongress der Frauenorganisation Yeni Kadin und weitere "Märtyrergedenkveranstaltungen" statt. Auch die Almanya Göcmen Isciler Federasyonu (AGIF, Föderation der ArbeitsimmigrantInnen aus der Türkei in Deutschland e. V.), eine Umfeldorganisation der MLKP, widmete sich dem "Märtyrergedenken" und darüber hinaus der "Gefangenensolidarität". Zusammen mit der Jugendorganisation Young Struggle beteiligte sich die AGÄdegF an den Protesten gegen die türkischen Angriffe auf kurdische Siedlungsgebiete in Syrien. Das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr kritisierte Young Struggle als einen "Schritt zur Aufrüstung und Militarisierung der deutschen Außenpolitik", was ein "Schlag ins Gesicht aller Schüler:innen und jungen Arbeiter:innen" sei, für deren "Gesundheit, Bildung und Freizeitangebote die BRD nie genug Geld hatte". Um "alle antifaschistischen Kräfte" zu bündeln, arbeitete die DIDF anlassbezogen sowohl mit Extremisten als auch mit Nichtextremisten zusammen. Verstärkt setzten sich die DIDF und ihre Jugendorganisation für die Rechte von Arbeitnehmern ein. Die DIDF protestierte "gegen Gewalt an Frauen" und kritisierte die staatlichen Maßnahmen 66 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN zur Bekämpfung von steigenden Energiekosten und Inflation. Dabei ließ sie in einer Erklärung verlauten, "dass wir die Lasten von Krieg und Krise nicht tragen werden!" Vor diesem Hintergrund sprach sich die DIDF sowohl gegen "Erdogans Kriegspolitik" als auch gegen die "imperialistischen Bestrebungen" der USA, der EU und Russlands in der Ukraine aus. Strafund Gewalttaten | Die Gesamtzahl der Strafund Gewalttaten im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug stieg von 28 (2021) auf 37 an (= plus 32,1 Prozent), wobei sich die "anderen Straftaten (insbesondere Propagandadelikte)" von 16 (2021) auf 34 mehr als verdoppelten. Allerdings gab es erstmals im zurückliegenden Fünfjahreszeitraum von 2018 bis 2022 keine Gewalttat. ORGANISIERTE KRIMINALITÄT (OK) OK-Gruppierungen bedrohen die Grundlagen unserer Gesellschaft, indem sie auf verschiedenen Gebieten in vielfacher Weise die Macht einer kriminellen Organisation durch Gewalt, Geld und Bestechung sowie massive Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien und Wirtschaft durchsetzen wollen. Im Bereich der Rockerkriminalität beobachtete das LfV Outlaw Motorcycle Gangs (OMCG), wobei einzelne Führungspersonen einen Hochrisikofaktor im Hinblick auf mögliche Gewalteskalationen bildeten. OMCG waren Hauptakteure bei Gebietsaufund verteilungen, Menschenhandel und Zwangsprostitution. Ebenso beobachtete das LfV die russisch-eurasische und die italienische OK. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 67 EXTREMISMUS IN HESSEN SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Unmittelbar mit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine verstärkten die deutschen Sicherheitsbehörden ihre Aufmerksamkeit in Bezug auf die Aktivitäten russischer Nachrichtendienste. So konzentrierte sich das LfV unter anderem auf die entsprechende Ausspähung und Sabotage kritischer Infrastruktur (KRITIS) sowie militärischer Objekte. Darüber hinaus gab es etliche nachrichtendienstliche Verdachtsfälle, deren Zahl in Bezug auf die Ausspähung von Firmengeländen der Energiewirtschaft und deren Zulieferer erheblich anstieg. Mit zunehmender Kriegsdauer erhöhte sich das Interesse Russlands an Deutschland. Russland betrieb Spionage gegen Institutionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Militär und Verwaltung. Im Dezember 2022 und im Januar 2023 ließ die Bundesanwaltschaft aufgrund von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs zwei deutsche Staatsangehörige festnehmen, die des Landesverrats dringend verdächtig waren. Ihnen wurde vorgeworfen, Informationen an einen russischen Nachrichtendienst übermittelt zu haben. Ein Beschuldigter war beim BND tätig, während der andere, der kein BND-Beschäftigter war, die Informationen nach Russland gebracht und dort einem Nachrichtendienst übergeben haben soll. Zeitgleich mit Beginn seiner militärischen Aggression gegen die Ukraine startete Russland Angriffe im Cyberraum, die auf das ukrainische Satellitennetzwerk zielten. Davon waren auch die Datennetze mehrerer EU-Staaten betroffen. Ebenso agierten - wie in der Vergangenheit - den deutschen Behörden bekannte russische Gruppierungen im Cyberraum. Außerdem bestand nach wie vor der Trend, dass sich die Grenzen zwischen (staatlich gesteuerten) Cyberangriffen und Cyberkriminalität verwischten. Vor diesem Hintergrund bestand die Gefahr, dass russische Cyberangriffe nicht nur die Ukraine - insbesondere deren KRITIS -, sondern auch andere Staaten und nicht zuletzt die Sicherheit deren Bürger gefährdeten. In der Summe hielt die von Russland ausgehende hybride Bedrohung - auch in den Bereichen Propaganda und Desinformation - an. Insgesamt ging das LfV allen Hinweisen auf nachrichtendienstliche Aktivitäten fremder Staaten nach, die sich gegen deutsche Interessen richteten, wobei es keine Rolle spielte, wer sich hinter diesen Aktivitäten zu verbergen suchte. In diesem Kontext beobachtete das LfV chinesische, iranische, türkische, vietnamesische, nordkoreanische, pakistanische, indische und syrische Aktivitäten. 68 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS IN HESSEN Daher bildete der Wirtschaftsschutz als präventiver Teil der Spionageabwehr einen festen Bestandteil der Aufgaben des LfV. Dies galt insbesondere, seitdem sich bereits 2021 die militärischen Drohgebärden Moskaus gegenüber der Ukraine verschärft hatten. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 69 EXTREMISMUS IN HESSEN 70 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS - MERKMALE - RECHTSEXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL - RECHTSTERRORISMUS UND SCHWERE GEWALTSTRAFTATEN - PARTEIUNABHÄNGIGE BZW. PARTEIUNGEBUNDENE STRUKTUREN - SONSTIGE PARTEIUNABHÄNGIGE STRUKTUREN - LOSE STRUKTURIERTER RECHTSEXTREMISMUS - PARTEIGEBUNDENE STRUKTUREN BZW. PARTEIEN - "HEISSER HERBST": "STRUKTURAUFBAU, COMMUNITY-ORGANIZING" STATT "AUFSTÄNDEN, REVOLTEN ODER ANDEREN TAG-XSZENARIEN" - KOMMUNIKATIONSSTRATEGIEN VON RECHTSEXTREMISTEN - FLÜCHTLINGE IM VISIER VON RECHTSEXTREMISTEN - RECHTSEXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN RECHTSEXTREMISMUS MERKMALE Rechtsextremisten lehnen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab und bekämpfen sie zum Teil mit Gewalt. Sie verfolgen extremistische Bestrebungen in unterschiedlichen Formen. AUF EINEN BLICK * Das deutsche Volk als höchster Wert * "Ethnopluralismus" * Ideologie der Ungleichheit * "Kampf um die Parlamente" - "Kampf um die Straße" Das deutsche Volk als höchster Wert | Das deutsche Volk stellt für alle Rechtsextremisten den höchsten Wert dar. Sie ordnen die Rechte und Freiheiten anderer Völker und Nationen wie auch die des einzelnen Menschen diesem Nationalismus unter. Nach den Vorstellungen von Rechtsextremisten hat der Einzelne im Sinne eines völkischen Kollektivismus seinen Wert nur durch die Zugehörigkeit zum Volk, das heißt durch eine bestimmte Herkunft. "Ethnopluralismus" | Teile des Rechtsextremismus, vor allem die Identitäre Bewegung, propagieren das Konzept des "Ethnopluralismus" und behaupten in einer verschleiernden Sprache, dass sie für die Vielfalt der Völker einstehen würden. In Wirklichkeit zielt dieses Konzept auf einen strikten Nationalismus, der "fremde" Menschen ausgrenzt und dadurch Fremdenfeindlichkeit provoziert. Der "Ethnopluralismus" beschreibt die Unterschiede zwischen den Völkern und meint damit letztlich die homogene nationale Identität der eigenen Ethnie. Ideologie der Ungleichheit | Rechtsextremisten vertreten somit eine Ideologie der Ungleichheit, die in vielfacher Hinsicht den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widerspricht. An die Stelle demokratischer Entscheidungsprozesse wollen Rechtsextremisten einen autoritären (Führer-)Staat setzen, in dem nur der angeblich in sich einheitliche Wille der "Volksgemeinschaft" herrscht. "Kampf um die Parlamente" - "Kampf um die Straße" | Ihre Ziele verfolgen Rechtsextremisten auf unterschiedliche Art und Weise. Rechtsextremistische Parteien treten zu Wahlen an und versuchen, sich der demokratischen Strukturen zu bedienen, um diese letztlich abzuschaffen. Demgegenüber setzen Neonazis vor allem auf den "Kampf um die Straße". Sie versuchen, durch öffentlichkeitswirksame Aktionen sowohl im Internet bzw. in den sozialen Medien als auch in der "realen Welt" Aufmerksamkeit zu erzielen. 72 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS RECHTSEXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL1 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 73 RECHTSEXTREMISMUS Im Berichtsjahr stieg das rechtsextremistische Personenpotenzial um 20 Personen gegenüber dem Vorjahr (1.710) an. Der Zuwachs resultierte vor allem aus einer Steigerung in der Kategorie "parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen". War die Zahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten im Vorjahr gegenüber 2020 mit 860 unverändert geblieben, so stieg sie im Berichtsjahr auf 880 an. (Siehe im Glossar auch die Erläuterung zum Begriff Personenpotenzial.) RECHTSTERRORISMUS UND SCHWERE GEWALTSTRAFTATEN Rechtsterroristische Anschläge und Gewalttaten stellen in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten eine stetige und reale Gefahr dar. Nicht zuletzt der rechtsterroristisch motivierte Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke im Jahr 2019 sowie die rassistisch motivierten Morde an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Paun, Fatih Saracoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov ein Jahr später in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) belegen dies eindrücklich. In den vergangenen Jahren beobachteten die Sicherheitsbehörden, dass rechtsextremistische Gewalttäter - zunehmend vor allem mittels des Internets - eine Radikalisierung durchlaufen. Dies geschieht mitunter ohne Anknüpfungspunkte an bestehende "reale" und bekannte rechtsextremistische Szenen, sodass die frühzeitige Aufklärung einer Radikalisierung eine enorme Herausforderung für die Sicherheitsbehörden darstellt. AUF EINEN BLICK * Prozesseröffnung gegen ehemaligen Bundeswehrsoldaten Tim F. * Ehemaliger Bundeswehroffizier Franco A. verurteilt * Verurteilung von Marvin E. * Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) im Mordprozess Dr. Walter Lübcke Prozesseröffnung gegen ehemaligen Bundeswehrsoldaten Tim F. | Am 24. Juni wurde vor dem LG Frankfurt am Main der Prozess gegen den ehemaligen Bundeswehrsoldaten Tim F., dessen Bruder Robin F. und deren Vater Bernd F. eröffnet. Ihnen wurde die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie Verstöße gegen das Waffengesetz, Sprengstoffgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz vorgeworfen. 74 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Die Angeklagten waren im Februar 2021 in Glashütten (Hochtaunuskreis) festgenommen worden, nachdem Hinweise der früheren Lebensgefährtin von Tim F. zu Durchsuchungen und dem anschließenden Fund eines größeren Waffenlagers und eines rechtsextremistischen Manifests geführt hatten. Seit diesem Zeitpunkt befanden sich die Angeklagten in Untersuchungshaft. Gemäß Medienberichten sagte die frühere Lebensgefährtin vor Gericht über mutmaßliche Umsturzvorhaben ihres ehemaligen Partners und zu diesem Zwecke durchgeführte Vorbereitungen aus. Diese Bestrebungen seien durch dessen Bruder und Vater gebilligt und unterstützt worden. Ehemaliger Bundeswehroffizier Franco A. verurteilt | Das OLG Frankfurt am Main verurteilte am 15. Juli den früheren Bundeswehroffizier Franco A. wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und Verstößen gegen das Waffengesetz und das Sprengstoffgesetz zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Das Urteil war zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses des vorliegenden Berichts noch nicht rechtskräftig. Laut der Presseerklärung des OLG Frankfurt am Main führte der Senat unter anderem aus, dass der Angeklagte eine seit Jahren verfestigte rechtsextremistische, völkisch-nationalistische und rassistische Gesinnung habe. Besondere Abneigung habe er gegenüber Menschen jüdischen Glaubens, denen er - verbunden mit verschwörungstheoretischen Gedanken - den Wunsch nach einer "Weltherrschaft des Zionismus" unterstelle. Er meine, zur Erreichung dieses Ziels wirkten Medien und staatliche Institutionen zusammen. Dabei sei er der Überzeugung, der "Zionismus" führe einen systematischen Rassenkrieg, in dem Millionen von Migranten nach Deutschland verbracht würden, wodurch es zu einer "Vermischung der Rassen" und letztlich zu einer "Auslöschung der deutschen Rasse" käme. Verantwortlich für diese von ihm wahrgenommene vermeintliche "Zersetzung der deutschen Nation" seien insbesondere hochrangige Politiker und Personen des öffentlichen Lebens, die sich durch ihr flüchtlingsfreundliches Engagement besonders auszeichneten. Franco A. lehne etablierte demokratische Wege zur Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ab und sei der Auffassung, das politische System der Bundesrepublik Deutschland sei "verlogen". Verurteilung von Marvin E. | Nachdem vor dem OLG Frankfurt am Main am 2. August der Prozess gegen Marvin E. begonnen hatte, wurde dieser am 8. Mai 2023 zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Ihm war vorgeworfen worden, versucht zu haben, eine terroristische Vereinigung zu gründen und eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet zu haben. Zudem Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 75 RECHTSEXTREMISMUS soll er gegen das Waffengesetz und das Sprengstoffgesetz verstoßen haben. Das Urteil war zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses des vorliegenden Berichts noch nicht rechtskräftig. Das Gericht ordnete die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Das Gericht kam zu der Überzeugung, dass Marvin E. auf der Grundlage seiner rechtsextremistischen Gesinnung spätestens Anfang 2021 Kenntnis von der international aktiven rechtsextremistischen Terrorgruppe AWD hatte. Laut Anklageschrift des GBA habe die in den USA gegründete Organisation weltweit Ableger, wobei deren Anhänger eine rassistische, antisemitische und nationalsozialistische Weltanschauung vertreten. Ziel sei es, einen "Rassen"und Bürgerkrieg zu beginnen, um die angebliche Verdrängung der "weißen Bevölkerung" zu verhindern. Alle in der "westlichen" Welt lebenden Juden, Muslime sowie allgemein Personen, die nicht dem Weltbild der AWD entsprechen, sollten getötet werden. Durch Anschläge und Morde auf diese Bevölkerungsgruppen sowie Politiker, Amtsträger oder staatliche Einrichtungen solle die freiheitliche demokratische Grundordnung destabilisiert und auf diese Weise das Ziel einer rechtsextremistischen Herrschaftsform erreicht werden. Dem Urteil zufolge übernahm Marvin E. vollständig die Ideologie der AWD und fasste den Entschluss, nach ihrem ideologischen Vorbild eine unabhängige und regional auf Hessen beschränkte sowie dauerhaft agierende Gruppierung mit dem Namen Atomwaffen Division Hessen zu gründen. Um dies zu erreichen und weitere Mitglieder für die Gruppe zu rekrutieren, plante Marvin E. neben offensiver Propaganda unter anderem den Einsatz von Sprengsätzen und Schusswaffen. Strukturell sah er sich und einen Freund als Anführer der Gruppe, die insgesamt aus fünf Personen hätte bestehen sollen. Spätestens Anfang September 2021 war Marvin E. fest dazu entschlossen, einen tödlichen Anschlag zu begehen. Am 16. September 2021 war er festgenommen worden und befand sich seitdem in Untersuchungshaft. Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) im Mordprozess Dr. Walter Lübcke | Der BGH lehnte am 25. August alle Revisionen gegen das Urteil des OLG Frankfurt am Main in Bezug auf die Ermordung des früheren Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke sowie den tätlichen Angriff auf einen Asylbewerber ab. Damit ist das Urteil des OLG Frankfurt am Main vom 28. Januar 2021 rechtskräftig, das die besondere Schwere der Schuld des Angeklagten Stephan E. festgestellt und diesen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt hatte. Der Freispruch des OLG Frankfurt am Main für die in dem Verfahren wegen Beihilfe angeklagte weitere Person ist ebenfalls rechtskräftig. 76 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS PARTEIUNABHÄNGIGE BZW. PARTEIUNGEBUNDENE STRUKTUREN Identitäre Bewegung Deutschland e. V. (IBD)/Identitäre Bewegung Hessen (IBH) DEFINITION/KERNDATEN Die IBD präsentiert sich "modern", "intellektuell" und aktionsorientiert und ahmt in ihrer Bildsprache und in ihren AktionsLogo der Identitären formen den Stil "linker" Protestbewegungen nach. Hierzu verwenBewegung det die IBD Elemente der Popkultur und führt Flashmobs, Deutschland Besetzungen sowie Sprüh-, Bannerund Stickeraktionen durch. TyBundesvorsitzender: pisch rechtsextremistische bzw. nationalsozialistische Begriffe wie Philip Thaler etwa "Volksgemeinschaft" und "Rasse" gehören nicht zum Vokabu(Sachsen-Anhalt) lar der IBD. Stattdessen verwendet sie Chiffren wie "Identität" und "Ethnie". Damit versucht die IBD mittels ihrer Selbstdarstellung in Mitglieder: In Hessen etwa 40, den sozialen Medien und mit Hilfe medienwirksamer Aktionen insbundesweit rund 500 besondere internetaffine Jugendliche und junge Erwachsene zu gewinnen, um eine neue völkische Jugendkultur bzw. politische StröMedien: mung zu etablieren. Vor allem über die direkte Kommunikation in Internetpräsenzen \ den sozialen Medien, die nicht auf die traditionelle Berichterstattung und Kommentierung von Fernsehen, Radio und Printmedien (auch im Internet) angewiesen ist, versucht die Identitäre Bewegung (IB), Begriffe und Inhalte neu und scheinbar unverfänglich zu definieren und damit auch Personen außerhalb der rechtsextremistischen Szene anzusprechen. So sagte ein Vertreter der IB: "Wir haben die Gesetze des Marketings, der Sozialen Medien, und des Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 77 RECHTSEXTREMISMUS Gesellschaftsspektakels verstanden. Wir gießen diese Erkenntnisse in überraschende, aber verständliche Aktionen. Wir sprechen die Sprache der Jugend und erzeugen die Bilder, die die Mediengesellschaft versteht". (Schreibweise wie im Original.) EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Die Aktivitäten der IBH nahmen im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Über einzelne Aktionen veröffentlichte sie Berichte mit Fotos auf ihrem Telegram-Kanal. Dies galt auch für die im Rahmen der strategischen Neuausrichtung der IB gegründeten und der IBH zuzurechnenden Kanäle Aktives Hessen auf Telegram und Instagram. Auf diese Weise versuchte die IBH nicht nur, neue Angehörige zu werben, sondern auch die eigenen Aktivisten weiterhin zu motivieren. AUF EINEN BLICK * Strategische Neuausrichtung der IB * Teilnahme an "Corona-Protesten" * Aktionen gegen die Asylund Migrationspolitik * "Bundeslager 2022" * Protest im Reinhardswald * Weitere Aktionen * "Deplatforming" der IB in den sozialen Medien Strategische Neuausrichtung der IB | Die IB hielt aus verschiedenen Gründen eine strategische Neuausrichtung für geboten: Unter anderem wegen der Sperrung von Präsenzen der IB in verschiedenen sozialen Medien, wegen des Verbots der Generation Identitaire in Frankreich sowie des Verbots des IB-Symbols in Österreich und der sich aus den offenen bzw. öffentlichen Aktivitäten ergebenden negativen persönlichen Konsequenzen für ihre Akteure. Die IB wollte weniger transparent erscheinen, nach außen ihre Organisationsstrukturen verbergen und sich öffentlich nur noch durch wenige Personen repräsentieren lassen. Darüber hinaus wollte sich die IB von spektakulären auf "mobartige" Aktionen verlegen und ihre bislang hierarchische Organisationsstruktur deutlich verflachen, indem lokale Gruppierungen eigenständiger und unter eigenem Namen agierten. Ihre "inhaltliche Substanz" wollte die IB dabei erhalten. Die Umsetzung dieser 2021 bekannt gewordenen Überlegungen nahm im Berichtsjahr bei der IBH konkretere Formen an. Auf den im Dezember 2021 auf Telegram und Instagram gegründeten Kanälen Aktives Hessen wurden Berichte über Aktionen von IB-Aktivisten veröffentlicht, die wiederum regelmäßig über den Telegram-Kanal der IBH, Identitäre Hessen, geteilt wurden. Die Verbindung zwischen der IBH und Aktives Hessen lässt sich anhand eines am 9. Juni veröffent78 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS lichten Videos belegen, worin ein Banner mit dem Logo der IB zu sehen war und worin am Ende auf die Kontaktdaten von Aktives Hessen verwiesen wurde. Trotz der strategischen Neuausrichtung verwendete die IBH bei Aktionen nach wie vor ihre alten Symbole, zum Beispiel bei einer Verteilung von Flugblättern in Langen (Landkreis Offenbach) und einer vermutlich in Bad Homburg vor der Höhe (Hochtaunuskreis) durchführten Klebeaktion von Stickern. Teilnahme an "Corona-Protesten" | Am 8. und 29. Januar nahmen in Frankfurt am Main Aktivisten der IBH an Protestkundgebungen gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" teil. Ein Beitrag über die Teilnahme am 8. Januar wurde unter anderem auf dem TelegramKanal Aktives Hessen veröffentlicht und auf dem Telegram-Kanal der IBH weiterverbreitet. Darin wurde berichtet, dass sich "Aktivisten von aktives Hessen" seit Wochen an den "Großprotesten" gegen die "Corona-Maßnahmen" beteiligten und diese "maßgeblich mit Bannern und Parolen" mitprägten. Auf einer entsprechenden Bildcollage formten Aktivisten mit ihren Fingern die Buchstaben W und P ("White Power"). Die außerdem in der Collage zu sehenden Banner mit den Aufschriften "Heimatschutz statt Mundschutz" und "Wir halten stand" waren bereits auf den Protestkundgebungen am 27. November 2021 in Frankfurt am Main und am 19. Dezember 2021 in Nürnberg (Bayern) gezeigt worden. Ein weiteres Banner mit der Aufschrift "Wir sind die rote Linie" zeigten Aktivisten während der Veranstaltung am 29. Januar 2022 in Frankfurt am Main. IBH-Aktivisten nahmen zudem an Protestkundgebungen am 21. Januar in Nürnberg (Bayern) und am 22. Januar in Stuttgart (Baden-Württemberg) teil. Aktionen gegen die Asylund Migrationspolitik | Nach den Lockerungen bzw. weitgehenden Aufhebungen der staatlichen "Corona-Maßnahmen" und dem damit verbundenen Abflachen des Protestgeschehens konzentrierte sich die IBH wieder verstärkt auf die Agitation gegen die Migrationsund Asylpolitik. Wie in den Vorjahren führte sie entsprechende Sticker-, Flyerund Banneraktionen unter anderem in Langen (Landkreis Offenbach) und vermutlich in Bad Homburg vor der Höhe (Hochtaunuskreis) durch. Vor dem Hintergrund einer Amokfahrt in Berlin am 8. Juni, bei der die Lehrerin einer Schulklasse aus Hessen ums Leben gekommen war sowie ein anderer Lehrer und mehrere Schüler zum Teil schwer verletzt worden waren, veröffentlichte die IBH auf ihren Kanälen in den sozialen Medien ein Video. Darin waren zwei Aktivisten zu sehen, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 79 RECHTSEXTREMISMUS die ein Banner mit der Aufschrift "... und wenn die Grenzen sicher wären, dann lebten sie noch heute" an einer Bahnhaltestelle hissten. Der Beitrag enthielt die Aufforderung "kriminelle Ausländer" abzuschieben, die Grenzen zu sichern und dadurch Leben zu retten. In dem zu dem Video veröffentlichten Beitrag auf dem Instagram-Profil von Aktives Hessen hieß es: "Der Anschlag am Berliner Breitscheidtplatz ist die logische Konsequenz einer irren Multikulti-Ideologie. Erneut hat die Politik der offenen Grenzen Leben auf deutschem Boden gekostet. Die Täterprofile gleichen sich dabei jedes mal auf erschreckende Art und Weise. Wieder einmal war es ein polizeibekannter, straffälliger Migrant, der gar nicht hätte hier sein dürfen. Wie viele Leben soll dieser Wahnsinn noch fordern?" (Schreibweise wie im Original.) "Bundeslager 2022" | Im August teilte die IBH einen Beitrag über das jährlich stattfindende Bundeslager der IBD, an dem gemäß Eigenangaben knapp 50 Aktivisten teilgenommen hatten. Teilnehmer aus Hessen wurden nicht bekannt. Unter dem Leitthema "Orden & Staat" beschäftigte sich das Bundeslager "intensiv" mit Aufstieg und Fall des Deutschen Ordens, wobei, so die IBH, die "Entbehrungen der Ordensritter bei Tannenberg" im Fokus standen. Auf YouTube wurde ein aufwändig und pathetisch inszeniertes Video veröffentlicht, in dem die überwiegend einheitlich bekleideten Teilnehmer Ganzkörperund Kampfsportübungen durchführten, an Vortragsveranstaltungen teilnahmen und einen Appell abhielten. In dem Video wurde betont, dass der Deutsche Orden den Teilnehmern als Erinnerung daran diene, was "Wille, Disziplin und Mut zu schaffen vermögen, wenn eine verschworene Gemeinschaft von Männern sich unter ihrem Banner versammelt". In dem Video hieß es unter anderem: "Ich liebe das blanke Schwert nicht um seiner Schärfe willen, den Pfeil nicht um seiner Schnelligkeit willen, den Krieger nicht um seines Ruhmes willen, ich liebe nur das, was sie verteidigen. [...] Wir kommen jetzt in eine Zeit, in der jeder selbst entscheiden muss, ob er lieber in seiner kalten Wohnung friert oder den Funken des Widerstands in seiner Brust zum Leuchtfeuer macht. Wir haben unseren Entschluss gefasst: Wir lassen den Sommerurlaub sausen, um uns gemeinsam für einen heißen Herbst und kalten Winter zu wappnen". In einer im Internet veröffentlichten Kurzbeschreibung des Bundeslagers wurde der ausgesprochen maskuline Charakter der Veranstaltung betont: 80 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS "Egal ob bei Seminaren über Straßenaktivismus, beim Erste-Hilfe-Kurs, oder beim Boxtraining - überall stand die Frage im Raum: Wie können wir stärkere, klügere, fähigere, kurz: bessere Männer werden?" Protest im Reinhardswald | Aktivisten der IBD versuchten am 12. Februar unter Beteiligung ihres Bundesvorsitzenden eine Protestaktion gegen die Errichtung eines Windparks im Reinhardswald (Landkreis Kassel) durchzuführen. Sie hatten vier Fahnen der IB und ein Banner mit der Aufschrift "Märchenwald bleibt, kein Profit mit unserer Heimat" bei sich. Die Polizei untersagte die Versammlung, sprach Platzverweise aus und stellte das Banner und die Fahnen sicher. Gegen zwei Personen wurden Verfahren wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz und gegen eine Person ein Verfahren wegen eines Verdachts des Verstoßes gegen das Waffengesetz eingeleitet. Weitere Aktionen | Am 14. März veröffentlichte Aktives Hessen Beiträge auf Telegram und Instagram, wonach mindestens sechs "hessische Aktivisten" tags zuvor eine Wanderung in Bensheim (Kreis Bergstraße) unternommen hatten. Der Beitrag wurde auf dem Telegram-Kanal der IBH geteilt. Am 25./26. Juni fand das erste Aktivistenwochenende der IB Sachsen in der Sächsischen Schweiz statt, an dem auch ein Mitglied der IBH teilnahm. Die IB Sachsen veröffentlichte später ein Video, in dem Teilnehmer bei Kampfsportund Sportübungen zu sehen waren. In Niedernhausen (Rheingau-Taunus-Kreis) führten zwei IBH-Aktivisten am 19. Juli einen Informationsstand durch. Aktivisten der IB aus Dänemark, Frankreich, Ungarn und Hessen trafen sich nach eigenen Angaben im März in Budapest (Ungarn), um Hilfsmaterialien an ein Sammeldepot für ukrainische Flüchtlinge zu übergeben. Die IB erklärte in dem Kanal Aktionsmelder, dass "Hilfszentren in direkter Heimatnähe" und "schlanke Prozesse bei Hilfslieferungen" im Gegensatz zum "kopflosen Refugees-Welcome Wahn" die Menschen unmittelbar unterstützen würden. Aktivisten rund um Martin Sellner, den maßgeblichen Protagonisten der IB im deutschsprachigen Raum, verschafften sich am 29. August Zugang zum Betriebsgelände von Nord Stream 2 in Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern). Vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine und der damit einhergehenden öffentlichen Diskussion über eine bevorstehende Gasverknappung forderten sie die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2. Ferner riefen die Aktivisten die "Aktion Solidarität" ins Leben, die sich nach eigenen Angaben gegen "Teuerungen, suizidale Sanktionsund Migrationspolitik und die Vernichtung Deutscher Interessen, Deutscher Zukunft und Deutscher Identität" richtete. In den folgenden Monaten Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 81 RECHTSEXTREMISMUS nahmen Aktivisten der "Aktion Solidarität" mit Banneraktionen an Protestkundgebungen unter anderem in Chemnitz (Sachsen) und Stuttgart (Baden-Württemberg) teil, die IBH verbreitete auf ihrem Telegram-Kanal Inhalte der Aktion. "Deplatforming" der IB in den sozialen Medien | Nachdem die Seiten der IB auf Facebook und Instagram im Jahr 2018 und auf Twitter im Jahr 2020 durch die Internetkonzerne gelöscht worden waren, wurde im Berichtsjahr auch der YouTube-Kanal der IBD gelöscht. Zuvor hatte das Technologieunternehmen Google LCC, zu dem auch die Videoplattform YouTube gehört, die IB bereits aus dem Suchindex gelöscht, weswegen die Homepage der IBD über den Google-Suchalgorithmus nicht mehr auffindbar war. Um diesem fortschreitenden "Deplatforming" entgegenzuwirken, versuchte die IB im Zuge ihrer strategischen Neuausrichtung Beiträge in Bezug auf ihre Aktionen über die scheinbar "neutrale" virtuelle Plattform Aktionsmelder zu verbreiten, die auf den ersten Blick nicht als von der IB betrieben zu erkennen war. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Die IBD sieht sich als Ableger der Identitären Bewegung Österreich (IBÖ), die wiederum aus dem 2003 in Frankreich entstandenen Bloc Identitaire - Le mouvement social europeen, der späteren Generation Identitaire (GI), hervorgegangen war. In der IBÖ sieht die IBD ein "Vorbild". AUF EINEN BLICK * Ursprung in Frankreich * IB in Deutschland Ursprung in Frankreich | Die "erste größere Aktion" der GI - so ihre eigene Einschätzung - fand im Oktober 2012 statt, als rund 70 Jugendliche in Poitiers (Frankreich) eine Moschee im "Kampf für unsere Identität" besetzten und dies in einem später im Internet verbreiteten Video wie folgt rechtfertigten: "Es ist fast 1300 Jahre her, als Karl Martell die Araber bei Poitiers nach einem heroischen Kampf aufhalten konnte und so unser Land vor den muslimischen Invasoren gerettet hat. Es war der 25. Oktober 732. Heute sind wir im Jahr 2012 und die Wahl ist immer noch die gleiche: Frei zu leben oder zu sterben. Unsere Generation weigert sich, seine Menschen und seine Identität in Gleichgültigkeit aufzugeben, wir werden nie zu den Indianern Europas werden. Wegen dieser symboli82 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS schen Handlung und unserer Vergangenheit und dem Mut unserer Vorfahren, rufen wir auf zur Erinnerung und zum Kampf!" (Schreibweise wie im Original.) Ebenfalls im Oktober 2012 erschien auf YouTube das GI-Video "Kriegserklärung - Identitäre Generation". Darin hieß es unter anderem: "Wir sind die Generation der ethnischen Spaltung, des totalen Scheiterns des Zusammenlebens und der erzwungenen Mischung der Rassen. Wir sind die doppelt bestrafte Generation: dazu verdammt in ein Sozialsystem einzuzahlen, das so großzügig zu Fremden ist, dass es für die eigenen Leute nicht mehr reicht. Unsere Generation ist das Opfer der 68er, die sich selbst befreien wollten von Tradition, von Wissen und autoritärer Erziehung. [...] Unser Erbe ist unser Blut, unsere Identität". IB in Deutschland | Nach der Veröffentlichung des Videos, das sich europaweit rasch in verschiedenen Sprachen (mit Untertiteln) verbreitete, wurden auch in Deutschland Anhänger der IB aktiv, zunächst virtuell im Internet, dann aber auch zunehmend "real", indem sich regionale Gruppen bildeten. Anfang Dezember 2012 fanden sich deutsche Anhänger der IB zu ihrem ersten bundesweiten, konstituierenden Treffen in Frankfurt am Main zusammen, unter ihnen auch Vertreter aus Österreich und Italien. In Hessen trat die IB seit Ende 2012 mit Plakatund Aufkleberaktionen öffentlich in Erscheinung. Im April 2014 fand in Fulda (Landkreis Fulda) ein Treffen statt, das der weiteren Vernetzung diente. In der Folge gründete sich im Mai 2014 in Nordrhein-Westfalen der Verein Identitäre Bewegung Deutschland e. V. mit dem Ziel, die "Identität des deutschen Volkes als eine eigenständige unter den Identitäten der anderen Völker der Welt zu erhalten und zu fördern". IDEOLOGIE/ZIELE Indem die IB von "Ethnopluralismus" spricht, stellt sie - in ihrem Kampf gegen den vermeintlichen "großen Austausch" - "kulturelle Eigenheiten" und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie über die in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verankerten Werte. AUF EINEN BLICK * "Ethnopluralismus" - "ethnokulturelle Identität" * "Der große Austausch" * Symbolik des griechischen Buchstabens Lambda ( ) V * Angebliches Recht auf "Widerstand" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 83 RECHTSEXTREMISMUS "Ethnopluralismus" - "ethnokulturelle Identität" | Die IBD betont die dominierende Bedeutung von Abstammung und Identität und steht damit in der Nähe zur völkischen Ideologie von Rechtsextremisten. Den Menschen nimmt die IBD nicht primär in seiner Individualität, sondern vorrangig in Bezug auf seine ethnische Herkunft wahr. Hierzu hieß es auf der Homepage der IBD: "Die entscheidenden Fragen des 21. Jahrhunderts werden vor allem auf dem Feld der Identitätspolitik gestellt werden. Dabei müssen wir als patriotische Europäer unweigerlich zur Kenntnis nehmen, dass sich die demographischen Verhältnisse zu Ungunsten der einheimischen Bevölkerung entwickeln und uns ohne ein politisches Umdenken zahlreiche ethnische, kulturelle und religiöse Konflikte erwarten". Die IBD rekurriert mit ihrem Konzept des "Ethnopluralismus" nicht auf die Vordenker des "klassischen" Rechtsextremismus. Im Gegensatz zu diesen vertritt die IBD die Auffassung, dass es auf die Unterschiedlichkeit der Ethnien im kulturellen Sinne ankomme. Diese "kulturellen" Eigenarten - im Jargon der IBD die "Identität" - gelte es durch eine größtmögliche Trennung der verschiedenen Ethnien zu erhalten. Ethnopluralisten geben vor, dabei keine Unterscheidung nach der Wertigkeit einer Ethnie vorzunehmen, was sie vordergründig von den im Rechtsextremismus vorherrschenden rassistischen Ideologien abhebt. Nach eigenen Worten erteilt die IBD "Rassismus und Chauvinismus eine klare Absage, da es uns stets um die Betonung des Rechts auf Bewahrung der Identität für jedes Volk und jede Kultur geht und wir eine qualitative Aufoder Abwertung einer bestimmten ethnokulturellen Gemeinschaft klar ablehnen". Es gelte gleichwohl, so die IBD, die eigene Kultur zu bewahren, da sie das eigene Dasein maßgeblich ausmache. In dem mehrteiligen Artikel "Nationalismus revisited" wird hierzu ausgeführt: "Ja, wir stehen für den Erhalt unserer ethnokulturellen Identität, gegen Masseneinwanderung, gegen die Lüge von ,Menschheit und Weltstaat', für den Erhalt der Völker, der Wurzeln, der Herkunft und der Heimat, aber Nein, wir sind keine Nationalisten". "Der große Austausch" | Mit dem Begriff "Der große Austausch" bezeichnet die IBD den angeblichen "Prozess, durch den die einheimische Bevölkerung durch außereuropäische Einwanderer verdrängt und ausgetauscht" werde. Nach Ansicht der IBD werde diese schrittweise Verdrängung durch die "Selbstabschaffungsideologie von Multikulti, die einen Großteil des gesellschaftlichen Entscheidungsbereichs einnimmt", hervorgerufen, wodurch die einheimischen eu84 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS ropäischen Bevölkerungen zur "Minderheit in den eigenen Ländern" und letztlich "völlig verschwunden" sein würden. V Symbolik des griechischen Buchstabens Lambda ( ) | In ihrer Bildsprache verwendete die IBD im Internet, bei Veranstaltungen sowie auf Flyern, Aufklebern und Merchandiseartikeln den griechischen Buchstaben Lambda, der durch die Comicverfilmung "300" aus dem Jahr 2006 einem breiten Publikum bekannt geworden ist. Der Film glorifiziert das antike Sparta und den letztlich aussichtlosen Verteidigungskampf von 300 Spartanern (Lakedaimoniern) gegen die Übermacht der Perser in der Schlacht bei den Thermopylen (480 v. Chr.). In vielfachen Variationen zeigt der Film bewaffnete und kämpferisch entschlossene Spartaner im Kampf gegen persische Angreifer. Die IBD identifiziert sich mit dieser Bildsprache und sieht sich in ihrem "Abwehrkampf" in der Tradition der Spartaner. In einem mittlerweile im Internet gelöschten Video erklärte die IBD: "Das Lamdba, gemalt auf den Schildern [sic] stolzer Spartaner, ist unser Symbol. [...] Wir werden nie zurückweichen, niemals aufgeben! Glaubt nicht, das hier wäre einfach nur ein Manifest, es ist eine Kampfansage an diejenigen, welche ihr Volk, ihr Erbe, ihre Identität und ihr Vaterland hassen und bekämpfen! Ihr seid von gestern, wir sind von Morgen!" Die Orientierung der IBD an Sparta, das "bis heute [...] als Inbegriff eines schon in der Frühzeit gesetzlich streng regulierten und rein militärisch ausgerichteten Staates" (Lukas Thommen, 2017) gilt, ist daher keine vordergründige Symbolik. Die Bildsprache, insbesondere die Verwendung des Buchstabens Lambda, steht für Anschauungen der IB, die nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar sind. Angebliches Recht auf "Widerstand" | Nach Auffassung der IBD sei aufgrund der derzeitigen Lage in Deutschland "eindeutig" der Widerstandsfall nach Art. 20 Abs. 4 GG eingetreten. Das Recht auf Widerstand rechtfertige in der jetzigen Situation zivilen Ungehorsam, jedoch keine Gewalt. In diesem Kontext scheut die IBD nicht davor zurück, an die Akteure der Weißen Rose als vermeintlich historische Vorbilder zu erinnern. Dabei hebt die IBD insbesondere den gewaltfreien Widerstand der Weißen Rose gegen das nationalsozialistische Gewaltund Terrorregime ab, der sich 1942/43 unter anderem mittels Flugblattaktionen artikuliert hatte, eine Aktionsform, auf die auch die IBD immer wieder zurückgreift. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 85 RECHTSEXTREMISMUS STRUKTUREN Die IBD gliedert sich laut ihrer Homepage bundesweit in 16 Regionalgruppen, wobei nicht jede Gruppe sowohl im Internet als auch "real" existierte. Eine dieser Regionalgruppen war die IBH. In Hessen gab es mehrere Ortsgruppen der IB, die unter anderem in Frankfurt am Main, Gießen (Landkreis Gießen), Kassel, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Darmstadt und Fulda (Landkreis Fulda) aktiv waren. BEWERTUNG/AUSBLICK Das sich aus der COVID-19-Pandemie und dem russischen Überfall auf die Ukraine ergebende Mobilisierungspotenzial versuchte die IBH für die eigenen Belange zu nutzen, das Protestgeschehen in ihrem Sinne zu beeinflussen und ihre rechtsextremistische Ideologie in den öffentlichen Diskurs einfließen zu lassen. Nennenswerten Einfluss vermochte die IBH aber nicht zu nehmen. Die Beteiligung an Protestveranstaltungen gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" wurde ebenso wenig wie die Protestaktion auf dem Gelände von Nord Stream 2 von den Medien breit rezipiert und sie fanden keinen nennenswerten Eingang in den öffentlichen Diskurs. Die von der Polizei verhinderte Protestaktion der IBD gegen die Errichtung eines Windparks im Reinhardswald verdeutlicht, dass letztere weiterhin bestrebt war, durch Aktivismus öffentlich wahrnehmbar in Erscheinung zu treten und den gesellschaftlichen Diskurs mitzuprägen. Umweltschutz verstanden als "Heimatschutz" ist kein neues Phänomen im Rechtsextremismus, allerdings zählte Umweltschutz bislang nicht zu den Kernthemen der IB. Offenbar versuchte die IB ihr programmatisches Portfolio um die Komponente "Umweltschutz = Heimatschutz" zu erweitern und sich damit neue Interessenten zu erschließen: Dabei kann die IB zum einen den Reinhardswald, in dem etliche Märchen und Sagen spielen, zur Emotionalisierung des Diskurses nutzen, zum anderen bietet die Rodung eines Waldes zur Gewinnung von erneuerbaren Energiequellen einen Anlass, um die Umweltpolitik als "scheinheilig" zu kritisieren. Aufgrund des Deplattformings in den sozialen Medien konnte die IBH auf diesem Wege Berichte über ihre Aktionen weiterhin nicht reichweitenstark verbreiten und war vor allem auf die eigene Anhängerschaft und ein Sympathisanten-/Unterstützerumfeld beschränkt. Auch die 2021 angestoßene strategische Neuausrichtung zeitigte für die IBD in ihrem Bestreben, den stetig voranschreitenden Bedeutungsverlust aufzuhalten, keine positiven Impulse. Nicht zuletzt um ihren Nimbus als avantgardistische Impulsgeberin in der Neuen 86 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Rechten zu bewahren, inszenierte sich die IBD in ihrem Video über das "Bundeslager 2022" in pathetischer Weise als elitärer Kreis männlicher Aktivisten, die sich ihre Zugehörigkeit bei der IBD erst durch körperliche und geistige Prüfungen verdienen müssen. Die IBD versuchte dadurch, sich sowohl für neue (männliche) Angehörige interessant zu machen als auch die eigenen Anhänger weiter zu mobilisieren. In diesem Kontext ist bemerkenswert, dass die IBD, die in der Vergangenheit auch Aktivistinnen in ihren Reihen prominent in Szene setzte, in ihrer Außendarstellung ein ausgesprochen maskulines Selbstverständnis betonte. Durch das Auftreten von Aktivistinnen hatte die IBD in der Vergangenheit versucht, das in der öffentlichen Wahrnehmung vorherrschende Bild einer männerdominierten rechtsextremistischen Gruppierung zu korrigieren, um eine breitere Anschlussfähigkeit an die Mitte der Gesellschaft herzustellen. Nunmehr scheint die IBD sich durch die Selbstdarstellung als "verschworene Gemeinschaft von Männern" nicht mehr davor zu scheuen, ihr patriarchalisches, maskulines Weltbild auch öffentlich zu zeigen. Diese Art der Außendarstellung schließt Frauen als Zielgruppe in Zukunft wohl vermehrt aus. Auch wenn der Bedeutungsverlust der IBD anhielt, darf die von ihr ausgehende Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht unterschätzt werden. Gerade die Selbstinszenierung der IBD als revoltierende Gegenkultur gegen eine angebliche "gleichgeschaltete" Gesellschaft und Medienlandschaft, in der "patriotische" Werte stigmatisiert und unterdrückt werden, kann weiterhin eine Faszination auf Jugendliche und junge Erwachsene ausüben. Das durch das "Bundeslager 2022" betonte maskulin-archaische Kämpferideal lässt vermuten, dass die IBD versucht, sich nicht nur als intellektuell und elitär, sondern auch als besonders wehrhaft darzustellen. Auf diese Weise will sich die IBD offenbar auch für ein kampfsportaffines Klientel interessant machen. Dadurch, dass die IBD behauptet, eine Bewegung zu sein, welche die "Zukunft unserer Heimat" in die Hand nimmt, wobei sie von einer "Kampfansage" spricht, will sie das Fundament für einen vermeintlich legitimen Widerstand schaffen. Der Fall des Rechtsterroristen von Christchurch (Neuseeland), der bei seinem Anschlag auf zwei Moscheen 51 Menschen tötete und sich in seinem "Manifest" auf das von der IB propagierte Verschwörungsnarrativ des "Großen Austauschs" berief sowie Kontakte zur IBÖ unterhielt, zeigt Folgendes: Die von der IBD verbreitete Ideologie ist dazu geeignet, Radikalisierungsprozesse zu fördern und schwerste Gewaltstraftaten zu legitimieren. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 87 RECHTSEXTREMISMUS GegenUni (GU) DEFINITION/KERNDATEN Die im Juli 2021 durch einen Rechtsextremisten aus Hessen Mitglieder: gegründete GU ist ein virtuelles "Bildungsprojekt" aus dem Nach eigenen Angaben 553 "Studenten" und 28 "Dozenten" Spektrum der Neuen Rechten. Laut der GU soll hiermit ein Gegen(Stand Juni 2022) entwurf zu den als "Zwingburg des antideutschen ideologischen Staatsapparats" und den als "Brutstätte des linksliberalen UniversaMedien: lismus" verunglimpften Hochschulen etabliert werden. Trotz der Internetpräsenzen Selbstbezeichnung als "Universität" stehen bei der GU nicht der wissenschaftliche Diskurs und damit die kritische - wissenschaftlichen Standards genügende - Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen / und politischen Themen im Vordergrund. Der GU geht es vielmehr um den "Kampf um den geistigen Raum der Nation", der letztlich zum "metapolitischen" Sieg, also der rechtsextremistischen Dominanz im vorpolitischen Raum, führen soll. Durch Kurse und Seminare im Internet will die GU die "junge, rechte Intelligenz" aus ihren "verstreuten Nischen" holen und versammeln, "jungen, gefährlichen Denkern" die Möglichkeit zur "Verbreitung ihrer Ideen" geben und nicht zuletzt durch die Erhebung von Studiengebühren "Verdienstmöglichkeiten für junge Rechtsintellektuelle" schaffen. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Seit mittlerweile drei "Semestern" beschäftigte die GU unter anderem Rechtsextremisten als "Dozenten" und versuchte durch Kurse und Seminare im Internet ein Lehrangebot für eine künftige "Bildungselite" der Neuen Rechten zu etablieren. Dabei sollte die Ideologie der Neuen Rechten wie etwa der "Ethnopluralismus" und das Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs" im bildungspolitischen Raum verankert und verbreitet werden. Während sich die GU in ihren Anfängen vornehmlich als "E-Learning-Plattform im rechten Lager" zu profilieren versuchte, trat sie im Berichtsjahr auch in der "realen" Welt in Erscheinung. So fungierte die GU im April und September als Kooperationspartnerin bei zwei "Akademien" des Instituts für Staatspolitik (IfS) in Schnellroda (Sachsen-Anhalt). Das IfS wurde vom BfV im Berichtsjahr als Verdachtsfall im Phänomenbereich Rechtsextremismus eingestuft. AUF EINEN BLICK * "Politisches und philosophisches Handwerkszeug" * Drei Phasen umfassender "Zweijahresplan" * "Wir holen uns alles zurück!" * Frühjahrsund Sommerakademie des IfS * Farbschmieraktion gegen den GU-Gründer * Adventskalender * Überarbeitete Homepage 88 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS "Politisches und philosophisches Handwerkszeug" | Auf ihrer Homepage gab die GU im Juli 2021 an, zwar keine Bacheloroder Masterabschlüsse anbieten zu können, stattdessen aber "politisches und philosophisches Handwerkszeug" zu vermitteln, um "unser Lager" zum "Sieg" zu führen. Hierzu bot die GU im insgesamt drei "Semester" umfassenden Berichtsjahr eine Vielzahl von virtuellen Lesekreisen und Seminaren zu "metapolitischen Schlüsselwerken und Themen" an. Dazu zählten der von der IB propagierte "Ethnopluralismus" und "Der große Austausch", wobei die GU dieses Verschwörungsnarrativ als "Ersetzungseinwanderung" bezeichnete. Darüber hinaus enthielt das Angebot der GU einen Beitrag über die Konservative Revolution, eine intellektuelle, antidemokratische und antipluralistische Strömung während der Weimarer Republik. Daneben führte die GU Seminare zu Themen wie "visuelle politische Kommunikation", "Demoskopie und Wählermilieus" und "Geopolitik" durch, die auf den ersten Blick nicht mit der Ideologie der Neuen Rechten zu assoziieren sind. Hierzu erklärte die GU auf ihrer Homepage, dass nicht alle ihre Inhalte "stramm politisch" seien. Bezüge zum Rechtsextremismus ergaben sich jedoch aufgrund der "Dozenten" der Seminare, bei denen es sich zum Beispiel um den ehemaligen Bundesvorsitzenden der IBD handelte. Das galt auch für einen Autor, der Beiträge für die Sezession, einer dem Verlag Antaios (Verdachtsfall des BfV im Berichtsjahr) zuzurechnenden Publikation, verfasste. Weitere in die GU organisatorisch eingebundene oder als "Dozenten" tätige Personen waren dem Verfassungsschutz im Kontext der Gruppierungen IBD/IBH, IfS, Ein Prozent e. V. (Verdachtsfall des BfV im Berichtsjahr) sowie als rechtsextremistische YouTuber bekannt. Darüber hinaus führte die GU im Berichtsjahr ein Plenum durch; gemäß der Veranstaltungsankündigung würden die Leitung und die "Dozenten" auf die Fragen, Anmerkungen und Vorschläge der "Studenten" eingehen. Ebenso fand das bislang fünf Ausgaben umfassende virtuelle Diskussionsformat "Standpunkte" statt, in dem mit zwei Gästen über aktuelle politische Themen diskutiert wurde. Drei Phasen umfassender "Zweijahresplan" | Am 25. Juni 2021 veröffentlichte die GU auf ihrem Telegram-Kanal einen "Zweijahresplan", wonach sie sich in der ersten Phase als "E-Learning-Plattform im rechten Lager" etablieren wolle. In der zweiten Phase sollten im Rahmen einer "Uni-Tour" diejenigen Gegenden besucht werden, in denen sich "größere Aufkommen" an "Studenten" der GU gebildet hatten, um dort "Potenziale" zu vernetzen und "aktive Zellen" zu bilden. In der dritten Phase strebte die GU an, ein aus verschiedenen Fachmodulen bestehendes "eigenes Curriculum" vorzustellen. Bis zum Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 89 RECHTSEXTREMISMUS Herbst 2022 war es das Ziel der GU, alle "bildungsaffinen jungen Rechten in der GU-Studentenschaft" zu sammeln und alle "interessierten Akademiker als Dozenten oder Beiräte in einem GU-Mittelbau" einzubinden. "Wir holen uns alles zurück!" | Am 21. Februar kündigte die GU über ihren Telegram-Kanal eine "großangelegte Stickeraktion" an. Sie forderte ihre "Studenten" dazu auf, Sticker der GU zu erwerben, diese auf dem Campus einer Hochschule zu verkleben, von der Aktion ein Foto zu machen, es in den sozialen Medien hochzuladen und die GU zu verlinken. Die "Studenten" der GU könnten auf diese Weise nicht nur ihre "linken Kommilitonen auf dem Campus" "maximal triggern", so die GU, sondern auch folgende Botschaft verbreiten: "Wir holen uns alles zurück! Es gibt eine Alternative, es gibt eine Gegenuni und diese wächst jeden Tag - und aus hunderten anonymen Einzelkämpfern formt sich eine metapolitische Phalanx". Anschließend berichtete die GU auf ihrem Telegram-Kanal über drei im März durchgeführte Stickeraktionen in Graz (Österreich), Berlin und Konstanz (Baden-Württemberg), ehe sie die Aktion am 31. Mai für beendet erklärte. Frühjahrsund Sommerakademie des IfS | Seit ihrem Start warben Gruppierungen aus dem Spektrum der Neuen Rechten für die GU; das galt zum Beispiel für die IBD, Ein Prozent e. V., den Verlag Antaios und das als "Thinktank" und Impulsgeber sich verstehende IfS. Letzteres richtete in Kooperation mit der GU vom 8. bis zum 10. April eine Frühjahrsund vom 2. bis zum 4. September eine Sommerakademie in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) aus. Der Leiter der GU hielt im April einen Vortrag über "Biopolitik", wobei er für eine auf "Nachhaltigkeit und demokratische Legitimation bauende Biopolitik" plädierte, "die vor allem über das bewusste Einsetzen indirekter und niedrigschwelliger Sozialreform wie eine progressive Geburtenpolitik und das Einsetzen direkter, aber eben auch niedrigschwelliger Biopolitik wie einen Migrationsstopp funktioniert". Im Vorfeld der Sommerakademie kündigte die GU an, dass sie selbst mit "einigen unserer Dozenten" vor Ort sein werde und sich auf "spannende Diskussionen und neue Bekanntschaften" freue. Auf der Veranstaltung hielten zwei "Dozenten" der GU Vorträge. Farbschmieraktion gegen den GU-Gründer | Als Verantwortliche der Farbschmierereien an seinem Wohnhaus Anfang November vermutete der Gründer der GU Linksextremisten, die ihn einschüchtern 90 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS wollten. Ihm selbst zeige die Aktion, wie "wichtig und brisant" die Arbeit der GU sei, sodass er zur finanziellen Unterstützung der GU aufrief. In einem weiteren Beitrag griff auch die GU das Thema "Farbschmierereien" auf und verwies auf den "Solifond" der Gruppierung Ein Prozent e. V., der ein "sehr gutes Projekt" sei, das Solidarität verdiene. Adventskalender | Die GU kündigte für den 1. Dezember einen "GegenUni-Adventskalender" an, bei dem täglich "Bücher, Zeitschriften, Kleidungsartikel und weitere Überraschungen" unter den Teilnehmern verlost werden würden. Neben GU-Mitgliedschaften und -Stickerpaketen wurde unter anderem Folgendes verlost: ein Jahresabonnement der vom IfS herausgegebenen Zeitschrift Sezession, Publikationen des Verlags Antaios, Tassen von Ein Prozent e. V., Kleidungsstücke des mit der IBD assoziierten Phalanx-Europa Onlineshops sowie ein kostenloser Teilnehmerplatz bei der Winterakademie des IfS (27. bis 29. Januar 2023). Überarbeitete Homepage | Im Januar 2022 hatte die GU auf ihrer Homepage angekündigt, Wissen zu "metapolitischen Schlüsselwerken und Themen" wie zum Beispiel über den "Ethnopluralismus" vermitteln zu wollen; ebenso hatte sie konstatiert, dass "Hunger und gedankliche Sprengkraft" in "unserem Lager" lägen und es gelte, den "globalistischen Zeitgeist" und die "metapolitische Dominanz von Links" zu brechen. Im November waren diese Äußerungen nach der Überarbeitung der GU-Homepage verschwunden. Stattdessen bezeichnete sich die GU nun als "digitale Akademie für politische Inhalte" zu "Geschichte, Philosophie, Kulturund Gesellschaftswissenschaften": Die GU biete "konservativen und patriotischen Inhalten" einen Raum. Ihr seien "Meinungsvielfalt und offener Diskurs" wichtig und man positioniere sich gegen eine in Deutschland angeblich vorherrschende "Cancel Culture" an deutschen Hochschulen. Trotz dieser Aktualisierung der Homepage blieben die von der GU verbreiteten Inhalte und das Veranstaltungscurriculum unverändert. IDEOLOGIE/ZIELE Selbsterklärtes Ziel der GU ist die Lehre, Konzentration, Ansammlung und Popularisierung von Theorieansätzen der Neuen Rechten. Da die "regulären Universitäten", so die GU, fest in "linksliberaler Hand" seien, könnten Gesellschaftsund Ideologiekritik sowie "gefährliches Denken" nur noch in einem "unund antiakademischen Raum" stattfinden, den sie, das heißt die GU , bereitstelle. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 91 RECHTSEXTREMISMUS AUF EINEN BLICK * Entstehung einer "neuen geistigen Kraft" * Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs" * "Anleitung" durch das "Denken und Schreiben rechter Autoren" Entstehung einer "neuen geistigen Kraft" | Durch den "Lehrbetrieb" der GU soll die "geistige Kraft" für den "Kulturkampf um die Universität und die Nation" aufgenommen werden. So hieß es in der Ankündigung des Starts der GU am 20. Juni 2021 auf ihrer Homepage: "Die Uni ist am Ende. Mit ihrem Verfall ist der geistige Raum der Nation stickig, eng und tödlich langweilig geworden. Statt eines Horts der freien Lehre und des freien Geists, ist die Universität Brutstätte linksliberalen Universalismus geworden [...]. Statt eine nationale Elite zu bilden, macht sich die deutsche Hochschulen zur Schaltstelle der globalistischen Herrschaft. Die Uni ist Zwingburg des antideutschen ideologischen Staatsapparats geworden. Was sie hervorbringt, was aus ihren Seminaren an Experten, Narrativen und Ideologen hervordringt, tötet unsere Kultur". (Schreibweise wie im Original.) "Dagegen formiert sich die Gegenuni. Wir wollen auf dieser Plattform die junge, rechte Intelligenz, aus ihren zerstreuten Nischen und dem vereinzelten digitalen Waldgang versammeln und bilden. Wir bieten jungen, gefährlichen Denkern eine Möglichkeit zur Verbreitung ihrer Ideen". (Schreibweise wie im Original.) "Unser Ziel ist [...] auch die lokale Vernetzung und Organisation der GU-Studenten. Aus unserem Lehrbetrieb soll die neue geistige Kraft entstehen, die den Kulturkampf um die Universität und die Nation wieder aufnimmt". Um diese Ziele zu erreichen, bot die GU virtuelle Lesekreise und Seminare zu "metapolitischen Schlüsselwerken" und den geistigen Vordenkern der Neuen Rechten an. Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs" | Neben dem "Ethnopluralismus" propagierte die GU das Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs", wobei sie sich auf das Buch "Kritik der Migration" bezog und dieses als "Standardwerk sozialistischer Migrationspolitik" bezeichnete. In der Beschreibung zu dem Seminar "Kritik der Migration von Hannes Hofbauer" hieß es 2021 ursprünglich: 92 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS "Was Wagenknecht und andere Renegaten der liberalen, multikulturalistischen Linken gelegentlich andeuten, bringt der Autor klar auf den Punkt. Die Ersetzungseinwanderung, die globale Mobilmachung des Menschen als ,homo migrans', ist auch mit einem orthodox linken Gesellschaftsverständnis unvereinbar". Im Berichtsjahr ersetzte die GU das Wort "Ersetzungseinwanderung" durch das Wort "Massenmigration". "Anleitung" durch das "Denken und Schreiben rechter Autoren" | Darüber hinaus bot die GU unter anderem Seminare zu der antidemokratischen Konservativen Revolution während der Weimarer Republik, zu deren maßgeblichen Repräsentanten Carl Schmitt sowie zu Alain de Benoist, dem Vordenker der französischen Neuen Rechten, an. Deren Bedeutung erklärte der GU-Gründer in einem im August 2021 veröffentlichten Interview wie folgt: "Eine Universität, an der man mit Masterarbeiten über Judith Butler, Karl Marx oder Michel Foucault eine akademische Karriere begründen kann, die aber zugleich das Denken eines Carl Schmitt, Arnold Gehlen oder Alain de Benoist systematisch diskreditiert, beschwört ihre GegenUni geradezu selbst". Eine "Einführung", eine "Kontextualisierung samt Hintergrundinformationen" und schließlich eine geführte "Anleitung" durch das "Denken und Schreiben rechter Autoren wie zum Beispiel Carl Schmitt oder Alain de Benoist", so der GU-Gründer, seien notwendig: "Es braucht eine Universität, aber eben eine Universität, die sich [...] abseits vom engen Meinungskorridor der Unis positioniert - eine GegenUni". STRUKTUREN Die GU war keine "real" existierende Universität, sondern, so ihr Gründer, eine im virtuellen Raum agierende "E-Learning-Plattform". Bis zum 9. September 2021 befand sich der Unternehmenssitz der GU in Frankfurt am Main, dann wurde er nach Rostock (MecklenburgVorpommern) verlegt. Hintergrund des Umzugs war, dass sich der Vermieter der Büroräume in Frankfurt am Main aufgrund der Medienberichte über den rechtsextremistischen Charakter der GU dazu entschlossen hatte, den Mietvertrag zu kündigen. Bei der neuen Anschrift in Rostock handelte es sich um eine Adresse, an der mehrere mit der IB assoziierte Firmen ansässig waren. Bezüge der GU nach Hessen waren trotz des Umzugs nach Mecklenburg-Vorpommern weiterhin gegeben. Der Leiter der GU sowie ein Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 93 RECHTSEXTREMISMUS bei der "E-Learning"-Plattform" organisatorisch eingebundener Rechtsextremist, der Regionalleiter der IBH, hatten ihren Wohnsitz im Berichtszeitraum weiterhin in Hessen. Als virtuelle "E-Learning-Plattform" kann die GU ortsungebunden betrieben werden. Die für die zweite Phase des "Zweijahresplans" angekündigte Bildung von "aktiven Zellen" an Orten mit einem größeren Aufkommen an GU-Studenten wurde im Berichtszeitraum nicht beobachtet. BEWERTUNG/AUSBLICK Bei der GU handelt es sich entgegen der Selbstbezeichnung als "Universität" nicht um eine Lehrund Forschungseinrichtung, in der Theorien und Konzepte auf Grundlage wissenschaftlicher Standards kritisch besprochen bzw. geprüft werden, sondern um ein rechtsextremistisches "Leuchtturmprojekt" der Neuen Rechten. An der GU sollen zentrale - nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu vereinbarende - Ideologiebestandteile der Neuen Rechten verbreitet und eine rechtsextremistische "Bildungselite" ausgebildet werden. Ziel ist es, die "Weltanschauung" der Neuen Rechten dauerhaft im gesellschaftlichen Raum und Diskurs zu verankern. Die GU reiht sich mit ihren Aktivitäten nahtlos in das Geflecht von Gruppierungen aus dem Spektrum der Neuen Rechten ein und präsentiert sich als weiterer Stein der "Mosaikrechten". Dabei handelt es sich um eine arbeitsteilige Strategie, wonach durch das verzahnte, wechselseitige Zusammenwirken von parlamentarischen und außerparlamentarischen Akteuren und Gruppierungen rechtsextremistische Ideologiebestandteile der Neuen Rechten in alle gesellschaftlichen Teilbereiche und Subkulturen getragen werden sollen. Damit soll sukzessive Herrschaft im vorpolitischen Raum erlangt und letztlich eine Gesellschaft und ein Staat nach den Vorstellungen der Neuen Rechten geschaffen werden. Insbesondere die Kooperation mit dem als "Thinktank" und Impulsgeber innerhalb der Neuen Rechten bekannten IfS verdeutlicht, dass die GU in kurzer Zeit zu einer festen und "anerkannten" Größe innerhalb des Spektrums der Neuen Rechten aufgestiegen ist. Das Erheben von "Studiengebühren" und die selbstbekundete Absicht, "Verdienstmöglichkeiten für junge Rechtsintellektuelle durch geistige Arbeit" schaffen zu wollen, birgt darüber hinaus die Gefahr, dass die GU zur Finanzierung von rechtsextremistischen Einzelpersonen und Gruppierungen beiträgt. 94 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS SONSTIGE PARTEIUNABHÄNGIGE STRUKTUREN Thule-Seminar e. V. Das 1980 von dem Rechtsextremisten Dr. Pierre Krebs gegründete Thule-Seminar e. V. mit Sitz in Kassel versteht sich als "Forschungsund Lehrgemeinschaft für die indoeuropäische Kultur". Der Vereinsname orientiert sich an der historischen Thule-Gesellschaft, einem im August 1918 gegründeten "Geheimbund". Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Untergang des Kaiserreichs (November 1918) existierte dieser bis zu seiner Löschung aus dem Vereinsregister im Jahr 1932. Ähnlich dem heutigen Thule-Seminar e. V. sollte die Thule-Gesellschaft zur "Erforschung deutscher Geschichte und Förderung deutscher Art" dienen und vertrat einen aggressiven Antisemitismus. Ihre Mitglieder setzten sich überwiegend aus Akademikern, Aristokraten und Geschäftsleuten zusammen, darunter auch führende Nationalsozialisten wie etwa Rudolf Heß und Alfred Rosenberg. Als Zeichen der Thule-Gesellschaft fungierte ein Hakenkreuz mit Schwert. AUF EINEN BLICK * Ideologische Denkschule mit elitärem Selbstverständnis * "Washington, das Mekka der Mörder aller Völker" * "Ethnopluralismus" - "genetisches Reservoir" Ideologische Denkschule mit elitärem Selbstverständnis | Vergleichbar mit seinem historischen Vorbild ist das Ziel des Thule-Seminars e. V. eine "geistig-geschichtliche Ideenschmiede für eine künftige Neuordnung aller europäischen Völker unter besonderer Berücksichtigung ihres biokulturellen und heidnisch-religiösen Erbes". Dabei begriff sich das Thule-Seminar e. V. als ideologische Denkschule mit elitärem Selbstverständnis und verbreitete wie in den vorangegangenen Jahren insbesondere im Internet völkisch-rassistisches Gedankengut. Als Ideologe, Ideengeber und Vortragsredner versuchte Krebs, Wirkung in rechtsextremistischen Kreisen zu erzielen. Die Ideologie des Thule-Seminars e. V. ist auf die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet. So schrieb Krebs auf seiner Homepage: "Was sollten wir heute eigentlich bewahren? Die Werte und Denkhaltungen des Systems? Das hieße gerade das aufrechtzuerhalten, wogegen wir kämpfen! Wie lässt sich aber ein Diskurs, der eine radikale Abkoppelung vom System fordert, mit einem Diskurs vereinbaren, der die Quintessenz dieses Systems bestehen lassen will?" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 95 RECHTSEXTREMISMUS Auch im Berichtszeitraum setzte Krebs seine rechtsextremistischen Aktivitäten fort. So beteiligte er sich am 10. Dezember an dem von der Deutschen Stimme, dem Presseorgan der NPD, organisierten und im Internet übertragenen "Netzwerktag" in Brandenburg. Zusammen mit anderen Rechtsextremisten diskutierte Krebs über das Thema "Nationalstaat - Reich - Region - Ethnos: Wie sichern wir die Zukunft der Völker?" Das Thule-Seminar e. V. betrieb - neben seiner Homepage ahnenrad.org - unter anderem den Eigenverlag Ahnenrad der Moderne sowie den Buchund Kunstversand Ariadne. In diesem Zusammenhang mussten sich Krebs sowie zwei weitere Mitarbeiter wegen eines 2016 veröffentlichten Taschenkalenders vor Gericht verantworten. Darin war zu einem "Rachefeldzug" gegen die angeblich durch Masseneinwanderung und "Multikulturalismus" angestrebte "Ausrottung der Deutschen" aufgerufen worden. Ferner waren Geflüchtete als "tödliche Bedrohung des schon in akute Gefahr geratenen Erbgutes unseres Volkes" und Mitglieder der Bundesregierung als "Rasseverächter und Rassevernichter" bezeichnet worden. Weiterhin fanden sich in dem Kalender den Nationalsozialismus verherrlichende sowie die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs leugnende Passagen. Am 1. September verurteilte das AG Fritzlar Krebs und eine Mitangeklagte wegen gemeinschaftlicher Volksverhetzung zu einer Geldstrafe von 7.200 Euro, der dritte Angeklagte wurde freigesprochen. "Washington, das Mekka der Mörder aller Völker" | In einem auf der Homepage ahnenrad.org am 4. Juli veröffentlichten Vortrag ("Europäischer Radikal-Realismus zwischen westlicher Mischlingshydra und östlichem Imperium des russischen Bären") beschäftigte sich Krebs mit der russischen Invasion der Ukraine. In dem Beitrag, der unter anderem Verschwörungsnarrative, antidemokratisches sowie völkisch-rassistisches und antisemitisches Gedankengut enthielt, traf Krebs folgende Feststellung, die seiner Ansicht nach "unumstößlich und so hart wie Kruppstahl" sei: "Europa existiert zur Zeit nicht mehr, ist nur noch ein Serail staatenloser und verdorbener Geschäftemacher, während die Haupttragödie in der Ukraine, ob ukrainische oder russische Verluste, zu einem weiteren Schwinden der noch lebendigen Kräfte unserer Völker beiträgt. Die kleinen Pudel unserer Regierungen haben von Anfang an den Schwanz eingezogen und sind schnell in ihre Hundehütten zurückgekrochen, um auf die Befehle von ,Big Brother' zu warten". Die Schuldigen an der "Haupttragödie in der Ukraine", so Krebs, säßen "nicht in Moskau, sondern in Washington, [dem] Mekka der Mör96 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS der aller Völker". Diesem "Feind" gelte es entgegenzutreten und ihn zu vernichten. In seiner Argumentation bediente sich Krebs einer Reihe von "antiwestlichen", antiegalitären und antiliberalen sowie rechtsextremistischen Elementen. So sah er hinter der "Maske des Multikulturalismus [...] die Lüge einer naturgemäß nicht realisierbaren Gemeinschaft [agieren], die in Wirklichkeit dabei ist, den planetarischen Ethnosuizid durch Vernichtung der ethnogenetischen Rassen und ethnodifferenzierten Kulturen zu programmieren und teilweise schon zu verwirklichen". Den Überfall Russlands auf die Ukraine betrachtete Krebs als "Krieg zwischen zwei radikal antagonistischen Lebensund Weltanschauungen". Dabei stünden sich der "gesamte Westen" und der "russische Osten" gegenüber: "Ein Krieg zwischen der liberalen/merkantilen Welt des völkervernichtenden Globalismus [des "Westens"] und der russischen zivilisierten Welt der identitären Völker und Kulturen". Der westliche Globalismus, so Krebs, sei in allen Bereichen des Lebens "entartet" und zu einer "Mischlingshydra" mutiert, die "mithilfe aller lebenswidrigen Mittel der Politik, [...] der sozialen Institutionen [...] und der Religion, die Dekonstruktion aller Identitäten, ob rassisch oder geschlechtlich, erzwingen" wolle. In diesem Krieg wäre laut Krebs eine neutrale Haltung mit Kapitulation gleichzusetzen: "Es wäre Verrat an unserem Volk, Verrat an unseren Werten, Verrat an uns selbst". Krebs, der die Ukraine als eine "politische Fiktion" bezeichnete, positionierte sich damit eindeutig auf Seiten Russlands und legitimierte die russische Aggression als "Defensivschlag". Darüber hinaus bettete Krebs den Krieg in einen angeblich größeren, systemischantagonistischen Dualismus ein: "Transmenschismus der anvisierten Gleichförmigkeit gegen Rassensurhumanismus der natürlichen Weltpolyphonie". Jeden Zentimeter Raumgewinn des "Westens" betrachtete Krebs als einen "Anmarsch" von "Verwesung und Tod, während ich jeden gewonnenen cm der Russischen Föderation als einen cm des Anmarsches von Leben und Regeneration empfinde". "Ethnopluralismus" - "genetisches Reservoir" | Bezog sich Krebs in seinem Vortrag positiv auf die angebliche russische "Welt der identitären Völker und Kulturen", so hatte er bereits Anfang der 1980er Jahre den gegenwärtig vor allem von der IB genutzten Begriff des "Ethnopluralismus" verwendet. Im Hinblick auf den "Extremfall, dass Westeuropa durch den mörderischen Globalismus und die rassische Durchmischung zur Auflösung gebracht" werde, strebte Krebs das Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 97 RECHTSEXTREMISMUS rein biologistisch-rassistische und an der nationalsozialistischen Ideologie orientierte Ziel an, ein "genetisches Reservoir zu schaffen". Dabei orientierte sich das Thule-Seminar e. V. in seiner ideologischen Ausrichtung an der Nouvelle Droite, einem Theoriezirkel französischer Rechtsextremisten, der ebenso wie die Mitglieder des Thule-Seminars e. V. ein "indogermanisches Heidentum" propagiert. Der Einfluss und die Anschlussfähigkeit des Thule-Seminars e. V. insbesondere an die Neue Rechte in Deutschland blieben jedoch gering. Recht und Wahrheit Die von dem Rechtsextremisten Meinolf Schönborn herausgegebene Zeitschrift Recht und Wahrheit ist dem intellektuellen Rechtsextremismus zuzuordnen und widmet sich laut eigener Aussage der "geistigen Pflege des deutschen Freiheitsgedankens". Dabei will sie für das Recht des "deutschen Volkes auf freie Selbstbestimmung" eintreten. AUF EINEN BLICK * "Lesertreffen" - rechtsextremistische Propaganda * "Kulturzentrum Ludenbeck" "Lesertreffen" - rechtsextremistische Propaganda | Die in der Zeitschrift publizierten Artikel behandelten hauptsächlich gesellschaftliche, politische und historische Themen, wobei rechtextremistische, antisemitische und gebietsrevisionistische Thesen vertreten und propagiert wurden. Darüber hinaus fanden regelmäßig "Lesertreffen" statt. Daneben wirkte ein "Arbeitskreis" an der Gestaltung und Verbreitung der Zeitschrift mit. Sowohl die Teilnehmer der "Lesertreffen" als auch die Mitglieder des "Arbeitskreises" waren dem neonazistischen Spektrum, rechtsextremistischen Parteien sowie der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter zuzurechnen. So strebten der Herausgeber und Angehörige der "Lesertreffen" die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit eines wie auch immer gearteten Deutschen Reichs an. Außerdem betrieb Schönborn den Versandhandel Z-Versand, dessen Angebot neben der Zeitschrift Recht und Wahrheit unter anderem weitere Publikationen, Aufkleber und Kalender umfasste. Den Kurznachrichtendienst Twitter und mehrere Kanäle auf dem Messenger-Dienst Telegram nutzte Schönborn, um gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie zu agitieren. Außerdem warb er für die 2014 initiierte bundesweite rechtsextremistische Kampagne "Schwarze Kreuze - Kein deutsches 98 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Opfer wird vergessen!", die zum Ziel hatte, jährlich am 13. Juli an die "Tausende[n] durch Ausländer getöteten Deutschen" zu erinnern. "Kulturzentrum Ludenbeck" | Seit Dezember 2020 bewohnte Schönborn ein ehemaliges Hotel in Wesertal (Landkreis Kassel), dessen Ausbau zu einer überregionalen sowie szeneübergreifenden Veranstaltungsörtlichkeit er auch im Berichtsjahr kontinuierlich vorantrieb. Laut Schönborn standen in diesem Rahmen ein Versammlungsraum und Übernachtungsmöglichkeiten für die Teilnehmer zur Verfügung. Auf der Internetseite von Recht und Wahrheit hieß es hierzu im Januar: "Unser Kulturzentrum Ludenbeck ist als Gemeinschaftsprojekt verschiedener Patrioten entstanden. Die Vision war, im oberen Wesertal den sicheren Lebensraum für Generationen zu schaffen und zu gestalten". Über Telegram warb Schönborn für eine für den 10. September angekündigte Veranstaltung unter dem Motto "Kulturzentrum sucht Talente", die der Vernetzung "Gleichgesinnter" dienen sollte. Über den Twitter-Kanal Meinolf Schönborn wurde zudem das "18. Recht und Wahrheit-Lesertreffen" für den 30. September bis 3. Oktober in Thüringen angekündigt. Nach Angaben auf der Homepage von Recht und Wahrheit sollten darüber hinaus auch Stammtische im Westerwald, Schwarzwald, Berlin sowie im Rhein-Main-Gebiet stattfinden. Sowohl der Ausbau als auch die Nutzung des "Kulturzentrums" verdeutlichen die große Bedeutung von Immobilien als Anlauf-, Rückzugs-, Veranstaltungs-, Schulungsund Vernetzungsörtlichkeiten für die rechtsextremistische Szene. Auf der Homepage der Publikation Recht und Wahrheit wurde das Kulturzentrum im Januar wie folgt beschrieben: "Das Kulturzentrum Ludenbeck ist aber nicht nur Begegnungsu. Wohnstätte für Patrioten, sondern es soll auch eine ,feste Burg' sein, für schlimme Zeiten, die ohne Zweifel auf uns Deutsche schon in naher Zukunft zukommen werden". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 99 RECHTSEXTREMISMUS LOSE STRUKTURIERTER RECHTSEXTREMISMUS Neonazis DEFINITION/KERNDATEN Aktivisten /Anhänger: Rechtsextremisten, die nach der Überwindung der GewaltdikIn Hessen etwa 395 tatur des Nationalsozialismus (1933-1945) dessen Ideologie in ihren inhaltlichen Zielsetzungen oder im Rahmen ihrer Aktivitäten Medien : zu verwirklichen versuchen, werden als Neonazis bezeichnet. ZahlInternetpräsenzen reiche neonazistische Organisationen sind verboten, Neonazis fin- / den sich aber immer wieder in neuen Gruppierungen, Bündnissen und auf Plattformen zusammen. Zu rechtsextremistischen Parteien und zu subkulturell orientierten Rechtsextremisten und Skinheads unterhalten Neonazis, denen grundsätzlich eine Gewaltorientierung zuzuschreiben ist, enge Kontakte. Nahezu gleichmäßig erstreckte sich die Neonaziszene über ganz Hessen. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Vor dem Hintergrund der abflachenden COVID-19-Pandemie und des allmählichen Auslaufens der staatlichen "Corona-Maßnahmen" nahmen die öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten im Bereich des neonazistischen Spektrums zu. Das betraf vor allem die Teilnahme von Neonazis an bundesweiten Veranstaltungen wie Protestund Gedenkmärschen. Wie bereits in den Vorjahren war die Neonaziszene in Hessen strukturell mehrheitlich durch lose miteinander verbundene Personen und einzelne regionale Gruppierungen geprägt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kam den zentralen und organisationsübergreifenden Vernetzungsprotagonisten der Szene 100 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS weiterhin eine Schlüsselposition zu. Eine zentrale Rolle spielten hierbei neonazistische Parteien, die meistens die Organisation der Veranstaltungen übernahmen und im Rahmen der Mobilisierung als Bindeglied zu der überregionalen bzw. bundesweiten Neonaziszene agierten. Dabei versuchte sich das organisierte Neonazispektrum weiterhin international zu vernetzen. So unterhielten Aktivisten aus Hessen persönliche Verbindungen zu Neonazis aus dem europäischen Ausland und nahmen gemeinsam an überregionalen Veranstaltungen teil. AUF EINEN BLICK * Rekrutierungsversuche * Combat 18 Deutschland (C 18 Deutschland) * Scheiteljugend Kassel Rekrutierungsversuche | Wie 2021 kam auch im Berichtsjahr kleineren regionalen Veranstaltungen und Treffen eine wichtige Rolle zu, da sie der Vernetzung und Harmonisierung der regionalen Szene dienten. Auch der virtuelle Raum war unverändert ein wichtiger Agitations-, Aktionsund Vernetzungsraum für Neonazis und neonazistische Personenzusammenschlüsse in Hessen. Das Internet und soziale Medien dienten als Plattformen zur leichteren und subtilen Kontaktaufnahme zu Personen, die bisher keinen Bezug zum Rechtsextremismus hatten, und zwecks Vernetzung mit anderen Rechtsextremisten und rechtsextremistischen Organisationen. Im Berichtsjahr gab es verschiedene Messengergruppen, die offenbar der Rekrutierung neuer Aktivisten dienten, so etwa der TelegramKanal Kameraden Nordhessen, der unter dem Motto "Für alle Nationalisten die unsere deutsche Kultur, Geschichte uns [sic] Natur lieben!" aktiv war. Combat 18 Deutschland (C 18 Deutschland) | Ursprünglich 1992 in England gegründet, setzt sich die Bezeichnung der Gruppierung aus dem Wort combat (dt. Kampf) sowie aus der Zahlenkombination 18, die für den ersten und achten Buchstaben des Alphabets steht, zusammen. Der Name Combat 18 kann demnach mit Kampf(truppe) Adolf Hitler übersetzt werden. Angehörige von C 18 Deutschland waren in mehreren Ländern - darunter Hessen - wohnhaft. Wie in der Vergangenheit beobachteten die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder C 18 Deutschland mit besonderer Aufmerksamkeit - auch vor dem Hintergrund der gewalttätigen Historie der englischen Gruppe in ihrer Anfangszeit. Vergleichbares war in Deutschland bislang nicht festzustellen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 101 RECHTSEXTREMISMUS Am 23. Januar 2020 verbot der Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat C 18 Deutschland. Die intensive Beobachtung der grundsätzlich gewaltbereiten und waffenaffinen rechtsextremistischen Organisation wurde fortgesetzt, um mögliche Radikalisierungstendenzen frühzeitig zu erkennen, die Strafverfolgungsbehörden rechtzeitig einzubinden und mögliche Fortführungsbestrebungen feststellen zu können. Am 6. April 2022 kam es im Zusammenhang mit C 18 Deutschland bundesweit zu polizeilichen Durchsuchungsmaßnahmen gegen 21 Rechtsextremisten. Grund war ein Ermittlungsverfahren des GBA, dem der Verdacht der Fortführung einer verbotenen Organisation zugrunde lag. Den betroffenen Personen wurde vorgeworfen, trotz des bestandskräftigen Verbots den organisatorischen Zusammenhalt von C 18 Deutschland aufrechterhalten zu haben und Rädelsführer, Mitglied oder Unterstützer der verbotenen Vereinigung zu sein. Des Weiteren warf der GBA mehreren Personen vor, trotz des Verbots neue Mitglieder geworben zu haben. Der dem Ermittlungsverfahren zugrundeliegende Verdacht stützte sich gemäß dem GBA unter anderem darauf, dass nach dem Vereinsverbot bis zum Zeitpunkt der Durchsuchungsmaßnahmen mehrere Zusammenkünfte der Beschuldigten festgestellt worden waren, die als eine Art "Pflichttreffen" von C 18 Deutschland anzusehen sind. Anlässlich solcher Treffen absolvierten die Teilnehmer unter anderem "Leistungsmärsche" und führten Aufnahmeverfahren von "Supportern" durch, die neben einer praktischen Aufnahmeprüfung auch eine Art theoretische Prüfung mit Fragen zum Nationalsozialismus vorsahen. In Hessen waren von den Durchsuchungsmaßnahmen drei Beschuldigte betroffen. Scheiteljugend Kassel | Die neonazistische Gruppierung Scheiteljugend Kassel betrieb mindestens seit Mitte 2021 mehrere Accounts in den sozialen Medien und warb auf diese Weise um neue Mitglieder vor allem aus dem Bereich Nordhessen. Offenbar um ihre Anschlussfähigkeit zu erhöhen, trat die Gruppierung zunächst "gemäßigt" auf und verwendete in ihren Veröffentlichungen keine ausschließlich dem Rechtsextremismus zuzuordnende Signalwörter mit Bezug zu den Themenbereichen "Patriotismus", "Naturverbundenheit" und "Brauchtumspflege". Die Bombardierung Kassels am 22. Oktober 1943 bewertete die Scheiteljugend Kassel in den sozialen Medien allerdings in typisch rechtsextremistisch-revisionistischer Manier: "Die Pläne der Rothen Pest aus Ost und West scheinen vorerst aufgegangen zu sein. Unsere Jahrgänge werden jedoch nicht ruhen. Wir 102 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS vergeben nicht und wir vergessen nicht... ... bis niemand mehr stört Deutschlands Glück". (Schreibweise wie im Original.) Darüber hinaus war die Scheiteljugend Kassel auch in der "realen Welt" aktiv. Dies zeigen in den sozialen Medien veröffentlichte Fotodokumentationen von Aktionen, so etwa ein in Nordhessen durchgeführtes "Heldengedenken". Die auf den Fotos und in den Videos abgebildeten Personen waren stets einheitlich mit weißen Sturmhauben, weißen Oberteilen und dunklen Hosen gekleidet. Dabei ist es möglich, dass die durch die Scheiteljugend Kassel veröffentlichten Darstellungen und das damit verbundene Auftreten teilweise als martialisch wahrgenommen werden können. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Als Sammelbecken für ehemalige Nationalsozialisten gründete sich 1949 die Sozialistische Reichspartei (SRP), die 1951 etwa 10.300 Mitglieder hatte und bei den Landtagswahlen in Niedersachsen und bei Bürgerschaftswahlen in Bremen Erfolge erzielte und in die Parlamente einzog. Nachdem das Bundesverfassungsgericht im darauffolgenden Jahr die SRP auf Antrag der Bundesregierung verbot und es in den 1950er Jahren vor allem auf Länderebene zu zahlreichen Vereinsverboten kam, erzielte erst die 1964 gegründete NPD wieder Wahlerfolge, bis sie mit ihrem Scheitern bei der Bundestagswahl 1969 in eine länger andauernde Krise geriet. AUF EINEN BLICK * Entstehung einer neuen rechtsextremistischen Szene * Personenund Gewaltpotenzial * Erstarken der Szene - Vereinsverbote - Kameradschaften * Parteigründungen - weitere Vereinsverbote Entstehung einer neuen rechtsextremistischen Szene | Seit den 1970er Jahren traten in der rechtsextremistischen Szene - im Unterschied zu Parteien wie der NPD und der Deutschen Volksunion (DVU) - vor allem aktionsorientierte Personen auf, von denen die meisten den Nationalsozialismus nicht miterlebt hatten, sich aber dennoch mit der entsprechenden Ideologie (insbesondere der nationalsozialistischen "Kampfzeit" vor 1933) identifizierten und daher allgemein Neonazis genannt wurden. Ausnahmen hiervon waren führende Protagonisten der neuen Szene wie Thies Christophersen, ehemals Mitglied der Schutzstaffel (SS), und der in einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt erzogene Manfred Roeder, die beide den Nationalsozialismus noch aus eigener Anschauung kannten. Roeder, unter anderem wegen Terrorismus und mehrfacher Volksverhetzung zu langjährigen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 103 RECHTSEXTREMISMUS Haftstrafen verurteilt, trat mit dem Anspruch auf, als "Reichsverweser" für die nicht mehr existente nationalsozialistische Regierung zu fungieren. Er scharte eine größere Anhängerschaft um sich, bewohnte in Nordhessen ein als "Reichshof" bezeichnetes Anwesen und versandte regelmäßig Rundbriefe an seine Anhänger. Personenund Gewaltpotenzial | Das Personenpotenzial der Neonaziszene betrug in den 1980er Jahren bundesweit zwischen 1.000 bis 2.000 Personen und verdreifachte sich bis 2016 auf nahezu 6.000. In den 1970er und 1980er Jahren kristallisierten sich einzelne Gruppierungen und Personen als führend in der Szene heraus, zum Beispiel Gruppierungen im Umfeld von Michael Kühnen, die Freiheitliche Arbeiterpartei Deutschlands (FAP) um Friedhelm Busse, die Nationalistische Front (NF) und die Wehrsportgruppe Hoffmann. Vor allem interne Konflikte, Neugründungen nach dem Zerfall von Gruppierungen und seit Anfang der 1980er Jahre verstärkt einsetzende Vereinsverbote von Bund und Ländern führten dazu, dass die Neonaziszene keine dauerhaften und szeneübergreifenden Strukturen entwickelte. Allerdings gelang es der Neonaziszene bis in die Gegenwart, junge, aktionsorientierte und teils auch gewaltaffine Männer anzusprechen und zum Beispiel für nicht angemeldete "Gedenkmärsche" am Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß zu interessieren. Durch die Indoktrination mit (neo)nationalsozialistischer Ideologie steigerte sich das Gewaltpotenzial der Szene; fast alle späteren rechtsextremistischen Gewalttäter wiesen einen Vorlauf in der Neonaziszene auf, wobei die Tathandlungen selbst individuell motiviert und von außen schwer vorhersagbar waren. Erstarken der Szene - Vereinsverbote - Kameradschaften | Seit 1991 stieg die Zahl der fremdenfeindlichen Ausschreitungen an, die Zahl der Neonazis erreichte Mitte der 1990er Jahre mit bundesweit 2.740 Personen den bis dahin höchsten Stand, wobei mehr als die Hälfte der Neonazis in den ostdeutschen Ländern ansässig war. Dem Erstarken der Neonaziszene begegnete der Staat seit 1992 unter anderem mit etlichen Vereinsverboten, worauf die Szene zunächst überrascht und planlos reagierte. Maßgeblich von den Neonazis Christian Worch und Thomas Wulff beeinflusst und in Bezug auf Aktion und Organisation angelehnt an das "Vorbild" linksextremistischer Autonomer, entstanden seit 1995 vermehrt Kameradschaften, um Vereinsverbote zu erschweren: Kleine, selbstständige und regional verankerte Gruppierungen mit losen Verbindungen zu anderen Neonazis, wobei man sich bemühte, die Kameradschaften in einem übergreifenden Netzwerk über Aktionsbüros zu koordinieren. So bildete etwa der Thüringer Heimatschutz (THS) ein Sammelbecken für Neonazis, zu dem auch die drei späteren Rechtsterroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gehörten, der bis 2011 neun 104 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin ermordete sowie weitere Strafund Gewalttaten beging. Zunehmend lösten sich seit 2000 die Grenzen zwischen Neonazis, rechtsextremistischen Parteien - vor allem der NPD - und rechtsextremistischen Skinheads zugunsten eines Milieus auf, das von Aktionen, Gewaltorientierung und an bestimmten Orten von einer mitunter bedrohlichen Alltagspräsenz geprägt war. Nach dem Verbot der deutschen Division von Blood and Honour (2000), einer ursprünglich in Großbritannien tätigen Skinheadvereinigung mit neonazistischer Ausrichtung, kam seit 2002 mit den Autonomen Nationalisten (AN) in Ballungsräumen und Großstädten eine neue Gruppierung auf. Sie imitierte den Aktionsstil und das Gehabe (Kleidung) der linksextremistischen Autonomen, gab dem aber inhaltlich ein neonazistisches Gepräge, kombiniert mit "Anti-Antifa"Arbeit. So bildeten die AN bei Demonstrationen einen schwarzen Block und propagierten "antikapitalistische" Inhalte. Insgesamt durchlief die Neonaziszene eine "Modernisierung" und versuchte sich den Charakter einer "sozialen Bewegung" zu geben. Gleichzeitig erhöhte sich das von den Kameradschaften ausgehende Gefahrenpotenzial, da deren hohe Aktionsorientierung, die latente bis offene Gewaltaffinität und die stetige Indoktrinierung der Mitglieder eine Basis für eine tatsächliche Eskalation schufen. Parteigründungen - weitere Vereinsverbote | Auf das Verbot der Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V. (HNG) im Jahr 2011, des letzten bedeutsamen, fest organisierten neonazistischen Vereins, und die seit 2012 - auch in Hessen (Sturm 18, 2015 verboten) - verstärkt gegen Kameradschaften gerichteten Verbotsmaßnahmen reagierten Neonazis unter anderem mit zwei Parteigründungen: 2012 rief Christian Worch die Partei DIE RECHTE ins Leben, ein Jahr darauf gründete sich Der Dritte Weg. Über das grundgesetzlich verbürgte Parteienprivileg versuchten Neonazis auf diese Weise, staatliche Verbotsmaßnahmen zu umgehen bzw. verhindern. Auch wenn beide Parteien nicht verboten sind, sind sie bei Wahlen bislang unbedeutend. Kameradschaften und andere neonazistische Organisationen unterlagen hingegen weiterhin staatlichen Verboten. In den letzten Jahren gelang es Neonazis immer wieder, zu aktuellen Themen wie "Flüchtlinge" und "Corona-Proteste" zu mobilisieren und Anknüpfungspunkte für potenziell neue Szeneangehörige zu finden. So gaben zum Beispiel 2020 führende Protagonisten der Neonaziszene im Rahmen der Kampfsportveranstaltung "Kampf der Nibelungen" (KdN) Interviews, die unter anderem auf einem wöchentlichen KdN-Livestream auf Facebook zu verfolgen waren. Damit versuchten Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 105 RECHTSEXTREMISMUS Neonazis offensichtlich, insbesondere aktionsorientierte junge Männer für die Szene zu interessieren. IDEOLOGIE/ZIELE Neonazis orientieren sich, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, an der Ideologie des Nationalsozialismus (unter anderem an Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Nationalismus, Antipluralismus) und idealisieren Adolf Hitler, den "Führer" des nationalsozialistischen Unrechtsund Terrorregimes. AUF EINEN BLICK * "Volksgemeinschaft" - Revisionismus * Uneinheitlichkeit der Neonaziszene * Zahlencodes * Kampf gegen das "System" "Volksgemeinschaft" - Revisionismus | Das Ziel von Neonazis ist die Schaffung eines ethnisch homogenen, diktatorischen Staats. Die Rechte des Einzelnen, Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt - insgesamt Pluralismus - haben in der von Neonazis angestrebten deutschen "Volksgemeinschaft" keinen Platz. Die "Volksgemeinschaft" schließt Menschen anderer Kulturen und auch solche "Deutsche" aus, die Neonazis aufgrund von Behinderungen, sexueller Orientierung und sozialer Marginalisierung als "unwert" einstufen. Das Individuum soll sich dem angeblichen Gesamtwillen des Volks unterordnen. Historische Tatsachen deuten Neonazis in revisionistischer Manier um und leugnen dabei auch den Holocaust. Uneinheitlichkeit der Neonaziszene | Die neonazistische Szene ist in sich nicht homogen. Zum einen wird das "Dritte Reich" als Vorbild betrachtet und eine Wiederherstellung des Nationalsozialismus angestrebt, zum anderen wird die nationalsozialistische "Weltanschauung" neu interpretiert oder "antikapitalistisch" mit Bezügen zum Linksextremismus und entsprechenden Aktionsformen "modernisiert". Die überwiegende Zahl der Neonazis befürwortet jedoch die Kernelemente des Nationalsozialismus: "Führerprinzip", Antisemitismus und die Ideologie der "Volksgemeinschaft". Zahlencodes | Intern bekennen sich Neonazis zu ihrer Ideologie, indem sie zum Beispiel nationalsozialistische Grußformeln ("Sieg Heil", "Heil Hitler") verwenden und den "Hitler-Geburtstag" feiern. Nach außen bekennen sich Neonazis wegen der Strafbarkeit eher in verklausulierter Form zum Nationalsozialismus, etwa in der Form der Selbstbezeichnung von Gruppierungen. So stand etwa bei dem 2015 durch das Hessische Ministerium des Innern und für Sport ver106 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS botenen Verein Sturm 18 e. V. die Zahl 18 für den ersten und achten Buchstaben im Alphabet (AH), also für Adolf Hitler. Entsprechend steht 88 für "Heil Hitler". Kampf gegen das "System" | An die Stelle der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wollen Neonazis einen autoritären "Führerstaat" sowie eine ethnisch einheitliche "Volksgemeinschaft" setzen. Unsere freiheitliche Demokratie bezeichnen Neonazis als "System", das es abzuschaffen gelte. Bereits die Nationalsozialisten hatten die Weimarer Republik mit dieser Bezeichnung diffamiert. Der Aufruf zum Kampf gegen das "System" ist ein Grundpfeiler neonazistischer Propaganda. Zielgruppe sind vor allem junge Menschen, die früh an die neonazistische Szene herangeführt und an sie gebunden werden sollen. STRUKTUREN Die Neonaziszene befand sich auch im Berichtsjahr in einem fortlaufenden Wandel. Sowohl im Hinblick auf Gruppierungen als auch auf Szeneangehörige gab es eine stetige Fluktuation. In der Vergangenheit wurden Gruppierungen verboten, während andere ihre Aktivitäten einstellten. Die Szene war strukturell - wie bereits in der Vergangenheit - mehrheitlich durch lose miteinander verbundene Personen und einzelne regionale Gruppierungen geprägt. AUF EINEN BLICK * Verbot strukturierter neonazistischer Personenzusammenschlüsse * Jüngste Verbote Verbot strukturierter neonazistischer Personenzusammenschlüsse | Wie in der Vergangenheit bereits praktiziert, wirkt das LfV im Rahmen von gegen neonazistische Organisationen initiierten Verbotsverfahren aktiv mit, indem es der zuständigen Verbotsbehörde Erkenntnisse zur Verfügung stellt. Jüngste Verbote | Zu strukturierten und verbotenen Personenzusammenschlüssen zählten in der Vergangenheit unter anderem die am 21. September 2011 vom Bundesminister des Innern verbotene HNG sowie der am 27. Oktober 2015 verbotene Sturm 18 e. V. Gleichfalls verbot der Bundesminister des Innern am 16. März 2016 die neonazistische Weisse Wölfe Terrorcrew, da sie offen und aggressiv gegen Staat, Gesellschaft, Migranten und Andersdenkende agierte, sich durch ein erhebliches Maß an Gewaltbereitschaft auszeichnete und eine fremdenfeindliche und menschenverachtende Ideologie verbreitete. Am 23. Januar 2020 verbot der Bundesminister des Innern, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 107 RECHTSEXTREMISMUS für Bau und Heimat die Gruppierung C 18 Deutschland und ein knappes Jahr später am 1. Dezember 2020 die Organisation Sturmbrigade 44/Wolfsbrigade 44, die auch Personenbezüge nach Hessen aufwies. In Mecklenburg-Vorpommern verbot der Minister für Inneres und Europa am 24. Juni 2021 die Nationalen Sozialisten Rostock (NSR) einschließlich ihrer Teilorganisation Baltik Korps (BK). BEWERTUNG/AUSBLICK Es ist davon auszugehen, dass vor dem Hintergrund der abebbenden Corona-Pandemie und der allmählich auslaufenden Schutzmaßnahmen die Zahl der in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren neonazistischen Aktivitäten steigen wird. Zudem werden die Bemühungen der neonazistischen Szene zunehmen, sich bundesweit und sogar international zu vernetzen, um sich zum Beispiel bei der Organisation von Veranstaltungen und Demonstrationen gegenseitig zu unterstützen. Dadurch will die Szene nach außen hin ein hohes Mobilisierungspotenzial suggerieren. Die in den letzten Jahren beobachtbare Entwicklung, dass sich Rechtsextremisten zur Verbreitung ihrer menschenverachtenden Ideologie immer stärker auf das Internet und verschiedene soziale Medien fokussieren, wird anhalten und an Dynamik gewinnen. Die Zahl von einzelnen Personen, die sich ausschließlich über das Internet radikalisierte und keinen "klassischen" Radikalisierungsverlauf in Form einer "realweltlichen" Einbindung in die rechtsextremistische Szene aufwies, wird weiterhin zunehmen. Das Internet fungiert hierbei als Radikalisierungsbeschleuniger. Da rechtsextremistische Gruppierungen sich dieses Mediums bedienen, besteht die Gefahr, dass sich einzelne Personen nicht "nur" radikalisieren, sondern auch zu konkreten Gewalttaten motiviert werden. Subkulturell orientierte Rechtsextremisten - rechtsextremistische Musikund Kampfsportszene Aktivisten /Anhänger: In Hessen etwa 450 DEFINITION/KERNDATEN Musikgruppen und LiedermaWeitgehende Strukturund Organisationslosigkeit ist kenncher in Hessen: zeichnend für subkulturell orientierte Rechtsextremisten. Faust, Nordglanz (National SociaHinzu kommt eine in der Regel nur oberflächliche weltanschauliche list Black Metal), Reichstrunkenbold, Streitmacht, Sturmrebellen Prägung, verbunden mit rassistischem, antisemitischem und ausländerfeindlichem Gedankengut. Für diese oftmals in informellen lokalen oder regionalen Gruppen zusammengeschlossenen Rechts- / extremisten stehen erlebnisorientierte Aktivitäten in der Regel im 108 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Vordergrund. Dabei spielt der Besuch rechtsextremistischer Musikveranstaltungen eine herausgehobene Rolle. Im Unterschied zu Angehörigen der früheren rechtsextremistischen Skinheadszene sind subkulturell orientierte Rechtsextremisten heutzutage fast nicht mehr anhand eines einheitlichen Erscheinungsbilds erkennbar. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Soweit rechtlich möglich, unterbinden die Sicherheitsbehörden weiterhin rechtsextremistische Musikveranstaltungen in Hessen. Aufgrund dieser restriktiven Vorgehensweise fanden im Berichtsjahr trotz des schrittweisen Wegfalls pandemiebedingter Auflagen und Beschränkungen nur wenige rechtsextremistische Musikveranstaltungen statt. Liederabend aufgelöst | Rechtsextremistische Musik und entsprechende Veranstaltungen hatten ihre Bedeutung innerhalb des Rechtsextremismus jedoch nicht verloren. So löste die Polizei am 6. Dezember in dem rechtsextremistischen Szeneobjekt Teutonicus in Leun (Lahn-Dill-Kreis) einen Liederabend mit dem rechtsextremistischen Sänger Lunikoff auf. Die Polizei stellte die Personalien von rund 50 Personen aus Hessen und umliegenden Ländern fest, die zum Teil der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen waren. Im Vorfeld war für die Veranstaltung in Chatgruppen und sozialen Medien geworben worden. Darüber hinaus fanden im Berichtsjahr ein weiterer Liederabend sowie eine rechtsextremistische Veranstaltung mit einer entsprechenden Musikdarbietung in Hessen statt. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 109 RECHTSEXTREMISMUS FUNKTIONEN RECHTSEXTREMISTISCHER MUSIK Trotz der im Berichtsjahr niedrigen Anzahl rechtsextremistischer Musikveranstaltungen in Hessen spielte entsprechende Musik nach wie vor eine wichtige Rolle für die rechtsextremistische Szene und war zugleich ein bedeutendes, jugendorientiertes Medium, um entsprechende Botschaften zu transportieren. Für die Sicherheitsbehörden ist deshalb die intensive Beobachtung der rechtsextremistischen Musikszene notwendig. AUF EINEN BLICK * Musik als Ausdruck subkultureller Zusammengehörigkeit * Diffuse rechtsextremistische Einstellungen * Musikveranstaltungen - Musik im Internet und in sozialen Medien Musik als Ausdruck subkultureller Zusammengehörigkeit | Musik ermöglicht es als emotionaler "Türöffner", ideologische Vorstellungen einem breiten Personenkreis - überwiegend Jugendlichen und jungen Erwachsenen - zugänglich zu machen. Dabei ist die rechtsextremistische Musik nicht auf eine bestimmte Stilrichtung begrenzt. Vielmehr umfasst das Spektrum neben dem traditionellen Rechtsrock und Rock Against Communism (RAC) zum Beispiel auch National Socialist Black Metal (NSBM) , Balladenmusik von Liedermachern sowie Rap. Auf diese Weise können unterschiedliche Musikvorlieben bedient und folglich ein möglichst breites Publikum erreicht werden. Alle diese Musikrichtungen eint dabei, dass nicht zwingend stets die rechtsextremistischen Inhalte im Vordergrund des Musikerlebnisses stehen, sondern die für die Hörer einprägsamen Melodien und einfache Rhythmen. Musik stellt eine besonders niedrige Hürde für den Einstieg in den Rechtsextremismus dar. Sie ist nahezu jederzeit und überall konsumierbar, dient der Selbstdarstellung sowie der szeneinternen Kommunikation über "Werte" und Feindbilder und ist Ausdruck eines subkulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls. Dabei wirkt der Konsum von rechtsextremistischer Musik oft als Katalysator von Gefühlen und Aggressionen. Besonders in Verbindung mit Alkohol kann dies zu Gewaltausbrüchen führen. Diffuse rechtsextremistische Einstellungen | Subkulturell orientierte Rechtsextremisten sind gekennzeichnet durch eher diffuse rechtsextremistische Einstellungen, die sich an das Gedankengut von Neonazis anlehnen. Eine vertiefte "weltanschauliche" und politische Auseinandersetzung findet dabei nicht statt. Im Vordergrund steht eine erlebnisund aktionsorientierte Lebensgestaltung vor allem in Form des Konsumierens von Musik. 110 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Musikveranstaltungen - Musik im Internet und in sozialen Medien | Musikveranstaltungen spielen für subkulturell orientierte Rechtsextremisten eine wichtige Rolle. In der eher strukturlosen Szene sind Musikveranstaltungen identitätsstiftende Ereignisse und dienen der Kommunikation und Vernetzung. Zudem üben die in der Regel konspirativ organisierten Veranstaltungen gerade auf junge Rechtsextremisten eine große Faszination aus. Liederabende haben für subkulturell orientierte Rechtsextremisten, Neonazis und rechtsextremistische Parteien eine große Bedeutung. Auftritte überwiegend einzelner rechtsextremistischer Interpreten dienen als Treffpunkt und Plattform, wobei politische Botschaften über die Liedtexte mit Zwischenmoderationen verknüpft und zur Anwerbung potenzieller Interessenten genutzt werden. Eines der bedeutsamsten Medien zur Verbreitung rechtsextremistischer Musik ist das Internet mit seinen nahezu unbegrenzten Möglichkeiten und Reichweiten. So finden sich unter anderem auf verschiedenen Musikund Videoplattformen bzw. sozialen Medien - wie zum Beispiel YouTube oder Telegram - Videos rechtsextremistischer Bands. Auch rechtsextremistische Musikgruppen wie Faust, Sturmrebellen, Nordglanz sowie der Liedermacher Reichstrunkenbold aus Hessen verbreiteten Musikvideos auf YouTube und warben für neue Veröffentlichungen auf Telegram und einschlägigen rechtsextremistischen Internetseiten. RECHTSEXTREMISTISCHE KAMPFSPORTSZENE Während in den 1990er Jahren vor allem Rockkonzerte und das gewaltorientierte Spektrum der Fußballfans die rechtsextremistische "Erlebniswelt" kennzeichneten, nimmt mittlerweile der Kampfsport eine zentrale Rolle in dieser nur vordergründig als erlebnisorientiert zu bezeichnenden Szene ein. In den letzten Jahren kam es zu einer rasch zunehmenden Professionalisierung und Kommerzialisierung der rechtsextremistischen Kampfsportszene. Darüber hinaus sind Anstrengungen der Szene erkennbar, die inzwischen erreichte Bedeutung und Reichweite innerhalb der rechtsextremistischen Szene trotz zwischenzeitiger pandemiebedingter Einschränkungen zu bewahren. AUF EINEN BLICK * Ideologische Elemente "Volksgesundheit" und "NSStraight-Edge" * Beliebte Kampfarten * Vernetzung und kommerzielle Interessen * Staatliche Maßnahmen: Verbote und Durchsuchungsmaßnahmen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 111 RECHTSEXTREMISMUS Ideologische Elemente "Volksgesundheit" und "NS-Straight-Edge" | Der Kampfsport dient innerhalb der rechtsextremistischen Szene als verbindendes Element zwischen verschiedenen Strömungen. Hier treffen unter anderem Akteure der neonazistischen Szene auf solche des parteigebundenen Rechtsextremismus, wobei die jeweilige individuelle Ideologie teilweise in den Hintergrund gerät. Dafür rücken andere ideologische Elemente des Rechtsextremismus in den Fokus, die im Kontext des Kampfsports eine besondere Relevanz entfalten. Theoretische Ansätze werden hier zur gelebten Praxis. Propagiert wird die sogenannte mystische Pflicht, die "Volksgesundheit" und die "Wehrhaftigkeit" hochzuhalten und einen "neuen Menschenschlag" zu schaffen, der stark an das im Nationalsozialismus propagierte Ideal des "Herrenmenschen" angelehnt ist. Eine wesentliche ideologische Komponente der "mystischen Pflicht" ist der "Straight-Edge"-Gedanke, der aus der Punkszene der 1980er Jahre stammt. Er sollte eine Gegenbewegung zu den ausufernden Alkoholund Drogenexzessen der Jugendkultur etablieren, wobei es im Kern um den Verzicht auf Alkohol und Drogen, gesunde Ernährung bis hin zum Veganismus und sexuelle Enthaltsamkeit ging. In der rechtsextremistischen Szene erlebt diese Strömung eine gewaltbetonte und rassistische Renaissance als "NS-Straight-Edge". Ein wiederkehrendes Motto in der rechtsextremistischen Szene ist in der Konsequenz der "Kampf gegen die Moderne", die als Sinnbild von Dekadenz und Verweichlichung strikt abgelehnt wird. Den angeblichen Verfall der Gesellschaft setzt die rechtsextremistische Szene mit der angeblichen Erosion der "Volksgesundheit" gleich. So biete ein "gesunder, sportlicher Aktivist Interessenten bereits ein Abbild der [rechtsextremistischen] Bewegung". Dementsprechend rief Der Dritte Weg auch schon in der Vergangenheit dazu auf, sich körperlich fit zu halten und besonders Kampfsport zu betreiben. Dies solle nicht in konventionellen Sportstudios geschehen, sondern in den parteieigenen "Körper & Geist Gruppen" und Selbstverteidigungskursen. Dabei propagierte Der Dritte Weg (Kampf-)Sport als "Mittel zur Gemeinschaftsbildung" und als eine Betätigungsform, in welcher der "deutsche und westeuropäische Mann sich seiner Männlichkeit noch bewusst sein" dürfe. So dient Kampfsporttraining Rechtsextremisten nicht "nur" der körperlichen Ertüchtigung; neben der Rekrutierung und Vernetzung wird Kampfsport von Mitgliedern der rechtsextremistischen Szene auch betrieben, um sich gezielt (als Gruppe) für den "Straßenkampf" bzw. für gewalttätige Übergriffe auf Polizeibeamte oder den vermeintlichen "politischen Gegner" vorzubereiten. 112 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Beliebte Kampfarten | Bei rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltungen erfreuten sich vor allem Boxen, Kickboxen und MixedMartial-Arts (MMA) großer Beliebtheit. Insbesondere MMA vereint Standund Bodenkampf sowie verschiedene Schlag-, Trittund Hebeltechniken zu einem schnellen und brutalen Konzept, das den "Anforderungen" des waffenlosen Straßenkampfs am ehesten entspricht. Die rechtsextremistische Szene praktiziert - ungeachtet der zunehmenden Betonung des Fitnesscharakters von Kampfsportveranstaltungen - die klassische Rohversion des Kampfsports mit Vollkontakt, was dem rechtsextremistischen kriegerischen Selbstbildnis und den allgemeinen Anforderungen an die "Wehrkraft des Volkskörpers" gerecht werden soll. Vernetzung und kommerzielle Interessen | Die rechtsextremistische Kampfsportszene ist eng mit Gruppen in anderen europäischen - vor allem osteuropäischen - Staaten vernetzt. Den gemeinsamen Nenner bildet die angebliche ethnische Zugehörigkeit zur "weißen Rasse", die es zu verteidigen gelte. Darüber hinaus wird die angeblich gemeinsame "abendländische" Kulturzugehörigkeit betont. Forum und Fixpunkt der rechtsextremistischen Kampfsportszene sind Wettkampfveranstaltungen, die einer stetigen Professionalisierung und Kommerzialisierung unterliegen, woraus steigende Zuschauerzahlen resultieren. Die Veranstaltungen, auf denen sich rechtsextremistische Kampfsportler aus dem Inund Ausland regelmäßig zusammenfinden, fungieren auch als Rekrutierungsund Vernetzungsplattformen und dienen der Finanzierung der rechtsextremistischen Szene. Haupteinnahmequelle ist neben dem Verkauf von Tickets ein breites Angebot an Merchandiseartikeln szenetypischer (Mode-)Labels. Staatliche Maßnahmen: Verbote und Durchsuchungsmaßnahmen | Sofern rechtlich möglich, unterbinden die Behörden rechtsextremistische Kampfsportveranstaltungen. In Hessen fand im Berichtsjahr kein entsprechendes Treffen statt. Im August wies das Verwaltungsgericht (VG) Dresden eine Klage der Organisatoren der rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltung KdN ab. 2019 hatte die Stadt Ostritz (Sachsen) eine Veranstaltung des KdN verboten, wogegen die Organisatoren geklagt hatten. Das VG Dresden stellte am 7. September 2022 fest, dass die Veranstaltung eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bildete und darauf abzielte, den Besuchern Kompetenzen für eine gewaltsame Überwindung des politischen Systems zu vermitteln. Auf der Grundlage von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof führte die Polizei am 6. April in elf Ländern bei Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 113 RECHTSEXTREMISMUS insgesamt 50 Personen Durchsuchungen durch und nahm vier Personen - darunter ein Rechtsextremist aus Hessen - fest. Die Festgenommenen waren dringend verdächtig, als Anführer bzw. Führungspersonen der rechtsextremistischen Kampfsportgruppe Knockout 51 Körperverletzungsdelikte begangen sowie andere Personen unter dem Deckmantel des gemeinsamen Kampfsporttrainings ideologisch indoktriniert und für den Straßenkampf vorbereitet zu haben. Zu diesem Zweck hatten sich die Beschuldigten auch in Hessen gezielt an Protestveranstaltungen gegen die "Corona-Maßnahmen" beteiligt, wobei es zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei und Gegendemonstranten gekommen war. BEWERTUNG/AUSBLICK Trotz der im Berichtsjahr wenigen rechtsextremistischen Musikveranstaltungen blieben rechtsextremistische Musikbands und Liedermacher aus Hessen aktiv und müssen weiterhin beobachtet werden. Die Gefahr, die von rechtsextremistischer Musik ausgeht, besteht nach wie vor. Da aus dem Besuch von Konzerten und dem damit vielfach verbundenen Einstieg in den Rechtsextremismus für Jugendliche vielerlei Gefahren resultieren, bildet die Szene der subkulturell orientierten Rechtsextremisten ein wichtiges Beobachtungsfeld für den Verfassungsschutz in Hessen. Mit jedem verhinderten Konzert verliert die rechtsextremistische Szene eine zentrale Anlaufstelle und ein wichtiges Bindeglied zu Jugendlichen, die noch außerhalb des Rechtsextremismus stehen. Durch die in der Vergangenheit professionell ausgerichteten Veranstaltungen und die geschickte Selbstinszenierung in den sozialen Medien hat sich der Kampfsport in der erlebnisorientierten rechtsextremistischen Szene neben der Musikkultur zu einem weiteren Faktor entwickelt. Durch die Verknüpfung von Gewaltästhetik und Körperkult mit dem "Straight-Edge"-Gedanken und Symbolen eines "modernisierten" Rechtsextremismus wird der durch den Nationalsozialismus glorifizierten Kriegerideologie eine neue Bedeutung gegeben. Aufgrund des bisherigen großen Erfolgs in der rechtsextremistischen Szene ist trotz intensivierter behördlicher Maßnahmen künftig mit weiteren Kampfsport-"Events" zu rechnen. Möglicherweise wird die rechtsextremistische Kampfsportszene versuchen, künftige Kampfsportturniere und sonstige (Vernetzungs-)Veranstaltungen in das europäische Ausland zu verlagern, um sich erneuten behördlichen Maßnahmen zu entziehen. 114 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS PARTEIGEBUNDENE STRUKTUREN BZW. PARTEIEN Junge Alternative (JA) DEFINITION/KERNDATEN Die JA Hessen inszeniert sich als "patriotische" JugendorgaBundesvorsitzender: nisation, die angeblich auf dem Boden der freiheitlichen deCarlo Clemens (bis 15. Oktober mokratischen Grundordnung steht und Teil der Mitte der Gesell2022), Hannes Gnauk (seit 15. schaft ist. Tatsächlich handelt es sich bei der JA Hessen um eine Oktober 2022) Gruppierung, bei der deutliche Verbindungen zu der Neuen Rechten bestehen und die sich selbst als Teil dieses Geflechts verLandesvorsitzender: Michael Werl (bis 29. Oktober ortet. Durch das wechselseitige Zusammenwirken von verschiede2022), Manuel Wurm (seit 29. nen Gruppierungen versucht die Neue Rechte den öffentlichen DisOktober 2022) kurs im Sinne ihrer rechtsextremistischen Ideologie zu beeinflussen, um so letztlich die kulturelle Hegemonie zu erlangen. Mitglieder: In Hessen etwa 50, bundesweit rund 2.000 EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Mitglieder der JA Hessen nahmen im Berichtszeitraum unter ande- \ rem an Protestkundgebungen gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" in Frankfurt am Main, Wiesbaden und Friedberg (Wetteraukreis) teil und protestierten im Rahmen einer von der JA organisierten Aktion gegen die Errichtung eines Windparks im Reinhardswald (Landkreis Kassel). Auf dem Bundeskongress der JA am 15. Oktober in Apolda (Thüringen) wurde das damalige Mitglied des Landesvorstands der JA Hessen, Manuel Wurm, zum stellvertretenden Bundesschatzmeister gewählt. An dem Bundeskongress nahmen mehrere erwiesen rechtsextremistische sowie im BerichtsHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 115 RECHTSEXTREMISMUS jahr vom BfV als Verdachtsfälle im Phänomenbereich Rechtsextremismus geführte Gruppierungen mit Informationsständen teil. Wurm wurde am 29. Oktober auf dem Landeskongress der JA Hessen in Bad Homburg vor der Höhe (Hochtaunuskreis) zum Landesvorsitzenden gewählt. AUF EINEN BLICK * Teilnahme an "Corona-Protesten" * Stellungnahme zum russischen Überfall auf die Ukraine * Protestaktion im Reinhardswald * "Frühjahrsakademie" - wechselseitige "Solidarität" * "Gegen dieses System" * JA-Bundeskongress - Landeskongress der JA Hessen Teilnahme an "Corona-Protesten" | Mitglieder der JA Hessen, darunter Mitglieder des Landesvorstands, nahmen am 8. und 22. Januar sowie am 12. Februar an Protestkundgebungen gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" in Frankfurt am Main teil. Mutmaßlich in Zusammenhang mit der Teilnahme an der Veranstaltung am 22. Januar wurde ein Sticker festgestellt, auf dem - neben Logo und Schriftzug der JA - der Slogan "Heimatschutz statt Mundschutz" aufgedruckt war. Diese Parole hatte bereits 2021 die IBH bei einer Banneraktion in Frankfurt am Main verwendet. Ein Mitglied der JA Hessen, das spätestens seit Mai dem Landesvorstand angehörte, fungierte auf einer Kundgebung unter dem Motto "Freiheit statt Impfzwang" am 5. Februar in Friedberg (Wetteraukreis) als Ordner. Auf einem zu der Veranstaltung veröffentlichten Video formte das JA-Mitglied mit seinen Fingern die Buchstaben W und P. Diese stellen ein Akronym für "white power" dar, ein Schlüsselbegriff der rechtsextremistischen Szene, der für die angebliche Vorherrschaft und Überlegenheit der "weißen Rasse" steht. Mehrere Mitglieder der JA Hessen waren zudem am 5. März mit einem Informationsstand auf der Kundgebung "Gesund ohne Zwang" in Wiesbaden vertreten. Stellungnahme zum russischen Überfall auf die Ukraine | Die JA Hessen teilte am 2. März einen Beitrag der JA mit der Überschrift "10 JA-Thesen zum Krieg in der Ukraine". Darin forderte die JA unter anderem, dass ukrainischen Flüchtlingen "Asyl auf Zeit" gewährt werden solle, Deutschland aufrüsten und die Wehrpflicht in Deutschland wiedereingeführt werden müsse. Der "Westen" trage Mitschuld an "Russlands unentschuldbarem Bruch des Völkerrechts", so die JA. Perspektivisch dürfe Russland auf der Weltbühne nicht isoliert werden, eine vermeintliche "Sippenhaft für russische Mitbürger und Freunde" sei abzulehnen. Ferner sei der ukrainische Kampf "nicht 116 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS links, woke oder gendergerecht", sondern heroisch. Es sei aus Sicht der JA verwunderlich, wie empfänglich "politmediale Eliten und Meinungsmacher der Bundesrepublik" plötzlich für "ausländischen Patriotismus, toxische Männlichkeit und Heroismus" seien, denn im Schützengraben gebe es keine "67 Geschlechter, keine Frauenquoten, keinen politisch-korrekten Wokism". Für all das werde in der Ukraine, so die JA, nicht gekämpft. Protestaktion im Reinhardswald | Am 26. März führten mehrere Mitglieder der JA, darunter Angehörige des Landesvorstands Hessen und des Bundesvorstands, eine Protestaktion gegen die Errichtung eines Windparks im Reinhardswald (Landkreis Kassel) durch, über die in den sozialen Medien der JA anschließend berichtet wurde. Die JA-Mitglieder zeigten unter anderem Schilder mit den Aufschriften "Märchenwald bleibt!", "Heimat schützen", "Für echten Naturschutz" und "Umweltschutz ist Heimatschutz". Später veröffentlichte die JA ein Video über die Aktion auf YouTube. In dem Video hieß es, dass Orte wie der Reinhardswald "sinnbildlich für den deutschen Mythos Wald" stünden. In einer zum Video veröffentlichten Beschreibung erklärte die JA, dass "echter" Umweltschutz mit "Tradition" einhergehe, da diese die Menschen an die "Erde unserer Väter und Mütter" binde. Zuvor hatte die JA Hessen auf ihrer Facebook-Seite am 24. Februar einen Beitrag veröffentlicht, in dem sie die Rettung des Reinhardswalds forderte und die Errichtung des Windparks als Teil einer "irregeleitete[n] Energiewende" kritisierte. Der Reinhardswald sei für die Menschen in Nordhessen und insbesondere in der Region Kassel "fester Bestandteil ihrer Heimat und prägend für ihr Heimatgefühl". "Frühjahrsakademie" - wechselseitige "Solidarität" | Mindestens drei Angehörige der JA Hessen, darunter ein Mitglied des Landesvorstands, nahmen an der "Frühjahrsakademie" teil, die das IfS (Verdachtsfall des BfV im Berichtsjahr) in Kooperation mit der GU vom 8. bis 10. April in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) veranstaltete. Am 1. Mai berichteten sowohl die JA Hessen als auch der damalige Landesvorsitzende Michael Werl auf ihren Facebook-Seiten, dass dessen Wohnsitz am 29. April mit Farbe beschmiert und die Fassade des Nachbargebäudes mit der Parole "Werl Nazischwein" besprüht worden sei. Die JA Hessen rief in einem auf Facebook veröffentlichten Beitrag vom 17. August dazu auf, den "Solifond" von Ein Prozent e. V. (Verdachtsfall des BfV im Berichtsjahr) zu unterstützen. Der Verein habe, so der Beitrag, Werl aufgrund der Farbschmierereien mit einem Betrag von 1.050,Euro unterstützt. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 117 RECHTSEXTREMISMUS "Gegen dieses System" | Mitglieder der JA nahmen als geschlossener Block am 8. Oktober an einer Kundgebung gegen die "Energiepolitik und die Ampel-Regierung" in Berlin teil. In einem Beitrag auf Instagram vom 14. Oktober berichtete die JA Hessen, dass JAAngehörige aus dem gesamten Bundesgebiet, darunter Mitglieder aus Hessen, auf der Kundgebung einen "anführenden Block" gebildet hätten. Die JA habe "merklich gegen die Missstände für die Bevölkerung" protestiert. Die JA zeigte auf der Kundgebung ein Banner mit der Aufschrift "Heißer Herbst statt kalte Zimmer! - Wir heizen euch ein". Ein Funktionär der JA Hessen, der an der Kundgebung teilnahm, hatte zuvor über ein von ihm genutztes Twitter-Profil erklärt, dass die Veranstaltung in erster Linie "für das eigene Volk" und "dann erst gegen dieses System" gerichtet sei. Nach der Veranstaltung berichtete der Funktionär unter Verwendung des Hashtags #UnserLandzuerst, dass hier etwas wirklich "Großes" zusammenwachse. JA-Bundeskongress - Landeskongress der JA Hessen | An dem Bundeskongress am 15. Oktober in Apolda (Thüringen) nahmen auch mehrere Mitglieder der JA Hessen teil. Die Delegierten wählten einen neuen zwölfköpfigen Bundesvorstand sowie mit 154 zu 169 Stimmen Hannes Gnauck zum Bundesvorsitzenden, obwohl ihn das BAMAD laut eines Presseberichts bereits 2020 als ",erkannten Extremisten'" eingestuft hatte. Mit Manuel Wurm als stellvertretendem Bundesschatzmeister wurde der damalige Landesschatzmeister der JA Hessen in den Bundesvorstand gewählt. Die JA Hessen gratulierte in einem auf Instagram veröffentlichten Beitrag vom 20. Oktober dem neuen Bundesvorstand. In Vorbereitung auf den Bundeskongress hatten JA-Mitglieder, darunter Michael Werl, am 6. August einen Bundeskonvent in Erfurt (Thüringen) durchgeführt. Die GU, der mit der IBD assoziierte Online-Shop Phalanx-Europa sowie die vom BfV im Berichtsjahr als rechtsextremistische Verdachtsfälle eingestuften Gruppierungen Ein Prozent e. V. und der Verlag Antaios betrieben auf dem Bundeskongress einen Stand. Auch das erwiesen rechtsextremistische COMPACT-Magazin war mit einem eigenen Stand vertreten. Über ihren Twitter-Account verkündete die JA am 15. Oktober, dass sie "Teil eines größeren Mosaiks" sei: "Wir sind stolz, dass viele Vertreter, von Verlegern über Medien bis zu Bürgerinitiativen auf unserem Kongress anwesend sind!" In einem Twitter-Beitrag hatte ein Funktionär der JA Hessen die "Mosaikrechte" am 4. Februar wie folgt charakterisiert: 118 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS "Die #Mosaikrechte beschreibt die bausteinartige Inbezugnahme & Kooperation eines gesamten Milieus, dessen einzelne Akteure in ihrem spezifischen Feld autonom, jedoch unter einem inhaltlich Einenden, eine gesamte pol. Sphäre bilden". (Schreibweise wie im Original.) Dass die JA viele Gruppierungen "aus dem politischen Vorfeld" zum Bundeskongress eingeladen hatte, erklärte ein Mitglied des Bundesvorstands damit, zeigen zu wollen, dass sie mehr als eine "Jugendorganisation" sei. Hingegen sei sie Teil einer "großen Bewegung". Überdies wolle die JA deutlich machen, dass sie "Hand in Hand" mit dem "Vorfeld" zusammenarbeite und "uns niemand mehr trennen" könne. Der stellvertretende Bundesvorsitzende sagte in einem Interview, dass die "politische Sozialisation" der JA-Mitglieder "teilweise durch das politische Vorfeld", das auf dem Bundeskongress "sehr präsent" gewesen sei, erfolge. Die JA Hessen bezeichnete den Bundeskongress in einem Beitrag auf Instagram vom 20. Oktober als "reibungsloses und fortschrittliches Wochenende". Das COMPACT-Magazin bezeichnete die Informationsstände als "Highlight der Veranstaltung". Ein Prozent e. V. (Verdachtsfall des BfV im Berichtsjahr) sah in dem Bundeskongress ein "starkes Zeichen der Einheit". Ein Funktionär der JA Hessen teilte auf Twitter mehrere Beiträge, in denen die Präsenz des "Vorfelds" - also die GU, Phalanx-Europa, das COMPACT-Magazin sowie die vom BfV im Berichtsjahr jeweils als Verdachtsfall eingestufte Gruppierung Ein Prozent e. V. und der Verlag Antaios - wohlwollend kommentiert wurden. In einem Beitrag hieß es: "Viele wichtige Akteure des Widerstandes haben es nun verstanden. Mit den neuen Möglichkeiten werden wir euch zeigen, was alles möglich ist!" In Bad Homburg vor der Höhe (Hochtaunuskreis) veranstaltete die JA Hessen am 29. Oktober unter der Leitung eines Mitglieds der JA Sachsen-Anhalt einen Landeskongress, wobei ein neuer vierköpfiger Landesvorstand unter dem Vorsitz von Manuel Wurm gewählt wurde. Von den vier gewählten Mitgliedern waren bereits drei Personen Teil des bisherigen Vorstands gewesen, wobei zwei im vorherigen Vorstand als kooptierte Beisitzer fungiert hatten. IDEOLOGIE/ZIELE Während die JA Hessen 2018 öffentlich einen nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu vereinbarenden ethnischhomogenen Volksbegriff verwendete und das von der IBD geprägte Verschwörungsnarrativ des "großen Austauschs" propagierte, versuchte sie sich seit ihrem "Rebranding" 2019 als "patriotisch" zu inszenieren und ein "bürgerliches" Image zu pflegen. Ziel war es, eine Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 119 RECHTSEXTREMISMUS Anschlussfähigkeit an die Gesellschaft zu erreichen und als "Mosaik" im Zusammenwirken mit weiteren Gruppierungen der Neuen Rechten rechtsextremistische Ideologie im gesellschaftlichen Diskurs zu verankern und letztlich die kulturelle Hegemonie zu erlangen. Dass es sich bei dem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung lediglich um eine Inszenierung handelte, verdeutlichen die personellen und ideologischen Überschneidungen zwischen Mitgliedern der JA Hessen und der IBD, die Teilnahme von Mitgliedern der JA Hessen an einer Veranstaltung des "Thinktanks" IfS (Verdachtsfall des BfV im Berichtsjahr) sowie des rechtsextremistischen "Bildungsprojekts" GU. Darüber hinaus wählten die Delegierten auf dem Bundeskongress der JA nicht nur eine vom BAMAD als Extremisten bezeichnete Persönlichkeit mit 91 Prozent der Stimmen zu ihrem Vorsitzenden, sondern bekannten sich auch zum "politischen Vorfeld" und damit zu als erwiesen rechtsextremistischen oder vom BfV im Berichtsjahr als Verdachtsfälle geführten Gruppierungen. AUF EINEN BLICK * Überschneidungen mit der IBD * Fremdenfeindliche Einstellung * JA als Teil der "Mosaikrechten" Überschneidungen mit der IBD | Auf ihrer Homepage distanzierte sich die JA Hessen in einer Grundsatzerklärung von "extremistischen Bestrebungen jedweder Weltanschauung". In einer wörtlich gleichlautenden, auf ihrem Facebook-Profil veröffentlichten Grundsatzerklärung vom Februar 2019 rückte die JA Hessen noch von der IBD ab. Trotzdem wurden im Berichtsjahr zwei aktive Mitglieder der JA Hessen festgestellt, darunter ein Funktionär, die 2019 und 2021 an Veranstaltungen der IBD teilgenommen hatten. Zu beiden wurden in der Vergangenheit Publikationen veröffentlicht, welche die Teilnahmen an IBD-Veranstaltungen dokumentierten. Zudem bezeichnete sich der JA-Funktionär auf dem von ihm genutzten Twitter-Profil als "identitärer Aktivist" und verbreitete wiederholt das von der IBD geprägte Verschwörungsnarrativ des "Bevölkerungsaustauschs" bzw. des "großen Austauschs". In einem Beitrag vom 4. Februar 2022 schrieb er: "Der Kampf gegen den #Bevölkerungsaustausch ist die heilige Aufgabe unserer Generation. Mit uns entscheidet sich die Zukunft ganz Europas". In einem Beitrag des JA-Funktionärs vom 29. Juni hieß es: "Der Bevölkerungsaustausch findet statt und wer nichts dagegen tut, macht sich mitschuldig". Am 1. November warnte er unter Verwendung der Hashtags #Bevölkerungsaustausch, #TheGreatReplacement und #Great Replacement, dass öffentliche Behörden nicht wollten, dass 120 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS die Bevölkerung wisse, wie weit der Bevölkerungsaustausch bereits fortgeschritten sei. Mit dem von der IBD geprägten Begriff "Der große Austausch" wird der angebliche "Prozess, durch den die heimisch angestammte Bevölkerung durch außereuropäische Einwanderer verdrängt und ausgetauscht" werde, bezeichnet. Diese angebliche schrittweise Verdrängung werde durch die "Selbstabschaffungsideologie von Multikulti, die einen Großteil des gesellschaftlichen Entscheidungsbereichs einnimmt", hervorgerufen, wodurch, so die IBD, "unsere Völker" zur "Minderheit in den eigenen Ländern" und letztlich "völlig verschwunden" sein würden". Fremdenfeindliche Einstellung | Der JA-Hessen-Funktionär knüpfte in einem Twitter-Beitrag vom 1. November 2022 nahtlos an die 2018 mit fremdenfeindlichen Ressentiments versehene Publikation "Auswertung des Statistisches Jahrbuch 2017, Frankfurt am Main - Harte Fakten - Unangenehme Fragen" der JA Hessen an. Darin attestierte die JA Hessen Teilen der Gesellschaft - in ihrem Sprachgebrauch als "herangezüchtete neue Mehrheitsbevölkerung" bezeichnet - eine "um sich greifende Eroberer-Mentalität". Außerdem lastete die JA Hessen diesen Teilen der Gesellschaft eine "gesundheitliche Gefährdung unserer Kinder" sowie eine Steigerung von Infektionskrankheiten an und befeuerte die Sorge vor einem "wirtschaftlichen Niedergang". Unter Verwendung des Hashtags #Diversität schrieb der Funktionär der JA Hessen ebenfalls am 1. November 2022: "#Diversität ist nicht unsere Stärke. Es reduziert Dein Einkommen, es unterminiert Deine Kultur, es erhöht die Kriminalität, es füllt die Krankenhäuser, es nimmt Wohnraum, es ruiniert Schulen, es macht Gesetze restriktiver, es nimmt dir Freiheit...Während sie dich Rassist nennen". (Schreibweise wie im Original.) JA als Teil der "Mosaikrechten" | Indem sie erwiesen rechtsextremistische und im Berichtsjahr durch das BfV als Verdachtsfall geführte Gruppierungen zu ihrem Bundeskongress in Thüringen eingeladen hatte, bekannte sich die JA zur Neuen Rechten und damit auch zu der von ihr propagierten rechtsextremistischen Ideologie. Mitglieder des JA-Bundesvorstands erklärten im Rahmen des Bundeskongresses, dass sie "Hand in Hand" mit dem "politischen Vorfeld" zusammenarbeiteten und dass niemand die JA und das "politische Vorfeld" trennen könne. Die "politische Sozialisation" der JA-Mitglieder geschehe teilweise durch das "politische Vorfeld". In einem Beitrag auf Twitter bezeichnete sich die JA als "Parteijugend des Widerstands" und als "Teil eines größeren Mosaiks". Dabei handelte es sich bei der Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 121 RECHTSEXTREMISMUS "Mosaikrechten" um eine arbeitsteilige Strategie. Sie sollte bewirken, dass durch das verzahnte, wechselseitige Zusammenwirken von parlamentarischen und außerparlamentarischen Akteuren und Gruppierungen rechtsextremistisches Gedankengut der Neuen Rechten in alle gesellschaftlichen Teilbereiche und Subkulturen getragen wird. Auf diese Weise sollten die Vorherrschaft im "metapolitischen" (vorpolitischen) Raum erlangt und letztlich eine Gesellschaft und ein Staat nach den ideologischen Vorstellungen der Neuen Rechten geschaffen werden. STRUKTUREN Die 2013 in Darmstadt im Rahmen eines ersten Bundeskongresses gegründete JA bestand aus 16 Landesverbänden. Die JA Hessen setzte sich aus mehreren Kreisund Ortsverbänden zusammen, wies jedoch keine flächendeckenden Strukturen auf. Dem Vorstand der JA Hessen gehörten im Berichtszeitraum zunächst sieben, spätestens ab Mai acht Personen und nach der Neuwahl Ende Oktober vier Personen an. Ein Mitglied des Landesvorstands der JA Hessen wurde im Berichtszeitraum auf dem Bundeskongress der JA als stellvertretender Bundesschatzmeister in den Bundesvorstand gewählt. BEWERTUNG/AUSBLICK Indem sich die JA Hessen an der von der JA durchgeführten Aktion "Rettet den Reinhardswald" beteiligte, versuchte sie, ein umweltpolitisches Thema zu vereinnahmen und ihr politisches Portfolio in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung zu erweitern. Die Parole "Umweltschutz = Heimschutz" ist zwar im Rechtsextremismus keine neue Forderung, allerdings bot die geplante Rodung im Reinhardswald eine Gelegenheit, das Thema "Umweltschutz" erneut im "rechten Lager" zu verorten. Die kulturelle Bedeutung des Reinhardwalds, in dem etliche Sagen, Märchen und Legenden spielen, war für die JA Hessen zudem ein Ansatzpunkt, um über die Emotionalisierung der Klimaund Umweltschutzdebatte eine Anschlussfähigkeit der eigenen Ideologie an die demokratische Mehrheitsgesellschaft herzustellen. Die auf einem Sticker der JA abgedruckte Parole "Heimatsschutz statt Mundschutz", die auch die IBH verwendete, verdeutlicht, dass die JA in das Geflecht der Neuen Rechten eingebunden war und es ideologische Überschneidungen gab. Ähnlich wie bei der Parole "Umweltschutz = Heimatschutz" galt es auch in diesem Kontext, die "Hei122 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS mat" vor fremden bzw. ungewollten Einflüssen zu schützen, was einem typischen rechtsextremistischen Ziel entspricht. Der rechtsextremistische Charakter der JA spiegelte sich auch in der mit großer Mehrheit erfolgten Wahl eines Rechtsextremisten zum Bundesvorsitzenden wider, wobei der Vorsitzende der JA Hessen ein Amt im Bundesvorstand wahrnahm. Die JA bezeichnete sich als "Teil eines größeren Mosaiks", und die JA Hessen reihte sich als Landesverband somit nahtlos in das innerhalb der Neuen Rechten propagierte Konzept der "Mosaikrechten" ein. Dass vor diesem Hintergrund die JA Hessen den Bundeskongress als "reibungsloses und fortschrittliches Wochenende" charakterisierte, verdeutlicht ihr festes Eingebundensein in rechtsextremistische Strukturen. Auf diese Weise versuchte die JA Hessen, ihren Anteil bei der weiteren Entgrenzung des Rechtsextremismus zu leisten und im Zusammenwirken mit anderen rechtsextremistischen Gruppierungen der Neuen Rechten rechtsextremistisches Gedankengut im öffentlichen Diskurs zu verankern. Demgegenüber steht eine formelle Distanzierung vom Extremismus der JA Hessen in ihrer Grundsatzerklärung, die jedoch als bloßes Lippenbekenntnis zu werten ist. Logo der NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) DEFINITION/KERNDATEN Die NPD vertritt nationalistische, völkische und revisionisLogo der JN tische Positionen. Insgesamt weist ihre Programmatik eine ideologische und sprachliche Nähe zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) im "Dritten Reich" auf. Den verLandesvorsitzender fassungsfeindlichen Charakter der NPD stellte das BundesverfasDaniel Lachmann (bis 15. Oktosungsgericht in seinem Urteil vom 17. Januar 2017 fest. Während ber 2022), Stefan Jagsch (seit 15. Oktober 2022) die NPD in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in bis zu sieben westdeutschen Landesparlamenten vertreten war, verlor die Partei Bundesvorsitzender: seitdem aufgrund ausbleibender Wahlerfolge zusehends an BedeuFrank Franz (Saarland) tung. Dieser Entwicklung versuchte der aktuelle Bundesvorstand Mitglieder: ein umfassendes Zukunftskonzept entgegenzusetzen, in dem unter In Hessen etwa 260, bundesweit anderem auch eine Umbenennung der Partei vorgesehen war. Dierund 3.000 ses richtungsweisende Reformvorhaben stieß jedoch weiterhin auf erheblichen innerparteilichen Widerstand, wie der Verlauf des im Jugendorganisation: Berichtsjahr stattgefundenen Bundesparteitags in Altenstadt (WetJunge Nationalisten (JN) teraukreis) deutlich machte: So verfehlte der Vorschlag des BundesMedien (Auswahl): vorstands in Bezug auf den Namenswechsel zu Die Heimat knapp Deutsche Stimme (DS), die nötige Zweidrittelmehrheit. Internetpräsenzen / Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 123 RECHTSEXTREMISMUS EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Die NPD in Hessen war wie in den Vorjahren nur eingeschränkt handlungsfähig. Lediglich einige Bezirksverbände waren aktiv und traten - wie etwa die Bezirksverbände Mittelhessen und WetterauKinzig - öffentlich in Erscheinung. Auch im Berichtsjahr kritisierte die NPD die staatlichen "Corona-Maßnahmen" und die mit dem entsprechenden Krisenmanagement betrauten Politiker. Darüber hinaus kritisierte sie im Laufe des Jahres vermehrt die steigenden Energiepreise und die hohe Inflation, wofür sie die im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine verhängten Sanktionen gegen den Aggressor verantwortlich machte. Die NPD versuchte auf diesem Weg Anschluss an die Protestbewegung zu finden, die sich in Erwartung eines "heißen Herbsts" formierte. Während sich Funktionäre und Mitglieder der Partei an zahlreichen Kundgebungen gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" und die Politik der Bundesregierung in Hessen beteiligten - im Wetteraukreis unter anderem in Ortenberg, Bad Nauheim, Friedberg und Büdingen, waren öffentliche Auftritte mit sichtbarem Bezug zur Partei nur vereinzelt festzustellen. Hatte sich die NPD 2021 während des Kommunalwahlkampfs mehrfach mit Informationsständen präsentiert, wurde im Berichtsjahr nur ein Informationsstand in Altenstadt (Wetteraukreis) bekannt. Die Sichtbarkeit der NPD im öffentlichen Raum erhöhte sich nach dem weitgehenden Wegfall der staatlichen "Corona-Maßnahmen" im Laufe des Berichtsjahrs kaum. AUF EINEN BLICK * Landesparteitag * Bundesparteitag - Neuausrichtung der Partei * Heimat Büdingen - Heimat Wetterau * Reaktionen: Corona-Pandemie, steigende Lebenshaltungskosten und russischer Überfall auf die Ukraine 124 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Landesparteitag | Im Rahmen des Landesparteitags der NPD Hessen am 15. Oktober wurde Stefan Jagsch zum neuen Vorsitzenden des Landesverbands gewählt. Der bisherige Parteivorsitzende Daniel Lachmann und der JN-Landesvorsitzende Thassilo Hantusch wurden zu stellvertretenden Landesvorsitzenden bestimmt. Daneben wurden vier Beisitzer, zwei Kassenprüfer und ein Landesschiedsgericht gewählt. Laut parteieigener Berichterstattung sah Jagsch die künftigen Schwerpunkte in der Werbung von Mitgliedern, der Durchführung von Veranstaltungen und der Unterstützung regierungskritischer Proteste. Unterstützt werden sollten dabei "Demonstrationen gegen die Deutschland-Abschaffer, die offensichtlich mit einer hirnlosen Energiepolitik unsere Heimat zerstören wollen". Im Anschluss an den Parteitag fand ein Vortrag des Bundesorganisationsleiters Patrick Wieschke zur Neuausrichtung der NPD statt, wofür er, so die Berichterstattung der Partei, "viel Zustimmung aus den Reihen des Publikums" erhielt. Als Vertreter des Bundesparteipräsidiums hatte Wieschke den Landesparteitag geleitet. Claus Cremer, Mitglied des Bundesvorstands und Landesvorsitzender der NPD Nordrhein-Westfalen, sprach ein Grußwort und forderte die Anwesenden zudem dazu auf, sich an Montagsdemonstrationen "gegen die volksfeindliche Politik der Etablierten Parteien" [sic] zu beteiligen. Bundesparteitag - Neuausrichtung der Partei | Der Bundesvorstand um den Bundesvorsitzenden Frank Franz verfolgte seit 2019 das Konzept einer Neuausrichtung der Partei hin zu einer Sammlungsbewegung des rechtsextremistischen Spektrums. Bestandteile dieses Vorhabens waren unter anderem die Verschlankung des Parteiapparats, die Fokussierung auf die kommunalpolitische Arbeit, eine Erhöhung der Anschlussfähigkeit als Dienstleister für andere "regierungskritische" Bewegungen und die Umbenennung der Partei in Die Heimat. Das Konzept wurde im Rahmen des am 14. und 15. Mai in Altenstadt (Wetteraukreis) durchgeführten Bundesparteitags vorgestellt. Im Vorfeld hatten Funktionäre das Treffen als "richtungsweisend" bezeichnet; Frank Franz hatte vom "vielleicht wichtigsten Parteitag, den die NPD je erlebt hat", gesprochen. Bei der Abstimmung verfehlte der Vorschlag des Bundesvorstands in Bezug auf den Namenswechsel knapp die nötige Zweidrittelmehrheit. Franz trat trotz dieser Niederlage wieder zur Wahl des Parteivorsitzenden an und wurde in seinem Amt bestätigt, genauso wie seine bisherigen Stellvertreter Udo Voigt und Thorsten Heise. Der langjährige NPD-Funktionär Sebastian Schmidtke wurde erstmalig zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt. Daniel Lachmann wurde Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 125 RECHTSEXTREMISMUS als Vertreter des Landesverbands Hessen als Verantwortlicher für Kommunalpolitik in den Bundesvorstand gewählt. Auch nach der gescheiterten Umbenennung hielt der Bundesvorstand an der Neuausrichtung der Partei hin zu einer "Anti-Parteienbewegung" fest. So gab der Parteivorsitzende Frank an, dass die NPD als Wahlpartei bei überregionalen Wahlen aktuell keine Chancen auf positive Ergebnisse habe. Als "noch immer stärkste nationale Organisation der Bundesrepublik" werde sich die NPD fortan "verstärkter denn je als Netzwerker, Dienstleister, punktueller Bündnispartner und regionaler Motor von Bürgerprotesten und regierungskritischen Initiativen verstehen". So erklärte Franz laut einer Pressemitteilung der NPD vom 16. Mai: "Die skizzierten Neuerungen um die Stichworte Anti-Parteienbewegung, Netzwerken, Regionalisierung uvm. müssen jetzt konkretisiert und praktisch umgesetzt werden. Da liegt viel Arbeit vor uns. Wir sind aber motiviert und ich freue mich auf diese Aufgabe". (Schreibweise wie im Original.) In Bezug auf die Aufgabenstellung "Netzwerke" führte das NPD-Presseorgan DS zwei "Netzwerktage" am 10. September in Eisenach (Thüringen) und am 10. Dezember in Brandenburg durch. Die Themen lauteten unter anderem "Das heterogene Netzwerk - Grenzen, Chancen, Möglichkeiten und Risiken" und "Braucht Widerstand Parteien und Organisationen?" Die Teilnehmer stammten aus einem breiten Spektrum rechtsextremistischer Gruppierungen und Organisationen, unter ihnen befanden sich auch Teilnehmer aus Hessen. Die DS bewertete die erste Auflage der Veranstaltung als Erfolg: "Es ist wohl schon lange nicht mehr gelungen, ein solch breites Spektrum - von bürgerlich-konservativ über ehemalige Linke bis hin zu ganz Rechtsaußen - an einen Tisch und ins Gespräch zu bringen, wie gestern in Eisenach". Vor diesem Hintergrund kündigte die DS an, das Konzept "Netzwerktage" jetzt "konsequent weiter[zu]verfolgen". Heimat Büdingen - Heimat Wetterau | Die NPD Hessen trug den Kurs der Parteiführung sowohl vor als auch nach dem Bundesparteitag mit und forderte, an dem Konzept der Neuausrichtung auch gegen innerparteiliche Widerstände festzuhalten. Die Bezeichnung Die Heimat fand in Hessen dementsprechend bereits seit längerer Zeit auf Ebene der Ortsund Regionalgruppen Verwendung. Im September wurden die Telegram-Kanäle Heimat Büdingen und Heimat Wetterau 126 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS sowie das einheitliche Design und Logo der Bezeichnung Die Heimat verwendet. Verweise auf die NPD waren damit - außer wenigen Ausnahmen - nicht verknüpft. In dem Kanal Heimat Wetterau wurden Beiträge geteilt, die Jagsch und Lachmann mit einem Banner und dem darauf abgedruckten HeimatLogo während einer Protestkundgebung gegen die Politik der Bundesregierung am 19. Oktober in Friedberg (Wetteraukreis) zeigten. Reaktionen: Corona-Pandemie, steigende Lebenshaltungskosten und russischer Überfall auf die Ukraine | Wie 2021 war die COVID-19-Pandemie ein wichtiges Thema für die NPD Hessen. Kontinuierlich beschäftigte sie sich mit der entsprechenden Berichterstattung und Diskussion in den Medien und der Gesellschaft. Dabei versuchte die NPD, diese - neben einer inhaltlich-sachlichen Auseinandersetzung - auch im Sinne ihrer parteipolitischen Ideologie zu instrumentalisieren. Insbesondere im Internet und in den sozialen Medien kritisierte die NPD die nach ihrer Auffassung durch die Pandemie entstandene Krise. Dabei standen die Asyl-, Grenzund Globalisierungspolitik sowie das Krisenmanagement der Bundesregierung im Mittelpunkt. So berichtete die NPD auf ihrer Facebook-Seite von einer Teilnahme an einer Protestkundgebung am 22. Januar in Offenbach am Main, auf der Mitglieder der NPD ein Transparent mit der Aufschrift "Volksgemeinschaft statt Spaltung" gezeigt hatten. Mit der Abschwächung der Pandemie im Verlauf des Berichtsjahrs und der damit einhergehenden Rücknahme der Beschränkungen verlagerte die NPD den Fokus ihrer Agitation verstärkt auf andere Themen wie zum Beispiel die steigenden Lebenshaltungskosten und den russischen Überfall auf die Ukraine. Ziel der Kritik war erneut die Bundesregierung. Für die gestiegenen Energiekosten machte die NPD sowohl den durch die Politik forcierten Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energien als auch die deutschen Sanktionen gegen Russland verantwortlich. Die Haltung gegenüber dem russischen Aggressor und der überfallenen Ukraine war in der NPD sowohl auf Bundesals auch Landesebene ambivalent. Einerseits bekräftigte die NPD das ukrainische Recht auf freie Selbstbestimmung und bezeichnete das russische Vorgehen als "völkerrechtlich zumindest fragwürdig", andererseits schob sie die Verantwortung für die Eskalation und die ökonomischen Folgen des Konflikts den USA zu und kritisierte die Unterstützung der Ukraine durch die NATO. Die NPD verwies dabei auf die "hochkomplexe Lage" und forderte einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine, sofortige Friedensverhandlungen und die Aufhebung aller Sanktionen gegen Russland. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 127 RECHTSEXTREMISMUS Äußerte die NPD diese Kritik vor allem im Internet und in den sozialen Medien, so versuchte sie mittels Unterstützungsaufrufen für Demonstrationen in und außerhalb Hessens Einfluss auf das Protestgeschehen zu nehmen. In Hessen beteiligten sich Aktivisten der NPD nach eigener Verlautbarung unter anderem an Protestkundgebungen in Offenbach am Main, Hanau (Main-Kinzig-Kreis), Bad Nauheim, Büdingen, Friedberg, Ortenberg (Wetteraukreis) und Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis). Um sich hierbei "bürgernah" zu inszenieren und anschlussfähig für Nichtextremisten zu sein, gaben sich NPD-Aktivisten bei Protestkundgebungen weitestgehend nicht als solche zu erkennen. Eigens durch die NPD Hessen angemeldete Protestveranstaltungen gegen die Regierungspolitik wurden im Berichtsjahr nicht bekannt. JUNGE NATIONALISTEN (JN) Die JN Hessen traten wie bereits im Vorjahr nur vereinzelt mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Erscheinung und verhielten sich ansonsten - auch vor dem Hintergrund der virulenten gesellschaftlichen Diskussionen und medialen Berichterstattung - außerordentlich passiv. Zu Beginn des Berichtsjahrs versuchten die JN ebenso wie die Mutterpartei NPD weiterhin die COVID-19-Pandemie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Mit dem Rückgang der Fallzahlen und dem allmählichen Wegfall der staatlichen "Corona-Maßnahmen ließ auch die Agitation in diesem Bereich stark nach. AUF EINEN BLICK * Unterstützung der Neuausrichtung der NPD * "Gemeinschaftstag Hessen" * Reaktionen auf die "Corona-Maßnahmen" * Kampagne schuelersprecher.info Unterstützung der Neuausrichtung der NPD | Der Bundesverband der JN gehörte im Vorfeld des Bundesparteitags in Altenstadt (Wetteraukreis) zu den vehementesten Unterstützern der geplanten Neuausrichtung. Besonderes Augenmerk galt dabei der Umbenennung der NPD in Die Heimat. In einer Stellungnahme des Bundesvorstands, veröffentlicht auf einem Social-Media-Kanal der JN, hieß es: "Die JN wird nach dem anstehenden Bundesparteitag nicht mehr die Jugendorganisation der NPD sein. Entweder, weil das Laster des Parteinamens dann zeitnah abgelegt wird, oder weil eben dies nicht geschieht und wir uns von der Mutterpartei trennen. So stehen die Gemüter". 128 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Entgegen dieser Ankündigung spalteten sich die JN nach der gescheiterten Umbenennung nicht von der Mutterpartei ab. Der JNBundesvorstand erklärte am 19. Mai, dass er an den Umbenennungsplänen festhalte und verwies auf den substanziellen Rückhalt für die Änderung in den Reihen der Delegierten: "Im Übrigen sind im neuen Parteivorstand keine Namens-Nostalgiker mehr zu finden. Die Arbeit hat begonnen, der Weg vorwärts ist glasklar. Und die NPD - bald ,Die Heimat' - soll sich der Unterstützung ihrer Jugendorganisation gewiss sein". Darüber hinaus beteiligten sich die JN an den Vernetzungsbestrebungen der NPD. "Gemeinschaftstag Hessen" | Vom 20. bis 22. Mai veranstalteten die JN einen "Gemeinschaftstag", bei dem der auf dem JN-Bundeskongress am 9. April in Thüringen zum Nachfolger des bisherigen Vorsitzenden Paul Rzehaczek gewählte Sebastian Weigler anwesend war. Die Teilnehmer, darunter auch Neumitglieder, führten im Wald gemeinsam Sportübungen durch und ließen sich in Selbstverteidigung und Überlebenstechniken unterweisen. Im Mittelpunkt des "Gemeinschaftstags" stand die ritualisierte Aufnahme neuer Mitglieder: So zeigten später veröffentlichte Bilder die Teilnehmer mit Fackeln und Fahnen sowie in einheitlicher Kleidung. Reaktionen auf die "Corona-Maßnahmen" | Weiterhin kritisierte der JN-Bundesverband die angeblich verfehlte "Corona-Politik" der Bundesregierung. Vor allem zu Beginn des Berichtsjahrs beteiligten sich Aktivisten an Protestkundgebungen wie etwa in Hamburg am 8. Januar und in Jüterborg (Brandenburg) am 31. Januar. Damit wollten sie die eigene rechtsextremistische Ideologie verbreiten und eine Anschlussfähigkeit an die Protestbewegung erlangen. In Hessen nahmen einzelne JN-Aktivisten an Protesten teil, unter anderem am 2. Februar in Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) und am 12. Februar in Hanau (Main-Kinzig-Kreis). Mit der Abschwächung der Pandemie und der damit einhergehenden Rücknahme der Beschränkungen ließ die Thematisierung der "Corona-Maßnahmen" durch die JN deutlich nach. Kampagne schuelersprecher.info | Im Rahmen der 2018 gestarteten Kampagne schuelersprecher.info nutzten die JN Hessen neben einem 2021 eingerichteten Telegram-Kanal nach wie vor die Homepage www.schuelersprecher.info als zentrales Medium. Die Homepage bot Interessenten die Möglichkeit, sich über die Kampagne und die bundesweit durchgeführten Aktionen zu informieren. Zudem wurde auf der Homepage eine "Schulhof-CD 2.0" mit einschlägigem Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 129 RECHTSEXTREMISMUS Liedgut aus der rechtsextremistischen Musikszene zum kostenlosen Download angeboten. Im Rahmen der Kampagne schuelersprecher.info fanden nur wenige Aktionen statt. Aktivitäten entfaltete die Kampagne vornehmlich im virtuellen Raum, wobei regelmäßig Beiträge auf Telegram veröffentlicht wurden. Schwerpunkte bildeten die Agitation gegen Migration sowie Veröffentlichungen zum Beispiel über Wanderungen und Überlebenstrainings. "Reale" Banneroder Klebeaktionen im Zusammenhang mit der Kampagne wurden im Berichtsjahr in Hessen nicht festgestellt. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Mit der Gründung der NPD 1964 in Hannover (Niedersachsen) sollten die zersplitterten Kräfte des rechtsextremistischen Lagers in der Bundesrepublik in einer Partei gebündelt werden. Der Großteil des Führungskaders der NPD bestand zunächst aus ehemaligen Mitgliedern der NSDAP. AUF EINEN BLICK * Anschein von Legalität * Krise der NPD * "Drei-Säulen-Konzept" - Erfolge in Ostdeutschland * Konzept der "seriösen Radikalität" * Wahlniederlagen * Erarbeitung eines neuen Konzepts zur künftigen Strategie der Partei Anschein von Legalität | Aus dem Verbot der SRP 1952 durch das Bundesverfassungsgericht zog die NPD den Schluss, sich um den Anschein von Legalität zu bemühen und eine öffentliche Verherrlichung des Nationalsozialismus weitgehend zu unterlassen. Diese Strategie trug dazu bei, dass die NPD bei der Bundestagswahl 1965 zwei Prozent (= 664.193 der Zweitstimmen) erreichte. Zwischen 1966 und 1968 zog die NPD in die Landtage von Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ein. Die Mitgliederanzahl stieg, wobei auf sämtlichen Parteiebenen etwa 20 Prozent der Mitglieder eine NSDAP-Vergangenheit aufwiesen. Ursache für den damaligen Auftrieb für die NPD waren zum Beispiel das Bestehen einer nur kleinen Opposition gegenüber der ersten Großen Koalition (1966 bis 1969), die konjunkturelle Schwäche in Deutschland und damit verbundene Verlustängste in der Bevölkerung. 130 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Krise der NPD | Bei der Bundestagswahl 1969 scheiterte die NPD mit 4,3 Prozent (= 1.422.010 der Zweitstimmen) relativ knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. In der Folge führten unter anderem die innere Zerstrittenheit der Partei, eine sich allmählich bessernde wirtschaftliche Lage sowie die kritische Berichterstattung in den Medien über Ausschreitungen im Zusammenhang mit NPD-Mitgliedern zu einer langjährigen Krise der Partei. Weitere interne Streitigkeiten über die programmatische Ausrichtung, der starke Rückgang der Mitgliederzahlen, der öffentliche Skandal um die Leugnung des Holocausts durch den damaligen NPD-Vorsitzenden Günter Deckert (1991 bis 1995) und das Auftauchen konkurrierender rechtsextremistischer Parteien zementierten die Krise der NPD bis in die 1990er Jahre hinein. "Drei-Säulen-Konzept" - Erfolge in Ostdeutschland | Mit der Wahl Udo Voigts zum Bundesvorsitzenden im Jahr 1996 steigerte die NPD vor allem in den neuen Ländern ihre Mitgliederzahl und erneuerte - neben Organisation und Strategie - ihre Programmatik. Das neue "DreiSäulen-Konzept" enthielt folgende Punkte: "Kampf um die Köpfe", "Kampf um die Straße" und "Kampf um die Parlamente". 2004 kam der "Kampf um den organisierten Willen" hinzu. Im Zuge ihres "Kampfs um die Straße" öffnete sich die NPD vor allem gegenüber rechtsextremistischen Skinheads und Neonazis. Umgekehrt näherten sich diese der NPD an. Nach dem Scheitern des NPDVerbotsverfahrens 2003 setzte die Partei ihre Politik der Annäherung an die Neonaziszene fort und konzentrierte ihre Aktivitäten zunehmend auf Ostdeutschland. 2004, 2006, 2009 und 2011 zog die NPD in die Landtage von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ein, in denen sie inzwischen nicht mehr vertreten ist. Konzept der "seriösen Radikalität" | Holger Apfel, der 2011 gewählte Nachfolger Udo Voigts als Bundesvorsitzender, wollte mit seinem Konzept der "seriösen Radikalität" die NPD aus der Krise führen, in die sie unter anderem durch eine Reihe von Niederlagen bei Landtagswahlen sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands geraten war. Offensichtlich aus persönlichen Gründen legte Apfel 2013 sein Amt als Bundesvorsitzender nieder und trat aus der Partei aus. Vorübergehend übernahm sein Stellvertreter Udo Pastörs die Führung, bis 2014 Frank Franz, vorher Pressesprecher der Partei, zum neuen Bundesvorsitzenden gewählt wurde. Zuvor war die NPD bei den Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Mit dem Verlust der staatlichen Teilfinanzierung nach dem Ausscheiden aus dem Sächsischen Landtag und dem damit verbundenen Verlust von Mitarbeitern büßte die Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 131 RECHTSEXTREMISMUS NPD eine wesentliche Grundlage ihrer bundesweiten politischen Arbeit ein. Wahlniederlagen | Seit der Landtagswahl in Sachsen 2014 verlor die NPD bei weiteren Wahlen auf Landesund Bundesebene kontinuierlich Stimmen. 2017 erhielt sie bei der Landtagswahl im Saarland 0,7 Prozent, was einem Minus von 0,5 Prozentpunkten entspricht, sowie in Nordrhein-Westfalen 0,3 Prozent (= minus 0,3 Prozentpunkte). In Hessen erreichte die NPD bei der Landtagswahl 2018 0,2 Prozent der Stimmen (= minus 0,9 Prozentpunkte). Bei der hessischen Kommunalwahl 2021 trat die NPD im Lahn-DillKreis, Main-Kinzig-Kreis und Wetteraukreis zu insgesamt zehn kommunalen Wahlen an. Sie gewann insgesamt 1.799 Stimmen (= 0,1 Prozent) und erhielt elf kommunale Mandate, davon vier im LahnDill-Kreis und sieben Mandate im Wetteraukreis. Die Partei verlor somit im Vergleich zur Kommunalwahl 2016 4.205 Stimmen (= minus 0,2 Prozentpunkte) und verlor zehn Mandate. Erarbeitung eines neuen Konzepts zur künftigen Strategie der Partei | Unter dem Motto "Wir setzen uns durch - für unsere Heimat" veranstaltete die NPD ihren 37. ordentlichen Bundesparteitag 2019 in Riesa (Sachsen), auf dem Frank Franz ohne einen Gegenkandidaten zum zweiten Mal seit 2014 zum Bundesvorsitzenden gewählt wurde. Einem von Franz zur Diskussion gestellten Entschließungsantrag über die künftige Strategie der Partei stimmten 80 von 122 Delegierten zu. Damit wurde der Parteivorstand beauftragt, bis zum 31. März 2020 ein Konzept für die Zukunft der NPD zu erarbeiten, wobei auch eine Umbenennung der Partei geprüft werden sollte. Auf dem Bundesparteitag 2022 in Altenstadt (Wetteraukreis) wurde das Konzept jedoch nicht angenommen, da die hierfür nötige Zweidrittelmehrheit fehlte. IDEOLOGIE/ZIELE Die NPD steht für Antiparlamentarismus und Antipluralismus. Mit ihrer fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Programmatik wendet sie sich offen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. AUF EINEN BLICK * Überwindung des "Systems" * "Solidargemeinschaft aller Deutschen" - Islamfeindlichkeit - Antisemitismus 132 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Überwindung des "Systems" | Die NPD will die parlamentarische Demokratie von innen heraus, das heißt mittels Parteiarbeit, abschaffen. Die NPD will die politische und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, von ihr in Anlehnung an die Sprache des Nationalsozialismus als rein machtorientierte Herrschaft der "Systemparteien" diffamiert, durch eine ethnisch homogene "Volksgemeinschaft" ersetzen. Solidarität soll nur "ethnischen Deutschen" zuteilwerden. So heißt es im Parteiprogramm: "Der ethnischen Überfremdung Deutschlands durch Einwanderung ist genauso entschieden entgegenzutreten wie der kulturellen Überfremdung durch Amerikanisierung und Islamisierung". Diejenigen, die in den Augen der NPD "Fremde" sind, grenzt sie aus. So seien "Ausländer [...] aus dem deutschen Sozialversicherungswesen auszugliedern und einer gesonderten Ausländersozialgesetzgebung zuzuordnen. In ihrer Ausgestaltung von Pflichten und Ansprüchen hat sie auch dem Rückführungsgedanken Rechnung zu tragen. [...] Asylbewerber haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen". "Solidargemeinschaft aller Deutschen" - Islamfeindlichkeit - Antisemitismus | Der Globalisierung will die NPD begegnen, indem sie das bestehende "System" durch eine "Solidargemeinschaft aller Deutschen" ersetzt. Darüber hinaus werden Muslime diffamiert. Auch antisemitische Positionen sind in der NPD verbreitet. Die Partei vertritt zwar keine offen antisemitische Programmatik, sie streut aber entsprechende Vorurteile. STRUKTUREN Die 2010 vorgenommene Neugliederung des Landesverbands in zwei Unterbezirksund elf Kreisverbände erforderte bereits 2015 eine erneute Modifizierung. Es erfolgte eine Umgestaltung zu sechs Bezirksverbänden (Nordhessen, Osthessen, Mittelhessen, WetterauKinzig, Rhein-Main und Südhessen). Auf den ersten Blick scheint die NPD flächendeckend in Hessen vertreten zu sein. Die Umstrukturierung in größere Bezirksverbände macht jedoch deutlich, dass für feingliederige Strukturen das notwendige Personal fehlte. Die tatsächlich vorhandenen Strukturen waren in weiten Teilen Hessens nur schwach ausgeprägt. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 133 RECHTSEXTREMISMUS BEWERTUNG/AUSBLICK NPD Hessen | Vor dem Hintergrund der staatlichen "Corona-Maßnahmen" führte die NPD in Hessen nur wenige Parteiveranstaltungen und öffentliche Aktionen durch. Um dennoch nach außen aktiv zu wirken und Interessenten für sich zu gewinnen, versuchte die NPD mittels ihrer Kritik an den "Corona-Maßnahmen" sowohl im virtuellen als auch "realen" Raum sich als "Kümmererin" zu inszenieren. Da die NPD vor allem bei Protestkundgebungen offensichtlich nicht mit rechtsextremistischen Bestrebungen identifiziert werden wollte, nahmen ihre Aktivisten weitestgehend keinen sichtbaren Bezug zur Partei, um dadurch einfacher mit ebenfalls demonstrierenden Bürgern ins Gespräch zu kommen. Im Zuge der allmählich auslaufenden "Corona-Maßnahmen" versuchte die NPD andere Themen zu besetzen. So rückte sie die "Energiekrise" und die Haltung der Bundesregierung in Bezug auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine - neben dem Kernthema "Migration" - verstärkt in den Fokus ihrer Agitation. Auch hier versuchte sich die NPD virtuell und "real" als Impulsgeberin der heterogenen Protestbewegung zu positionieren. Allerdings agierten in dieser Hinsicht nur wenige Akteure "auf die Straße", wobei in Hessen der Wetteraukreis sowie der Lahn-Dill-Kreis den Schwerpunkt bildeten. Zentral für die Zukunftsperspektive der NPD blieb die Frage der Neuausrichtung, das heißt die Umformung der Partei zu einer Netzwerkund Sammlungsbewegung. Die auf dem Bundesparteitag gescheiterte Namensänderung bremste dieses Unterfangen nur vorübergehend, im weiteren Verlauf des Berichtsjahrs erhöhte sich die Dynamik dieser Reformbestrebungen wieder. Die NPD Hessen unterstützte diesen Kurs, so war sie mittels der Social-Media-Kanäle Heimat Büdingen und Heimat Wetterau aktiv, bei einer Protestkundgebung zeigten zwei maßgebliche Parteifunktionäre ein Banner mit der Aufschrift Heimat Wetterau. Ob die angestrebte Neuausrichtung den stetigen Bedeutungsverlust der NPD aufhalten wird, ist allerdings fraglich. So bestehen parteiintern weiterhin große Differenzen über den künftigen Weg, wie die fehlende Mehrheit zur Umsetzung des Zukunftskonzepts auf dem Bundesparteitag zeigte. JN Hessen | Die Aktivitäten der JN Hessen im "realen" und im virtuellen Raum gingen im Berichtszeitraum im Vergleich zum Vorjahr erneut zurück. Auch nach der allmählichen Rücknahme der "CoronaMaßnahmen" entfaltete die JN in Hessen nur in einem sehr geringen Maß wahrnehmbare Aktivitäten. Der maßgebliche Grund ist augenfällig in den weiterhin bestehenden strukturellen und personellen 134 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Problemen der JN in Hessen zu finden, wobei nicht ersichtlich ist, dass es den JN gelingen könnte, diese Probleme nachhaltig zu überwinden. Der Dritte Weg/Der III. Weg DEFINITION/KERNDATEN Die Partei Der Dritte Weg propagiert ein völkisch-antipluralistisches Menschenund Gesellschaftsbild. Unter den Schlagworten Logo der Partei Der Dritte Weg "national", "revolutionär" und "sozialistisch" formuliert Der Dritte Weg in seiner gleichnamigen Broschüre mit dem Begriff "RevoluBundesvorsitzender: tion" einen "grundlegenden, allumfassenden, systematischen und Matthias Fischer (Brandennachhaltigen Wandel" sowie die "Durchdringung der Politik und burg) Gesellschaft mit unserer Weltanschauung" als Ziele. Eine solche ReSitz: volution sei nicht mit Waffengewalt zu erzwingen, wenngleich es Weidenthal (Rheinland-Pfalz) notwendig sein dürfte, dass "einige Scheiben" zerbrächen, wenn es gelte, das deutsche Volk "in seiner ethnischen Existenz zu sichern" Mitglieder: In Hessen etwa 35, bundesund eine "Jahrtausende umfassende Hochkultur zu retten". Unter weit rund 700 den Mitgliedern der Partei, die überwiegend aus dem neonazistischen Spektrum stammten, befanden sich Personen aus dem Medien: Umfeld des verbotenen Freien Netzes Süd (FNS), der völkisch geInternetpräsenzen, prägten Neonaziszene sowie frühere Mitglieder der NPD. Publikationen EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN \ Wie in den Vorjahren legte die Partei Der Dritte Weg großen Wert auf Agitation und Propaganda im Zuge öffentlichkeitswirksamer Auftritte. Einen Agitationsschwerpunkt bildete, wie bereits in den zwei vergangenen Jahren, die COVID-19-Pandemie und deren gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen. Die Partei versuchte hierbei die Pandemie als Projektionsfläche im Sinne der eigenen Ideologie zu nutzen und sich als "Kümmererin in der Krise" zu stilisieren. Gleiches versuchte die Partei im Zusammenhang mit der im Berichtszeitraum virulenter werdenden gesamtgesellschaftlichen Diskussion hinsichtlich einer möglicherweise bevorstehenden Energiekrise sowie steigenden Preisen und einer zunehmenden Inflation. Der russische Überfall auf die Ukraine bildete einen weiteren thematischen Schwerpunkt des Dritten Wegs. Dabei positionierte sich die Partei dezidiert auf der Seite der Ukraine und thematisierte im Rahmen ihrer deutschlandweiten Kampagne "Die wahre Krise ist das System" die sich aus dem Krieg angeblich für Deutschland ergebenden ökonomischen und sozialen Folgen. Daneben spielte wie auch in den vorherigen Jahren die Agitation in den Themenbereichen "Asylund Flüchtlingspolitik" und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 135 RECHTSEXTREMISMUS "Revisionismus" eine wichtige Rolle, wobei die Partei auf fremdenfeindliche bzw. rechtsextremistische Narrative zurückgriff. AUF EINEN BLICK * Agitation während der Covid-19-Pandemie * Russischer Überfall auf die Ukraine * "Heißer Herbst" * "Gedenkveranstaltungen" * Weitere Treffen * Kontakte zu "nationalistischen Gruppierungen" im Ausland Agitation während der Covid-19-Pandemie | Sowohl in der virtuellen als auch in der "realen" Welt setzte Der Dritte Weg die Diffamierung der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie sowie der entsprechend handelnden Politiker und deren Krisenmanagement fort. Die durch die Bundespartei im März 2020 gestartete deutschlandweite Kampagne "Das System ist gefährlicher als Corona" sowie der Aufruf "Auf die Strasse - Impfpflicht verhindern! Zwangsmaßnahmen beenden!" wurden von Januar bis März weitergeführt. In deren Zentrum standen die Kritik an angeblich ungerechtfertigten Grundrechtseingriffen der Bundesregierung und das angeblich eigene "Kümmern". Der Dritte Weg rief dazu auf, sich an "Spaziergängen" zu beteiligen und gegen die "Zwangsmaßnahmen" der Regierung zu demonstrieren. Auf der Homepage der Partei wurden dazu Termine und Trefförtlichkeiten deutschlandweit veröffentlicht. Nach eigenen Angaben beteiligten sich Aktivisten der Partei regelmäßig an "Spaziergängen" in Hessen, unter anderem in Bad Hersfeld (Landkreis Hersfeld-Rotenburg), Bad Wildungen (Landkreis Waldeck-Frankenberg), Bensheim, Lampertheim (Kreis Bergstraße), Fulda (Landkreis Fulda), Groß-Gerau (Kreis Groß-Gerau), Limburg, Weilburg (Landkreis Limburg-Weilburg), Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis). Die Kampagne richtete sich insbesondere auch an nichtextremistische Teile der Bevölkerung, um so Anschlussfähigkeit an die Mitte der Gesellschaft herzustellen und gegebenenfalls weiteres Personenpotenzial für den Dritten Weg zu erschließen. Russischer Überfall auf die Ukraine | Im Rahmen der eindeutigen Positionierung des Dritten Wegs zugunsten der Ukraine stand das Bemühen im Mittelpunkt, das ukrainische Asov-Regiment zu unterstützen. Zu dem Regiment hatte die Partei bereits in der Vergangenheit einen engen Austausch gepflegt. Zu Kriegsbeginn richtete Der Dritte Weg auf seiner Homepage einen Liveticker ein, in dem mittels Videos und Beiträgen aus den umkämpften ukrainischen Gebieten berichtet wurde. Des Weiteren schuf die Partei auf ihrer Homepage die Unterseite "Märtyrer des ukrainischen Freiheitskampfes". Gemäß dem par136 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS 700 600 500 400 300 200 100 0 2018 2019 2020 2021 2022 teieigenen Motto "Tot sind nur jene, die vergessen werden", wurden dort Personen, "die in der Ukraine den Heldentod bei der Verteidigung des Landes gegen die russische Invasion" gestorben sind, genannt. Außerdem berichtete Der Dritte Weg auf seiner Homepage über Hilfslieferungen, die von Parteiaktivisten an die Front in der Ukraine gebracht wurden. Darunter befanden sich angeblich sowohl Kampfausrüstungen als auch medizinische Hilfsgüter. Im August begann die Partei ihre deutschlandweite Kampagne "Die wahre Krise ist das System!" "Heißer Herbst" | Die für den Herbst und Winter 2022/23 prognostizierte Gasknappheit und die daraus angeblich resultierenden negativen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen kommentierte Der Dritte Weg und versuchte, sie für die eigenen Belange zu instrumentalisieren. Eine von der Partei am 2. Oktober in Plauen (Sachsen) angemeldete Demonstration - unter dem Kampagnenmotto "Die wahre Krise ist das System" - betrachtete die Partei als eine wichtige Veranstaltung. Presseberichterstattung zufolge beteiligten sich etwa 230 Aktivisten an der Demonstration. Auf ihrer Homepage schrieb die Partei: "Die wahre Krise ist nicht ein Gasmangel und auch nicht die Inflation, die wahre Krise ist dieses System, das schon lange moralisch und nun auch zunehmend wirtschaftlich bankrott ist. Unsere Parole ist daher unmissverständlich: Das System ist am Ende - wir sind die Wende!" Darüber hinaus kam es im Rahmen der Kampagne in Hessen zu mehreren Verteilaktionen von Flyern im Lahn-Dill-Kreis und in Rüsselsheim (Kreis Groß-Gerau). Zudem warb Der Dritte Weg regelmäßig für verschiedene hessenweite Protestveranstaltungen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 137 RECHTSEXTREMISMUS "Gedenkveranstaltungen" | Verbunden mit der Forderung nach einem "zentralen Gedenktag" für die Opfer der alliierten Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs führte Der Dritte Weg zum wiederholten Male seinen traditionellen "Gedenkmarsch" unter dem Motto "Wir tragen das Licht für Dresden weiter" durch. Den Startpunkt bildete ein Friedhof in Dresden (Sachsen), von dort aus wurde das "Licht für Dresden" vom 28. Januar bis 5. Februar in acht Etappen über einen etwa 270 Kilometer langen Rundkurs über Bautzen (Sachsen) und Cottbus (Brandenburg) zurück nach Dresden getragen. Auf der Homepage des Dritten Wegs hieß es: "Ein weiteres Mal ging ,Ein Licht für Dresden' durchs Land. Jeder der teilnehmenden Läufer war durch seinen Beitrag ein Teil eines größeren Ganzen. Jeder der Läufer und der Helfer im Hintergrund kann auf seinen Beitrag zurückblicken. Auch durch diese kreative Form des Gedenkens wird den deutschen Opfern des alliierten Bombenterrors eine Stimme gegeben. Eine Stimme, die heute kaum noch einer erheben will. Wir schweigen aber nicht. Wir fordern einen deutschlandweiten Gedenktag für die Bombentoten am 13. Februar". Angemeldet von einem Rechtsextremisten, fand am 13. Februar in Dresden ein "Gedenkmarsch" unter dem Motto "Vergesst niemals Dresden! Gedenken zu Ehren der Dresdner Luftkriegstoten des 13. Februar 1945" statt. Daran beteiligten sich etwa 800 Personen, darunter Angehörige des Dritten Wegs, der Partei DIE RECHTE und der NPD. Im Zusammenhang mit der "Darmstädter Brandnacht", die sich in der Nacht vom 11. auf den 12. September zum 78. Mal jährte, entzündeten Aktivisten des Dritten Wegs nach eigenen Angaben Kerzen mit dem Parteilogo und legten Kränze nieder. Anlässlich des 8. Mai 1945 führten Aktivisten des Dritten Wegs eine weitere "Gedenkveranstaltung" unter dem Motto "8. Mai - wir feiern nicht!" durch. Dabei stellten sie am Grab eines Angehörigen der SS auf der Kriegsgräberstätte Runkel (Landkreis Limburg-Weilburg) ein Grablicht mit dem Logo der Partei auf. Die zentrale "Gedenkveranstaltung" bildete für den Dritten Weg nach wie vor das "traditionelle Heldengedenken" anlässlich des Volkstrauertags in Wunsiedel (Bayern) unter dem Motto "Tot sind nur jene, die vergessen werden". Rund 120 Aktivisten der Partei zogen am 12. November 2022 in einem "Gedenkmarsch" durch die Stadt. Unter anderem trat der Parteivorsitzende Matthias Fischer als Redner auf, der Liedermacher Wegbereiter trug Lieder und ein Sprechspiel vor. In Hessen legten Aktivisten des Dritten Wegs laut eines bebilderten Beitrags auf der parteieigenen Internetseite an einem Kriegerdenkmal in Rüsselsheim (Kreis Groß-Gerau) ein "Gesteck mit 138 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Grabkerzen" ab. Darüber hinaus hieß es in dem Beitrag: "Im Taunus legten Familien mit ihren Kindern auf einem Soldatenfriedhof einen selbstangefertigten Kranz nieder". Weitere Treffen | Über die Aktivitäten des Stützpunkts Westerwald/ Taunus des Dritten Wegs wurde auf der parteieigenen Homepage berichtet. Zu den Veranstaltungen, die in erster Linie eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls bezweckten, gehörten unter anderem regelmäßig stattfindende Stammtische. Im Berichtsjahr beschränkten sich die Aktivitäten des Stützpunkts Westerwald/Taunus auf regelmäßig stattfindende Stützpunktabende, eine Wanderung mit Liederabend in Nordhessen, mehrere Flugblattverteilungen im Lahn-DillKreis, Selbstverteidigungskurse im Westerwald und eine Feldbergfahrt im Taunus. Zudem führte die Partei Rechtsschulungen während eines Stützpunktabends und im Rahmen eines Selbstverteidigungskurses in Nordhessen durch. Als Anlässe für die Selbstverteidigungskurse nannte die Partei unter anderem eine Verschlechterung der allgemeinen Sicherheitslage im Land, wobei hierfür die "ungezügelte Einwanderung" mitverantwortlich sei, und potenzielle gewalttätige Angriffe durch den politischen Gegner im Rahmen von Veranstaltungsteilnahmen auf sich oder die eigene Familie. Kontakte zu "nationalistischen Gruppierungen" im Ausland | Der Dritte Weg bemühte sich weiterhin, die Vernetzung mit "europäischen Nationalisten" voranzutreiben. Am 12. Februar nahmen Aktivisten des Dritten Wegs aus Hessen an der "Gedenkund Wandertour ,Ausbruch 60'" in Ungarn teil. Auf der Homepage des Dritten Wegs hieß es hierzu: "Das Ziel der Gedenktour ,Ausbruch' ist es, jeden Februar den ungarischen und deutschen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg Budapest und damit ganz Westeuropa zweieinhalb Monate lang heldenmütig gegen die bolschewistische Rote Armee verteidigt hatten, unseren Respekt zu bekunden". Zusätzlich fand im Oktober im Westerwald eine Veranstaltung des Dritten Wegs mit Vorträgen statt, worüber die Partei unter der Überschrift "60-Km-Marsch als revolutionäre Form des Gedenkens" auf ihrer Internetseite berichtete. Darüber hinaus trafen sich im November in Finnland Akteure des Dritten Wegs mit Vertretern der italienischen Bewegung CasaPound, nationalen Aktivisten aus Schweden, Aktivisten der finnischen Gruppierung Sinimusta Liike (Blue and Black Movement) sowie weiteren "finnischen Nationalisten". Die Ziele des Treffens waren laut Angaben des Dritten Wegs auf seiner Internetseite die Organisation eines Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 139 RECHTSEXTREMISMUS neuen Hausprojekts in Finnland, der Austausch mit den finnischen Aktivisten sowie ein gemeinsames Sporttraining. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Die Partei Der Dritte Weg wurde 2013 in Heidelberg (BadenWürttemberg) gegründet. Nach und nach entstanden verschiedene länderübergreifende Stützpunkte, unter anderem der Stützpunkt Westerwald/Taunus, der im Wesentlichen den Landkreis LimburgWeilburg und den Lahn-Dill-Kreis sowie angrenzende Landkreise in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen umfasst. Seit ihrer Gründung führte die Partei vor allem Demonstrationen, "Heldengedenken", gegen Flüchtlinge und die Flüchtlingspolitik und die staatlichen "Corona-Maßnahmen" gerichtete Flugblattverteilaktionen durch bzw. veröffentlichte entsprechende Verlautbarungen im Internet. IDEOLOGIE/ZIELE Das "Zehn-Punkte-Programm" der Partei Der Dritte Weg bezieht sich sowohl von der Bezeichnung als auch vom Inhalt her auf das 25Punkte-Programm der NSDAP und enthält dessen rechtsextremistische - im Detail nationalsozialistische - Programmatik. In diesem Programm verdeutlicht sich die damit verbundene antidemokratische Ausrichtung des Dritten Wegs, die auf die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielt. AUF EINEN BLICK * "Zehn-Punkte-Programm" * "National, revolutionär, sozialistisch" * Das Volk als "Blutund Schicksalsgemeinschaft" - Liberalismus als "geistige Immunschwächekrankheit" "Zehn-Punkte-Programm" | In seinem Parteiprogramm benennt Der Dritte Weg einen "Deutschen Sozialismus, fernab von ausbeuterischem Kapitalismus sowie gleichmacherischem Kommunismus" als sein Ziel. Das deutsche Volk wird als "naturgesetzliche Gemeinschaft" gesehen. Eine Forderung der Partei besteht in der Förderung kinderreicher deutscher Familien zur "Abwendung des drohenden Volkstodes". Daneben gibt Der Dritte Weg die "Erhaltung und Entwicklung der biologischen Substanz des Volkes" als ein weiteres Ziel an. Darüber hinaus vertritt die Partei in ihrem "Zehn-Punkte-Programm" ein geschichtsrevisionistisches Deutschlandbild. So wird eine "friedliche [...] Wiederherstellung Gesamtdeutschlands in seinen völkerrechtlichen Grenzen" gefordert. Weitere Forderungen sind sowohl die 140 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Verstaatlichung sämtlicher Schlüsselindustrien als auch die Einführung der Todesstrafe für Kindermord und andere Kapitalverbrechen. "National, revolutionär, sozialistisch" | Die Partei Der Dritte Weg begreift sich gemäß ihres im Jahre 2015 veröffentlichten Selbstverständnisses als "nationalrevolutionär" und propagiert einen "deutschen Sozialismus" als "dritten Weg" abseits von Kommunismus und "Kapitalismus". Die Partei knüpft damit zumindest in Teilen an die Programmatik des linken Flügels der NSDAP an. Der Programmatik des Dritten Wegs liegt ein völkisches Menschenbild, das sich eng am Nationalsozialismus und der rechtsextremistischen Kameradschaftsszene orientiert, zugrunde. So heißt es in der im Jahr 2017 erschienenen Broschüre "National, Revolutionär, Sozialistisch" in Bezug auf diese Kernbegriffe: "Nur diese drei Begriffe zusammengefasst ergeben eine ganzheitliche Wirkung, welche das politische, das wirtschaftliche, das soziale und das geistige Leben zu einer Synthese zusammenführt". Das Volk als "Blutund Schicksalsgemeinschaft" - Liberalismus als "geistige Immunschwächekrankheit" | Gemäß seines völkischen Menschenbilds definiert Der Dritte Weg den Nationalismus als die "politische Idee, die die Interessen und das Überleben des eigenen Volkes in den Mittelpunkt aller Betrachtungen und Entscheidungen" rücke. So komme der "echte Nationalismus" nicht ohne eine "völkische Komponente" aus, wobei das Blut der "Schlüssel zum Verständnis der volkseigenen Kultur und der Seele des völkischen Lebens" sei. Das Volk sei nicht nur eine "Blut-, sondern auch eine Schicksalsgemeinschaft", aus deren "übergeordnete[m] Willen" sich die Nation bilde. Im Liberalismus hingegen verkörpere der "Einzelne den wichtigsten Wert" und habe den "europäische[n] Mensche[n]" - einer Immunschwächekrankheit gleich - "auf seine Existenz als Einzelwesen reduziert und seiner Kultur, Heimat und Identität beraubt". In diesem Kontext sieht sich Der Dritte Weg "unseren kulturund blutsverwandten Völkern in Europa verbunden". In Bezug auf ihre Feindbilder beschränkt sich die Partei keinesfalls nur auf Deutschland: "Egal ob Westoder Ost-, Süd[-] oder Nordeuropa, es sitzen überall die gleichen Verräter, die gleichen Vertreter des feigen Bürgertums und die gleichen Geldempfänger des Kapitals in den Parlamenten. Daher können wir sie gar nicht anders als gleichsam hassen und verachten. Wir fiebern jedem Schlag, ja jedem Nadelstich, den die verschiedenen europäischen Bewegungen den volksfeindlichen Systemen beibringen, entgegen, begeistern uns über jeden Erfolg und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 141 RECHTSEXTREMISMUS verneigen uns vor jedem Toten und jedem Verletzten des gesamteuropäischen Kampfes". STRUKTUREN Die im Jahr 2020 veränderten Strukturen, bei denen Gebietsverbände aufgelöst und Landesverbände gegründet wurden, dienten dazu, an Wahlen teilzunehmen, wie an der Bundestagswahl 2021. Im Berichtsjahr wurden die Stützpunkte Württemberg und Burgenlandkreis neu gegründet, sodass die Partei über insgesamt 22 Stützpunkte verfügte. Der in Hessen aktive Stützpunkt Westerwald/ Taunus war dem Landesverband West zugeordnet und umfasste den Landkreis Limburg-Weilburg und den Lahn-Dill-Kreis. Im November 2021 wurde Matthias Fischer zum neuen Parteivorsitzenden des Dritten Wegs gewählt. Klaus Armstroff, der bisherige Parteivorsitzende, hatte sich aus persönlichen Gründen nicht mehr zur Wahl aufstellen lassen und wurde zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt. Laut Satzung des Dritten Weg vom 26. Dezember 2021 gehört ein Rechtsextremist aus Hessen als Beisitzer dem Bundesvorstand an. Des Weiteren gehörte ein weiterer Rechtsextremist aus Hessen dem Vorstand des Landesverbands West als Beisitzer an. BEWERTUNG/AUSBLICK Mit dem Ende der staatlichen "Corona-Maßnahmen" und dem damit einhergehenden Rückgang des Protestgeschehens brach für die Partei Der Dritte Weg ein in den letzten Jahren intensiv genutzter thematischer Agitationsraum weg, in dem sie versucht hatte, sich öffentlichkeitswirksam als "Kümmerin in der Krise" und "Alternative zum System" zu inszenieren. In der Folge war Der Dritte Weg bemüht, sich weitere Themenfelder wie etwa den russischen Überfall auf die Ukraine und die steigenden Lebenshaltungskosten in Deutschland zu erschließen. Diese Themen scheinen jedoch nur bedingt geeignet zu sein, eine ähnliche mobilisierende Wirkung wie das Thema "staatliche Corona-Maßnahmen" und eine damit verbundene Anschlussfähigkeit auch an nichtextremistische Teile der Bevölkerung zu erzielen. Wie die rückläufige und aus Sicht der Partei sicherlich enttäuschende Teilnehmerzahl von rund 120 Aktivisten an der zentralen "Gedenkveranstaltung" in Wunsiedel (Bayern) zeigt, ist das eigene Mobilisierungspotenzial offensichtlich weiterhin begrenzt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuell steigenden Zahl der nach Deutschland Geflüchteten und der gesellschaftlichen Diskussion über deren Un142 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS terbringung ist eine verstärkte Refokussierung des Dritten Wegs auf sein klassisches Agitationsfeld der "Antiasylagitation" möglich. "HEISSER HERBST": "STRUKTURAUFBAU, COMMUNITY-ORGANIZING" STATT "AUFSTÄNDEN, REVOLTEN ODER ANDEREN TAG-X-SZENARIEN" Vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine und der hieraus resultierenden sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen war es mehr denn je das Ziel von Verfassungsfeinden - vor allem von Rechtsextremisten -, das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie und in deren Krisenbewältigungsmechanismen zu beschädigen. Darüber hinaus versuchten Verfassungsfeinde, die in der Gesellschaft weit verbreitete Verunsicherung für eigene Belange zu instrumentalisieren. Aufgrund der Kumulation verschiedener Entwicklungen (Inflation, Verteuerung von Energie, Lebensmitteln, Mieten usw.) witterten Extremisten die Gelegenheit, sich in der Bevölkerung grassierende Existenzängste zunutze zu machen, um Menschen, die außerhalb extremistischer Strukturen stehen, zu manipulieren oder sogar für sich zu gewinnen. Das LfV warnte im August öffentlich, "dass unsere Gesellschaft [...] im Herbst/Winter vor mehrfachen, sich potenziell gegenseitig verstärkenden Herausforderungen" steht, die zu Protesten führen können: Extremisten beabsichtigten, die Proteste zu unterwandern und ihnen eine verfassungsfeindliche Stoßrichtung zu geben. Allerdings blieb der vielerorts befürchtete "heiße Herbst" bzw. "Wutwinter" weitgehend aus. Seit Anfang Oktober nahm die Zahl der Demonstranten, die sich zu der bereits während der "CoronaProteste" fest etablierten Form der "Montagsspaziergänge" einfanden, kontinuierlich ab. Zuletzt nahmen bei den schwerpunktmäßig in Ostdeutschland stattfindenden Protesten vor allem Rechtsextremisten, Verschwörungsanhänger, Reichsbürger und Selbstverwalter sowie Personen teil, die dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzurechnen sind. AUF EINEN BLICK * "Nachhaltige, unversöhnliche und grundsätzliche Proteste" * "Notwendigkeit einer rechten Theoriebildung" * "Das patriotische Protestmilieu stärker ausbauen" * "Verlagerung des öffentlichen Diskurses in Richtung radikalerer Positionen" * Das Ziel: Aufweichen des antiextremistischen Konsenses Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 143 RECHTSEXTREMISMUS "Nachhaltige, unversöhnliche und grundsätzliche Proteste" | Maßgebliche Protagonisten der Neuen Rechten schrieben den Protesten eine langfristige Wirkung zu. So äußerte Götz Kubitschek in der Zeitschrift Sezession, die vom Verlag Antaios (Verdachtsfall des BfV im Berichtsjahr) verlegt wird, dass man sich entschieden habe, mit "Kräften und Beziehungen und als nicht unwichtiger Knotenpunkt des Widerstandsgeflechts dafür zu sorgen, daß die Proteste nachhaltig, unversöhnlich und grundsätzlich werden". Damit war freilich nicht ein "Umsturz" gemeint, sondern ein längere Zeit währender revolutionärer Prozess. Diese Position vertrat in der Sezession auch Daniel Fiß, ehemals JN-Mitglied und früherer IBD-Bundesleiter. Er sah in den Demonstrationen einen "Politisierungsschub", der die "gesellschaftlichen Frontstellungen" - quasi als Katalysator - "konkreter, substanzieller und sichtbarer" mache. Am 8. September erklärte Fiß in der Sezession: "Keine Aufstände, Revolten oder andere Tag-X-Szenarien [...] erwarten, sondern stattdessen auf nachhaltigen Strukturaufbau, Community-Organizing in der Fläche und die Kampagnenfitness für das rechte Lager [...] setzen. Denn die Herausbildung eines sozialen Milieus ist kein plötzlicher Akt. Er vollzieht sich im Rahmen vorgezeichneter Entwicklungen, die politische Akteure jetzt richtig einordnen und analysieren sollten". Angesichts dieser rechtsextremistischen Positionierungen kann, was die eventuelle Fortsetzung des "heißen Herbsts" bzw. "Wutwinters" betrifft, keine Entwarnung gegeben werden. Die Neue Rechte betrachtete das Protestgeschehen als einen weiteren kleinen, aber wichtigen Schritt auf ihrem langen Weg des beharrlichen Aufweichens der demokratischen Resilienz gegen "rechte Werte" und Anschauungen. Ihr Ziel ist es, ein neues rechtsextremistisches "soziales Milieu" zu schaffen. "Notwendigkeit einer rechten Theoriebildung" | Vor allem zwei maßgebliche Protagonisten der Neuen Rechten, Götz Kubitschek und Martin Sellner, beschäftigten sich mit der politisch-strategischen Relevanz der Proteste für die rechtsextremistische Szene. Beide dämpften zu hohe, zeitnah und situativ an die Proteste geknüpfte Erwartungen in Bezug auf eine unmittelbar bevorstehende Revolte, doch unterstrichen sie die grundsätzliche und langfristige Bedeutung des aktiven Widerspruchs. Kubitschek schrieb in der Sezession vom 26. August: "Niemand von uns wird sich naiv und mit übertriebenen, irrationalen Erwartungen an den Protesten beteiligen". In Bezug auf "Dynamik, Gewaltpotential", grundsätzliche "Infragestellung des Systems" und totalitäre Vision sei das Geschehen nicht mit der von der "Linken" 1968 initiierten und bis heute andauernden Entwicklung vergleichbar. Da es aber möglich sei, so Kubitschek, dass der Staat die Proteste benutze, um die "Notstandsgesetzgebung" zu aktivieren, 144 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS könnte es "klüger sein, nicht zu demonstrieren, nicht zu provozieren, sondern etwa weiter im Windschatten an Strukturen weiterzubauen". Das Thema des "Weiterbaus von Strukturen" bildete ein zentrales Argument in der Positionierung der Neuen Rechten. Kubitschek wies in einem am 24. August in der Sezession erschienenen Artikel darauf hin, dass es in den letzten 15 Jahren vier "zersetzende Welle[n]" gegeben habe: die "Bankenund Euro-Rettung (2008 bis 2011)", die "Masseneinwanderung" (2015), die "Corona-Maßnahmen" ("Entmündigung, Aussetzung von Grundrechten, Zerstörung von Existenzen und von Selbständigkeit mit einem Federstrich, Entwürdigung, Quälerei, Angstpolitik") und die gegenwärtige vierte Welle. Die "vierte Welle", präzisierte Kubitschek, treffe auf eine "waidwunde und noch einmal dünner gewordene Schicht", der nicht geholfen werden könne und die sich nicht helfen lassen wolle. Dabei gehe es nicht um einen "Aufstand für die gefährdete Konsumfreiheit", sondern um eine "tiefere Ebene". Am 2. September ergänzte Kubitschek in der Sezession, dass sich Wähler zum ersten Mal in ihrem Leben vom "Kartell der Altparteien" abwenden könnten, "wenn sich eine zugleich kämpferische und vertrauenswürdige Alternative präsentierte". Diese Zielsetzung sei "bescheiden, aber realistisch". Absicht sei es, so Kubitschek, die Gesellschaft weiter zu polarisieren: "Diejenigen, die etwas anrichten[,] und diejenigen, die es auszubaden haben, müssen einander noch fremder werden". "Das patriotische Protestmilieu stärker ausbauen" | Am 20. September zog Martin Sellner in der Sezession drei Schlussfolgerungen: * "Die Dezentralisierung und Regionalisierung des Coronawiderstands in den Montagsdemos führte offenbar zur Bildung dauerhafter lokaler Mobilisierungspotentiale". * Die Proteste dokumentierten das "erste Scheitern der Linken". * "Die dritte Lektion aus der ersten Demowelle lautet [...], dass die [von Kubitschek als solche bezeichnete] ,4. Welle' einen Nachbrenneffekt hat". Mit dem Begriff "Nachbrenneffekt" zielte Sellner auf folgende im "Zuge des Ukrainekrieges" nach seiner Auffassung virulent gewordene Faktoren: die "massive Verarmung, die Preissteigerung und die Zerstörung der deutschen Industrie". Als Konsequenz werde ein "großer Teil des Mittelstands ins Prekariat" und dieses Prekariat dann "wohl unweigerlich ins Elend" stürzen. Vor dem Hintergrund dieser Annahme stimmten Sellner und Kubitschek darin überein, den "Fokus auf den Osten" Deutschlands zu richten: Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 145 RECHTSEXTREMISMUS "Dort kann man am ehesten aus metapolitischer Dominanz auf der Straße sowie in den Medien parlamentarische Gestaltungsmacht werden. In der Flut, die uns nach vorne tragen kann, müssen rechtzeitig Pflöcke in die politische Landschaft geschlagen werden, bevor Ebbe und Repression uns wieder zurückdrängen". Angesichts dieser auf Langfristigkeit und Beharrlichkeit angelegten Strategie der Übernahme der "kulturellen Hegemonie" klammerte Sellner "strategische Irrwege wie eine militante Machtübernahme oder quasireligiöse Hoffnungen von Q-Anon bis Putin" aus. Stattdessen akzentuierte er die Bedeutung der "Leitstrategie der Reconquista, in der politische Gestaltungsmacht durch metapolitische Dominanz erlangt wird". Das Konzept der "Reconquista", ein zentraler Begriff in der "Weltanschauung" der IB, bestehe, so Sellner, im "Aufbau von ,people power' durch Demonstrationen, Aktionen, Elitenbildung, Kultur und Öffentlichkeitsarbeit". Hinzu kämen "Theoriebildung, Gegenöffentlichkeit, Gegenkultur und Bewegung". Selbst wenn es nicht möglich sei, so Sellner, die "hochgesteckte[n] Ziele" des "rechten Lagers" in naher Zukunft zu erreichen, sei es in jedem Fall möglich, das "patriotische Protestmilieu stärker auszubauen", das heißt im Rahmen der aktuellen Gegenwehr einen "Raumgewinn" zu erzielen. "Verlagerung des öffentlichen Diskurses in Richtung radikalerer Positionen" | Das Wachsen dieses "sozialen Milieus" bzw. dieser "metapolitischen" (vorpolitischen) "tieferen Ebene" in der Gesellschaft will die Neue Rechte forcieren. In "dem Osten" sieht sie aufgrund der dort seit Jahren wachsenden Unzufriedenheit mit der Demokratie, neuerdings gekoppelt mit sozialökonomischen Abstiegsund Verlustängsten in der Mittelschicht, einen geeigneten Anknüpfungspunkt zur Verbreitung ihrer rechtsextremistischen Ideologie. Vor diesem Hintergrund propagierte die Neue Rechte die Auffassung, dass es im Zuge der Proteste nicht zu einem revolutionären Bruch kommen werde. Sie wolle sich vielmehr an dem Geschehen beteiligen, so Kubitschek am 26. August in der Sezession, nicht nur "weil es sich so gehört", sondern "weil wir vielleicht etwas zurechtbiegen, verbessern, eindämmen, anheizen können". Das Prinzip des häufig nicht direkt wahrnehmbaren Verschiebens der Grenzen des Denkund Sagbaren, dessen sich die Neue Rechte dabei zum Beispiel mittels der GU bedient, wird unter anderem in der Kommunikationswissenschaft als "Mainstreaming" bezeichnet, das heißt, so die Kommunikationswissenschaftler Josephine B. Schmitt, Danilo Harles und Diana Rieger (2020), als ein Prozess, "bei dem eine langsame Verlagerung des öffentlichen Diskurses in Richtung radikalerer Positionen geschieht - ohne dass notwendiger146 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS weise eine Assoziation dieser Positionen mit denen radikaler Sender*innen entsteht [...]. Themen, die früher als rechtsextrem galten, sollen als politisch mittig bzw. konservativ wahrgenommen werden, gleiches gilt für die Verwendung bestimmter Formulierungen und Begriffe (z. B. ,Überfremdung', ,Flüchtlingswelle') - Begriffe, welche Personen, die als ,anders' gelesen werden, entmenschlichen". Das Ziel: Aufweichen des antiextremistischen Konsenses | Für die Neue Rechte bildete der "heiße Herbst" also lediglich einen Zwischenschritt auf dem langen Weg, der sie bzw. insgesamt den Rechtsextremismus zur Überwindung des "Systems" durch eine "Kulturrevolution von rechts" führen soll. Das Protestgeschehen soll als weiteres Instrument dienen, um im "metapolitischen" Kampf den dominierenden Einfluss auf die Zivilgesellschaft zu gewinnen. In diesem Rahmen ist es das dauerhafte Bestreben der Neuen Rechten, den Bereich des Worts und des Gedankens zu erweitern, sodass die demokratische Mehrheitsgesellschaft dauerhaft für eine rechtsextremistische "Weltanschauung" empfänglich wird. Vor diesem Hintergrund ist trotz nachlassender Proteste gegen Inflation, Preissteigerungen und Regierungsmaßnahmen keine Entwarnung zu geben, sodass es gilt, die Bestrebungen der Neuen Rechten weiterhin genau zu beobachten. Die Neue Rechte versucht, die Grenzen zwischen dem Rechtsextremismus und dem nichtextremistischen Spektrum bis tief hinein in die Gesellschaft zu verwischen und damit den antiextremistischen Konsens aufzuweichen. Damit würde in der Gesellschaft im Sinne der von der IB propagierten "Reconquista" die Anschlussfähigkeit an rechtsextremistischen Positionen steigen. KOMMUNIKATIONSSTRATEGIEN VON RECHTSEXTREMISTEN Durch die stetige Entwicklung des Internets und die daraus resultierenden Möglichkeiten der Kommunikation verändern sich immer wieder die Strategien und Taktiken der Rechtsextremisten. Soziale Netzwerke wie etwa Facebook, Blogs, Videoplattformen (zum Beispiel YouTube) sowie eigene Internetauftritte wie Homepages, Nachrichtenportale oder Foren sind für Rechtsextremisten wichtige Hilfsmittel für die digitale Verbreitung ihrer Propaganda, da sie mit wenig Aufwand ein breites Publikum erreichen können. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 147 RECHTSEXTREMISMUS AUF EINEN BLICK * Offene und versteckte Propaganda * Erhöhte Sensibilisierung * Onlineradikalisierung * Intensivierung der Bekämpfungsansätze Offene und versteckte Propaganda | Die fortschreitende Digitalisierung hat die rechtsextremistische Szene nachhaltig verändert und das Entstehen einer Reihe von neuen Anlaufpunkten, Akteuren und Aktionsformen bewirkt. Rechtsextremisten bzw. rechtsextremistische Organisationen nutzen das Internet einerseits, um offen für ihre Ideen und Aktivitäten zu werben und um Gleichgesinnte zu gewinnen; andererseits gehen sie konspirativ vor und rufen zum Beispiel Initiativen ins Leben, die auf den ersten Blick keinen rechtsextremistischen Hintergrund vermuten lassen, sondern Themen ansprechen, die beim Großteil der Bevölkerung auf Ablehnung stoßen (zum Beispiel Kindesmissbrauch). Hierüber suchen Rechtsextremisten besonders den Kontakt zu Menschen, die bisher keinen Bezug zum Rechtsextremismus hatten. Neben Internetplattformen nutzen Rechtsextremisten verschiedene Messengerdienste wie WhatsApp, Threema, Telegram oder Signal, um untereinander zu kommunizieren, Veranstaltungen zu planen oder Absprachen zu treffen. Erhöhte Sensibilisierung | Die Möglichkeit eines Zugriffs staatlicher Sicherheitsbehörden auf persönliche Daten und die interne Kommunikation sorgt bei Rechtsextremisten für eine erhöhte Sensibilisierung. So werden Leitfäden erstellt und Sicherheitsschulungen durchgeführt, um Anleitungen für konspirative Verhaltensweisen bei der Kommunikation in der rechtsextremistischen Szene zu verbreiten. Diese sollen dazu dienen, nicht in den Fokus von Sicherheitsbehörden zu geraten bzw. sich diesem Zugriff zu entziehen. Weiterhin nutzen Rechtsextremisten geschlossene Gruppen in sozialen Netzwerken und Messengerdiensten, zu denen nur bestimmte - meist im Vorfeld ausgewählte - Szeneangehörige Zugang erhalten. Onlineradikalisierung | Es besteht die Gefahr, dass Rechtsextremisten sich im Rahmen derartiger internetgestützter "Echokammern" oder "Filterblasen" gegenseitig in ihrer Radikalisierung bestärken, ohne dass in der "realen" Welt ein Kennverhältnis zueinander besteht. Für die nachrichtendienstliche Arbeit der Verfassungsschutzbehörden resultiert hieraus das Problem der Aufklärung dieser digitalen Räume, wobei es gilt, Informationsfragmente der virtuellen und "realen" Welt miteinander zu verbinden und zu analysieren. Intensivierung der Bekämpfungsansätze | Vor diesem Hintergrund wurde neben den bereits bestehenden operativen und analytischen 148 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Maßnahmen die Internetbearbeitung weiterhin intensiviert, um insbesondere gewaltorientierte Gruppierungen und Einzeltäter sowie deren Kennverhältnisse und Kommunikationswege frühzeitig identifizieren zu können. Gleiches gilt für die intensivere Bekämpfung von rechtsextremistischer Hate Speech sowie von anderen rechtsextremistischen digitalen Inhalten. Diese Arbeit des LfV steht im Kontext des 2019 durch die Hessische Landesregierung vorgestellten Aktionsprogramms "Hessen gegen Hetze". FLÜCHTLINGE IM VISIER VON RECHTSEXTREMISTEN Wie auch in den zurückliegenden Jahren bildeten Flüchtlinge und die Flüchtlingspolitik relevante Themen in der rechtsextremistischen Agitation in Hessen. Mit der Angst vor angeblicher "kultureller Überfremdung" sollten Ressentiments und weitere Ängste in der Bevölkerung geschürt werden. Gegenüber dem Vorjahr erhöhten sich die rechtsextremistischen Straftaten von 33 (2021) auf 42. Die fremdenfeindliche Agitation von Rechtsextremisten barg weiterhin das Risiko, dass sich Einzelpersonen und Gruppierungen radikalisieren, was zum Begehen schwerster Straftaten - unter anderem gegen Flüchtlinge - führen kann. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 149 RECHTSEXTREMISMUS AUF EINEN BLICK * Straftaten gegen Asylund Flüchtlingsunterkünfte * Straftaten gegen Asylbewerber und Flüchtlinge * Straftaten gegen Hilfsorganisationen und Helfer * Bewertung/Ausblick Straftaten gegen Asylund Flüchtlingsunterkünfte | In Hessen kam es im Berichtszeitraum insgesamt zu acht (2021: drei) Straftaten, die sich gegen Asylund Flüchtlingsunterkünfte richteten. Sechs dieser Straftaten wurden der PMK - rechts - zugeordnet. Gegenüber dem Vorjahr verdoppelten sich somit die in diesem Kontext stehenden Straftaten, wobei es zu keinen Gewaltdelikten kam. Straftaten gegen Asylbewerber und Flüchtlinge | Die Zahl der gegen Asylbewerber und Flüchtlinge gerichteten Straftaten stieg im Berichtsjahr in Hessen von 31 (2021) auf 37 an. Davon fielen 36 in den Bereich der PMK - rechts - (2021: 30). Hierzu zählten vier Gewaltdelikte (2021: zwei): ein Fall von Körperverletzung in Wiesbaden und drei Fälle von gefährlicher Körperverletzung in Fulda (Landkreis 150 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS Fulda), Wiesbaden und Offenbach am Main. Dabei ist der Fall in Fulda besonders erwähnenswert: Dort attackierten die stark alkoholisierten Beschuldigten aus einer mutmaßlich fremdenfeindlichen Motivlage heraus verbal zwei Brüder, das heißt ein Kind und einen Jugendlichen. Anschließend traten und schlugen sie die Brüder und warfen einem von ihnen eine Bierdose ins Gesicht, woraufhin dieser mit einer Gehirnerschütterung und anderen Verletzungen in ein Krankenhaus aufgenommen werden musste. Straftaten gegen Hilfsorganisationen und Helfer | Wie 2021 wurden im Berichtsjahr in Hessen gegen Hilfsorganisationen sowie ehrenamtliche und freiwillige Helfer keinen Straftaten festgestellt. Bewertung | Im Berichtsjahr gab es einen signifikanten Anstieg der Straftaten im Bereich PMK - rechts - von 33 (2021) auf 42. Damit wurde im Fünfjahreszeitraum von 2018 bis 2022 nach dem Jahr 2020 (70) die zweithöchste Zahl an Straftaten erreicht. Insbesondere die Zunahme der Straftaten gegen Asylund Flüchtlingsunterkünfte (plus fünf) und der Straftaten gegen Asylbewerber und Flüchtlinge (plus sechs) belegen eine zunehmende Tendenz der besorgniserregenden Agitation in diesen Themenfeldern. Vor dem Hintergrund der im Berichtsjahr feststellbaren Zunahme der nach Deutschland einreisenden Flüchtlinge ist davon auszugehen, dass sich die entsprechende rechtsextremistische flüchtlingsfeindliche Propaganda verstärken wird. Diese Agitation ist ein klassisches rechtsextremistisches Thema und bietet Rechtsextremisten traditionell ein großes Mobilisierungspotenzial. Unverändert besteht die Gefahr, dass gewaltorientierte Rechtsextremisten den Anstoß zu Gewalttaten geben bzw. selbst schwerwiegende Straftaten gegen Flüchtlinge und/oder Flüchtlingsunterkünfte begehen. Es ist damit zu rechnen, dass die Themen "Flüchtlinge" und "Flüchtlingspolitik" vor dem Hintergrund der unabsehbaren internationalen Entwicklungen auf unbestimmte Zeit Gegenstand des in Teilen kontrovers geführten gesellschaftlichen und medialen Diskurses bleiben werden. Die in der Vergangenheit häufig beobachtbaren Bemühungen von Rechtsextremisten, die Themen "Flüchtlinge" und "Flüchtlingspolitik" zu missbrauchen, um die Anschlussfähigkeit bzw. angebliche Legitimation der eigenen extremistischen Ideologie zu steigern, lassen erwarten, dass diese Themen wieder einen wesentlich höheren Stellenwert im Rechtsextremismus einnehmen werden. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 151 RECHTSEXTREMISMUS RECHTSEXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN Im Berichtszeitraum wiesen in Hessen 1.051 politisch motivierte Strafund Gewalttaten einen rechtsextremistischen Hintergrund auf. Dies stellt im Vergleich zum Jahr 2021 einen Anstieg um 105 Delikte (= elf Prozent) dar. Diese Zahl resultierte insbesondere aus der Zunahme im Bereich "andere Straftaten" von 858 (2021) auf 965 Delikte, was einem Plus von zwölf Prozent entspricht. Dabei zählten zu den "anderen Straftaten" vor allem Propagandadelikte. Auch im Bereich der rechtsextremistischen Gewalttaten war im Berichtsjahr ein Anstieg zu verzeichnen. Mit 50 Gewalttaten stieg die Zahl gegenüber dem Jahr 2021 (42) um 19 Prozent. Die Gewalttaten setzten sich hierbei überwiegend aus Körperverletzungsdelikten zusammen. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Gesamtentwicklung der rechtsextremistischen Delikte und deren mögliche Ursachen - insbesondere die der Gewalttaten - seitens der Sicherheitsbehörden weiterhin genau im Blick zu behalten. 152 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 RECHTSEXTREMISMUS (Siehe im Glossar unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität zur Erfassung politisch motivierter Strafund Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 153 RECHTSEXTREMISMUS 154 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Unter der Bezeichnung Reichsbürger und Selbstverwalter fasst der Angehörige: Verfassungsschutz Gruppierungen und Einzelpersonen zusammen, In Hessen etwa 1.100, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Bebundesweit rund 23.000 gründungen das Grundgesetz, die Bundesrepublik Deutschland Medien: und deren Rechtssystem, die Staatsorgane und die demokratisch Internetpräsenzen gewählten Repräsentanten nicht anerkennen und ihnen die Legiti- \ mation absprechen. Reichsbürger propagieren das Fortbestehen eines historischen Deutschen Reichs, Selbstverwalter erfinden Fantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium. Insgesamt erkennen Reichsbürger und Selbstverwalter die Staatlichkeit und die Souveränität der Bundesrepublik nicht an. Sie definieren sich als außerhalb der geltenden Rechtsordnung stehend und fordern Behörden sowie Gerichte auf, behördliches Handeln einzustellen. Darüber hinaus können sich Bestrebungen von Reichsbürgern und Selbstverwaltern auch gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten. Wenn solche Aktivitäten mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, steht dies nicht mit dem Gedanken der Völkerverständigung in Einklang. Insgesamt sind Reichsbürger und Selbstverwalter in hohem Maße bereit, gegen Gesetze zu verstoßen. Um die eigene Weltanschauung zu verbreiten, sich auszutauschen und sich zu vernetzen, ist das Internet das vornehmliche Medium der Reichsbürger und Selbstverwalter. Mittels Internetseiten, Videoportalen oder Präsenzen auf Social-Media-Plattformen prangert die Szene angebliche Missstände sowie deren angebliche Verursacher an und verbreitet, teilt und diskutiert vermeintliche Lösungsund Argumentationsstrategien. Auch außerhalb des virtuellen Raums versucht die Szene ihre Ideologie zu ver156 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER festigen, in die Öffentlichkeit zu tragen und hier Stellung zu einzelnen Sachverhalten zu beziehen. Das Handlungsspektrum umfasst etwa Demonstrationen, Kundgebungen, Schulungsveranstaltungen, Vernetzungstreffen, Flyeraktionen und Rundschreiben. Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachten die Reichsbürger und Selbstverwalter seit dem 22. November 2016 in Gänze. AUF EINEN BLICK * Heterogene Szene * Rechtsextremistische Positionen innerhalb der Szene * Strukturen innerhalb der Szene * Exekutivmaßnahmen im Dezember * Personenpotenzial * Entzug von waffenrechtlichen Erlaubnissen * Widerstand gegen Staat und Verwaltung * "Malta-Masche" * Deliktfelder * Bewertung Heterogene Szene | Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter weist einen hohen Grad an Heterogenität auf, die sich sowohl in einer Vielzahl an Gruppierungen und Einzelpersonen als auch in einem breiten Spektrum an Weltanschauungen widerspiegelt. So umfasst die Szene Protagonisten von Verschwörungsnarrativen, Rechtsextremisten, Leichtgläubige, finanziell Gescheiterte sowie sogenannte Milieumanager, die vornehmlich kommerzielle Ziele verfolgen. Anhänger von Verschwörungsnarrativen sind davon überzeugt, dass die Bundesrepublik Deutschland kein souveräner Staat, sondern lediglich eine fremdbestimmte Kolonie respektive ein kommerziell ausgerichtetes Wirtschaftskonstrukt sei. Kontrolliert würden diese Gebilde von den Alliierten, Einzelpersonen oder Geheimlogen. Neben Verschwörungsnarrativen finden sich geschichtsrevisionistische, fremdenfeindliche, rassistische, antisemitische sowie fundamentalistisch-christliche und esoterische Positionen wieder. Personen, die durch den Vertrieb von Fantasiedokumenten oder durch das Anbieten von Rechtsberatungen, Seminaren und Schulungen vornehmlich versuchen, aus der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter finanziellen Profit zu schlagen, werden innerhalb des Phänomenbereichs den "Milieumanagern" zugerechnet. Diese versuchen durch Produktangebote aus dem unpolitischen Esoterikspektrum sowohl ihren Umsatz unter Reichsbürgern und Selbstverwaltern zu steigern, als auch unter noch unpolitischen Anhängern der Esoterikszene extremistische Verschwörungsnarrative zu verbreiten. "Milieumanager" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 157 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER befördern dadurch die Radikalisierung von Reichsbürgern und Selbstverwaltern. Rechtsextremistische Positionen innerhalb der Szene | In der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter wird sichtbar, wie verschiedene Versatzstücke einzelner Verschwörungsnarrative für die eigene Weltsicht herangezogen und nutzbar gemacht werden. Zwar ist die Szene ihrem Wesen nach nicht originär rechtsextremistisch, dort, wo jedoch antisemitische, rassistische und nationalistische Argumentationsmuster aufeinandertreffen, sind die Anhänger entsprechender Positionen als rechtsextremistisch zu bewerten. Für Hessen sind rund 150 Personen bekannt, die sowohl als Reichsbürger und Selbstverwalter als auch als Rechtsextremisten bewertet werden. Strukturen innerhalb der Szene | Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Ansichten und Beweggründen in der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter wies diese keine allgemein anerkannten Strukturen oder Organisationen auf. So war das Gros des der Szene in Hessen zuzurechnenden Personenpotenzials nicht organisiert oder strukturell eingebunden. Zugleich nahmen im Berichtsjahr erneut die Aktivitäten zu, die für bzw. durch Szenegruppierungen durchgeführt wurden. Darunter fielen Bemühungen, das eigene verschwörungsnarrative Weltbild und szenetypische Narrative zu verbreiten sowie Schulungsund Vernetzungsveranstaltungen durchzuführen. In diesem Kontext sind insbesondere die Aktivitäten folgender Gruppierungen zu nennen: Königreich Deutschland (KRD) und Vaterländischer Hilfsdienst (VHD). Das KRD wurde 2009 zunächst als Verein NeuDeutschland von Peter Fitzek gegründet. Seit 2012 trat er als "König" bzw. "Oberster Souverän" der sektenähnlichen Gruppierung KRD in Erscheinung. Gemeinsam mit seinen Anhängern negierte Fitzek die hoheitlichen Befugnisse sowie die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland auf dem "Hoheitsgebiet" des KRD. Als Alternative zu den herkömmlichen Strukturen der Bundesrepublik versuchte das KRD eigene staatsähnliche Strukturen zu etablieren. Als das Ziel dieser Bestrebungen wurde der "Gemeinwohlstaat" beschrieben. Dazu sollten Unternehmen geworben, "Gemeinwohlkassen" gegründet und "Dorfprojekte" umgesetzt werden. Im Berichtszeitraum gab es in Hessen mehrere Unternehmen, die dem eigenen Bekunden nach dem KRD angehörten. So wurde im Frühjahr in Hasselroth (Main-Kinzig-Kreis) versucht, eine Immobilie öffentlichkeitswirksam als Lebensmittelgeschäft und Projektzentrum des KRD auszubauen. Zivilgesellschaftlicher Protest und das Zusam158 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER menwirken von Sicherheitsund Kommunalbehörden verhinderten das Unterfangen. Gegen Ende des Berichtsjahrs eröffnete der dem KRD zuzurechnende Verein LebensGlück e. V. in Frankfurt am Main ein Restaurant. Ziel war es unter anderem, dort Veranstaltungen durchzuführen. Obwohl diese nicht zwangsläufig eine Nähe zum KRD aufweisen müssen, ist davon auszugehen, dass die mitunter unpolitisch wirkenden Veranstaltungen zu Werbezwecken für das KRD genutzt werden. Darüber hinaus kann das Restaurant als Anlaufstelle für Personen, die dem KRD zuzurechnen sind, dienen. Der VHD als eine Untergruppierung der 2018 gegründeten Organisation Bismarcks Erben (auch Ewiger Bund oder Preußisches Institut) behauptete, dass das Deutsche Kaiserreich fortbestehe und sich noch immer in einem "Kriegsund Belagerungszustand" befinde. Ziel der Gruppierung war die Wiederherstellung der rechtlichen Zustände des Deutschen Kaiserreichs unter der Führung des Oberhaupts des Hauses Hohenzollern. Infolgedessen versuchte der sich in 24 "Armeekorpsbezirke" aufgliedernde VHD dem "Thronfolger" das Einnehmen seines "rechtmäßigen Platzes" zu ermöglichen, da nur "der deutsche Kaiser [...] zur Beendigung des Kriegsund Belagerungszustandes berechtigt" sei. Im Berichtsjahr führte der VHD mehrfach Veranstaltungen in Hessen durch. Den regionalen Schwerpunkt bildete Südhessen, insbesondere der Raum Darmstadt, in dem der "XVIII. Armeekorpsbezirk" des VHD regelmäßig Veranstaltungen abhielt. Darüber hinaus führte der VHD wie bereits im Jahr 2021 weitere "Fanale-Aktionen" durch, bei denen Mitglieder der Gruppierung an Bismarckdenkmälern Leuchtkörper entzündeten. Teilnehmer filmten diese Aktionen und verbreiteten sie sodann in Videomontagen auf den Kanälen des VHD. Im Berichtsjahr kam es in Hessen vereinzelt zu Nachfolgeaktivitäten der 2020 verbotenen Vereinigung Geeinte Deutsche Völker und Stämme. Der Organisation zuzurechnende Personen richteten reichsbürgertypischen Schreiben an Behörden und wurden öffentlichkeitswirksam tätig, indem sie das vermeintlich eigene Staatsgebiet markierten. So stellten im Frühjahr Angehörige der Gruppierung Schilder im Reinhardswald (Landkreis Kassel) auf, die das Gebiet als Eigentum einer Führungsperson der Geeinten Deutschen Völker und Stämme ausgab und unter deren Schutz stellte. In der zweiten Jahreshälfte wurden vermehrt Aktivitäten der Gruppierung Indigenes Volk Germaniten bekannt. In Mittelhessen versuchte die Gruppierung erfolglos, eine Veranstaltung durchzuführen, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 159 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER und verschickte reichsbürgertypische Schreiben an öffentliche Stellen. Exekutivmaßnahmen im Dezember | Am 7. Dezember gingen die Sicherheitsbehörden in einer bundesweit koordinierten Aktion gegen mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer einer Gruppierung vor, die sich die gewaltsame Beseitigung der staatlichen Ordnung in Deutschland sowie eine anschließende Machtübernahme zum Ziel gesetzt hatte. Unter den Betroffenen befanden sich auch in Hessen wohnhafte Personen. Mehr als 3.000 Polizisten waren im Einsatz, über 160 Objekte wurden durchsucht und 25 Personen festgenommen. Zahlreiche legale und illegale Waffen wurden gefunden (darunter Langwaffen) sowie Faustfeuer-, Schreckschussund Gasdruckwaffen sowie Datenträger, Namenslisten und andere Unterlagen der Gruppierung. Der GBA warf den Beschuldigten vor, Mitglieder oder Unterstützer einer terroristischen Vereinigung zu sein. Personenpotenzial | Insgesamt unterschied sich das Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter in Hessen von dem anderer extremistischer Phänomenbereiche auch durch seine Zusammensetzung. Waren andere Extremisten häufig junge Erwachsene oder befanden sie sich im Übergang zum Erwachsenenalter, lag das Durchschnittsalter bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern bei 54 Jahren. Knapp 75 Prozent der Szeneangehörigen waren männlich. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wies die Szene zudem einen unterdurchschnittlichen Anteil an Akademikern auf. Entzug von waffenrechtlichen Erlaubnissen | Der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter ist eine hohe Waffenaffinität zu eigen. In Bezug auf waffenrechtliche Erlaubnisse und Schusswaffenbesitz gilt für Reichsbürger und Selbstverwalter - wie auch für andere extremistische Phänomenbereiche - eine Nulltoleranzstrategie der hessischen Sicherheitsbehörden. So wurden durch die enge Zusammenarbeit der hessischen Sicherheitsund Waffenbehörden zahlreichen Reichsbürgern und Selbstverwaltern die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und deren Schusswaffen sichergestellt. Auch in Zukunft ist es das erklärte Ziel der Hessischen Landesregierung und der hessischen Sicherheitsbehörden, dass kein ihnen bekannter Reichsbürger oder Selbstverwalter waffenrechtliche Erlaubnisse oder Legalwaffen besitzt bzw. Legalwaffen im Fall des Besitzes entzogen werden. Widerstand gegen Staat und Verwaltung | Reichsbürger und Selbstverwalter bringen ihre Gesinnung auf unterschiedlichste Art und 160 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Weise zum Ausdruck: verbale Äußerungen gegenüber Polizisten und anderen Behördenmitarbeitern, Flucht vor polizeilichen Personenkontrollen, Widerstand gegen gerichtlich angeordnete Zwangsvollstreckungen oder die Rückgabe von amtlichen Identitätsnachweisen. Das Gros der Reichsbürger und Selbstverwalter wendet sich aber mit schriftlichen Eingaben an Behörden und deren Mitarbeiter, um die eigene Weltsicht argumentativ zu verdeutlichen, etwaige Strafen zu vermeiden und Ämter an ihrem rechtmäßigen Handeln zu hindern. Dieses Vorgehen ist auch unter dem Begriff paper terrorism bekannt. Der hohe Grad der Heterogenität der Szene spiegelt sich auch in der Art und in dem Umfang solcher Eingaben wider. Während ein Teil der Szene auf Vordrucke aus dem Internet zurückgreift, verfasst ein anderer Teil mitunter umfangreiche Schriftstücke, Pamphlete oder "Rechtsgutachten". Im Berichtsjahr beteiligten sich Szeneangehörige vermehrt an Demonstrationen gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen"; auch nahm die Zahl entsprechender szenetypischer Schreiben zu. In einigen Fällen verschärfte sich der Tonfall solcher Schreiben. Dabei erstreckte sich das Ausdrucksspektrum von aggressiveren Äußerungen über Gewaltbis hin zu konkreten Todesdrohungen. So war im Berichtsjahr weiterhin die bereits in der Vergangenheit beobachtete gewachsene Radikalität in Teilen der Szene wahrzunehmen. Das galt ebenso für die anhaltend hohe Bereitschaft, die Souveränität und das Gewaltmonopol des Staates in Frage zu stellen. Verschwörungsnarrative wirken häufig als "Brandbeschleuniger" und können Radikalisierungsprozesse von Gruppierungen und Einzelpersonen begünstigen. Zudem sind Verschwörungsnarrative aus Sicht ihrer Anhänger dazu geeignet, selbst schwerste (Gewalt-)Straftaten zu legitimieren. Entsprechende Erklärungsmuster fanden sich auch in Schreiben wieder, mit denen sich Reichsbürger und Selbstverwalter an Behörden, Amtsträger oder Mandatsträger wandten, zum Beispiel: "Nichteinlassung Gegen folgende nichtige Verwaltungsakte mit Datum [...] Zu allererst bin ich nicht die oben aufgeführte [juristische] Person. [...} Zusammenfassend als Resümee 1. ich, die natürliche Person [...] weise alle - ungültigen - Forderungen aus dem besagten Schreiben zurück und lasse mich auf nichts ein. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 161 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER 2. ich bin immer die Gläubigerin, ihr - als ordentliche Verwaltung, wie es sich gehörte seit immer der Schuldner. Denn ohne meine Wertschöpfung könnt ihr gar Nichts. 3. ich nehme, falls sich die Okkupationsverwaltung dazu verleiten sollte, jeden Einzelnen von euch in die vollumfängliche private Haftung, will es eben keine Staatshaftung seit 1982 mehr gibt. 4. Der Bußgeldbescheid als Ursache ist schon Illegal gewesen. Es gab überhaupt kein Gesetz. Zudem hat auch diese "Empfehlung" keni [angeblicher] Minister unterschrieben (weil: Wer schreibt, der bleibt!) 5. Sollte es dennoch die Firma 'Landkreis Gießen' in Erwägung ziehen, diesen Zwang gegenüber meiner natürlichen und / oder juristischen Person umzudeuten, werde ich denjenigen vor ein Gericht bringen, sicherlich vor ein Scheingericht der Firma 'Bund / Germany' [...] Ich hoffe inständigst, daß es noch bei euch den Einen oder Anderen gibt, der noch nicht von Corona so sehr geschädigt ist, daß bei ihm oder ihr wenigstens noch ein paar [...] Stammhirnzellen funktionieren und daß dieser auch die Schnauze voll hat von dem ganzen satanischen Scheiß-Spiel da draußen Denn es wird allerhöchste Zeit dafür. Es sind schon genug Kinder gefressen, vergewaltigt, zu Adrenochrom verarbeitet worden. Und alles im Namen der - ach so feinenKirche!!!" (Schreibweise wie im Original.) Dieser Auszug steht beispielhaft für eine Vielzahl an Schreiben, die Angehörige der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter an Behörden und Behördenvertreter schicken. Das Schreiben enthält verschiedene szenetypische Narrative, es besitzt keine stringente Struktur und ist zusammenhanglos verfasst. Der Adressat wird persönlich angeschrieben, verleumdet und bedroht. Durch diese Einschüchterungsmethoden wird versucht, von den Adressaten Handlungen zu erzwingen. Zudem fügen Szeneangehörige ihren Schreiben häufig sogenannte Lebendoder Willenserklärungen bei, mittels derer sie sich in Gänze außerhalb der geltenden Rechtsordnung stehend definieren: "Werte [...], mit dem heutigen Schreiben an Sie werden Sie aufgefordert, eine Lizenz/Genehmigung, nach SHAEF-Gesetz, vorzulegen. Bitte weisen Sie ihre Legitimation der Alliierten nach, die Sie berechtigt, sogenanntes ,Bundesrecht' den Deutschen gegenüber zur Anwendung zu bringen! Auch sogenannte BRD-Bürgermeister und Landräte brauchen diese. Der Internationale Strafgerichtshof ISTHG in Den Haag hat in seinem Gerichtsurteil vom 03.02.20212 bestätigt, dass in allen Rechtsanagelegenheiten allein die Zuständigkeit des Deutschen Reiches, nicht 162 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER aber die der BRD gegeben ist - welche nicht der Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches ist, und somit ist auch nicht die Zuständigkeit der ,Bundesrepublik Deutschland' - BRD (der Firma BRD Finanzagentur GmbH (HRB 51411) gegeben und rechtsverbindlich zu exekutieren ist! Nach wie vor gelten in der BRD Militärrecht und S.H.A.E.F.-Gesetzte und stehen somit unter alliierter Besatzung". (Schreibweise wie im Original.) Reichsbürger und Selbstverwalter reichern ihre "Argumentationsketten" häufig mit tatsächlich vorhandenen Rechtsnormen an. Dadurch sollen ihre Schreiben eine juristische Anmutung erhalten und die Behörden beschäftigt und die Adressaten eingeschüchtert werden. Klassische Szeneschreiben entfalten allerdings keine Rechtsgültigkeit, da die aufgeführten Rechtsnormen zum überwiegenden Teil aus dem Zusammenhang gerissen sind und in Verbindung mit fiktiven oder mittlerweile historischen Gesetzen verwendet werden. Mitunter beauftragen Reichsbürger und Selbstverwalter auch Organisationen oder Einzelpersonen, die behaupten, rechtsgültige Gutachten ausstellen zu können, wie nachfolgend aufgeführtes Schreiben der Reichsbürgergruppierung Reichsverband Deutscher Rechts-Konsulenten veranschaulicht: "Unsere wirksame Willenserklärung, mit Anweisung, Auftrag, Antrag in unsere Angelegenheiten mit berechtigtem Interesse unserer Rechtssicherheit im internationalen Rechtsverkehr und unsere Erklärung über das Nichtbestehen, den Verlust, und Verzicht auf die deutsche Staatsangehörigkeit, hinsichtlich unserer durch Abstammung erworbenen Staatsangehörigkeit Preussen auch aufgrund Artikel 5ff., i.V. mit Artikel 6 und 7 Einführungsgesetzt BGB, als auch SSSS17 ff., i.V. mit 18,23,25,26,27,29,30,33,34,35 StAG i.V. mit arglistiger Täuschung und Einforderung zur Aushändigung der Enlassungsurkunde An die Verwaltung, Dienststellen und Organe, als auch alle weiteren Stellen, Angestellte, im Dienst befindliche, Mitarbeiter oder Verantwortliche, hiermit ergeht in dieser, unserer Angelegenheit, unmittelbar und mit sofortiger Wirkung, auch rückwirkend und unserem freien Selbstbestimmungsrecht, durch uns, den Souverän, den lebendig als auch leibhaftigen und mit Verstand begabten Menschen[...] auch vertreten, mit unserer seit Geburt an, vom [...] durch Abstammung, erworbenen natürlichen Person, mit Staatsangehörigkeit Preussen und als Deutscher, als auch nach SS1 ff. BGB und in Angelegenheit unseres berechtigten Interesse, unseres Rechtsschutzbedürfnis, als auch unserer Rechtssicherheit im internationalen Rechtsverkehr, unsere beständig, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 163 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER wirksame Willenserklärung mit Anweisung, Auftrag und Erklärung über das Nichtbestehen, den Verlust und unseren Verzicht auf die deutsche Staatsangehörigkeit, als auch nach Artikel 5 ff., i.V. mit Artikel 6 und 7 Einführungsgesetzt BGB (a.F.), als auch SSSS17 ff., i.V. mit 18,23,25,26,27,29,30,33,34,35 StAG, auch aufgrund des schwerwiegenden Leids, fehlerhafter, als auch arglistiger Täuschung und des somit nichtigen als auch unwirksamen Verwaltungshandeln, auch nach SSSS42 ff., 43, 44 VwVfG (a.F.), in Verbindung mit Personenstandsfälschung, Betrugsversuch, unrichtiger und unvollständiger Angaben und Einträge, mit vorsätzlicher Täuschung im internationalen Rechtsverkehr, auch nach SS35 StAG in Verbindung mit SS47 ff. PstG in Verbindung mit SS169 StGB ff., trotz vielfach erfolgter Hinweise". (Schreibweise wie im Original.) "Malta-Masche" | Reichsbürger und Selbstverwalter versuchten mitunter, sich nicht nur dem behördlichen Zugriff zu entziehen, sondern ihrerseits Behördenmitarbeiter widerrechtlich zu belangen. Hierfür erfanden Reichsbürger und Selbstverwalter im Zuge der "Malta-Masche" Schulden eines Behördenmitarbeiters und trugen diese in das amerikanische Onlineregister Uniform Commercial Code (UCC) ein. Anschließend wurden die Forderungen an ein maltesisches Inkassounternehmen abgetreten, um einen vollstreckbaren Titel nach dem europäischen Mahnverfahren zu erreichen. Nach Ansicht des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz und des Auswärtigen Amts stellt dieses missbräuchliche Verfahren einen Betrugsversuch dar. Eine Durchsetzung ihrer erfundenen Forderungen gelang Szeneangehörigen bislang nicht. Obwohl im Berichtsjahr keine Fälle der "Malta-Masche" in Hessen bekannt wurden, tauchten regelmäßig reichsbürgertypische Schreiben mit Verweis auf das UCC-Register und Drohungen gegenüber Behördenmitarbeitern, diese privat in Haftung zu nehmen, auf. Deliktfelder | Zu den szenetypischen strafrechtlich relevanten Deliktfeldern gehörten Betrug, Hausfriedensbruch, Nötigung und Sachbeschädigung, aber auch Gewaltund Drohdelikte. Da Reichsbürger und Selbstverwalter beanspruchen, Repräsentanten eines wie auch immer gearteten Deutschen Reiches bzw. einer eigenen Staatlichkeit zu sein, kam es zudem regelmäßig zu Amtsanmaßungen, Urheberrechtsverletzungen sowie Fälschungen von Fahrzeugkennzeichen und anderen Urkundenfälschungen. Bewertung | Aufgrund der hohen Heterogenität der Szene der Reichbürger und Selbstverwalter ist eine pauschale Bewertung der von ihnen ausgehenden Gefahren nur eingeschränkt möglich. Gemein ist der Szene jedoch die Negierung der Bundesrepublik Deutschland. Dies führt zur grundsätzlichen Ablehnung jeglicher hoheitlicher 164 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Handlungen, von denen Szeneangehörige betroffen sind. Staatliche Maßnahmen nimmt die Szene als illegitim wahr, weshalb sich aus ihrer Sicht ein selbstdeklariertes, vermeintliches "Recht auf Notwehr" ergibt. Reichsbürger und Selbstverwalter sind bereit, dieses "Recht" auch gegenüber Gerichtsvollziehern oder Polizisten durchzusetzen. In diesem Kontext kommt es immer wieder zu Widerstandshandlungen, in einigen Fällen sogar zum Gebrauch von (Schuss-)Waffen durch Szeneangehörige. Vor diesem Hintergrund ist exemplarisch auf das versuchte Tötungsdelikt zum Nachteil von Polizeibeamten zu verweisen, das sich 2021 in Linden (Landkreis Gießen) ereignete. Dabei bedrohte und beschoss ein Szeneangehöriger im Rahmen einer Wohnungsdurchsuchung die eingesetzten Polizeibeamten mit einer Pistolenarmbrust. Zwar wurde dabei keiner der Polizisten verletzt, dennoch veranschaulicht dieses Beispiel das in Teilen der Szene immanente und nach wie vor hohe Gewaltpotenzial. Zugleich setzte sich die bereits im Zusammenhang mit den "CoronaProtesten" prognostizierte zunehmende Vernetzung und Durchmischung von Teilen der Reichsbürger und Selbstverwalter sowie von Anhängern verschiedener Verschwörungsnarrative fort. Angetrieben von der Motivation, die eigene - häufig als Randerscheinung wahrgenommene - Ideologie bis tief in die Mitte der Gesellschaft zu tragen, werden eigene Positionen zu Gunsten einer erweiterten Anschlussfähigkeit partiell aufgeweicht. Diese Anschlussfähigkeit begünstigt das Entstehen von Schnittmengen unterschiedlicher Milieus und befördert somit das Herausbilden phänomenübergreifender Mischszenen. Trotz eines zu vermutenden begrenzten Wachstumspotenzials stellen diese neuartige Eigendynamik der Vernetzung und der Durchmischung sowie das sich daraus ergebende Risiko neue Herausforderungen dar. Die Dynamik, die aus solchen Mischszenen erwachsen kann, zeigt sich auch in den im Dezember durchgeführten Exekutivmaßnahmen. Die Tatvorwürfe unterstreichen, welche großen Gefahren und Radikalisierungspotenziale von phänomenübergreifenden extremistischen Personenzusammenschlüssen - insbesondere aus den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, Reichsbürger und Selbstverwalter sowie Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates - ausgehen. Dies lässt sich auch als "Entgrenzungsprozess" beschreiben. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 165 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER 166 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DEFINITION/KERNDATEN Im April 2021 richtete der Verfassungsschutzverbund den Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates ein. "Es ist Aufgabe des Verfassungsschutzes", so das BfV, "Bestrebungen, die gegen die Sicherheit des Bundes oder der Länder oder gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, zu identifizieren und aufzuklären. Im Zuge dessen nehmen die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern sehr aufmerksam Phänomene, Gruppierungen und Einzelpersonen in den Blick, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür sprechen, dass ihre Verhaltensweisen darauf gerichtet sind, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen erheblich zu beeinträchtigen". In diesem Kontext richtete das LfV das Sammelbeobachtungsobjekt Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates ein. Unabhängig von der Beobachtung des Rechtsextremismus sowie der Reichbürger und Selbstverwalter wird mit diesem Sammelbeobachtungsobjekt ein neuer Extremismus sui generis bearbeitet. Er wurde in Teilen der Gesellschaft spätestens seit der "Flüchtlingskrise" 2015 und dem verstärkten Aufkommen von Fake News und Verschwörungsnarrativen virulent und artikulierte sich insbesondere 2020/21 im Rahmen der "Corona-Proteste". Nachdem im Zuge der abflauenden COVID-19-Pandemie die staatlichen "Corona-Maßnahmen" im Berichtsjahr schrittweise aufgehoben wurden, wandten sich diesem Sammelbeobachtungsobjekt zuzurechnende Personen einem neuen Themenfeld zu: den aus dem russischen Überfall auf die Ukraine resultierenden sozialökonomischen und politischen Folgen. Dass im Berichtsjahr unvermittelt andere Themen im Vordergrund standen, zeigt, dass es sich bei der Demokratiefeindlichen und/oder sicherheitsgefährdenden Delegitimierung des Staates als Extremismus "eigener Art" um ein dynamisch-flexibel agierendes und offensichtlich andauerndes Phänomen handelt, das weiterhin zu beobachten sein wird. Das LfV ordnet dem Sammelbeobachtungsobjekt Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates Einzelpersonen und Personenzusammenschlüsse zu, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie zu Aktionen gegen staatliche Einrichtungen, gegen die staatliche Infrastruktur oder gegen staatliche Repräsentanten und demokratisch gewählte Entscheidungsträger in ihrer Funktion als Amtsträger ernsthaft und nachdrücklich aufrufen oder sich an solchen Aktionen beteiligen, um die Funktionsfähigkeit des Staats erheblich zu beeinträchtigen. Dem Sammelbeobachtungsobjekt werden auch Bestrebungen zu168 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG geordnet, die durch ein aktives, glaubhaftes und nachdrückliches Vorgehen auf die Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen. Dazu gehören extremistische Bestrebungen, die sich - durch eine agitatorische Verächtlichmachung des Staats sowie dessen Repräsentanten - gegen das Demokratieprinzip richten, die aufgrund ihrer Demokratiefeindlichkeit zu Strafund Gewalttaten aufrufen oder sich auf ein vermeintliches Widerstandsrecht berufen und sich dabei gegen das Rechtsstaatsprinzip richten. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" fanden seit 2020 zahlreiche Protestveranstaltungen statt. Dabei beteiligten sich in Hessen im Berichtsjahr fortlaufend auch Rechtsextremisten sowie Reichsbürger und Selbstverwalter. Gleichzeitig nahmen am Protestgeschehen verschiedene lose strukturierte Zusammenschlüsse von Personen teil, wobei hervorzuheben ist, dass diese größtenteils nicht als extremistisch zu bewerten, einige aber dem Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" zuzuordnen waren. AUF EINEN BLICK * Proteste gegen Inflation und Preissteigerungen * "Heißer Herbst"/"Wutwinter" * Radikalisierungsprozesse - Antisemitismus Proteste gegen Inflation und Preissteigerungen | Extremisten versuchten die mit dem russischen Überfall auf die Ukraine zusammenhängenden Themen "Inflation" und "Preissteigerungen" mit den Protesten gegen die "Corona-Maßnahmen" zu verknüpfen. Ziel war es, die Mitte der Gesellschaft für sich zu gewinnen und für ihre Agenda zu aktivieren. Besonders das parteigebundene rechtsextremistische Spektrum sah in den Protesten ein lohnenswertes Aktionsfeld, um seine Ideologie und Verschwörungsnarrative zu verbreiten. So nahmen Angehörige der NPD und der Partei Der Dritte Weg an Demonstrationen teil; beide Parteien kündigten in den sozialen Medien Veranstaltungen an oder verteilten zum Beispiel regierungskritische Flyer mit dem Titel "Die wahre Krise ist das System". Punktuell beteiligten sich auch Personen aus der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene an den Protesten. Insgesamt war eine Vermischung unterschiedlicher extremistischer Phänomenbereiche auf Kundgebungen und Demonstrationen zu beobachten. Eine der teilnehmerstärksten Veranstaltungen in Hessen fand mit dem "Million March II" am 22. Oktober in Frankfurt am Main statt. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 169 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG Etwa 2.200 Personen sollen an der Großveranstaltung unter dem Motto "Demonstration für Democracy" teilgenommen haben. "Heißer Herbst"/"Wutwinter" | Mit den vor allem in den Medien verwendeten Begriffen "heißer Herbst" und "Wutwinter" wurde das in Teilen der Bevölkerung vorhandene Protestpotenzial in Bezug auf die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der gegen Russland verhängten Sanktionen beschrieben. Es bestand Grund zur Annahme, dass die Themen "Energiesicherheit", "Preissteigerungen", "Inflation" und "Kriegsgeschehen in der Ukraine" neben den üblichen "Corona-Protesten" eine große Anzahl an Menschen gegen Staat und Regierung mobilisieren könnten. Dabei sah auch das LfV die Gefahr, dass sich Extremisten das Mobilisierungspotenzial für eigene Vorhaben bzw. für ihre verfassungsfeindlichen Ziele zunutze machen könnten. Sowohl der "heiße Herbst" als auch der "Wutwinter" blieben jedoch weitgehend aus. Ursachen waren, dass die Corona-Pandemie im Laufe des Berichtsjahrs anfing zu verebben und die "Corona-Maßnahmen" gelockert wurden; außerdem wirkten staatliche Eingriffe der vielerorts befürchteten Energiekrise entgegen. In Hessen nahmen Extremisten zwar am Protestgeschehen teil, eine Unterwanderung des entsprechenden Milieus gelang ihnen aber nicht. Radikalisierungsprozesse - Antisemitismus | Wie bereits 2021 bedienten sich Personen, die dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzurechnen waren, einer radikalen Sprache, in der sie antisemitische und verschwörungsnarrative Elemente miteinander vermischten. So wurde die politische Lage mit der "Parteiendiktatur" einer "zionistisch-jesuitischen Elite" gleichgesetzt. Darüber hinaus wendeten sich einzelne Akteure schriftlich an öffentliche Einrichtungen und Personen des öffentlichen Lebens und setzten dabei die Gegenwart mit der Judenverfolgung oder der Verfolgung Andersdenkender während des Nationalsozialismus gleich. IDEOLOGIE/ZIELE Der Minimalkonsens des im Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates erfassten heterogenen Personenpotenzials besteht darin, sich gegen die "Corona-Maßnahmen" zur Wehr zu setzen bzw. eine Aufarbeitung des aus seiner Sicht ungerechtfertigten politischen Handelns während der Pandemie zu fordern. Auf diese Weise sollen unter anderem Ablehnung und Verachtung in Bezug auf den demokratischen Rechtsstaat artikuliert werden. Dabei unterscheiden sich sowohl die Motive als auch die Instrumentarien und die dabei verwendeten Narrative. Vor allem 170 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG über im Internet und in den sozialen Medien verbreitete Desinformation wird versucht, die demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates gesellschaftsfähig zu machen. AUF EINEN BLICK * Delegitimierung des Staates * Verschwörungsnarrative - Antisemitismus Delegitimierung des Staates | Gleichsetzungen der aktuellen politischen Situation mit Diktaturen oder anderen Unrechtsregimen zielten darauf ab, den öffentlichen Diskurs und somit das Vertrauen der Bevölkerung in die verfassungsmäßige Ordnung und in die demokratisch legitimierte Regierung zu erschüttern. Die agitatorische Verächtlichmachung des Staates sowie seiner Repräsentanten sollen die entsprechend demokratisch legitimierten Entscheidungen und Gesetze delegitimieren und kennzeichnen die ideologische Basis der Personen, die dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzurechnen sind. Diese Akteure sprechen demokratisch getroffenen Entscheidungen die Legitimation ab und sehen sich fälschlicherweise oft in einer angeblich gerechtfertigten Widerstandssituation. Die Akteure beziehen sich dabei häufig auf Art. 20 Abs. 4 GG (Widerstandsrecht). Verschwörungsnarrative - Antisemitismus | Personen, die dem Phänomenbereich zuzuordnen sind, haben eine hohe Affinität zu Verschwörungsnarrativen, die sie im Rahmen von Redebeiträgen, Äußerungen im Internet und in Chatbeiträgen in den sozialen Medien verbreiten. Aber auch auf Demonstrationen fielen etwa Behauptungen, dass "Gift in der Spritze" sei und die Impfungen gegen das COVID-19-Virus das "Gleiche [wäre] wie mit den Versuchen, die in Wapnjarka an Menschen durchgeführt wurden". Damit wird im Kontext der Corona-Pandemie der Eindruck zu erwecken versucht, dass hinter der Impfkampagne staatlich organisierte und illegale Versuche an Menschen stünden. Im Konzentrationslager Wapnjarka, das in der heutigen Ukraine liegt, waren den Insassen während des Zweiten Weltkriegs vergiftete Futtererbsen verabreicht worden. Neben dem Verschwörungsnarrativ des "Great Reset" und unter QAnon-Anhängern üblichen Erzählungen wurden kurze Texte in zumeist kryptischer Form ("Q-Drops") verbreitet. Darin wurde behauptet, dass eine geheime Elite mit Hilfe eines "tiefen Staats" die USA kontrollieren würde, wobei manchmal auch versteckte antisemitische Äußerungen getätigt wurden. Die "Q-Drops" bezogen sich häufig auf das aktuelle Weltgeschehen und wurden durch eine entsprechende Interpretation vermeintlich argumentativ untermauert. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 171 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG Darüber hinaus sprachen Personen, die dem Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates zuzuordnen sind, in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland unter anderem von einer "Corona-Diktatur" und setzten die heutige Zeit mit der des "Dritten Reichs" gleich, sodass die nationalsozialistischen Verbrechen - insbesondere die Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen - verharmlost wurden. BEWERTUNG/AUSBLICK Während Verschwörungsnarrative in der Szene der "CoronaProteste" weiterhin verbreitet sind, wurde mit dem allmählichen Auslaufen der "Corona-Maßnahmen" im Berichtsjahr vermehrt die Forderung nach einer Aufarbeitung des Umgangs mit der Pandemie laut. Da dies ein beständiges Thema bei den "Montagsspaziergängen" war, ist zu vermuten, dass sich diese Forderung fest auf Kundgebungen etablieren wird. Extremisten nutzen diese Forderungen für ihre eigenen Zwecke und versuchen dadurch, für ein breites Publikum anschlussfähig zu sein. Ähnliches gilt für das Thema "Energiekrise", das etliche Menschen als existenzielle Bedrohung empfinden. Die Proteste im Kontext der "Energiekrise" fielen jedoch aufgrund der staatlichen Maßnahmen geringer als im Vorab erwartet aus. Vor diesem Hintergrund gelang es Extremisten nur bedingt, ihre Ansichten in die Mitte der Gesellschaft zu tragen und diese salonfähig zu machen. Obwohl die Zahl der Veranstaltungen und Teilnehmer gegen Ende des Berichtsjahrs im Vergleich zum Herbst kontinuierlich zurückging, ist davon auszugehen, dass Staatsferne und Demokratiefeindlichkeit in der Szene der Gegner der "Corona-Maßnahmen" weiterhin gewichtige Faktoren bleiben werden. Grund ist der russische Überfall auf die Ukraine und die damit verbundenen weltweiten Auswirkungen. Es zeichnete sich eine thematische Verlagerung von der "Corona-Thematik" hin zu der Frage nach der Haltung gegenüber der russischen Aggression, speziell der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine und der Rolle Deutschlands in dem Konflikt, ab. Vermutlich werden sich die Proteste in Abhängigkeit vom weiteren Kriegsgeschehen in der Ukraine entsprechend dynamisch und als Reaktion auf tagespolitische Entscheidungen entwickeln. Das Thema "Corona-Maßnahmen" ist ebenso wie der russische Überfall auf die Ukraine und dessen Auswirkungen ("Energiekrise", "Waffenlieferungen") stark emotional aufgeladen und kann den Nährboden für Radikalisierungen bieten. Diese Gefahr der möglichen 172 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG Radikalisierung darf speziell im Hinblick auf die nur schwerlich prognostizierbare Entwicklung des Krieges auch in Zukunft nicht unterschätzt werden. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 173 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG 174 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS - MERKMALE - LINKSEXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL - AUTONOME UND ANARCHISTEN - SONSTIGE BEOBACHTUNGSOBJEKTE - LINKSEXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN LINKSEXTREMISMUS MERKMALE Die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Errichtung eines totalitären, sozialistisch-kommunistischen Systems oder einer angeblich "herrschaftsfreien Gesellschaft" sind Ziele linksextremistischer Bestrebungen. AUF EINEN BLICK * Orthodoxer Kommunismus * Anarchismus * Autonome Vorstellungen Orthodoxer Kommunismus | Protagonisten dieses Teils des Linksextremismus, so etwa die Deutsche Kommunistische Partei, orientieren sich insbesondere an den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels. Marx und Engels teilten Gesellschaften in Klassen ein und behaupteten, es gebe einen andauernden "Klassenkampf". Auf der Ausbeutung der Klasse der Arbeiter ("Proletariat") durch die Klasse der "Kapitalisten" fußt nach Auffassung orthodoxer Kommunisten der "Kapitalismus": Dieser führe zwangsläufig zu immer mehr Elend und Gewalt in der Gesellschaft. Der "Kapitalismus" könne nur durch eine Revolution, die eine Änderung der Eigentumsverhältnisse einschließe, beseitigt werden. Durch Umverteilung des Besitzes werde die alte Ordnung absterben und sich nach und nach eine kommunistische Gesellschaft entwickeln. Neben Marx und Engels berufen sich orthodoxe Kommunisten unter anderem auf Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Dieser glaubte, die Arbeiter könnten nur durch eine elitäre Kaderpartei zum richtigen "Klassenbewusstsein" und zu einer erfolgreichen Revolution geführt werden. Nach der Erringung der Macht sei es Aufgabe dieser Partei, mittels einer "Diktatur des Proletariats" die kommunistische Gesellschaft zu errichten und gewaltsam alle "konterrevolutionären" Elemente zu bekämpfen. Anarchismus | Anarchisten lehnen - im Unterschied zu kommunistischen Organisationen - jegliche Herrschaft ab. Sie sehen den Staat als unterdrückerische Zwangsinstanz an, die zerschlagen werden müsse, wobei es - im Unterschied zur Auffassung der Marxisten-Leninisten - keiner Kaderpartei bedürfe. Anarchisten wenden sich gegen jegliche Institutionen, insbesondere gegen Parteien und Parlamente; sie selbst organisieren sich in nur wenig strukturierten Gruppen. Von diesen in festeren Strukturen agierenden "syndikalistischen Anarchisten" sind "aufständische" oder auch "insurrektiona176 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS listische Anarchisten" zu unterscheiden, die in jüngerer Zeit durch verschiedene "Aktionen" auffällig wurden. Für Anhänger der Strömung des "aufständischen/insurrektionalistischen Anarchismus" sind eine kompromisslose Opposition und permanente Attacken auf den sozialen und politischen Gegner zentrale Anliegen. Das bedeutet, dass diese Anarchisten gezielt auch Gewalttaten und Sabotageaktionen durchführen, um auf ihr Ziel, den Aufbau eines "antikapitalistischen" und völlig freien Systems, hinzuarbeiten. Anhänger dieser Strömung des Anarchismus agieren für gewöhnlich alleine oder in informellen Kleinstgruppen. Autonome Vorstellungen | Die Positionen von Autonomen verfolgen - verglichen mit denjenigen orthodox-kommunistischer Parteien - kein starres Dogma. Sie vermischen verschiedene Ideologiefragmente zu einem mitunter brüchigen Gesamtbild, das von Gruppe zu Gruppe variieren kann. Nicht die Partei, sondern das selbstbestimmte Individuum steht bei Autonomen im Mittelpunkt ("Politik der ersten Person"). Nach autonomer Auffassung muss der Einzelne ständig um seine Befreiung von "strukturellen Zwängen" kämpfen. Mit orthodoxen Kommunisten verbindet Autonome aber die Vorstellung von einer Welt, in der jeder im Rahmen einer kommunistischen Gesellschaft nach seinen Bedürfnissen leben und sich selbst verwirklichen kann: Dazu müssten alle "Systeme", die dem Individuum Pflichten und Zwänge auferlegen, beseitigt werden. Zu diesen "Systemen" gehören nach dem Verständnis von Autonomen unter anderem Demokratie und rechtsstaatliches Handeln. Die Vorgehensweisen und die Zusammensetzung autonomer Zusammenschlüsse sind heterogen. Einige Autonome versuchen, Ideen anarchistischer Prägung in die Realität umzusetzen, zum Beispiel durch die Errichtung "gewaltund herrschaftsfreier Räume" in Form von Besetzungen von Gebäuden. Andere Autonome, die auch als Postautonome bezeichnet werden, engagieren sich weiterhin in der Bündnisund Netzwerkarbeit, wobei sie zunehmend nichtextremistische Unterstützer zu gewinnen versuchen. Um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen, halten Autonome generell die Anwendung von Gewalt für ein legitimes Mittel. Insbesondere auf Grund ihrer "militanten Aktionen" stellen Autonome eine konstante Bedrohung für die Innere Sicherheit in Deutschland dar. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 177 LINKSEXTREMISMUS LINKSEXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL1 Das linksextremistische Personenpotenzial blieb in Hessen im Bereich der gewaltorientierten Strukturen (vor allem Autonome und aufständische Anarchisten) relativ konstant. Demgegenüber reduzierte sich die Zahl extremistisch aktiver Personen in sonstigen Strukturen leicht. Insgesamt nahm das Personenpotenzial im Berichtsjahr (2.650) gegenüber dem Vorjahr (2.770) um 120 Personen ab. Dafür gab es verschiedene Gründe: Die linksextremistische Agitation in Hessen blieb in einem sehr überschaubaren Rahmen. Die linksextremistische Beteiligung an vorwiegend von nichtextremistischen Strukturen getragenen Aktionen im Zusammenhang mit Kampagnenthemen wie etwa Waldbesetzungen wegen geplanter Rodungsarbeiten blieb oft ebenfalls gering. Neu entstandene Gruppierungen agierten sehr viel stärker als in früheren Jahren weitgehend nicht öffentlich oder eher im Internet als bei konkreten nach außen wirksamen Aktionen. 178 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS Demgegenüber stieg die Zahl der als grundsätzlich gewaltorientiert einzuschätzenden Personen trotz der zurückgegangenen Strafund Gewalttaten leicht an. Dass seit einigen Jahren die Gewaltbereitschaft nicht nur in der autonomen und anarchistischen Szene steigt, ist an der Zunahme von Kampfsportaktivitäten und an dem Zuwachs der sogenannten K-Gruppen im Umfeld der bundesweiten Zusammenschlüsse Perspektive Kommunismus und Antifaschistische Aktion Süd (Antifa-Süd) ablesbar. Diese Gruppierungen sind zum einen durch eine dogmatische Auslegung des Marxismus-Leninismus und zum anderen durch eine regelmäßig kommunizierte und gelebte Gewaltbereitschaft gekennzeichnet. Grund hierfür ist etwa die in der linksextremistischen Szene wahrgenommene angebliche Notwendigkeit, den Kampf gegen Rechtsextremisten zu intensivieren. In Hessen gab es "antiimperialistisch" orientierte Gruppierungen, bei deren Anhängern ebenfalls teilweise ein Anwachsen der Gewaltorientierung erkennbar war. (Siehe im Glossar auch die Erläuterung zum Begriff Personenpotenzial.) AUTONOME UND ANARCHISTEN DEFINITION/KERNDATEN Autonome sind undogmatische und organisationskritische Autonome: Linksextremisten, die sich zum Teil diffus an verschiedenen kommuIn Hessen etwa 480, nistischen und anarchistischen Deutungsmustern orientieren. Das bundesweit rund 8.300 staatliche Gewaltmonopol lehnen Autonome ab und sehen eigene Gewaltanwendung ("Militanz") zur Durchsetzung ihrer politischen Regionale Schwerpunkte: Frankfurt am Main, Marburg, Ziele als legitim bzw. berechtigt an. Starren Organisationsstrukturen Gießen, Kassel und Darmstadt stehen "klassische" Autonome kritisch bis ablehnend gegenüber und beharren stattdessen auf ihrer Selbstbestimmtheit. Autonome Medien : organisieren sich überwiegend in losen Gruppen, zwischen denen Swing (Erscheinungsweise mehrmals jährlich), Internetoft nur aktionsund anlassbezogene lockere Netzwerke bestehen. präsenzen Teile der autonomen Szene sind seit einigen Jahren allerdings von diesem Selbstverständnis abgerückt. Die mangelnde Strategie sowie die Organisationsund Theoriefeindlichkeit "klassischer" Auto- \ nomer erachten sie als wenig zielführend: Anstelle der Revolution bevorzugt dieser Teil der Szene, der als postautonom bezeichnet wird, eine langfristige Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Hierfür greifen Postautonome gesamtgesellschaftlich relevante Themen auf und setzen auf eine auch das gesamte linksextremistische Spektrum umfassende Bündnispolitik, die eine Zusammenarbeit mit nichtextremistischen Akteuren ausdrücklich einschließt. DementHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 179 LINKSEXTREMISMUS sprechend vermeiden Postautonome in der Regel ein offenes Bekenntnis zur Gewalt. Stattdessen verwenden sie eher unbestimmte Begriffe wie "ziviler Ungehorsam" oder sprechen davon, "Polizeiketten durchfließen" zu wollen. Damit bieten Postautonome für ihre "Aktionen" einen weiten Interpretationsspielraum, der sowohl gewaltorientierten als auch gewaltablehnenden Personen eine Teilnahme ermöglicht. Die bundesweit bedeutendste postautonome Organisation war im Berichtszeitraum nach wie vor die Interventionistische Linke (IL). Sie zeigte sich in Hessen in den Ortsgruppen Frankfurt am Main, Darmstadt und Marburg aktiv. Im Kontext der autonomen Szene beobachtet das LfV sogenannte aufständische anarchistische Strukturen wegen ihrer grundsätzlichen Gewaltaffinität. Entsprechende Zusammenhänge wurden in jüngerer Zeit außerhalb Hessens durch "Aktionen" auffällig. Kennzeichnend für Anhänger dieser Strömung im Anarchismus sind eine kompromisslose Opposition und permanente Attacken auf den gesellschaftlichen und politischen Gegner. Das bedeutet, dass aufständische Anarchisten gezielt auch Gewaltund Sabotageaktionen durchführen, um auf ihr Ziel des Aufbaus eines "antikapitalistischen" Systems bzw. einer von allen Zwängen völlig freien Gesellschaft hinzuarbeiten. Anhänger dieser Strömung agieren gewöhnlich allein oder in informellen Kleinstgruppen. Da diese Strukturen derzeit aufgeklärt werden, können keine Zahlenangaben hinsichtlich des Personenpotenzials gemacht oder regionale Schwerpunkte in Hessen benannt werden. 180 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Die Aktivitäten der autonomen und der anarchistischen Szene in Hessen nahmen im Vergleich zum Vorjahr weiter zu. Im Fokus standen "antimilitaristische" Kampagnen sowie Aktionen im Kontext des Klimaund Umweltschutzes. Die von Linksextremisten gestellte "Systemfrage" verlagerte sich von pandemiebedingten Gesundheitsthemen auf Anliegen der Klimaund Umweltschutzbewegung. Vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie ging die Anzahl der linksextremistischen Demonstrationen zurück, vermehrt kam es hingegen zu Waldbesetzungen als Protest gegen geplante Rodungsarbeiten für Verkehrsoder Bauprojekte. "Outingaktionen" linksextremistischer Gruppen gegen Politiker der AfD, gegen Burschenschaften oder andere Personengruppen, die sich aus linksextremistischer Sicht im "rechten Lager" bewegten, nahmen zu. Zu Solidaritätsbekundungen als Reaktion auf staatliche bzw. polizeiliche Eingriffe, von Linksextremisten als ungerechtfertigte "Repression" interpretiert, kam es auch im Berichtsjahr. AUF EINEN BLICK * "Antifaschismus": Outings, Drohschreiben und Demonstrationen * Nahezu friedlich verlaufene Demonstration am 1. Mai * "Antimilitarismus" * Linksextremistische Beeinflussung der Klimaund Umweltschutzbewegung * "Antigentrifizierung": Angriffe auf Immobilienfirmen * "Antirepression": Solidaritätsaktionen für die Klimaaktivistin "Ella" "Antifaschismus": Outings, Drohschreiben und Demonstrationen | In unregelmäßigen zeitlichen Abständen führten Autonome hessenweit Outings von Personen durch, die sie als "Feinde" bzw. als Rechtsextremisten ansahen. Entsprechende (gewalttätige) "Aktionen" richteten sich sowohl gegen die politischen Gegner selbst als auch gegen deren Besitz. Ziel war es, den Betroffenen einen erheblichen individuellen Schaden zuzufügen sowie ihre gesellschaftliche und mitunter berufliche Reputation zu beschädigen. Im Raum Nordhessen war die "antifaschistische" Recherchegruppe T.A.S.K. besonders aktiv. Sie veröffentlichte mehrere Berichte über Strukturen und Personen, die nach ihrer Auffassung dem politischen Gegner, insbesondere der AfD, zuzurechnen waren. Vor allem im Raum Kassel häuften sich "antifaschistische Aktionen", deren Ziel ebenfalls meistens Angehörige der AfD waren. Folgende Ereignisse sind erwähnenswert: * Immenhausen (Landkreis Kassel), 3. Februar: Unbekannte Täter sprühten auf das Fahrzeug eines Rechtsextremisten mit schwarHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 181 LINKSEXTREMISMUS zer Farbe unter anderem das Wort "Nazi" sowie das kommunistische Hammerund Sichelzeichen. Anschließend veröffentlichten unbekannte Personen auf der linksextremistischen Internetplattform de.indymedia.org einen Beitrag unter der Überschrift "Immenhausen/Nordhessen: Nazikarre beschädigt". * Kassel, 3. Mai: Autonome bekannten sich auf de.indymedia.org zu einem Farbanschlag auf die Wohnung des Vorsitzenden der AfD-Fraktion in der Kasseler Stadtverordnetenversammlung und veröffentlichten dessen private Adresse sowie eine Darstellung seiner politischen Aktivitäten. * Frankfurt am Main, 29. Juni: Auf de.indymedia.org stellten Unbekannte einen Beitrag über den Geschäftsführer des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) in Frankfurt am Main ein: Dieser sei ein rechtsextremer Querdenker und seit Jahrzehnten für seine "rechten Umtriebe" bekannt. In dem Beitrag wurde zudem die Adresse der Eltern, nicht jedoch die Adresse des Betroffenen genannt. Die Verfasser riefen zu "Konsequenzen" auf: "Zeigt ihm [,] was ihr von seiner Gesinnung haltet! Für eine antifaschistische Uni - den Rechten entschlossen entgegentreten". * Kassel, 23. Juli: Etwa zehn schwarzgekleidete Personen, die jeweils einen Mundschutz trugen, beleidigten und bedrohten ein Mitglied der AfD bei einem Besuch eines Cafes in der Nähe der Universität. Es kam zu einem Wortgefecht, in dessen Zuge der Betroffene aufgefordert wurde, die Örtlichkeit zu verlassen. * Kassel, 8. September: Die Gruppierung T.A.S.K. veröffentlichte einen Recherchebeitrag über die JA Kassel und deren angebliche Verbindungen zu Burschenschaften in Hessen. In diesem Kontext publizierte T.A.S.K. auch private Wohnanschriften. * Kassel und Fuldabrück (Landkreis Kassel), 17. Oktober: Unbekannte Täter beschädigten zeitgleich in Kassel und Fuldabrück zwei Fahrzeuge von Mitgliedern der AfD-Fraktion im Hessischen Landtag. Hierzu veröffentlichten Unbekannte am 31. Oktober ein Selbstbezichtigungsschreiben mit den Privatanschriften der Betroffenen und den Fahrzeugkennzeichen auf de.indymedia.org. * Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), 22. Oktober: Unter anderem über die Internetseite der regionalen linksextremistischen Rechercheund Outingplattform Stadt, Land, Volk mobilisierte die linksextremistische Szene zu Protesten ("Wir haben keinen Bock auf Nazipropaganda, Männlichkeitswahn und Körperkult") gegen eine Veranstaltung der Marburger Burschenschaft Germania. An der nicht angemeldeten Demonstration beteiligten sich etwa 170 Personen, darunter auch Linksextremisten. * Hattersheim am Main (Main-Taunus-Kreis), 3. November: Unbekannte Täter warfen mit roter und schwarzer Farbe sowie mit (mutmaßlich) Buttersäure gefüllte, dosenartige Gegenstände auf das Haus des Gründers der rechtsextremistischen GU. Am sel182 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS ben Tag veröffentlichten Unbekannte, die sich als "einige Autonome" bezeichneten, auf de.indymedia.org. ein Selbstbezichtigungsschreiben. Darin hieß es, dass die GU ein "neurechtes Projekt" aus dem Umfeld der IB sei und "Onlineseminare zu verschiedenen Themen im Bereich der rassistischen und faschistischen Ideologie" veranstalte. Der Beitrag endete mit dem Appell: "Rechte haben Namen und Adressen! Rechten entgegentreten auf allen Ebenen mit allen Mitteln!" * Kassel, 9. November: Auf die Fassade des früheren Wohnhauses einer Angehörigen der JA Kassel sprühten unbekannte Täter "AfD Abschaum", wobei in dem Schriftzug auch der Name der Betroffenen enthalten war. In einer Veröffentlichung der Gruppe T.A.S.K. war die Geschädigte bereits am 8. September als JA-Angehörige geoutet und eine veraltete Adresse veröffentlicht worden. * Kassel, 5. Dezember: Außerdem veröffentlichte T.A.S.K. einen "Rechercheüberblick" über "Anhänger der Kasseler AfD", worin sich auch Bilder der Betroffenen befanden. Diese sollen im Berichtsjahr mehrere Stammtische der AfD Kassel besucht haben. Der Beitrag wurde auch auf de.indymedia.org. eingestellt. * Kassel, 6. Dezember: Aus Protest gegen einen regelmäßig stattfindenden AfD-Stammtisch zogen etwa 100 Personen im Rahmen einer angemeldeten und von der Polizei begleiteten Demonstration unter dem Motto "kein Raum der AfD" zu der entsprechenden Gaststätte. Einige Teilnehmer zündeten Feuerwerkskörper und warfen zwei Flaschen in Richtung der Gaststätte. * Kassel, 9. Dezember: Unbekannte Personen veröffentlichten auf de.indymedia.org ein Selbstbezichtigungsschreiben über eine Sachbeschädigung am Wohnhaus und Fahrzeug des Rechtsextremisten Pierre Krebs aus Hessen, der im Rahmen des "Netzwerktags" der NPD-Publikation DS in Brandenburg auftreten sollte. Nahezu friedlich verlaufene Demonstration am 1. Mai | Unter dem Motto "Gemeinsam kämpfen gegen Krieg und Kapitalismus. International für Solidarität und Klassenkampf" führte das 2021 gegründete Bündnis Revolutionärer 1. Mai Frankfurt erneut eine Demonstration am 1. Mai in Frankfurt am Main durch. Teil des Bündnisses waren die trotzkistische Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) und andere Gruppen der "antiimperialistischen" Szene im Rhein-Main-Gebiet. Anders als im Vorjahr beteiligten sich autonome Gruppierungen wegen interner Auseinandersetzungen nicht an dem Bündnis; jedoch mobilisierten wie auch 2021 unter anderem Gruppen aus dem Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug für die Demonstration. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 183 LINKSEXTREMISMUS Die Veröffentlichungen des Bündnisses Revolutionärer 1. Mai Frankfurt ließen wie schon 2021 eine konfrontative Ausrichtung erkennen: Die Demonstration wurde vorab als "Kampf" bezeichnet und Plakate, die später im Rahmen der Veranstaltung gezeigt wurden, trugen Slogans wie "Fäuste hoch" oder "Bullen hassen zur Leitkultur [machen]". Entgegen der Erwartungen verlief die Demonstration, an der etwa 1.000 Personen teilnahmen, bis auf das Abbrennen von pyrotechnischen Gegenständen weitgehend friedlich. "Antimilitarismus" | Im Fokus linksextremistischer "antimilitaristischer" Bestrebungen standen in den vorangegangenen Jahren vornehmlich politische Entscheidungen hinsichtlich der Lieferung von Rüstungsgütern an die Türkei. Damit war nach linksextremistischer Auffassung die indirekte Unterstützung türkischer Militäroperationen gegen von Kurden bewohnte Gebiete in Nordsyrien und im Irak verknüpft. Ausgelöst durch den russischen Angriff auf die Ukraine und die darauffolgenden Debatten um die Ausstattung der Bundeswehr, verschob sich die bisherige Schwerpunktsetzung in der linksextremistischen Szene. In Hessen fanden verschiedene linksextremistische und linksextremistisch beeinflusste Veranstaltungen statt, die sich gegen den Krieg in der Ukraine und gegen die zusätzlichen Finanzmittel für die Bundeswehr richteten. So riefen für den 11. Juni linksextremistische Gruppierungen wie zum Beispiel die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) und die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend im Rahmen eines bundesweiten Kampagnentages ("Offensive gegen Aufrüstung") unter anderem in Frankfurt am Main zu einer Demonstration auf. Argumentativ richteten sich diese und ähnliche Veranstaltungen gegen die angebliche Militarisierung der Gesellschaft, für die das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr nur der jüngste und offensichtlichste Beweis sei: Der Krieg in der Ukraine sei dabei nur die dankbar angenommene Rechtfertigungsgrundlage für die bereits längerfristig geplante Aufrüstung der Bundeswehr, die weniger mit Blick auf die Landesverteidigung geschehe, sondern vielmehr mit dem Ausbau der Möglichkeiten zur Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsinteressen im Ausland in Zusammenhang stehe. Darüber hinaus wurden auf dieser und auf ähnlich gelagerten Veranstaltungen auch klassische Stereotypen propagiert, so etwa dass die NATO der eigentliche Aggressor oder dass Sicherheit in Europa nur mit und nicht ohne Russland möglich sei. Das linksextremistisch beeinflusste Bündnis Rheinmetall entwaffnen organisierte einen "antimilitaristischen Sommer" und wählte hierfür Kassel, da dort wichtige Rüstungsunternehmen ansässig sind. Durch die in Kassel stattfindende Kunstausstellung documenta fifteen 184 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS (18. Juni bis 25. September) erhoffte sich das Bündnis eine größere Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit und somit eine entsprechende Resonanz hinsichtlich seiner Anliegen und Aktionen. Am 12. August verübten in dem Kasseler Stadtteil Bad Wilhelmshöhe unbekannte Täter einen Brandanschlag auf zwei Zivilfahrzeuge der Bundeswehr, die dabei völlig zerstört wurden. In einem auf de.indymedia.org veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben wurde die Tat unter anderem mit den Gewinnen der Rüstungsunternehmen im Zuge der Aufrüstung der Bundeswehr in Folge des "Ukraine-Krieges" gerechtfertigt. Weiter hieß es in dem Schreiben: "Militärische Aufrüstung führt in letzter Konsequenz nicht dazu, die Welt sicherer zu machen. Im Gegenteil: Kein Staat dieser Welt schafft sich Panzer an, bloß um sie dann in der Garage verrosten zu lassen. Auch die vermeintliche Abschreckung durch Aufrüstung ist eine Lüge. Militärischer Logik nach ließe sich das Argument sogar umdrehen, bedeutet es doch: Wenn mein Feind dabei ist aufzurüsten, muss ich besser heute als morgen handeln, um ihm zuvor zu kommen". Vor diesem Hintergrund gelte es, die "Militarisierung, Aufrüstung und Kriegsvorbereitung in Deutschland mit aller Entschlossenheit zu bekämpfen", weshalb man sich entschieden habe, den "Bundeswehrfuhrpark in Kassel zumindest ein bisschen zu verkleinern". Das Schreiben endete mit der Aufforderung "Bundeswehr abwracken". Ein "antimilitaristisches Camp" (29. August bis 4. September) diente als Ausgangspunkt für verschiedene "Aktionen" im Kasseler Stadtgebiet. So versuchten Aktivisten am 2. September das Gelände des Rüstungsunternehmens Krauss-Maffei Wegmann GmbH & Co. KG zu blockieren, wobei es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Den Abschluss des Camps bildete am 3. September eine Demonstration in Kassel; erneut lieferten sich die Demonstranten Auseinandersetzungen mit der Polizei. Linksextremistische Beeinflussung der Klimaund Umweltschutzbewegung | Wie in den Vorjahren gab es Bestrebungen linksextremistischer Gruppierungen, die Klimaund Umweltschutzbewegung zu beeinflussen. Seit je her versuchen Linksextremisten, ihre Ideologie über Themenfelder mit großer allgemeiner Relevanz und Tragweite in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Nach der 2020 von der Polizei aufgelösten Besetzung im Dannenröder Wald, die sich gegen den Ausbau der A49 richtete, kam es im dritten Jahr in Folge zu weiteren Waldbesetzungen und "Aktionen" gegen den Autobahnausbau. Am 21. April setzten unbekannte Täter Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 185 LINKSEXTREMISMUS drei Baufahrzeuge, die im Umfeld des Riederwalds für Vorbereitungsarbeiten zum Ausbau der A66 abgestellt waren, in Brand. In einem tags darauf auf der Plattform de.indymedia.org veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben, unterzeichnet mit "Autonome Kleingruppe GmbH", hieß es in Bezug auf das "Potenzial" des Walds: "Menschen, die sich entschlossen gegen das Kapital und die Zerstörung unserer Lebensgrundlage stellen [...]. Menschen, die in ihrem selbstorganisierten Zusammenleben gemeinsam Schritt für Schritt ihre eigene Sozialisierung, die Fesseln, die dieses kranke System ihnen mit ihrer Geburt angelegt hat, zu überwinden. Wir sehen so verdammt viel Potenzial in diesem Ort. Darum ist unsere Aktion ein Zeichen unserer Verbundenheit zu diesem Ort und unserer Solidarität mit jenen, die ihn lebendig machen. Unsere Aktion ist auch ein Zeichen unserer eigenen Wut. Ein Zeichen unserer Hilflosigkeit". Im Frankfurter Riederwald erweiterten Aktivisten unter anderem die dort seit 2021 befindlichen Baumhäuser, Seilkonstruktionen und Gestelle, wobei sich die linksextremistisch beeinflusste Besetzung gegen die geplanten Rodungsmaßnahmen anlässlich des Baus des Riederwaldtunnels richteten. Laut eines Berichts der Frankfurter Rundschau vom 25. Oktober hingen im Wald Banner mit den Aufschriften "Autonome Zone - no cops, no nazis" und "antifaschistische Aktion": "Eine Aktivistin gab an, die Gruppe im Wald lebe antihierarchisch, anarchistisch und diskriminierungsfrei". Am Global Strike Bündnis Darmstadt beteiligten sich anlässlich des von der nichtextremistischen Fridays-for-Future-Bewegung ausgerufenen globalen Klimastreiks am 23. September in Darmstadt linksextremistische Gruppierungen. Darunter befanden sich die IL Darmstadt, die linksjugend ['solid] Darmstadt und DIE LINKE. Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband (DIE LINKE.SDS) Darmstadt. Am 6. Dezember besetzten Angehörige der nichtextremistischen Aktionskampagne EndFossil: Occupy! einen Hörsaal in der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Daran beteiligte sich auch das Bündnis StudentsDefendRojava, in dem unter anderem die IL vertreten war. Nachdem Gespräche zwischen der Universitätsleitung und den Besetzern gescheitert waren, räumte die Polizei den Hörsaal. "Antigentrifizierung": Angriffe auf Immobilienfirmen | Nach wie vor standen angeblich "antisoziale Stadtstrukturen" und der Kampf für selbstbestimmte "Freiräume" im Fokus von Autonomen. Im Rahmen einer linksextremistisch geprägten "Antigentrifizierungs"-Kampagne, die 2020 begonnen hatte, kam es auch im Berichtsjahr in Frankfurt 186 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS am Main zu Angriffen auf Fahrzeuge und Gebäude von Immobilienfirmen in Form von Sachbeschädigungen und Brandstiftungen. So wurde im März ein Neubau mit Farbbeuteln beworfen. "Antirepression": Solidaritätsaktionen für die Klimaaktivistin "Ella" | Die höchste Aufmerksamkeit in der linksextremistischen Szene erhielt im Berichtsjahr die Klimaschutzaktivistin "Ella". Während der Räumung des Dannenröder Walds hatte die Polizei im November 2020 eine Frau festgenommen, die sich weigerte, Angaben zu ihrer Person zu machen. Das AG Alsfeld verurteilte die in der Szene mit dem Namen "Ella" bezeichnete Aktivistin am 23. Juni 2021 zu zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe unter anderem wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte. Vor diesem Hintergrund führte die autonome Szene in Hessen verschiedene "Solidaritätsaktionen" durch. Dabei sind folgende Ereignisse erwähnenswert: * Frankfurt am Main, 7. Januar: Unter der Beteiligung von Autonomen führten etwa 120 Personen eine Solidaritätskundgebung für "Ella" vor der Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main III im Stadtteil Preungesheim durch. Dazu hatte die linksextremistische Szene unter dem Motto "Stay with friends. Gemeinsam gegen den Bullenstaat und Klassenjustiz!" mobilisiert. Die Teilnehmer zeigten unter anderem Transparente mit folgenden Aufschriften: "Für ein Ende der Gewalt - Rise up for solidarity", "Dieser Kampf wird nicht im Gerichtssaal entschieden, sondern auf der Straße - Schulter an Schulter gegen Repression" und "Uns brecht ihr nie! - Nieder mit der Polizeigewalt und der Klassenjustiz". * Frankfurt am Main 3. März: Unter der Überschrift "Ella im Hungerstreik" veröffentlichte die Rote Hilfe e. V., Ortsgruppe Frankfurt am Main, auf ihrer Homepage eine Pressemitteilung der Verteidigung von "Ella": "Mit dem Hungerstreik bis zum 08.03.2022 (dem 'Internationalen Frauentag' bringt 'Ella' auch ihre Solidarität für die Verwundbarsten dieser Welt, den Frauen, zum Ausdruck. [...] Ella muss raus! Das Gericht muss aufhören diesen Prozess weiter in die Länge zu ziehen und unsere Genossin in Haft zu halten. Seid solidarisch mit Ella und allen politischen Gefangenen. Informiert euch und andere!" (Schreibweise wie im Original.) * Kassel, 10. März: Im Rahmen der 1923 von der Internationalen Roten Hilfe (IRH) ins Leben gerufenen Veranstaltungsreihe "Tag der politischen Gefangenen" führte die Rote Hilfe e. V., Ortsgruppe Kassel, eine Veranstaltung unter dem Motto "Vortrag und Solikneipe zu Ella" durch. In dem Vortrag mit anschließender Diskussion standen die angeblichen "Repressionen" rund um "Ella" sowie die angebliche Kriminalisierung der Waldbesetzung im Vordergrund. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 187 LINKSEXTREMISMUS * Frankfurt am Main, 31. März: Anlässlich des letzten Prozesstages der Berufungsverhandlung vor dem LG Gießen am 1. April rief die linksextremistische Szene unter dem Motto "Vorabenddemo zum letzten Prozesstag #FreeElla" zu einer Demonstration vor der Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main III auf. In dem Aufruf hieß es: "Wir stehen gemeinsam mit Ella und allen anderen von Repressionen betroffen. Getroffen hat es eine:n, gemeint sind wir alle. Für ein Ende der Repression, Freiheit für alle politischen Gefangenen!" (Schreibweise wie im Original.) Im April 2022 wurde "Ella" in zweiter Instanz vom LG Gießen zu einem Jahr und neun Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, wogegen sie Revision einlegte. Nachdem sie ihren Namen preisgegeben hatte, wurde sie nach achtzehn Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen. Im Themenfeld "Antirepression" waren außerdem folgende Ereignisse erwähnenswert: * Frankfurt am Main, 11. November: Unbekannte Täter beschädigten nachts das 16. Polizeirevier, indem sie zunächst eine Überwachungskamera beschmutzten und das Gebäude dann mit Farbe gefüllten Christbaumkugeln bewarfen. Später veröffentlichten unbekannte Verfasser auf de.indymedia.org ein Selbstbezichtigungsschreiben, in dem sie die Sachbeschädigung mit angeblich notwendiger "Antirepression" begründeten: "Lasst uns [...] deutlich machen, dass es an der Zeit ist, dass sich die Bullen nicht mehr sicher fühlen. Die Aktion war ein kleiner Beitrag dazu und wir hoffen, dass es nur ein Anfang ist". * Frankfurt am Main, 13. Dezember: Am von der Szene zum "AllCops-Are-Bastards"-Tag (ACAB) erklärten 13. Dezember zogen etwa 460 Personen durch die Innenstadt. Die Zahlenfolge 1312 (und damit das Datum 13.12.) steht für die alphabetische Reihenfolge der Buchstaben ACAB. Unter dem Motto "#1312 Kein Freund - kein Helfer" forderten die Demonstranten, darunter Autonome, die Abschaffung der Sicherheitsbehörden und prangerten deren angebliches Versagen im Kampf gegen Rechtsextremisten an. An der Spitze des Demonstrationszugs wurden pyrotechnische Gegenstände gezündet. Zu weiteren nennenswerten Ereignissen kam es nicht, und die Demonstration verlief friedlich. Neben der Mobilisierung über die Social-Media-Kanäle der beteiligten Gruppierungen aus Frankfurt am Main wurde auch auf der linksextremistischen Internetplattform de.indymedia.org für die Demonstration geworben. 188 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Die autonome Bewegung wurzelt in den europaweiten Studentenprotesten der späten 1960er und der 1970er Jahre. In dieser Zeit entstand die Selbstbezeichnung Autonome. AUF EINEN BLICK * Gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei * "Anti"-Haltungen Gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei | Für die große Öffentlichkeit zum ersten Mal erkennbar agierten Autonome gewalttätig, als sie 1980 in Bremen gegen die Vereidigung von Bundeswehrrekruten demonstrierten. Dabei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Als breite eigenständige Bewegung waren Autonome seit Anfang der 1980er Jahre auszumachen. Sie waren zunächst vor allem in der Friedensund in der Anti-Atomkraftbewegung sowie bei Hausbesetzungen aktiv. Gewalttätig agierten Autonome zum Beispiel gegen die in Wackersdorf (Bayern) geplante Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe; gleichfalls lieferten sich Autonome an der Startbahn West am Frankfurter Flughafen gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei, wobei während einer Demonstration am 2. November 1987 zwei Polizeibeamte erschossen wurden. Zuletzt waren Autonome hauptverantwortlich für die massiven Ausschreitungen bei den Protesten gegen die Eröffnung der neuen Zentrale der EZB 2015 in Frankfurt am Main und bei den Protesten gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg. Seitdem gab es - zum Beispiel bei Demonstrationen - bundesweit immer wieder teilweise auch sehr gezielte gewalttätige Angriffe, die sich insbesondere bei Veranstaltungen nicht nur gegen Polizeikräfte, sondern regelmäßig gegen tatsächliche oder vermeintliche "Faschisten" bzw. Rechtsextremisten richteten, wobei bei gezielten Attacken davon auszugehen ist, dass es im Vorfeld eine umfängliche Recherche zu der jeweiligen Person einschließlich ihrer Lebensumstände gegeben hatte. Anti"-Haltungen | Mit der Zeit erschlossen sich die Autonomen weitere Aktionsfelder, die in der Regel durch eine "Anti"-Haltung gekennzeichnet sind: "Antifaschismus", "Antirepression", "Antirassismus", "Antigentrifizierung" und "Antimilitarismus". "Antikapitalistische" Einstellungen von Autonomen, die im "Kapitalismus" die Wurzel allen Übels sehen, bilden die Grundlage für diese Aktionsfelder. Angepasst an sozialpolitische oder wirtschaftliche Entwicklungen können Autonome jederzeit neue Aktionsfelder schaffen. Dabei arbeiten Linksextremisten mit radikalen oder demokratischen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 189 LINKSEXTREMISMUS Gruppierungen im Rahmen eines "Aktionskonsenses" zusammen, der Linksextremisten dennoch Spielraum für eigene, auch gewalttätige Aktionsformen lässt. IDEOLOGIE/ZIELE Das Ziel der Autonomen ist die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und des "kapitalistischen Systems" zugunsten einer "herrschaftsfreien" Gesellschaft. In ihr sollen sich unabhängige Individuen freiwillig vereinen und gemeinsam und gleichberechtigt handeln. Nach der Ansicht von Autonomen werden die Menschen durch "Kapitalismus", "Rassismus" und "Patriarchat" unterdrückt und ausgebeutet. Als Ursache hierfür betrachten Autonome die bürgerliche demokratische Gesellschaft und das freie Wirtschaftssystem im "Kapitalismus". "Imperialismus" und vor allem "Faschismus" sind in den Augen von Autonomen die maßgeblichen Werkzeuge dieser dreifachen Unterdrückung. AUF EINEN BLICK * "Anti"-Haltungen und Feindbilder * "Antikapitalismus" * "Antifaschismus" * "Antirassismus" * "Antigentrifizierung" - "selbstverwaltete Freiräume" * Klimaund Umweltschutzaktionen * Frage der Gewalt * Hauptströmungen der (post-)autonomen Szene in Hessen * Antiimperialisten * Antideutsche * Antinationale "Anti"-Haltungen und Feindbilder | Ihren "Anti"-Haltungen und Feindbildern entsprechend definieren Autonome ihre politischen Aktivitäten. So wird mittels des "Antifaschismus" gegen Personen, Gruppen und Institutionen agitiert, die als "Rechte" bzw. "Nazis" ausgemacht werden. Unter dem Label "Antirepression" wird insbesondere gegen Polizisten als öffentlich wahrnehmbare Vertreter des "staatlichen Repressionsapparats" vorgegangen. Sämtliche Feindbilder sind dabei auf eine "antikapitalistische" Grundhaltung zurückzuführen. Um ihre Bündnisund Mobilisierungsfähigkeit zu erhöhen, versuchen vor allem Postautonome mehrere Themenfelder bei ihren Aktivitäten zu verknüpfen. "Antikapitalismus" | Dieses Themenfeld bildet den Kern der Vorstellungen der autonomen Szene bzw. des gesamten linksextremistischen Spektrums. Dem Marxismus zufolge ist die "kapitalistische" 190 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS Wirtschaftsform das alles dominierende Element des menschlichen Daseins und bestimmt alle Lebensbereiche. Linksextremisten setzen auf dieser Basis die freiheitliche demokratische Grundordnung mit dem "Kapitalismus" gleich und bekämpfen diese, indem sie unter anderem soziale Themen für ihre Zwecke instrumentalisieren. "Antifaschismus" | Vor allem das Themenfeld "Antifaschismus" zeichnet sich für Autonome bzw. Linksextremisten dadurch aus, dass es eine hohe Anschlussfähigkeit an nichtextremistische Organisationen und Gruppierungen ermöglicht. Im Unterschied zur demokratischen Bekämpfung des Rechtsextremismus ist das linksextremistische "Antifaschismus"-Verständnis von Demokratiefeindlichkeit geprägt. In kommunistischer Tradition unterstellen Autonome bzw. Linksextremisten der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, selbst "faschistisch" oder "faschistoid" zu sein. Demnach bezeichnen sie auch Personen aus dem demokratischen Spektrum als "Faschisten". Sobald die Bewertung "Faschist" vergeben ist, ist der Betroffene, unabhängig von seinen tatsächlichen Überzeugungen, nach autonomem bzw. linksextremistischem Urteil legitime Zielscheibe von Diffamierungen und Gewalttaten. Unter "Antifaschismus" verstehen Autonome bzw. Linksextremisten also nicht nur die konsequente Ablehnung rechtsextremistischer Bestrebungen, vielmehr setzen sie den offensiven "Kampf gegen Rechts" mit dem "Kampf gegen das Ganze", das heißt gegen das "bürgerlich-kapitalistische System", gleich: Erst mit der Beseitigung des "Kapitalismus" sei die Gefahr des "Faschismus" als Form bürgerlicher Herrschaft gebannt. "Antirassismus" | Vor dem Hintergrund der europäischen Flüchtlingspolitik akzentuieren Autonome seit mehreren Jahren wieder stärker die Beschäftigung mit rassistisch begründeten Verhältnissen der Ungleichheit und staatlicher Unterdrückung. Insbesondere "Aktionen", bei denen es zu schweren Gewalttaten gegen Menschen mit Migrationshintergrund oder anderer Hautfarbe kam, erhielten hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Das linksextremistische Spektrum war bislang bemüht, mit ideologisierten "Aktionen" in die Debatte einzugreifen. Entsprechend der autonomen bündnispolitischen Zielrichtung soll das szeneeigene Verständnis von "Antirassismus" möglichst langfristig und breit in der Mehrheitsgesellschaft etabliert werden. Dieses Verständnis konzentriert sich nicht nur auf die Thematisierung der Flüchtlingsproblematik: Autonome wollen vor allem der Öffentlichkeit angebliche Beweise präsentieren, wonach Staat und Gesellschaft selbst "rassistisch" seien und daher im linksextremistischen Sinne bekämpft und überwunden werden müssten. Rechtmäßiges Handeln Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 191 LINKSEXTREMISMUS von Behörden gilt für Autonome in dieser Diktion als "rassistisch" und wird entsprechend kommentiert: "Nazis morden, der Staat schiebt ab - das ist das gleiche Rassistenpack". Durch verschiedene Ereignisse, die teilweise auch international hohe Aufmerksamkeit in den Medien fanden - wie etwa die seit 2018 bekannt gewordenen Drohmails NSU 2.0 oder der Tod des amerikanischen Staatsbürgers George Floyd und der rechtsextremistisch motivierte Anschlag in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) 2020 - sahen sich Linksextremisten in ihren Wahrnehmungen bestätigt. Entsprechend versahen Teile der linksextremistischen Szene die Polizei in Hessen und insbesondere in Frankfurt am Main mit dem Schlagwort "Nazis", die IL schlug sogar eine "Entnazifizierungs"-Kampagne vor. Das Narrativ der mit "Rechtsextremisten durchsetzten Sicherheitsbehörden" (bzw. des Staates als Ganzes) ist elementarer Bestandteil linksextremistischer Ideologie. "Antigentrifizierung" - "selbstverwaltete Freiräume" | Autonome bzw. Linksextremisten schließen sich "Antigentrifizierungs"-Initiativen aus mehreren Gründen an: Indem sie sich für bezahlbaren Wohnraum einsetzen, können sie sich als sozialpolitische Akteure profilieren und gesellschaftliche Akzeptanz erreichen. Weiterhin ist es Autonomen auf diese Weise möglich, anschaulich ihre "antikapitalistische" Grundhaltung zu vermitteln. Schließlich sind sie oft selbst von Gentrifizierung betroffen, da die von ihnen genutzten "selbstverwalteten Freiräume" - also autonome Szeneund Treffobjekte - mitunter ebenso für entsprechende sogenannte Luxussanierungen vorgesehen sind. Insofern richten sich linksextremistische Aktionen in diesem Themenfeld gerade auch gegen Immobilienfirmen und Städtebaugesellschaften, die Eigentümer der Objekte sind. Klimaund Umweltschutzaktionen | Vor dem Hintergrund des fortschreitenden Klimawandels und der damit einhergehenden Auswirkungen auf Mensch und Umwelt sowie im Rahmen des Strebens nach einem sozialverträglichen ökologischen Miteinander gewinnt dieses Themenfeld zunehmend an Bedeutung für das autonome bzw. linksextremistische Spektrum. Hierin lassen sich mehrheitsfähige gesellschaftliche Anliegen - wie etwa der Kampf gegen den Klimawandel (zum Beispiel in Form der Forderung nach einem Ausstieg aus der Atomenergie oder aus dem Kohleabbau sowie nach einer Verkehrswende) - mit linksextremistischen Forderungen nach einem "selbstbestimmten Leben" durch das Schaffen "selbstverwalteter Freiräume" verbinden. Vor allem bietet sich für Autonome bzw. Linksextremisten die Möglichkeit, ihre "antikapitalistischen" Forderungen gegen angebliche "klimaschädliche" Unternehmen in Stellung zu bringen und in den gesellschaftlichen Diskurs mittels der Parole "system change not climate change" einzubringen. Mit ihren Versuchen, die Klimaund Umweltschutzbewegung zu instrumentalisieren, wollen Auto192 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS nome bzw. Linksextremisten ein Scharnier zwischen ihren Bestrebungen und nichtextremistischen Forderungen herstellen. Frage der Gewalt | Seit jeher versuchen Autonome ihre Ziele auch mit Gewalt zu erreichen. In der Anwendung von Gewalt sehen Autonome nicht nur ein "Mittel zum Zweck", sondern ebenso einen Akt der "individuellen Selbstbefreiung". Die phasenweise in der Szene geführte "Militanzdebatte" beschäftigt sich daher nicht mit der Legitimität von Gewaltanwendung, sondern mit der kontrovers diskutierten Frage, ob sich Gewalt "nur" gegen Sachen oder auch gegen Menschen richten darf. Dabei nehmen es Autonome billigend in Kauf, dass Menschen im Rahmen ihrer "Aktionen" verletzt oder sogar getötet werden. Zuletzt kam es bundesweit vor allem mit Bezug zu dem Themenfeld "Antifaschismus" immer wieder zu Gewalttaten: Zwischen 2018 und 2020 soll eine Gruppe um die Linksextremistin Lina E., so die Anklageschrift der Bundesanwaltschaft, in Thüringen und Sachsen mehrere Rechtsextremisten überfallen haben, die dabei zum Teil schwer verletzt wurden. Am 31. Mai 2023 verurteilte das OLG Dresden Lina E. und drei weitere Angeklagte zu Freiheitsstrafen. Lina E. erhielt eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, mehrfacher gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung, Urkundenfälschung, Diebstahl und Nötigung. Das Urteil war zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses des vorliegenden Berichts noch nicht rechtskräftig. In dem auf der linksextremistischen Internetplattform de.indymedia.org im März 2020 veröffentlichten Beitrag "Antifa und Militanz - Warum militantes Vorgehen gegen AfD und Co. notwendig ist" hieß es: "Als die Meldungen von Hanau kamen war der Schock bei vielen groß. [...] Auch uns hat die Tat geschockt, auch wenn sie sicherlich nicht überraschend ist. [...] Der bürgerliche Staat und seine Institutionen haben mitnichten ein Interesse an der effektiven Bekämpfung von Faschisten. Und das aus gutem Grund. Einerseits stellen Faschisten - im Gegensatz zu Linken - nicht die kapitalistischen Eigentumsverhältnissen in Frage und sind somit keine existentielle Gefahr für die herrschende Klasse. Im Gegenteil: der Faschismus war immer ein Mittel der Herrschenden, um im Notfall die bestehenden Verhältnisse gewaltsam gegen die Lohnabhängigen zu verteidigen. Andererseits hat die jüngere Vergangenheit immer wieder gezeigt wie eng an vielen Stellen das Verhältnis von Behörden und organisierter rechter Bewegung ist. [...] Wir müssen AfDler und andere Faschisten angreifen. Ganz direkt, immer und überall. Ob bei ihnen zu Hause, auf der Straße oder bei ihren Veranstaltungen. Wir dürfen sie nie in Ruhe lassen. Sie sollen sich nicht sicher fühlen und dürfen keine Gelegenheit haben sich einzunisten und ihre StrukHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 193 LINKSEXTREMISMUS turen zu festigen. [...] Was wir machen können ist, den politischen Verantwortlichen, die, die durch ihre geistige Brandstiftung den Tätern erst den Nährboden geschaffen haben, die Konsequenzen für ihr Handeln aufzuzeigen. [...] Eine durch und durch gewalttätige Ideologie lässt sich nicht durch Worte oder Lichterketten stoppen". (Schreibweise wie im Original.) Linksextremisten in Hessen, vor allem gewaltbereite Autonome, zielen mit ihren "Aktionen" grundsätzlich auf Sachbeschädigungen ab oder kalkulieren diese ein. Bei diesen "aktionsorientierten" Handlungen kann es entsprechend spontan oder beabsichtigt zu gewaltsamen Angriffen auf Polizeibeamte oder ausgemachte "Feinde", also Anhänger des anderen politischen Lagers - in erster Linie Rechtsextremisten - kommen. In der Gesamttendenz treten diese konfrontativen, offenen Gewalthandlungen im Vergleich zu konspirativ durchgeführten Beschädigungsaktionen an Sachen, wie Fahrzeugen und Gebäuden, in Hessen deutlich zurück. Hauptströmungen der (post-)autonomen Szene in Hessen | Es sind tendenziell drei Hauptströmungen zu unterscheiden: Antiimperialisten, Antideutsche und Antinationale. Sie stehen sich inhaltlich zum Teil diametral gegenüber. Nur über "antikapitalistische" und "antifaschistische" Grundhaltungen erzielen die drei Strömungen häufig einen Minimalkonsens. Zuletzt sind szeneinterne Konfliktlinien schwieriger auszumachen, da "klassische" Ideologieansätze zunehmend zugunsten eines aktionistischen Vorgehens und frei interpretierter Denkmuster aufweichen. Antiimperialisten | Antiimperialisten machen die vorgeblich durch den "Kapitalismus" bedingte "imperialistische" Politik "westlicher" Staaten, vorrangig der USA und Israels, für weltpolitische Konflikte verantwortlich. Diese Linksextremisten stehen daher fest an der Seite von "antiimperialistischen Befreiungsbewegungen" etwa in Südamerika oder in der arabischen Welt. Im Unterschied zu den Antideutschen solidarisieren sich Antiimperialisten besonders mit dem von der Palestine Liberation Organization (PLO, Palästinensische Befreiungsorganisation) im Jahr 1988 ausgerufenen Staat Palästina und agitieren gegen Israel. Antideutsche | Antideutsche zeigen sich dagegen wegen der deutschen Verantwortung am Holocaust uneingeschränkt solidarisch mit Israel, aber auch mit den USA als dessen militärischer Schutzmacht. Arabische Regimes und islamistische Organisationen bezeichnen die Antideutschen als "rechtsradikal" oder "islamfaschistisch". Militärische Aktionen gegen eine mögliche Bedrohung Israels sehen Antideutsche grundsätzlich als positiv an. Damit widersprechen Anti194 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS deutsche dem "antimilitaristischen" und gegen den Krieg gerichteten Selbstverständnis anderer autonomer Strömungen. Einige Autonome werfen Antideutschen daher "Kriegstreiberei" vor. Ferner sprechen Antideutsche der deutschen Nation mit Verweis auf den Holocaust die Existenzberechtigung ab. Den Antiimperialisten unterstellen sie - ebenso wie dem deutschen Volk im Allgemeinen - antizionistische und antisemitische Einstellungen. Antinationale | Mit den Antinationalen entwickelte sich spätestens seit 2006 bundesweit eine dritte ideologische Ausrichtung, die phasenweise in der autonomen Szene in Hessen prägend war und weiterhin präsent ist. Die Positionen der Antinationalen liegen zwischen Antiimperialisten und Antideutschen, sind jedoch den letzteren näher. Aus Sicht der Antinationalen ist jeder Staat im "Kapitalismus" zwangsläufig "imperialistisch". Kriege seien nur "Ausdruck der notwendigen Konflikte" im "kapitalistischen System", da die jeweiligen staatlichen Interessen gegenüber der globalen Konkurrenz durchgesetzt werden müssten. Die Antinationalen lehnen jedoch die einseitig positive Bezugnahme der Antiimperialisten auf revolutionäre "Befreiungsbewegungen" in der Dritten Welt ab, da diese letztlich auch nur nationalistische Ziele verfolgten und häufig reaktionäre Ideologien verträten, die es aus "antifaschistischer" Perspektive zu bekämpfen gelte. Dies trifft aus Sicht der Antinationalen insbesondere auf islamistische Gruppen zu. Den Antideutschen wiederum werfen Antinationale eine zu starke Fixierung auf den "historischen Sonderweg" Deutschlands und den daraus nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Staat Israel sowie eine Gleichsetzung von Islam und Islamismus vor. Zwar räumen Antinationale "Israel als Staat der Holocaustüberlebenden und als Schutzraum für die weltweit vom Antisemitismus bedrohten Jüdinnen und Juden" eine Sonderstellung ein, andererseits sehen sie in Israel - bei aller Solidarität mit dessen Volk - einen "kapitalistischen" Staat, der letztlich ebenso wie das gesamte Staatensystem abzuschaffen sei. STRUKTUREN Wie in der Vergangenheit war Frankfurt am Main sowohl personell als auch strukturell der autonome Szeneschwerpunkt in Hessen. Weitere autonome Szenen gab es in den Universitätsstädten Kassel, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Gießen (Landkreis Gießen) und Darmstadt. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 195 LINKSEXTREMISMUS AUF EINEN BLICK * Szeneschwerpunkt Frankfurt am Main * Regionale Szenen Szeneschwerpunkt Frankfurt am Main | Etwa die Hälfte aller Autonomen in Hessen war in Frankfurt am Main oder in den unmittelbar angrenzenden Kommunen (zum Beispiel Offenbach am Main) ansässig. Bundesweit betrachtet, gehörte Frankfurt am Main zu den Großstadtregionen mit einer kontinuierlichen Präsenz autonomer Zusammenhänge. Von anderen Szenen in Hessen unterschied sich der "harte Kern" der Szene in Frankfurt am Main durch seine bundesweite Vernetzung, das hohe Personenpotenzial auf engem Raum und eine weiterhin hohe Gewaltbereitschaft. Besonders relevante Gruppen in Frankfurt am Main waren die Antifa United Frankfurt (AUF), das Antifaschistische Kollektiv 069 (AK.069), die IL Frankfurt, kritik&praxis - radikale Linke [f]rankfurt, das OAT Frankfurt und Ökologisch radikal links - ffm. Mit dem autonomen Szeneobjekt und ehemaligen Polizeigefängnis Klapperfeld verfügte die Szene in Frankfurt am Main über den bedeutendsten autonomen Anlaufpunkt in Hessen. Maßgeblich für die Träger des Klapperfelds waren nicht "die da draußen", sondern "wir, die Gegenkultur, hier drin". Ein Zweck des gesamten Gebäudes bestand für die linksextremistische Szene von Beginn an darin, mit dem Bezug des Gebäudes ein "Symbol der Abgrenzung und der Gegenkultur" in einem zentralen Frankfurter Stadtteil zu etablieren. Darüber hinaus fungierten in Frankfurt am Main das Cafe ExZess, das Cafe KoZ und das Centro als wichtige Treffpunkte. Regionale Szenen | Die regionalen autonomen Szenen waren weiterhin aktiv und in örtlichen Gruppierungen und Strukturen organisiert. Erwähnenswert sind die Gruppierungen T.A.S.K. aus Kassel und OAT Kassel. Die drei Ortsgruppen der IL in Hessen (Darmstadt, Frankfurt am Main und Marburg) waren ebenfalls im Berichtsjahr aktiv. BEWERTUNG/AUSBLICK Angesichts der Intensivierung des "antifaschistischen Kampfs" traten in der autonomen/anarchistischen Szene andere Themenfelder wie "Antimilitarismus" und "Antigentrifizierung" in den Hintergrund. Hingegen versuchte die linksextremistische Szene weiterhin stärkeren Einfluss auf Teile der Klimaund Umweltschutzbewegung auszuüben. Ein Teil der autonomen/anarchistischen Szene könnte in Hessen für eine "Militanzdebatte", wie sie in anderen Ländern geführt wird, und 196 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS damit verbundene Strafund Gewalttaten zugänglich sein. Dort werden "Aktionen" gewalttätiger, stärker auf Personen anstatt auf Sachen ausgerichtet und "professioneller", wie vor allem die massiven Überfälle klandestin agierender Kleingruppen gegen Personen der rechtsextremistischen Szene zeigen. Eine Gesamtradikalisierung der autonomen/anarchistischen Szene mit entsprechenden "militanten Aktionen" ist in Hessen jedoch weiterhin (noch) nicht zu beobachten. Die Straftaten in anderen Ländern deuten offenbar auf eine steigende Gewaltbereitschaft hin. Darüber hinaus agieren entsprechende Kleingruppen anscheinend ganz oder teilweise in Abspaltung von der restlichen Szene. Es gibt Hinweise, dass diese Akteure im anarchistischen Spektrum zu verorten sind, das heißt in der individualistischen Strömung, die auch als insurrektionalistisch bzw. aufständisch zu beschreiben ist. Angehörige dieser Szene sind offensichtlich bundesweit aktionsfähig, wobei die Zahl direkter "Aktionen" gegen Personen und Sachen im Vergleich mit den zurückliegenden Jahren zunahm. Die Qualität der Angriffe zeigt, dass sich die Täter teilweise offenbar über einen längeren Zeitraum hinweg mit ihren Angriffszielen und verschiedenen Tatoptionen beschäftigten. Autonome und Anarchisten behalten die für sie relevanten Themenfelder kontinuierlich im Fokus und besetzten diese - soweit nötig - zum Beispiel durch Veröffentlichungen. Grundsätzlich entspricht es der Strategie von Linksextremisten, bei gesellschaftlich strittigen Themen in "Protestbewegungen" einzusickern und dort zu versuchen, über eine gemeinsame Politisierung neue Anhänger zu gewinnen oder, wenn sich die Gelegenheit bietet, auf eine Radikalisierung der Aktionen und der politischen Ausrichtung hinzuwirken. Diesbezüglich spitzen Autonome und Anarchisten sich daraus ergebende Konflikte bei günstiger Gelegenheit bewusst zu, um vermeintlich "revolutionäre Momente" im Sinne der Entwicklung einer freien Gesellschaft der Individuen herbeizuführen. Entsprechend werden Autonome und Anarchisten auch in Zukunft politisch und in den Medien bedeutsame Themen aufgreifen und in ihrem Sinne instrumentalisieren. Dabei ist davon auszugehen, dass die linksextremistische Szene vor allem den "antifaschistischen Kampf" weiterhin nutzen wird, um politische Gegner anzugreifen und ihnen physisch und materiell zu schaden. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 197 LINKSEXTREMISMUS SONSTIGE BEOBACHTUNGSOBJEKTE Neben autonomen Gruppierungen gab es in Hessen linksextremistische Parteien sowie Organisationen mit parteiähnlichem Charakter, die einen bedeutenden Teil des linksextremistischen Spektrums bildeten. Die wichtigsten von ihnen sind unten aufgeführt. AUF EINEN BLICK * Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Gründung in kommunistischer Tradition Strukturen - Mitgliederzahlen Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine Bewertung/Ausblick * Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Jugendorganisation der DKP Strukturen - Mitgliederzahlen Schulkampagne Bewertung/Ausblick * Rote Hilfe e. V. (RH) Ideologie - Strukturen - Mitgliederzahlen "Rechtsberatung" für politisch motivierte Straftäter Veranstaltungen Bewertung/Ausblick DEUTSCHE KOMMUNISTISCHE PARTEI (DKP) Gründung in kommunistischer Tradition | Die 1968 gegründete DKP versteht sich als "revolutionäre Partei der Arbeiterklasse" in der Tradition der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Das Ziel der DKP ist die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in einem revolutionären Bruch, um - als erste Stufe auf dem Weg zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft - den Sozialismus zu verwirklichen. Dabei setze, so die Auffassung der DKP, die "sozialistische Gesellschaftsordnung [...] die Erringung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse im Bündnis mit den anderen Werktätigen voraus". Strukturen - Mitgliederzahlen | Die DKP in Hessen gliederte sich offiziell in 15 Kreisorganisationen, denen rund 300 Personen zuzurechnen waren (bundesweit etwa 2.850). Der Schwerpunkt der Aktivitäten der DKP Hessen lag in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau), Gießen (Landkreis Gießen) und Kassel. Diese Ortsverbände und die DKP Marburg-Biedenkopf publizierten ihre eigenen Kleinzeitungen. Die DKP Gießen veröffentlichte monatlich das Gießener Echo, ebenso die DKP Mörfelden-Walldorf die Monatszeitung blickpunkt. Dagegen 198 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS gab die DKP Marburg-Biedenkopf im Berichtszeitraum nur eine Ausgabe des Marburger Echos heraus. Die DKP-Ortsverbände nutzten diese Kleinzeitungen, um über die eigenen Aktivitäten zu berichten sowie kommunale und überregionale politische Themen zu kommentieren. Daneben sollten die Kleinzeitungen mögliche Interessierte auf die Partei aufmerksam machen. Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine | Die DKP orientierte sich in ihren Stellungnahmen an der russischen Sprachregelung. Demnach führe die Ukraine einen "(Bürger-)Krieg [...] gegen die Menschen im Donbass". Dieser würde nicht nur unter Einbeziehung faschistischer Kräfte", sondern auch mit "Duldung der NATO, der EU und Deutschlands" geführt. Auf der Internetseite der DKP hieß es unter anderem: "Kritische Stimmen in der Beurteilung des Ukraine-Kriegs sind selten und wenn[,] werden sie sofort mit der Moralkeule niedergemacht. Für die Solidarität mit der Ukraine sind keine Sanktionen zu scharf, obwohl letztendlich wir in der BRD zu den Hauptleidtragenden gehören und bald ganz solidarisch nicht nur frieren, sondern viele auch hungern werden müssen". Bewertung/Ausblick | Der DKP Hessen gelingt es seit Jahren nicht, der allgemeinen, strukturellen Schwächung und Überalterung der Gesamtpartei entgegenzuwirken. Zudem schaffte sie es nicht, sich als Bündnispartnerin von Gruppierungen der Klimaschutzbewegung zu etablieren. Allenfalls bei Wahlen auf kommunaler Ebene erzielte die Partei vereinzelte Erfolge, blieb jedoch bei der Bundestagswahl 2021 erfolglos. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 199 LINKSEXTREMISMUS SOZIALISTISCHE DEUTSCHE ARBEITERJUGEND (SDAJ) Jugendorganisation der DKP | Die dogmatisch-kommunistische SDAJ war formal unabhängig, jedoch eng mit der DKP verbunden und fungierte als deren Jugendorganisation. So unterstützte die SDAJ Hessen die DKP regelmäßig bei Veranstaltungen und war bei einigen mit vor Ort. Ihre Ziele ("unser Weg zum Sozialismus ist der Kampf zur Überwindung des Imperialismus in Deutschland") versuchte die SDAJ vor allem durch die Zusammenarbeit mit extremistischen und nichtextremistischen Organisationen zu verwirklichen, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Strukturen - Mitgliederzahlen | Der SDAJ in Hessen waren rund 70 Personen zuzurechnen, bundesweit etwa 670. Eigenen Angaben zufolge war die SDAJ in Hessen mit Ortsgruppen in den Regionen Frankfurt am Main, Gießen (Landkreis Gießen), Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Frankenberg (Landkreis Waldeck-Frankenberg) und Kassel aktiv. Die Kommunistische Organisation (KO), eine stalinistisch orientierte Abspaltung der SDAJ, war in Hessen seit Anfang 2021 mit Ortsgruppen in Gießen (Landkreis Gießen) und Frankfurt am Main aktiv. Das Ziel der KO ist es, eine Partei nach dem Vorbild der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) aufzubauen. Im Zuge des Angriffs Russlands auf die Ukraine rief die KO am 24. Februar zu einer prorussischen Kundgebung in Frankfurt am Main unter dem Motto "NATO raus aus der Ukraine und Osteuropa! Deutschland raus aus der NATO" auf. In einer anlässlich des 77. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs veröffentlichten Erklärung der Gruppe hieß es: "77 Jahre nach dem Ende des deutschen Vernichtungskrieges [...] wird in Deutschland wieder rassistische antirussische Hetze betrieben". In der Unterstützung der Ukraine durch Deutschland sah die KO eine "Verharmlosung des ukrainischen Faschismus und [eine] Dämonisierung der Sowjetunion", die für eine "Rehabilitierung NSDeutschlands" genutzt würde. Schulkampagne | Bereits 2019 startete die SDAJ eine Kampagne vor Schulen in Hessen, die sie im Berichtsjahr fortsetzte. Der Schwerpunkt der Aktionen lag bislang in Marburg (Landkreis MarburgBiedenkopf) und Kassel, wobei die SDAJ zumeist Flyer oder die eigene Schülerzeitung Flurgeflüster direkt vor oder auf dem Gelände von Schulen verteilte. Begleitet wurde die Kampagne von Informationsveranstaltungen, die sich explizit an Schüler richteten. In Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) bot die SDAJ wie auch im Jahr zuvor "offene Schülertreffen" 200 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS an, so etwa in Kassel am 8. September. Im August organisierte die SDAJ in Marburg zudem in einer Parkanlage die Veranstaltung "Sommer, Sonne, Sozialismus". Nach linksextremistischem Verständnis haben im "Kapitalismus" Bildungseinrichtungen nicht die Aufgabe, die Schüler zu mündigen und selbstständigen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen, sondern sie möglichst früh "für das Kapital verwertbar" zu machen. Im Grundsatzpapier der SDAJ hieß es dazu: "Bildung in einem umfassenden Sinne ist nicht im Interesse des Kapitals. Der Staat sorgt durch seine Bewirtschaftung der 'Ressource' Bildung dafür, dass wir für das Kapital verwertbar werden. Wir sollen den Unternehmen möglichst früh und vorselektiert zur Verfügung stehen". Bewertung/Ausblick | Infolge mehrjähriger interner Auseinandersetzungen in der DKP, die im Rahmen des 22. Parteitags 2018 vorläufig beendet wurden, hatte auch die SDAJ Mitglieder verloren. Daher war das öffentliche Aktionspotenzial der SDAJ bis etwa 2019 rückläufig. Um diese Verluste auszugleichen, versucht die SDAJ in Hessen seit dieser Zeit, durch gezielte Schulaktionen wieder neue Mitglieder zu werben. Dabei will sich die SDAJ die häufige politische Unerfahrenheit von Heranwachsenden zunutze machen, um diese für sich zu gewinnen und zu indoktrinieren. Sollte es der SDAJ mit dieser Kampagne gelingen, Heranwachsende an sich zu binden, ist zu erwarten, dass die Organisation ihre Schulaktionen fortsetzen wird. ROTE HILFE E. V. (RH) Ideologie - Strukturen - Mitgliederzahlen | In Anlehnung an die 1924 in der Weimarer Republik von der KPD gegründete Rote Hilfe Deutschlands (RHD) versteht sich die RH laut ihrer Satzung als "parHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 201 LINKSEXTREMISMUS teiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation". Sie bezeichnet die Bundesrepublik Deutschland als ein "nationalstaatlich fixiertes, bürgerlich kapitalistisches Herrschaftssystem, das von unterschiedlichen Unterdrückungsmechanismen (wie Rassismus oder Sexismus) strukturiert und geprägt" werde. In Hessen verfügte die RH über Ortsgruppen in Darmstadt, Frankfurt am Main, Kassel, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Gießen (Landkreis Gießen) und Wiesbaden. Im Berichtsjahr gelang es der RH, ihre Mitgliederzahl zu steigern. Ihr gehörten in Hessen etwa 800 Personen (2021: 700) an, bundesweit rund 13.100 (2021: 12.100). Der personelle Zulauf für die RH resultierte aus dem Interesse für bzw. der Solidarität mit Linksextremisten, die sich - wie etwa "Ella" und Lina E. - vor Gericht verantworten mussten. "Rechtsberatung" für politisch motivierte Straftäter | Die maßgeblich von Linksextremisten verschiedener Richtungen getragene RH unterstützt seit den 1970er Jahren inhaftierte bzw. inzwischen aus der Haft entlassene Straftäter. Neben politischer und finanzieller Hilfe versuchte die RH darüber hinaus mittels "Rechtsberatung" Personen, die politisch motivierte Straftaten begingen, der staatlichen Strafverfolgung zu entziehen oder sie bei ihren Verfahren zu unterstützen. Die RH empfahl daher den "Genoss_innen" die "konsequente Aussageverweigerung" als "beste Strategie im Umgang mit Repressionsbehörden". Die RH-Ortsgruppe Frankfurt am Main begleitete im Berichtsjahr bei Strafprozessen vorwiegend Angeklagte, die "linken" und linksextremistischen Gruppierungen zuzurechnen waren. Auf ihrer Homepage wies die RH auf anstehende Prozesse hin und rief Sympathisanten zur "kritischen Prozessbegleitung" auf, um sich solidarisch mit den Angeklagten zu zeigen. Veranstaltungen | Die RH-Ortsgruppe Frankfurt am Main veranstaltete am 18. Februar eine Onlinepodiumsdiskussion unter dem Motto "50 Jahre Radikalenerlass - Weg mit Berufsverboten & Klassenjustiz!" In ihrem Aufruf hieß es: "Um die so genannten Regelanfragen zu allen Anwärter*innen zu bewältigen, wurde der VS [i.e. der Verfassungsschutz] zu einem gigantischen und nahezu unkontrollierbaren Apparat aufgebläht. Als gesetzliche Grundlage griffen die Regierenden auf die 'Gewährbieteklausel' des deutschen Beamtenrechts zurück, die aus dem nationalsozialistischen 'Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' vom Mai 1933 stammt. Das Ziel aller Aktivitäten gegen alte und neue Berufsverbote muss deswegen auch die Abschaffung der gesetzlichen Grundlagen für diese Form der Repression sein. Bis 202 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 LINKSEXTREMISMUS heute kämpfen zahlreiche Betroffene um Rehabilitierung und Entschädigung, bis heute kommen neue Fälle dazu". Die Veranstaltung bezog sich auf den sogenannten Radikalenerlass von 1972, in dessen Rahmen Bewerber und Beschäftigte des öffentlichen Diensts auf ihre Verfassungstreue hin überprüft wurden. Anlässlich des "Tages der politischen Gefangenen", der jedes Jahr am 18. März begangen wird, veröffentlichte die RH-Ortsgruppe Frankfurt am Main ein "Thesenpapier gegen Repression - Weg mit SS 129a!" und organisierte eine Demonstration zu dem Thema "Es trifft Einzelne, gemeint sind wir alle. Freiheit für alle politische Gefangene!" in Frankfurt am Main. Gemeinsam mit dem OAT Kassel richtete die RH-Ortsgruppe Kassel unter dem Titel "Heraus mit den Gefangenen! Heraus zum 18. März" eine Demonstration am 18. März sowie eine Veranstaltungsreihe vom 10. bis 25. März aus. Bewertung/Ausblick | Die RH nimmt nach wie vor eine wichtige Rolle innerhalb der linksextremistischen Szene ein. Sowohl durch ihre "Solidaritätsund Antirepressionsarbeit" als auch durch ihre juristischen und finanziellen Unterstützungsleistungen verfügt die RH über eine hohe Reputation im gesamten Spektrum und ist damit ein die Szene verbindendes Element. Angesichts der unablässigen Behauptung von Linksextremisten, die staatliche "Repression" würde zunehmen, wird die RH auch weiterhin für die linksextremistische Szene eine hohe Bedeutung haben. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 203 LINKSEXTREMISMUS LINKSEXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN Die Zahl der linksextremistischen Strafund Gewalttaten sank von 131 (2021) auf 79. Dies resultierte vor allem aus einem Rückgang insbesondere bei den Gewalttaten von 42 (2021) auf neun und den Sachbeschädigungen von 66 (2021) auf 47 (2021: 21). Waren 2021 die linksextremistisch motivierten Körperverletzungen hauptsächlich während des Protestgeschehens am 1. Mai in Frankfurt am Main begangen worden, wo Polizisten von Demonstranten mit Fahnenstangen geschlagen und mit Gegenständen beworfen worden waren, so verlief die 1.-Mai-Demonstration im Berichtsjahr weitgehend friedlich. Linksextremisten begingen vor allem dann Gewalttaten, wenn sie diese relativ einfach und weitgehend ohne straf - rechtliche Konsequenzen verüben konnten. Zugleich zeigen die Zahlen aber auch, dass Linksextremisten in Hessen dennoch jederzeit in der Lage sind, Strafund auch Gewalttaten zu begehen. (Siehe im Glossar unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität den Eintrag zut Erfassung politisch motivierter Strafund Gewalttaten mit extremistischen Hintergrund.) 204 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS - MERKMALE - ISLAMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL - SALAFISMUS - LEGALISTISCHER ISLAMISMUS - SONSTIGE BEOBACHTUNGSOBJEKTE - ISLAMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN ISLAMISMUS MERKMALE Der Islam als Religion wird vom Verfassungsschutz nicht beobachtet. Muslime genießen - wie Anhänger aller anderen Religionen auch - in Deutschland das Grundrecht auf Religionsfreiheit nach Art. 4 GG. Unter Islamismus wird eine politische Ideologie verstanden, deren Zweck es ist, die bestehende Gesellschaftsordnung nach islamischen Vorstellungen vollständig zu verändern und deren Rechtsgrundlagen, Werte und Herrschaftsordnungen entscheidend umzugestalten oder gänzlich abzuschaffen. Um islamistische Bestrebungen handelt es sich, wenn das Handeln von Personen in einem oder für einen Personenzusammenschluss zielund zweckgerichtet danach ausgerichtet ist, gesellschaftliche und institutionalisierte Bereiche unter Berufung auf den Islam in einer Weise grundlegend und nachhaltig umzugestalten. Auf diese Weise zielen islamistische Bestrebungen darauf ab, einen oder mehrere zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehörende Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Dies kann mittels Gewaltanwendung oder Nutzung legaler Mittel geschehen. Diese Bestrebungen gründen sich auf einem Islamverständnis, das islamische Glaubensquellen und andere bedeutsame Überlieferungen in eigener Weise interpretiert. Islamistische Lesarten erheben dabei den Anspruch, eine allgemeinverbindliche Form des Islams erkannt zu haben und dessen Einhaltung diktieren zu können. AUF EINEN BLICK * Verfassungsfeindlichkeit des Islamismus * Entstehung des Islamismus * Ziele im Islamismus * Formen des Islamismus * Antisemitismus als verbindendes Element im Islamismus Verfassungsfeindlichkeit des Islamismus | Die totalitäre Veränderung einer Gesellschaft nach islamistischen Vorstellungen widerspricht elementar den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und dem demokratischen Gefüge generell: Rechtsstaatlichkeit sowie unveräußerliche Menschenund Bürgerrechte sollen vollständig überwunden werden. Das politische System einer demokratisch legitimierten Volksvertretung würde durch eine totalitär agierende Theokratie ersetzt werden, die von der rechtmäßig gewählten Legislative verabschiedeten Gesetze müssten einem sogenannten göttlichen Recht weichen. 206 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS Islamisten sind nicht auf Reformen bedacht, um im Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung friedlich in einer pluralistischen Gesellschaft zu leben, sondern streben nach einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse. Dabei verüben gewaltbereite Islamisten auch terroristische Gewalttaten. Die Mehrheit der Islamisten in Hessen, oft in Vereinen organisiert, nutzt weitaus subtilere Mittel: Sie strebt nach einflussreichen Positionen und versucht, ihre Interessen durch das Eindringen in relevante Bereiche von Politik und Gesellschaft zu vertreten. Entstehung des Islamismus | Der Islamismus nach heutigem Verständnis entwickelte sich im Nahen und Mittleren Osten des späten 18. und 19. Jahrhunderts als Gegenreaktion auf lokale Herrschaftsverhältnisse und als Reaktion auf den europäischen Kolonialismus: In zahlreichen islamisch geprägten Ländern versuchten Gruppierungen unterschiedlichsten Herkommens, sich gegen Benachteiligungen und Repressionen der Kolonialmächte zu wehren. Aus einer Wiederbelebung der islamischen Identität erhofften sich insbesondere Islamisten ein Erstarken ihrer Religion. Sie verbanden damit eine Universallösung für sämtliche gesellschaftlichen Probleme. Nach islamistischer Auffassung würde erst das Überwinden "unislamischer" Herrscher den Weg ebnen, an "glorreiche Zeiten" des Frühislams anzuknüpfen, die Machtverhältnisse neu zu bestimmen und alle Muslime in eine Weltgemeinde zu führen. Ziele im Islamismus | Trotz unterschiedlicher Entwicklung ist islamistischen Bewegungen ein ideologischer Kern gemeinsam: Die Vorstellung, sämtliche Probleme der Gegenwart durch eine Rückkehr zu einer idealisierten islamischen Frühzeit zu heilen und auf diese Weise eine universelle Ordnung zu schaffen, die dem Islam und seiner Glaubensgemeinschaft den höchsten Stellenwert einräumt. Für Gegenwart und Zukunft soll der Islam die allein gültige gesellschaftliche und rechtliche Norm bilden. Islamisten akzeptieren in der Regel somit nur den Koran und die überlieferte Prophetentradition (Sunna) als Grundlage für islamrechtliche Entscheidungen und Regelungen. Darüber hinaus brandmarken Islamisten die Standpunkte der etablierten islamischen Rechtsschulen als ungültige Veränderungen des Islams oder interpretieren diese Positionen zugunsten der eigenen islamistischen Auffassungen. Dabei reduzieren sich die Mittel und Methoden vieler Islamisten zur Rechtsfindung auf wenige frühislamische Prinzipien. Diese lassen keinen Spielraum für theologische Auslegungen außerhalb des Islams zu Zeiten des Propheten Muhammad zu. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 207 ISLAMISMUS Nach der Auffassung von Islamisten soll der Rückgriff auf ursprüngliche islamische Quellen Antworten auf die Probleme und Fragestellungen der Moderne geben. Dies bildet den Ausgangspunkt für islamistische Aktivitäten. Würden die islamistischen Ziele konsequent umgesetzt werden, hätte dies die weltweite Islamisierung, abhängig von der jeweiligen Ausprägung des Islamismus, zur Folge. Am Ende stünde ein religiös institutionalisierter Machtbereich, der als staatsähnliche Ordnung dem Kalifat vergangener Zeiten gleichen würde. Formen des Islamismus | Alle Islamisten eint das Ziel, einen islamistischen Gottesstaat zu errichten. Die Wahl der Mittel und die zugrundeliegende Strategie zur Erreichung dieses Ziels unterscheiden sich allerdings. Vor diesem Hintergrund zeigt sich der Islamismus auch in Deutschland - abhängig von Zeit und Ort - in vielfältigen Formen. Häufig übernehmen Islamisten die ideologischen Grundlagen der Kernbewegungen aus dem Ausland. Das Nutzen legaler Mittel in einer Demokratie, die aus islamistischer Sicht keine Gültigkeit besitzt, ist ein Wesensmerkmal dieser Form des Islamismus. Das hierzu gehörende Personenpotenzial wird mit der Bezeichnung "Legalisten" beschrieben, der Phänomenbereich selbst wird als "legalistischer Islamismus" bezeichnet. "Legalisten" wie etwa die Anhänger der Muslimbruderschaft (MB) versuchen im Einklang mit den in Deutschland geltenden Gesetzen ihren Einflussraum durch politische Teilhabe auszudehnen. Mittels kommunaler, regionaler, aber auch landespolitischer Aktivitäten sollen Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unterminiert und auf lange Sicht überwunden werden, um den eigenen islamistischen Interessen Rechnung zu tragen. Extremismusvorwürfe weisen "Legalisten" konsequent und selbstbewusst zurück und versehen sie mit dem Etikett "Islamfeindlichkeit". Eine weitere Form des Islamismus stellt der Salafismus dar. Salafisten sehen sich als Verfechter eines ursprünglichen, unverfälschten Islams und geben vor, ihre religiöse Praxis und Lebensführung ausschließlich an den Prinzipien des Korans, an dem Vorbild des Propheten Muhammad und an den ersten drei muslimischen Generationen, den sogenannten rechtschaffenen Altvorderen (arab. al-salaf al-salih), auszurichten. Das Handeln nach deren Vorbild betrifft dabei nicht nur religiöse Fragen, sondern wird ausgeweitet auf praktisch alle Lebensbereiche, auch auf Politik und Gesellschaft. Folglich versuchen Salafisten, einen Gottesstaat nach ihrer Auslegung der Regeln der Scharia zu errichten, in dem die freiheitliche demokratische Grundordnung keine Geltung mehr hätte. Zur Umsetzung ihrer Ziele greifen Salafisten auf unterschiedliche Mittel bis hin zur Gewaltanwendung zurück. Dabei wird unterschieden zwischen dem in 208 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS erster Linie missionierenden politischen und dem gewalttätigen jihadistischen Salafismus. Der weltweite gewaltorientierte Jihadismus überzeugt seine Anhänger in erster Linie durch seine klare Ideologie, die sowohl moralische als auch politische Feinde zum Schutz des "wahren" Islams und der gesamten islamischen Gemeinschaft (arab. umma) gnadenlos bekämpft. Auch andere islamistische Gruppen schrecken zwecks Durchsetzung ihrer Ziele nicht vor der Anwendung von Gewalt zurück. Sie nutzen Deutschland in der Regel als Rückzugsraum oder auch als Operationsfeld für logistische und finanzielle Zwecke, um die jeweilige Gruppierung im Herkunftsland zu unterstützen. Antisemitismus als verbindendes Element im Islamismus | Der Antisemitismus und die dazugehörenden Verschwörungsnarrative sind ein verbindendes Element im Islamismus und Kernbestandteil jeder islamistischen Ideologie. In Hessen sind verschiedene islamistische Organisationen aktiv, die ein antisemitisches Weltbild vertreten. Hierzu gehören zum Beispiel die MB, die Milli-Görüs-Bewegung sowie Anhänger der salafistischen Szene. Das Mobilisierungspotenzial antisemitischer Ressentiments wird vor allem dann deutlich, wenn der israelisch-palästinensische Konflikt eine Eskalation erfährt. Aber auch die jährliche al-Quds-Demonstration in Frankfurt am Main vermag Anhänger zu mobilisieren. Für islamistische Organisationen, wie die Harakat al-Muqawama alIslamiya (HAMAS, Islamische Widerstandsbewegung) oder die Hizb Allah (Partei Gottes), stellt der Kampf gegen die Existenz Israels das wesentliche Ziel dar, das mit militärischen und terroristischen Mitteln erreicht werden soll. Für andere islamistische Gruppen ist der Staat Israel stets ein zentrales Feindbild. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 209 ISLAMISMUS ISLAMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL1 Gegenüber dem vorherigen Berichtsjahr reduzierte sich das islamistische Personenpotenzial in Hessen von 4.000 auf 3.865 Personen, was aus einem Rückgang (etwa fünf Prozent) im Bereich des Salafismus resultierte. Nachdem die Zahl der Salafisten in Hessen lange Zeit auf hohem Niveau stagnierte, gab es seit 2021 einen leichten Rückgang. Neben den bundesweiten erfolgreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden gegen die salafistische und jihadistische Szene dürfte hierzu auch das Fehlen identitätsstiftender (Groß-)Veranstaltungen und Aktionen beigetragen haben. Straßenmissionierung wurde in Hessen lokal zwar sehr aktiv betrieben, die in der Vergangenheit weit verbreiteten Auftritte und Seminare salafistischer Prediger fanden im Berichtsjahr jedoch nur vereinzelt und regional begrenzt statt. Das Fehlen solcher Veranstaltungen und die militärische Zerschlagung der quasi-staatlichen Strukturen des Islamischen Staats (IS) dürften auf die Minderung der Strahlkraft und Attraktivität der salafistischen Ideologie einen wesentlichen Einfluss gehabt haben. Gegen Ende des Jahres war allerdings festzustellen, dass bekannte Salafisten zunehmend auch in Hessen zurück in die Öffentlichkeit drängten. Dies betraf sowohl etablierte Prediger als auch vornehmlich im Internet agierende Salafisten. (Siehe im Glossar auch die Erläuterung zum Begriff Personenpotenzial.) 210 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS SALAFISMUS DEFINITION/KERNDATEN Der Salafismus setzt sich ideologisch aus einer politischen und einer jihadistischen Bewegung zusammen. Salafisten propagieren die idealisierte Reislamisierung gemäß angeblich unverfälschter Werte im Einklang mit den Geboten Allahs. Das salafistische Ziel liegt in der Wiederentdeckung des "reinen Islams", seiner Erhaltung und universellen Ausdehnung. Im Diesseits ist nach salafistischer Auffassung eine gottgefällige Lebensweise nur möglich, wenn die Lebensweise des Propheten Muhammad eine Nachahmung erfährt und die göttlichen Regeln und Prinzipien beachtet werden. Ein Kalifat nach historischem Vorbild wird in diesem Zusammenhang häufig als geeignete Option für ein solches Gesellschaftsmodell angesehen. AUF EINEN BLICK * Salafistisches Personenpotenzial * Politischer Salafismus * Jihadistischer Salafismus Salafistisches Personenpotenzial | Die Anhänger des Salafismus lassen sich in zwei Strömungen einteilen: Politische Salafisten und jihadistische Salafisten. Mit einem Personenpotenzial von etwa 1.370 sank im Berichtsjahr in Hessen die Gesamtzahl der Salafisten leicht im Vergleich zum Vorjahr (1.450), blieb aber weiterhin besorgniserregend hoch. In Hessen gehörten etwas mehr als die Hälfte der Salafisten dem Spektrum des jihadistischen Salafismus an. Der Übergang zwischen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 211 ISLAMISMUS dem politischen und jihadistischen Salafismus ist in der Regel fließend. In jüngerer Zeit ließ sich jedoch zunehmend feststellen, dass sich Radikalisierungsverläufe sehr schnell vollzogen. Eine tiefergehende religiös-ideologische "Bildung" wurde abgelöst durch den massenhaften Konsum jihadistischer Propaganda über das Internet. Fehlende "reale" Kontakte unter Salafisten erschwerten deren Aufklärung durch die Sicherheitsbehörden im Vorfeld von Radikalisierungsverläufen, die sich zunehmend im Internet abspielen. Politischer Salafismus | Der politische Salafismus ist in der Regel von gewaltlosen Aktivitäten gekennzeichnet. Politische Salafisten sind missionarisch aktiv, indem sie die Bekehrung zum Islam und dessen Verbreitung (arab. da'wa) betreiben und auch Formen der religiösen Erziehung und der Beratung (arab. nasiha) nutzen. Auf diese Weise wollen politische Salafisten ihr Umfeld auf den angeblich wahren Weg Allahs zurückführen und zum Übertritt zum Islam nach ihrem Verständnis bekehren. Grundsätzlich meiden Salafisten das politische Engagement, um die Reinheit der Doktrin des tauhid (Monotheismus) zu erhalten und vor angeblich islamfremden Einflüssen zu schützen. Salafisten sind daher in Hessen weder parteipolitisch noch in vergleichbarer Form im öffentlichen Diskurs im Rahmen gesamtgesellschaftlicher Gestaltungsprozesse aktiv. Dennoch kann die salafistische Doktrin auf gesellschaftliche Bereiche einwirken und somit politischen Einfluss entwickeln. Der Einsatz von Gewalt ist bei politischen Salafisten nicht kategorisch auszuschließen, stellt jedoch im Unterschied zu den Anhängern des globalen Jihadismus nicht per se ihr bevorzugtes Mittel zur Veränderung der Verhältnisse dar. Jihadistischer Salafismus | Jihadistische Salafisten teilen zentrale Glaubensprinzipien des politischen Salafismus, leiten daraus jedoch Legitimationen für eigene Handlungsmuster ab. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal ergibt sich aus dem Verhältnis zur Gewalt. Der "Anstrengung für Allah" (arab. jihad) messen Jihadisten eine gewaltorientierte, aktiv kämpferische Komponente bei, die zur individuellen Glaubenspflicht erhoben wird und dadurch in ihrer Perspektive die Durchsetzung revolutionärer Zwecke rechtfertigt. Entgegen der Agenda des politischen Salafismus sehen Jihadisten primär in der Gewaltanwendung die Möglichkeit, "Tyrannen" und "Ungläubige" zu bekämpfen. Verhaftet in den islamischen Überlieferungen vom Tag des Jüngsten Gerichts, streben Jihadisten nach der Auslöschung aller "unislamischen" und "ungläubigen" Elemente, die sie in Regierungen, anderen Religionen und auch anderen islamischen Glaubensgemeinschaften verkörpert sehen. Der gewaltsame "kleine Jihad" besitzt in den ideologischen Auffassungen der verschiedenen Gruppen, die insgesamt den globalen Jihadismus bilden, unter212 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS schiedliche Formen und wird entsprechend vielfältig legitimiert und angewendet. Während der "kleine Jihad" den kämpferischen Einsatz zur Verteidigung oder Ausdehnung des islamischen Herrschaftsgebiets beschreibt, bezeichnet der "große Jihad" das geistig-spirituelle Bemühen der Gläubigen, das richtige religiöse und moralische Verhalten gegenüber Allah und den Mitmenschen einzulösen. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN IM POLITISCHEN SALAFISMUS Örtlich begrenzt versuchten einige wenige politische Salafisten mittels Street-Da'wa, ihre Ideologie öffentlich zu verbreiten. Salafistisch beeinflusste Moscheen fungierten weiterhin als Treffund Kontaktorte für Personen aus dem salafistischen Spektrum. Darüber hinaus erreichten salafistische Prediger vor allem über Videoplattformen und soziale Medien ihr Publikum. In der Öffentlichkeit trat die salafistische Szene im Berichtsjahr weniger stark als im Jahr zuvor in Erscheinung, gleichwohl kam es zu verschiedenen, auch überregionalen Aktivitäten mit Öffentlichkeitswirkung. Weiterhin vernetzten sich die Akteure sowohl national als auch international miteinander. AUF EINEN BLICK * Da'wa-Aktionen * Prediger und Moscheen * Salafistische Sozialisation Da'wa-Aktionen | Die als Street-Da'wa bezeichneten Missionierungsaktivitäten im öffentlichen Raum wurden im Berichtsjahr fortgesetzt. Dabei bauten meist junge Männer an öffentlichen Plätzen Stände auf, verteilten Informationsmaterial und suchten das Gespräch mit Passanten. Unter dem Deckmantel, lediglich allgemein über den Islam informieren zu wollen, verbreiteten sie auf diese Weise ihre salafistische Ideologie. Schwerpunkt war dabei Frankfurt am Main, wo die beiden Gruppen Was ist Islam? und Islam kennenlernen regelmäßig salafistische Publikationen verteilten und Personen ansprachen. Darüber hinaus kam es in Wiesbaden zu Street-Da'wa-Aktionen der Gruppe Islamkenntnis. Straßenmissionierung hatte insbesondere von 2011 bis 2016 bundesweit große Bedeutung. Die Aktionen im Berichtsjahr blieben in Größe und öffentlicher Wahrnehmung jedoch weit hinter den damaligen Aktionen wie LIES! und We Love Muhammad zurück. Die Aktionen in Hessen wurden in der Regel von ein bis zehn Personen durchgeführt. Hinzu kamen Unterstützer, die selbst nicht oder nur sporadisch daran teilnahmen. Dem Auftritt vor Ort folgte meist eine Inszenierung der Aktionen in den sozialen Medien. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 213 ISLAMISMUS Prediger und Moscheen | Salafistische Prediger erreichten vornehmlich über das Internet ihr Publikum, vor allem über soziale Medien und Videoplattformen, aber auch über Onlinekurse. Ihre islamistische Propaganda setzte dabei auf allgemeinreligiöse Themen und Diskussionen, auch um Kinder und Jugendliche zu erreichen, und weniger auf Frömmigkeit und theologische Autorität. Salafistische Prediger versuchten, Seriosität zu vermitteln, und bemühten sich zusehends darum, ihre Veröffentlichungen durch eine moderne Gestaltung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. An die Stelle aufgezeichneter Vorträge im Stil eines Frontalunterrichts traten zunehmend kürzere Videos. Lange Vorträge wurden durch Interaktion mit dem Publikum aufgelockert. Aufgrund ihrer subtilen Aufmachung waren die Formate allerdings nicht immer leicht als islamistisch zu erkennen. Salafistische Prediger behandelten insbesondere in ihren Veröffentlichungen zunehmend Fragen nach aus islamischer Sicht korrektem Verhalten in Alltagssituationen; um tiefgreifende theologische Fragestellungen ging es weniger. So konsumierten Muslime und interessierte Nichtmuslime islamistische Inhalte teilweise ungewollt, was sie möglicherweise an die salafistische Lehre und Szene heranführte. Islamisten wiederum versuchten dabei, eigene "Marken" durch Logos, markante Farbkombinationen oder sonstige stilistische Mittel als Wiedererkennungswerte zu etablieren. Zusammen mit der professionellen Gestaltung der Inhalte sollten Bekanntheit und Vertrautheit des Designs den Eindruck von Vertrauenswürdigkeit erzeugen. Insgesamt fehlten jedoch im Berichtsjahr identitätsstiftende und damit gemeinschaftsfördernde ideologische Führungsfiguren bzw. überregional tätige Hauptakteure aus Hessen. Anfang 2022 machte der überregional bekannte salafistische Prediger Pierre Vogel auf sich aufmerksam: In verschiedenen sozialen Medien rief er zu einer bundesweiten Plakataktion mit dem Titel "Jesus ist ein Muslim" auf. Ziel war es, dass Personen ohne organisatorische oder persönliche Bezüge zu Vogel seinem Aufruf folgen sowie eigenverantwortlich und auf eigene Rechnung Plakatflächen anmieten würden. In Hessen wurde offensichtlich nur eine sehr geringe Anzahl an Plakaten angebracht. Im Berichtsjahr wurden in Hessen keine salafistischen Moscheen mit herausgehobener Bedeutung für die salafistische Szene festgestellt. Zwar gab es weiterhin salafistisch beeinflusste Moscheen, diese entfalteten jedoch keine größere Außenwirkung, sondern dienten lediglich als Treffund Kontaktorte für Personen aus dem entsprechenden Spektrum. Salafistische Sozialisation | Verschiedene Angebote aus dem salafistischen Spektrum offerierten muslimischen Kindern und Jugendlichen 214 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS eine Möglichkeit, scheinbar unverfänglich mehr über den Islam zu erfahren: Auf Blogs, mittels Apps oder in den sozialen Medien wurden Geschichten und Lernmodule angeboten, deren Inhalte meistens keinen islamistischen Bezug aufwiesen. Ziel der Salafisten war es, einen Zugang zu Kindern und Jugendlichen zu gewinnen. Zum Beispiel war es möglich, Livevideos in Echtzeit zu kommentieren und damit in eine Interaktion zu treten. Dadurch sollten der Eindruck von Seriosität und Vertrauenswürdigkeit geschaffen werden. Salafistische Prediger versuchten mittels ihrer Ansprache an muslimische Kinder und Jugendliche, den Grundstein für eine Erweiterung ihres Anhängerkreises und die Verbreitung ihrer islamistischen Ideologie zu legen. EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN IM JIHADISTISCHEN SALAFISMUS Der IS baute seine Untergrundstrukturen in seinen ehemaligen Einflussgebieten im Mittleren Osten weiter aus und nutzte diese für Anschläge auf lokale Machthaber und staatliche Strukturen. Seit der Machtübernahme der Taleban in Afghanistan verübte der dortige ISAbleger Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) vermehrt Anschläge, da zwischen beiden Gruppierungen sowohl eine ideologische als auch eine machtpolitische Konkurrenz bestand. Auch in Nordund Westafrika sowie in Asien waren Ableger des IS weiterhin aktiv, wobei sie einschlägige Propaganda verbreiteten und Anschläge begingen. Eine Vielzahl jihadistischer Propagandaerzeugnisse war im Berichtsjahr im Umlauf. Die Verfasser stammten dabei sowohl aus dem Lager von al-Qaida als auch des IS. Darüber hinaus waren in der Vergangenheit verübte Anschläge geeignet, radikalisierte, allein handelnde Täter weiterhin zu schwersten Straftaten sowie zu Bekenntnissen zum IS zu motivieren. Europa und damit auch Deutschland befand sich unverändert im Zielspektrum jihadistischer Attentäter und terroristischer Organisationen. AUF EINEN BLICK * Exekutivmaßnahmen * Verurteilungen * Propaganda jihadistischer Gruppierungen * Frauen und Kinder im IS * Hessenweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle * Bundesweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle * Jihadistisch motivierte Anschläge Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 215 ISLAMISMUS Exekutivmaßnahmen | Am 4. Februar wurde eine Beschuldigte aus dem Hochtaunuskreis im Anschluss an die Durchsuchung ihrer Wohnräume in Untersuchungshaft genommen. Sie habe, so der Vorwurf, als Heranwachsende eine ausländische terroristische Vereinigung unterstützt. Zusammen mit ihrem Ehemann nach islamischem Ritus sei sie im Juli 2021 zunächst in die Türkei gereist. Nachdem sie ihren Ehemann dazu bestärkt habe, habe sich dieser in Syrien der terroristischen Vereinigung Hai'at Tahrir al-Sham (HTS, Komitee zur Befreiung der Levante) als Kämpfer angeschlossen. Hierzu habe die Beschuldigte ihrem Ehemann, auch nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt. Am 5. August wurden die Wohnräume eines Beschuldigten im Hochtaunuskreis durchsucht und dabei elektronische Speichermedien sichergestellt, auf denen verschiedene Darstellungen der Flagge des IS sowie Bilder von Kampfhandlungen und Exekutionen zu sehen waren. Bei seiner Einreise am Flughafen Frankfurt am Main nahm die Polizei am 20. Dezember eine Person wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland fest. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, im Frühjahr 2016 mit seiner Ehefrau, mit der er nach islamischem Ritus verheiratet war, über die Türkei nach Syrien ausgereist zu sein, um sich dem IS anzuschließen. Der Beschuldigte, der in Mossul (Irak) eine militärische Ausbildung durchlaufen habe, habe später Wachdienste und Kampfeinsätze für den IS absolviert und dafür einen monatlichen Sold erhalten. Im August 2017 sei er von kurdischen Sicherheitskräften festgenommen worden und bis zu seiner Rückkehr im Irak in Haft gewesen. Verurteilungen | Am 5. Oktober verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen 27-Jährigen wegen eines Kriegsverbrechens zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung. Der Angeklagte hatte sich als Kämpfer der Freien Syrischen Armee mit der Leiche eines Soldaten der syrischen Streitkräfte filmen und fotografieren lassen. Unter anderem hatte er dem Getöteten in den Bauch getreten und ihn als "Hund" bezeichnet. Die entsprechenden Fotos waren von Ermittlern in seiner Wohnung sichergestellt worden. Das Urteil ist rechtskräftig. Am 1. Dezember verurteilte das LG Frankfurt am Main einen 30-Jährigen wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie wegen mehrerer waffenrechtlicher Verstöße zu sieben Jahren Freiheitsstrafe. Der Angeklagte war bereits 2011 wegen unerlaubten Waffenbesitzes und der Ankündigung der Begehung von Anschlägen zu einem Jahr Jugendstrafe verurteilt worden, soll 216 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS aber trotzdem an einem "islamistischen Narrativ" festgehalten haben. Im April 2021 hatte die Polizei in der Wohnung des Angeklagten ein Waffen-, Sprengstoffund Munitionsarsenal sichergestellt. Zudem gab es Anhaltspunkte, dass er einen Anschlag plante. Der Verurteilte hatte die Waffen nicht nur gekauft und zusammengebaut, sondern mit ihnen auch geübt. Das Urteil war zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses des vorliegenden Berichts noch nicht rechtskräftig. Am 1. Dezember verhängte das LG Frankfurt am Main gegen einen 34-Jährigen wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. In einem umfassenden Geständnis sagte der Angeklagte aus, dass er Mitte 2021 mit einem Bekannten nach Syrien ausreisen wollte. Er sei aber im August im syrisch-türkischen Grenzgebiet festgenommen und zu Anfang des Berichtsjahrs von der Türkei nach Deutschland ausgeliefert worden. Das Urteil ist rechtskräftig. Propaganda jihadistischer Gruppierungen | Die Nutzung des Internets ermöglichte es jihadistischen Gruppierungen, ihr Propagandamaterial mit geringem logistischen Aufwand weltweit zu verbreiten. Sie veröffentlichten die Produkte in einer hohen Schlagzahl, in verschiedenen Sprachen und in einer ansprechenden Gestaltung, sodass es möglich war, einen großen Adressatenkreis zu erreichen und einen Bezug zu den jeweiligen Staaten der "Ungläubigen" herzustellen. Der Jihad wurde zur individuellen Pflicht erklärt, wer diesen nicht führe, sein kein richtiger Muslim. Es sei "Sünde" unter "Ungläubigen" zu leben, die durch einen Anschlag "bereinigt" werden könne. Als mögliche Anschlagsszenarien wurden das Zünden einer Bombe in Menschenansammlungen oder der Angriff auf Gerichte, Botschaften oder Sicherheitszonen genannt. Zudem wurden Anleitungen zur Begehung von Attentaten oder zur Herstellung von Sprengstoff verbreitet. Da über das notwendige Know-how hinaus auch eine religiöse Legitimation für die Verbrechen geliefert wurde, könnten Einzeltäter zur Begehung eines Anschlages animiert werden. Die Verbreitung von Propaganda vereinfachte auch die Mobilisierung von (potenziellen) Kämpfern, Anhängern und Unterstützern und blieb daher für die Terrororganisationen ein zentrales Thema. Im Berichtsjahr gab es eine Vielzahl (neuer) jihadistischer Onlinemagazine, die sich auch gezielt an Personen außerhalb der organisationsgebundenen Strukturen und der Netzwerke wandten und versuchten, diese für Anschläge zu gewinnen. Weltweit waren Sympathisanten des globalen Jihads in der Lage, sich mit detailliertem "Lehrmaterial" aus dem Internet selbst auszubilden und sich in ihren Heimatländern zu betätigen, ohne unmittelbar in eine Terrororganisation eingebunden sein zu müssen. Dies umfasste sämtliche jihaHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 217 ISLAMISMUS distische Aktionsformen: Propaganda, Anwerbung, Spendenakquise, Spenden usw. bis hin zu Anschlägen. Gerade Kommunikationsplattformen waren geeignete Mittel, um Propaganda zu verbreiten, sich zu vernetzen und Kontakte aufzubauen. Durch Onlinemagazine und -propaganda war es al-Qaida und dem IS weiterhin möglich, sich unabhängig von regionalen Strukturen zu vernetzen. Hatten Anschläge stattgefunden, waren die schnelle Vereinnahmung der Attentäter und deren professionell aufbereitete Verehrung als Märtyrer durch al-Qaida und den IS im besonderen Maße geeignet, eventuelle Nachahmer zu befeuern. Seit Beginn des Berichtsjahrs veröffentlichte der ISPK über seine offizielle Medienstelle al-Azaim-Foundation das englischsprachige Propagandamagazin Voice of Khurasan. Die Herausgeber erinnerten zum Beispiel an die individuelle Pflicht eines jeden Mannes, in ein islamisches Land auszuwandern und sich dort am Jihad zu beteiligen, ohne dass sie explizit dazu aufriefen, sich dem ISPK in Afghanistan anzuschließen. In den Ausgaben des al-Qaida-nahen Onlinemagazins O Mujahideen in the West wurden die Hijra (Auswanderung aus religiösen Gründen), Aufrufe zu Anschlägen, die individuelle Pflicht zum Jihad sowie Anleitungen zur Durchführung von Anschlägen behandelt und diskutiert. Die Tötung des al-Qaida-Anführers Aiman al-Zawahiri im Juli in Kabul (Afghanistan) bei einem amerikanischen Luftangriff und die in diesem Kontext veröffentlichte Propaganda führten nicht zu nennenswerten Reaktionen innerhalb der jihadistischen Szene in Hessen. AlZawahiri hatte die Führung der Terrororganisation nach dem Tod Osama Bin Ladens übernommen und galt als zentrale Figur hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Im Berichtsjahr gab al-Qaida keinen Nachfolger al-Zawahiris bekannt. Frauen und Kinder im IS | Zahlreiche Kinder und Jugendliche, die zum Teil im ehemaligen Herrschaftsgebiet des IS geboren worden oder dorthin mit ihren Eltern ausgereist waren, gerieten im Zuge der Zerschlagung des "Kalifats" in Gefangenschaft der Anti-IS-Allianz. Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche dieser Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit Traumatisierungen erlitten bzw. psychisch belastende Erfahrungen mit Krieg und Gewalt gemacht haben und teilweise unverändert durch die Ideologie des IS indoktriniert sind. Da diese Personen bei einer Rückkehr nach Deutschland eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen können, befassen sich deutsche (Sicherheits-)Behörden intensiv mit der Rückkehrerproblematik, insbesondere in Bezug auf jihadistische Frauen und deren Kin218 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS der, die sich in Gefangenschaft befinden bzw. befanden. Dass ausgereiste radikalisierte Personen in Verbindung mit weiterhin fortschreitenden Radikalisierungsprozessen innerhalb der salafistischen Szene in Hessen andere Personen nach wie vor stark ideologisierten, war nach wie vor nicht erkennbar, aber nicht ausgeschlossen. Im Berichtsjahr kehrten 15 Frauen, 34 Kinder und ein Heranwachsender unter Beteiligung deutscher Sicherheitsbehörden nach Deutschland zurück. Darunter befanden sich vier Frauen aus Hessen, die zwischen 2011 und 2015 ausgereist waren. Die Frauen im Alter zwischen 30 und 32 Jahren hatten sich mehrere Jahre im Krisengebiet Syrien/Irak aufgehalten, insbesondere im Herrschaftsgebiet des IS. Eine der Frauen, die im Oktober mit ihren vier Kindern aus Nordostsyrien zurückgeholt wurde, war mit ihrem Ehemann und zwei gemeinsamen Kindern 2011 zunächst nach Pakistan ausgereist. 2012 begab sie sich nach dem Tod ihres Ehemannes alleine mit den Kindern nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen. Dort ehelichte sie einen ISKämpfer. Im Rahmen fortschreitender territorialer Verluste des IS wurden die Frauen aufgegriffen und in durch kurdische Kräfte kontrollierte Camps verbracht, wo sie teilweise mehrere Jahre lebten. Aufgrund der Größe der Lager mit teilweise zehntausenden Personen - hauptsächlich Frauen und Kinder - konnten die Sicherheitskräfte die dort untergebrachten Personen nur schwer kontrollieren. Hieraus ergab sich die Gefahr einer fortgesetzten oder sich sogar verstärkenden Radikalisierung der Bewohner - insbesondere der leicht zu beeinflussenden Kinder - im Sinne der Ideologie des IS. Angehörige der salafistischen Szene riefen zur Unterstützung dieser "Glaubensschwestern" in den Camps in Nordostsyrien auf, sodass diese mittels einzelner Spendenprojekte finanziell unterstützt wurden. Die Spendensammlungen wurden dabei als humanitäre Unterstützungsleistung zu Unrecht festgehaltener Frauen oder zur Milderung einer nicht gerechtfertigten Bestrafung der Frauen dargestellt. Der Weg der Gelder nach der Sammlung ist nur schwer nachzuvollziehen. Zwar ist es prinzipiell möglich, dass sie an die Frauen vor Ort weitergegeben werden, gleichzeitig können die Gelder auch für lokale IS-Strukturen - etwa zum Freikauf von IS-Anhängern - verwendet werden. Aufgrund der im Internet und in den sozialen Medien beschriebenen Lebensbedingungen in den Camps fanden diese Aktionen auch außerhalb islamistischer Kreise Unterstützung und trugen so zur Verbreitung salafistischer Inhalte bei. Hessenweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle | Den hessischen Sicherheitsbehörden lagen bis August 2022 Erkenntnisse zu etwa 190 Islamisten aus Hessen vor, die in Richtung Syrien oder Irak gereist waren, um dort auf Seiten des IS und anderer terroristiHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 219 ISLAMISMUS scher Gruppierungen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder diese in sonstiger Weise zu unterstützen. Etwa ein Viertel der ausgereisten Personen war weiblich. Der überwiegende Teil der insgesamt 190 ausgereisten Personen war zum Zeitpunkt der Ausreise jünger als 30 Jahre. Nicht in allen Fällen lagen Erkenntnisse vor, dass sich diese Personen tatsächlich in Syrien bzw. im Irak aufhalten oder aufhielten. Dies bedeutete, dass zu einem Teil der ausgereisten Personen bislang keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für die Einleitung von Ermittlungsverfahren durch die zuständigen Justizbehörden vorlagen. Weiter waren den Sicherheitsbehörden in Hessen etwa 40 Personen bekannt, deren geplante oder versuchte Ausreise nach Syrien oder in den Irak scheiterte bzw. durch behördliche Maßnahmen, wie zum Beispiel eine Ausreiseuntersagung, verhindert werden konnte. Dabei besaßen mehr als 60 Prozent der Personen, die ausreisten oder deren Ausreise verhindert wurde bzw. scheiterte, die deutsche Staatsangehörigkeit. Hierzu zählten auch Personen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besaßen. In den Jahren 2013 bis 2016 waren die meisten Ausreisen zu verzeichnen, in den Folgejahren gingen die Zahlen sukzessiv zurück. Seit 2019 werden Ausreisen bzw. Ausreiseversuche nur noch sehr vereinzelt registriert. Die Erkenntnislage deutete darauf hin, dass sich im Berichtszeitraum etwa ein Drittel der 190 ausgereisten Personen im Ausland aufhielt. Ungefähr 30 Prozent dieser Personen befand sich in ausländischer Haft bzw. in Gewahrsam in Syrien, im Irak oder in der Türkei. Rund die Hälfte dieser Personen war weiblich. Ein Teil der in Haft bzw. Gewahrsam befindlichen Personen beabsichtigte, nach Deutschland zurückzukehren. Etwa 70 Prozent der nicht zurückgekehrten Personen, davon etwa 30 Prozent weiblich, befanden sich vermutlich auf freiem Fuß in Syrien, dem Irak, der Türkei oder anderen Staaten. Bei einem Großteil der Personen ließ sich ein konkreter Aufenthaltsort jedoch nicht bestimmen. Es war davon auszugehen, dass sich einzelne Personen zwischenzeitlich in anderen Staaten außerhalb vom Irak oder von Syrien aufhielten und ein nicht unerheblicher Teil der Personen bei Kampfhandlungen gestorben war. Etwa 70 der 190 ausgereisten Personen befanden sich im Berichtszeitraum wieder in Hessen. Zu rund 70 Prozent dieser Rückkehrer liegen keine belastbaren Informationen vor, dass sie sich aktiv an Kampf220 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS handlungen in Syrien oder dem Irak beteiligt hätten. Als Ergebnis der kontinuierlichen Ausund Bewertung der Erkenntnislage zu zurückgekehrten Personen liegen den Sicherheitsbehörden aktuell zu etwa 20 Personen Informationen vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligt oder hierfür eine Ausbildung absolviert haben sollen. Erkenntnisse der deutschen Sicherheitsbehörden zu entsprechenden Reisesachverhalten sind Grundlage der vorliegenden Fallzahlen. Diese Erkenntnisse werden bei Vorliegen neuer oder weitergehender Informationen ergänzt bzw. aktualisiert. Um die bisherigen, aber auch künftigen Reisebewegungen detaillierter abbilden zu können, wurden auch Änderungen bei der statistischen Erfassung der Reisesachverhalte und einzelne, konkretisierende Nacherfassungen der Jahre 2012 bis 2014 vorgenommen. In der Folge hat dies zu Veränderungen bei der Anzahl der Ausreisen sowie der Ausreiseversuche geführt, wobei es sich dabei nicht um neu hinzugekommene Reisesachverhalte handelte, sondern um solche, die den deutschen Sicherheitsbehörden bereits bekannt waren. Bundesweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle | Zum Ende des Berichtzeitraums lagen zu mehr als 1.150 deutschen Islamisten bzw. Islamisten aus Deutschland, die seit 2011 in Richtung Syrien/Irak gereist waren, Erkenntnisse vor. Seit 2019 wurden Ausreisen bzw. Ausreiseversuche insgesamt nur noch sehr vereinzelt registriert. Im Berichtsjahr bewegte sich die Zahl der registrierten Ausreiseversuche im knappen unteren zweistelligen Bereich. Bis Ende 2022 hielten sich noch 36 Prozent der ausgereisten Personen im Ausland auf. Von diesen befand sich etwa ein Fünftel im Ausland in Haft bzw. in Gewahrsam. Etwa 40 Prozent der ausgereisten Personen kehrte bis Ende 2022 nach Deutschland zurück, hiervon war etwa ein Viertel weiblich. Mindestens 25 Personen verließen Deutschland nach ihrer Rückkehr aufgrund behördlicher Maßnahmen (zum Beispiel Abschiebung) zwischenzeitlich wieder bzw. reisten freiwillig in einen Drittstaat aus. Zu über 150 der bislang zurückgekehrten Personen lagen den Sicherheitsbehörden Erkenntnisse vor, wonach diese sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligten oder hierfür eine Ausbildung absolvierten. Gegen 304 der zurückgekehrten Personen wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Begehung von Straftaten, die im Zusammenhang mit deren Ausreise in Richtung Syrien/Irak stehen, eingeleitet; hiervon waren 84 Personen weiblich. Jihadistisch motivierte Anschläge | Europa und somit auch Deutschland befanden sich unverändert im Zielspektrum jihadistischer Attentäter und terroristischer Organisationen: Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 221 ISLAMISMUS * Oslo (Norwegen), 24. Juni: Auf einen in der queeren Szene beliebten Nachtclub gab ein Mann mehrere Schüsse ab, wobei zwei Menschen getötet und mehr als 20 verletzt wurden. Die Polizei stufte den Angriff als islamistischen Terrorakt ein. * Brüssel (Belgien), 10. November: In der Nähe des Bahnhofs Gare du Nord griff ein Mann zwei Polizisten mit einem Messer an und verletzte einen Beamten tödlich. Der mutmaßliche Täter rief beim Angriff "Allahu Akbar". Am Morgen der Tat war er auf einer Polizeiwache erschienen und hatte geäußert, einen Anschlag auf die Polizei verüben zu wollen. Daraufhin wurde der mutmaßliche Täter in eine psychiatrische Einrichtung gebracht, verließ diese aber später wieder. Wegen des Verdachts eines islamistischen Motivs übernahm die Antiterrorstaatsanwaltschaft die Ermittlungen. Auch außerhalb Europas kam es im Berichtsjahr zu Anschlägen und Angriffen durch islamistische Einzeltäter oder Gruppierungen. Hierzu gehören folgende Anschläge: * Colleyville (Texas, USA), 15. Januar: Nachdem ein Mann in einer Synagoge vier Personen in seine Gewalt gebracht hatte, stürmten Einsatzkräfte das Gebäude und befreiten die Geiseln. Der mutmaßliche Täter kam dabei ums Leben. Er soll mit seiner Tat versucht haben, eine in den USA inhaftierte Islamistin freizupressen. * Masar-i-Sharif (Afghanistan), 21. April: Bei einem Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee wurden mindestens 20 Menschen getötet und 60 verletzt. Der IS bekannte sich im Anschluss zur Tat und gab bekannt, dass in der Moschee eine Tasche mit einem Sprengsatz platziert worden sei, der dann mittels eines Fernzünders ausgelöst worden sei. * Mogadischu (Somalia), 29. Oktober: Bei zwei Selbstmordanschlägen mittels Autobomben töteten vier Angreifer mindestens 100 Menschen und verletzten mehr als 300. Die Terrormiliz Harakat al-Shabab al Mujahidin (al-Shabab) bekannte sich zu den Anschlägen und erklärte in einem Bekennerschreiben, dass sie das Bildungsministerium als Anschlagsort gewählt habe, da dieses verantwortlich dafür sei, das Wissen der "Ungläubigen" in Somalia zu verbreiten. ENTSTEHUNG/ENTWICKLUNG Salafisten glorifizieren die Ära des Propheten Muhammad und der ersten drei Generationen der Muslime (etwa 610 bis 850) als Zeitalter des unverfälschten Islams ("goldene Epoche"). In rigider Form stellen Salafisten Allah als Ursprung und Zentrum aller rechtlichen und moralischen Fragen in den Mittelpunkt ihres Glaubens. Dabei 222 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS ist die salafistische Szene durch zum Teil erhebliche Differenzen im Auslegen und Ausleben ihres Islamverständnisses gekennzeichnet. AUF EINEN BLICK * Wahhabitische Lesart des Islams * Salafisten ohne "klassische" Ausbildung Wahhabitische Lesart des Islams | In Deutschland waren salafistische Prediger etwa seit 2002 aktiv und bauten überregionale Missionierungsnetzwerke auf. Einige Prediger dieser ersten Generation erhielten ihre religiöse Ausbildung an Universitäten in Saudi-Arabien. Dies spiegelte sich teilweise in ihrer Interpretation der islamischen Glaubenslehre nach wahhabitischer Lesart wider, was allerdings nicht bedeutet, dass sie gegenüber dem saudischen Königshaus Loyalität zeigten. Salafistische Akteure in Deutschland beriefen sich vielmehr auf verschiedene Gelehrte und vertraten daher unterschiedliche Positionen, etwa in Bezug auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Anwendung von Gewalt erlaubt ist. Salafisten ohne "klassische" Ausbildung | Anders als einige Prediger der ersten Generation erhielt die wachsende Anzahl der gegenwärtigen Unterstützer und Sympathisanten des Salafismus oft keine religiöse Ausbildung an Universitäten, sondern schöpft ihr "Wissen" aus Islamseminaren in Deutschland und aus dem Internet. Mittlerweile haben es einige dieser Salafisten ohne "klassische" Ausbildung geschafft, auch überregional als wichtige religiöse Instanzen wahrgenommen zu werden. In Teilen der salafistischen Szene sind diese Personen jedoch wegen ihrer fehlenden formalen Bildung umstritten. IDEOLOGIE/ZIELE Der Salafismus stellt innerhalb des Islamismus eine Strömung dar, die sich insbesondere durch ihre doktrinäre Auffassung des Islams hervorhebt. Die regional verhaftete, streng konservative sunnitische Islamauslegung des Wahhabismus beeinflusste die zeitgenössische salafistische Doktrin nachhaltig. Die salafistische Glaubenslehre (arab. 'aqida) absorbierte etliche wahhabitische Glaubensgrundsätze und ergänzte diese um eigene theologische Elemente. AUF EINEN BLICK * Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams * Strikter Monotheismus im Zentrum der salafistischen Doktrin * Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre * Islamistische Narrative Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 223 ISLAMISMUS Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams | Kulturelle Einflüsse, die den Islam seit seiner Verbreitung im 8. Jahrhundert fortwährend geprägt haben, werden in der salafistischen Islamauslegung als schädigende und gleichermaßen als unerlaubte Neuerung (arab. bid'a) stigmatisiert, da sie nicht der normativen bzw. islamrechtlich verbindlichen Vorbildfunktion der Prophetentradition entsprächen. Im Salafismus orientiert sich der Handlungsspielraum menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten an der "goldenen Epoche", das heißt an den ersten drei Generationen der Muslime. Der Salafismus begreift sich gleichzeitig als ewige Bastion gegen verschiedene theologische und kulturelle Entwicklungen im Islam. Das Zeitalter der Prophetentradition bildet für Salafisten somit den theologisch verbindlichen Bezugspunkt zum uneingeschränkten Monotheismus (arab. tauhid), den es unter allen Umständen vor Unglauben (arab. kufr) und Polytheismus (arab. shirk) zu schützen gelte. Dieses "goldene Zeitalter" ist gleichzeitig auch der moralische und rechtliche Maßstab für das menschliche Dasein und Handeln in der Gegenwart zur Erfüllung des göttlichen Willens. Auch weltliche Institutionen wie Gerichtsbarkeiten, die nicht vollständig der salafistischen Auslegung der islamischen Rechtsund Verhaltensnormen (arab. shari'a) unterworfen sind, lehnen Salafisten als Götzendienst (arab. taghut) ab. Strikter Monotheismus im Zentrum der salafistischen Doktrin | Im Mittelpunkt der salafistischen Glaubenslehre steht das unerschütterliche Bekenntnis zu einem einzigen Gott. Nahezu identisch mit wahhabitischen Auslegungen fassen Salafisten die in den islamischen Glaubensquellen benannten Attribute Allahs wortwörtlich und nicht metaphorisch auf. Im Islam bezeichnet der Begriff tauhid die Lehre von der absoluten "Einheit und Einzigartigkeit Gottes" (Monotheismus). Salafisten leiten aus dem tauhid-Prinzip jedoch ab, dass Allah der alleinige Herrscher und die Scharia das einzig erlaubte Gesetz sei. Folglich lehnen Salafisten das Volk als Träger der Staatsgewalt und von Menschen gemachte Gesetze als "unislamisch" ab. Dieses tauhid-Verständnis als Wesenskern der salafistischen Doktrin gilt es nach Auffassung ihrer Anhänger unter allen Umständen vor inneren wie äußeren Verzerrungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schützen. Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre | Salafisten verstehen sich als Bestandteil der sogenannten erretteten bzw. auserwählten Gruppe (arab. at-ta'ifa-al-mansura und al-firqa-annajiya). Aus der Überzeugung, einer elitären Gruppe "wahrer Muslime" anzugehören, resultiert das moralische Überlegenheitsgefühl der Salafisten gegenüber Andersdenkenden. Aus diesem Grund fühlen sich Salafisten dazu berufen, ihr soziales Umfeld gemäß ihrer Überzeugung zu missionieren und nachhaltig zu verändern. 224 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS Besonders deutlich wird der soziale Verhaltenskodex im Salafismus anhand der Forderung der Einhaltung islamischer Prinzipien, die gemäß der salafistischen Doktrin einen Leitmotivcharakter aufweisen. Salafisten streben danach, den Islam von angeblich schädigendem Einfluss zu bereinigen. Dementsprechend versuchen sie, sowohl die theologische Lehre im Islam als auch die Gesellschaft als Ganzes gemäß ihrer Doktrin zu gestalten. Salafisten folgen dem Prinzip der Loyalität und Lossagung (arab. al-wala'-wa-l-bara'), um sich durch das klare Bekenntnis zu ihrer Glaubensauslegung demonstrativ von allen anderen Glaubensformen oder angeblich "Ungläubigen" zu distanzieren. Die Nähe zu anderen Glaubensgemeinschaften sehen Salafisten als Gefahr, den eigenen Glauben im engeren Sinne zu verzerren und den Islam im weiteren Sinne zu verderben. Das genannte Konzept der Loyalität und Lossagung kann zur vollständigen Anwendung kommen, da es in der salafistischen Szene zunehmend professionalisierte Angebote gibt, die in der Gesamtheit nahezu alle Lebensbereiche umfassen, unter anderem Angebote des Konsums oder der (Weiter-)Bildung. Das Abgrenzungsprinzip al-wala'-wa-l-bara' bietet somit den Platzhalter für viele Formen der Fremdenfeindlichkeit und mündet oftmals in der islamtheologisch umstrittenen Praxis, einen Muslim für ungläubig zu erklären (arab. takfir), wenn Salafisten andere Muslime aufgrund angeblich frevelhafter Religionsausübung oder anderer Verfehlungen als Nichtmuslime brandmarken. Darüber hinaus vertieft dies auch den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Aus dem bedingungslosen Befolgen der salafistischen Doktrin können somit verfassungsfeindliche Bestrebungen gegen die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung resultieren. Der Bestrebungscharakter im Salafismus ist prinzipiell totalitär, da das Diesseits nach seinen normativen Maßstäben zur Wahrung des Islams zu formen ist. Diese salafistische Doktrin enthält die idealisierte Vorstellung einer Welt, die den Anforderungen des "wahren Islams" vollumfänglich gerecht werden will: gesamtgesellschaftlich, global und konsequent gelebt bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Jedoch lässt sich innerhalb des Salafismus keine synchronisierte, homogene Bestrebung zu diesem Ziel hin feststellen. Da jihadistische Gruppierungen danach streben, eine islamische Gesellschaft ("Emirat"/"Kalifat") zu etablieren, haben Syrien und weite Teile der Levante (Länder am östlichen Mittelmeer) nach wie vor eine unvermindert große ideologische Bedeutung für sie. Nach jihadistischer Lesart erfüllen sich hier die apokalyptischen Verheißungen und Voraussagen islamischer Überlieferungen, das heißt die Voraussagen in Bezug auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 225 ISLAMISMUS Islamistische Narrative | Um eigene Anhänger zu mobilisieren und neue zu gewinnen, bedienen sich Salafisten verschiedener Narrative und greifen aktuelle soziale und gesellschaftliche Themen und Entwicklungen auf, was zum Teil zu einer hohen Emotionalisierung führen kann. Das gängigste und seit langem bestehende ist das Opfernarrativ. Hier wird eine sowohl in Deutschland als auch global bestehende Unterdrückung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Muslimen propagiert. Bestehende Missstände werden aufgezeigt und als Belege für einen vermeintlichen globalen Krieg des "Westens" gegen die islamische Gemeinschaft herangezogen. Social Media dienen zur Veröffentlichung, emotionalen Kommentierung und viralen Verbreitung von beispielsweise privaten oder öffentlichen Ereignissen über tatsächlich oder vermeintlich erfahrenes Unrecht. Damit werden zum einen Ressentiments gegenüber der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland geschürt, zum anderen eine Szenerie der ständigen Gefährdung von Leib und Leben von Muslimen und der "islamischen Identität" heraufbeschworen. Diese Form der Angstkommunikation wird verknüpft mit der Forderung nach einer noch stärkeren Hinwendung zum Islam, um so den Ausweg aus der selbstverschuldeten, durch fehlende Frömmigkeit vieler Muslime verursachten, kollektiven Misere zu finden. Auch auf eine vermeintliche innere Bedrohung der islamischen Gemeinschaft durch Vertreter eines liberalen Islams wird hingewiesen. Das Opfernarrativ dient im Jihadismus als Rechtfertigung zur Gewaltanwendung. Im Rahmen von Onlineinhalten scheint sich jene Selbstviktimisierung als anschlussfähig zu anderen islamistischen Strömungen zu zeigen. BEWERTUNG/AUSBLICK Politischer Salafismus | Die Verbotsverfahren auf Bundesund Länderebene sowie die präventiven Maßnahmen schränkten in den letzten Jahren für die salafistische Szene wichtige Ressourcen und die Aktivitäten ihrer Akteure und Strukturen ein. Die Zahl der öffentlichen Auftritte von Salafisten war rückläufig, seit 2018 gab es in der Szene in Hessen keine Großveranstaltungen mehr. Inzwischen versuchten einzelne Akteure aus Hessen, mittels Street-Da'wa Aufmerksamkeit für ihre Vorhaben zu erreichen und islamistische Literatur an Passanten zu verteilen, doch im Vergleich zu vorherigen Street-Da'wa-Projekten wie LIES! und We love Muhammad blieben diese erheblich in Bezug auf Umfang und Resonanz dahinter zurück. Prediger der salafistischen Szene wichen in Hessen weiterhin auf private Bereiche und die Nutzung sozialer Medien aus, sodass diese Aktivitäten in der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar waren. Die von 226 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS überregionalen Predigern bzw. Onlineprotagonisten der salafistischen Szene verbreiteten Inhalte wurden im Internet konsumiert und konkurrierten um Anhänger bzw. Follower. Diese "Influencer" verstanden es, kurzweilige, an die Nutzungsgewohnheiten junger Menschen angepasste Videos zu produzieren. Oft wurde dabei auf eine ideologische Tiefe in den Beiträgen verzichtet. Die Videos dienten häufig dazu, an die salafistische Szene heranzuführen; entsprechend wurden islamistische Inhalte, wenn überhaupt, zunehmend codiert artikuliert. Gegen Ende des Jahres drängten sowohl etablierte salafistische Prediger als auch vornehmlich im Internet agierende Salafisten zunehmend auch in Hessen zurück in die Öffentlichkeit. Aufgrund des nur geringfügig zurückgegangenen Personenpotenzials im Vergleich zum Vorjahr lässt sich festhalten, dass die große Mehrzahl der Salafisten an ihrer Ideologie festhielt. Private Treffen fanden in einem kleineren Kreis als bei öffentlichen Auftritten statt, der Austausch und der Kontakt waren enger, die Bindung an die Gruppe größer. Dadurch wurde in höherem Maße ein konspiratives Agieren möglich und das Vorgehen der Sicherheitsbehörden erschwert. Durch ganzheitliche, professionalisierte Angebote kann das unter Salafisten verbreitete Konzept der "Loyalität und Lossagung" zur vollständigen Anwendung kommen. Dadurch hält sich die Szene zusammen, trägt und finanziert sich. Zudem können Parallelstrukturen entstehen, mit denen sich nach außen abgeschottet wird. Da die Erziehung heranwachsender Generationen in der salafistischen Szene eine herausragende Rolle spielt, werden künftige Szenemitglieder möglichst früh indoktriniert, um ihr Leben nach der salafistischen Ideologie auszurichten. Dadurch soll der Grundstein für die Anbindung an die salafistische Szene und die Verbreitung ihrer Ideologie gelegt werden. Jihadistischer Salafismus | Die Gefahr eines jihadistischen Terroranschlags war in Europa und damit auch in Deutschland weiterhin unvermindert hoch. Sowohl die jihadistische Propaganda als auch Anschläge können allein handelnde Personen oder Kleingruppen weltweit weiter radikalisieren und diese zu einem Treueschwur auf jihadistische Organisationen und zu entsprechenden Taten motivieren. Die jihadistische Onlinepropaganda wurde in einer hohen Taktung veröffentlicht und stellte detaillierte Anleitungen für Anschläge in mehreren Sprachen bereit. Klassische Onlinemagazine aus dem al-Qaidaoder IS-Spektrum erfuhren dabei im Berichtsjahr eine Art Renaissance. Die Kernbotschaft des IS konnte auch im Berichtsjahr stets zu (potenziellen) Anhängern und Sympathisanten durchdringen. Von erheblicher Bedeutung war die Vervielfältigung der Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 227 ISLAMISMUS Propaganda durch diese Sympathisanten, die ohne Verbindung zum IS jihadistische Inhalte individuell verfassten und aus eigenem Antrieb über das Internet verbreiteten. Allein handelnde Täter stellen die Sicherheitsbehörden weiterhin vor große Herausforderungen, weil sie unvermittelt, ohne tiefergehende Planung und ohne vorhergehende Kommunikation mit jihadistischen Netzwerken Anschlagsvorhaben umsetzen können. Solange es dem IS und anderen Terrorgruppen gelingt, ihre Botschaften und Ideologien insbesondere über die sozialen Medien weltweit und zielgruppenspezifisch zu verbreiten, ist auch in Zukunft nicht mit einer abnehmenden Anschlagsgefahr zu rechnen. Onlinepropaganda gehört weiterhin zu den wichtigsten Werkzeugen jihadistischer Gruppierungen, um die eigene Ideologie zu verbreiten, neue Anhänger zu rekrutieren und die Szene zu vernetzen und zu finanzieren. Verschärfen sich politische und gesellschaftliche Konflikte im Inund Ausland, kann dies im Rahmen der propagandistischen "Aufbereitung" durch die salafistische/jihadistische Szene dazu führen, dass die Bereitschaft von allein handelnden Personen und/oder Kleingruppen zunimmt, den "Brüdern" und "Schwestern" zur Seite zu stehen. Auf - grund seiner propagandistisch-ideologischen Überzeugungskraft wird der Jihadismus in Zukunft fortbestehen; er wird weiterhin eine breite Anhängerschaft anziehen und sowohl Gruppen formieren als auch allein handelnde Personen mobilisieren. Auch Konflikte im Ausland - darunter Afghanistan und Afrika - gewinnen für die globale jihadistische Szene an Bedeutung. Es ist wahrscheinlich, dass die Terrorgruppe al-Qaida, die traditionell enge Beziehungen zu den Taleban pflegt, versucht, Afghanistan als Rückzugsraum zu nutzen, um sich zu restrukturieren und in der Folge wieder zu erstarken. Dies ist allerdings davon abhängig, welchen Freiraum die Taleban al-Qaida hierfür gewähren werden. Die Tötung des al-Qaida-Anführers al-Zawahiri schwächt die Terrororganisation zumindest symbolisch. Bislang gab al-Qaida keinen Nachfolger öffentlich bekannt. Es ist davon auszugehen, dass sich die Entwicklungen des weltweiten Jihad auf Deutschland und somit auf Hessen auswirken und die hiesige Szene weiterhin beeinflussen werden. Die Aktivitäten der IS-Ableger - vor allem des ISPK in Afghanistan - zeigen beispielhaft, wie anpassungsund widerstandsfähig jihadistische Terrorgruppen sind und über welches Maß an (propagandistischer) Wirkungsund Schlagkraft sie verfügen. Die Sicherheitsbehörden beobachten daher die weltweiten und regionalen Ereignisse und deren Auswirkungen im Inland weiterhin sehr genau, um rechtzeitig und zielgerichtet Maßnahmen treffen zu können. 228 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS LEGALISTISCHER ISLAMISMUS Hizb ut-Tahrir (HuT, Partei der Befreiung) DEFINITION/KERNDATEN Weltweit ist die HuT in über 40 Staaten mit etwa einer Million Führung : Mitgliedern präsent. Ziel der panislamischen Organisation ist Ata Abu al-Rashta die "Befreiung" aller Muslime von "Unterdrückung" und deren Ver(alias Abu Yasin) einigung in einem weltweiten "Kalifat" mit islamischer Rechtsordnung. Aus Sicht der HuT haben "unterdrückte Muslime" das Recht Anhänger: auf "Selbstverteidigung" mit allen Mitteln. Als Konsequenz billigt In Hessen etwa 100, bundesweit rund 750 die HuT oftmals Gewalttaten anderer islamistischer Gruppierungen. 2003 sprach der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot Medien : gegen die HuT aus, das der Europäische Gerichtshof für MenschenMehrsprachige Internetpräsenzen rechte 2012 bestätigte. Dennoch setzen Anhänger der Organisation ihre Rekrutierungsbemühungen im Untergrund fort. Insbesondere in den sozialen Medien gibt es zahlreiche Gruppierungen mit Be- / zügen nach Hessen, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen. Hierzu gehört die in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) ansässige Gruppierung Realität Islam (RI). EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Die Gruppierung RI war unter dem Leitspruch "Für die Bewahrung der islamischen Identität" schwerpunktmäßig in verschiedenen sozialen Medien aktiv, wobei die Veröffentlichungen größtenteils identisch waren. Bis zum Ende des Berichtszeitraums wurde die RIFacebook-Seite von etwa 38.000 Personen geliked und von 44.000 abonniert, die Instagram-Seite wies 25.000 Follower bei insgesamt 1.710 Veröffentlichungen auf, der YouTube-Kanal hatte etwa 19.800 Abonnenten und wurde seit November 2015 mehr als 1,8 Millionen Mal aufgerufen. Der Twitter-Account hatte seit Neueröffnung im Oktober 2021 etwa 1.100 Follower. Seit Anfang Oktober 2022 existierte auch ein Account auf TikTok. AUF EINEN BLICK * Digitalisierung - Auftritte in den sozialen Medien * "#Hashtag-Trends" * Russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine * Kritik an der Islamismusprävention * Stellungnahme zur sexuellen Orientierung und Identität im Islam Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 229 ISLAMISMUS Digitalisierung - Auftritte in den sozialen Medien | Die Gruppierung RI nutzte wie im Vorjahr ihre Auftritte in den sozialen Medien, um möglichst viele Zuschauer und Zuhörer zu erreichen. "Reale" Auftritte hatte RI nicht. Umso häufiger waren Videos von RI-Funktionären in den sozialen Medien abrufbar. Hier lag der Fokus auf professionell gestalteten Studiovideos mit persönlichen Stellungnahmen. Die Neuanmeldung bei TikTok im Oktober 2022 folgte einem allgemeinen Trend innerhalb der islamistischen Szene, sich dieser Plattform zu bedienen und sich so ein jüngeres Publikum zu erschließen. Ebenfalls im allgemeinen Trend im Islamismus lag der deutliche Rückgang der Aktivitäten auf Facebook. Zwar wurden dort noch Inhalte geteilt, doch die Reaktion seitens der RI-Anhängerschaft oder anderer Akteure ging stark zurück. "#Hashtag-Trends" | Besondere Aufmerksamkeit in den sozialen Medien erlangte RI durch das Verwenden von Hashtags. So nutzte die Gruppierung viele zum Teil emotional aufgeladene Hashtags in Verbindung mit ihren Beiträgen, zum Beispiel #Muslime, #Wertediktatur, #Imam, #LGBTQ+, #Glaube, #Islamfeindlichkeit, #Islamophobie, #WM, #Islamhass, #Hetze. Anhänger und Sympathisanten griffen die Hashtags auf und prägten so die jeweilige Hashtag-Kampagne mit. RI nutzte dabei den Vorteil solcher Hashtags, die plattformübergreifend bedient werden können und wiedererkennbar sind. Dabei benutzte RI auch Hashtags, die bestimmte Personen des öffentlichen Lebens in negativer Weise darstellten. RI hob immer wieder auf bekannte Wissenschaftler, Journalisten und Politiker ab. Dies geschah im Rahmen der Ideologie und Vorstellung der Gruppierung, die Gesellschaft, das heißt Muslime und Nichtmuslime, vor angeblichen existenzbedrohenden, islamophoben und staatlichen Maßnahmen "warnen" zu müssen. RI-Anhänger, die sich in den Kom230 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS mentarfunktionen der sozialen Medien aktiv daran beteiligten, charakterisierten die in Rede stehenden Personen unter anderem als "islamophobe Lügner" oder gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass "solche Leute [bald] nicht mehr so viel zu sagen haben". Gleichzeitig bedankten sich einzelne Nutzer bei RI für die "Aufdeckung der Lügen" und für die "vorbildliche Aufklärungsarbeit" oder befürworteten eine "Vereinigung [der Muslime] als Umma". Russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine | Auf den Überfall Russlands auf die Ukraine reagierte RI mit zahlreichen Veröffentlichungen auf Instagram. So bezeichnete die Gruppierung das Vorgehen der EU, gemeint war insgesamt der "Westen", als "erneute Doppelmoral". Geflüchteten aus der Ukraine würde die Einreise nicht so schwergemacht wie seinerzeit Personen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Ukrainer würden "menschenwürdig behandelt und möglichst unbürokratisch" aufgenommen: "Muslimisches Leben hat offensichtlich für die EU nicht denselben Wert, wie das Leben von weißen, nicht muslimischen Europäern!" In einem anderen Beitrag betonte RI, dass "europäische Staatsführer auf Muslime herabblicken und toxischer Rassismus in der EU verankert" sei. Man agiere mit "eurozentristischem Hochmut" und gebe "menschenverachtende Aussagen" in Bezug auf die Herkunft von Geflüchteten wieder. Getragen von unterstützenden Kommentaren der Nutzer, sah sich RI in ihrem Argument gefestigt, dass die Situation "definitiv ein Resultat der gescheiterten gesamteuropäischen Minderheitenpolitik und der islamfeindlichen Assimilationspolitik" sei und sich das "strukturelle Rassismusproblem" fortsetze. Kritik an der Islamismusprävention | Bereits seit Längerem "warnte" RI davor, Themen, die den Islam betreffen, in staatliche Hände zu legen oder deren Gestaltung von staatlichen Akteuren planen und durchführen zu lassen. Dazu hieß es im Berichtsjahr: "Die sogenannte Islamismusprävention ist [...] ein Projekt, in dem die Präventionsarbeit dazu beitragen soll, die Deutungshoheit über den Islam in staatliche Hände zu legen und uns Muslime im Sinne der politischen Assimilationspläne in Lager zu spalten - nämlich in sogenannte reformierte deutsche Muslime oder als Gegenstück dazu, also sogenannte Extremisten". Ausführlich äußerte sich die Gruppierung RI zu den Themen "Extremismusprävention", "Islamismus" und "legalistischer Islamismus" auf ihren Profilseiten in den sozialen Medien wie Facebook, Instagram und TikTok. Dabei versuchte RI sich den Anschein von Objektivität zu geben und diskutierte die staatlich geförderten PräventionsproHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 231 ISLAMISMUS jekte VPN (Frankfurt am Main und Berlin), ufuq.de (Berlin) und Al Wasat (Hamburg). In diesem Kontext missbilligte RI die Arbeit der angeblichen "Helfer der Assimilationsagenda". Außerdem hieß es in dem Beitrag von RI: "Verbotsdebatte, Wertedebatten, die Dämonisierung des Islam[s] und der alleinige Wahrheitsanspruch des sogenannten Reformislams, sowie die Verteufelung der islamischen Lebensweise - all das sind die Ursachen für diese islamfeindliche Entwicklung. Und so lange diese nicht klar benannt werden, können wir über Toleranz und Respekt reden; das Feindbild wird bestehen bleiben und Muslime werden weiter durch Teile der Gesellschaft ausgegrenzt, diskriminiert, verbal attackiert oder sogar körperlich angegriffen". Die Arbeit von VPN bezeichnete ein RI-Funktionär als Kriminalisierung religiöser Handlungen der Muslime, die von VPN mit Gewalt in Verbindung gebracht würden. Anschließend seien dann VPN und dessen Mitarbeiter als vermeintliche Experten zugegen, um "solche Unheile" zu verändern: "Ihr seht also [...], die Arbeit von VPN und ähnlichen staatlichen Handlangern befördert die gesellschaftliche Stigmatisierung von uns Muslimen und unserer islamischen Lebensweise und sie sorgt für eine Atmosphäre der Denunzierung, der gesellschaftlichen Bespitzelung und des Generalverdachts [in Bezug auf Muslime], weshalb wir eine solche Vorgehensweise mit aller Entschiedenheit ablehnen müssen". Darüber hinaus erklärte der RI-Funktionär, dass dies kein Umgang sei, "den wir Muslime verdient haben und den wir gutheißen können. Und deswegen ist es wichtig, im Kontext der sogenannten Islamismusprävention die Schweigespirale zu brechen und über die wahren Absichten hinter diesen gefährlichen Projekten des Staates zu sprechen". Insgesamt versuchte RI mit ihren Beiträgen den Eindruck zu erwecken und zu verbreiten, dass Begriffe wie "Islamismus", "Salafismus", "Extremismus", "islamistischer Legalismus", "Präventionsarbeit" und "Deradikalisierung" von der Politik geschaffene Ausdrücke seien, die langfristig darauf abzielten, Muslime zu diskreditieren und von der Mehrheitsgesellschaft auszuschließen. In früheren Redebeiträgen hatte der oben genannte RI-Funktionär betont, dass hieraus Attentate gegen muslimische Einrichtungen resultierten. Stellungnahme zur sexuellen Orientierung und Identität im Islam | Ein weiteres Schwerpunktthema bildete für die Gruppierung RI und deren Anhänger die in der Gesellschaft diskutierte Thematik "sexuelle 232 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS Orientierung und Identität". Dabei lehnte RI in den sozialen Medien - vor allem Instagram - die Existenz und Sichtbarkeit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sowie alternativer Identitätsformen und -modelle ab. Diese Ablehnung verdeutlichte RI mit abwertenden Kommentaren. Das Thema einer angeblich unislamischen "sexuellen Orientierung" von Muslimen verknüpften RI-Anhänger immer wieder mit der Forderung nach deren Ausschluss aus der Umma. Auf ihren Accounts verbreiteten RI-Anhänger die Ansicht, dass queere Muslime "keine Muslime mehr" seien. In diesem Kontext legten RI und verschiedene Anhänger - so ihre Sichtweise - "valide und theologisch fundierte Begründungen" vor, wonach eine andere Konstellation als "Mann und Frau als Ehepaar" nicht möglich sei. Ende Oktober veröffentlichte die der HuT zugehörige Internetseite www.kalifat.com den Beitrag "LGBTQ und die Verbreitung von Unwahrheiten". In diesem Artikel war erkennbar, dass der Autor pluralistische Identitätsmodelle negierte. So lehne man Wissenschaft ab und werfe die "Realität über Bord" und gebe einer verschwindend kleinen Minderheit eine viel zu große Bühne. Mit eigenen "wissenschaftlichen" Erklärungen versuchte der Autor, eine andere Konstellation als Mann und Frau als unnatürlich abzutun, und bezeichnete Abweichungen hiervon als absurd, falsch und der Realität widersprechend. Stattdessen rief RI dazu auf, als muslimische Gemeinschaft zusammenzustehen und alternative Beziehungsmodelle und sexuelle Orientierungen nicht zuzulassen. Darüber hinaus thematisierten einige der HuT nahestehende Islamisten und Gruppierungen - etwa aus Hamburg, Niedersachsen und dem Rhein-Main-Gebiet - eine Konferenz am 7. Oktober an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zum Thema "Queer im Islam". Entsprechende Beiträge fanden sich auf Facebook, Instagram und Twitter. Konferenzteilnehmer waren Personen des öffentlichen Lebens, die RI in der Vergangenheit regelmäßig als "Islamhasser", "Reformtheologen" oder "Helfer der Assimilationsagenda" bezeichnet hatte. ENTSTEHUNG/ENTWICKLUNG Die HuT wurde 1953 im damals von Jordanien besetzten Ostteil Jerusalems von dem palästinensischen Politiker Taqi ad-Din an-Nabhani, der auch der MB nahestand, gegründet. AUF EINEN BLICK * Gründung in Ost-Jerusalem * Betätigungsverbot in Deutschland Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 233 ISLAMISMUS Gründung in Ost-Jerusalem | Der Entschluss zur Gründung der HuT erwuchs aus der Unzufriedenheit an-Nabhanis und seiner Anhänger über die fehlende Unterstützung der MB für das palästinensische Volk im Kampf gegen Israel. Nach dem Tod an-Nabhanis trat in der HuT der Palästina-Bezug zugunsten der Forderung nach einem alle Muslime umfassenden "Kalifat" in den Hintergrund. In Deutschland verbreiteten HuT-Anhänger vor allem in Universitätsstädten Flugblätter und Zeitschriften mit antiisraelischen und "antiwestlichen" Inhalten. Betätigungsverbot in Deutschland | Am 25. Januar 2006 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht das am 10. Januar 2003 vom Bundesminister des Innern erlassene Betätigungsverbot gegen die HuT. In dem Urteil hieß es unter anderem, dass die HuT zur gewaltsamen Beseitigung des Staates Israel und zur Tötung von Menschen aufgerufen und dadurch der friedlichen Lösung der israelisch-palästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt hat. In seiner Begründung verwies das Bundesverwaltungsgericht auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, wonach Vereinigungen verboten sind, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. IDEOLOGIE/ZIELE Ziel der HuT ist die Vereinigung der weltweiten Gemeinschaft der Muslime (arab. umma) in einem Gottesstaat ohne nationale Grenzen unter der Führung eines Kalifen. Er soll die göttliche Rechtsordnung, das heißt die Scharia als Grundlage und Maßstab staatlichen Handelns, im Kalifat verbindlich durchsetzen. Islam und Demokratie sind für die HuT nicht miteinander vereinbar. AUF EINEN BLICK * Verschweigen extremistischer Ziele * Verwirklichung eines HuT-Manifests * Islamische Identität Verschweigen extremistischer Ziele | Die Gruppierung RI weist eine ideologische Nähe zur HuT auf. Die islamistischen Ziele von RI und ihr ideologischer Hintergrund werden jedoch bei öffentlichen Aktivitäten verschwiegen. Erst die Lektüre der Publikation "Realität Islam[.] Eine Einführung[.] Gemeinsam für eine starke und bewusst agierende Gemeinschaft" offenbart das von RI propagierte Weltbild und die Widersprüche zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Verwirklichung eines HuT-Manifests | Die HuT gab in den vergangenen Jahren zahlreiche Manifeste auf ihrer Internetseite für den deutschsprachigen Raum bekannt, die sich aufgrund ihrer islamis234 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS tischen Programmatik eindeutig im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung befinden und diese überwinden wollen. Verlautbarungen von RI belegen, dass zwischen RI und HuT nicht nur eine ideologische Nähe besteht, sondern RI aktiv die tatsächliche Umsetzung einiger HuT-Leitlinien betreibt. Die HuT-Programmatik sieht eine klare Abgrenzung der muslimischen Gemeinschaft gegenüber angeblich frevelhaften und moralisch verkommenen Regierungsformen vor. Der aktiven Arbeit dagegen - gemeint sind hier in erster Linie säkular geprägte Demokratien - müsse Überzeugungsarbeit vorausgehen, die den Muslimen die vermeintlichen Schwächen und Fehler der politischen Systeme aufzeigt, in denen sie lebten: "Die intellektuelle Auseinandersetzung bzw. das Ringen mit den Überzeugungsfundamenten des Kufr, seinen Systemen und Ideen sowie mit den verdorbenen Glaubensgrundlagen, den falschen Ideen und fehlerhaften Konzeptionen der Menschen. Ihre Fehlerhaftigkeit, ihre Falschheit und ihr Widerspruch zum Islam werden dargelegt, um die Umma von ihnen und ihrem Einfluss zu befreien". Auch RI-Verantwortliche kritisieren regelmäßig "Regierungssysteme", "Medienschaffende" und das demokratisch verfasste Wertesystem. RI-Protagonisten prangern in ihren Videobotschaften die deutsche Politik und Gesellschaft an und kritisieren, dass "Muslime systematisch kriminalisiert und marginalisiert" würden. "Wertediktatur" und "Assimilierungspolitik" seien Falschheiten und stünden im Widerspruch zu ihren islamischen Vorstellungen, wie sie das HuT-Manifest diktiert. So proklamiert RI: "Die Regierungs-, die Wirtschaftsund Bildungssysteme, die Außenpolitik und die zivilen Gesetze [...] sind Systeme und Gesetze des Unglaubens". Darüber hinaus übertragen die Verantwortlichen von RI die aus dem HuT-Manifest vorgesehene Funktion eines Multiplikators und Propagandisten auf sich, um die entsprechende Ideologie an die muslimische Zielgruppe zu verbreiten. Im Manifest heißt es dazu: "Ziel ist es, islamische Persönlichkeiten [auszubilden], welche in der Lage sind, die islamische Botschaft zu tragen und die intellektuelle Auseinandersetzung sowie den politischen Kampf zu führen". In einer Art Stufenplan legt die HuT "Befreiungsstrategien" fest, die sich an ihre erfolgreiche Indoktrinierung der Muslime anschließen sollen: "Der politische Kampf, der sich wie folgt darstellt: Die Bekämpfung der ungläubigen Kolonialmächte, die Macht und Einfluss in der islaHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 235 ISLAMISMUS mischen Welt besitzen. Die Bekämpfung des Kolonialismus in all seinen gedanklichen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Erscheinungsformen sowie die Aufdeckung seiner Strategien und Machenschaften, um die Umma von seiner Hegemonie und jeder Form seiner Einflussnahme zu befreien". RI greift diese Strategien auf und legt die in ihren Augen von Herrschern in der arabischen bzw. islamischen Welt verübten (Misse-)Taten offen. In sprachstilistischer Anlehnung an das HuT-Manifest benennt RI den französischen Präsidenten Emmanuel Macron als "aktiv handelnde[n] Kolonialisten". Die Bekämpfung "westlicher", vermeintlicher Erbkolonien konzentriert sich bei RI hingegen auf einen rein intellektuell ausgerichteten Angriff anstelle einer Bekämpfung im gewalttätigen Sinne. Dem Stufenplan der HuT folgend sind anschließend Ausbildungsund Lehrmethoden notwendig: "Die gemeinschaftliche Ausbildung der Massen der Umma mit den Ideen und Rechtssprüchen des Islam[s], die sich die Partei angeeignet hat. Dies erfolgt im Moschee-Unterricht, in Podiumsveranstaltungen, in Vorträgen, an öffentlichen Versammlungsplätzen, in Zeitungen und Zeitschriften sowie in Büchern und Flugblättern, um ein allgemeines Bewusstsein bei der Umma zu erzeugen, um mit ihr zu interagieren und sie mit dem Islam zu verschmelzen. Dadurch soll eine breite Volksbasis entstehen, die die Partei in die Lage versetzt, die Umma zur Gründung des Kalifats zu führen und die Regentschaft nach dem, was Allah herabgesandt hat, wiederherzustellen". RI wendet verschiedene (Lehrund) Lernmethoden an: Die Gruppierung betreibt Da'wa und Ausbildung in Lehrkreisen, bietet Unterricht und Podiumsveranstaltungen an, verbreitet Flugblätter und zielt auf die Vergrößerung ihrer Anhängerschaft ab, um dem Stufenplan der HuT gerecht zu werden. RI vertritt in der andauernden Diskussion um die "Wertediktatur" die Meinung, "westliche" und nichtislamische Werte in Deutschland nicht anerkennen zu müssen. Eine "breite Volksbasis" soll durch die Plattformen in den sozialen Medien Facebook, YouTube oder Instagram erreicht werden. Islamische Identität | Im angeblichen staatlichen Assimilationsdruck, der Muslime zur Übernahme "westlicher" Wertevorstellungen zwinge, sieht die HuT-nahe Gruppierung RI eine permanente Gefährdung der islamischen Identität. Vor staatlichen Repressionen seien Muslime daher nur in einem islamischen Kalifat sicher, das ihre islamische Identität wahre. Diese Argumentationslinie ist für Anhänger von RI zunehmend identitätsstiftend. 236 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS STRUKTUREN HuT-Angehörige treten in Deutschland wegen des Betätigungsverbots nicht offen in Erscheinung. Die Ideologie der HuT wird indes durch Gruppierungen in die Gesellschaft lanciert, die nicht mit der HuT gleichzusetzen sind, dieser jedoch zumindest nahestehen. AUF EINEN BLICK * Messbarkeit von Vernetzung: "Virtuelle Welt" - "Realwelt" * Kontakte außerhalb Hessens Messbarkeit von Vernetzung: "Virtuelle Welt" - "Realwelt" | RI war zunächst eine auf Facebook aktive Gruppierung, die eine ideologische Nähe zur HuT aufwies. Im Gegensatz zu anderen HuT-nahen Facebook-Gruppierungen erweiterte RI ihr digitales Medienangebot auf Plattformen wie Instagram, YouTube, Twitter und TikTok Jahr für Jahr. Im Berichtszeitraum nahm die für RI ursprünglich wichtige Vernetzungsplattform Facebook an Bedeutung ab. Versammlungen oder Veranstaltungen fanden zuletzt 2019 in der "Realwelt" statt. Die digitalen Präsenzen waren der Gruppierung wesentlich wichtiger. Kontakte außerhalb Hessens | Da digitale Grenzen nicht existieren, können im Internet verbreitete Inhalte überall konsumiert werden. Es gab zahlreiche virtuelle Kontakte in Form von gegenseitigem Retweeten, Liken, Kommentieren und positivem Bewerten von Beiträgen auf Social-Media-Plattformen von RI und anderen HuT-nahen Gruppierungen in Ländern wie Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Berlin und Niedersachsen, wo früher "realweltliche" Treffen stattfanden, die auch der Vernetzung dienten. Dies zeigt die ideologischen Überschneidungen der Gruppierungen bundesweit. BEWERTUNG/AUSBLICK Die Gruppierung RI nutzte überwiegend die sozialen Medien, um eine möglichst hohe Wirkung ihrer Ideologie in der muslimischen - insbesondere der sunnitischen - Religionsgemeinschaft zu erzielen. Dabei beanspruchte RI weiterhin, alleinige Vertreterin und ausschließliches Sprachrohr "der Muslime" in Deutschland zu sein. Gesellschaftlich relevante Themen griff RI auf, um die eigenen Positionen als gesellschaftsfähig zu vermarkten und die eigene Ideologie zu verbreiten. Gleichzeitig wurden entsprechende Themen zur Mobilisierung und Hetze instrumentalisiert. Diese Bestrebungen manifestierten sich insbesondere in der Analyse und Kommentierung der Präventionsund Deradikalisierungsarbeit. Dabei behauptete RI, dass die politische Agenda sogar staatlich geförderte zivilgesellschaftliche Akteure anspreche. Übergeordnetes Ziel sei es, an den Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 237 ISLAMISMUS Projekten teilnehmende Muslime dazu zu bewegen, sich vom Islam abzuwenden und sich von der angeblich bedrohten islamischen Identität zu distanzieren. Die in diesem Kontext verwendete Wortwahl "Denunzierung, Bespitzelung und Generalverdacht" kann dazu führen, dass Muslime weniger am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teilnehmen und sich stattdessen absondern. Das würde eine effektive Präventionsarbeit künftig erschweren. Obwohl sich RI nach außen hin "objektiv" darstellt, toleriert sie andere Positionen nicht, was vor allem für die wissenschaftlich-theologische Auseinandersetzung mit dem Islam gilt. RI akzeptiert die entsprechenden Wissenschaftler verschiedener Universitäten nicht, sondern feindet sie an, verunglimpft sie und stellt sie an den Pranger. Erkenntnisse der Islamwissenschaft, der islamischen Theologie oder Ethnologie lehnt RI konsequent ab und beruft sich ausschließlich auf Koran und Sunna, in deren Sinne das gesellschaftliche Leben zu gestalten und bereits Kinder zu erziehen seien. Das Heranziehen anderer Quellen als Koran und Sunna ist den Funktionären von RI fern und fremd. RI prangert immer wieder die angeblich "islamfeindliche" Politik Deutschlands und die "von ihr erfolgreich verführte Mehrheitsgesellschaft" an, die für gewalttätig gewordene Einzelakteure, die das muslimische Leben in Deutschland "unerträglich machen", verantwortlich seien. Es ist davon auszugehen, dass RI weiterhin verbale Attacken gegen Personen verbreiten wird, die sich wissenschaftlich oder kritisch mit dem Islam beschäftigen. RI wird weiterhin die Strategie verfolgen, sich zu politischen Themen zu äußern, da die Gruppierung hiermit ihre Klientel in den sozialen Medien leicht erreichen und emotionalisieren kann, um eine möglichst hohe Wirkung ihrer Ideologie in der muslimischen - insbesondere der sunnitischen - Religionsgemeinschaft zu erzielen. Muslimbruderschaft (MB)/Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) DEFINITION/KERNDATEN Die MB ist in zahlreichen Staaten der Welt, dabei in nahezu allen Ländern des Nahen Ostens, vertreten. Sie ist die einflussreichste und älteste islamistische Bewegung unter den Sunniten. Ziel der MB ist die Errichtung eines weltumspannenden Gemeinwesens als Gottesstaat auf der Grundlage von Koran und Sunna. In Deutschland ist die DMG die größte Organisation, welche die Ideologie der MB vertritt. In Anlehnung an ihre ägyptische Mutterorganisation versucht die DMG, durch soziales und religiöses Engage238 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS ment sowie durch Dialogangebote Akzeptanz in der Gesellschaft zu finden. Letztlich zielen diese Versuche darauf ab, die Ideologie der MB in Deutschland gesellschaftsfähig zu machen. Der DMG sind bundesweit verschiedene Moscheegemeinden und sogenannte IsLogo der MB lamische Zentren zuzuordnen, die formal von ihr unabhängig sind, Führung : aber Kontakte zu ihr unterhalten. In Hessen befinden sich solche Muhammad Badi (Ägypten) Zentren in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und Frankfurt am Main. In Deutschland ist die DMG, ehemals Islamische GemeinAnhänger: In Hessen etwa 300, schaft in Deutschland e. V. (IGD), mit Hauptsitz in Berlin die mitgliebundesweite rund 1.450 derstärkste Organisation von MB-Anhängern in Deutschland. Die DMG repräsentiert den ägyptischen Zweig der MB und ist seit ihrer Zuzurechnende Gründung als IGD Mitglied der Federation of Islamic Organizations Organisationen: in Europe (Föderation islamischer Organisationen), nunmehr Harakat al-Muqawama al-Islamiya (HAMAS, Islamische WiderCouncil of European Muslims. standsbewegung) in den palästinensischen Autonomiegebieten (Gazastreifen) in Israel, alEREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Nahda (Tunesien), al-Ikhwan al-Muslimun fi Suriya (Die MusIm Januar wurde auf der Vertreterversammlung des Zentralrats der limbrüder in Syrien) Muslime (ZMD - kein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes) für den Ausschluss der DMG gestimmt. Das in Frankfurt am Main ansässige Europäische Institut für Humanwissenschaften e. V. \ (EIHW), das der MB zuzurechnen ist, setzte im April sein islamisches Bildungsprogramm in deutscher Sprache mit dem zweiten Semester fort. Im September verstarb mit Yusuf al-Qaradawi ein bedeutender Ideologe der MB. In Hessen führten die MB-Angehörigen ihre legalistische, dialogorientierte Unterwanderungsstrategie in Bezug auf Politik und Gesellschaft konsequent fort und gingen im Zuge der allmählich auslaufenden "Corona-Maßnahmen" zunehmend zur persönlichen Kontaktpflege über. AUF EINEN BLICK * ZMD beschließt Ausschluss der DMG * Tod Yusuf al-Qaradawis * Islamisches Bildungsprogramm in deutscher Sprache * Veranstaltungen des Europäischen Rats der Imame (European Council of Imams) ZMD beschließt Ausschluss der DMG | Am 23. Januar beschloss die Vertreterversammlung des ZMD den Ausschluss der DMG. Die ZMD hatte im Dezember 2019 die Aussetzung der Mitgliedschaft der DMG beschlossen, bis vor dem LG Berlin geklärt sei, ob die DMG zu Recht in den Verfassungsschutzberichten des Bundes erwähnt werde. Am 30. August 2021 hatte die DMG ihre Klage zurückgezogen. Eine Reaktion der DMG auf den Ausschluss gab es bislang nicht. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 239 ISLAMISMUS Tod Yusuf al-Qaradawis | Im Alter von 96 Jahren verstarb Yusuf al-Qaradawi am 26. September in Katar, wo er seit 2013 im Exil lebte. Er hatte sich früh der MB zugewandt und wurde einer ihrer wichtigsten Ideologen. Die ägyptische Regierung hatte ihn aufgrund seiner Predigten mehrfach inhaftiert und in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Seit 2017 führten ihn neben Ägypten auch Saudi-Arabien, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate auf ihrer Terrorliste. Nach seinem Tod veröffentlichte die DMG einen Nachruf, in dem sie ihn als einen "der kompetentesten und prominentesten Gelehrten der muslimischen Welt" bezeichnete: "Ein großer muslimischer Gelehrter, Sheikh Yusuf al-Qaradawi, ist zu seinem Herrn zurückgekehrt." Islamisches Bildungsprogramm in deutscher Sprache | Am 9. April begann am EIHW das zweite Semester des islamischen Bildungsprogramms in deutscher Sprache als kostenpflichtiger Onlinestudiengang, für den öffentlich auf der Facebook-Seite des EIHW geworben wurde. Das akademische Jahr umfasste 160 Unterrichtsstunden, die sich auf acht Kurse verteilten und an den Wochenenden stattfanden. Die Prüfungen zu den Kursen waren optional. Veranstaltungen des Europäischen Rats der Imame (European Council of Imams) | Der Europäische Rat der Imame veranstaltete in Istanbul (Türkei) vom 18. bis 20. März das erste europäische Treffen für angehende Prediger mit 60 Teilnehmern aus 15 Ländern. Vom 18. bis 20. November fand das zweite europäische Treffen der Imame und Prediger mit 90 Teilnehmern statt. An den beiden Veranstaltungen nahmen Funktionäre und Aktivisten der MB - unter anderem aus Hessen - teil. 240 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS ENTSTEHUNG/GESCHICHTE In einer Phase des sozialen Umbruchs in Ägypten, in der sich ein neuer Mittelstand herausbildete, gründete 1928 der Volksschullehrer Hasan al-Banna die MB als Reaktion auf die zunehmende Europäisierung des Landes. Als Wohlfahrtsorganisation islamischer Prägung, die unter anderem Krankenhäuser und Schulen unterhielt, entwickelte sich die streng hierarchisch aufgebaute MB zunehmend zum Staat im Staat. Unter der Führung al-Bannas verfolgte die MB nach und nach im Wesentlichen folgende Ziele: Die Eliminierung des britischen Einflusses in Ägypten, die Islamisierung von Staat und Gesellschaft sowie die Errichtung eines weltweiten Kalifats. Vor allem mit ihrer karitativen Arbeit gewannen die MB und ihre in anderen Ländern gegründeten Ableger immer mehr Anhänger. AUF EINEN BLICK * Vom Verbot zur Regierung * Die MB in Deutschland Vom Verbot zur Regierung | In den 1940er und 1950er Jahren waren die Beziehungen zwischen der MB und dem ägyptischen Staat von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt. 1948 wurde der ägyptische Ministerpräsident Mahmud Fahmi an-Nuqrashi ermordet, 1949 fiel Hasan al-Banna einem Attentat zum Opfer. 1954 verbot die Regierung die MB; ihr maßgeblicher Ideologe, Sayyid Qutb, wurde 1966 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ungeachtet der Generalamnestie für führende MB-Funktionäre 1971 dauerten die Gewalttaten militanter islamistischer Gruppen, die ihre Aktionen unter Berufung auf die Schriften Sayyid Qutbs rechtfertigten, an. Eine militante Abspaltung der MB ermordete 1981 den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat. Sein Nachfolger Husni Mubarak gewährte der MB den Status als religiöse Bewegung, nicht aber den einer politischen Partei. Als Konsequenz entsandte die MB vermeintlich unabhängige Bewerber und Kandidaten auf Wahllisten anderer Parteien in die Parlamentswahlen. Bei den Wahlen im Jahr 2005 vervierfachte die MB die Zahl ihrer Abgeordneten auf 88 und errang damit etwa ein Fünftel der Sitze im ägyptischen Parlament. Nach dem von Massenprotesten der Opposition erzwungenen Rücktritt Mubaraks 2011 erlangten die MB und andere Islamisten bei den Wahlen etwa 70 Prozent der Abgeordnetenmandate. Als politischer Arm der MB gründete sich 2011 die Hizb al-Hurriya wa-l-Adala (Partei der Freiheit und Gerechtigkeit). Ihr Vorsitzender Mohammed Mursi, zugleich ein führender MB-Funktionär, wurde 2012 zum ägyptischen Staatspräsidenten gewählt. Aufgrund der angeHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 241 ISLAMISMUS spannten Wirtschaftslage und anhaltender Proteste gegen die Partei der Freiheit und Gerechtigkeit setzte das ägyptische Militär Mohammad Mursi im Juli 2013 ab. Im September 2013 verbot ein ägyptisches Gericht die MB nebst allen ihr zugehörigen Organisationen. Seit dem Dezember 2013 ist die MB in Ägypten als Terrororganisation eingestuft. 2019 verstarb Mursi, der sich seit seiner Absetzung in Haft befand, während einer Gerichtsverhandlung. Der MB-Anführer Muhammad Badi sowie sein Stellvertreter und neun weitere führende MB-Angehörige wurden 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt. Ägyptens höchstes Berufungsgericht bestätigte die lebenslangen Haftstrafen im Juli 2021. Die MB in Deutschland | 1960 gründete Said Ramadan, ein Schwiegersohn al-Bannas und hoher MB-Funktionär, in München (Bayern) die Moscheebau-Kommission e. V. Zusammen mit Sayyid Qutb hatte er in den 1950er Jahren Ägypten verlassen und Ableger der MB in Jordanien, Syrien, Saudi-Arabien und im Libanon ins Leben gerufen. Durch Umbenennungen gingen aus der Moscheebau-Kommission e. V. 1962 die Islamische Gemeinschaft in Süddeutschland e. V. und 1982 die IGD hervor, die sich 2018 in die DMG umbenannte. IDEOLOGIE/ZIELE Der ideologische Ursprung der MB geht auf ihren Gründer Hasan alBanna zurück. Zentrale Elemente der MB-Ideologie sind bis heute im Selbstverständnis zahlreicher islamistischer und islamistisch-terroristischer Organisationen präsent. In dem von der MB angestrebten System bilden Islam und Politik eine unauflösbare Einheit, in der weder die Volkssouveränität noch die Freiheit und Gleichheit der Menschen einen demokratisch legitimierten und geschützten Raum finden. AUF EINEN BLICK * Durchsetzung der Scharia * "Der Koran ist unsere Verfassung" Durchsetzung der Scharia | Die Ideologie der MB zielt auf die Errichtung einer islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung, deren Grundlage Koran und Sunna sowie die Scharia bilden. Statt Begriffen wie "islamischer Staat" oder "Anwendung der Scharia" verwendet die MB teils neue, aber inhaltsgleiche Begriffe wie "Zivilstaat" und "islamischer Referenzrahmen". Dabei ist die umfassende Durchsetzung der Scharia oberstes Leitund Ordnungsprinzip und ein wesentlicher Bestandteil der MB-Ideologie, da sie die Rechtsund Gesellschaftsordnung bestimmt und somit die wichtigste Grundlage des politischen und sozialen Lebens ist. 242 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS Ein schariakonformer Staat geht mit der Begrenzung der Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten sowie mit Einschränkungen der Pressefreiheit, des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts auf freie Religionsausübung einher. Damit zusammenhängend werden bestimmte Gewaltformen wie der militante Jihad befürwortet. Vor allem hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konflikts werden militärische und terroristische Mittel als legitim angesehen. Einige MB-Akteure sprechen sich zudem für hadd-Strafen (Körperstrafen) aus. Offiziell lehnt die MB Gewalt jedoch ab. Yusuf al-Qaradawi, ein im Berichtsjahr verstorbener wichtiger Ideologe der MB, sah den Islam als eine untrennbare Einheit von Gesetz, Macht, Staat und Jihad an. Ein Glauben ohne Scharia oder eine Trennung zwischen religiöser und politischer Macht ist für ihn nicht möglich. Sein wasatiyya-Konzept (Mittelweg) gilt für die MB global als Referenzrahmen, wobei das Konzept als gemäßigter und konservativer Islam, als "Islam der Mitte" deklariert wird, tatsächlich aber eine islamistische Ideologie umfasst. "Der Koran ist unsere Verfassung" | Das Motto der MB lautet: "Allah ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Allah ist unser nobelster Wunsch." Ebenso wie sein Vorgänger Muhammad Mahdi Akif gehörte Muhammad Badi, der "oberste Führer" (arab. murshid amm) der MB, dem konservativen Lager der Organisation an. Er forderte von der arabischen Welt, die Verhandlungen mit Israel einzustellen und sie durch den "heiligen Jihad" zu ersetzen. STRUKTUREN In Europa, das heißt auch in Deutschland, besteht ein weit verästeltes Netzwerk der MB, mit dessen Hilfe deren Sympathisanten und Angehörige versuchen, Ideologie und Ziele der Organisation zu verbreiten. Dabei tritt die MB in Deutschland nicht offen in Erscheinung. AUF EINEN BLICK * Council of European Muslims (CEM) * European Council for Fatwa and Research (ECFR, Europäischer Rat für Fatwa und Forschung) * European Council of Imams (Europäischer Rat der Imame) * Rat der Imame und Gelehrten e. V. (RIG)/Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland (RIGD) * Fatwa-Ausschuss in Deutschland * Europäisches Institut für Humanwissenschaften e. V. (EIHW) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 243 ISLAMISMUS Council of European Muslims (CEM) | In Europa wurde die streng hierarchisch organisierte MB durch den CEM, einen europäischen Dachverband MB-naher Organisationen mit Sitz in Brüssel (Belgien), vertreten. Bis 2020 hieß der Verband Federation of Islamic Organizations in Europe (FIOE, Föderation islamischer Organisationen in Europa). Eigenen Angaben zufolge vereinigte der CEM Organisationen aus 28 Staaten, darunter viele nationale Dachverbände. European Council for Fatwa and Research (ECFR, Europäischer Rat für Fatwa und Forschung) | Der in Dublin (Irland) ansässige ECFR, der bis 2018 unter dem Vorsitz des MB-Ideologen Yusuf al-Qaradawi stand, gehörte dem europäischen Netzwerk der MB an und erließ regelmäßig Rechtsgutachten für die in Europa lebenden Muslime. Maßgebliche Aufgabe des ECFR war es, sich als religiöse Instanz in Europa zu etablieren. Hierfür veröffentlichte er 2019 die "Euro-Fatwa"-App, mit der die Nutzer die seit 1997 getroffenen ECFR-Fatwas und -Entscheidungen in den Sprachen Arabisch, Englisch, Italienisch und Spanisch thematisch sortiert abrufen konnten. European Council of Imams (Europäischer Rat der Imame) | 2019 trat in Paris (Frankreich) erstmals der Europäische Rat der Imame zusammen. Das Gremium bestand laut eigener Aussage aus rund 50 Mitgliedern aus etwa 20 europäischen Ländern. Darunter befanden sich Personen aus Hessen mit Bezug zum MB-/DMG-Netzwerk. Ziel der Organisation war es unter anderem, die Aktivitäten verschiedener islamischer Organisationen zu koordinieren, als Interessenvertretung zu fungieren, die islamische Präsenz im politischen und gesellschaftlichen Bereich zu fördern sowie die islamische Identität zu festigen. Rat der Imame und Gelehrten e. V. (RIG)/Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland (RIGD) | Ähnlich wie der ECFR auf europäischer Ebene erhob der RIGD für Deutschland den Anspruch, als wissenschaftliche Autorität in Fragen der Koranauslegung für hier lebende Muslime zu fungieren. Der RIGD - seit 2004 mit Sitz in Frankfurt am Main - stand sowohl organisatorisch als auch ideologisch der DMG nahe. Fatwa-Ausschuss in Deutschland | Die Mitglieder des 2016 gegründeten Fatwa-Ausschusses in Deutschland waren teilweise Mitglieder des ECFR. Der Fatwa-Ausschuss in Deutschland übernahm die Fatwas des ECFR, übersetzte sie ins Deutsche und veröffentlichte sie auf der eigenen Internetseite sowie in sozialen Medien. Die Fatwas basierten zum Teil auf islamrechtlichen und islamisch-rituellen Vorgaben der Scharia, die nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu vereinbaren sind. 244 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS Europäisches Institut für Humanwissenschaften e. V. (EIHW) | 2012 wurde das EIHW mit Sitz in Frankfurt am Main nach dem Vorbild der Europäischen Institute für Humanwissenschaften in Großbritannien (European Institute of Human Sciences, EIHS) und in Frankreich (Institut Europeen des Sciences Humaines, IESH) als Verein gegründet. Im darauffolgenden Jahr nahm das EIHW seinen Lehrbetrieb auf. Als Schulungsstätte diente das EIHW der Verbreitung der MB-Ideologie und war eine Kaderschmiede für MBund DMG-Funktionäre. BEWERTUNG/AUSBLICK Nach wie vor bemühten sich MB-Anhänger und der MB nahestehende Organisationen, ihre Ideologie gesellschaftsfähig zu machen und ihr breite Akzeptanz zu verschaffen. Dies geschah im Rahmen ihrer auf lange Frist angelegten Unterwanderungsstrategie. Im Zuge der abnehmenden "Corona-Maßnahmen" verlagerten sie die Kontaktpflege aus dem virtuellen Raum wieder in den Bereich der persönlichen Begegnung. Da die MB nicht unter ihrem Namen agierte, sondern aus einem weitverzweigten Netzwerk von Organisationen und Vereinen heraus tätig war, fiel es ihren Protagonisten oft leicht, als unbefangene Partner von Politik und Zivilgesellschaft aufzutreten. Um die Gesellschaft sukzessiv zu durchdringen, bedienen sich die MB und die ihr nahestehenden Vereine verschiedener Bildungsangebote. Ein Beispiel hierfür ist das islamische Bildungsprogramm des EIHW. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass die MB-Ideologie weiterhin verbreitet wird. Da dies online in deutscher Sprache geschieht, ist davon auszugehen, dass das EIHW - im Unterschied zur Vergangenheit - nunmehr auch vermehrt Personen ohne Arabischkenntnisse ansprechen will. Im Bemühen, der Öffentlichkeit gegenüber ein Bild von sich zu zeichnen, dass der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entspricht, hatte sich die DMG in bestimmten Bereichen von Aussagen des MB-Ideologen Yusuf al-Qaradawi distanziert. Dass die DMG aber grundsätzlich an dessen Lehrmeinungen festgehalten hat, zeigt sich an dem zu Yusuf al-Qaradawis veröffentlichten Nachruf, in dem seine Bedeutung als Gelehrter hervorgehoben wird. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 245 ISLAMISMUS Milli-Görüs-Bewegung DEFINITION/KERNDATEN Unter der Bezeichnung Milli-Görüs-Bewegung fasst das LfV bestimmte islamistische Bestrebungen türkischen Ursprungs zusammen. Ihr verbindendes Element liegt in der grundlegenden Orientierung an der Ideologie der türkischen Bewegung Milli Görüs (dt. nationale Sicht). Diese Bewegung geht im Wesentlichen auf den Politiker Necmettin Erbakan zurück, der den Laizismus in der Türkei zugunsten einer islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung auf dem Fundament von Koran, Sunna und Scharia überwinden wollte. Erbakans Vision war es, eine "Großtürkei" nach dem Vorbild des Osmanischen Reiches zu errichten. Zur Milli-Görüs-Bewegung (etwa 1.450 Anhänger in Hessen, bundesweit rund 10.000) gehörten * die Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit), in Hessen repräsentiert durch den Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. und im Folgenden als SP Hessen bezeichnet, * die Ismail Aga Cemaati (IAC), * die Erbakan Vakfi (Erbakan-Stiftung), * die Milli Gazete (Nationale Zeitung) * Teile der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG). EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Auch im elften Todesjahr Necmettin Erbakans stand die Erinnerung an ihn und an die Bedeutung seines Lebenswerks unverändert im besonderen Fokus der Anhänger der Milli-Görüs-Bewegung. Nach wie vor wird Erbakan als universales Vorbild und geistiger Führer verehrt. Vielfältige Angebote der SP Hessen banden im Berichtsjahr sowohl langjährige Mitglieder als auch den Nachwuchs weiterhin 246 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS fest an die Organisation. Die Tageszeitung Milli Gazete fungierte als Sprachrohr und Bindeglied innerhalb der Milli-Görüs-Bewegung und verbreitete wie in der Vergangenheit mit ihrer Berichterstattung mehrfach antisemitische Propaganda aus der Türkei. AUF EINEN BLICK * Necmettin Erbakan: "Lehrer und Vorbild" * Aktivitäten der SP Hessen * Enge Bindung an die SP in der Türkei * Milli Gazete als Sprachrohr der Milli-Görüs-Bewegung * Antisemitismus in der Milli Gazete Necmettin Erbakan: "Lehrer und Vorbild" | Anlässlich des elften Todestags Necmettin Erbakans am 27. Februar berichtete die Milli Gazete über die zentrale Gedenkveranstaltung in der Türkei, die unter dem Motto "Gerechter Staat und menschenwürdiges Leben" stand. In der Ausgabe vom 28. Februar hieß es, dass unter den Gästen auch Vorsitzende und Abgeordnete türkischer Oppositionsparteien, Vertreter der ägyptischen MB und der palästinensischen HAMAS-Bewegung gewesen seien. Die Gedenkveranstaltung fand in Istanbul (Türkei) statt und wurde live im Internet übertragen. Temel Karamollaoglu, der Parteivorsitzende der SP, erinnerte in seiner Rede an die großen Verdienste Erbakans und wies auf dessen Kampf für die "gerechte Ordnung und eine lebenswerte Türkei" hin. Die Milli Gazete zitierte den Vorsitzenden mit den Worten "Wir führen den Kampf unseres Hodschas für eine gerechte Ordnung fort und bleiben seiner Linie treu". Bereits in den Ankündigungen zu der Erbakan-Woche und der Gedenkveranstaltung hatte der stellvertretende SP-Vorsitzende und Verantwortliche für Public Relations geäußert, dass das diesjährige Thema im Zusammenhang mit der aktuellen Wirtschaftskrise in der Türkei stehe. Er sagte weiter, dass die Anhänger dazu angehalten seien, die "Seite Erbakans" zu verstehen und dessen Roadmap zu befolgen, um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Die Jugendabteilung der IGMG Hessen lud am 26. Februar für die am gleichen Abend stattfindende Onlinegedenkveranstaltung "Önden Gidenler" ein, um ihrer "Vorreiter" und "Wegbereiter" zu gedenken. In der Ankündigung war Necmettin Erbakan - anders als in früheren Jahren - nicht abgebildet. Schon lange wollte die IGMG demonstrieren, sich von Erbakan distanziert zu haben, was nicht zuletzt auch durch derartige Gesten unterstrichen werden sollte. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 247 ISLAMISMUS Damit folgte die Jugendabteilung ihrer seit Jahren praktizierten Linie, sich von Erbakan zu distanzieren. In der später im Internet veröffentlichten Veranstaltungsdokumentation stand dennoch wieder Necmettin Erbakan im Zentrum des Gedenkens. An Erbakans Todestag selbst beschränkte sich das Gedenken in den Reihen der IGMG auf einzelne Beiträge in den sozialen Medien. Aktivitäten der SP Hessen | Funktionäre und Anhänger kamen weiterhin in die "Zentrale" der SP Hessen in Hanau (Main-Kinzig-Kreis), um dort ihren gewohnten Aktivitäten nachzugehen und Veranstaltungsund Bildungsangebote regelmäßig wahrzunehmen. Im Zuge des Abflauens der Corona-Pandemie wurden diese Veranstaltungen wieder zunehmend in Präsenz abgehalten. Jedoch wurden einzelne Konferenzen in bewährter Weise online angeboten, um eine größere Reichweite zu erzielen. Darüber hinaus war es so mit verhältnismäßig geringem Aufwand möglich, hochrangige Referenten aus der Türkei in die Veranstaltungen der SP Hessen einzubinden. Weiterhin versuchte die SP Hessen, Nachwuchs für die Organisation zu gewinnen. So fanden besonders im Jugendbereich regelmäßig Schulungsveranstaltungen und Vorträge - auch über adressatenorientierte Onlineplattformen - statt, um mit Interessierten in Kontakt zu treten und sie an die Milli-Görüs-Bewegung heranzuführen. Im Berichtsjahr engagierten sich einige in Hessen ansässige und aktive SP-Funktionäre unverändert auch auf höherer Organisationsebene. Zum Beispiel übernahm ein langjähriger Funktionär der Jugendabteilung der SP Hessen und der SP Europa den Vorsitz der Jugendabteilung der SP Europa. Als solcher verantwortete er im Oktober ein zweitägiges Bildungscamp für die nachgeordneten Funktionäre, zu denen auch mehrere Abgesandte aus Hessen zählten, in Ludwigsburg (Baden-Württemberg). Prominentester Referent war einer der Stellvertreter des SP-Parteivorsitzenden aus der Türkei. Nach seinem Vortrag zeichnete er verdiente Vertreter der Organisation für ihr Engagement aus. Enge Bindung an die SP in der Türkei | Um sich bestmöglich für die Belange der SP zu engagieren, stimmte sich die SP Hessen intern regelmäßig - auch mit der politischen Führung in der Türkei - ab. Während des Berichtsjahrs kamen daher mehrfach hochrangige türkische Parteifunktionäre zu Besuch nach Deutschland. Wahrscheinlich im Zusammenhang mit den 2023 in der Türkei anstehenden Wahlen besuchte Temel Karamollaoglu während seiner Europatour im Mai auch Niederlassungen der SP in Deutschland und nahm an verschiedenen Sitzungen teil. Dabei kam er auch mit Funktionären aus Hessen zu248 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS sammen. In diesem Rahmen hielt Karamollaoglu Reden, in denen er die Politik Erbakans in den 1980er und 1990er Jahren lobte. Mitte September wurden mehrere Stellvertreter Karamollaoglus aus der Türkei in die europäischen Niederlassungen entsandt, um an Vorstandssitzungen verschiedener Regionen teilzunehmen. In der Zentrale in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) kam Mustafa Kaya mit Vertretern der SP Hessen zusammen. Regelmäßig verbreitete die SP Hessen in den sozialen Medien Videobeiträge aus Pressekonferenzen mit Mustafa Kaya. Im April etwa äußerte Kaya während einer Pressekonferenz antisemitische Verschwörungsnarrative: "Israel ist nichts anderes als eine Bande Eindringlinge, die mit Hilfe der zionistischen Lobbyisten der Welt ihr Dasein aufdrückt". Am 30. Oktober hielt die SP in der Türkei ihren achten ordentlichen Kongress ab. Kurz darauf, Mitte November, wurde die Zusammensetzung des Parteivorstands für die Wahl im Jahr 2023 bekanntgegeben. Am 19. November fand im Zusammenhang mit dem Wahlkampf eine Auftaktveranstaltung in Duisburg (Nordrhein-Westfalen) statt, zu der die SP Europa zuvor eingeladen hatte. Karamollaoglu und einige aus der ersten Riege seiner Stellvertreter stellten den Anhängern das Parteiprogramm vor, wobei sich auch zahlreiche SP-Vertreter aus Hessen auf dem Podium und im Publikum befanden. Im Kontext des Kongresses der SP und der Wahlkampfveranstaltung in Duisburg hieß es in der Milli Gazete mit Blick auf die in der Türkei anstehenden Wahlen: "Wenn sich die [SP] auch dieses Mal nicht an der Regierung beteiligt, wird das System in eine Autokratie münden und viel größere Katastrophen mit sich bringen. [...] Wenn du das Milli-Görüs-Hemd ausziehst, wirst du krank. Das Hemd der Zionisten schützt dich nicht". Milli Gazete als Sprachrohr der Milli-Görüs-Bewegung | Mitte Juni berichtete die Milli Gazete, dass Temel Karamollaoglu mit weiteren SPFunktionären die Zeitungsredaktion besucht habe. Dabei habe der Chefredakteur auf die bedeutende Rolle der Milli Gazete und des der Milli-Görüs-Bewegung zuzurechnenden Fernsehsenders TV5 hingewiesen. Laut Milli Gazete betonte auch Karamollaoglu die Bedeutung der Zeitung bei der Übermittlung "wahrer Nachrichten" und der Botschaft der SP. Die SP sei zudem die einzige Partei, welche die aktuellen Probleme der Türkei lösen könne. Ende Juni widmete die Milli Gazete dem kurz zuvor verstorbenen geistigen Oberhaupt der IAC, Mahmut Ustaosmaoglu, einen Artikel, worin sie ihn als alten Freund Erbakans bezeichnete. Ustaosmaoglu Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 249 ISLAMISMUS habe eine sehr lange Zeit die geistige und ethische Führung der IAC innegehabt und Millionen von Menschen den Islam verkündet. Er sei durch seinen unerschütterlichen Glauben und seine strenge Frömmigkeit ein Vorbild gewesen. Antisemitismus in der Milli Gazete | Die unverändert enge Verbindung zwischen Milli Gazete und Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei und in Europa war in der täglichen Berichterstattung allgegenwärtig. Auf diese Weise konsumierten die Leser auch die in den Artikeln regelmäßig verbreitete antisemitische Propaganda, die sich in Druckerzeugnissen aus der Türkei aus dem Umfeld der Milli-Görüs-Bewegung fand, insbesondere in der Milli Gazete. Diese thematisierte am 16. Februar den für März geplanten Besuch des israelischen Staatspräsidenten Jitzchak Herzog in der Türkei und behauptete, dass die Regierung versucht habe, den Besuch des "Zionisten" bis kurz davor geheim zu halten. Anlässlich ihres 50. Gründungsjahrs griff die Milli Gazete den Besuch des israelischen Staatspräsidenten erneut auf. In der Ausgabe vom 22. März äußerte der Chefredakteur, dass sich die Zeitung nach wie vor gegen eine Normalisierung des türkisch-israelischen Verhältnisses ausspreche und im Gegensatz zu anderen Zeitungen den Besuch des "zionistischen" Präsidenten nicht gutheiße. Auch nach dem Anschlag auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Jahr 2015 habe die Milli Gazete gegen die Verunglimpfung des Propheten Muhammad Position bezogen. So bleibe die Milli Gazete ihrer Linie treu und sei somit keine herkömmliche Zeitung. Die Milli Gazete stehe auf der Seite der Gerechtigkeit, in ihr könne man keine unwahren Nachrichten finden. Im April thematisierte die Milli Gazete die Landkäufe durch "Zionisten" im türkischen Teil Zyperns und unterstellte diesen, Lücken im staatlichen Notarsystem ausgenutzt zu haben. Dabei sprach der Autor des Artikels von der Gefahr einer "zionistischen Besatzung". Ebenfalls im April erklärte ein Mitglied des Konsultativrats der MB in einem Interview, dass in Palästina die "zionistischen Juden" beabsichtigten, die Aqsa-Moschee zu besetzen und dort betende Muslime zu vertreiben. Dies würde jedoch nur zu einem Erstarken der Umma führen und zeigen, wer die wahren Feinde seien. Diese Tat würde die wahre Islamfeindlichkeit dieser tyrannischen Führung enthüllen. Er sei jedoch davon überzeugt, dass die Umma nach einer "wahrhaften islamischen Führung streben" werde. In den nächsten Jahren, so der MB-Funktionär, würden die Grenzen des Sykes-PicotAbkommens von 1916, worin die arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs in eine britische und eine französische Einflusssphäre aufgeteilt wurden, vollständig aufgehoben und die Region geogra250 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS phisch geeint werden. Die Türkei, die ihre Beziehungen zum "Kalifat" und der arabisch-islamischen Welt aufgegeben habe, werde mit all ihrer Macht und ihren Möglichkeiten ihren Platz in diesem Bündnis einnehmen. Am 11. Mai warf die Milli Gazete die Frage auf, ob Adolf Hitler ein Jude gewesen sei. Außerdem zählte der Beitrag die Hauptprotagonisten der Oktoberrevolution unter der Führung Lenins auf, die er alle als Juden bezeichnete. Im Rahmen des Artikels wurden auch verschiedene antisemitische Zitate Erbakans angeführt: "So wie der Satan Gewissheit über die Existenz und Macht Gottes hat, so weiß auch der zionistische Jude, dass der Dschihad der Geist des Islam[s] ist, und er versucht mit all seiner Kraft, den Dschihad-Geist der Muslime auszulöschen". "Wir sagen nicht, dass unter jedem Stein ein Jude ist. Aber kein Stein wird vom Juden unbeachtet gelassen werden". "Was ist mit dem gemäßigten Islam gemeint = Er soll keinen Dschihad-Geist besitzen, sich nicht für die Herrschaft des Rechts und der Gerechtigkeit einsetzen, sich nicht in die degenerierte und nichtige Ordnung einmischen, dem Zionismus dienen, aber gleichzeitig auch beten, fasten und zur Umra [i. e. die kleine islamische Pilgerfahrt nach Mekka] laufen, während die Ordnung in der Welt und im Land von zionistischen Machtzentren etabliert wird. Du wirst lediglich dem Juden Steuern und Zinsen entrichten. Die Hälfte des Kaufpreises all der Güter, die du kaufst, wirst du dem Ausbeuterkapital als Schutzgeld zahlen". In der Ausgabe vom 9. August rief die Milli Gazete zur Einigkeit gegen das "zionistische Projekt" auf. Dabei berichtete sie zu den jüngsten Eskalationen des israelisch-palästinensischen Konflikts. Im Artikel hieß es, dass vereint gegen das "zionistische Projekt" und den "zionistischen Gedanken" vorgegangen werden müsse. Ein Kolumnist blickte in der Ausgabe vom 29. November auf 20 Jahre unter der Führung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zurück und lobte demgegenüber die politische Leistung der verschiedenen Milli-Görüs-Parteien der letzten 53 Jahre. Der "globale Zionismus, der sich in der Vergangenheit durch die Milli-GörüsBewegung gestört gefühlt habe, [habe] sie mit Hilfe seiner Kollaboratoren zu stoppen versucht". Außerdem schrieb der Kolumnist: "Die in Europa lebenden gläubigen Menschen aus Anatolien finden den Ausweg aus der Assimilation in der Fremde nur im Einsatz für den Glauben". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 251 ISLAMISMUS ENTSTEHUNG/GESCHICHTE 1969 gründete Necmettin Erbakan in der Türkei die Milli-GörüsBewegung und stellte sich damit gegen die vom Gründer der modernen Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, eingeführte Trennung von Staat und Religion. Auf diese Weise wollte Erbakan die Säkularisierung des Landes rückgängig machen und das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben erneut islamisieren. AUF EINEN BLICK * Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei * Milli-Görüs-Bewegung in Deutschland * SP als Repräsentantin der Milli-Görüs-Bewegung * Rolle der IAC in der Türkei Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei | 1970 wurde als politische Vertretung der Milli-Görüs-Bewegung die Milli Nizam Partisi (MNP, Nationale Ordnungspartei) gegründet. 1973 verfasste Erbakan das für die Ideologie der Bewegung noch immer wegweisende Buch "Milli Görüs" (dt. Nationale Sicht). Über Parteiverbote und -neugründungen sowie ein zweimal verhängtes Politikverbot für Erbakan führte der Weg der Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei bis zur 2001 gegründeten und noch heute existenten SP. Erbakan war in der Türkei mehrere Male stellvertretender Ministerpräsident und bekleidete 1996/97 das Amt des Ministerpräsidenten. Milli-Görüs-Bewegung in Deutschland | 1976 entstand in Köln (Nordrhein-Westfalen) als Ableger der Milli-Görüs-Bewegung die Türkische Union Europa e. V. Sie benannte sich 1982 in Islamische Union Europa e. V. (IUE) um. 1984 kam es innerhalb der IUE zu Auseinandersetzungen über die politische Ausrichtung des Vereins. Als Folge gründete sich 1985 in Köln die Avrupa Milli Görüs Teskilatlari (AMGT, Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e. V.) als Nachfolgeorganisation der mittlerweile bedeutungslos gewordenen IUE. Aus der AMGT gingen 1995 die Europäische Moscheebau und Unterstützungsgemeinschaft (EMUG) und die IGMG hervor. Organisatorisch waren beide in einen wirtschaftlichen und einen ideellen Bereich getrennt. Aufgabe der EMUG war die umfangreiche Grundstücksverwaltung und Betreuung der AMGTund IGMG-Vereine. Die IGMG war auf die religiösen Belange ihrer Mitgliedsvereine ausgerichtet. Viele Moscheevereine änderten in der Folge den Namenszusatz AMGT in IGMG. Die Zugehörigkeit zur Milli-Görüs-Bewegung blieb jedoch teilweise bis in die Gegenwart erhalten und zeigte sich oftmals auch in personellen Überschneidungen von AMGT und IGMG. 252 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS SP als Repräsentantin der Milli-Görüs-Bewegung | Auf politischer Ebene vertritt die von Necmettin Erbakan im Jahr 2001 gegründete SP die Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei. Die SP ging aus der verbotenen Fazilet Partisi (FP, Tugendpartei) Erbakans hervor, aus der damals auch die jetzige türkische Regierungspartei Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - kein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes) entstand. Obwohl sich die AKP mit der Zeit von der ursprünglichen Ideologie der MilliGörüs-Bewegung distanzierte, verbinden sie identische konservative Wurzeln mit der SP. Der Einfluss der SP auf die politische Willensbildung in der Türkei ist aufgrund ihres begrenzten Wählerpotenzials sehr gering. Rolle der IAC in der Türkei | Die IAC ist der Bruderschaft der Naqshbandiya zuzuordnen, die im 14. Jahrhundert in Zentralasien entstand. Ihr Gründer, Bahaud-Din Naqshband aus Buchara (heutiges Usbekistan), steht in einer Reihe sogenannter Meister in Zentralasien, die mystische Gemeinschaften gründeten. Die sunnitische Naqshbandiya entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten zur bedeutendsten Bruderschaft und ist heute weltweit verbreitet. Ihr Handeln beruht auf einer religiös geprägten Lebensführung, wobei eine enge emotionale Bindung zwischen Schüler und Meister besteht. Unter anderem mithilfe spezieller Meditationstechniken wird die unmittelbare mystische Gotteserfahrung angestrebt, durch schweigendes Denken an Allah (arab. dhikr) suchen die Gläubigen diesem so nahe wie möglich zu kommen. Obwohl 1925 durch Atatürk verboten, spielte die NaqshbandiyaBruderschaft im religiösen Leben in der Türkei eine bedeutende Rolle. Necmettin Erbakan und das spirituelle Oberhaupt der Bruderschaft, Scheich Mahmud Ustaosmanoglu, der im Juni 2022 in der Türkei verstarb, pflegten engen Kontakt zu dem einflussreichen türkischsunnitischen Naqshbandiya-Scheich Mehmet Zaid Kotku und wurden durch ihn geprägt. IDEOLOGIE/ZIELE Ebenso wie andere islamistische Bewegungen will die Milli-GörüsBewegung eine auf den Rechtsvorschriften der Scharia beruhende islamische Ordnung realisieren. Da in der früher streng laizistisch orientierten Türkei das Propagieren eines entsprechenden Konzepts gravierende rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hätte, führte Erbakan neue Begrifflichkeiten ein. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 253 ISLAMISMUS AUF EINEN BLICK * "Gerechte" und "nichtige" Ordnung * "Neue Welt für die gesamte Menschheit" * Alleinvertretungsanspruch und Antisemitismus in der Milli-Görüs-Bewegung "Gerechte" und "nichtige" Ordnung | Gemäß Erbakans Grundsätzen gibt es in der Welt eine gerechte (türk. adil düzen) und eine nichtige Ordnung (türk. batil düzen). Ziel müsse es sein, die schlechte, tyrannische, auf menschlicher Willkür sich gründende und daher vergängliche Ordnung durch die gute, von Allah vorgegebene und angeblich auf Wahrheit fußende Ordnung zu überwinden. Dies sei allein durch die Milli-Görüs-Bewegung zu erreichen. "Neue Welt für die gesamte Menschheit" | Die Verwirklichung dieser Gedanken propagiert die Milli-Görüs-Bewegung insbesondere in der Türkei, wo eine islamische Staatsund Gesellschaftsordnung nach den Grundlagen von Koran und Sunna geschaffen werden soll. Die Milli-Görüs-Bewegung verbindet in ihrer Gesamtheit einen universalen türkisch-nationalistischen mit einem islamistischen Ansatz. So hielt einer der Stellvertreter des Vorsitzenden der SP im Berichtsjahr laut eines Artikels der Milli Gazete in der Türkei eine Rede auf einer länderübergreifenden Mitgliederversammlung in Belgien. Dabei betonte er, dass für die Errichtung der "neuen großen Türkei" und die Errettung der sieben Milliarden Menschen die Aktivitäten der SP von enormer Wichtigkeit seien. Um diese Last zu stemmen, seien die Mitglieder dazu angehalten, hinauszugehen und mit größtem Eifer Basisarbeit zu betreiben. Alleinvertretungsanspruch und Antisemitismus in der Milli-GörüsBewegung | Antisemitische Aussagen sind von Beginn an fester Bestandteil der Milli-Görüs-Bewegung. In einem Interview nahm Erbakan 2010 für sich und die SP in Anspruch: "Wir sind das Volk, deswegen verändern wir die Türkei". Darüber hinaus erklärte er: "Wir werden eine neue Welt schaffen, auf der Basis von Wissenschaft und Vernunft, auf den Grundlagen der gerechten Ordnung, die uns die Osmanen hinterließen. Darin bekommt jeder sein Recht auf den ihm angemessenen Platz. Auch den Juden und Christen würde so Recht zuteil, auch sie würden befreit". Offen artikulierte Erbakan in Bezug auf Juden und die territoriale Integrität des Staats Israel: "Seit 5700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken 254 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen sollen. Sehen Sie sich diese Ein-Dollar-Note an. Darauf ist ein Symbol, eine Pyramide von 13 Stufen, mit einem Auge in der Spitze. Es ist das Symbol der zionistischen Weltherrschaft. Die Stufen stellen vier ,offene' und andere geheime Gesellschaften dar, dahinter gibt es ein ,Parlament der 300' und 33 Rabbinerparlamente, und dahinter noch andere, unsichtbare Lenker. Sie regieren die Welt über die kapitalistische Weltordnung. [...] Wenn die Israelis in Frieden leben wollen, wäre es vielleicht besser, wenn sie zum Beispiel in Amerika lebten". STRUKTUREN Die Milli-Görüs-Bewegung setzt sich aus verschiedenen, grundsätzlich türkischstämmigen Gruppierungen zusammen. Ihre gemeinsame Basis bildet unverändert - in unterschiedlich starker Ausprägung - die Orientierung an den ideologischen und religiösen Vorstellungen Necmettin Erbakans, gepaart mit der fortwährenden Verehrung seiner Person und vielfältigen Aktivitäten zur Verbreitung seiner Botschaften. AUF EINEN BLICK * SP * Erbakan Vakfi (Erbakan-Stiftung) * Milli Gazete * IGMG SP | Seit einigen Jahren treten deutschlandweit Ableger der europäischen SP-Vertretung in Erscheinung, die Anhängerund Wählerpotenzial in Deutschland zu aktivieren versuchen und so die Mutterpartei in der Türkei unterstützen. Dabei repräsentierten die SPStrukturen in Deutschland die politische Ausrichtung der Ideologie Necmettin Erbakans innerhalb der Milli-Görüs-Bewegung. In Hessen war dies der Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. einschließlich aller zugehörigen Gruppierungen. Erbakan Vakfi (Erbakan-Stiftung) | Das Ziel der laut eigenen Angaben im Jahr 2013 in der Türkei von Vertretern der Milli-Görüs-Bewegung, Angehörigen der türkischen SP sowie Weggefährten Necmettin Erbakans gegründeten Erbakan Vakfi ist es, dessen Ideologie zu vertreten und die Erinnerung an ihn aufrechtzuerhalten. Dabei sollen sich Aktivitäten der Erbakan Vakfi weltweit entfalten und auf den Prinzipien der Milli-Görüs-Bewegung beruhen. Mitglieder der Stiftung bekennen sich klar und offen zu Necmettin Erbakan. Vorsitzender der Erbakan Vakfi war der Sohn Necmettin Erbakans, Fatih Erbakan. In Deutschland wurde ebenfalls im Jahr 2013 die Europavertretung der Stiftung gegründet. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 255 ISLAMISMUS Milli Gazete | Die türkische Tageszeitung Milli Gazete, deren Europaausgabe in Frankfurt am Main verlegt wurde, informierte ursprünglich über die IGMG. Inzwischen berichtet sie vornehmlich über die Aktivitäten der SP im Inund Ausland. In ihrem Selbstverständnis sieht sich die Milli Gazete als einzige und konstante Vertreterin der Milli-Görüs-Ideologie unter den Printmedien. Immer wieder hebt die Zeitung in ihren Artikeln Erbakan als den Retter der Welt hervor und rühmt dessen Ideologie der Errichtung einer neuen Welt, in welcher der Islam wiederbelebt werde und über allen anderen Ordnungen stehe. Die Milli Gazete nimmt für die verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Milli-Görüs-Bewegung die Rolle eines wichtigen, verbindenden Mediums ein. IGMG | Die IGMG ist laut ihrer Selbstdarstellung eine staatenübergreifend vernetzte Religionsgemeinschaft, die sich in Regionalverbände, Moscheegemeinden und weitere Zweigstellen aufgliedert. Die IGMG ist nicht in der Gesamtheit ihrer Mitglieder der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung zuzurechnen. Teile der IGMG befinden sich in einem seit vielen Jahren fortwährenden und noch nicht vollumfänglich beendeten Prozess des Abwendens von der islamistischen Ideologie Erbakans. Im Berichtsjahr lagen jedoch tatsächliche Anhaltspunkte vor, dass einige Strukturen der IGMG in Hessen weiterhin der Ideologie Erbakans folgten und bestrebt waren, dessen Ziele umzusetzen. In Hessen gehörten weiterhin der IGMG-Landesverband mit seinen angegliederten Verbänden der Frauen, Jugend und Studierenden sowie einzelne IGMG-Ortsvereine der Milli-GörüsBewegung an. BEWERTUNG/AUSBLICK Im Berichtsjahr waren einige Gruppierungen der Milli-Görüs-Bewegung in Hessen mit vielfältigen Veranstaltungsund Freizeitangeboten aktiv. Mit ihrem breiten Bildungsangebot beabsichtigte die Bewegung, Kindern und Jugendlichen die eigenen religiösen Vorstellungen sowie die damit verknüpften gesellschaftspolitischen Ziele zu vermitteln. Trotz der allmählich auslaufenden "Corona-Maßnahmen" wurden einige Veranstaltungen weiterhin online durchgeführt. Wollte die Milli-Görüs-Bewegung auf diese Weise mehr Mitglieder schnell und einfach erreichen, so hatte der persönliche Kontakt untereinander allerdings weiterhin einen hohen Stellenwert, sodass die meisten Treffen in Präsenz stattfanden. Necmettin Erbakan ist unverändert die identitätsstiftende Leitfigur der Milli-Görüs-Bewegung und hat somit weiterhin einen hohen Stellenwert und eine wichtige Vorbildfunktion. Während aber zum Bei256 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS spiel die Vertreter der SP die anhaltende Verehrung Erbakans keineswegs verbergen, vermeiden die IGMG und ihr zugehörige Organisationen offenkundige Hinweise zunehmend. Auf diese Weise versuchen sie, keine weitere Angriffsfläche zu bieten und sich dialogbereit im politischen und zivilgesellschaftlichen Raum zu präsentieren. Die Vernetzung mit Akteuren und Strukturen in die Türkei zeigt sich am deutlichsten bei der SP, die hier wie dort unmissverständlich für Erbakans Ideen, das heißt, seine "gerechte Ordnung", eintrat. Auch Funktionäre aus Hessen waren bei Schulungen und Treffen präsent und vereinzelt Teil von Delegationen, die in der Türkei mit der Parteiführung zusammenkamen. Die Milli Gazete spielte weiterhin eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Ideologie und Propaganda der Milli-Görüs-Bewegung, wobei sie regelmäßig antisemitische Aussagen veröffentlichte. Diese anhaltende Berichterstattung der Milli Gazete sorgte bei den Lesern für eine dauerhafte Präsenz und Verfestigung von antisemitischem Gedankengut. Somit förderte sie mit der Aufrechterhaltung alter Feindbilder eine Ablehnung des Gedankens der Völkerverständigung und einer pluralistischen Gesellschaft. SONSTIGE BEOBACHTUNGSOBJEKTE Neben den oben genannten Personenzusammenschlüssen gab es weitere islamistische Gruppierungen mit Hessenbezug, von denen die wichtigsten unten aufgeführt sind. AUF EINEN BLICK * Hizb Allah (Partei Gottes) im Spektrum des schiitischen Islamismus * Jährliche al-Quds-Demonstration in Frankfurt am Main * Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschland e. V. (IGS) * Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) Hizb Allah (Partei Gottes) im Spektrum des schiitischen Islamismus | Die Anfang der 1980er Jahre im Libanon gegründete Hizb Allah fungierte zunächst als Miliz und operierte überwiegend im Verborgenen, wobei sie behauptete, den Libanon gegen Israel zu "verteidigen". Gleichzeitig formulierte die Terrororganisation politische Forderungen, sodass sich ihre politische Vertretung als feste Größe in der libanesischen Parteienlandschaft etablierte. Dessen unHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 257 ISLAMISMUS geachtet rückte die Hizb Allah nicht von ihrem erklärten Ziel ab, eine islamische Herrschaftsordnung im Libanon nach dem Vorbild der iranischen Theokratie errichten zu wollen. Die iranische Staatsführung ist bis heute ein gewichtiger Faktor, der Einfluss auf die Terrororganisation nimmt. Unverändert bestritt die Hizb Allah das Existenzrecht Israels und propagierte den bewaffneten, mit terroristischen Mitteln geführten Kampf als "legitimen Widerstand" gegen die "unrechtmäßigen Besatzer palästinensischen Bodens". Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat erließ 2020 ein Betätigungsverbot für die Hizb Allah, da sich die Tätigkeit der Organisation gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet und Strafgesetzen zuwiderläuft. Hessen bildete in den vergangenen Jahren keinen Schwerpunkt von Aktivitäten der Hizb Allah. Die Zahl der Anhänger bewegte sich nach wie vor im mittleren zweistelligen Bereich; bundesweit waren es etwa 1.250. In Hessen waren sie nicht einheitlich organisiert, sondern trafen sich in einzelnen örtlichen Moscheevereinen. Ein Hizb-AllahBezug wurde häufig durch bewusst konspirative Verhaltensweisen und Abschottung vermieden. Zum Teil bekundeten jedoch auf Internetseiten vor allem jüngere Anhänger offen ihre Sympathien mit der Terrororganisation und vernetzten sich untereinander über die sozialen Medien. Jährliche al-Quds-Demonstration in Frankfurt am Main | Regelmäßig äußert sich Hassan Sayyed Nasrallah, der Generalsekretär der Hizb Allah, anlässlich des internationalen al-Quds-Tags. Dieser wurde 1979 vom iranischen Revolutionsführer Ruhollah Musawi Khomeini als ein "Tag [zur Befreiung] der Heiligen [Stadt Jerusalem] von zionistischer Besatzung" ins Leben gerufen. "Al-Quds" bedeutet "die Heilige" und ist die arabische Bezeichnung für die Stadt Jerusalem. Ziel des al-Quds-Tags, der jährlich am letzten Freitag des Fastenmonats Ramadan begangen wird, ist eine weltweite Mobilisierung für die Eroberung Jerusalems und vollständige islamische Herrschaft über die Stadt. In seiner Ansprache am 26. April konstatierte Nasrallah, dass zum "Wohle von al-Quds echte Armeen, Kräfte und Kämpfer mit großer Stärke aufgebaut würden". Al-Quds könne sich auf eine "Achse des Widerstands" - gemeint sind der Iran und seine Verbündeten im Libanon, Irak, Jemen und in Syrien - verlassen, welche die Stadt beschützen und letztlich "befreien" würden. In Deutschland fanden al-Quds-Demonstrationen bis 1995 in Bonn (Nordrhein-Westfalen) und seitdem in Berlin statt. Bis 2004 unterstützte das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) die Veranstaltungen; 258 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS seit 2003 werden diese in Berlin von einem dem IZH nahestehenden Verein organisiert. Auf den dortigen al-Quds-Demonstrationen wurden immer wieder Flaggen und Symbole der Hizb Allah gezeigt, was seit 2016 verboten ist. Seit 2015 fanden al-Quds-Demonstrationen auch in Frankfurt am Main statt. Nachdem sich 2020 wegen der COVID-19-Pandemie die Aktivitäten ins Internet verlagert hatten und die Demonstration 2021 als Autokorso stattfand, wurde im April des Berichtsjahrs wieder ein Zug durch die Frankfurter Innenstadt organisiert. Etwa 360 Personen aller Altersklassen aus dem Inund Ausland, darunter viele Familien, sammelten sich am Messeturm und zogen zum Goetheplatz. Die ideologische Nähe zum al-Quds-Tag und dem iranischen Regime wurde deutlich durch (türkischsprachige) Plakate sowie großformatige Bilder der iranischen Revolutionsführer Khomeini und Khamenei an der Zugspitze. Unter anderem wurden Parolen wie "Stoppt Israels Apartheid!" und "Keine Waffen an Zionisten, denn Zionisten sind Terroristen!" skandiert. Auf der Abschlusskundgebung bezeichnete ein Redner den Staat Israel mehrfach als "Verbrecher" und verwies auf einen Bericht von Amnesty International, wonach Israel ein "Apartheitsstaat" sei, dessen Exekutive brutal gegen die palästinensische Zivilgesellschaft vorgehe, um diese zu unterwerfen. Die im Redebeitrag zu Tage tretende Dämonisierung und Delegitimierung Israels - auch in der Beurteilung staatlichen israelischen Handelns - legen eine antisemitische Grundhaltung nahe. Die al-Quds-Demonstration hat sich in den vergangenen sieben Jahren als jährliches Ereignis in Frankfurt am Main etabliert und ist zu einer professionell organisierten, international beachteten und besuchten Veranstaltung geworden. Im Berichtsjahr war die alQuds-Demonstration in Frankfurt am Main die deutschlandweit einzige, die aus einem schiitisch-extremistischen Spektrum heraus organisiert wurde und einen eindeutigen proiranischen und antisemitischen Hintergrund aufwies. Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschland e. V. (IGS) | Die 2009 in den Räumlichkeiten des IZH gegründete und seit 2017 als gemeinnützig anerkannte IGS strebt eine Gleichstellung und Gleichbehandlung mit anderen Religionsgemeinschaften, die den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts besitzen, an. Der Dachverband IGS umfasste eigenen Angaben zufolge etwa 150 Mitgliedsvereine und versteht sich als Interessensvertretung der schiitischen Vereine in Deutschland. Offizielles Ziel der IGS ist die Einigung aller schiitischen Vereine in einer gemeinsamen Organisation, um Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 259 ISLAMISMUS die Interessen der Mitgliedsvereine nach innen und außen vertreten und fördern zu können. Über das IZH wurde die Programmatik der iranischen Revolution innerhalb der IGS verbreitet. Das IZH stand unter der direkten Kontrolle des Büros des iranischen Revolutionsführers Ali Khamenei - somit des iranischen Regimes - und wurde von dort aus gesteuert. Die IGS begriff das IZH als "geistige Heimat" aller Schiiten in Deutschland und als bedeutende Referenzorganisation, die es zu "verteidigen" gelte. Bereits 2020 solidarisierten sich zahlreiche Vertreter von IGSMitgliedsvereinen als Reaktion auf die in Hamburg öffentlich erhobene Forderung nach Prüfung eines Vereinsverbots unter dem Hashtag Wir sind alle IZH. Auch die im Berichtsjahr vom Bundestag angenommene Aufforderung an die Bundesregierung, "zu prüfen, ob und wie das Islamische Zentrum Hamburg als Drehscheibe der Operationen des iranischen Regimes in Deutschland geschlossen werden könne", verurteilte der IGS-Vorstand. Seiner Ansicht nach lieferten "Verleumdungen, die seit Jahrzehnten vom Verfassungsschutz verbreitet werden, die Grundlage für Angriffe und Anschläge auf unsere Gemeinden". Im Berichtsjahr waren das IZH und dessen Leitung in mehrere Veranstaltungen der IGS organisatorisch eingebunden. Außerdem kam es nach den Verbotsverfügungen gegen zwei der Hizb Allah nahestehende IGS-Gemeinden in Münster durch das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen und in Bremen durch den Senator für Inneres zu einem Treffen zwischen dem IGS-Vorstand und dem Leiter des IZH in Hamburg. Daran nahm auch der stellvertretende Vorsitzende der IGS aus Hessen teil, wobei man die "Entwicklungen und Ereignisse persönlich und unmittelbar [...] besprechen" wollte. Die dem IZH entgegengebrachte uneingeschränkte Solidarität sowie die koordinierte, enge Abstimmung der IGS mit dem IZH belegen die ideologische Führungsrolle, die letzteres im Dachverband einnahm. Die Einflussmöglichkeiten des IZH, das auch Mitgliedsverein in der IGS ist, waren darüber hinaus satzungsgemäß verankert. Der Leiter des IZH war als Vorsitzender des IGS-"Gelehrtenrats" institutionell in die IGS eingebunden und besaß über dieses Kontrollgremium weitreichende Befugnisse. Die Zusammenarbeit zwischen IGS-Vorstand und Gelehrtenrat soll perspektivisch weiter intensiviert werden. Das Zentrum der Islamischen Kultur (ZIK) in Frankfurt am Main war der bedeutendste Mitgliedsverein der IGS in Hessen und wurde ebenfalls vom IZH beeinflusst. Das Grundstück des ZIK wurde 2012 vom IZH erworben und befand sich auch im Berichtsjahr in dessen 260 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS Besitz. Der langjährige ZIK-Leiter war bis November 2020 auch Vorsitzender der IGS. Das ZIK agierte wie die IGS und das IZH im Sinne der iranischen Staatsdoktrin. Regelmäßig wurden im ZIK Veranstaltungen mit positivem Bezug zum iranischen Regime abgehalten, vor allem zum Todestag Ayatollah Khomeinis, des Gründers der Islamischen Republik Iran. Auch im Berichtsjahr betrauerte der Leiter des ZIK in seiner Freitagspredigt den "Todestag der Autorität der islamischen Welt". Darüber hinaus bekannte sich das ZIK dazu, den jährlichen al-Quds-Tag wie in den vergangenen Jahren zu feiern und nannte diesen "großen Tag" eine der "bedeutendsten und beständigsten religiösen Erscheinungen". Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) | Der Kalifatsstaat lehnt die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung ab. Ziel der Vereinigung sind die Wiedererrichtung eines Kalifats auf der Grundlage des Korans als Verfassung sowie die Einführung der Scharia als allein geltendes Recht. 2001 verbot das Bundesministerium des Innern den Kalifatsstaat einschließlich seiner Teilorganisationen. Unter der Leitung des LKA Rheinland-Pfalz wurden am 28. Juni in sechs Ländern (auch in Hessen) Exekutivmaßnahmen gegen Mitglieder der verbotenen Vereinigung durchgeführt. Grund war der dringende Verdacht, dass innerhalb eines Moscheevereins in Bad Kreuznach (Rheinland-Pfalz) in Predigten und durch den Verkauf von Schriften und sonstigen Propagandamitteln die Ideologie des Kalifatsstaats verbreitet und die Strukturen aufrechterhalten wurden. Insgesamt waren rund 50 Objekte betroffen, darunter 13 in Hessen. Neben Schuss-, Hiebund Stichwaffen stellte die Polizei zahlreiche Datenspeicher, große Bargeldmengen sowie Propagandamaterial sicher. Darüber hinaus wurden drei Personen festgenommen. Unter der Führung des Predigers Cemaleddin Kaplan ging der Kalifatsstaat Mitte der 1990er Jahre aus dem Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V. (Islami Cemaat ve Cemiyetler Birligi, ICCB) hervor. Die Organisation propagierte den Umsturz der säkularen Staatsordnung der Türkei - also die Wiederbelebung des durch Mustafa Kemal Atatürk 1924 in der Türkei abgeschafften Kalifats - und gleichzeitig die weltweite Errichtung des Kalifatsstaats. Nach dem Tod Cemaleddin Kaplans führte sein Sohn Metin Kaplan die Vereinigung fort. Hierüber kam es in der Vereinigung zu Nachfolgestreitigkeiten, in deren Verlauf Metin Kaplan öffentlich dazu aufforderte, seinen Konkurrenten ermorden zu lassen. 2000 wurde Kaplan wegen Anstiftung zum Mord zu vier Jahren Haft verurteilt und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 261 ISLAMISMUS nach abgegoltener Strafe 2004 in die Türkei abgeschoben, wo er wegen der Gründung und Leitung einer terroristischen Vereinigung zu 17 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt wurde. 2016 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, lebt er seitdem in Istanbul. Die Organisation in Deutschland zerfiel nach dem Verbot in mehrere Fraktionen. Aufgrund unterschiedlicher Auffassungen über die ideologische Ausrichtung und den rechtmäßigen "Kalifen" verteilte sich der Kalifatsstaat deutschlandweit auf mehrere Moscheegemeinden. Einziges verbindendes Element war die Lehre Cemaleddin Kaplans, auf die sich alle Fraktionen des Kalifatsstaats bezogen. Die internen Streitigkeiten und eine fehlende Führungsfigur schwächten die Organisation zwar nachhaltig, dennoch wirkte Metin Kaplan mit Hilfe seiner Anhänger weiterhin auf die verbotene Vereinigung in Deutschland ein. Um die Strukturen des Kalifatsstaats aufrechtzuerhalten, sammelten die Anhänger Spendengelder, die gleichzeitig den Lebensunterhalt Metin Kaplans in der Türkei finanzierten. Vormalige Anhänger des Kalifatsstaats, insbesondere die jüngere Generation, werden allerdings kaum noch von der Ideologie des Kalifatsstaats erreicht und wenden sich zum Teil salafistischen und jihadistischen Strömungen zu. ISLAMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN Im Vergleich zu 2021 (22) nahm im Berichtsjahr die Anzahl der islamistischen Strafund Gewalttaten um fünf zu, wobei sich die Zahl der Gewalttaten von zwei (2021) auf ein Delikt reduzierte. Der Anstieg resultierte aus der Zunahme der Delikte im Bereich "andere Straftaten" von 19 (2021) auf 25, wovon fünf Propagandadelikte waren. Im Berichtsjahr wurden vermehrt Fälle von Terrorismusfinanzierung, der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland und der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat festgestellt. (Siehe im Glossar unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität zur Erfassung politisch motivierter Strafund Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund.) 262 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ISLAMISMUS Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 263 ISLAMISMUS 264 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG - MERKMALE - EXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL MIT AUSLANDSBEZUG - KURDISCHER EXTREMISMUS - TÜRKISCHER LINKSEXTREMISMUS - EXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN MIT AUSLANDSBEZUG EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG MERKMALE Der nichtreligiös motivierte Extremismus mit Auslandsbezug umfasst sicherheitsgefährdende extremistische und terroristische Bestrebungen in Deutschland, die im Zusammenhang mit politischgesellschaftlichen Entwicklungen im Ausland stehen und überwiegend von Menschen mit Bezug zu den politischen Verhältnissen in einem anderen Staat getragen werden. AUF EINEN BLICK * Gegen Völkerverständigung und friedliches Zusammenleben der Völker gerichtet * Breites Spektrum von Bestrebungen mit Auslandsbezug Gegen Völkerverständigung und friedliches Zusammenleben der Völker gerichtet | Extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug richten sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung bzw. das friedliche Zusammenleben der Völker. Diese Bestrebungen gefährden die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland, indem ihre Urheber Gewalt anwenden oder darauf ausgerichtete Handlungen vorbereiten. Obwohl diese Bestrebungen nicht in erster Linie auf die Abschaffung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen, können sie die Sicherheit des Bundes oder der Länder gefährden. Breites Spektrum von Bestrebungen mit Auslandsbezug | Die Art der politischen Agitation zur Umsetzung dieser extremistischen Aktivitäten ist vielfältig. Sie reicht von Demonstrationen und Kundgebungen mit zum Teil gewalttätigem Verlauf bis hin zu "Spendensammelaktionen" und zur logistischen Unterstützung von Konfliktparteien im Herkunftsland. Das schließt die Unterstützung ausländischer terroristischer Gruppierungen ein. Die unterschiedlichen Zielrichtungen von Organisationen mit Auslandsbezug lassen sich im Wesentlichen unterteilen in * nationalistische, rechtsextremistische Bestrebungen, * linksextremistische Bestrebungen sowie * ethnisch motivierte Autonomiebzw. Unabhängigkeitsbestrebungen. Die Übergänge sind dabei oft fließend. 266 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG EXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL MIT AUSLANDSBEZUG1 Das Personenpotenzial im Bereich der PKK befindet sich seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau. Dessen Bemessung orientiert sich vor allem an den regelmäßigen Demonstrationslagen in Hessen und bildet die tatsächlich aktiven PKK-nahen Kurden ab. Dagegen fällt das auch sehr kurzfristig aktivierbare Mobilisierungspotenzial der PKK deutlich höher aus, was insbesondere für Großveranstaltungen mit Bezug zu einem womöglich prekären Gesundheitszustand Abdullah Öcalans oder bei Angriffen der türkischen Armee auf kurdische Siedlungsgebiete gilt. Eine differenziertere Betrachtung insbesondere türkisch-nationalistischer Symbole und Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien zeigte, dass diese auch von anderen Gruppierungen, welche die Errichtung eines Staats "Turan" propagieren, genutzt werden. Neben rechtsextremistischen bestehen andere Strukturen, die ein nationalistisch ausgerichtetes Staatswesen unter Führung des türkischen Volkes anstreben. Es gab Fälle, wo dies uneindeutig war oder ausgeschlossen werden konnte. Vor diesem Hintergrund wurde die Zahl der vor allem virtuell aktiven nichtorganisierten Anhänger der Ülkücü-Bewegung korrigiert, was zu einem deutlichen Rückgang der Gesamtzahl der Extremisten mit Auslandsbezug führte. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 267 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Da Extremisten mit Auslandsbezug öffentlich kaum durch Aktionen auf sich aufmerksam machten - Ausnahmen bildeten lediglich die PKK und die DIDF - und vorrangig interne Veranstaltungen durchführten, ist eine zuverlässige Quantifizierung der Gewaltorientierung dieser Personen nicht möglich. Vor diesem Hintergrund werden sowohl auf Bundesals auch auf Länderebene übereinstimmend keine Angaben hinsichtlich der Anzahl der gewaltorientierten Personen im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug ausgewiesen. Allerdings sind Jugendliche - auch entgegen möglicher Anweisungen der jeweiligen Organisationsleitungen - grundsätzlich aktionsorientierter. (Siehe im Glossar auch die Erläuterung zum Begriff Personenpotenzial.) KURDISCHER EXTREMISMUS Logo der PKK Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) Führung: Abdullah Öcalan (seit 1999 in DEFINITION/KERNDATEN der Türkei inhaftiert) Ursprüngliches Ziel der PKK war es, einen sozialistisch geprägAnhänger/Mitglieder: ten Staat ("Kurdistan") zu schaffen. Nachdem die strikt hierarIn Hessen etwa 1.500, bundesweit rund 14.500 chisch aufgebaute Kaderpartei 1984 zur Erreichung dieses Ziels einen blutigen Guerillakrieg gegen die Türkei begonnen hatte, rückte Bewaffnete Gruppen: sie seit 1999 zunehmend davon ab. Inzwischen fordert die PKK die Hezen Parastina Gel (HPG, VolksAnerkennung der kurdischen Identität und Autonomie. Laut eigenen verteidigungseinheiten), Aussagen will die PKK dies vor allem auf politischem Wege erreichen. Teyrebazen Azadiya Kurdistan (TAK, Freiheitsfalken Kurdistans) Seit November 1993 (bestandskräftig seit März 1994) ist die PKK in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegt. Die EU stuft die Syrischer Ableger: PKK seit 2002 als terroristische Organisation ein. Trotz dieses BetätiPartiya Yekitiya Demokrat (PYD, gungsverbots agiert die PKK in Deutschland organisationsintern mit Partei der Demokratischen Union), deren militärischer Arm illegalen Kaderstrukturen und öffentlich über nicht vom Betätigungsbestehend aus den Yekineyen Paverbot umfasste legalen Verbandsund Vereinsstrukturen. rastina Gel (YPG, Volksverteidigungseinheiten) und den Yekineyen Parastina Jin (YPJ, EREIGNISSE/ENTWICKLUNGEN Frauenverteidigungseinheiten) Trotz ihrer gegenteiligen Bemühungen im Rahmen von DemonstraMedien (Auswahl): tionen und Gerichtsverfahren unterliegt die PKK in Deutschland Yeni Özgür Politika (YÖP, Neue weiterhin einem Kennzeichenund Betätigungsverbot und wird unFreie Politik) als Sprachrohr der PKK, Serxwebun (Unabhängigverändert auf der EU-Terrorliste geführt. Sowohl die Rekrutierung keit), Internetpräsenzen, Sterk von Kadern und Kämpfern als auch die jährliche Spendensammlung TV/ NUCE-TV zur Finanzierung des Terrors in der Türkei begründen das seit 1993 \ bestehende Betätigungsverbot. Das Mobilisierungspotenzial der 268 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG PKK in Hessen war nach wie vor um ein Vielfaches höher als das anderer extremistischer Gruppen mit Auslandsbezug. Neben Nordrhein-Westfalen blieb Hessen - hier insbesondere Frankfurt am Main - bevorzugter Veranstaltungsraum für PKK-nahe Großveranstaltungen, wie etwa die bundesweite zentrale Newroz-Feier und das Zilan-Frauenfestival. Wie in der Vergangenheit arbeiteten deutsche Linksextremisten intensiv mit der PKK zusammen, zum Teil agierten sie - etwa im Kontext der sogenannten Kurdistan-Solidarität - mittlerweile losgelöst von örtlichen PKK-Strukturen. AUF EINEN BLICK * Zentrale Newroz-Feier in Frankfurt am Main - regionale Feiern in Darmstadt und Kassel * Unterschriftensammlung für die PKK * 16. Zilan-Frauenfestival in Frankfurt am Main * Bundes-/europaweite Kampagne "Tag X ist jetzt!" * Spendenkampagne Zentrale Newroz-Feier in Frankfurt am Main - regionale Feiern in Darmstadt und Kassel | Die PKK-nahe Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistaniyan e. V. (FCDK-Kawa, Demokratische Föderation der Gesellschaften Kurdistan e. V.) meldete am 18. Januar zwei Aufzüge zum kurdischen Neujahrsfest unter dem Motto "Newroz, das Fest der Freiheit - Freiheit für alle politischen Gefangenen" für den 19. März in Frankfurt am Main an. Neben PKK-nahen Vereinen und Jugendverbänden mobilisierten bundesweit deutsche und türkische linksextremistische Gruppierungen sowie Organisationen aus dem nichtextremistischen Spektrum für die Veranstaltung. Der Kongreya Civaken Demokratik li Kurdistaniyen Ewropa (KCDK-E, Kurdischer Demokratischer Gesellschaftskongress in Europa) rief auf dem Onlineportal ANF News am 14. März dazu auf, das "50. Newroz-Jahr zum Jahr von Abdulah Öcalans Freiheit [zu] machen". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 269 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Am Vorabend der Veranstaltung in Frankfurt am Main trafen sich Anhänger verschiedener PKK-Jugendverbände im PKK-nahen Verein in Darmstadt. Neben PKK-Jugendgruppen aus Frankfurt am Main teilten die PKK-nahe Tevgera Ciwanen Soresger (TCS, Bewegung der revolutionären Jugend) aus Stuttgart (Baden-Württemberg) und Köln (Nordrhein-Westfalen) den Aufruf zu einer "Vorabend-Feier". Im Internet veröffentlichte Bilder zeigten die Jugendlichem in den mit Öcalan-Fahnen geschmückten Vereinsräumen. Statt der von den Organisatoren erwarteten 20.000 bis 25.000 Teilnehmer versammelten sich am 19. März in der Spitze bis zu 17.000 PKK-Anhänger in der Mainmetropole. Neben Musikdarbietungen wurden verschiedene Reden gehalten; in seinem Grußwort, als Videobotschaft aus dem Kandilgebirge im Nordirak übermittelt, erklärte einer der PKK-Vorsitzenden, Cemil Bayik, dass jeder Tag wie Newroz sein müsse. Das Volk müsse sich auf der Grundlage von Einheit, Kampf und Erfolg neu erschaffen. Die historische Aufgabe bestehe darin, die Freiheit Abdullah Öcalans zu erreichen. Man habe einen historischen Vorstoß gestartet, um die physische Freiheit Öcalans zu erlangen. Die PKK sei eine legitime Bewegung, und das kurdische Volk und dessen Anhänger müssten mit ihrem Kampf die Freiheit Öcalans und die Streichung der PKK von der Terrorliste herbeiführen. Wenn diese Ziele erreicht seien, werde das Regime der AKP (kein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes) und der Milliyetci Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung) sein Ende finden und die Türkei demokratisiert werden. Bayik sagte ferner, dass er seine Hochachtung für die kurdische Jugend ausdrücken wolle, da sie heldenhaft und opferbereit für das kurdische Volk und die gesamte Menschheit kämpfe. Man werde in der "Woche der Helden" den Kampf verstärken und am 4. April, dem Geburtstag Abdullah Öcalans, eine noch höhere Stufe erreichen. Dies gehöre zum Programm für das Jahr 2022. Abgesehen von einigen Verstößen gegen das Vereinsund Versammlungsgesetz, verlief die Veranstaltung insgesamt friedlich. Die Polizei fertigte entsprechende Strafanzeigen. Allerdings behaupteten PKK-nahe Medien, dass während der gesamten Feier (verbotene) PKK-Parolen skandiert worden seien. Darüber hinaus fand am 21. März in Darmstadt das traditionell vom örtlichen PKK-nahen Verein organisierte Newroz-Fest statt. Etwa 560 Teilnehmer, darunter auch deutsche Linksextremisten, die der IL zuzurechnen waren, zogen in den Abendstunden zum Teil mit Fackeln durch die Innenstadt. Dabei wurde wiederholt die verbotene PKKParole "Biji Serok Apo" ("Hoch lebe unser Führer Apo") skandiert. Die Polizei stoppte den Demonstrationszug deshalb mehrfach und er270 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG mahnte die Verantwortlichen. Zu der Newroz-Feier in Kassel am 21. März versammelten sich rund 150 Personen. Ebenso wie für die Veranstaltungen in Frankfurt am Main und Darmstadt hatte auch hier die jeweilige autonome Szene mobilisiert. Unterschriftensammlung für die PKK | Regelmäßig führten der PKK nahestehende Anhänger und Organisationen bundesweit Informationsstände gegen das PKK-Betätigungsverbot durch und plädierten für dessen Aufhebung sowie die Streichung der Organisation von der EU-Terrorliste. Sie wandten sich gegen die angeblich "systematische Etikettierung, Diskriminierung und Kriminalisierung der kurdischen Bevölkerung auf allen Ebenen des kulturellen, des sozialen und politischen Zusammenlebens" und führten in Frankfurt am Main vom 15. Januar bis 13. März sowie vom 26. März bis zum 27. August eine entsprechende Unterschriftensammlung durch. Dabei wurden weder Abbildungen Öcalans noch verbotene PKK-Symbole gezeigt. Den Hintergrund für die Unterschriftensammlung bildete offensichtlich das Verfahren gegen die Einstufung der PKK als terroristische Vereinigung vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), wobei es um die Erwähnung auf der EU-Terrorliste von 2014 bis 2020 ging. Der EuGH hatte 2018 entschieden, dass die PKK zwischen 2014 und 2017 zu Unrecht auf der Terrorliste stand, wogegen der Europäische Rat Berufung einlegte. Die PKK klagte nunmehr auch gegen die Terrorlisten von 2018 bis 2020, sodass der EuGH beide Verfahren zusammengeführte. Die erste Anhörung fand am 31. März statt; am 14. Dezember wies der EuGH die Klage der PKK schließlich ab. 16. Zilan-Frauenfestival in Frankfurt am Main | Etwa 1.500 überwiegend weibliche Festivalbesucher kamen am 18. Juni zum 16. ZilanFrauenfestival in Frankfurt am Main zusammen. Organisiert wurde die Veranstaltung vom PKK-nahen Yekitiya Jinen Kurdistan li Elmanyaye (YJK-E, Verband der Frauen aus Kurdistan in Deutschland). Eingebettet in ein umfangreiches Kulturprogramm mit musikalischen und folkloristischen Darbietungen sowie einem Angebot für Kinder, standen dabei auch politische Themen im Fokus. Laut eines Berichts der ANF News wurde das Festival mit einem "Gruß an die Guerilla, die Südkurdistan seit Monaten wieder gegen eine neuerliche Invasion des türkischen Staates" verteidige, eröffnet. Die Komalen Jinen Kurdistan (KJK, Koordination der Gemeinschaft der Frauen Kurdistans), das heißt der Dachverband der PKK-Frauenorganisationen, erklärte, dass die Frauen, die bereits den IS besiegt hätten, nun mit dem Widerstand gegen die türkische Invasion einen weiteren, ",in der modernen Geschichte selten gesehenen Kampf'" austrügen: Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 271 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG ",Es ist in erster Linie die Pflicht von uns Frauen, diesen selbstlosen Widerstand der um Existenz und Würde kämpfenden Freiheitsguerilla Kurdistans auf höchster Ebene anzunehmen und auszuweiten. Wir müssen den Kampf gegen die Dunkelheit, die der Faschismus überall schaffen will, verstärken'". Eine Aktivistin der Tevgera Jinen Kurd li Ewropa (TJK-E, Kurdische Frauenbewegung in Europa) bezeichnete den "Guerillawiderstand gegen die Invasion als einen ,Krieg um Würde'": ",Wie schon vor hundert Jahren schmiedet der türkische Staat Pläne, um einen Genozid am kurdischen Volk zu vollziehen. Doch er übersieht, dass kurdische Frauen die Geschichte bereits verändert haben. Kurdinnen führen Kämpfe um Befreiung und Demokratie und treiben Revolutionen an. Wir haben den Freiheitsgedanken verinnerlicht, diesen Weg werden wir nicht verlassen. Wir werden kämpfen; gegen die Isolation von Abdullah Öcalan und für seine Freiheit, gegen die Kriegsverbrechen an der Guerilla, für den Zusammenbruch des faschistischen AKP/MHP-Regimes und für die Verurteilung des Diktators Erdogan'". Während des Festivals wurden verbotene PKK-Symbole gezeigt, die Bühne war mit Bildern von PKK-"Märtyrerinnen" geschmückt. Bundes-/europaweite Kampagne "Tag X ist jetzt!" | Aktivisten des linksextremistisch beeinflussten Bündnisses Defend Kurdistan besetzten am 6. Juli das Parteibüro des Mitglieds des Bundestags Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in Frankfurt am Main. Die Leiterin der Aktion begründete dies mit der politischen, finanziellen und materiellen Unterstützung der türkischen Regierung durch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als Teil der Bundesregierung. In der Spitze nahmen etwa 30 Personen an der Besetzung teil. Bei Defend Kurdistan handelte es sich um einen Zusammenschluss aus deutschen linksextremistisch ausgerichteten Aktivisten und Personen aus dem Umfeld PKK-naher Vereine im Rhein-Main-Gebiet, wobei letztere eine eher nachgeordnete Rolle spielten. Eine Woche nachdem bei einem Bombenanschlag in Istanbul (Türkei) sechs Menschen ums Leben gekommen und mehr als 80 zum Teil schwer verletzt worden waren, startete die türkische Armee am 20. November eine Offensive gegen Stellungen der PKK und YPG in Nordsyrien und im Nordirak. Die von der türkischen Regierung erhobene Behauptung, dass diese für das Attentat verantwortlich seien, wies die PKK zurück und warf dem türkischen Präsidenten Erdogan "Staatsterror" vor. 272 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Am 21. November rief die sich selbst als "internationalistische Kampagne und Plattform" bezeichnende Gruppe RiseUp4Rojava den "Tag X" aus: Anhänger und Sympathisanten sollten an "action days" vom 30. November bis 3. Dezember "aktiv" werden. Bei der "Kampagne und Plattform" handelte es sich um einen Zusammenschluss deutscher linksgerichteter Aktivisten und Personen aus dem Umfeld PKK-naher Vereine im Rhein-Main-Gebiet. In einem über Twitter und ANF News verbreiteten Aufruf hieß es: "Die Angriffe dauern bis zur aktuellen Stunde an und das faschistische Oberhaupt des türkischen Regimes, Erdogan, droht der Region mit Zerstörung, Vernichtung und Mord, um weiterhin an der Macht zu bleiben und die im nächsten Jahr anstehenden Wahlen in der Türkei zu gewinnen. Seit Anfang des Jahres sieht sich Rojava mit andauernden Angriffen konfrontiert, während die türkische Armee zur gleichen Zeit in den Bergen Südkurdistans Tag für Tag die Widerstand leistende Guerilla mit Giftgas angreift. [...] Block, Disturb, Occupy! Organisiert Demonstrationen, Proteste und werdet kreativ!" Vor diesem Hintergrund solidarisierte sich ein breites extremistisches Spektrum mit PKK-Anhängern im Rahmen von zum Teil nicht angemeldeten Kundgebungen in Kassel, Gießen (Landkreis Gießen), Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Darmstadt und Frankfurt am Main. In die Proteste eingebunden waren türkische und deutsche linksextremistische Gruppierungen und Bündnisse wie Young Struggle, Women Defend Rojava, die Antifa Main-Taunus (Frankfurt am Main) sowie das OAT Kassel. Vermutlich nach einer Kundgebung wurde in Frankfurt am Main am 20. November das dortige Büro der SPD beschädigt. Sich selbst - ähnlich wie RiseUp4Rojava - als Internationalisten bezeichnende unbekannte Personen beschmierten laut einer Bekennung der Antifa Frankfurt am Main die Fassade des Gebäudes mit roter Farbe und dem Slogan "SPD und Erdogan - Hand in Hand - Morden in Kurdistan". Zudem prangerten die Täter den zeitgleichen Besuch der Bundesinnenministerin Nancy Faeser in der Türkei an. Darüber hinaus initiierten deutsche und türkische Linksextremisten Veranstaltungen eigenständig und ohne Zutun seitens der örtlichen PKK-Szene, so etwa am 22. November in Frankfurt am Main bei einer nicht angemeldeten Demonstration von Young Struggle und der Yeni Demokratik Genclik (YDG, Neue demokratische Jugend) gegen den türkischen Militäreinsatz in "Kurdistan". Die Teilnehmer zeigten dabei verbotene PKK-Symbole. Auch an der Goethe-Universität Frankfurt am Main kam es zu verschiedenen Aktionen: Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 273 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG * Am 22. November führte Young Struggle eine nicht angemeldete Demonstration durch. * Am 23. November demonstrierten Anhänger der PKK und deutsche Linksextremisten gemeinsam "Gegen die Bombardierung von Rojava und Südkurdistan". Außerdem kam es am selben Tag zu einer gemeinsamen Aktion kurdischer und sich selbst als "internationalistisch" bezeichnender Studierender unter Beteiligung der YDG. Auch hier zeigten die Aktivisten verbotene PKK-Symbole. * Am 24. November hielt der Yekitiya Xwendekaren Kurdistan (YXK, Verband der Studierenden aus Kurdistan) eine "Notfallversammlung der Studierenden zu Kurdistan" auf dem Campus Westend ab. * Für den 26. November mobilisierten die Antifa Main-Taunus und die kurdischen Studierendenverbände YXK und Jinen Xwendekaren Kurdistan (JXK, Studierende Frauen aus Kurdistan) unter dem Motto "Stoppt die Angriffe auf Kurdistan" für eine Demonstration an der Hauptwache in Frankfurt am Main. Im Foyer des Fernsehsenders RTL Hessen führte die deutsche linksextremistische Gruppierung Defend Kurdistan am 7. Dezember ein "Die In" durch, um gegen den angeblichen Chemiewaffeneinsatz der Türkei zu protestieren. Besonders an der Goethe-Universität Frankfurt am Main setzten sich die Proteste bis zum Ende des Berichtjahrs fort. Spendenkampagne | Seit Jahren ist die jährliche "Spendenkampagne" der PKK ein zentrales Anliegen der Organisation: Tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der Organisation werden aufgesucht und zur Überlassung eines vorgegebenen Geldbetrags aufgefordert. Ohne diese Finanzmittel wäre die logistische Unterstützung der Gesamtorganisation sowohl in Deutschland als auch im kurdischen Siedlungsgebiet im Nahen Osten nicht möglich. Förderlich für die "Spendenbereitschaft" dürften sich im Berichtsjahr insbesondere zwei Gründe bei den "Spendern" ausgewirkt haben: zum einen die militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Guerillaeinheiten der PKK und dem türkischen Militär, zum anderen die Haftsituation bzw. die Sorge um den Gesundheitszustand des PKK-Anführers Abdullah Öcalan. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE 1978 als eine Partei mit marxistisch-leninistischer Ausrichtung gegründet, suchte die PKK mit ihren bewaffneten Einheiten seit dem 15. August 1984 die Auseinandersetzung mit dem türkischen Militär. Den Kampfhandlungen fielen seitdem mehrere zehntausend Menschen zum Opfer. 274 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG AUF EINEN BLICK * Wandlungen der PKK * Verurteilung Öcalans * Umbenennungen Wandlungen der PKK | Die ursprünglich marxistisch-leninistisch orientierte Terrororganisation wurde am 27. November 1978 gegründet und strebte danach, durch einen Guerillakrieg einen revolutionären Umbruch zu erreichen und anschließend einen eigenen kurdischen Staat zu gründen. Im Laufe der Jahre veränderte sich diese Forderung hin zu einer konföderalen Vorstellung, die den Kurden in ihren Gebieten weitgehende kulturelle und politische Autonomie und Selbstbestimmung bringen soll. Hierzu sollen zum Beispiel ein eigenes Parlament, eigene Wirtschaftsund Finanzstrukturen, eine anerkannte eigene Sprache und eine eigene Fahne gehören. Vor allem die beiden letzten Punkte sind für die PKK besonders symbolträchtig. Von Beginn an sah die PKK Gewalt als ein wichtiges Mittel im revolutionären Kampf an. Gewalt wurde innerhalb der Terrororganisation - zum Beispiel gegen Abweichler - ebenso angewendet wie im Rahmen bewaffneter Aktionen und Anschläge insbesondere in der Türkei. Dabei gab es, abhängig von der jeweiligen innenpolitischen Entwicklung, immer wieder Phasen eines von der PKK verkündeten "Waffenstillstands" gegenüber der türkischen Regierung. In Europa und Deutschland versuchte die PKK seit Jahren - zumindest nach außen hin - den Eindruck einer politischen Neuorientierung zu erwecken und sich vor allem durch ihren Kampf gegen den IS in Syrien als zuverlässige Partnerin europäischer Staaten darzustellen. Dies geschah auch deshalb, um eine Streichung von der EU-Terrorliste bzw. die Aufhebung des Betätigungsverbots in Deutschland zu erreichen. Verurteilung Öcalans | 1998 entzog Syrien auf massiven Druck der Türkei dem PKK-Anführer Abdullah Öcalan die Unterstützung und veranlasste ihn, sein dortiges Exil aufzugeben. Nach verschiedenen Aufenthalten in Europa und Afrika wurde Öcalan am 15. Februar 1999 in Kenia festgenommen und in die Türkei gebracht. Am 29. Juni 1999 vom Staatssicherheitsgericht in Ankara zum Tode verurteilt - die Strafe wurde mit Abschaffung der Todesstrafe am 3. Oktober 2002 in lebenslange Haft umgewandelt -, befand sich Öcalan seitdem auf der Gefängnisinsel Imrali in Haft. Für die PKK gilt der 15. Februar als "schwarzer Tag in der Geschichte des kurdischen Volkes". Sie spricht in diesem Zusammenhang von einem "internationalen Komplott". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 275 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Umbenennungen | 2002 benannte sich die PKK in Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdistane (KADEK, Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans) um. 2003 folgte die Umbenennung in Kongreya Gele Kurdistane (KONGRA GEL, Volkskongress Kurdistans). Damit versuchte die PKK, sich von der "Stigmatisierung" als Terrororganisation zu befreien und sich als politisch neu ausgerichtete Organisation zu präsentieren. Die unterschiedlichen Bezeichnungen der letzten Jahre hinsichtlich der Struktur und personellen Zusammensetzung führten zu keinen grundsätzlichen Umgestaltungen der PKK. Die Ursprungsorganisation bestand im Wesentlichen fort. 2005 gründete sich die Koma Civaken Kurdistan (KCK, Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans), die sich die Verwirklichung des "demokratischen Konföderalismus" zum Ziel setzte. Darunter versteht die PKK einen nichtstaatlichen Verbund aller Kurden in der Türkei, in Syrien, im Iran und Irak, den sie mit eigenen Regierungsorganen und mit dem Anspruch einer eigenen Staatsbürgerschaft versieht. Die staatlichen Grenzen der Länder, in denen Kurden leben, sollen in diesem virtuellen Verbund unangetastet bleiben. PKK und KCK sind im Wesentlichen strukturell identisch. In der Binnenkommunikation sprechen Funktionäre, Mitglieder und Anhänger - unbeschadet aller jeweils aktuellen Bezeichnungen der Organisation - seit jeher von PKK. Im Außenverkehr tituliert sich die PKK hingegen, wenn sie ihr organisatorisches Ganzes meint, als KCK. IDEOLOGIE/ZIELE Ziel der terroristischen PKK war ursprünglich die staatliche Unabhängigkeit der auf mehrere Staaten im Nahen Osten zersplitterten kurdischen Siedlungsgebiete. Der kurdische Staat ("Kurdistan") sollte in der Türkei aus Südostanatolien, Regionen im Nordosten Syriens ("Rojava"), Gebieten im Norden des Iraks und Gebieten im Westiran bestehen. AUF EINEN BLICK * Autonomie in der Türkei * Öcalan als ideologische Führungsfigur Autonomie in der Türkei | Die PKK behauptet, ihr Ziel der staatlichen kurdischen Unabhängigkeit zugunsten eines einheitlichen länderübergreifenden Siedlungsverbunds aller Kurden aufgegeben zu haben, in dessen Rahmen die Grenzen der betroffenen Staaten Bestand haben sollen. 276 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Was die in der Türkei lebenden Kurden betrifft, kämpft die PKK für die staatliche Anerkennung ihrer kulturellen und politischen Identität, die in Südostanatolien mittels eines Autonomiestatus - ähnlich der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak - verwirklicht werden soll. Im Zuge des syrischen Bürgerkriegs und der nach wie vor nicht beendeten Auseinandersetzungen mit dem IS streben die PKK und ihr syrischer Ableger PYD auch im Norden Syriens nach Autonomie. Dabei beansprucht die PKK, die Interessen aller Kurden zu vertreten. Öcalan als ideologische Führungsfigur | Der in der Türkei inhaftierte Abdullah Öcalan fungiert weiterhin als ideologische Führungsfigur der Terrororganisation, da er einer der Gründer der PKK war und damals sogleich zum Vorsitzenden gewählt wurde. Darüber hinaus verfasste Öcalan Schriften, die noch heute als Material bei der Kaderschulung dienen. Auch nach seiner Inhaftierung hatte Öcalan jahrelang wichtige Entscheidungen der PKK inhaltlich mitgeprägt, so etwa die Zielsetzung der kulturellen und politischen Autonomie, die an die Stelle der Etablierung eines eigenen "Kurdenstaats" trat. Seit mehreren Jahren ist allerdings nicht mehr bekannt, dass Öcalan die inhaltliche Ausrichtung der PKK mitbestimmt. Vor diesem Hintergrund hat Öcalan innerhalb der Terrororganisation weiterhin eine absolut herausgehobene Stellung inne. Im Laufe der Zeit wurde er immer stärker verklärt, sowohl seine Verhaftung 1999 als auch seine Einzelhaft auf der Gefängnisinsel Imrali wurden im Sinne der PKK historisiert. Insgesamt wird Öcalan schon heute als lebender Märtyrer verehrt, der wegen seines Engagements für eine "richtige und gute Sache" zu Unrecht verfolgt, inhaftiert und isoliert werde. Angesichts fehlender Informationen über Öcalan und seine Situation wird bei PKK-Veranstaltungen immer wieder die Forderung erhoben, dass über seinen Gesundheitszustand und seine Haftbedingungen berichtet und ein glaubhaftes Lebenszeichen von ihm gegeben wird. Bei Gerüchten über eine Verschlechterung seines Lebensumfelds oder seines Tods organisieren PKK-Anhänger sofort Solidaritätsaktionen. STRUKTUREN Die Strukturen der PKK in Europa sind weder organisatorisch selbstständig, noch sind sie, gleich wo die Führung der Terrororganisation ihren Sitz in der Türkei oder angrenzenden Staaten hat, unabhängig. Zum einen sind diese Strukturen vollständig in den PKK-Aufbau eingegliedert, zum anderen werden auch politisch-ideologische Ziele und die Art und Weise ihrer Umsetzung seitens der PKK-Führung vorgegeben. Die PKK agiert in Deutschland bezogen auf ihre OrHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 277 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG ganisation intern mit illegalen Kaderstrukturen und mit Blick auf öffentliche Aktivitäten über nicht vom Betätigungsverbot umfasste legale Verbandsund Vereinsstrukturen. AUF EINEN BLICK * Regionen und Gebiete * Dachverbände PKK-naher Vereine * Weitere Teilorganisationen * PKK-nahe Medien * Weiteres Umfeld der PKK im Nahen Osten Regionen und Gebiete | Die PKK teilt Deutschland in neun Regionen mit insgesamt 31 Gebieten ein, wobei jede Region von einem konspirativ tätigen Führungskader geleitet wird, dessen Verwendung meistens zeitlich begrenzt ist. Mittels örtlicher kurdischer Vereine steuert die PKK sowohl Informationen als auch verschiedene Vorgaben an ihre Anhänger. Dachverbände PKK-naher Vereine | Als Dachverband der PKK-nahen Vereine in Deutschland fungiert die Almanya'daki Mezopotamya Topluluklar Konfederasyonu (KON-MED, Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland). Ihr gehören fünf Föderationen an, darunter die FCDK-KAWA mit Sitz in Darmstadt. Gemessen am Mobilisierungspotenzial befand sich in Frankfurt am Main und in Darmstadt die größte kurdische Community in Hessen mit Bezug zur PKK. Im Unterschied zu Kassel, Gießen (Landkreis Gießen), Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und Frankfurt am Main agierten die PKK-Anhänger in Darmstadt weitgehend autark. Eine signifikante Vermischung oder Unterwanderung mit bzw. durch deutsche und türkische Linksextremisten war hier seltener zu beobachten. Als Dachorganisation für Europa fungiert der KCDK-E. Weitere Teilorganisationen | Darüber hinaus trugen weitere Teilorganisationen die Aktivitäten der PKK: * Propagandabzw. Frontorganisation (politischer Arm): Koordinasyona Civaka Demokratik a Kurdistan (CDK, Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft), Sitz unbekannt. * Tevgera Ciwanen Soresger (TCS, Bewegung der revolutionären Jugend). * Jinen Ciwanen Azad (Bewegung junger Frauen). * Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V. (Civika Azad). * Heyva Sor a Kurdistane (HSK, Kurdischer Roter Halbmond). * Yekitiya Xwendekaren Kurdistan (YXK, Verband der Studierenden aus Kurdistan). 278 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG * Jinen Xwendekaren Kurdistan (JXK, Studierende Frauen aus Kurdistan). Als Studierendenverbände waren die JXK und der YXK an hessischen Universitäten in Kassel, Gießen (Landkreis Gießen), Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Frankfurt am Main und Darmstadt aktiv. PKK-nahe Medien | PKK-Positionen werden insbesondere über eigene Medienstrukturen umgesetzt. Neben einem PKK-Fernsehsender (Sterk-TV/NUCE-TV) gibt es die PKK-nahe Nachrichtenagentur Ajansa Nuceyan a Firate (ANF, Firatnews Agency) mit Sitz in den Niederlanden sowie verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (unter anderem die vom Betätigungsverbot nicht betroffene YÖP, die in Neu-Isenburg, Landkreis Offenbach, erscheint, sowie Serxwebun und Ciwanen Azad). Weiteres Umfeld der PKK im Nahen Osten | Mit der PKK verbunden sind die PYD in Syrien sowie die Partiya Jiyana Azad a Kurdistane (PJAK, Partei für ein freies Leben in Kurdistan) und die Partiya Careseriya Demokratik a Kurdistane (PCDK, Partei für eine politische Lösung in Kurdistan) im Irak. Als Schwesterparteien wollen auch sie die Interessen von Kurden vertreten. BEWERTUNG/AUSBLICK Die Veranstaltungen von PKK-Anhängern in Hessen verliefen im Berichtsjahr insgesamt friedlich und damit gemäß der Weisungslage der PKK-Führung. Mit dem Wegfall der meisten "Corona-Maßnahmen" nahmen die Aktivitäten der PKK-Anhänger und -Symphatisanten deutlich zu, wobei die größten Zusammenkünfte bei den öffentlichen Newroz-Feierlichkeiten zu verzeichnen waren. Auch wenn das kurdische Neujahrsfest im Gegensatz zum ebenfalls jährlich im September stattfindenden Kurdischen Kulturfestival einen eher familiären Charakter hat, instrumentalisierte die PKK diesen Tag für eigene Themen wie "Widerstand" und "Befreiungskampf" und versuchte, die in Deutschland lebenden Kurden auf ihre spezifischen Ansinnen aufmerksam zu machen. Die Haftbedingungen Abdullah Öcalans und dessen Gesundheitszustand bildeten weiterhin einen wichtigen Schwerpunkt in der politischen Wahrnehmung der PKK-Anhänger. Sollten sich Haftbedingungen oder Gesundheitszustand verschlechtern oder Öcalan sterben, ist mit stark emotionalisierten Demonstrationen und einer Eskalation im Rahmen des Protestgeschehens zu rechnen. Vor allem die türkischen Militäroperationen gegen bewaffnete PKK-Einheiten Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 279 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG in der Türkei, in Syrien und im Irak erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die PKK-Anhänger in Deutschland hierauf mit Protesten reagieren. Insgesamt dürfte die Bereitschaft der PKK, ihre Anliegen durch Kundgebungen und Demonstrationen in die Öffentlichkeit zu tragen, nicht abnehmen, sondern sogar - in teilweiser Zusammenarbeit mit deutschen Linksextremisten - zunehmen. Grundsätzlich agiert die PKK in Deutschland friedlich. Zur öffentlichkeitswirksamen Betonung ihrer Forderungen ist insbesondere bei jugendlichen PKK-Anhängern davon auszugehen, dass zum Beispiel Besetzungen von Parteibüros oder Medienanstalten bzw. Aktionen an symbolträchtigen Örtlichkeiten weiterhin für das Vorbringen ihrer politischen Anliegen genutzt werden. Anlassund einzelfallbezogen sind auch Sachbeschädigungen an türkischen Einrichtungen, insbesondere von regierungsnahen oder ihnen zugerechneten "nationalistischen Gebäuden", weiterhin wahrscheinlich. Die PKK tritt unverändert dafür ein, die Aufhebung des Betätigungsverbots und die Streichung von der EU-Terrorliste zu erreichen. Vor diesem Hintergrund wird sie aller Voraussicht nach weiterhin ausloten, inwieweit sie politische Unterstützung für ihre Forderung erhalten bzw. durch ihr Agieren das Betätigungsverbot unterminieren kann. Außerdem wird sie weiterhin an einer juristischen Aufhebung des Betätigungsverbots arbeiten. Während PKK-Anhänger in den letzten Jahren vor allem bei Demonstrationen verbotene Symbole der YPG und YPJ verwendeten, zeigten sie im Berichtsjahr häufig nicht an Auflagen geknüpfte Abbildungen ihres Anführers Abdullah Öcalan. Dieser verkörpert sinnbildlich wie keine andere Person nach wie vor die PKK und fungiert trotz seiner Inhaftierung als unverkennbare ideologische Größe, die für das Weltbild und die damit einhergehenden Aktivitäten der Terrororganisation und ihrer Anhänger steht. Die Verbindungen der PKK zu deutschen Linksextremisten bestanden nach wie vor fort. In Hessen betraf dies vor allem die Universitätsstädte Kassel und Frankfurt am Main. Im Rahmen der "Kurdistansolidarität" agierten deutsche und türkische Linksextremisten inzwischen auch eigenständig, das heißt ohne die Einbeziehung kurdischstämmiger PKK-Anhänger. Ein Beispiel hierfür war das linksextremistisch beeinflusste Bündnis Defend Kurdistan. 280 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG TÜRKISCHER LINKSEXTREMISMUS Sonstige Beobachtungsobjekte Neben der PKK gab es in Hessen weitere Organisationen, die einen bedeutenden Teil des Spektrums im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug bildeten. Die wichtigsten von ihnen sind unten aufgeführt. AUF EINEN BLICK * Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP-C, Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) Gründung und Ideologie Strukturen - Anhängerpotenzial Solidarität mit "politischen Gefangenen" Aktivitäten von Grup Yorum Bewertung/Ausblick * Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist (TKP/ML, Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten) Entstehung und Ideologie - Mitgliederpotenzial Strukturen Parteijubiläum "30. Jugend-, Kunstund Kulturfestival" Kongresse in Frankfurt am Main Gedenkveranstaltungen "Gefangenensolidarität" Bewertung/Ausblick * Marksist Leninist Komünist Parti (MLKP, MarxistischeLeninistische Kommunistische Partei) Entstehung und Ideologie Strukturen - Anhängerpotenzial Veranstaltungen - Kampagne "Jugend gegen Krieg und Krise" Bewertung/Ausblick * Demokratik Isci Dernekleri Federasyonu e. V. (DIDF, Föderation Demokratischer Arbeitervereine e. V.) Entstehung und Ideologie - Anhängerpotenzial Strukturen Veranstaltungen "Frieden jetzt sofort!" Bewertung/Ausblick Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 281 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP-C, Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) Gründung und Ideologie | Die DHKP-C wurde 1994 als Nachfolgeorganisation der seit 1983 in Deutschland verbotenen Devrimci Sol (Dev Sol, Revolutionäre Linke) gegründet. Von der EU ist die in Deutschland seit 1998 verbotene Organisation seit 2002 als terroristische Organisation eingestuft. Ähnlich wie Yürüyüs (Marsch), das Publikationsorgan der DHKP-C, dessen Verbreitung seit 2015 durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat verboten ist, ist auch die Musikband Grup Yorum ein integraler Bestandteil der Terrororganisation. Auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus strebt die DHKP-C einen revolutionären Umsturz der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung und die Errichtung einer klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft in der Türkei an. Die DHKP-C propagiert einen bewaffneten Volkskampf unter ihrer Führung und war in der Türkei immer wieder für teilweise im Planungsstadium vereitelte Selbstmordanschläge verantwortlich. Zuletzt fand ein solcher Anschlag auf einen Bus der Bereitschaftspolizei in Istanbul 2017 statt. Strukturen - Anhängerpotenzial | Die DHKP-C gliederte sich in einen politischen und einen militärischen Arm: die Devrimci Halk Kurtulus Partisi (DHKP, Revolutionäre Volksbefreiungspartei) und die Devrimci Halk Kurtulus Cephesi (DHKC, Revolutionäre Volksbefreiungsfront). An deren Spitze stand das Zentralkomitee, dem wiederum Regionalund Gebietsleiter untergeordnet waren. In Deutschland trat die DHKP-C vornehmlich als Volksfront (Halk Cephesi) und als Anatolische Föderation (Anadolu Federasyonu) auf. Die Jugendorganisation Devrimci Genclik (Dev-Genc, Revolutionäre Jugend) arbeitete eng mit der Führung auf den jeweiligen Ebenen zusammen. In Hessen verfügte die DHKP-C über etwa 70 Anhänger, bundesweit über rund 650. Solidarität mit "politischen Gefangenen" | Im Mai ließ die Bundesanwaltschaft aufgrund von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs drei hochrangige DHKP-C-Funktionäre (zwei türkische Staatsangehörige und einen deutschen Staatsangehörigen) in Baden-Württemberg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen festnehmen, unter ihnen die mutmaßliche "Deutschlandverantwortliche". Darüber hinaus wurde bei den Beschuldigten durchsucht. Aus Protest gegen die Festnahmen führten DHKP-C-Anhänger bundesweit zahlreiche Solidaritätsveranstaltungen durch. In Frankfurt am Main kam es regelmäßig zu Kundgebungen für sowohl in Deutsch282 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG land als auch in Griechenland und in der Türkei in Haftanstalten einsitzende "politische Gefangene". Dabei gab es auch Aktionen vor den entsprechenden Generalkonsulaten. Des Weiteren demonstrierten regelmäßig einzelne Akteure vor dem Büro der Cumhurriyet Halk Partisi (CHP, Republikanische Volkspartei), da die DHKP-C diese für die Festnahmen verantwortlich machte. Auch in Darmstadt fanden thematisch gleichgelagerte Kundgebungen statt. Zudem "verbürgten" sich im Juni DHKP-C Aktivisten aus Darmstadt gegenüber dem Staat symbolisch für die Unschuld eines DHKP-C-Funktionärs und Grup-Yorum-Mitglieds, der im Mai festgenommen worden war. Mit Teilnehmerzahlen im einstelligen Bereich verliefen die Veranstaltungen friedlich. Darüber hinaus starteten DHKP-C-Anhänger kurz nach den Festnahmen ihre Kampagne "Weg mit dem Paragraphen SS129, SS129a und SS129b" und führten am 27. November in Berlin unter Einbindung anderer Organisationen unter dem Motto "Freiheit für alle antifaschistischen und revolutionären Gefangenen - Nieder mit den NaziParagraphen 129, 129a und 129b!" eine Demonstration durch: "Wer sich dem Faschismus nicht aktiv entgegenstellt, wird leicht zum Komplizen. Deshalb: Seid keine Komplizen, sondern geht auf die Barrikaden gegen den Faschismus!" Insgesamt fielen die Reaktionen der DHKP-C-Angehörigen auf die Festnahmen unterschiedlich aus. Ein Teil engagierte sich stärker für die Terrororganisation - etwa im Zuge der Solidaritätsveranstaltungen, ein anderer zog sich aus Furcht vor polizeilichen Maßnahmen zumindest von öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten für die Organisation zurück. Aktivitäten von Grup Yorum | Im Internet kündigte Grup Yorum im April ein für Juni geplantes Konzert in Frankfurt am Main an, das die Veranstalter schließlich kurzfristig absagten. Im Mai und Oktober kam der von Grup Yorum produzierte und von ihr mit einem Trailer beworbene Film "Mahalle - Das Viertel" in mehrere Kinos in Frankreich, Österreich und Deutschland, wobei in Hessen zwei Vorführungen in Frankfurt am Main stattfanden. Der Film handelt von einem Stadtviertel in Istanbul (Türkei), dessen Bewohner sich gegen die örtlichen Behörden auflehnen, als sie im Rahmen einer Gentrifizierungskampagne vertrieben werden sollen. Da Festnahmen und Durchsuchungen von an der Filmproduktion in der Türkei beteiligten Personen das Projekt nahezu zum Erliegen brachten, wurde der Film teilweise mit animierten Szenen fertiggestellt. Neben Gentrifizierung und Drogensucht war der Kampf gegen den "Kapitalismus" in diesem Kontext ein wichtiges Thema der DHKP-C. Bereits im Trailer gab es mehrere Bezüge zu der Organisation. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 283 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Bewertung/Ausblick | Die Festnahmen schwächten die DHKP-C in Deutschland, da wichtige Funktionen abrupt unbesetzt waren. Seitdem versuchte die DHKP-C sich neu zu ordnen und füllte die entstandenen Lücken mit Personen, die in der Folge auf lokaler Ebene fehlten. Zudem banden die Solidaritätsveranstaltungen für die "politischen Gefangenen" in personeller wie zeitlicher Hinsicht weitere Kräfte. Insgesamt war die Aktionsfähigkeit der DHKP-C bereits auf lokaler Ebene stark beeinträchtigt. Die langjährigen Funktionäre waren bemüht, soweit möglich den Schein einer Aktionsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Ob dies angesichts des anhaltenden Drucks der Sicherheitsbehörden dauerhaft gelingen wird, ist fraglich. Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist (TKP/ML, Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten) Entstehung und Ideologie - Mitgliederpotenzial | Die TKP/ML wurde von Ibrahim Kaypakkaya 1972 in der Türkei als kommunistische Kaderorganisation gegründet. 1994 führte eine Spaltung der Partei zur Bildung zweier miteinander konkurrierender Fraktionen: der TKP/MLPartizan und der Maoist Komünist Partisi (MKP, Maoistisch-Kommunistische Partei). 2019 spaltete sich die TKP/ML erneut, sodass sich wiederum zwei Organisationen bildeten, die sich im Namen nur durch ein Schriftzeichen unterscheiden: die TKP/ML und die TKP-ML. In Hessen waren überwiegend die TKP-ML bzw. deren Umfeldorganisationen aktiv, die über etwa 90 Anhänger verfügten, wobei es bundesweit rund 150 Anhänger der TKP/ML und etwa 650 der TKP-ML gab. In der Türkei sind die TKP/ML und die aus ihr hervorgegangenen Gruppierungen als Terrororganisationen verboten. Sowohl die ursprüngliche TKP/ML als auch die seit 2019 bestehenden Organisationen waren und sind ideologisch vom Marxismus-Leninismus geprägt, folgen aber auch einer maoistischen Linie. Ihre Ziele sind der revolutionäre Umsturz des politischen Systems in der Türkei und die Schaffung eines "demokratischen Volksstaats" unter der Herrschaft des "Proletariats". Daher führte die TKP/ML von Beginn an einen "bewaffneten Kampf" gegen den türkischen Staat. Um Anschläge in der Türkei verüben zu können, unterhält die heutige TKP/ML in der Türkei die militante Türkiye Isci Köylü Kurtulus Ordusu (TIKKO, Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee). Im Verlauf bewaffneter Auseinandersetzungen getötete Organisationsangehörige werden als "Märtyrer" und "Vorbilder" verehrt. Strukturen | In Deutschland agierte die TKP-ML unter der Dachorganisation Avrupa Türkiyeli Isciler Konfederasyonu (ATIK, Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa) mit der ihr angehörenden Al284 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG manya Türkiyeli Isciler Federasyonu (ATIF, Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V.). Diese Umfeldorganisationen waren in lokalen Vereinen organisiert und leisteten in erster Linie propagandistische Unterstützungsarbeit. Durch eine alljährliche Spendenkampagne trugen sie außerdem zur Finanzierung der Partei bei. Die YDG fungierte als Jugendorganisation der ATÄdegK, die an die ATÄdegFOrtsvereine angegliedert war. Zu den Umfeldorganisationen gehörte zudem die Yeni Kadin (Neue Frau), die in mehreren Städten - unter anderem in Frankfurt am Main - aktiv war. ATIF-Vereine existierten in Ober-Ramstadt (Landkreis Darmstadt-Dieburg), Darmstadt, Frankfurt am Main und Wiesbaden. Der Verein in Frankfurt am Main betrieb das Jugendzentrum Interkulturelles Jugendforum e.V. (KAGEF), das als Vereinstreff und für Veranstaltungen innerhalb der türkisch-linksextremistischen Szene genutzt wurde. Parteijubiläum | Zu ihrem 50. Jubiläum führte die TKP-ML bundesweit, das heißt auch in Hessen, Veranstaltungen zu ihrer Geschichte und ihren "Märtyrern" durch. Zudem nutzte sie das Jubiläum, um über die künftige Ausrichtung zu diskutieren, was sich sowohl auf ihr politisches Agieren in der Türkei als auch ihre Aktionsfähigkeit in Deutschland bezog. Der militärische Arm TIKKO führte laut ihren Internetseiten im Jubiläumsjahr verstärkt kleinere Anschläge gegen staatliche Institutionen und einzelne Repräsentanten des Staates - zum Beispiel Polizisten - in der Türkei durch. Dabei gab es Verletzte und Tote. "30. Jugend-, Kunstund Kulturfestival" | Neben dem intern gefeierten Parteijubiläum organisierte die YDG das 30. Jugend-, Kunstund Kulturfestival in Frankfurt am Main, wobei unter dem Motto "Wir gestalten die Zukunft der YDG gegen imperialistische Kämpfe" (szenebekannte) Musiker auftraten sowie poetische Texte verlesen, Tänze aufgeführt und Bilder gezeigt wurden. In verschiedenen Reden wurden die Arbeit und Bedeutung der YDG, der ATÄdegK und der Mutterorganisation TKP-ML gewürdigt und der "Märtyrer" gedacht. Im Kampf gegen das "imperialistisch-kapitalistische System", hieß es in einer Interneteinstellung der YDG, seien die "revolutionäre Kunst und Kultur nicht nur ein Werkzeug", sondern eine "wichtige transformative ,Waffe'", welche die Macht habe, den "Menschen und das Leben zu verändern und umzugestalten. Wir müssen diese ,Waffe' richtig und konsequent einsetzen, um unsere Zukunft zu gewinnen". Auch Vertreter anderer türkischer und deutscher linksextremistischer Jugendorganisationen wie Young Struggle, MKP, YXK und REBELL nahmen an dem Festival teil. Kongresse in Frankfurt am Main | Im März hielten laut Eigenangaben 33 Delegierte der Frauenorganisation Yeni Kadin in Frankfurt am Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 285 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Main ihren 16. Zentralkongress ab und wählten verschiedene Gremien neu: das Zentralkomitee, den Rat und die Delegierten für den Generalkongress der ATIK. Weitere Themen waren die 30-jährige Geschichte der Frauenorganisation und die daraus zu ziehenden politischen Schlussfolgerungen. Vom 23. bis 24. April fand in den Räumlichkeiten des ATIF-Vereins in Frankfurt am Main der Generalkongress der ATIK statt. Neben Grußworten, Jahresberichten und Neuwahlen wurde über die Anerkennung der Ermordung von Armeniern als Völkermord gesprochen. Gedenkveranstaltungen | Anlässlich des 50. Todestags von Deniz Gezmis, Yusuf Aslan und Hüseyin Inan, die am 6. Mai 1972 in einem türkischen Gefängnis hingerichtet worden waren, führte die TKP-ML mehrere organisationsinterne Gedenkveranstaltungen, unter anderem in Darmstadt, Frankfurt am Main und Offenbach am Main, durch. Da es sich, so die ANF News, um bedeutende "revolutionäre Führer der 68er-Bewegung in der Türkei" handelt, beteiligten sich weitere Organisationen wie MLKP und DIDF an den Veranstaltungen. Zudem wurde der "Märtyrer" mit Beiträgen im Internet gehuldigt und dazu aufgerufen, in ihre Fußstapfen zu treten. So hieß es auf der Internetseite der MLKP: "Deniz Gezmis war ein beispielhafter Revolutionär, der sein Leben der Sache des Sozialismus gewidmet hatte". "Gefangenensolidarität" | Wie in der Vergangenheit solidarisierten sich die ATÄdegF und ihre Unterorganisationen mit ihren vorrangig in der Türkei inhaftierten "politischen Gefangenen". Um mehr Aufmerksamkeit zu erlangen, rückte die ATIF traditionell einen medienwirksamen Sachverhalt in den Mittelpunkt ihrer Solidarisierung: Im Berichtsjahr war dies der Fall Ecevit Piroglu, der aufgrund eines türkischen Haftbefehls nach Serbien geflüchtet war, wo er sich nunmehr in Auslieferungshaft befand. Dort trat er in einen Hungerstreik, um seine Auslieferung zu verhindern. In diesem Kontext kam es bundesweit, auch in Frankfurt am Main, zu Solidaritätskundgebungen für Piroglu, an denen jedoch nur wenige Personen teilnahmen. Bewertung/Ausblick | Verschiedene Jubiläen im Berichtsjahr boten den Angehörigen der TKP-ML eine besondere Plattform, um sich mit ihrer Organisation zu identifizieren. Besonders in Frankfurt am Main verstärkte die ATIK ihre Aktivitäten und beteiligte sich - gemeinsam mit Personen in den Phänomenbereichen Linksextremismus und Extremismus mit Auslandsbezug - an Kundgebungen und Demonstrationen. Dabei ist davon auszugehen, dass die TKP-ML weiterhin das Vorgehen der Türkei in den kurdischen Siedlungsgebieten thematisieren und für entsprechende Proteste nutzen wird. 286 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Marksist Leninist Komünist Parti (MLKP, Marxistische-Leninistische Kommunistische Partei) Entstehung und Ideologie | 1994 entstand aus dem Zusammenschluss der Türkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist Hareketi (TKP/ML-H, Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-LeninistenBewegung) mit der Türkiye Komünist Isci Hareketi (TKIH, Türkische Kommunistische Arbeiterbewegung) die Marksist Leninist Komünist Parti-Kurulus (MLK-P-Kurulus, Marxistische-Leninistische Kommunistische Partei-Aufbau). Seit 1995 nennt sich die Partei nur noch MLKP, wobei sie in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist. 2016 unterzeichneten die MLKP und die PKK eine Deklaration, in der sie gemeinsam mit anderen Gruppen dem türkischen Staat den Kampf ansagten. Die MLKP will in der Türkei eine kommunistische Gesellschaft nach den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels, ergänzt durch leninistische Leitlinien, aufbauen. Durch einen Volksaufstand soll die Revolution "aus dem Herzen des Volkes" ausgelöst und die "Diktatur des Proletariats" in der Türkei eingeführt werden. Strukturen - Anhängerpotenzial | In Deutschland war die MLKP hauptsächlich über ihre Umfeldorganisationen tätig: die Avrupa Ezilen Göcmenler Konfederasyonu (AvEG-Kon, Konföderation der unterdrückten Immigranten in Europa) und die Almanya Göcmen Isciler Federasyonu (AGIF, Föderation der ArbeitsimmigrantInnen aus der Türkei in Deutschland e. V.). Beide stehen der MLKP ideologisch nahe, so besetzen sie dieselben Themen. Die Jugendorganisation Young Struggle, bei der sich nicht nur türkische, sondern auch deutsche Jugendliche engagierten, beschäftigte sich vor allem mit den Themen "Klassenkampf" und "Antirassismus". Die Anzahl der MLKPAnhänger in Hessen war nicht bekannt, bundesweit waren es rund 600 Personen. Veranstaltungen - Kampagne "Jugend gegen Krieg und Krise" | Neben den für sie üblichen Themen "Rassismus" und "Polizeigewalt" beschäftigte sich die AGIF mit "Märtyrergedenken" und "Gefangenensolidarität". Zusammen mit Young Struggle beteiligte sich die AGÄdegF an Kundgebungen und Demonstrationen im Rahmen der Angriffe der Türkei auf kurdische Siedlungsgebiete im Nordosten Syriens ("Rojava") und kritisierte den dortigen angeblichen Giftgaseinsatz. Insbesondere die Jugend der MLKP solidarisierte sich mit palästinensischen Organisationen und den Protesten gegen das iranische Regime, indem sie entsprechende Veranstaltungen begleitete und organisierte. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 287 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Im Mai startete Young Struggle die Kampagne "Jugend gegen Krieg und Krise" und kritisierte vor allem das Vorhaben eines 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens für die Bundeswehr als einen "Schritt zur Aufrüstung und Militarisierung der deutschen Außenpolitik". Dies sei zugleich ein "Schlag ins Gesicht aller Schüler:innen und jungen Arbeiter:innen, für deren Gesundheit, Bildung und Freizeitangebote die BRD nie genug Geld hatte": "Besonders wir [...] sind betroffen von den zurück gehenden Sozialausgaben, von der Streichung von Subventionen für Zug Tickets bis zu den völlig maroden und unterfinanzierten Schulen und Berufsschulen, die Sparpolitik des Staates trifft uns alle in unserem Alltag". (Schreibweise wie im Original.) Young Struggle forderte unter anderem: "Nein zu jedem imperialistischen Krieg - ein Ende des Einmarschs Russlands in die Ukraine, ein Ende der kriegerischen Politik der NATOStaaten und ihrer Verbündeten in Kurdistan, Syrien, Palästina, Jemen, usw. [...] Milliarden in die Pflege, in die Bildung und in den Klimaschutz statt für Krieg und Aufrüstung; [...] Auflösung aller imperialistischen Bündnisse - ob NATO oder EU, die eine aggressive imperialistische Politik weltweit, aber vor allem aktuell in Osteuropa, ausüben!" Bewertung/Ausblick | Mit ihrer Themenauswahl, in der sich einige weltweite Krisenpunkte widerspiegelten, versuchten die MLKP und ihre Unterorganisationen Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu finden. Das galt vor allem für die Jugendorganisation Young Struggle, die sich im Kontext sozialer und bildungspolitischer Herausforderungen gezielt an "Schüler:innen, Student:innen und junge Arbeiter:innen" im Rahmen deren Alltagsbewältigung wandte. Demokratik Isci Dernekleri Federasyonu e. V. (DIDF, Föderation Demokratischer Arbeitervereine e. V.) Entstehung und Ideologie - Anhängerpotenzial | Die DIDF wurde 1980 in Deutschland als Dachverband von Arbeitervereinen aus der Türkei gegründet. Ideologisch ist sie dem dogmatischen Linksextremismus verhaftet und beschreibt sich als "Teil der antifaschistischen Bewegung in Deutschland". Faschismus begreift die DIDF dabei im marxistischen Sinne und sieht eine enge Verknüpfung zwischen "Kapitalismus" und "Faschismus". Die DIDF stellt die Wirtschaftsordnung in Deutschland und damit auch die politische Ordnung in Frage. Behörden, Justiz, Politik, Polizei und Medien wirft die DIDF einen strukturellen Rassismus vor, der dazu diene, die "Arbeiterklasse" zu 288 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG spalten und die gegenwärtigen Besitzverhältnisse zu zementieren. In Hessen verfügte die DIDF etwa über 350 Anhänger. Strukturen | In Hessen bestanden Vereine der DIDF in Darmstadt, Frankfurt am Main, Hanau (Main-Kinzig-Kreis), Kassel und Rüsselsheim (Kreis Groß-Gerau). Die DIDF-Jugend war der Mutterorganisation zwar angegliedert, agierte jedoch unabhängig von den lokalen DIDF-Vereinen. Jugendvertretungen existierten neben den oben genannten Vereinen in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und Gießen (Landkreis Gießen). Dabei lag der Schwerpunkt der Tätigkeit der DIDF in Hessen bei Vereinen und Gruppen in Frankfurt am Main, Hanau und in Mittelhessen. Veranstaltungen | In vielen Ortsvereinen gab es regelmäßige Treffen von Mitgliedern, sodass von deren starker Bindung an die Organisation auszugehen ist. Die DIDF, besonders die DIDF-Jugend, führte im Berichtsjahr eine Vielzahl von Veranstaltungen durch. Diese reichten von Diskussionsrunden, Gedenkund Protestveranstaltungen bis hin zu Kundgebungen und Demonstrationen, wobei diese vermehrt unter Beteiligung von Gewerkschaften, Parteien (darunter die DKP), Bündnissen und Initiativen stattfanden. Ziel der DIDF war es, "alle antifaschistischen Kräfte" zu bündeln. Vor diesem Hintergrund arbeitete die DIDF anlassbezogen sowohl mit Extremisten als auch mit Nichtextremisten zusammen. Wie auch bei anderen türkischen linksextremistischen Organisationen war eine zunehmende Vernetzung mit anderen Organisationen - etwa der SDAJ - zu erkennen; darunter befanden sich auch andere extremistische Strukturen. Verstärkt setzten sich die DIDF und ihre Jugendorganisation für die Rechte von Arbeitnehmern ein. Beide forderten zudem mehr Geld für Bildung und eine Verbesserung der Lernumgebung und führten selbst Veranstaltungen zu politischen Themen durch. Die DIDF organisierte regelmäßig kulturell ausgerichtete Veranstaltungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, teilweise als Familienveranstaltungen in Form von Festen. Darüber hinaus organisierte die DIDF Lesungen, Konzerte und Theatervorführungen für ihre Mitglieder. Letztlich dienten solche (Freizeit-)Angebote der organisatorischen, aber auch der ideologischen Bindung der DIDF-Angehörigen und darüber hinaus der potenziellen Gewinnung neuer Anhänger. Ebenso positionierte sich die DIDF "gegen Gewalt an Frauen", votierte für eine "Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes" und kritisierte die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung von steigenden Energiekosten und Inflation. In der Erklärung "Energiepreise einfrieren, Preiserhöhungen stoppen!" vom 22. September hieß es: Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 289 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG "Auch wir türkeistämmigen Arbeiter sind den Auswirkungen der Preissteigerungen besonders ausgesetzt, da viele von uns in schlecht bezahlten und unsicheren Beschäftigun[g]sverhältnissen arbeiten. [...] Das kapitalistische System, in dem wir leben, basiert darauf, die Arbeiter auszubeuten, den größtmöglichen Profit auf Kosten der Verarmung der Arbeiter zu erzielen und die großen Unternehmen mit staatlichen Mitteln zu unterstützen. Die aktuelle Regierung weicht von dieser Politik nicht ab und bereichert Gasund Waffenkonzerne. [...] Für all dies wälzt die Regierung die Lasten der Kriegsaufrüstung, der kapitalistischen Konkurrenz und der Krisenpolitik auf die Schultern der werktätigen Menschen ab. Die Preiserhöhungen sind die Folge davon. Die einzige Möglichkeit dem entgegen zu wirken ist, dass wir deutlich machen, dass wir die Lasten von Krieg und Krise nicht tragen werden!" Vor diesem Hintergrund rief die DIDF dazu auf, "mit unseren Familien und Freunden, Nachbarn, Kollegen und Gewerkschaften" zu demonstrieren, damit der "Herbst mit unserem Kampf heiß" werde: "Wenn wir Hunderttausende oder Millionen sind, muss die Regierung auf unsere Stimmen hören und auf unsere Forderungen reagieren". "Frieden jetzt sofort!" | Darüber hinaus griff die DIDF aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen auf. So sprach sie sich sowohl gegen "Erdogans Kriegspolitik" als auch gegen die "imperialistischen Bestrebungen" der USA, der EU und Russlands in der Ukraine aus. Die DIDF betonte, dass dies nicht der "Kampf der werktätigen Bevölkerung und der Jugend" sei. Die vorgebliche Neutralität der DIDF spielte jedoch dem russischen Aggressor in die Hände. So hieß es in der Erklärung "Das ist nicht unser Krieg - Frieden jetzt sofort!" vom 15. Februar, dass sich die deutsche Außenpolitik nicht auf die Seite eines der Kontrahenten stellen dürfe und sich um den Fortbestand des Minsker Abkommens kümmern müsse. "In Deutschland werden Stimmen laut, die die Bundeswehr weiter aufrüsten und neu aufstellen wollen. Das sind Kriegsvorbereitungen - das lehnen wir ab! Wir fordern, dass alle Teile der Bundeswehr aus Osteuropa zurückgezogen und alle Rüstungslieferungen in die Region gestoppt werden! Die derzeitigen und zukünftigen Stationierungen deutscher Truppen an der russischen Grenze verschärfen das Eskalationspotential zunehmend. Und jede deutsche Waffe, die in die Ukraine geliefert wird, gefährdet das Leben in einem potentiellen Krieg und steigert die Kriegsgefahr. Deutschland muss als Akteur im Krieg ausscheiden und sich für Frieden einsetzen". Bewertung/Ausblick | Die DIDF beschäftigte sich im öffentlichen Bereich eher am Rande mit Themen aus der Türkei. Durch ihre eigenen 290 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Aktivitäten, unterstützende Aufrufe zu Aktionen oder auch gemeinsam durchgeführte Veranstaltungen versuchte die DIDF, sich gezielter sowohl mit deutschen nichtextremistischen als auch mit anderen linksextremistischen Organisationen in Kontakt zu kommen und sich als "verlässliche und engagierte" Partnerin für Organisationen und Personen im politisch linken Spektrum zu präsentieren. Wiederkehrende Kontakte im extremistischen Spektrum waren vor allem an relevanten Jahrestagen, zum Beispiel zur DKP, zu beobachten. EXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN MIT AUSLANDSBEZUG Im Vergleich zu den beiden letzten Jahren stieg die Gesamtzahl der Strafund Gewalttaten an, allerdings kam es 2022 im Fünfjahreszeitraum von 2018 bis 2022 erstmals zu keiner Gewalttat. Auch war die Anzahl der Sachbeschädigungen und Nötigungen/Bedrohungen sehr gering. Offensichtlich bemühten sich die Gruppierungen im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug darum, keinen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 291 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Anschein eines aggressiv-kämpferischen Verhaltens zu erwecken und somit den staatlichen Institutionen keinen Anlass für "repressive Maßnahmen" zu geben. (Siehe im Glossar unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität den Eintrag zur Erfassung politisch motivierter Strafund Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund.) 292 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT ORGANISIERTE KRIMINALITÄT Die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) ist in Hessen sowohl Aufgabe der Polizei als auch des LfV. Die Komplexität dieses Kriminalitätsphänomens zeigt sich in seinen grenzüberschreitenden Aktivitäten und einem hohen Maß an professionellem Organisationsaufbau, weshalb eine strukturierte Zusammenarbeit des LfV mit Polizeibehörden unter Beachtung des Trennungsgebots unabdingbar ist. Im Unterschied zur polizeilichen Bearbeitung kommt dem LfV die Rolle des "Frühwarnsystems" zu, mit dem Ziel, personelle, logistische, organisatorische, finanzielle sowie deliktische Strukturen zu erforschen und zu diesem Zweck auch nachrichtendienstliche Mittel einzusetzen. Die bereits seit einigen Jahren definierten Schwerpunkte in der Bearbeitung der OK im LfV waren weiterhin die Rockerkriminalität sowie die russische und italienische OK. AUF EINEN BLICK * OK-Definition * Missbrauch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung - Tätigkeit der Sicherheitsbehörden * Rockerkriminalität * Russisch-eurasische OK * Italienische OK OK-Definition | Als Rechtsgrundlage für die Bearbeitung der OK im LfV dient SS 2 Abs. 2 Nr. 5 HVSG. Damit bildet die entsprechende Beobachtung einen wichtigen Bestandteil der Sicherheitsarchitektur in Hessen im Kampf gegen die OK. Laut der 1990 von der bundesweiten Gemeinsamen Arbeitsgruppe Justiz/Polizei (GAG) verabschiedeten Arbeitsdefinition ist die OK die von Gewinnund Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind, durch mehr als zwei Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig tätig werden * unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, * unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohung oder * unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft. Als OK wird kriminelles Verhalten immer dann qualifiziert, wenn alle Merkmale dieser Definition und zudem mindestens ein Merkmal der dreigliedrigen Aufzählung erfüllt sind. Missbrauch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung - Tätigkeit der Sicherheitsbehörden | Die OK missbraucht die freiheitliche demokratische Grundordnung und verursacht damit allein in 294 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT Deutschland hohe Schäden (laut des Bundeslagebilds Organisierte Kriminalität des BKA für das Jahr 2021 Schäden in Höhe von 2,2 Milliarden Euro, was gegenüber 2020 einer Zunahme um nahezu 1,4 Milliarden Euro entspricht). OK-Gruppierungen bedrohen die Grundlagen unserer Gesellschaft, indem sie die Macht einer kriminellen Organisation durch Gewalt (Körperverletzung, Bedrohung, Mord), Geld (Bestechung, Firmenbeteiligungen, Immobilienerwerb) und massive Einflussnahme (Politik, Verwaltung, Justiz, Medien, Wirtschaft) durchsetzen wollen. Rockerkriminalität | Das Phänomen der Rockerkriminalität stellt seit vielen Jahren im Bereich der OK einen Beobachtungsschwerpunkt des LfV dar. Das LfV beobachtete streng hierarchisch organisierte Outlaw Motorcycle Gangs (OMCG). Einzelne Führungspersonen der OMCG stellten dabei einen Hochrisikofaktor im Hinblick auf mögliche Gewalteskalationen dar. OMCG sind als Hauptakteure von Machtansprüchen (Gebietsaufund -verteilungen) im "Rotlichtsektor" (Menschenhandel, Zwangsprostitution) anzusehen. Russisch-eurasische OK | Zur russisch-eurasischen OK gehören alle OK-Strukturen, die von Personen dominiert werden, die in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion geboren wurden und eine entsprechende kulturelle Prägung (zum Beispiel durch Tradition, Sprache und Geschichte) erfahren haben. Italienische OK | Das Rhein-Main-Gebiet war unverändert Rückzugsund Aktionsraum der italienischen OK. Deliktische Schwerpunkte waren - neben der Geldwäsche - der internationale Kokainhandel/schmuggel sowie die Schutzgelderpressung bei italienischen Restaurantbetreibern. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 295 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT 296 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Die Verfassungsschutzbehörden überprüfen im Bereich der Spionageabwehr alle Hinweise auf nachrichtendienstliche Aktivitäten, die gegen deutsche Interessen gerichtet sind, unabhängig von welchem Staat sie ausgehen. Dabei bildet der Wirtschaftsschutz als präventiver Teil der Spionageabwehr seit jeher einen festen Bestandteil der Aufgaben des Verfassungsschutzes. Vor dem Hintergrund neuer internationaler Konflikte und Krisen im Berichtsjahr nahmen die Spionageaktivitäten fremder Staaten zu. Ursachen waren vor allem der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine, die politisch-ökonomische Haltung Chinas (zum Beispiel das aggressive Auftreten gegenüber Taiwan) und die Proteste im Iran, nachdem eine Studentin in Teheran im Polizeigewahrsam gestorben war. Darüber hinaus lag das Augenmerk des LfV vor allem auf der Beobachtung türkischer, indischer, syrischer, pakistanischer, vietnamesischer und nordkoreanischer Spionageaktivitäten. AUF EINEN BLICK * Aufgaben * Klassische Agententätigkeit * Proliferation * Ausspähung von Oppositionellen * Russische Spionage - Cyberangriffe - (hybride) Gefahrenlage * Nachrichtenund Sicherheitsdienste der Volksrepublik China * Islamische Republik Iran * Republik Türkei * Sozialistische Republik Vietnam * Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) * Nachrichtendienste der Islamischen Republik Pakistan * Republik Indien * Arabische Republik Syrien * Wirtschaftsschutz Aufgaben | Die Spionageabwehr befasst sich mit dem folgenden Aufgabenspektrum: * Aufklärung von geheimdienstlicher Agententätigkeit und Ausspähung von Personen, die in Opposition zu den Verhältnissen im Herkunftsland stehen, * Proliferationsabwehr, * Cyberabwehr, * Aufklärung von Einflussnahmen fremder Staaten auf die Meinungsbildung und die Politik in Deutschland mittels Desinformation, Propaganda und hybrider Kriegsführung, * Aufklärung von Staatsterrorismus und * Wirtschaftsschutz. 298 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Klassische Agententätigkeit | In diesem Bereich nutzten fremde Staaten für ihre nachrichtendienstlichen Operationen neben amtlichen Einrichtungen (zum Beispiel Botschaften, Generalkonsulaten) halbamtliche Vertretungen wie etwa Presseagenturen und Fluggesellschaften, aber auch Wirtschaftsunternehmen. Einfache Gesprächsaufklärung und Anbahnungen fanden dabei oft auch im Rahmen eines vermeintlich unverfänglichen Austauschs im wirtschaftlichen oder diplomatischen Umfeld statt. Spätestens seit der Corona-Pandemie verschoben sich diese Aktivitäten teilweise in den virtuellen Raum. Ansprachen und Anbahnungen fanden verstärkt über Plattformen der sozialen Medien, Business-Netzwerke und per E-Mail statt. Proliferation | Um ihre Beschaffungsaktivitäten im Bereich der Waffenproliferation zu verschleiern, nutzten fremde Staaten unter anderem: * gefälschte Exportdokumente, * Zwischenhändler in Drittländern oder im eigenen Land, * Tarnfirmen, Scheinfirmen, Briefkastenfirmen sowie * unwahre Angaben über den Endverbleib. Ausspähung von Oppositionellen | Fremde Nachrichtendienste spähten weiterhin in Deutschland ansässige Organisationen und Volksgruppen aus, die im Herkunftsland als Oppositionelle politisch verfolgt oder beobachtet wurden. Oft geschah dies im Rahmen von Demonstrationen und Kundgebungen. Nach wie vor war die Hemmschwelle fremder Nachrichtendienste niedrig, entsprechende Personen auch in Deutschland auszuforschen, zu bedrohen oder gar zu verschleppen. Russische Spionage - Cyberangriffe - (hybride) Gefahrenlage | Unmittelbar nach dem Beginn der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine verstärkten die deutschen Sicherheitsbehörden ihre Aufmerksamkeit in Bezug auf die Aktivitäten russischer Nachrichtendienste. So konzentrierte sich das LfV unter anderem auf die entsprechende Ausspähung und Sabotage kritischer Infrastruktur (KRITIS) sowie militärischer Objekte. Es gab hierzu nachrichtendienstliche Verdachtsfälle, über die das LfV durch andere Behörden oder mittels Hinweisen aus der Bevölkerung informiert wurde. Gezielte Drohnenüberflüge und unbekannte hochmobile Personen, die Fotound Videoaufnahmen von KRITIS-Bereichen fertigten, zählten hierbei zu den häufigsten Sachverhalten. Auch in den Bereichen Proliferation und Ausspähung/Verfolgung von Oppositionellen entfaltete Russland wie in der Vergangenheit anhaltend hohe Aktivitäten. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 299 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Je länger der Krieg in der Ukraine andauerte, desto mehr nahm im Laufe des Berichtsjahrs das Interesse Russlands an Deutschland zu. Russland betrieb nach wie vor Spionage gegen Institutionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Militär und Verwaltung. Nachdem die Bundesregierung im April etliche Angehörige der russischen Botschaft in Berlin zu unerwünschten Personen erklärt hatte, war mit einer Zunahme sogenannter reisender Agenten zu rechnen. So nahmen die norwegischen Behörden in Tromso einen mutmaßlichen russischen Agenten fest, der sich als brasilianischer Gastforscher ausgegeben hatte. Im Dezember 2022 und im Januar 2023 ließ die Bundesanwaltschaft aufgrund von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs zwei deutsche Staatsangehörige festnehmen. Beide Beschuldigte waren des Landesverrats dringend verdächtig. Ihnen wurde vorgeworfen, Informationen an einen russischen Nachrichtendienst übermittelt zu haben. Ein Beschuldigter war beim BND beschäftigt, während der andere, der kein BND-Beschäftigter war, die Informationen nach Russland gebracht und sie dort einem Nachrichtendienst übergeben haben soll. Der Slushba Wneschnej Raswedki (SWR, Dienst der Außenaufklärung der Russischen Föderation) war für zivile Objekte und Themen (speziell für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft/Technologien) zuständig. Die Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU, Hauptverwaltung beim Generalstab der Streitkräfte der Russischen Föderation) interessierte sich für das gesamte militärische Spektrum, insbesondere für neue Technologien in der Entwicklung und im Einsatz. Auch die Aktivitäten des russischen Inlandsnachrichtendiensts Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation) hielten auf hohem Niveau an. Vor allem die Reisen von Ausländern nach Russland ließen auf eigenem Territorium eine risikolose Ansprache von Personen zu. Dem FSB sind alle Grenztruppen angeschlossen, sodass bereits bei der Einreise "Vorabkontrollen" möglich waren. Die vor allem von Russland ausgehende hybride Bedrohung in den Bereichen (Wirtschafts-)Spionage, Sabotage, Cyberangriffe sowie Propaganda und Desinformation in Medien und sozialen Medien hielt an. Parallel mit Beginn seines Überfalls auf die Ukraine startete Russland Angriffe im Cyberraum, die auf das ukrainische Satellitennetzwerk zielten. Dies führte zu Ausfällen und Störungen der Kommunikation bei mehreren staatlichen Behörden, Unternehmen und Nutzern in der Ukraine und beeinträchtigte darüber hinaus die Datennetze mehrerer EU-Staaten. So war in Deutschland für eine Vielzahl von Windkraftanlagen eine Fernwartung durch den Betreiber nicht mehr möglich. Die Auswirkungen des Angriffs waren erst nach mehreren Wochen vollständig behoben. 300 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Nach wie vor agierten den deutschen Behörden bekannte russische Gruppierungen im Cyberraum, wobei die Anzahl der von ihnen ausgehenden Angriffskampagnen anhaltend hoch blieb. Darüber hinaus setzte sich der Trend fort, wonach die Grenzen zwischen (staatlich gesteuerten) Cyberangriffen und der Cyberkriminalität verwischten, sodass diese Angriffsstrukturen sich mehr denn je miteinander verzahnten bzw. miteinander kooperierten. Vor diesem Hintergrund bestand die Gefahr, dass russische Cyberangriffe nicht nur die Ukraine - vor allem deren KRITIS -, sondern auch andere Staaten und nicht zuletzt die Sicherheit deren Bürger gefährden. Möglich ist, dass gerade Deutschland wegen seiner vielfältigen Unterstützung der Ukraine gezielter in den Fokus russischer Cyberangriffe gerät als andere europäische Länder. Nachrichtenund Sicherheitsdienste der Volksrepublik China | Wirtschaftsspionage, Einflussnahme sowie Beobachtung und Kontrolle der Oppositionsbewegungen im Ausland bildeten unverändert die Schwerpunkte der Tätigkeit chinesischer Dienste. Strategische Masterpläne wie "Made in China 2025" und die "Neue-Seidenstraße-Initiative" beschreiben die langfristigen Ziele Chinas. Unternehmen, die im Umfeld der beiden Strategien für China wichtig waren, standen im Fokus entsprechender Wirtschaftsspionage und Cyberangriffe. Im Sinne eines langfristigen Know-how-Schutzes betrachtete das LfV daher auch strategische Investments chinesischer Unternehmen in Hessen. Diese Investments folgten oft nicht privatwirtschaftlichen Interessen, sondern waren Teil der Masterpläne. Um die politische, wirtschaftliche und militärische Informationsbeschaffung der chinesischen Dienste bei Besuchen von Unternehmen und Behörden in China abzuwehren, kam in Anbetracht der vielfältigen technischen Überwachungsmöglichkeiten des chinesischen Staats der Prävention und Sensibilisierung eine große Bedeutung zu. Dies gilt auch für die Zukunft. Chinesische Cyberangriffe und Ausspähungen richteten sich zudem weiterhin gegen Oppositionelle. Eine größere öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr dieses Thema im Berichtsjahr durch eine Publikation der Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders, die eine Dokumentation von angeblich weltweit existierenden chinesischen "Überseepolizeistationen" - darunter eine in Frankfurt am Main - enthielt. Laut der Bundesregierung gab es in Deutschland zwei "Überseepolizeistationen", die eher personengebunden und mobil, also nicht als feste Büros, organisiert waren. Sie wurden von PrivatpersoHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 301 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ nen aus der chinesischen Diaspora getragen, die aus klassischen Auswandererregionen stammten. Islamische Republik Iran | Nach dem Wahlsieg von Ebrahim Raisi und seiner Ernennung zum Präsidenten des Iran im Juni 2021 wurde im Berichtsjahr eine Intensivierung der staatlich gesteuerten Ausspähungsaktivitäten des iranischen Nachrichtendiensts Vezarat-eettelaat jomhuri-ye eslami-ye iran/Ministry of Intelligence (VAJA/ MOIS) sowie des Auslandsaufklärungsdiensts der Revolutionary Guard Corps (IRGC, Revolutionsgarden) in Bezug auf die iranische Diaspora in Hessen festgestellt. Das primäre Aufklärungsinteresse des VAJA/MOIS und der IRGC im Berichtsjahr galt weiterhin der militantesten und aktivsten Oppositionsgruppe, das heißt den Mojahedin-e-Khalq (MEK, Volksmojahedin). Neben den MEK standen Monarchisten, Republikaner sowie "linke" Organisationen im Fokus des Ausspähungsinteresses. Indem das VAJA/MOIS aktive oder ehemalige Mitglieder dieser Organisationen im Inund Ausland als Agenten anwarb, versuchte es weiterhin, Informationen über deren regimefeindliche Aktivitäten zu gewinnen. Mit dem Tod der kurdischstämmigen Iranerin Mahsa Amini im September nach der Festnahme durch die islamische Sittenpolizei kam es im Iran zu anhaltenden Protesten, wobei auch die iranische Diaspora in Hessen gegen das Geschehen in ihrer Heimat demonstrierte. Damit rückten Iraner in Deutschland und vor allem Oppositionelle, die an den hiesigen Protesten teilnahmen, in den Blick des VAJA/MOIS. Republik Türkei | Eine Aufgabe türkischer Nachrichtendienste im Ausland war es, Oppositionelle auszuspähen, dort die Meinungsbildung zu beeinflussen und Einfluss auf gesellschaftlicher und politischer Ebene auszuüben. Bei ihrem Tätigwerden konnten die türkischen Nachrichtendienste auf eine breite Infrastruktur der türkischen Diaspora in Deutschland zurückgreifen. Der Milli Istihbarat Teskilati (MIT, Nationaler Nachrichtendienst) verfügte im Berichtsjahr über 8.000 bis 9.000 Mitarbeiter und untersteht seit 2017 direkt dem türkischen Staatspräsidenten. Als wichtigster Nachrichtendienst der Türkei war der MIT sowohl im Inals auch im Ausland tätig. Außerhalb der Türkei war der MIT maßgeblich an der Ausspähung von Organisationen und Einzelpersonen, insbesondere der PKK und der Gülen-Bewegung, beteiligt. 302 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Sozialistische Republik Vietnam | Der vietnamesische Nachrichtendienst Tong cuc 2 (TC2) war im Inund Ausland tätig. Es lagen Anhaltspunkte vor, wonach der TC2 die Cyberkampagne OceanLotus, die Möglichkeiten der Cyberspionage in allen nachrichtendienstlichen Feldern birgt, weiter ausbaute. Dies galt vor allem für die Ausspähung von Oppositionellen. Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) | Die anhaltenden Aktivitäten der nordkoreanischen Cyberkampagne Lazarus bzw. Hidden Cobra (Advanced Persistent Threat 38) betrafen weiterhin Unternehmen aus der Rüstungssowie der Luftund Raumfahrtbranche. Neben Aktivitäten im Rahmen der Wirtschaftsspionage zielten nordkoreanische Cyberangriffe auf die Devisenbeschaffung, wobei der Staat Nordkorea Cybercrimemethoden anwendete. Darüber hinaus interessierte sich Nordkorea für proliferationsrelevante Dual-Use-Güter, die es für Antriebsund Stabilisierungskomponenten für Langstreckenraketen benötigte. Nachrichtendienste der Islamischen Republik Pakistan | Hauptaufgabe des Military Intelligence (MI), das heißt des Geheimdiensts der pakistanischen Armee, war es, Informationen in Bezug auf die Streitkräfte feindlicher Länder zu gewinnen. Dazu gehörten die Spionageabwehr im Inland, die Identifizierung und Eliminierung feindlicher Agenten sowie die Überwachung der Offiziere der pakistanischen Armee. Neben dem MI, der sein Personal ausschließlich aus Militärangehörigen rekrutierte und vornehmlich im Inland operierte, gab es den Inter-Services Intelligence (ISI), der aus militärischen und zivilen Kräften bestand und sowohl im Inals auch im Ausland aktiv war. Der ISI war im Berichtsjahr der führende und wichtigste Geheimdienst Pakistans und war operativ für die Erfassung, Verarbeitung und Analyse von Daten weltweit zuständig. Er war unter anderem für das Ausforschen pakistanischer Oppositioneller im Ausland verantwortlich. Neben der Beeinflussung der Medien und der öffentlichen Meinung betrieb der ISI Gegenpropaganda und unterstützte in Hessen gegen Indien gerichtete Gruppierungen. Republik Indien | Der indische Auslandsgeheimdienst Research & Analysis Wing (R&AW) sammelte weiterhin Informationen über Angehörige der Sikhs, die für ein unabhängiges Khalistan eintraten, und deren Veranstaltungen sowie über Angehörige der oppositionellen Kaschmir-Bewegung. Als eine der größten Gemeindeeinrichtungen der Sikhs in Deutschland befand sich der Sikhs-Tempel in Frankfurt am Main im Fokus indischer Spionageaktivitäten. Arabische Republik Syrien | Die syrischen Geheimdienste wurden vom Nationalen Sicherheitsbüro des Regionalkommandos der syriHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 303 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ schen Ba'ath-Partei koordiniert und bildeten eine tragende Säule des Regimes von Baschar al-Assad. Neben den klassischen Aufgabenfeldern waren die syrischen Dienste in der Überwachung nationaler und internationaler Medien, Oppositioneller, Dissidenten und Ausländer tätig. Die Dienste beeinflussten in Syrien die öffentliche Meinung, forschten systematisch Regimegegner aus und unterhielten eigene Haftanstalten für politische Gefangene. Als Hauptaufnahmeland syrischer Flüchtlinge in Europa stand Deutschland unverändert im Fokus syrischer Nachrichtendienste, wobei es auch in Hessen nach wie vor Hinweise auf entsprechende Aktivitäten gab. Wirtschaftsschutz | Ziel des Wirtschaftsschutzes ist es, die Spionage fremder Staaten zu verhindern sowie Wirtschaft und Wissenschaft durch Beratung und Aufklärung vor entsprechenden Aktivitäten zu schützen. Hierzu ist es notwendig, die Sensibilität von Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen gegenüber Gefahren, die durch Angriffe drohen, zu erhöhen, Kenntnisse über Methoden und Ziele fremder Nachrichtendienste zu vermitteln und Hilfestellung beim Einsatz geeigneter Schutzmaßnahmen zu leisten ("Prävention durch Information"). Im LfV obliegt dem Wirtschaftsschutz zudem die Aufnahme von Spionageverdachtsfällen in Unternehmen sowie eine sich anschließende, zielgerichtete Beratung und vertrauensvolle Kommunikation in der weiteren Abstimmung. Die Anzahl der Sensibilisierungsund Hintergrundgespräche mit Unternehmen stieg im Berichtsjahr leicht an, wobei die Zahl der in Präsenz durchgeführten präventiven Vortragsveranstaltungen aufgrund der zunehmend angespannten energiewirtschaftlichen Lage nicht die Priorität der Unternehmen bildete und daher deutlich unter dem Niveau der Vorjahre lag. Verschiedene Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine bildeten für die Spionageabwehr des LfV die thematischen Schwerpunkte bei Beratungsund Gesprächsanfragen im Bereich des Wirtschaftsschutzes. Von Interesse war unter anderem die Frage, ob in Hessen tätige Mitarbeiter in Unternehmen mit russischer wie auch ukrainischer Staatsangehörigkeit besonderen Risiken oder Gefahren ausgesetzt waren. Zudem zählten sämtliche Fragen rund um KRITIS und Sabotage zu den häufig bearbeiteten Anfragen. Im Rahmen des Prinzips "Single Point of Contact" stand der Wirtschaftsschutz auch im Berichtsjahr den hessischen Unternehmen als vermittelnder Ansprechpartner für alle Sachverhalte mit extremistischen Bezügen zur Verfügung. Das galt sowohl für extremistische Angriffe und Bedrohungen aus allen Phänomenbereichen gegen Unternehmen als auch für Radikalisierungen von Mitarbeitern in 304 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ Unternehmen. Die Übermittlung technischer Indikatoren zu Cyberangriffen (IoC) an potenziell betroffene Unternehmen sowie zu Präventionszwecken wurde kontinuierlich fortgeführt und ausgebaut. Bei Fragen und Hinweisen zum Wirtschaftsschutz wenden Sie sich an: Telefonnummer: 0611/7203600 E-Mail-Adresse: wirtschaftsschutz@lfv.hessen.de Der Wirtschaftsschutz und die Cyberabwehr des LfV beantworten alle Anfragen so zeitnah wie möglich, sind jedoch nicht für Gefahrenabwehr zuständig und gewährleisten daher keine durchgängige Erreichbarkeit außerhalb der üblichen Bürozeiten. In dringenden Fällen wenden Sie sich daher bitte an die Polizei. Für die Kommunikation und Datenübermittlung in sensiblen Sachverhalten bietet das LfV verschlüsselte und vertrauliche Übertragungswege an (zum Beispiel personifizierte Uploadund Downloadlinks). Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 305 SPIONAGEUND CYBERABWEHR/ WIRTSCHAFTSSCHUTZ 306 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GEHEIMSCHUTZ GEHEIMSCHUTZ Das Arbeitsfeld des LfV umfasst nicht nur die Beobachtung extremistischer Bestrebungen, sondern erstreckt sich auch auf den sogenannten Geheimschutz. In diesen Bereich fällt insbesondere die Mitwirkung des Verfassungsschutzes im Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen nach dem Hessischen Sicherheitsüberprüfungsund Verschlusssachengesetz (HSÜVG). Auf dieser Grundlage unterstützt das LfV Behörden und Unternehmen, die mit staatlichen Verschlusssachen (VS) umgehen müssen, bei der Bewältigung dieser Sicherheitsaufgaben. AUF EINEN BLICK * Definition und Aufgabe des Geheimschutzes * Personeller Geheimschutz * Materieller Geheimschutz * Geheimschutzverfahren des Bundes und der Länder Definition und Aufgabe des Geheimschutzes | Informationen, deren Bekanntwerden den Bestand, die Sicherheit oder die Interessen des Bundes oder eines Landes gefährden können (Verschlusssachen), bedürfen bei ihrer Bearbeitung und Aufbewahrung eines besonderen Schutzes. Dies gilt für öffentliche Stellen und die Privatwirtschaft gleichermaßen. Verschlusssachen sind je nach dem Schutz, dessen sie bedürfen, in folgende Geheimhaltungsgrade einzustufen: * VS - Nur für den Dienstgebrauch, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein kann. * VS - Vertraulich, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder schädlich sein kann. * Geheim, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann. * Streng geheim, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann. Maßnahmen zum Schutz von Verschlusssachen richten sich nach dem HSÜVG und der Verschlusssachenanweisung (VSA) für das Land Hessen. Dabei regelt die VSA unter anderem die Herstellung, Aufbewahrung, Weitergabe und Vernichtung von Verschlusssachen. Das LfV berät alle Behörden und Unternehmen in Hessen, die Umgang mit Verschlusssachen haben. Es informiert, wie Verschlusssachen durch geeignete personelle und materielle Maßnahmen vor unberechtigtem Zugriff geschützt werden können. Staatliche Ver308 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GEHEIMSCHUTZ schlusssachen werden durch eine Vielzahl von Maßnahmen personeller und organisatorisch-technischer Natur geschützt (personeller und materieller Geheimschutz). Personeller Geheimschutz | Zweck des personellen Geheimschutzes ist es, zu verhindern, dass mit einem Sicherheitsrisiko behaftete Personen Zugang zu Verschlusssachen erhalten oder an sicherheitsempfindlichen Stellen innerhalb von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt werden. Ein Sicherheitsrisiko besteht zum Beispiel bei: * Unzuverlässigkeit, * fehlender Verfassungstreue, * Erpressbarkeit durch Überschuldung oder * bei besonderer Gefährdung durch Werbungsversuche ausländischer Nachrichtendienste, insbesondere bei Reisen in entsprechende Länder. Das HSÜVG regelt, dass ab dem Geheimhaltungsgrad VS - Vertraulich nur Personen Zugang zu Verschlusssachen erhalten, die zuvor eine Sicherheitsüberprüfung erfolgreich durchlaufen haben. Das LfV ist mitwirkende Behörde bei den Sicherheitsüberprüfungen und wird auf Ersuchen der zuständigen Stelle (Behörde oder sonstige öffentliche Stelle, die eine Person mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betrauen will oder eine Verschlusssache an eine nicht öffentliche Stelle weitergeben will) tätig. Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen des Geheimschutzes in der Wirtschaft veranlasst das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen. Im Bereich des personellen Geheimschutzes werden entsprechend der vorgesehenen sicherheitsempfindlichen Tätigkeit und des damit verbundenen Zugangs zu Verschlusssachen drei Arten von Sicherheitsüberprüfungen unterschieden: * Einfache Sicherheitsüberprüfung nach SS 7 HSÜVG (Ü1) bei Zugang zu als VS - Vertraulich eingestuften Verschlusssachen oder bei Tätigkeiten in einem Sicherheitsbereich, * erweiterte Sicherheitsüberprüfung nach SS 8 HSÜVG (Ü2) bei Zugang zu als Geheim eingestuften Verschlusssachen oder Zugang zu einer hohen Anzahl als VS - Vertraulich eingestuften Verschlusssachen oder einer Tätigkeit an einer sicherheitsempfindlichen Stelle sowie * erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit Sicherheitsermittlungen nach SS 9 HSÜVG (Ü3) bei Zugang zu als Streng Geheim eingestuften Verschlusssachen oder Zugang zu einer hohen Anzahl als Geheim eingestuften Verschlusssachen oder bei Personen, die beim LfV tätig sind. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 309 GEHEIMSCHUTZ Eine Überprüfung findet nur mit Einwilligung des Betroffenen statt. Im Rahmen der Mitwirkung an Sicherheitsüberprüfungen wurden im Jahr 2022 616 Überprüfungen abgeschlossen. Lebensund verteidigungswichtige Einrichtungen können - insbesondere aus terroristischen Motiven - Ziel von Sabotagehandlungen werden. Die Mitwirkung bei Sicherheitsüberprüfungen von Beschäftigten an sicherheitsempfindlichen Stellen innerhalb einer lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtung (vorbeugender personeller Sabotageschutz) ist daher ebenfalls Aufgabe des LfV. In diesem Zusammenhang schloss das LfV als mitwirkende Behörde im Berichtsjahr 2022 weitere 445 Sicherheitsüberprüfungen ab. Materieller Geheimschutz | Geheimschutzvorschriften zur Handhabung und zum Umgang mit Verschlusssachen gewährleisten Vertraulichkeit und schaffen unter anderem die Grundlage für eine vertrauensvolle nationale und internationale Zusammenarbeit. Daher ist es auch die Aufgabe des materiellen Geheimschutzes, bei allen Fragen rund um die "Verschlusssache" - angefangen von der Entstehung und Einstufung einer Verschlusssache mit einem bestimmten Verschlusssachengrad, über die korrekte Aufbewahrung und den Transport, bis hin zur effektiven Vernichtung einer Verschlusssache - zu beraten und zu unterstützen. Um einen einheitlichen Standard bei Verschlusssachen hinsichtlich Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität (Unversehrtheit) zu gewährleisten, werden durch den materiellen Geheimschutz organisatorische und technische Maßnahmen zum Schutz von Verschlusssachen und von räumlichen Sicherheitsbereichen erarbeitet. Dies bedeutet, dass bereits durch bauliche Maßnahmen ein ausreichend hohes Schutzniveau erreicht werden soll. Zum Beispiel wird durch die Einrichtung von Zutrittsbeschränkungen zu einem Sicherheitsbereich (als einem von vielen Prinzipien des Geheimschutzes) dem Grundsatz "Kenntnis, nur wenn nötig" entsprochen. Bei der Realisierung von Schutzmaßnahmen, die sich mit der Erhöhung des Verschlusssachengrades und/oder der Anzahl der Verschlusssachen verstärken, geht dabei auch immer eine Abwägung zwischen den aufzuwendenden Mitteln und dem zu erreichenden Schutzziel einher. Das LfV hat auch hier eine mitwirkende Funktion, das heißt, es berät und unterstützt Dienststellen, die Verschlusssachen erstellen und bearbeiten. Im Jahr 2022 wurden im Rahmen der Mitwirkung an Maßnahmen zum materiellen Geheimschutz elf hessische Behörden beraten. 310 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GEHEIMSCHUTZ Zum Bereich des materiellen Geheimschutzes gehört auch der ITGeheimschutz. Die Nutzung von IT-Systemen bei der Verarbeitung von Verschlusssachen birgt besondere Risiken für die entsprechenden Daten. Erwähnt sei hier zum Beispiel die kompromittierende Abstrahlung elektrisch betriebener, datenverarbeitender Geräte, die ermöglicht, dass als Verschlusssache eingestufte Inhalte rekonstruiert werden können. Im Rahmen des IT-Geheimschutzes werden daher, ergänzend zum allgemeinen materiellen Geheimschutz, durch weitere Sicherheitsvorkehrungen die Schutzziele Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität bei der Datenverarbeitung gesichert. Aufgrund der Komplexität und zunehmenden Bedeutung wird hierfür ein Verantwortlicher für den IT-Geheimschutz bestimmt, der den Geheimschutzbeauftragten bei der Umsetzung der VSA unterstützt. Die zunehmende Verzahnung von IT-Infrastrukturen sowie die zunehmende Ablösung der analogen Welt durch die Digitalisierung erzeugen neue Herausforderungen für den IT-Schutz von Verschlusssachen. Geheimschutzverfahren des Bundes und der Länder | Die materiellen und formellen Voraussetzungen für Unternehmen, die einem Geheimschutz unterliegende Aufträge von staatlichen Stellen erhalten, sind im Geheimschutzverfahren des Bundes und der Länder geregelt. Die Fachaufsicht über dieses Verfahren, das auch als Geheimschutzbetreuung bezeichnet wird, obliegt dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz oder dem jeweils auf Landesebene zuständigen Ministerium, in Hessen dem Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen. Das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen ist gemäß SS 24 HSÜVG zuständig für den Geheimschutz in der Wirtschaft in Hessen. Es arbeitet auf der Basis öffentlich-rechtlicher Verträge mit hessischen Unternehmen zusammen, denen ein dem Geheimschutz unterliegender Auftrag erteilt wurde. Befindet sich die staatliche Stelle außerhalb Hessens oder handelt es sich um eine Bundesbehörde, ist die Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums dieses Landes bzw. des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gegeben. Für die Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen von zu ermächtigenden Personen - also denjenigen Mitarbeitern im Unternehmen, die zur Erfüllung des einem Geheimschutz unterliegenden Auftrags eingesetzt werden sollen - ist der Verfassungsschutz des Landes zuständig, in dem das Unternehmen angesiedelt ist. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 311 GEHEIMSCHUTZ 312 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV Mitwirkungsaufgaben sind der bedeutende und umfassende Auftrag an den Verfassungsschutz, Extremisten unter anderem von sicherheitsempfindlichen Infrastrukturen fernzuhalten, ihren legalen Waffenbesitz sowie die Verfestigung ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern. AUF EINEN BLICK * Gesetzlicher Auftrag * Überprüfung der Zuverlässigkeit * Änderung des Waffengesetzes * Erteilung von Aufenthaltstiteln * Einbürgerung * Visumverfahren * Konsultationsverfahren im Asylprozess * Statistik Gesetzlicher Auftrag | Um ihren Stellenwert als integralen Bestandteil der Sicherheitsarchitektur hervorzuheben, sind die Mitwirkungsangelegenheiten des LfV ausdrücklich in SS 20 Abs. 1 Nr. 2 HVSG aufgeführt. Dem LfV kommt dabei die wesentliche Aufgabe zu, auf Ersuchen von Behörden bei der Überprüfung von Antragstellern mitzuwirken (SS 2 Abs. 3 HVSG). Das LfV wertet im Rahmen seiner Mitwirkungsangelegenheiten die ihm vorliegenden Erkenntnisse aus (SS 4 Abs. 5 HVSG). Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kommt dabei nicht in Betracht. Überprüfung der Zuverlässigkeit | Die maßgebliche Mitwirkung des LfV ist in vielen gesetzlich geregelten Verfahren vorgeschrieben, so etwa nach den folgenden Bestimmungen: * Waffengesetz (WaffG), * Bundesjagdgesetz (BJagdG), * Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), * Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (SprengG), * Gewerbeordnung (GewO) und * Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (AtG). Werden dem LfV nach Beantwortung einer Anfrage Erkenntnisse bekannt, die für die Beurteilung der Zuverlässigkeit von Bedeutung sind, hat das LfV die zuständige Behörde über die Erkenntnisse zu informieren (sogenannte Nachberichtspflicht). Änderung des Waffengesetzes | Mit Wirkung zum 20. Februar 2020 wurde das WaffG verschärft. Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des WaffG und weiterer Vorschriften (3. WaffRÄndG) wird es Extre314 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV misten erschwert, legalen Zugang zu erlaubnispflichtigen Waffen und Munition zu erhalten bzw. in deren Besitz zu bleiben. SS 5 Abs. 5 WaffG begründet in der neuen Nr. 4 eine verpflichtende Regelanfrage der Waffenbehörden bei den Verfassungsschutzbehörden. Die Regelanfrage wird von einer Nachberichtspflicht der Verfassungsschutzbehörden flankiert: Die Verfassungsschutzbehörden unterrichten die Waffenbehörden, wenn nachträglich Erkenntnisse erlangt werden, die Zweifel an der Zuverlässigkeit des Erlaubnisinhabers wecken. Aus der Erweiterung des SS 5 WaffG wird auch eine Zuverlässigkeitsüberprüfung nach dem BJagdG abgeleitet. So haben die Jagdbehörden nach SS 17 Abs. 1 Satz 2 BJagdG vor Erteilung eines Jagdscheins auch die waffenrechtlichen Anforderungen an die Zuverlässigkeit im Sinne des SS 5 WaffG zu prüfen. Mit dem 3. WaffRÄndG wurde auch das SprengG geändert. Mit der Neufassung des SS 8a Abs. 2 Nr. 3 SprengG begründet auch die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung die Regelvermutung der sprengstoffrechtlichen Unzuverlässigkeit. SS 8a Abs. 5 Nr. 4 SprengG erweitert die Verpflichtung der Sprengstoffbehörden bei jeder Zuverlässigkeitsprüfung die Verfassungsschutzbehörde zu beteiligen. Beschränkte sich die Regelanfrage bislang auf Erlaubnisse nach SS 7 SprengG für den gewerblichen Bereich, wurde die Zuverlässigkeitsüberprüfung um die Erlaubnisse nach SS 27 SprengG für den nicht gewerblichen Bereich erweitert. Auch Personen, die ein Bewachungsgewerbe betreiben oder als Wachperson arbeiten wollen, unterliegen einer Zuverlässigkeitsüberprüfung (SS 34a GewO). Werden diese Personen bei der Bewachung von Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften sowie bei der Bewachung von zugangsgeschützten Großveranstaltungen eingesetzt, wirkt das LfV mit. SS 20 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. l) HVSG regelt die Übermittlungsbefugnis des LfV auch für die Fälle gesetzlich an anderer Stelle normierter Überprüfungen. Dies betrifft zum Beispiel die für den Bereich der Polizei geltenden SSSS 13a und 13b des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG). Das LfV wird nur dann in die Überprüfungen einbezogen, wenn dies im Einzelfall erforderlich ist und die betroffene Person einwilligt. So wirkt das LfV etwa bei der Überprüfung von Personen mit, die eine Tätigkeit als Bedienstete einer Behörde mit Vollzugsaufgaben anstreben oder einen unbegleiteten Zutritt zu staatlichen Einrichtungen erhalten sollen. Gleiches Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 315 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV gilt bei Personen, für die ein privilegierter Zutritt zu einer Veranstaltung einer Behörde oder öffentlichen Stelle oder zu einer besonders gefährdeten Veranstaltung in nicht öffentlicher Trägerschaft beantragt wird. Auf Grundlage des SS 13a HSOG wirkt das LfV bei der Überprüfung von Personen mit, die im sicherheitssensiblen Bereich von Veranstaltungen, wie etwa dem Hessentag, eingesetzt werden sollen. Schließlich wirkt das LfV auch bei der Zuverlässigkeitsüberprüfung von an der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge und ihren Außenstellen (HEAE) beschäftigten Dolmetschern mit (SS 20 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. h) HVSG). Erteilung von Aufenthaltstiteln | Die Ausländerbehörden übermitteln vor erstmaliger Erteilung oder Verlängerung von Aufenthaltstiteln die personenbezogenen Daten der Antragsteller an das LfV, um zu prüfen, ob Versagungsgründe vorliegen (SS 73 Abs. 2 AufenthG, Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet). Werden dem LfV nachträglich sicherheitsrelevante Informationen bekannt, ist es verpflichtet, diese mitzuteilen (Nachberichtspflicht nach SS 73 Abs. 3 AufenthG). Seit 2009 besteht in Hessen eine regelmäßig tagende Arbeitsgruppe, an der unter anderem Vertreter des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport, der Polizei und des LfV teilnehmen. Die Ar316 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV beitsgruppe beschäftigt sich mit in Hessen lebenden Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die aus Sicht von Polizei und LfV dem extremistischen, terroristischen Spektrum oder der OK zuzuordnen sind. Ziel ist eine enge behördenübergreifende Zusammenarbeit bei Einzelfällen, die eine besondere Sicherheitsrelevanz aufweisen und bei denen aufenthaltsbeendende oder aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen geboten sind. Einbürgerung | Auch bei Einbürgerungsbewerbern, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, fragen die zuständigen Regierungspräsidien vor ihrer Entscheidung im Einbürgerungsverfahren beim LfV nach Erkenntnissen an (SSSS 32 u. 37 Abs. 2 StAG, Staatsangehörigkeitsgesetz). Visumverfahren | Beantragt ein Ausländer aus einem konsultationspflichtigen Staat bei einer Auslandsvertretung ein Visum zur Einreise nach Deutschland bzw. in das Gebiet der Schengener Staaten, ist eine Vielzahl inländischer Stellen, wie etwa die nationalen Sicherheitsbehörden, zu beteiligen. Zur Feststellung eventueller Versagungsgründe oder sonstiger Sicherheitsbedenken ist dabei eine Übermittlung von personenbezogenen Daten über das Bundesverwaltungsamt (BVA) als technischen Dienstleister an das BfV möglich. Ergibt sich bei einem automatisierten Datenabgleich mit dem Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) eine Eintragung des LfV, wird es an dem Verfahren beteiligt (SS 73 Abs. 1 AufenthG). Konsultationsverfahren im Asylprozess | Seit 2017 wird bei unerlaubt eingereisten bzw. aufhältigen Personen sowie bei Asylund Schutzsuchenden mit der Erstregistrierung im Ausländerzentralregister ein automatisierter Sicherheitsabgleich initiiert, an dem das LfV - dem Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 317 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV Visumverfahren vergleichbar - beteiligt wird (SS 73 Abs. 1a u. 3a AufenthG). Statistik | 2022 wurden 238.559 Anfragen (2021: 213.333) an das LfV gerichtet. Zu den anfragestärksten Mitwirkungsaufgaben zählten insbesondere die Beteiligung bei Aufenthaltstiteln, Einbürgerungen, Visa und die Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem WaffG, BJagdG und LuftSiG. Die anfragestärksten Prüfungsbereiche wurden statistisch erfasst. 318 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ANHANG - ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS - GLOSSAR - EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN UND GRUPPIERUNGEN - REGISTER - GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Abs. APT Absatz Advanced Persistent Threat (fortgeschrittene andauernde Abt. Bedrohung) Abteilung arab. ACAB arabisch All Cops Are Bastards Art. AfD Artikel Alternative für Deutschland AtG AG Gesetz über die friedliche VerAmtsgericht wendung der Kernenergie und AGÄdegF den Schutz gegen ihre GefahAlmanya Göcmen Isciler Federen rasyonu (Föderation der ArATÄdegF beitsimmigrantInnen aus der Almanya Türkiyeli Isciler FedeTürkei in Deutschland e. V.) rasyonu (Föderation der ArbeiAK.069 ter aus der Türkei in DeutschAntifaschistisches Kollektiv 069 land e. V.) AKP ATÄdegK Adalet ve Kalkinma Partisi (ParAvrupa Türkiyeli Isciler Konfetei für Gerechtigkeit und Aufderasyonu (Konföderation der schwung) Arbeiter aus der Türkei in al-Shabab Europa) Harakat al-Shabab al-Mujahidin AUF (Bewegung der Mujahidin-JuAntifa United Frankfurt gend) AufenthG AMGT Gesetz über den Aufenthalt, Avrupa Milli Görüs Teskilatlari die Erwerbstätigkeit und die In(Vereinigung der neuen Welttegration von Ausländern im sicht in Europa e. V.) Bundesgebiet AN AvEG-Kon Autonome Nationalisten Avrupa Ezilen Göcmenler KonANF federasyonu (Konföderation Ajansa Nuceyan a Firate (Firatder unterdrückten Immigrannews Agency) ten in Europa) Antifa-Süd AWD Antifaschistische Aktion Süd Atomwaffen Division 320 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS BAFA C 18 Deutschland Bundesamt für Wirtschaft und Combat 18 Deutschland Ausfuhrkontrolle CDK BAMAD Koordinasyona Civaka DemoBundesamt für den Militärikratik a Kurdistan (Koordination schen Abschirmdienst der kurdisch-demokratischen Gesellschaft) BAMF Bundesamt für Migration und CEM Flüchtlinge Council of European Muslims BfV CHP Bundesamt für VerfassungsCumhurriyet Halk Partisi (Repuschutz blikanische Volkspartei) BGH Co. Bundesgerichtshof Kompanie/Kompagnon BIAREX DAP Bearbeitung integrierter bzw. Deutsche Arbeiterpartei abgetauchter RechtsextremisDev Sol ten Devrimci Sol (Revolutionäre BJagdG Linke) Bundesjagdgesetz Dev-Genc BK Devrimci Genclik (RevolutioBaltik Korps näre Jugend) BKA DEXT Bundeskriminalamt Fachstellen für Demokratieförderung und phänomenüberBND greifende ExtremismusprävenBundesnachrichtendienst tion BPol DHKC Bundespolizei Devrimci Halk Kurtulus CeBRD phesi (Revolutionäre VolksbeBundesrepublik Deutschland freiungsfront) [inoffizielle Abkürzung] DHKP BVA Devrimci Halk Kurtulus Partisi Bundesverwaltungsamt (Revolutionäre VolksbefreiBVerfSchG ungspartei) BundesverfassungsschutzgeDHKP-C setz Devrimci Halk Kurtulus Partisibzw. Cephesi (Revolutionäre Volksbeziehungsweise befreiungspartei-Front) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 321 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS DIDF EIHW Demokratik Isci Dernekleri FeEuropäisches Institut für Huderasyonu e. V. (Föderation Demanwissenschaften e. V. mokratischer Arbeitervereine EMUG e. V.) Europäische Moscheebau und DIE LINKE.SDS Unterstützungsgemeinschaft DIE LINKE.Sozialistisch-Demoengl. kratischer Studierendenverenglisch band EU DKP Europäische Union Deutsche Kommunistische Partei Europol Europäisches Polizeiamt DMG Deutsche Muslimische Gef. meinschaft e. V. folgende [Seite] DMS FAP DokumentenmanagementsysFreiheitliche Arbeiterpartei tem Deutschlands Dr. FAZ Doktor Frankfurter Allgemeine Zeitung DS FCDK-Kawa Deutsche Stimme Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistaniyan e. V. (Demodt. kratische Föderation der Gedeutsch sellschaften Kurdistan e. V.) DVU FDP Deutsche Volksunion Freie Demokratische Partei e. V. ff. eingetragener Verein folgende [Seiten] ECFR FIOE European Council for Fatwa Federation of Islamic Organizaand Research (Europäischer tions in Europe (Föderation isRat für Fatwa und Forschung) lamischer Organisationen in eigentl. Europa) eigentlich FNS EIHS Freies Netz Süd European Institute of Human FOBAREX Sciences (Europäisches Institut Fokussierte operative Bearbeifür Humanwissenschaften) tung herausragender Akteure im Rechtsextremismus 322 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS FP GU Fazilet Partisi (Tugendpartei) GegenUni FSB GZD Federalnaja Slushba BesopasGeneralzolldirektion nosti (Föderaler Dienst für SiHAMAS cherheit der Russischen FödeHarakat al-Muqawama al-Islaration) miya (Islamische WiderstandsGAG bewegung) Gemeinsame Arbeitsgruppe HEAE Justiz/Polizei Hessische ErstaufnahmeeinGAM richtung für Flüchtlinge Gruppe ArbeiterInnenmacht Hessen3C GBA Hessen CyberCompetenceGeneralbundesanwalt Center Gestapo HETAZ Geheime Staatspolizei Hessisches Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum GETZ Gemeinsames ExtremismusHKE und TerrorismusabwehrzenHessisches Informationsund trum Kompetenzzentrum gegen Extremismus GewO Gewerbeordnung HLKA Hessisches Landeskriminalamt GG Grundgesetz HMdIS Hessisches Ministerium des InGI nern und für Sport Generation Identitaire HNG GIZ Hilfsorganisation für nationale Gemeinsames Internetzentrum politische Gefangene und deGmbH ren Angehörige e. V. Gesellschaft mit beschränkter HöMS Haftung Hessische Hochschule für öfGRU fentliches Management und SiGlawnoje Raswedywatelnoje cherheit Uprawlenije (Hauptverwaltung HPA beim Generalstab der StreitHessische Polizeiakademie kräfte der Russischen Föderation) HPG Hezen Parastina Gel (VolksverGTAZ teidigungseinheiten) Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 323 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS hrsg. IESH herausgegeben Institut Europeen des Sciences Humaines (Europäisches InstiHSK tut für Humanwissenschaften) Heyva Sor a Kurdistane (Kurdischer Roter Halbmond) IfS Institut für Staatspolitik HSOG Gesetz über die öffentliche SiIGD cherheit und Ordnung Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. HSÜVG Hessisches SicherheitsüberprüIGMG fungsund VerschlusssachenIslamische Gemeinschaft Milli gesetz Görüs e. V. HTS IGS Hai'at Tahrir al-Sham (Komitee Islamische Gemeinschaft der zur Befreiung der Levante) schiitischen Gemeinden Deutschlands e. V. HuT Hizb ut-Tahir (Partei der BefreiIHRA ung) International Holocaust Remembrance Alliance HVSG Hessisches VerfassungsschutzIL gesetz Interventionistische Linke i. e. IoC id est (lat., dt. das ist) Indicators of Compromise (KompromittierungsindikatoIAC ren) Ismail Aga Cemaati IRGC IB Revolutionary Guard Corps Identitäre Bewegung (Revolutionsgarden) IBD IS Identitäre Bewegung DeutschIslamischer Staat land e. V. ISI IBH Inter-Services Intelligence Identitäre Bewegung Hessen ISPK IBÖ Islamischer Staat Provinz KhoIdentitäre Bewegung Österrasan reich IT ICCB Informationstechnik Ädegslami Cemaat ve Cemiyetler Birligi (Verband der islamiIUE schen Vereine und Gemeinden Islamische Union Europa e. V. e. V.) 324 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS IZH KONGRA GEL Islamisches Zentrum Hamburg Kongreya Gele Kurdistane (Volkskongress Kurdistans) JA Junge Alternative KON-MED Almanya'daki Mezopotamya JN Topluluklar Konfederasyonu Junge Nationalisten (Konföderation der GemeinJXK schaften Mesopotamiens in Jinen Xwendekaren Kurdistan Deutschland) (Studierende Frauen aus KurKOREX distan) Kompetenzzentrum RechtsexKADEK tremismus Kongreya Azadi u Demokrasiya KPD Kurdistane (Freiheitsund DeKommunistische Partei mokratiekongress Kurdistans) Deutschlands KAGEF KPdSU Interkulturelles Jugendforum Kommunistische Partei der e. V. Sowjetunion KCDK-E KRD Kongreya Civaken Demokratik Königreich Deutschland li Kurdistaniyen Ewropa (Kurdischer Demokratischer GesellKRITIS schaftskongress in Europa) Kritische Infrastruktur KCK kurd. Koma Civaken Kurdistan (Gekurdisch meinschaft der Kommunen lat. Kurdistans) lateinisch KdN LfV Kampf der Nibelungen Landesamt für VerfassungsKG schutz Kommanditgesellschaft LG KIA Landgericht Koordinierte InternetauswerLGBTQ tung Lesbian, Gay, Bisexual, TransKJK gender and Queer (lesbisch, Komalen Jinen Kurdistan (Koschwul, bisexuell, transgeordination der Gemeinschaft schlechtlich und queer) der Frauen Kurdistans) LPP KO Landespolizeipräsidium Kommunistische Organisation IRH Internationale Rote Hilfe Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 325 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS lS MNP Islamischer Staat Milli Nizam Partisi (Nationale Ordnungspartei) LuftSiG Luftsicherheitsgesetz MOIS Ministry of Intelligence MB Muslimbruderschaft NADIS Nachrichtendienstliches InforMC mationssystem Motorcycle Club Napola MEK Nationalpolitische ErziehungsMojahedin-e-Khalq (Volksmoanstalt jahedin) NATO MHP North Atlantic Treaty OrganizaMilliyetci Hareket Partisi (Partei tion (Nordatlantische Vertragsder Nationalistischen Beweorganisation) gung) NF MI Nationalistische Front Military Intelligence (Militärische Aufklärung) NfD Nur für den Dienstgebrauch MÄdegT Milli Istihbarat Teskilati (NatioNIAS naler Nachrichtendienst) Nachrichtendienstliche Informationsund Analysestelle MKP Maoist Komünist Partisi (MaoisNPD tisch-Kommunistische Partei) Nationaldemokratische Partei Deutschlands MLKP Marksist Leninist Komünist Parti Nr. (Marxistische-Leninistische Nummer Kommunistische Partei) NS MLK-P-Kurulus Nationalsozialismus Marksist Leninist Komünist NSBM Parti-Kurulus (Marxistische-LeNational Socialist Black Metal ninistische Kommunistische Partei-Aufbau) NSDAP Nationalsozialistische DeutMLPD sche Arbeiterpartei Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands NSR Nationale Sozialisten Rostock MMA Mixed-Martial-Arts NSU Nationalsozialistischer Untergrund 326 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS NZ PYD Nicht zuzuordnen Partiya Yekitiya Demokrat (Partei der Demokratischen Union) OAT Offenes Antifaschistisches TrefR&AW fen Research & Analysis Wing OK RAC Organisierte Kriminalität Rock Against Communism OLG RCDS Oberlandesgericht Ring Christlich-Demokratischer Studenten OMCG Outlaw Motorcycle Gang RH Rote Hilfe e. V. PAAF PhänomenbereichsübergreiRHD fende wissenschaftliche AnalyRote Hilfe Deutschlands sestelle Antisemitismus und RI Fremdenfeindlichkeit Realität Islam PCDK RIG Partiya Careseriya Demokratik Rat der Imame und Gelehrten a Kurdistane (Partei für eine poe. V. litische Lösung in Kurdistan) RIGD PIAS Rat der Imame und Gelehrten Polizeiliche Informationsund in Deutschland Analysestelle S. PJAK Seite Partiya Jiyana Azad a Kurdistane (Partei für ein freies Leben s. in Kurdistan) siehe PKK SA Partiya Karkeren Kurdistan (ArSturmabteilung beiterpartei Kurdistans) SDAJ PKV Sozialistische Deutsche ArbeiParlamentarische Kontrollkomterjugend mission Verfassungsschutz SP PLO Saadet Partisi (Partei der GlückPalestine Liberation Organizaseligkeit) tion (Palästinensische BefreiSPD ungsorganisation) Sozialdemokratische Partei PMK Deutschlands Politisch motivierte Kriminalität Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 327 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS SprengG TKP/ML Gesetz über explosionsgefährTürkiye Komünist Partisi/Markliche Stoffe sist-Leninist (Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-LeniSRP nisten) Sozialistische Reichspartei TKP/ML-H SS Türkiye Komünist Partisi/MarkSchutzstaffel sist Leninist Hareketi (Türkische StAG Kommunistische Partei/MarxisStaatsangehörigkeitsgesetz ten-Leninisten-Bewegung) StGB türk. Strafgesetzbuch türkisch SWR u. Slushba Wneschnej Raswedki und (Dienst der Außenaufklärung UCC der Russischen Föderation) Uniform Commercial Code TAK UN Teyrebazen Azadiya Kurdistan United Nations (Vereinte Natio(Freiheitsfalken Kurdistans) nen) TC2 USA Tong cuc 2 United States of America (VerTCS einigte Staaten von Amerika) Tevgera Ciwanen Soresger (Bev. wegung der revolutionären Juvon/vom gend) VAJA/MOIS THS Vezarat-e-ettelaat jomhuri-ye Thüringer Heimatschutz eslami-ye iran/Ministry of IntelTÄdegKKO ligence Türkiye Isci Köylü Kurtulus OrVG dusu (Türkische Arbeiterund Verwaltungsgericht Bauernbefreiungsarmee) vgl. TJK-E vergleiche Tevgera Jinen Kurd li Ewropa (Kurdische Frauenbewegung in VHD Europa) Vaterländischer Hilfsdienst TKÄdegH VPN Türkiye Komünist Isci Hareketi Violence Prevention Network (Türkische Kommunistische ArVS beiterbewegung) Verfassungsschutz [inoffizielle Abkürzung] 328 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS VS YÖP Verschlusssache Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik) VSA Verschlusssachenanweisung YPG Yekineyen Parastina Gel (VolksVSKG verteidigungseinheiten) Verfassungsschutzkontrollgesetz YPJ Yekineyen Parastina Jin (FrauWaffG enverteidigungseinheiten) Waffengesetz YXK WaffRÄndG Yekitiya Xwendekaren KurdisGesetz zur Änderung des Waftan (Verband der Studierenden fengesetzes und weiterer Voraus Kurdistan) schriften ZIK YDG Zentrum der Islamischen Kultur Yeni Demokratik Genclik (Neue demokratische Jugend) ZKA Zollkriminalamt YJK-E Yekitiya Jinen Kurdistan li Elmanyaye (Verband der Frauen aus Kurdistan in Deutschland) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 329 GLOSSAR GLOSSAR Advanced Persistent Threats ... sind komplexe und zielgerichtete Bedrohungen, die sich gegen (APT) ein oder wenige Opfer richten. In der Praxis werden mit dem APTBegriff ressourcenstarke Cyberangreifergruppen beschrieben, die in der Regel staatlich gesteuert sind. Die konkreten Angriffe im Rahmen dieser Bedrohungen (engl. threats) werden von Angreifenden aufwändig vorbereitet, sind hochentwickelt (engl. advanced) und dauern lange an (engl. persistent). Ein APT-Angriff soll nach Möglichkeit unentdeckt bleiben, um vertrauliche Daten angegriffener Stellen wie zum Beispiel Ministerien oder Unternehmen auszuspähen oder anderen Schaden zu verursachen. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/glosaareintraege/ DE/A/advanced-persistent-threat.html, abgerufen im April 2023.) Allein handelnde Täter ... sind Personen, die sich selbst radikalisiert haben, wobei im Phänomenbereich Rechtsextremismus ihre Motive unter anderem von ( ) Fremdenfeindlichkeit, ( ) Rassismus, Frauenfeindlichkeit (Antifeminismus) und ( ) Antisemitismus bis hin zu Verschwörungsnarrativen reichen. Dabei kommen zahlreiche Studien zu dem Ergebnis, dass sich unter den Tätern ein signifikant höherer Anteil an Personen mit psychischen Auffälligkeiten findet als im Bevölkerungsdurchschnitt bzw. unter anderen Tätern schwerer Gewalttaten. Dass Täter allein handeln, beruht oft nicht auf einer strategischen Entscheidung, um etwa eine frühzeitige Entdeckung des Tatplans zu verhindern, sondern ist durch ihre Persönlichkeit bedingt. Mit dem Begriff allein handelnde Täter soll verdeutlicht werden, dass diese Personen nicht abgeschottet bzw. isoliert von der Welt, die sie umgibt, leben bzw. agieren, sondern sich in einem Kontext bewegen, von dem sie sich maßgeblich beeinflussen lassen. Die Zugehörigkeit zu einem extremistischen Personenzusammenschluss ist somit keine zwingende Voraussetzung für eine Radikalisierung zum Terrorismus. Die Radikalisierung kann sich auch ausschließlich über den virtuellen Konsum extremistischer Propaganda vollziehen, ein kommunikativer Austausch mit anderen Personen ist nicht notwendig. Eine besondere Rolle für die Radikalisierung spielt das Internet, das den Zugang zu extremistischen und gewaltverherrlichenden Ideologien und Botschaften, darunter auch Verschwörungsnarrative, wesentlich erleichtert. So spricht Hendrik Puls mit Bezug auf eine Studie von Maik Fielitz davon, dass diese Täter - etwa die von Christchurch (Neuseeland) und Halle (Sachsen-Anhalt) - in einer "digitalen Hasskultur" verwurzelt waren und "großen Aufwand betrieben, um ihre politische Botschaft über das Internet an ein globales Publikum zu kommunizieren". 330 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR Darüber hinaus lassen sich allein handelnde Täter von früheren Gewalttaten "inspirieren". Die Täter definieren die Opfer als Repräsentanten einer Feindgruppe - etwa Migranten und "Linke" -, wobei sie mittels der Veröffentlichung von Manifesten oder Videos im Internet (auch per Live-Stream) eine extremistische Botschaft von hohem symbolischen Stellenwert an die Feindgruppe richten wollen. (Vgl. Maik Fielitz: Christchurch als bitterböses Meme, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/christchurch-als-bitterboeses-meme, Hendrik Puls: Rechtsmotivierte "Einzeltäter" in Deutschland, https://www.idz-jena.de/wsddet/wsd6-13/, u. Chris Allen: Nur "einsame Wölfe"? Rechtsterrorismus als transnationales Phänomen, https://www.bpb.de/apuz/301134/nur-einsame-woelfe-rechtsterrorismus-als-transnationales-phaenomen, jeweils abgerufen im April 2023.) Im Gegensatz zu anderen linksextremistischen Richtungen fehlt es Anarchismus dem Anarchismus an verbindlichen Theorien und gemeinsamen Organisationsstrukturen. Anarchismus ist vielmehr eine Sammelbezeichnung für politische Auffassungen und Bestrebungen, die auf die Abschaffung jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen abzielen. Das Feindbild aller anarchistischen Strömungen ist der Staat. Die Institution des Staats gilt im anarchistischen Selbstverständnis als repressive Zwangsinstanz, die zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft aufgelöst oder zerschlagen werden muss. Dabei differenzieren Anarchisten nicht zwischen demokratisch und diktatorisch organisierten Staaten. Nach anarchistischer Vorstellung soll sich die Gesellschaft auf Basis völliger Freiwilligkeit selber organisieren. Häufig schließt eine solche Auffassung einen grundsätzlichen Antiinstitutionalismus mit ein. So gelten auch Parlamente, Parteien, Kirchen und Vereine als Einrichtungen, die einer freiwilligen Assoziation von emanzipierten und mündigen Menschen entgegenstehen. Im Mittelpunkt stehen Freiheit, Freizeit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Die Ablehnung von Hierarchie und Unterordnung führt zu einer generellen Skepsis gegenüber politischen Organisationsformen. Anarchisten bilden deshalb zumeist nur lose strukturierte Gruppierungen. Gegenwärtig bestehen nur wenige Kleinorganisationen, die sich dezidiert dem Anarchismus verschrieben haben, daneben sind jedoch auch die meisten autonomen Gruppierungen durch anarchistische Theoriefragmente beeinflusst. (Vgl. http://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/ideologie/anarchismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 331 GLOSSAR "Antifaschismus" ... als Begriff wird auch von Demokraten verwendet, um ihre Ablehnung des Rechtsextremismus zum Ausdruck zu bringen. Linksextremisten versuchen den breiten gesellschaftlichen Konsens gegen den Rechtsextremismus zu nutzen, um von Demokraten als Partner akzeptiert zu werden. Im linksextremistischen Sinn ist "Antifaschismus" weit mehr als das Engagement gegen Rechtsextremismus. Er steht für eine grundsätzliche Ablehnung von Parlamentarismus und demokratischem Verfassungsstaat. "Antifaschismus" im linksextremistischen Sinn behauptet, dass die bürgerliche Gesellschaftsordnung mit ( ) "Kapitalismus", Parlamentarismus und Rechtsstaat die Ursache von Faschismus und Rechtsextremismus sei. Demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland wird unterstellt, sich unausweichlich in Richtung eines neuen Faschismus zu entwickeln. Das politische Ziel linksextremistischer "Antifaschisten" ist deshalb die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Begriff "Antifaschismus" geht zurück auf die inneritalienische Opposition gegen die Herrschaft Benito Mussolinis zwischen 1922 und 1943. Die Wurzeln des deutschen "Antifaschismus" liegen im Widerstand gegen die Diktatur des "Dritten Reichs". Neben dem bürgerlich-liberal geprägten "Antifaschismus", der für den Erhalt bzw. die Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintrat, entwickelte sich ein kommunistisch orientierter, der alle nichtmarxistischen Systeme als potenziell faschistisch oder zumindest als Vorstufe zum Faschismus betrachtet. Der Faschismus gilt dabei als die reaktionärste, chauvinistischste und imperialistischste Form des "Kapitalismus". Nur wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft und ein sozialistisches System errichtet werde, könne der "Faschismus" zerstört werden. Die Forderung nach der Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist die folgerichtige Konsequenz. "Antifaschismus" ist nicht generell linksextremistisch. Es kommt vielmehr darauf an, was die jeweiligen Akteure konkret unter "Faschismus" verstehen und welche Forderungen sie daraus ableiten. Entscheidend sind dabei folgende Fragen: Richtet sich die Ablehnung nur gegen den Rechtsextremismus oder gegen den demokratischen Verfassungsstaat? Werden die Regeln des Verfassungsund Rechtsstaats akzeptiert oder werden Rechtsextremisten als Menschen ohne Rechte betrachtet, gegen deren Aktivitäten jedes Mittel recht ist? (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/definition/aktionsfelder/antifaschismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) 332 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR ... ist ein Zusammenschluss mehrerer linksextremistischer GruppieAntifaschistische Aktion Süd rungen aus Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz. Nach (Antifa-Süd) eigenen Angaben will die Antifa-Süd "Rechte und Faschist:innen handlungsunfähig machen [...] und möglichst gute Bedingungen für revolutionäre Kämpfe zur Überwindung des Systems schaffen". Dafür müsse sich der Zusammenschluss an "unmittelbaren Notwendigkeiten orientieren - nicht an pazifistischen Idealen oder bürgerlichen Gesetzbüchern". Ziel sei es, "nicht zu zahnlosen Tigern zu werden", sondern langfristig eine bundesweite Bewegung zu begründen, die "effektiv ist, weil sie mit einer geballten Faust zuschlägt". Die 2022 gegründete Antifa-Süd möchte nach eigenem Bekunden erneut den Versuch einer Zusammenführung unterschiedlicher Antifa-Gruppierungen unternehmen und so der "Zersplitterung entgegen" wirken. Dabei wolle man "besser machen, was damals [in den 2000er Jahren] nicht klappte", um "gesellschaftlich wirkmächtig" zu werden. (Vgl. https://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/Die+_ Antifaschistische+Aktion+Sued_+Ein+neugegruendeter+linksextremistischer+Zusammenschluss, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Die Stadt gilt insbesondere gewaltorientierten Linksextremisten tra"Antigentrifizierung" ditionell als zentraler Ort des Klassenkampfs, als Ort der Zuspitzung der Klassengegensätze. Durch die Verbindung mit anderen Gruppen erhoffen sich Linksextremisten Möglichkeiten der Massenmilitanz, die in Städten leichter organisierbar ist als in bevölkerungsschwachen Räumen. Ziel gewaltorientierter Linksextremisten ist insbesondere der Erhalt sogenannter ( ) selbstverwalteter Freiräume, die von der Szene als notwendige Widerstandsstrukturen angesehen werden. Mit dem Thema "Antigentrifizierung" versuchen Linksextremisten ihre eigenen Interessen in eine aktuelle stadtund gesellschaftspolitische Diskussion einzubetten und damit in größeren Bevölkerungskreisen politisch Akzeptanz zu finden. Der Begriff "Gentrifizierung" kommt ursprünglich aus der Stadtsoziologie und bezeichnet soziale Umstrukturierungsprozesse in Stadtteilen, die zu steigenden Mieten und einer Verdrängung der bisherigen Bewohner führen. Viele Bewohner von Großstädten beschäftigt dieses Thema. Es bilden sich Initiativen, die in aller Regel von demokratischen Kräften getragen werden. Linksextremisten versuchen, sich diesen Initiativen anzuschließen bzw. im gleichen Themenfeld eigene Aktionen zu entwickeln, um damit ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu steigern und sich vordergründig als sozialpolitische Akteure zu profilieren, wobei sie extremistische Ziele verfolgen, die deutlich über die Sozialpolitik hinausreichen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 333 GLOSSAR Autonome Linksextremisten entwickeln im Zusammenhang mit dem Themenfeld "Antigentrifizierung" auch gewalttätige Aktivitäten: Insbesondere Immobilienmakler werden von ihnen als Mitverantwortliche für die "Gentrifizierung" und damit als Feindbild wahrgenommen. Büros und Fuhrpark von Immobilienfirmen sind immer wieder Ziel militanter Attacken aus der linksextremistischen Szene. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/aktionsfelder/antigentrifizierung/index.html, abgerufen im April 2023.) "Antiimperialismus" Der ( ) Imperialismus, bei dem russischen revolutionären Politiker Lenin als "höchstes Stadium des Kapitalismus" definiert, ist für Linksextremisten ein Gegenstand heftigster Ablehnung. Nach der klassischen marxistisch-leninistischen Imperialismustheorie neigen "kapitalistische" Ökonomien und Staaten dazu, sich zur Maximierung des Profits Märkte für Rohstoffe, Arbeitskräfte und den Absatz von Produkten notfalls gewaltsam zu erschließen, was zu Kolonialismus und Kriegen zwischen "kapitalistischen" Staaten führe. Diese Analyse legt für Linksextremisten eine "antiimperialistische" und "internationalistische" Ausrichtung nahe: Sie verstehen sich als solidarisch mit den "um ihre nationale Befreiung von kolonialistischer Ausbeutung kämpfenden Völkern", falls letztere ein "sozialistisches" Regime errichten wollen. (Vgl. Rudolf van Hüllen: "Antiimperialistische" und "antideutsche" Strömungen im deutschen Linksextremismus, https://www.bpb.de /politik/extremismus/linksextremismus/33626/antideutsche-undantiimperialisten, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Anti-IS-Allianz Die wichtigsten Mitglieder der Allianz waren die USA, Großbritannien und Frankreich. Weitere Partner waren Australien, Dänemark, Belgien, Kanada, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Katar, Jordanien und die Türkei, wobei sich letztere nicht an Kampfhandlungen beteiligte. (Vgl. https://www.srf.ch/news/international/das-sind-diewichtigsten-mitglieder-der-anti-is-allianz, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags abgerufen im April 2023.) "Antikapitalismus" s. "Kapitalismus" 334 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR ... ist ein klassisches linksextremistisches Aktionsfeld, dessen Wurzeln "Antimilitarismus" bis in die Anfänge der kommunistischen Bewegung zurückreichen. Im Gegensatz zum Pazifismus geht es Linksextremisten nicht nur um die Abschaffung des Militärs, sondern darüber hinaus um die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie. Aus linksextremistischer Perspektive dient das Militär dazu, angebliche kapitalistische Expansionsbestrebungen nach außen durchzusetzen und im Inneren den "Kapitalismus" und dessen "Ausbeutungsstrukturen" zu stabilisieren. Eine klassenlose Gesellschaft kann demzufolge nur erreicht werden, wenn neben der "kapitalistischen" Wirtschaftsordnung und der sie tragenden bürgerlichen parlamentarischen Demokratie auch das Militär abgeschafft wird. Die linksextremistische Szene wendet den "Antimilitarismus" auf die Bundeswehr an. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sowie die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Systemen kollektiver Sicherheit wie der NATO stehen dabei im Fokus. Der "antimilitaristischen" Ideologie zufolge dient die Bundeswehr nur der Durchsetzung imperialer Politik und "kapitalistischer" Interessen. Ignoriert wird dabei, dass es sich bei der Bundeswehr um ein sogenanntes Parlamentsheer handelt, dessen bewaffnete Streitkräfte auf der Grundlage einer Entscheidung des Bundestags bzw. auf Basis der Charta der Vereinten Nationen (United Nations, UN) ins Ausland entsandt werden. Im Rahmen ihrer Bündnispolitik versuchen Linksextremisten Einfluss auf Initiativen zu nehmen, die die Rolle und Aufgabe einer Armee in einem demokratischen Staat kritisch hinterfragen. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/aktionsfelder/antimilitarismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) ... ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die im Hass auf JuAntisemitismus den Ausdruck finden kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nichtjüdische Individuen und/oder ihr Eigentum, gegen Institutionen jüdischer Gemeinden und religiöse Einrichtungen. Diese Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wurde am 26. Mai 2016 in Bukarest (Rumänien) von der Vollversammlung der damals 31 Mitgliedsstaaten beschlossen. Die IHRA nennt praktische Beispiele für Antisemitismus und antisemitisches Handeln, die im Folgenden in veränderter und ergänzter Form dargestellt werden: 1. Menschen oder Gruppen rufen zur Tötung/Schädigung von Juden im Namen einer radikalen/extremistischen Ideologie oder einer radikalen/extremistischen Religionsanschauung auf. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 335 GLOSSAR 2. Menschen oder Gruppen fordern zur Beihilfe zu solchen Taten auf oder versuchen, diese zu rechtfertigen. 3. Menschen oder Gruppen bringen falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen einzelne Juden oder die Macht von Juden als Kollektiv vor; dazu können Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle von Medien, Wirtschaft, Regierung oder gesellschaftlichen Institutionen zählen. Dabei werden Nichtjuden als "Handlanger" von Juden dargestellt oder als "Kryptojuden" (geheime Juden). 4. Juden werden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar Nichtjuden (vgl. Punkt 3) verantwortlich gemacht. 5. Leugnung von Tatsachen, des Ausmaßes, der Mechanismen (zum Beispiel von Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Juden durch das nationalsozialistische Regime und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkriegs. 6. Der Vorwurf gegenüber Juden als Volk oder dem Staat Israel, den ( ) Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen. 7. Der Vorwurf, Juden fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen (vgl. Punkt 3) stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer. 8. Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, zum Beispiel durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen. 9. Der Vorwurf, Juden fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen (vgl. Punkt 3) stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer. 10. Die Anwendung doppelter Standards bei der Beurteilung des Staates Israel. 11. Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus oder christlichem Antijudaismus in Verbindung stehen, um Israel, Bürger Israels oder Juden zu beschreiben. 12. Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik des nationalsozialistischen Regimes. 13. Das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen der Regierung, öffentlicher Institutionen oder Parteien des Staates Israel. 14. Die Behauptung, Juden seien am Antisemitismus aufgrund ihrer Verhaltensweise (vgl. Punkte 3-4, 6-7, 9), bestimmter Stereotypen (3, 6-9, 11) oder Handlungen (vgl. Punkt 10, 12-13) selbst verantwortlich. 336 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat erkennen diese Definition an, und die Zivilgesellschaft, die Strafverfolgungsbehörden und die Bildungseinrichtungen orientieren sich daran für eine wirksame Erkennung und Bekämpfung aller Formen von Antisemitismus. So wie andere internationale Organisationen macht die Europäische Kommission in ihrer Arbeit aktiven Gebrauch von dieser Definition, insbesondere auf dem Gebiet der allgemeinen und der beruflichen Bildung. (Vgl. https://www.antisemitismusbeauftragte.nrw/de/ antisemitismus#definition u. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/MEMO_1 9_542, unter diesen Adressen die jeweils komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) ... ist die unter PKK-Anhängern übliche Bezeichnung für ihren inhafApo tierten Anführer Abdullah Öcalan. ... ist eines der sich am dynamischsten verändernden KriminalitätsCyberkriminalität (Cybercrime) phänomene. Täter passen sich flexibel an technische und gesellschaftliche Entwicklungen an, agieren global und greifen dort an, wo es sich aus ihrer Sicht finanziell lohnt. Cybercrime ist heutzutage ein professionelles Geschäft. In der Underground Economy gibt es zahlreiche Marktplätze, auf denen illegale Güter wie Drogen, Waffen oder Kinderpornografie, gestohlene Daten und Identitäten, aber auch Dienstleistungen zur Begehung von Cyberstraftaten angeboten werden. Cyberangriffe haben dabei ein enormes Schadenspotenzial. Sie können für Wirtschaftsunternehmen existenzbedrohend sein und haben bei Angriffen auf KRITIS wie Krankenhäuser oder Energieversorger schnell dramatische Auswirkungen auf die Bevölkerung. (Vgl. https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/ Cybercrime/cybercrime_node.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Salafisten versuchen, ihre Ideologie durch intensive Propagandaakda'wa tivitäten zu verbreiten. Dadurch wollen sie Staat und Gesellschaft in einem langfristigen Prozess nach salafistischen Normen umgestalten. Diese sogenannte da'wa-Arbeit (arab. für Missionierung) betreiben sie insbesondere im Internet. Die zunehmend professionelle Verbreitung der salafistischen Ideologie übt eine beträchtliche Anziehungskraft aus auf vor allem junge, emotional und sozial noch nicht gefestigte Muslime, darunter auch Konvertiten. Für eine Reihe von Personen aus dem salafistisch-jihadistischen Bereich sind die Da'waHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 337 GLOSSAR Aktivitäten ein wesentlicher Baustein in ihrer Radikalisierungsbiographie. Staatliche Maßnahmen, zum Beispiel Vereinsund Moscheeverbote, diverse Durchsuchungsaktionen, Ermittlungsund Strafverfahren gegen jihadistische Protagonisten und konsequente Abschiebungen führten zu einer Verhaltensänderung der salafistischen Szene: Es ist ein Trend zum Rückzug aus der Öffentlichkeit ins Private feststellbar. Szeneangehörige agieren vermehrt in geschlossenen Internetgruppen und vernetzen sich durch klandestine Treffen, zum Beispiel in Wohnungen (Home-Da'wa). - In Hessen ist wieder eine Zunahme öffentlicher Da'wa-Aktivitäten zu beobachten. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/islamismus/ definition/strategie/dawaarbeit/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Dual-Use-Güter Mit der Verordnung (EU) 2021/821 (EU-Dual-Use-VO) hat die EU für alle EU-Mitgliedstaaten gemeinsame Genehmigungspflichten und Verfahrensweisen bei der Ausfuhr, der Vermittlung, der technischen Unterstützung, der Durchfuhr und der Verbringung von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck festgelegt. Hierbei handelt es sich um Güter, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar sind (zum Beispiel bestimmte Chemikalien, Maschinen, Technologien und Werkstoffe, aber insbesondere auch Software oder Technologien). (Vgl. https://www.zoll.de/DE/Fachthemen/AussenwirtschaftBargeldverkehr/Warenausfuhr/Waren/Dual-Use-Gueter/dual-usegueter_node.html, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Faschismus s. "Antifaschismus" Fremdenfeindlichkeit ... richtet sich gegen Menschen, die sich durch Herkunft, Nationalität, (vgl. auch Rassismus) Religion oder Hautfarbe von der als "normal" erachteten Umwelt unterscheiden. Die mit dieser Zuweisung typischerweise verbundenen vermeintlich minderwertigen Eigenschaften werden als Rechtfertigung für einschlägige Straftaten missbraucht. Insbesondere das rechtsextremistische Weltbild ist geprägt von einer Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit, aus der unter anderem Fremdenfeindlichkeit resultiert. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bremen.de/oeffentlichkeitsarbeit/ glossar-11578?begriff=F&lang=de#glossar_2132, abgerufen im April 2023.) 338 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR ... galt als das Grundgesetz nationalsozialistischer Weltanschauung. "Führerprinzip" Es verpflichtete nach dem Motto "Führer befiehl, wir folgen" zu blindem Gehorsam und bedingungsloser Treue gegenüber Adolf Hitler als dem obersten "Führer" sowie die jeweilige Gefolgschaft zu Gehorsam gegenüber den Befehlen der Führer auf mittlerer und unterer Ebene. Das "Führerprinzip" war unter Berufung auf Hitlers Buch "Mein Kampf" als Gegensatz zu jeder Art von demokratischer Entscheidung und Mitbestimmung formuliert und fand im Kult um die Person Hitlers seinen höchsten Ausdruck. Im Willen des Diktators war alle hoheitliche Gewalt des Reichs verkörpert. Nach der damals gültigen Definition des einflussreichen Verfassungsjuristen Ernst Rudolf Huber war die "Führergewalt" nicht durch Kontrollen gehemmt, sie war ausschließlich und unbeschränkt. Mit der Anerkennung des nationalsozialistischen "Führerprinzips" verzichteten die Deutschen auf alle bürgerlichen Rechte der Gestaltung ihrer Verhältnisse und damit auch auf rationale Strukturen der Politik, die nun ausschließlich vom Willen der "Führer" gesteuert wurde. Das "Führerprinzip" galt nicht nur im politischen und sozialen Bereich, auch die Wirtschaft wurde nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam gelenkt. Das "Führerprinzip" war Inbegriff der Selbstaufgabe des Individuums im nationalsozialistischen Staat. Als Anspruch ist das "Führerprinzip" auch für den modernen Rechtsextremismus typisch und kennzeichnender Ausdruck antidemokratischer Gesinnung. (Vgl. https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossierantisemitismus/504210/fuehrerprinzip/, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Der "Führerabsolutismus" (Martin Broszat) gründete sich nicht allein "Führerstaat" auf Hitlers Machtwillen oder besondere persönliche Qualitäten, sondern auch und vor allem auf die Zustimmungsund Unterordnungsbereitschaft in Verwaltung und Gesellschaft sowie auf die besondere Herrschaftsmechanik im nationalsozialistischen Führerstaat. Der "Führer"-Mythos wurde zum gemeinsamen Nenner der inneren Herrschaftsmechanik sowie der Legitimation durch die Gesellschaft. Bereits während der Aufstiegsphase der NSDAP war Hitler zum machtpolitischen und ideologischen Bezugspunkt der nationalsozialistischen Bewegung geworden. Er hatte zudem diese Machtstellung durch die "Führer"-Erwartung innerhalb der NSDAP sowie durch den "Führer"-Kult propagandistisch verstärken bzw. überhöhen können. Nach der Machtübernahme 1933 übertrug sich dieser Prozess der wechselseitigen Verstärkung von allgemeiner Erwartung einer charismatischen Erlöserund Retterfigur und von dem nunmehr staatlichen Kult um den "Führer" auf die gesamte Gesellschaft. (Vgl. Hans-Ulrich Thamer: Ausbau des Führerstaates, http://www.bpb.de /geschichte/nationalsozialismus/dossiernationalsozialismus/ Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 339 GLOSSAR 39550/ausbau-des-fuehrerstaates?p=all, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Gentrifizierung s. "Antigentrifizierung" hadd Gewalt spielt im Salafismus auch als religiös legitimierte Gewalt bei der Vollstreckung des islamischen Rechts eine Rolle. Nach salafistischer Auffassung ist das islamische Recht uneingeschränkt anzuwenden. Das umfasst auch die Verhängung von Körperstrafen für bestimmte Vergehen. Körperstrafen werden im islamischen Strafrecht für zahlreiche Delikte verhängt, so zum Beispiel für die sogenannten Grenzvergehen (von arab. hadd, dt. Grenze) sowie für Mord und Totschlag. Als Grenzvergehen werden diejenigen Verbrechen bezeichnet, die der Koran und die Überlieferungen des Propheten als Kapitalverbrechen benennen und die mit einem bestimmten Strafmaß belegt sind. Sie heißen Grenzvergehen, da sie nicht menschliches Recht, sondern das Recht Allahs verletzen. Es muss daher genau die im Koran bzw. in der Überlieferung vorgesehene Strafe vollstreckt werden, das heißt die irdische Justiz besitzt bei der Festlegung der Strafe keinen Ermessensspielraum. Islamische Juristen schreiben strenge Voraussetzungen für die Tatfeststellung vor, sodass historisch betrachtet solche Strafen sehr selten ausgesprochen wurden. Salafisten ignorieren die islamischen Rechtstraditionen; für sie sind die im Koran verankerten Grenzstrafen gottgewollt und unbedingt anzuwenden. Zu den Grenzvergehen gehören: Ehebruch und Unzucht, Verleumdung/falsche Beschuldigung wegen illegalen Geschlechtsverkehrs, schwerer Diebstahl, schwerer Straßenraub und Raubmord sowie Alkoholgenuss. Die für die Grenzvergehen verhängten Körperstrafen reichen vom Auspeitschen über das Abtrennen von Hand und/oder Fuß bis hin zur Steinigung und Enthauptung. (Vgl. Salafistische Bestrebungen in Deutschland. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz und Landesbehörden für Verfassungsschutz. Köln 2012, S. 10f.) "Heldengedenken" Der Nationalsozialismus ist nach wie vor Vorbild für große Teile der rechtsextremistischen Szene. Die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur werden dabei ausgeblendet. Vor allem die militärische Komponente des Nationalsozialismus übt auf heutige Rechtsextremisten nach wie vor eine hohe Faszination aus. Dies zeigt sich sowohl in der Verehrung der im Zweiten Weltkrieg kämpfenden Verbände, einschließlich der Waffen SS, wie auch in der Leugnung der durch deutsche Soldaten begangenen Verbrechen. 340 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR Viele Rechtsextremisten sammeln Gegenstände mit Bezug zum "Dritten Reich". Dazu zählen neben Fahnen und militärischen Gegenständen auch Bilder und Büsten von maßgeblichen nationalsozialistischen Protagonisten. Darüber hinaus interessieren sich viele Rechtsextremisten für Liedgut, Literatur und Filme des "Dritten Reichs". Die positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus äußert sich auch in der Verehrung, die Rechtsextremisten bis heute nationalsozialistischen Führungspersonen entgegenbringen. Eine besondere Rolle nimmt dabei der Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß ein, der in der neonazistischen Szene als Märtyrer verehrt wird. Heß, der in den Nürnberger Prozessen zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, saß bis zu seinem Selbstmord am 17. August 1987 im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau. Gerade dieses Datum wird von Rechtsextremisten und Neonazis zum Anlass genommen, im Rahmen von Demonstrationen und "Gedenkveranstaltungen" an die ehemaligen nationalsozialistischen Größen zu erinnern und hierbei revisionistische Geschichtsbilder und Verschwörungsnarrative zu den Todesumständen von Heß zu propagieren. Im Kern der rechtsextremistischen Narrative zum Tod von Rudolf Heß steht die Behauptung, dass Heß nicht Selbstmord begangen habe, sondern durch die Alliierten ermordet worden sei. Das Grab von Rudolf Heß befand sich bis 2011 auf dem städtischen Friedhof der Stadt Wunsiedel (Bayern). Der Ort hat für Rechtsextremisten bis heute einen hohen Symbolwert und dient nach wie vor einmal jährlich als Veranstaltungsort für die Partei Der Dritte Weg und ihre "Heldengedenken"-Veranstaltung. Seit 2005 steht in Deutschland die Verherrlichung des nationalsozialistischen Regimes unter Strafe. Auf Grundlage der entsprechenden Strafvorschrift sind seither Rudolf-Heß-Gedenkmärsche in Wunsiedel verboten. Die "Heldengedenken" des Dritten Wegs finden nur noch unter strengen behördlichen Auflagen statt. Unter anderem werden die namentliche Nennung von Rudolf Heß oder andere direkte Bezugnahmen zu seiner Person im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen regelmäßig untersagt. Rechtsextremisten sind daher bestrebt, ihre Verehrung möglichst indirekt auszudrücken bzw. auf andere von konkreten Verbotsauflagen unberührte Personen mit Bezug zum Nationalsozialismus zu beziehen. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/ definition/ideologie/nationalsozialismus/index.html, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags abgerufen im April 2023.) Seit den 1970ern ist Holocaust eine nahezu weltweit gebräuchliche Holocaust Bezeichnung für den Mord an den Juden Europas durch das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Holocaust Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 341 GLOSSAR stammt vom griechischen Wort holocauston ab und bedeutet "Brandopfer" (wörtlich übersetzt ganz verbrannt). Das Symbol des Brandoder Sühneopfers macht den Begriff jedoch insofern zwiespältig, weil die Massenvernichtung keine religiöse oder kultische Handlung war, sondern ein systematisch geplanter und durchgeführter Mord. In Deutschland setzte sich der Begriff ab 1979 durch, nach der Ausstrahlung der gleichnamigen TV-Serie im deutschen Fernsehen. Das Wort Holocaust stellt für viele jüdische Überlebende wegen des ursprünglich christlichen Hintergrunds ein Problem dar, weshalb von Juden auch oft der Begriff Shoah verwendet wird. (Vgl. https://www.yadvashem.org/de/holocaust/lexicon.html, abgerufen im April 2023.) Hybride Bedrohung Unter hybriden Bedrohungen versteht man die illegitime Einflussnahme durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure unter koordiniertem Einsatz verschiedener Methoden (diplomatischer, militärischer, wirtschaftlicher oder technologischer Natur) zur Durchsetzung eigener Interessen, ohne jedoch die Schwelle eines offiziell erklärten Kriegs zu erreichen. Dazu gehört auch die Verbreitung von Desinformationen, die deutlich an Umfang zunehmen und immer ausgefeilter werden. Das Internet bietet ideale Voraussetzungen für Angriffe in Form von Desinformationskampagnen: Sie sind leicht zu tarnen - häufig ist der Akteur nicht nachvollziehbar und bleibt anonym. Sie sind verhältnismäßig kostengünstig umzusetzen und sie können sich enorm schnell und weit verbreiten. Wenn Diskussionen in sozialen Netzwerken gezielt gesteuert werden, Nachrichten manipuliert oder aus dem Kontext gerissen werden, Verwirrung entsteht und öffentliche Debatten beeinflusst werden, dann werden die Angriffe durch Desinformation zur echten Gefahr. Offene, pluralistische und demokratische Gesellschaften sind anfällig für illegitime Einflussoperationen, weil sie Akteuren viele Angriffsflächen für offene und verdeckte Aktivitäten bieten. Oft dient Desinformation dazu, das Vertrauen in staatliche Stellen zu untergraben und durch das Befeuern kontroverser Themen gesellschaftliche Konflikte zu vertiefen. Werden beispielsweise Verschwörungsund Untergangserzählungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie von fremden Staaten aufgegriffen und verstärkt, kann dies die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gefährden. Auch mittels Cyberangriffen können fremde Staaten Desinformationskampagnen vorbereiten. (Vgl. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/ DE/2020/12/hybride-bedrohungen.html u. https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/umgang-mitdesinformation/cybersicherheit-desinformation-1872752, hier die 342 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR kompletten Fassungen des oben gekürzten Glossareintrags abgerufen im April 2023.) ... (griechisch für Wissenschaft der Anschauungen) sind identitätsstifIdeologie tende Ideensysteme, die Wertund Handlungsorientierungen prägen. Der Begriff ist bis heute mehrdeutig und vielschichtig. Er wird deskriptiv und negativ-wertend gebraucht. Nebeneinander stehen seine sozialkritische und seine erkenntniskritische Verwendung. Die Unbestimmtheit des Begriffs wird auch in seiner Geschichte deutlich. Die im deutschen Sprachgebrauch vorherrschende negativwertende Bedeutung sagt aus, dass Ideologien zur Verabsolutierung des Partiellen neigen, dass sie Vorurteile und Ressentiments durch einseitige Wahrnehmungsmuster fördern, dass sie illusionäre und realitätsferne Weltdeutungen propagieren. (Vgl. Reinhard Hempelmann, Ideologie/Ideologiekritik, https://www.ezw-berlin.de/publikationen/lexikon/ideologie-/ -ideologiekritik/ideologie, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) ... seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlicher Begriff für ungleiche reImperialismus gionale Beziehungen, die mit direkten oder indirekten Formen der Beherrschung bzw. der Abhängigkeit zwischen Staaten/Regionen verbunden sind. Als formelle Gebietsherrschaft ist der Imperialismus besonders in seiner klassischen Phase (etwa 1880-1914) durch häufig gewaltsam herbeigeführte Kolonialisierung in Erscheinung getreten. Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff mit informellen Herrschaftsformen politisch, wirtschaftlich oder militärisch mächtiger Staaten oder auch großer, multinationaler Unternehmen in Verbindung gebracht. Für die Anthropogeographie, die sich mit der geographischen Verbreitung des Menschen bzw. von Menschengruppen auf der Erde, deren historischen, kulturellen und ökologischen Ursachen sowie mit den Beziehungen der Gesellschaften zu ihrer physischen Umwelt beschäftigt, haben die marxistischen Interpretationen des Imperialismus große Bedeutung. Sie begründen einen kapitalismuskritischen ( ) Antiimperialismus, der das globale Kräftespiel und seine Folgen für abhängige Regionen zum Gegenstand hat. (Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/imperialismus/ 3701 u. https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/ anthropogeographie/3967, unter diesen Adressen die kompletten Fassungen des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 343 GLOSSAR Internationale Rote Hilfe (IRH) Auf Initiative der KPD wurden in Deutschland nach den Märzkämpfen 1921 provisorische Rote-Hilfe-Komitees zur Unterstützung der "politischen Gefangenen" eingerichtet. Aufgrund des Beschlusses des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationalen, eine Organisation zur Unterstützung der "Opfer des Klassenkampfes" zu schaffen, wurde die IRH am 30. November 1922 in Moskau (Russland) gegründet. In vielen Ländern entstanden nationale Sektionen, so auch 1924 die Rote Hilfe Deutschlands. Die IRH verstand sich als eine überparteiliche Solidaritätsorganisation, welche die moralische, juristische und materielle Hilfe für die Opfer von politischer Justiz und Terror organisierte. Im Zweiten Weltkrieg stellte die IRH als internationale Organisation ihre Tätigkeit ein. (Vgl. https://portal.ehri-project.eu/units/de-002429-ry_8, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) jihad ... meint wörtlich Bemühung oder auch Anstrengung. Die islamische Tradition kennt sowohl den "kleinen Jihad" als auch den "großen Jihad". Der "große Jihad" ist friedlich. Er bezeichnet das geistig-spirituelle Bemühen der Gläubigen um das richtige religiöse und moralische Verhalten gegenüber Gott und den Mitmenschen. Der "kleine Jihad" ist kriegerisch. Er beschreibt den kämpferischen Einsatz zur Verteidigung oder Ausdehnung des islamischen Herrschaftsgebiets. Von militanten Gruppen wird der Jihad häufig als religiöse Legitimation für Terroranschläge oder Befreiungskämpfe verwendet. (Vgl. https://antworten-auf-salafismus.de/salafismus/jihad-dschihad/ index.php, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Kalifat .. ist eine autokratische Herrschaftsform, in der sowohl die politische als auch die religiöse Herrschaft durch eine Person, das heißt den Kalifen, ausgeübt wird. (Vgl. Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam, Bd. 1. Hrsg. v. Richard Heinzmann in Zusammenarbeit mit Peter Antes, Martin Thurner, Mualla Selcuk u. Halis Albayrak. Freiburg, Basel u. Wien 2013, S. 392f.) Kameradschaften Das von Neonazis gegen Mitte der 1990er Jahre entwickelte "Kameradschaftsmodell" sah die Gründung von kleineren, lokal oder regional verankerten Personenzusammenschlüssen mit festem Aktivistenstamm, jedoch ohne starre Organisationsstruktur vor. Das Modell war als Reaktion auf die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ausgesprochenen Vereinsverbote gedacht und sollte die Handlungsund Ak344 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR tionsfähigkeit der Neonaziszene sicherstellen. Mitglieder von Kameradschaften rechnen sich in der Regel den neonazistisch geprägten sogenannten Freien Kräften zu. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/ glosaareintraege/DE/K/kameradschaften.html, abgerufen im April 2023.) Unter "Kapitalismus" verstehen Linksextremisten die untrennbare "Kapitalismus" Einheit von marktwirtschaftlicher Eigentumsordnung und demokratischem Rechtsstaat, welche allein der Erhaltung von Ausbeutungsund Unterdrückungsverhältnissen diene. Wenn sie den "Kapitalismus" adressieren, meinen Linksextremisten damit immer auch die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die von Linksextremisten als notwendig erachtete Überwindung des "Kapitalismus" könne nicht durch politische Reformen, sondern nur durch einen Umsturz der bisherigen Staatsund Gesellschaftsordnung erfolgen. Von der linksextremistischen Interpretation des Begriffs "Kapitalismus" klar abzugrenzen sind allgemeinsprachliche Begriffsverwendungen wie beispielsweise Kapitalismus als Bezeichnung für die Wirtschaftsordnung oder für eine wirtschaftsgeschichtliche Epoche. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/DE/service/glossar/ Functions/glossar.html?cms_lv2=678602, abgerufen im April 2023.) ... ist ein politisch-ideologischer Sammelbegriff, häufig synonym für Kommunismus Sozialismus verwendet, für Vorstellungen von einer durch vollständige Gütergemeinschaft geprägten Gesellschaftsform. Sieht man von den kommunistischen Ideen und Praktiken urchristlicher Gemeinden und späterer Sekten, von den Utopien des Thomas Morus und Tomaso Campanella und den französischen Gesellschaftsutopisten des 18. Jahrhunderts ab, so ist die von Karl Marx und Friedrich Engels im Rahmen ihrer Geschichtsund Gesellschaftstheorie entwickelte Zukunftsgesellschaft der bekannteste Entwurf einer kommunistischen Lebensform. Beide gehen von der Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft mit einem "gänzlich gewandelten Menschen" aus, in der die Produktionsmittel sozialisiert sind, die Produktivkräfte ein Niveau erreicht haben, das es erlaubt, die für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeit erheblich zu reduzieren und das Mehrprodukt für eine reichhaltige Bedürfnisbefriedigung aller zu nutzen, der Arbeitsprozess sich - unter Verzicht auf die Zwänge der Arbeitsteilung, von Leistungsanreizen und -kontrollen - als ein Feld der Selbstverwirklichung erweist, der Zusammenhang zwischen individueller Produktivität und Konsumtionsmöglichkeit aufgehoben ist. Fraglich bleibt bei dieser Zukunftsvision, wie die Produktivkräfte das für das Endstadium des Kommunismus erforderliche LeistungsHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 345 GLOSSAR niveau erreichen. Ferner bleibt offen, unter welchen Ordnungsbedingungen dieser Zustand - im Falle seines Erreichens - erhalten werden kann. Bei Marx und Engels ist die Rede vom "Absterben des Staates", von der "Gesamtheit der Genossenschaften" und dem "Verein freier Menschen", die sich mit Hilfe einer zentralen, gleichwohl freiwilligen Planwirtschaft organisieren. Aus solchen vagen Hinweisen lassen sich sowohl die Ordnungsvorstellungen einer Rätedemokratie oder Arbeiterselbstverwaltung als auch die einer Zentralverwaltungswirtschaft als Wegweiser zum Kommunismus ableiten. Fraglich bleibt auch, wie die "gänzlich gewandelten Menschen", die Marx für den Zustand des Kommunismus unterstellt, hervorgebracht werden können. Die von Wladimir I. Lenin begründete Konzeption einer Erziehung zum "neuen Menschen" geht offensichtlich von der Vorstellung aus, dass die Menschen - mangels "richtiger" Ordnungsbedingungen - zu den "richtigen" Verhaltensweisen erzogen werden können. (Vgl. http://www.wirtschaftslexikon24.com/d/kommunismus/ kommunismus.htm, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Konservative Revolution ... bezeichnet eine geistig-politische Sammelbewegung jungkonservativer Kräfte in der Weimarer Republik (1918-1933), die sich für einen autoritären Staat einsetzten und den liberalen Werten der Weimarer Demokratie deutlichen Widerstand entgegenbrachten. Sie grenzten sich sowohl von den Ideen der Französischen Revolution und der Aufklärung wie von bloßer Restauration ab und forderten nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs eine "neue abendländische Einheit unter deutscher Führung". Die Konservative Revolution verstand sich als Gegenrevolution, die nach dem Umsturz der bestehenden Ordnung konservative Maßstäbe setzen und die Auflösung der abendländischen Kultur verhindern wollte. Durch eine Rede Hugo von Hofmannsthals im Jahre 1927 wurde die paradoxe Wortkombination zum politischen Schlagwort. Die Ideen der Konservativen Revolution bildeten keine politische "Lehre" oder geschlossene Weltanschauung, sondern sie waren geprägt durch unterschiedlichste Strömungen. Gemeinsam war ihnen die Kritik am Liberalismus, Parlamentarismus und am Weimarer Parteienstaat, der mit der deutschen Kultur nicht in Einklang zu bringen und dem Deutschen Reich nach dessen Niederlage im Ersten Weltkrieg aufgezwungen worden wäre. Die Konservative Revolution versuchte demgegenüber einen eigenständigen "deutschen Weg" aufzuzeigen. Eine harmonische Volksgemeinschaft sollte an die Stelle des konfliktbeladenen Parteienstaats und der modernen, in verschiedene Klassen gespaltenen Gesellschaft treten, geführt von einer allen Parteieneinflüssen unabhängigen, freien Staatsspitze. 346 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR Obwohl nie streng parteipolitisch organisiert, hatten die intellektuellen Vertreter der Konservativen Revolution wie Edgar Jung, der einen durch eine Elite geführten autoritären Staat propagierte, großen Einfluss auf die Ausprägung des politischen Bewusstseins der jüngeren Kriegsgeneration. Deren Erfahrungen im Ersten Weltkrieg versuchte die Konservative Revolution in die Politik der 1920er Jahre miteinzubringen. Die Gemeinschaft in den Schützengräben des Kriegs sollte als Grundlage der nun "wiedererwachenden" Volksgemeinschaft dienen. Einer der Haupttheoretiker der Konservativen Revolution war Arthur Moeller van den Bruck, dessen Buchtitel "Das dritte Reich" von den Nationalsozialisten als politisches Schlagwort übernommen wurde. Wesentliche Einflüsse gingen auch von der pessimistischen Kulturphilosophie Oswald Spenglers aus, die er in seinem zweibändigen Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes" (1918-1922) entwickelte. In ihren sozialromantischen, antiparlamentarischen und antidemokratischen Tendenzen wurden Gruppen der Konservativen Revolution zu geistigen Wegbereitern des ( ) Nationalsozialismus. (Vgl. Arnulf Scriba u. Daniel Wosnitzka, Konservative Revolution, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/innenpolitik/ konservative-revolution.html, abgerufen im April 2023.) ... ist das heilige Buch des Islams, das die vom Propheten Mohammed Koran verkündeten Offenbarungen Allahs enthält. Der Koran ist in 114 Abschnitte (Suren) unterteilt, die Erzählungen über Propheten, Weissagungen, Belehrungen, Vorschriften, Predigten und die Auseinandersetzungen mit "heidnischen" Mekkanern, Juden und Christen umfassen. Die islamische Welt betrachtet den Koran als Gesetzbuch und als religiöse Unterrichtung. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. der Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 370-372, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags.) ... bedeutet Unglaube oder etwas zu leugnen - im koranischen Kufr Sprachgebrauch ist es die Leugnung der Offenbarung des Korans und des Gesandten Muhammad und bezog sich ursprünglich auf die Polytheisten Mekkas. Dabei kann auch das Vertreten bestimmter, als unislamisch verstandenen Positionen als kufr bezeichnet werden. Dabei gilt es zwischen dem größeren, kufr akbar, und dem kleineren Unglauben, kufr asghar, zu unterscheiden: Ersterer führt zur Aberkennung des Muslimseins und Ausgrenzung aus der islamischen Gemeinschaft (Umma), letzterer kann vergeben werden. Ein Ungläubiger ist ein kafir (Plural kuffar), und die Handlung, einem Muslim Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 347 GLOSSAR sein Muslimsein abzusprechen, heißt takfir. Die Unterteilung der Welt in zwei Pole - Muslime und Nichtgläubige, Islam und Unglaube - ist ein zentraler Bestandteil islamistischer Strömungen. (Vgl. Simon Conrad, Kufr, https://www.kas.de/de/web/extremismus/ islamismus/kufr, abgerufen im April 2023.) Laizismus ... ist eine Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich entstandene Bezeichnung für eine politische Bewegung, die sich gegen jeden Einfluss des Klerus auf Staat, Kultur und Erziehung wendet, sich für die Trennung von Staat und Kirche ausspricht und die Kirchen in den rein sakralen Bereich zurückdrängen will. (Vgl. https://www.wissen.de/lexikon/laizismus, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Maoismus ... ist die außerhalb Chinas gebräuchlich Bezeichnung für die Gesamtheit der Lehren Mao Zedongs sowie für die von ihm maßgeblich bestimmte Theorie und Praxis des chinesischen Kommunismus. Der Maoismus ist kein geschlossenes Gedankensystem. Er verbindet Gedanken des Marxismus-Leninismus mit traditionell chinesischen Elementen. Das im "Westen" verbreitete Bild des Maoismus wurde besonders durch die Art und Weise geprägt, wie er in den Jahren der "Kulturrevolution" (1966-1969) in Erscheinung trat: * die betont nationale Ausrichtung, * die Ablehnung einer zentralen Führung der kommunistischen Weltbewegung, * die Verbundenheit mit der Dritten Welt im Kampf gegen die Supermächte, * die Auffassung, dass die armen Bauern (und nicht das Proletariat) die Hauptkraft der Revolution bilden, * die Konzeption der Machteroberung durch Guerillakrieg von ländlichen Stützpunkten aus, * die Auffassung, dass Klassenkampf und Revolution auch unter sozialistischen Verhältnissen fortdauern. Der Maoismus ist verantwortlich für Millionen von Opfern unter der chinesischen Bevölkerung (so etwa während der Zeit des "Großen Sprungs nach vorn" und während der "Kulturrevolution"). (Vgl. https://www.wissen.de/lexikon/maoismus, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Marxismus ... ist eine von Karl Marx und Friedrich Engels begründete Gesellschaftslehre und Theorie der politischen Ökonomie, zu deren Kern348 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR punkt die von Marx kritisierten kapitalistischen Produktionsverhältnisse in seiner Zeit gehören. Danach wird die Gesellschaft nicht durch die politischen, rechtlichen oder moralischen Vorstellungen bestimmt, sondern durch den Fortschritt der materiellen Produktionstechnik. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bewirken nach marxistischer Auffassung, dass sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung vertieft und der wirtschaftliche Reichtum nur von der Arbeiterklasse (Proletariat) geschaffen wird, während sich der Reichtum und das Eigentum an den Produktionsmitteln in den Händen immer weniger Kapitalisten konzentriert. Dieser, von Marx als Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktion bezeichnete Gegensatz zwischen gesellschaftlicher Produktion durch die Arbeiterklasse und der privaten Aneignung der Gewinne durch die Kapitalisten, kann nur durch die revolutionäre Erhebung der Arbeiterklasse beseitigt werden. Die Arbeiterklasse enteignet dabei die Kapitalisten, und das Eigentum an den Produktionsmitteln wird in Gesellschaftseigentum überführt. Der ( ) Kapitalismus wird vom Sozialismus abgelöst. Letztlich wird aber die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft im ( ) Kommunismus angestrebt. (Vgl. https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/ 20092/marxismus, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) ... ist im Unterschied zum Polytheismus das Bekenntnis und die VerMonotheismus ehrung nur eines einzigen Gottes, der im Glauben als personales Gegenüber verstanden wird und im Verständnis der Gläubigen als Schöpfer und Erhalter der Welt gilt. Theologisch zeichnet sich der Monotheismus somit durch den Ausschließlichkeitscharakter und Universalitätsanspruch Gottes aus. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. d. Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 442f.) ... sammeln Informationen über die innere oder äußere Sicherheit eiNachrichtendienste nes Staats gefährdende Bestrebungen und werten sie aus. Hierbei können die Nachrichtendienste verdeckt arbeiten. Die Ergebnisse der Analyse werden in Berichtsform zusammengefasst und den politischen Entscheidungsträgern sowie den Kontrollgremien zur Verfügung gestellt. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es drei Nachrichtendienste: den Inlandsnachrichtendienst in Gestalt der Verfassungsschutzbehörden (BfV und LfV), den Auslandsnachrichtendienst BND sowie das BAMAD. Der Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland ist föderal organisiert. Dementsprechend existieren 17 Verfassungsschutzbehörden, ein Bundesamt (BfV) und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 349 GLOSSAR 16 LfV. Sie arbeiten gemäß dem Bundesverfassungsschutzgesetz bzw. Landesverfassungsschutzgesetzen in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zusammen. Die Verfassungsschutzbehörden der Länder können als untergeordnete Abteilung unmittelbar im jeweiligen Innenministerium angesiedelt sein oder sind als eigenständige Landesoberbehörde dem jeweiligen Innenministerium nachgeordnet. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/ glosaareintraege/DE/N/nachrichtendienste.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Nationalismus ... bezeichnet eine Ideologie, die die Merkmale der eigenen ethnischen Gemeinschaft (zum Beispiel Sprache, Kultur, Geschichte) überhöht, als etwas Absolutes setzt und in dem übersteigerten (in der Regel aggressiven) Verlangen nach Einheit von Volk und Raum mündet. (Vgl. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17889/ nationalismus/, abgerufen im April 2023.) Nationalistische Türken ... s. Ülkücü-Bewegung. Nationalsozialismus ... umfasst die von Adolf Hitler geprägte Ideologie und Herrschaft der NSDAP (ab 1920, 1919 als Deutsche Arbeiterpartei, DAP, gegründet). Offizielles Symbol der NSDAP war das Hakenkreuz, als Sonnenrad in vielen Kulturen bekannt und ab Ende des 19. Jahrhunderts bei völkischen und antisemitischen Gruppen verwendet. Die Hakenkreuzfahne entwarf Hitler 1920. Nationalsozialismus als Ideologie basierte unter anderem auf der Schrift "Nationaler Sozialismus" von Rudolf Jung (1919) sowie maßgeblich auf den von Hitler 1920 verkündeten 25 Punkten des NSDAP-Parteiprogramms, auf Hitlers Buch "Mein Kampf" (1925/26) und den Schriften von Alfred Rosenberg. Kernelemente waren ( ) Sozialdarwinismus, deutsches Volkstum, ( ) Rassismus, ( ) Antisemitismus, Antibolschewismus sowie Ablehnung von Demokratie und Liberalismus. Das Naturrecht pervertierend und die Ideologie dem taktischen Bedarf anpassend, wurde aus dem angeblichen "Naturrecht des Stärkeren" vieles abgeleitet: das ( ) Führerprinzip, die Überlegenheit der "arisch-nordischen Rasse" mit deutscher ( ) "Volksgemeinschaft" und deutscher Kultur als Kern, die Minderwertigkeit von Juden, "Farbigen", "Zigeunern", Slawen, die Aberkennung des Lebensrechts von Behinderten, die Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung von politischen Gegnern, Juden, Homosexuellen, "Asozialen", die Eroberung von "Lebensraum" durch Angriffsund Vernichtungskriege. Der Nationalsozialismus gab sich teils vage religiös und "gottgläubig", teils nationalkirchlich im Sinn 350 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR der Deutschen Christen, teils agnostisch und atheistisch. Nationalsozialismus als konkrete Herrschaftsausübung beruhte auf rücksichtsloser Gewalt in allen Formen, von der Ausschaltung von Demokratie und Rechtsstaat über den Konformitätsdruck in Betrieb, Schule sowie Hitlerjugend und über soziale Ausgrenzung und Beraubung zum Straßenterror der Sturmabteilung (SA), zur Polizeiwillkür der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), zu den Konzentrationslagern der SS, zum Brennen und Morden im Krieg bis zum ( ) Holocaust. Dem dienten, in manchem ans faschistische und sowjetische Vorbild angelehnt, Organisierung und Mobilisierung möglichst aller Bereiche von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft unter der Führung der Partei sowie Terror nach innen und außen. (Vgl. Peter Geiger, Nationalsozialismus (NS), https://historischeslexikon.li/Nationalsozialismus_(NS), hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Unter die Bezeichnung Neue Rechte wird ein informelles Netzwerk Neue Rechte von Gruppierungen, Einzelpersonen und Organisationen gefasst, in dem nationalkonservative bis rechtsextremistische Kräfte zusammenwirken, um anhand unterschiedlicher Strategien teilweise antiliberale und antidemokratische Positionen in Gesellschaft und Politik durchzusetzen. Hierfür werden parlamentarische und außerparlamentarische Bewegungen, metapolitische Theoriebildung und Praxis - also die Einflussnahme auf den vorpolitischen Raum, die den Boden für die erfolgreiche politische Verwirklichung dieser antidemokratischen Positionen bereiten soll - mit Protest und Demonstrationsinitiativen eng verzahnt. Die Akteure füllen innerhalb dieses Netzwerks unterschiedliche und teils komplementäre Funktionen und Rollen aus, die dem gemeinsamen Ziel einer "Kulturrevolution von rechts" dienen sollen und sich jeweils an unterschiedliche Zielgruppen richten. Rechtsextremistische Bezüge ergeben sich aus Verstößen gegen die Menschenwürde, das Rechtsstaatsund/oder das Demokratieprinzip in unterschiedlicher Ausformung. (Vgl. Verfassungsschutzbericht 2021. Hrsg. v. Bundesministerium des Innern und für Heimat. Berlin 2021, S. 72f, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags von S. 72 bis 82.) Das alljährliche von den Kurden begangene Newroz-Fest bedeutet Newroz neuer Tag und wird als Beginn eines neuen Jahres und des Frühlings gefeiert. Newroz geht historisch auf die Legende eines kurdischen Schmieds (kurd. Kawa) zurück, der zum Widerstand gegen einen Tyrannen aufgerufen und diesen in der Nacht vom 20. auf den 21. März im Jahre 612 v. Chr. erschlagen und dessen Palast in Brand gesetzt haben soll. Eine große Rolle spielt daher beim Newroz-Fest die FeuHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 351 GLOSSAR ersymbolik und die in diesem Kontext häufig durchgeführten Fackelzüge. Neben dem Internationalen Kurdischen Kulturfestival im September ist das kurdische Neujahrsfest gleichzeitig die größte PKKnahe Massenveranstaltung in Hessen, Deutschland und in Europa. Im Jahr 2017 (30.000 Teilnehmer) und 2019 (25.000 Teilnehmer) fanden bereits zentrale bundesweite Newroz-Feiern in Frankfurt am Main statt. Im Verlauf dieser Veranstaltungen kam es zu zahlreichen Verstößen gegen das Vereinsund Versammlungsgesetz. Newroz wird von allen - auch nichtextremistischen - Kurden gefeiert. Outings Als besondere Form der "Aufklärung" praktizieren Linksextremisten das Outing: Sie publizieren private Informationen von tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtsextremisten. Sowohl Gruppierungen als auch Einzelpersonen können zu Zielen werden. Namen, Adressen, Bilder, Telefonnummern, Arbeitgeber sowie private Lebensumstände und Gewohnheiten von tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtsextremisten werden systematisch und über einen längeren Zeitraum ausgeforscht, teilweise über Jahre hinweg. Auf die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen nehmen die Akteure keine Rücksicht. Der Zweck solcher Aktionen ist es, die Betroffenen einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren, bloßzustellen und als "Nazi" zu brandmarken. Als Outing-Plattform dient allem die überwiegend von Linksextremisten genutzte Internetseite de.indymedia.org. Flugblattverteilungen und Plakataktionen im unmittelbaren Umfeld des "Geouteten" sind weitere beliebte Methoden, um die gesammelten Informationen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. In Einzelfällen wird entsprechendes Material bestimmten Presseorganen oder dem Arbeitgeber zugespielt. Die Möglichkeit, dass ein derart öffentlich präsentierter politischer Gegner persönlichen Gefährdungen und Benachteiligungen ausgesetzt ist, wird zumindest billigend in Kauf genommen. (Vgl. https://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/Outingaktionen+ der+gewaltorientierten+linksextremistischen+Szene+zum+Nachteil+von+Zentrum+Automobil+e_+V_, abgerufen im April 2023.) Personenpotenzial, ... ist ein verfassungsschutzspezifischer Begriff, unter dem die extremistisches Bezifferung der Menge all jener Personen verstanden wird, die einem extremistischen Phänomenbereich, zum Beispiel dem Rechtsextremismus, zugerechnet wird. Das Personenpotenzial eines Phänomenbereichs setzt sich aus dem Personenpotenzial der einzelnen Beobachtungsobjekte zusammen. Die kontinuierliche Beobachtung des Personenpotenzials seitens des Verfassungsschutzes dient der Einschätzung der personellen Entwicklung und somit der Reichweite und Handlungsfähigkeit der jeweiligen extremistischen Gruppierungen. 352 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR Grundsätzlich werden einem Personenzusammenschluss bzw. einem Beobachtungsobjekt alle jene Personen zugerechnet, die ihm entweder erkennbar angehören oder dessen Ziele nachhaltig unterstützen. Ein Beobachtungsobjekt kann jedwede Gruppierung sein, von einer Partei bis hin zu einem losen Personenzusammenschluss. In der Folge ist auch die Art der Bindung der Personen an die jeweilige Gruppierung unterschiedlich. Zum Personenpotenzial zählen daher unter anderem Funktionäre, Mitglieder, Angehörige oder Aktivisten, aber auch solche Personen, die eine Gruppierung offen oder verdeckt unterstützen, etwa durch die Teilnahme an Veranstaltungen oder Spenden. Da nicht alle Personen über längere Zeiträume kontinuierlich in einer oder für eine Gruppierung aktiv sind, muss die Angabe eines Personenpotenzials unter Einbeziehung und sorgfältiger Abwägung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse geschätzt werden. ... ist ein antiimperialistischer Zusammenschluss von revolutionärPerspektive Kommunismus (PK) kommunistisch ausgerichteten Gruppen mit einem marxistisch-leninistischen Weltbild. Ihr Ziel ist die revolutionäre Überwindung des "kapitalistischen Systems". Hierfür bemüht sich die PK um eine "bundesweite revolutionäre Organisation" als "reale Gegenmacht zur Macht von Staat und Kapital". (Vgl. https://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/_Perspektive+ Kommunismus_+verteidigt+_antifaschistische+Gewalt_+und+fordert+_revolutionaeren+Aufbauprozess_, abgerufen im April 2023.) Zum 1. Januar 2001 wurden mit Beschluss der InnenministerkonfePolitisch motivierte Kriminalität renz das Definitionssystem PMK sowie die Richtlinien für den Krimi(PMK) nalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität eingeführt, um für politisch motivierte Straftaten eine einheitliche polizeiliche Datenerhebung, -erfassung und -auswertung zu ermöglichen. Der PMK werden alle Straftaten zugeordnet, die einen oder mehrere Straftatbestände der sogenannten klassischen Staatsschutzdelikte erfüllen, dies unabhängig davon, ob eine politische Motivation im Einzelfall festgestellt werden kann. Zu den Staatsschutzdelikten zählen unter anderem: Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit, Straftaten gegen ausländische Staaten, Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen, Bildung terroristischer Vereinigungen, Bildung krimineller oder terroristischer Vereinigungen im Ausland sowie Volksverhetzung. Neben den Staatsschutzdelikten fallen unter die PMK auch diejenigen Straftaten, die in der Allgemeinkriminalität begangen werden können (wie zum Beispiel Tötungsund KörperverletzungsHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 353 GLOSSAR delikte, Brandstiftungen, Widerstandsdelikte, Sachbeschädigungen), wenn in Würdigung der gesamten Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte für eine politische Motivation gegeben sind. Die von der PMK erfassten Straftaten werden folgenden staatsschutzrelevanten Phänomenbereichen zugeordnet: * PMK - rechts: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie einer rechten Orientierung zuzurechnen sind, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftsetzung oder Abschaffung eines Elements der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben muss, insbesondere wenn Bezüge zum völkischen ( ) Nationalismus, ( ) Rassismus, ( ) Sozialdarwinismus oder ( ) Nationalsozialismus ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren. * PMK - links: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie einer linken Orientierung zuzurechnen sind, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftsetzung oder Abschaffung eines Elements der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben muss, insbesondere wenn Bezüge zu ( ) Anarchismus oder ( ) Kommunismus einschließlich Marxismus ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren. * PMK - ausländische Ideologie: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine aus dem Ausland stammende nichtreligiöse Ideologie entscheidend für die Tatbegehung war, insbesondere wenn die Tat darauf gerichtet ist, Verhältnisse und Entwicklungen im Inund Ausland zu beeinflussen. * PMK - religiöse Ideologie: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine religiöse Ideologie entscheidend für die Tatbegehung war und die Religion zur Begründung der Tat instrumentalisiert wird. Wichtig ist: Im Rahmen der PMK wird zwischen politisch und extremistisch motivierten Straftaten unterschieden, das heißt, extremistisch politisch motivierte Straftaten sind Delikte, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie auf die Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzielen. Sie werden als extremistisch motiviert eingestuft und stellen als solche lediglich eine Teilmenge der PMK dar. (Vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/579832/ %E2%80%A6/WD-7-194-18-pdf-data.pdf, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Proliferation ... bezeichnet man die Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Waffensystemen bzw. der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte, einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows, sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen. 354 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR Für die Verfassungsschutzbehörden ist daher die Aufklärung von Proliferationsaktivitäten ein Aufgabenschwerpunkt geworden. Aufklärungsbemühungen gestalten sich allerdings immer schwieriger, da die nachrichtendienstlich gesteuerte Beschaffung von Technologien zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen einem permanenten Versteckspiel gleichkommt. Ein wesentliches Charakteristikum der Proliferation besteht darin, dass sich die Weiterverbreitung "indirekt" vollzieht. Sogenannte proliferationsrelevante Staaten - hierzu zählen Nordkorea, Pakistan, Syrien und allen voran der Iran - versuchen, mit nachrichtendienstlich gesteuerter Hilfe und unter Umgehung internationaler Exportbestimmungen Güter zu kaufen, die angeblich wissenschaftlichen oder zivilen Zwecken dienen, tatsächlich aber zum Aufbau und zur Komplettierung von Massenvernichtungswaffenprogrammen bestimmt sind. Eigens zu diesem Zweck richten sie Scheinfirmen mit unverdächtigen Namen und Geschäftsbereichen ein. Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Lieferung in das Empfängerland häufig über Drittländer erfolgt, um den tatsächlichen Endempfänger zu verschleiern. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.niedersachsen.de/startseite/ spionageabwehr/proliferation/proliferation-54236.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Allen Rechtsextremisten gemeinsam ist die Auffassung, die ZugehöRassismus/ rigkeit zu einer Ethnie, Nation oder "Rasse" entscheide über den Wert Fremdenfeindlichkeit eines Menschen. Rassisten gehen von nicht oder kaum veränderbaren "Rassen" aus. Sie leiten daraus "naturbedingte" Besonderheiten und Verhaltensweisen von Menschen ab und unterscheiden zwischen "höherwertigen" und "minderwertigen" Menschen. Mit der Bezeichnung als "Rasse" werden Menschen nach ethnischen Besonderheiten in Gruppen aufgeteilt. Ab Ende des 17. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert versuchten zahlreiche Wissenschaftler dies zu belegen. Sie scheiterten allesamt. Dennoch fand der Rassismus weite Verbreitung. Über die Kriterien zur trennscharfen Definition von "Rassen" bestand keine Einigkeit. Die Anhänger des "Rasse"-Konzepts benannten die verschiedensten Unterscheidungsmerkmale. Mal war von nur zwei, mal von über 60 "Rassen" die Rede. Bis heute sind menschliche "Rassen" biologisch nicht belegt. Belegt sind dagegen soziologische Funktionen des Rassismus: "Rassen" werden bemüht, um Menschen auszugrenzen und Zugehörigkeit zu erzeugen. Das "Rasse"-Modell bietet einfache Erklärungen. Rechtsextremisten finden es daher attraktiv. Rassisten meinen, "Rassen" optisch unterscheiden zu können. Äußere Merkmale werden dadurch zum entscheidenden Kriterium, ob einer Person bestimmte Rechte zustehen oder nicht. Rassisten in DeutschHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 355 GLOSSAR land werten die "weiße" bzw. "arische Rasse" auf und sehen alle anderen "Rassen" als minderwertig an. Dabei haben sie keine einheitliche Vorstellung einer "weißen" oder "arischen Rasse": Die einen denken dabei an "Deutsche" und Skandinavier, andere meinen alle Europäer, einige verstehen darunter alle optisch als "Weiße" erkennbare Menschen. Nach der Vorstellung von Rechtsextremisten soll das deutsche Volk vor der Integration "rassisch minderwertiger Ausländer" und vor einer "Völkervermischung" bewahrt werden. Rechtsextremisten befürchten den Untergang der "Rasse" des deutschen Volks infolge einer "Durchmischung mit fremdem Blut". Der Rassismus verstößt gegen elementare Menschenrechte und damit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die Ausgrenzung jener Menschen, die nicht dem "rassischen" Ideal der Rechtsextremisten entsprechen, widerspricht dem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Die Würde des Menschen ist bedingungsund voraussetzungslos jedem Menschen eigen und nicht von der biologisch-genetischen Teilhabe an der Volksgemeinschaft abhängig (Art. 1 GG). (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/ definition/ideologie/rassismus/index.html, abgerufen im April 2023.) Revisionismus, Der das Bestreben nach einer kritischen Überprüfung von Erkenntrechtsextremistischer nissen beschreibende Begriff Revisionismus wird von Rechtsextremisten zur Umdeutung der Vergangenheit verwendet. Ihnen geht es dabei nicht um eine wissenschaftlich objektive Erforschung der Geschichte, sondern um die Manipulation des Geschichtsbilds, um insbesondere den Nationalsozialismus in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen. Man kann unterscheiden zwischen einem Revisionismus im engeren Sinn, der den Holocaust leugnet, und einem Revisionismus im weiteren Sinn, der etwa die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bestreitet. Der zeitgeschichtliche Revisionismus bedient sich unterschiedlicher Aussagen und Methoden. So enthält die Leugnung des ( ) Holocausts, das Ausmaß der Ermordung von Millionen europäischer Juden durch das nationalsozialistische Regime zu verharmlosen oder sogar abzustreiten. Dabei werden vorhandene Dokumente auf unseriöse Weise fehlinterpretiert oder fadenscheinige Vorwände zur Leugnung der Ereignisse gesucht. Forschungsergebnisse seriöser Historiker, die eindeutig belegen, dass die "Endlösung der Judenfrage" unzweifelhaft stattgefunden hat, werden durch rechtsextremistische Revisionisten bewusst ignoriert. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bremen.de/oeffentlichkeitsarbeit/ detail.php?gsid=bremen77.c.11578.de&template=20_glossar_d&l ang=de&begriff=R, abgerufen im April 2023.) 356 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR Bei der Kampagne RiseUp4Rojava handelt es sich laut Eigenangaben RiseUp4Rojava um eine internationalistische Kampagne und Plattform, die im Frühjahr 2019 gegründet wurde. Mit der Kampagne und der Plattform soll die Solidarität mit der Revolution in Kurdistan weiterentwickelt und die verschiedenen Organisationen, Kampagnen und Initiativen zusammengebracht werden. An der Kampagne und Plattform beteiligen sich neben der PKK auch deutsche linksextremistische Organisationen. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.niedersachsen.de/download/ 185000/Verfassungsschutzbericht_2021.pdf, abgerufen im April 2023.) ... ist das religiös begründete, auf Offenbarung zurückgeführte Recht Scharia des Islams. Es regelt nicht nur Rechtsfragen (zum Beispiel Eheoder Strafrecht), sondern enthält der Idee nach die Gesamtheit der aus der Offenbarung zu gewinnenden Normen für das Handeln des Menschen im Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen. Nach traditioneller, heute jedoch nicht mehr von allen Muslimen geteilter Überzeugung ist die Verwirklichung der Scharia ein zentraler, unverzichtbarer Bestandteil der islamischen Religion. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. der Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 289.) Mit Ausnahme von Irland und Zypern sind alle EU-Staaten dem Schengen-Raum Schengener Abkommen beigetreten und gelten daher als "Schengener Staaten"; die EU-Mitgliedsländer Bulgarien und Rumänien wenden den Schengen-Acquis bislang nur teilweise an. Bis zu der von diesen zwei Ländern angestrebten vollständigen Anwendung des Schengen-Acquis bleiben die Personenkontrollen an den Binnengrenzen einstweilen noch bestehen. Zuzüglich zu den EU-Mitgliedsländern gehören auch Island, Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein zu den Schengener Staaten. Inhaber eines gültigen Schengen-Visums können sich im gesamten Schengen-Raum bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen aufhalten, soweit dies durch die zulässige Nutzungsdauer des Visums abgedeckt ist. Das gleiche gilt für Inhaber der meisten nationalen Aufenthaltstitel sowie nationaler Visa der Kategorie "D", die von den jeweiligen Schengen-Staaten für längerfristige Aufenthalte von über drei Monaten ausgestellt werden. Für die anderen EU-Staaten, die keine Schengen-Staaten sind, wird gegebenenfalls ein gesondertes Visum benötigt. (Vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/fragenkatalognode/17-schengenstaaten/606502, abgerufen im April 2023.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 357 GLOSSAR Schwarzer Block ... ist eine Aktionsform, die ursprünglich im linksextremistischen autonomen Spektrum entwickelt wurde und vor allem bei Demonstrationen angewandt wird. Der schwarze Block, der aus vermummten Aktivisten in einheitlich schwarzer Kleidung besteht, ist keine zentral organisierte und koordinierte Organisationsform, sondern ein punktueller Zusammenschluss gewaltorientierter Linksextremisten. Ziel dieses Auftretens ist die erschwerte Zuordnung von Strafund Gewalttaten zu Einzelpersonen durch die Polizei. Jeder schwarze Block enthält jedoch ein einzelfallbezogenes, spezifisch zu bestimmendes Gewaltpotenzial, das sich je nach Lageentwicklung dynamisch und auch kurzfristig noch verändern kann. Wenngleich der schwarze Block überwiegend ein Ausdruck linksextremistischer Massenmilitanz (Straßenkrawalle im Rahmen von Demonstrationen) ist, schließt die Teilnahme eines schwarzen Blocks an einer Demonstration keinesfalls einen friedlichen Demonstrationsverlauf aus. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bremen.de/oeffentlichkeitsarbeit/glossar-11578?begriff=S&lang=de&max=10#glossar_2162, abgerufen im April 2023.) "Selbstverwaltete Freiräume" Linksextremisten lehnen das bestehende Gesellschaftssystem ab und erkennen die öffentliche Ordnung, den Staat sowie dessen Regelungsund Gewaltmonopol nicht an. Aus diesem Grund ignorieren sie bestehende Eigentumsverhältnisse und errichten Orte, an denen sie selbst über die Regeln des Zusammenlebens bestimmen wollen. Diese "Freiräume" sollen aus Sicht von Linksextremisten frei von rechtsstaatlicher Einflussnahme und Überwachung sowie "kapitalistischer Verwertungslogik" sein. An diesen Orten soll das staatliche Gewaltmonopol außer Kraft gesetzt sein und alternative Formen des Zusammenlebens erprobt werden können. Solche "Freiräume" können beispielsweise besetzte Häuser, kollektive Wohnprojekte oder selbstverwaltete Kulturzentren sein. Neben einer hohen symbolischen Bedeutung für den "Widerstand" haben "Freiräume" auch eine praktische Bedeutung für die linksextremistische Szene: Häufig werden sie als Ausgangspunkt vor und Rückzugsort nach militanten Aktionen und Straftaten genutzt. Auf den drohenden Verlust von "Freiräumen" reagieren Linksextremisten regelmäßig äußerst aggressiv. Auslöser können das Auslaufen von Nutzungsoder Mietverträgen, städtische Umstrukturierungsmaßnahmen in der unmittelbaren Nähe von Szeneobjekten oder Eigentümerwechsel, aber auch staatliche Maßnahmen wie Durchsuchungen oder Räumungen auf Antrag der Hauseigentümer sein. Linksextremisten verstehen solche Maßnahmen als "Angriffe" auf ihre "Freiräume". Sie reagieren darauf regelmäßig mit Protesten sowie Sachbeschädigungen und Brandstiftungen an "Luxusimmobilien" oder Fahrzeugen, Maschinen und Gebäuden von Bauoder Immobilienunternehmen. Zudem gehört 358 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR die Veröffentlichung von Bildern und anderen personenbezogenen Daten der mutmaßlich Verantwortlichen genauso zum typischen Vorgehen gewaltbereiter Linksextremisten wie Drohungen gegen diese Personen. Auch gezielte Angriffe auf Polizisten oder Gebäude und Fahrzeuge der Polizei werden häufig mit der Verteidigung von Szeneobjekten begründet. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/hintergruende/ DE/linksextremismus/hohes-gewaltpotenzial-im-kampf-um-linksextremistische-freiraeume.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) ... ist die Übertragung der von Charles Darwin beschriebenen MeSozialdarwinismus chanismen der "Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" auf Sozialbeziehungen des Menschen. Insbesondere Herbert Spencer, der auch die Formel vom "Überleben der Tüchtigsten" (engl. survival of the fittest) prägte, legt die Grundsteine des Sozialdarwinismus. Letzterer geht davon aus, dass eine übergroße Population nur diejenigen überleben lässt, die sich im "Kampf ums Dasein" überlegen zeigen. Selektion ist damit der Motor jeden Fortschritts. Bejahung umfassender sozialer Auslese und Legitimation der vorhandenen gesellschaftlichen Ungleichheiten leitet der Sozialdarwinismus aus dieser Biologisierung sozialer Verhältnisse ab. Als rational kann danach nur eine Politik gelten, die den schon vorhandenen Selektionsdruck ungehindert walten lässt bzw. noch verstärkt. Wirkungsmächtig wurden sozialdarwinistische Konzepte vor allem im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang ist auf zwei folgenreiche Ausformungen hinzuweisen. So greifen Rassenlehren Kampfsemantik und Ausmerzungsvokabular des Sozialdarwinismus auf. Er diente zur Begründung des kolonialistischen Ausgreifens europäischer Staaten und der USA. Binnengesellschaftlich entwickelt sich eine sozialdarwinistische Eugenik, die in der Existenz von körperlich und geistig "Minderwertigen" eine Bedrohung für den "Überlebenskampf" der jeweiligen Gesellschaft, des "Volkes", sieht. Faschismus und Nationalsozialismus griffen diese Ideen auf und legitimierten mit den wissenschaftlich unhaltbaren Vereinfachungen des Sozialdarwinismus ihre Ausrottungspolitik. (Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/ sozialdarwinismus/1903, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 359 GLOSSAR Sunna ... ist die Gesamtheit der vom Propheten Muhammed überlieferten Aussprüche, Entscheidungen und Verhaltensweisen. Die Sunna ist neben dem Koran eine der Hauptquellen des islamischen Rechts. Die Muslime, die sich an die Sunna halten, werden Sunniten genannt. Die Schiiten haben ihre eigene Sunna, die auf einer gesonderten, auf Ali und seine Angehörigen zurückgeführten, Tradition beruht. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. der Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 618.) Terroristische Vereinigung/ Terroristische Straftaten stellen die extremste Ausprägung der ( ) Terrororganisation Politisch motivierten Kriminalität dar. Der Begriff des Terrorismus ist über die terroristische Vereinigung (SSSS 129a, 129b Strafgesetzbuch, StGB) gesetzlich definiert. Jedes Delikt, das in Verfolgung der Ziele einer terroristischen Vereinigung oder zu deren Aufrechterhaltung begangen wird, ist eine (eigene) terroristische Straftat. Als Terrorismus werden darüber hinaus schwerwiegende politisch motivierte Gewaltdelikte (Katalogtaten des SS 129a StGB) angesehen, die im Rahmen eines nachhaltig geführten Kampfs planmäßig begangen werden, in der Regel durch arbeitsteilig organisierte und verdeckt operierende Gruppen. Weiterhin werden die SSSS 89a, 89b, 89c und 91 StGB dem Terrorismus zugeordnet. Terroristische Straftaten können, soweit sie Katalogstraftraten des SS 129a StGB sind, auch durch Einzeltäter begangen werden, wenn deren Ziele bei der Tatbegehung darauf gerichtet sind, * die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern oder * öffentliche Stellen oder internationale Organisationen rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder * die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen des Bundes, eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören. Terroristische Straftaten durch ausländische Gruppierungen, die über keine eigenständige Teilorganisation in der Bundesrepublik Deutschland verfügen, werden von SS 129b StGB erfasst. (Vgl. https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/ pmk_node.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Theokratie ... ist ein Gottesstaat bzw. eine Gottesherrschaft und bezeichnet ein geistliches Regiment, das in Vertretung der Gottheit ausgeübt wird. Die Regierungsgewalt dieser Staatsform geht unmittelbar von Gott aus und wird durch einen von ihm erwählten Stellvertreter ausgeübt. 360 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR Charakteristisch ist ein priesterliches Verhältnis des Regenten zur Gottheit. Im Laufe der Geschichte hat es zahlreiche Theokratien gegeben. Heute gibt es nur wenige Theokratien, in denen Kirche und Staat eng verbunden gemeinsam regieren. Der Vatikan, regiert vom Papst als Oberhaupt der Katholischen Kirche, ist ein völlig unabhängiger Staat. Theokratische Ordnungen finden sich in Staaten des Islam. So wurden zum Beispiel Iran und Pakistan auf der Basis der Religionen gegründet und religiöse Lehren sind in staatliche Gesetze eingeflossen. (Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/theokratie/8053, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Totalitäre Regime und Bewegungen sind hermetisch abgeschlosTotalitarismus sene "Weltanschauungen" und rationaler Kritik nicht zugänglich. Es gibt zahlreiche Beispiele für Extremismen, die, einmal an die politische Macht gekommen, durch besonders brutale, menschenverachtende Praktiken ein System der Gewaltherrschaft errichteten. Für diesen Prozess kennt die Politikwissenschaft den Begriff des Totalitarismus, entstanden aus der Selbstdarstellung des italienischen Faschismus unter Benito Mussolini. Darunter versteht sie gemäß dem von Klaus Schubert und Martina Klein herausgegebenen Politiklexikon (2006) den zur staatlichen Herrschaft gekommenen Extremismus: "Totalitarismus bezeichnet eine politische Herrschaft, die die uneingeschränkte Verfügung über die Beherrschten und ihre völlige Unterwerfung unter ein (diktatorisch vorgegebenes) politisches Ziel verlangt. Totalitäre Herrschaft, erzwungene Gleichschaltung und unerbittliche Härte werden oft mit existenzbedrohenden (inneren oder äußeren) Gefahren begründet, wie sie zunächst vom ( ) Faschismus und vom ( ) Nationalsozialismus, nicht zuletzt auch im Sowjetkommunismus Stalins von den Herrschenden behauptet wurden. Insofern stellt der Totalitarismus das krasse Gegenteil des modernen freiheitlichen Verfassungsstaates und des Prinzips einer offenen, pluralen Gesellschaft dar". Totalitäre Bewegungen erheben einen Alleinvertretungsanspruch. Sie verstehen sich als alleinige und ausschließliche Besitzer politischer, religiöser oder sonstiger weltanschaulicher "Wahrheiten". Konkurrierende Bewegungen werden als Verirrungen oder Abweichungen aufgefasst, die es zu bekämpfen gilt. Totalitäre Regime und Bewegungen sind hermetisch abgeschlossene "Weltanschauungen". Sie sind, von innen betrachtet, rationaler Kritik nicht zugänglich. Ihre Ideologie entwickelt sich nicht in der permanenten, rationalen, diskussionsund lernbereiten Auseinandersetzung mit der Geistesund Ideengeschichte, sondern sie beruft sich auf die angeblich "ewige" und unverrückbare Wahrheit bestimmter Lehrsätze. Totalitäre Regime und Bewegungen verfügen über eine antiaufkläHessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 361 GLOSSAR rerische, absolutistische Legitimationsbasis. Nicht die Vernunft des aufgeklärten Subjekts, sondern die prophetischen, charismatischen Gaben des die Weltanschauung in idealer und absoluter Weise verkörpernden Führers gelten als einzige Quelle der Legitimation. Der Führer wird verehrt und mystifiziert und gilt als der messianische, charismatische und vom Schicksal ausersehene "Leader", der jeder Kritik unzugänglich ist. Interne demokratische Willensbildung im Rahmen eines Primats des besseren Arguments läuft dem Führerprinzip zuwider und könnte die Allmacht der Führerideologie relativieren und delegitimieren. Aus diesem Grund kann es keine demokratische Willensbildung in totalitären Bewegungen geben. (Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Totalitarismus, https://www.bpb.de/politik/ extremismus/linksextremismus/33699/totalitarismus, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Trotzkismus ... ist als das auf Leo Trotzki zurückgehende Modell des Sozialismus keine in sich geschlossene eigenständige Lehre, sondern eine Modifikation des Marxismus-Leninismus. Der Trotzkismus entstand vor allem aus der Opposition Trotzkis zu Josef Stalin. Wesentliche Elemente des Trotzkismus sind die Theorie der "permanenten Revolution", der Glaube an die Weltrevolution (im Unterschied zu Stalins "Sozialismus in einem Land"), das Ziel der Errichtung einer "Diktatur des Proletariats" in Form einer Rätedemokratie und das Festhalten am "proletarischen Internationalismus". Dem Trotzkismus zufolge reicht eine einmalige Revolution nicht aus. Proklamiert wird stattdessen eine weltweite "permanente Revolution", die von einer "proletarischen Internationalen" getragen werden soll. Charakteristische Strategie für trotzkistische Vereinigungen ist der Entrismus. Darunter versteht man die taktische, meist verdeckte Unterwanderung einer demokratischen Organisation oder Partei. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/ideologie/trotzkismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Turan/Turanismus Anhänger der rechtsextremen türkischen ( ) Ülkücü-Bewegung verbindet die Idealvorstellung von einem ethnisch homogenen Großreich Turan unter Führung der Türken. Für die Gründung dieses Staates sollen Turan die Siedlungsgebiete aller Turkvölker einverleibt werden. Je nach ideologischer Lesart erstrecken sich diese vom Balkan bis nach Westchina oder Japan. Da diese Bestrebungen die Gebiete zahlreicher souveräner Staaten (und Staatsvölker) umfassen, 362 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR verstoßen derartige politische Forderungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/ glosaareintraege/DE/T/turan.html, abgerufen im April 2023.) Die rechtsextremistische türkische Ülkücü-Bewegung entstand Mitte Ülkücü-Bewegung (Idealistendes 20. Jahrhunderts in der Türkei. Sie fußt auf einer extrem nationabewegung) listischen bis rechtsextremistischen Ideologie, die maßgeblich von Elementen wie ( ) Rassismus und ( ) Antisemitismus geprägt wird. Innerhalb der Bewegung reicht die ideologische Bandbreite vom Bezug auf Mythen aus vorislamischer Zeit über einen nationalistischen Kemalismus bis in den Randbereich des Islamismus. Das Ziel der Bewegung ist die Verteidigung und Stärkung des Türkentums. Als Idealvorstellung gilt die Errichtung von ( ) Turan - einem ethnisch homogenen Staat aller Turkvölker unter Führung der Türken. Dafür sollen Turan die Siedlungsgebiete aller Turkvölker einverleibt werden. Je nach ideologischer Lesart erstrecken sich diese vom Balkan bis nach Westchina oder Japan. Die Ülkücü-Bewegung sieht die türkische Nation sowohl politischterritorial als auch ethnisch-kulturell als höchsten Wert an. Die so unterstellte kulturelle und religiöse Überlegenheit äußert sich in der Überhöhung der eigenen türkischen Identität und resultiert in einer - auch völkerverständigungswidrigen - Herabwürdigung anderer Volksgruppen, die zu "Feinden des Türkentums" erklärt werden. Symbol und bekanntestes Erkennungszeichen der Ülkücü-Bewegung ist der Graue Wolf (Bozkurt) und der daraus abgeleitete sogenannte Wolfsgruß, bei dem die Finger der rechten Hand am ausgestreckten Arm den Kopf eines Wolfes formen. Oft werden Anhänger der Ülkücü-Bewegung daher auch als Graue Wölfe (Bozkurtlar) bezeichnet. Von den etwa 12.100 in Deutschland lebenden Anhängern der Ülkücü-Bewegung sind etwa 10.500 in drei großen Dachverbänden organisiert. Diese vertreten in unterschiedlicher Ausrichtung die verschiedenen Ausprägungen der Ülkücü-Ideologie. Teilweise handelt es sich bei den Verbänden um Auslandsorganisationen extrem nationalistischer türkischer Parteien. Die Verbände sind in der Außendarstellung um ein gemäßigtes Auftreten bemüht und pflegen ihre rechtsextremistische Ideologie eher nach innen, vor allem in den ihnen zugehörigen Vereinen. Dementsprechend zeigt sich auch die Anhängerschaft bei der Teilnahme an Demonstrationen und Kundgebungen sowie beim Zurschaustellen von Ülkücü-Symbolen in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend. Abgesehen vom Vertreten ihrer mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht zu vereinbarenden Ideologie, verzichten die Mitglieder der Dachverbände Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 363 GLOSSAR ganz überwiegend auf öffentliche Hassreden oder andere Strafund Gewalttaten. Sie zeigen sich bemüht, sich vom politischen Gegner nicht provozieren zu lassen. Neben der verbandlich organisierten Ülkücü-Anhängerschaft werden etwa 1.600 Personen weiteren ÜlkücüKleinststrukturen sowie der unorganisierten Ülkücü-Bewegung zugerechnet. Die unorganisierte Ülkücü-Bewegung besteht überwiegend aus jüngeren Menschen, die vor allem über die sozialen Netzwerke miteinander in Kontakt stehen, sich mitunter aber auch persönlich begegnen. Dabei pflegen sie ihre Feindbilder und agitieren gegen ihre "Gegner". Vor allem Armenier, Griechen, Juden, Kurden und die USA werden von der Ülkücü-Anhängerschaft herabgewürdigt und zu "Feinden des Türkentums" erklärt. (Vgl. Verfassungsschutzbericht 2022. Hrsg. v. Bundesministerium des Innern und für Heimat. Berlin 2023, S. 254f u. 260, = https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2023-06-20-verfassungsschutzbericht-2022.pdf;jsessionid=619BE46D27B26DEE2FA49D901603517E.intranet252?__blo b=publicationFile&v=4, abgerufen im Juni 2023.) Umma ... bezeichnet allgemein die Gemeinschaft der Muslime. "Umweltschutz ist ... ist eine gängige Formel heutiger Rechtsextremisten. Dabei verbinHeimatschutz" den Rechtsextremisten untrennbar den Schutz der Natur mit dem Schutz der Heimat vor fremden bzw. ungewollten Einflüssen. Dahinter steht der Gedanke, dass aus rechtsextremistischer Sicht ethnische Gruppen nur innerhalb ihrer Heimat, also einem begrenzten Raum existieren sollten. Heutige Rechtsextremisten formulieren Forderungen wie: "Förderung bäuerlicher Familienbetriebe auch in benachteiligten Gebieten", "Mensch und Natur sind keine Ware! Ethische Grundsätze haben Vorrang vor Maßnahmen der Genmanipulation" oder "Zum Schutz der Natur zählen auch der Schutz des Tieres und der Erhalt der Artenvielfalt in der Tierund Pflanzenwelt". Im historischen Nationalsozialismus verdichtete man den Zusammenhang zwischen Umwelt und Identität zu einer völkischen "Blut-undBoden"-Ideologie. Dieser Ideologie zufolge sind "rassisch" homogene "Volksgemeinschaft" und Lebensraum die zentrale Lebensgrundlage. Das verherrlichte Bauerntum galt dabei als "Blutsquelle" des deutschen Volkes. Mit dem "Generalplan Ost" sollte nach geodeterministischen Verständnis der angeblich durch die einheimischen Völker vernachlässigte und von den Nazis eroberte "neue Lebensraum im Osten" derart planmäßig umgestaltet werden, dass die dort angesiedelten Deutschen eine heimatliche innere Verbundenheit mit dem Raum hätten herstellen können. 364 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR Ganz allgemein ist mit dem Rechtsextremismus in nationalsozialistischer Tradition vielfach ein nostalgisch-rückwärtsgewandtes "zurück zur Natur" verbunden. Trotz technologischer und industrieller Hochrüstung im "Dritten Reich" hingen zahlreiche NS-Größen dem verklärten Idealbild eines antimodernistischen, dörfisch-bäuerlich geprägten Staates nach. Mit dem Thema "Umweltund Naturschutz" setzen Rechtsextremisten auf gesellschaftspolitische Themen, die vordergründig jenseits ihrer verfassungsfeindlichen Agenda liegen. Das vorrangige Ziel, das Rechtsextremisten durch ihr "Engagement" in Sachen Naturschutz verfolgen, ist ein Sympathiegewinn in der Bevölkerung. Durch Verknüpfung sozialer Problemfelder mit rechtsextremistischen Theorieelementen wollen Rechtsextremisten aus den Sorgen der Bevölkerung Kapital schlagen. (https://www.bige.bayern.de/infos_zu_extremismus/ rechtsextremismus/ideologie_und_strategie/naturschutz/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) ... sind laut dem HSÜVG im öffentlichen Interesse geheimhaltungsVerschlusssachen bedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse unabhängig von ihrer Darstellungsform. Sie werden entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung eingestuft. Eine Verschlusssache wird entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit in folgender aufsteigender Wichtigkeit eingestuft: VS - Nur für den Dienstgebrauch, VS - Vertraulich, Geheim, Streng Geheim. Die Verschlusssachenanweisung (VSA) für das Land Hessen regelt als Verwaltungsvorschrift den materiellen und organisatorischen Schutz von Verschlusssachen sowie deren Kennzeichnung und Aufbewahrung. Das rechtsextremistische Motto "Du bist nichts, dein Volk ist alles!" Völkischer Kollektivismus/ verdeutlicht die Ideologie des völkischen Kollektivismus, die in vielen "Volksgemeinschaft" Ausprägungen rechtsextremistischer Ideologie eine zentrale Rolle spielt. "Volksgemeinschaft" war ein zentraler Begriff im "Dritten Reich". Nationalsozialisten verstanden darunter eine Schicksalsgemeinschaft, in der die Interessen des Einzelnen bedingungslos der Gemeinschaft der "Volksgenossen" untergeordnet wurden. Das Wohl der so definierten "Volksgemeinschaft" ging allen anderen Interessen vor. Die pauschale Überbewertung der Interessen der "Volksgemeinschaft" zu Lasten der Interessen und Rechte des Einzelnen führt zu einer Aushöhlung der Grundrechte. Daher steht der völkische Kollektivismus im Widerspruch zum Menschenbild des Grundgesetzes, das die Würde jedes einzelnen Menschen und die freie Entfaltung Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 365 GLOSSAR seiner Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Der Staat wird im völkischen Kollektivismus als "ethnisch-rassisch" homogene "Volksgemeinschaft" angesehen. Der vermeintlich einheitliche Wille des Volks soll dabei von staatlichen Führern intuitiv umgesetzt werden. In einem so verstandenen autoritären Staat würden damit wesentliche Kontrollelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung fehlen, zum Beispiel das Recht des Volks, die Staatsgewalt in Wahlen auszuüben oder das Recht auf Bildung und Ausübung einer Opposition. (Vgl. http://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/ definition/ideologie/voelkischer_kollekivismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) Weiße Rose In den Jahren 1942/43 verbreitete die Münchner Gruppe Weiße Rose sechs Flugblätter gegen das nationalsozialistische Regime. Den Kern der Gruppe bildeten die Studenten Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf und der Professor Kurt Huber. Weitere Studenten, Schüler, Lehrer, Professoren, Ärzte, Schriftsteller und Buchhändler hatten losen Kontakt zur Weißen Rose. In einer ersten Aktionsphase im Juni/Juli 1942 veröffentlichte die Gruppe vier "Flugblätter der Weißen Rose" in einer Auflage von jeweils etwa 100 Exemplaren. Verteilt wurden diese Flugblätter an einen kleinen Kreis ausgesuchter Adressaten, von denen die meisten Akademiker in München und Umgebung waren. Im Januar 1943 entstand ein fünftes Flugblatt. Es erschien in einer Auflage von 6.000 bis 9.000 und tauchte in mehreren Städten Süddeutschlands und in Österreich auf. Ab Februar 1943 unternahm die Gruppe nächtliche Aktionen, bei denen sie verschiedene Gebäude in München mit Parolen wie "Nieder mit Hitler", "Hitler Massenmörder" und "Freiheit" beschrifteten. Ebenfalls im Februar 1943 entstand das sechste Flugblatt der Gruppe. Es richtete sich an die Münchner Studentenschaft und forderte vor dem Hintergrund der Schlacht um Stalingrad dazu auf, sich vom nationalsozialistischen System zu befreien. Bei der Verteilung dieses Flugblatts wurden die Geschwister Scholl am 18. Februar 1943 in der Münchner Universität beobachtet und verhaftet. Sie wurden am 22. Februar zusammen mit Christoph Probst vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet. In einem weiteren Prozess wurden Graf, Schmorell und Huber am 19. April 1943 ebenfalls zum Tode verurteilt; auch sie wurden hingerichtet. Bis Mitte Oktober 1944 fanden noch fünf Prozesse statt, bei denen Freiheitsstrafen bis zu zwölf Jahren ausgesprochen wurden. (Vgl. Bernhard Struck, Die "Weiße Rose", ttps://www.dhm.de/lemo/ kapitel/der-zweite-weltkrieg/widerstand-im-zweiten-weltkrieg/die366 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GLOSSAR weisse-rose.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) ... bedeutet übersetzt weiße Macht und wird im Sinne von "weißer White Power Vorherrschaft" oder "weißer Vormachtstellung" verwendet. Die White-Power-Faust soll das Gegenstück zur schwarzen Faust der USamerikanischen Black-Power-Bewegung sein. Die Bedeutung ist ähnlich der des Keltenkreuzes. White Power ist einer der Schlüsselbegriffe und meistgebrauchten Slogans der neonazistischen Skinhead-Szene weltweit. (https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/rechtsextremismus/ 172885/m-02-10-rechtsextremes-verhalten-symbole-und-codes/, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im April 2023.) ... findet seit 2004 in Deutschland alljährlich statt. Eingebettet in ein "Zilan-Frauenfestival" umfangreiches Kulturprogramm mit musikalischen und folkloristischen Darbietungen sowie einem eigenen Kinderprogramm werden politische Themen, vor allem die Stellung der Frauen und deren systematische Benachteiligung, erörtert. Bei der Namensgeberin des Festivals, Zeynep Kinaci (Deckname Zilan), handelt es sich um eine Selbstmordattentäterin der PKK, die sich am 30. Juni 1996 bei einer militärischen Feier in der Türkei selbst in die Luft sprengte. Bei diesem Selbstmordanschlag kamen sieben Menschen ums Leben. Dreiunddreißig weitere Personen wurden verletzt. Für die Tat wird Zilan von PKK-Anhängern als "Märtyrerin" und Vorbild verherrlicht. Das Festival soll vor allem dazu dienen, die weiblichen Anhänger stärker an die Organisation zu binden und neue Anhänger zu gewinnen. Das Beispiel zeigt, dass die Veranstaltungen der PKK-nahen Frauenorganisationen alles andere als harmlose Festivals oder Kulturveranstaltungen sind. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/hintergruende/ DE/auslandsbezogener-extremismus/rekrutierung-von-kaempfernfuer-die-pkk-in-deutschland.html, abgerufen im April 2023.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 367 EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN UND GRUPPIERUNGEN In der untenstehenden Übersicht sind die in diesem Verfassungsschutzbericht genannten Organisationen und Gruppierungen aufgeführt, bei denen die hier bekannten Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 HVSG oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Organisation/Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, es sich mithin um eine verfassungsfeindliche Organisation/Gruppierung handelt. Organisationen/Gruppierungen aus den Phänomenbereichen Organisierte Kriminalität und Spionageabwehr wurden nicht in die Übersicht aufgenommen. Rechtsextremismus Reichstrunkenbold Linksextremismus Atomwaffen Division (AWD) Scheiteljugend Kassel Antifaschistisches Kollektiv 069 (AK.069) Combat 18 Deutschland Streitmacht (C 18 Deutschland) Antifa United Frankfurt (AUF) Sturm 18 e. V. Der Dritte Weg/Der III. Weg Deutsche Kommunistische Sturmbrigade 44/WolfsPartei (DKP) DIE RECHTE brigade 44 DIE LINKE.Sozialistisch-DeFaust Sturmrebellen mokratischer StudierendenFreies Netz Süd (FNS) Thule-Seminar e. V. verband (DIE LINKE. SDS) GegenUni (GU) Weisse Wölfe Terrorcrew Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene Interventionistische Linke (IL) und deren Angehörige e.V. Reichsbürger und SelbstKommunistische Organisa(HNG) verwalter tion (KO) Identitäre Bewegung (IB) Bismarcks Erben (auch EwiKommunistische Partei Identitäre Bewegung ger Bund oder Preußisches Deutschlands (KPD) Deutschland e. V. (IBD) Institut) kritik&praxis - radikale Linke Identitäre Bewegung Hessen Geeinte Deutsche Völker und [f]rankfurt (IBH) Stämme linksjugend ['solid] Junge Alternative (JA) Indigenes Volk Germaniten Offenes Antifaschistisches Junge Nationalisten (JN) Königreich Deutschland Treffen (OAT) Frankfurt am (KRD) Main Knockout 51 Reichsverband Deutscher Offenes Antifaschistisches Nationaldemokratische Partei Rechts-Konsulenten Treffen (OAT) Kassel Deutschlands (NPD) Vaterländischer Hilfsdienst Marxistisch-Leninistische ParNordglanz (VHD) tei Deutschlands (MLPD) Recht und Wahrheit 368 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN Ökologisch Radikal Links - Federation of Islamic OrganiKalifatsstaat (Hilafet Devleti) ffm zations in Europe (FIOE, Föderation Islamischer OrganiLIES! REBELL sationen in Europa) Rote Hilfe e. V. (RH) Milli Gazete (Nationale ZeiHai'at Tahrir al-Sham (HTS) tung) Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Muslimbruderschaft (MB) Harakat al-Muqawama al-IslaT.A.S.K. miya (HAMAS, Islamische Widerstandsbewegung) Rat der Imame und Gelehrten e. V. (RIG)/Rat der Imame Harakat al-Shabab al und Gelehrten in DeutschIslamismus Mujahidin land (RIGD) al-Ikhwan al-Muslimun fi Hizb Allah (Partei Gottes) Realität Islam (RI) Suriya (Die Muslimbrüder in Syrien) Hizb ut-Tahrir (HuT, Partei der Saadet Deutschland RegioBefreiung) nalverein Hessen e. V. (SP al-Nahda Hessen) Islam Kennenlernen al-Qaida Saadet Partisi (SP, Partei der Islamische Gemeinschaft der Glückseligkeit) Council of European Muslims schiitischen Gemeinden (CEM) Deutschlands e. V. (IGS) Taleban Deutsche Muslimische GeIslamischer Staat (IS) Was ist Islam? meinschaft e.V. (DMG) Islamischer Staat Provinz We Love Muhammad Erbakan Vakfi (Erbakan-StifKhorasan (ISPK) tung) Zentrum der Islamischen KulIslamisches Zentrum Hamtur (ZIK) European Council for Fatwa burg (IZH) and Research (ECFR, Europäischer Rat für Fatwa und Ismail Aga Cemaati (IAC) Forschung) Extremismus mit AuslandsÄdegslami Cemaat ve Cemiyetler bezug European Council of Imams Birligi (ICCB, Verband der is(Europäischer Rat der Almanya'daki Mezopotamya lamischen Vereine und GeImame) Topluluklar Konfederasyonu meinden e. V.) (KON-MED, Konföderation Europäisches Institut für Huder Gemeinschaften MesoIslamische Gemeinschaft Milli manwissenschaften e. V. potamiens in Deutschland) Görüs e. V. (IGMG), das heißt (EIHW) Teile davon Almanya Göcmen Isciler Federasyonu (AGIF, Föderation Fatwa-Ausschuss in DeutschIslamkenntnis der ArbeitsimmigrantInnen land aus der Türkei in Deutschland e. V.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 369 EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN Almanya Türkiyeli Isciler FeJinen Ciwanen Azad (BeweTeyrebazen Azadiya Kurdisderasyonu (ATIF, Föderation gung junger Frauen) tan (TAK, Freiheitsfalken Kurder Arbeiter aus der Türkei in distan) Jinen Xwendekaren KurdisDeutschland e. V.) tan (JXK, Studierende Frauen Türkiye Komünist Anadolu Federasyonu (Anaaus Kurdistan) Partisi/Marksist-Leninist tolische Föderation) (TKP/ML, Türkische KommuKoma Civaken Kurdistan nistische Partei/Marxisten-LeAvrupa Ezilen Göcmenler (KCK, Gemeinschaft der ninisten) Konfederasyonu (AvEG-Kon, Kommunen Kurdistans) Konföderation der unterTürkiye Komünist Partisi - Komalen Jinen Kurdistan drückten Immigranten in Marksist-Leninist (TKP-ML, (KJK, Koordination der GeEuropa) Türkische Kommunistische meinschaft der Frauen KurPartei - Marxisten-Leninisten) Avrupa Türkiyeli Isciler Konfedistans) derasyonu (ATIK, KonföderaHalk Cephesi (Volksfront) Kongreya Azadi u Demokration der Arbeiter aus der Türsiya Kurdistane (KADEK, FreiYekitiya Jinen Kurdistan li Elkei in Europa) heitsund Demokratiekonmanyaye (YJK-E, Verband der Demokratik Isci Dernekleri gress Kurdistans) Frauen aus Kurdistan in Federasyonu e. V. (DIDF, FöDeutschland) Kongreya Civaken Demokraderation Demokratischer Artik a Kurdistaniyen Ewropa Yekitiya Xwendekaren Kurdisbeitervereine e. V.) (KCDK-E, Kurdischer Demotan (YXK, Verband der StuDevrimci Genclik (Dev-Genc, kratischer Gesellschaftskondierenden aus Kurdistan) Revolutionäre Jugend) gress in Europa) Yeni Demokratik Genclik Devrimci Halk Kurtulus CeKongreya Gele Kurdistane (YDG, Neue demokratische phesi (DHKC, Revolutionäre (KONGRA GEL, VolkskonJugend) Volksbefreiungsfront) gress Kurdistans) Yeni Kadin (Neue Frau) Devrimci Halk Kurtulus Partisi Marksist Leninist Komünist Young Struggle (DHKP, Revolutionäre VolksParti (MLKP, Marxistische-Lebefreiungspartei) ninistische Kommunistische Partei ) Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP-C, RevoMaoist Komünist Partisi (MKP, lutionäre VolksbefreiungsparMaoistisch Kommunistische tei-Front) Partei) Federasyona Civaka DemoPartiya Karkeren Kurdistan kratik a Kurdistaniyan (FCDK(PKK, Arbeiterpartei KurdisKAWA, Föderation der detans) mokratischen Gesellschaften Partiya Yekitiya Demokrat Kurdistans e.V.) (PYD, Partei der DemokratiHeyva Sor a Kurdistane (HSK, schen Union) Kurdischer Roter Halbmond) Tevgera Jinen Kurd li Ewropa Hezen Parastina Gel (HPG, (TJK-E, Kurdische FrauenbeVolksverteidigungseinheiten) wegung in Europa) 370 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REGISTER REGISTER A Amtsgericht Alsfeld 58, 187 Autonome 56, 57, 58, 104, 177, 178, 179-197, 198, 271, 331, 334, 358 A., Franco 43, 44, 74, 75 Amtsgericht Fritzlar 96 Autonome Nationalisten (AN) 105 Abu Yasin s. al-Rashta, Abu an-Nabhani, Taqi ad-Din (1909-1977) 233, 234 Autonome Region Kurdistan 277 Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) an-Nuqrashi, Mahmud Fahmi (1888-1948) Avrupa Ezilen Göcmenler Konfederasyonu 253, 270, 272 241 (AvEG-Kon, Konföderation der unterdrückten Immigranten in Europa) 287, 370 Afghanistan 61, 63, 215, 218, 222, 228, 231 Anarchisten 56, 58, 176, 177, 178, 79, 180, 181, 196, 197, 331, 354 Avrupa Milli Görüs Teskilatlari (AMGT, VereiniÄgypten 238, 239, 240, 241, 242, 247 gung der neuen Weltsicht in Europa e. V.) Anatolien (Türkei) 251, 276, 277 252 Ahnenrad der Moderne 47, 96 Anatolische Föderation (Anadolu Federasyonu) Avrupa Türkiyeli Isciler Konfederasyonu (ATIK, Ajansa Nuceyan a Firate (ANF, 282, 370 Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Firatnews Agency) 269, 271, 273, 279, 286 Europa) 284, 285, 286, 370 ANF News s. Ajansa Nuceyan a Firate Akif, Muhammad Mahdi (1928-2017) 243 Ankara (Türkei) 275 Aktives Hessen 45, 78, 79, 80, 81 Antaios s. Verlag Antaios B Al Wasat 232 Anti-IS-Allianz 218, 334 Ba'ath-Partei 304 Al-Assad, Baschar 304 Antideutsche 194, 195 Bad Hersfeld Al-Azaim-Foundation 218 (Landkreis Hersfeld-Rotenburg) 35, 136 Antifa Frankfurt am Main 273 Al-Banna, Hasan (1906-1949) 241, 242 Bad Homburg vor der Höhe Antifa Main-Taunus 273, 274 (Hochtaunuskreis) 79, 116, 119 Al-Ikhwan al-Muslimun fi Suriya (Die Muslimbrüder in Syrien) 239, 369 Antifa United Frankfurt (AUF) 196, 368 Bad Kreuznach (Rheinland-Pfalz) 261 al-Nahda 239, 369 Antifaschistische Aktion Süd (Antifa-Süd) Bad Nauheim (Wetteraukreis) 35, 124, 128 179, 333 al-Qaida 60, 215, 218, 227, 228, 369 Bad Wildungen (Landkreis WaldeckAntifaschistisches Kollektiv 069 (AK.069) Frankenberg) 136 al-Qaradawi, Yusuf (1926-2022) 196, 368 63, 239, 240,243, 244, 245 Baden-Württemberg 79, 82, 90, 130, Antiimperialisten 179, 183, 194,195, 334, 140, 248, 270,282, 333 al-Rashta, Abu Ata 229 353 Badi, Muhammad 239, 242, 243 al-Zawahiri, Dr. Aiman (1951-2022) 218, 228 Antinationale 194, 195 Bahrain 240, 334 Almanya Göcmen Isciler Federasyonu (AGIF, Apfel, Holger 131 Föderation der ArbeitsimmigrantInnen aus Baltik Korps (BK) 108 der Türkei in Deutschland e. V.) Apolda (Thüringen) 115, 118 66, 287, 369 Bautzen (Sachsen) 138 Ariadne 47, 96 Almanya Türkiyeli Isciler Federasyonu (ATIF, Bayern 52, 79, 130, 138, 142, 189, Armstroff, Klaus 142 242, 333, 341 Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V.) 285, 286, 370 as-Sadat, Anwar (1918-1981) 241 Bayik, Cemil 270 Almanya'daki Mezopotamya Topluluklar KonAslan, Yusuf (1947-1972) 186 Bearbeitung integrierter bzw. abgetauchter federasyonu (KON-MED, Konföderation der Rechtsextremisten (BIAREX) 21, 49, 50 Gemeinschaften Mesopotamiens in DeutschAsov-Regiment 52, 136 land) 278, 369 Belgien 60, 222, 244, 254, 334 Atomwaffen Division (AWD) 43, 76, 368 Altenstadt (Wetteraukreis) Benoist, Alain de 93 Aufständische anarchistische Strukturen 51, 123, 124, 125, 128, 132 56, 176, 177, 178, 180, 197 Bensheim (Kreis Bergstraße) 81, 136 Alternative für Deutschland (AfD) Australien 334 beratungsNetzwerk hessen - Mobile Inter56, 181, 182, 183, 193 Auswärtiges Amt 164 vention gegen Rechtsextremismus 32 Amini, Mahsa (1999-2022) 302 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 371 REGISTER Berlin 23, 79, 80, 90, 99, 118, 232, Bundesministerium des Innern 261 Clemens, Carlo 115 237, 239, 258, 259, 283, 300, 341 Bundesministerium des Innern und für HeiColleyville (USA) 222 Beuth, Peter 29 mat 178, 282 Combat 18 Deutschland (C 18 Deutschland) Bin Laden, Osama (1957-2011) 218 Bundesministerium für Wirtschaft 48, 101, 102, 108, 368 und Klimaschutz 311 Bismarcks Erben 159, 368 COMPACT-Magazin 118, 119 Bundesnachrichtendienst (BND) blickpunkt 198 23, 24, 25, 26, 29, 68, 300, 349 Cottbus (Brandenburg) 138 Bloc Identitaire - Le mouvement social euroBundespolizei (BPol) 23, 24, 25, 26, 34 Council of European Muslims (CEM) peen 82 239, 244, 369 Bundesrat 15 Blood and Honour 105 Cremer, Claus 125 Bundesregierung 27, 96, 103, 124, 127, Blumensteinschule (Wildeck, Landkreis 129, 134, 136, 260, 272, 300, 301 Cumhurriyet Halk Partisi (CHP, Hersfeld-Rotenburg) 35 Republikanische Volkspartei) 283 Bundestag s. Deutscher Bundestag Bonn (Nordrhein-Westfalen) 258 Bundesverfassungsgericht Brandenburg 47, 96, 126, 129, 131, 14, 15, 103, 123, 130, 198 D 35, 138, 183 Bundesverwaltungsamt (BVA) 317 Dänemark 81, 334 Bremen 103, 130, 189, 260 Bundesverwaltungsgericht 234 Dannenröder Wald 58, 185, 187 Broszat, Martin (1926-1989) 339 Bundeswehr 43, 57, 66, 74, 75, 184, Darmstadt 58, 66, 86, 122, 138, 159, 179, Brüder-Grimm-Schule 35 185, 189, 288, 290, 335 180, 186, 195, 196, 202, 269, 270, 271, Brüssel (Belgien) 222, 244 273, 278, 279, 283, 285, 286, 289 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 27, 272 Buchara (Usbekistan) 253 Darwin, Charles (1809-1882) 359 Buschardt, Tom 29, 30 Budapest (Ungarn) 81, 139 de.indymedia.org [Internetplattform] Busse, Friedhelm (1929-2008) 104 56, 58, 182, 183, 185, 186, 188, 193, 352 Büdingen (Wetteraukreis) 35, 124, 126, 128 Butler, Judith 93 Deckert, Günter (1940-2022) 131 Bukarest (Rumänien) 335 Defend Kurdistan 272, 274, 280 Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) 23, 24, 25, 26, 118, 120, 349 C Demokratik Isci Dernekleri Federasyonu e. V. (DIDF, Föderation Demokratischer ArbeiterBundesamt für Migration und Flüchtlinge Cafe ExZess 196 vereine e. V.) 66, 67, 288-291, 370 (BAMF) 23, 24, 25, 26 Cafe KoZ 196 Der Dritte Weg/Der III. Weg 49, 52, 55, Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) 73, 105, 112, 135-142, 169, 341, 368 Campanella, Tomaso (1568-1639) 345 16, 24, 25, 37, 47, 50, 88, 89, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 144, 168, 317, 349 Deutsche Arbeiterpartei (DAP) 350 CasaPound 139 Bundesamt für Wirtschaft und AusfuhrkonDeutsche Kommunistische Partei (DKP) Centro 196 trolle (BAFA) 25, 26 58, 59, 176, 198, 199, 200, 201, 289, 291, 368 Charlie Hebdo 250 Bundesanwaltschaft Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. 61, 66, 68, 193, 282, 300 Chemnitz (Sachsen) 82 (DMG) 63, 238, 239, 240, 242, 244, 245, 369 Bundesgerichtshof (BGH) China 29, 68, 298, 301, 302, 348, 362, 363 23, 68, 74, 76, 113, 282, 300 Deutsche Stimme (DS) 47, 96, 123, 126, 183 Christchurch (Neuseeland) 87 Bundeskriminalamt (BKA) 23, 24, 25, 26, 295 Deutsche Volksunion (DVU) 103 Christlich Demokratische Union DeutschBundesminister des Innern 107, 229, 234 lands (CDU) 27 Deutscher Bundestag 27, 260, 272 Bundesminister/Bundesministerin des Christlich-Soziale Union (CSU) 27 Deutscher Orden 45, 80 Innern, für Bau und Heimat 102, 107, Christophersen, Thies (1929-2008) Devrimci Genclik (Dev-Genc, Revolutionäre 108, 258, 273 103, 330 Jugend) 282, 370 Bundesministerium der Justiz und für Ciwanen Azad 279 Devrimci Halk Kurtulus Partisi (DHKP, RevoluVerbraucherschutz 164 tionäre Volksbefreiungspartei) 282, 370 372 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REGISTER Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi Europäische Union (EU) 59, 65, 67, 68, Federation of Islamic Organizations in Europe (DHKP-C, Revolutionäre Volksbefreiungspar199, 231, 268, 271, 275, 280, 282, 288, 290, (FIOE, Föderation islamischer Organisatiotei-Front) 65, 66, 282-284, 370 300, 338, 357 nen) 239, 244, 369 Devrimci Halk Kurtulus Cephesi (DHKC, RevoEuropäischer Gerichtshof für Fielitz, Maik 330 lutionäre Volksbefreiungsfront) 282, 370 Menschenrechte 229, 271 Finnland 139, 140 Devrimci Sol (Dev Sol, Revolutionäre Linke) Europäischer Rat 271, 337 282 Fiß, Daniel 144 Europäischer Rat der Imame (European Die Heimat 51, 123, 125, 127, 128, 129 Council of Imams) 240, 244 Fischer, Matthias 135, 138, 142 DIE LINKE.Sozialistisch-Demokratischer StuEuropäisches Institut für HumanwissenschafFitzek, Peter 158 dierendenverband (DIE LINKE.SDS) ten e. V. (EIHW) 239, 240, 245, 369 Flade, Florian 29, 30 Darmstadt 186, 368 Europäisches Parlament 337 Floyd, George (1973-2020) 192 Donbass (Ukraine) 59, 199 Europäisches Polizeiamt (Europol) 25, 26 Flughafen Frankfurt am Main 34, 189, 216 Dresden (Sachsen) 52, 138 European Council for Fatwa and Research Fokussierte operative Bearbeitung herausraDublin (Irland) 244 (ECFR, Europäischer Rat für Fatwa und Forgender Akteure im Rechtsextremismus schung) 244, 369 Duisburg (Nordrhein-Westfalen) 249 (FOBAREX) 21, 50 European Institute of Human Sciences (EIHS) Foucault, Michel (1926-1984) 93 245 Frankenberg (Landkreis Waldeck- E Ewiger Bund s. Bismarcks Erben Frankenberg) 200 E., Lina 193, 202 Frankfurt am Main 54, 56, 57, 58, 59, 62, 63, 64, 65, 66, 79, 83, 86, 93, 115, 116, 121, E., Marvin 75, 76 F 159, 170, 179, 180, 182, 183, 184, 186, 187, E., Stephan 76 188, 189, 192, 195, 196, 200, 202, 203, 204, F., Bernd 74 209, 213, 232, 239, 244, 245, 256, 258, 259, Ein Prozent e. V. 89, 90, 91, 117, 118, 119 F., Robin 74 260, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 278, 279, 280, 282, 283, 285, 286, 289, 301, 303, 352 Eisenach (Thüringen) 126 F., Tim 74, 75 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 29 "Ella" 58, 187, 188, 202 Facebook 82, 105, 117, 120, 127, 147, 229, 230, 231, 233, 236, 237, 240 Frankfurter Rundschau 186 EndFossil: Occupy! 186 Fachbeirat des Hessischen PräventionsnetzFrankreich 45, 78, 81, 82, 244, 283, 334, 348 Engels, Friedrich (1820-1895) werks gegen Salafismus 32 176, 287, 345, 346, 348 Franz, Frank 51, 123, 125, 126, 131, 132 Fachstellen für Demokratieförderung und England 101 Freie Demokratische Partei (FDP) 27 phänomenübergreifende ExtremismusErbakan Vakfi (Erbakan-Stiftung) prävention (DEXT) 33, 35 Freie Syrische Armee 61, 216 246, 255, 369 Faeser, Nancy 273 Freies Netz Süd (FNS) 135, 368 Erbakan, Fatih 255 Fahrner, Dr. Andreas 29, 30 Freiheitliche Arbeiterpartei Deutschlands Erbakan, Necmettin (1926-2011) 246, 247, (FAP) 104 Fatwa-Ausschuss in Deutschland 244, 369 248, 249, 251, 252, 253, 254, 255, 256, 257 Freisler, Roland (1893-1945) 366 Faust 108, 111, 368 Erdogan, Recep Tayyip 67, 251, 272, 273, 290 Fridays for Future 58, 186 Fazilet Partisi (FP, Tugendpartei) 253 Erfurt (Thüringen) 118 Friedberg (Wetteraukreis) Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, FöErnst-Ludwig-Schule (Bad Nauheim, 115, 116, 124, 127, 128 deraler Dienst für Sicherheit der Russischen Wetteraukreis) 35 Föderation) 300 Fulda (Landkreis Fulda) Europäische Institute für Human35, 83, 86, 136, 150, 151 Federasyona Civaka Demokratik a Kurdistawissenschaften 245 niyan e. V. (FCDK-Kawa, Demokratische FödeFuldabrück (Landkreis Kassel) 182 Europäische Kommission 337 ration der Gesellschaften Kurdistan e. V.) 269, 278, 370 Europäische Moscheebau und Unterstützungsgemeinschaft (EMUG) 252 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 373 REGISTER G Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) 183, 368 Hessischer Rechnungshof 19 G-10-Kommission Gültekin, Gökhan 74 Hessisches Extremismusund Terrorismusdes Hessischen Landtags 19, 20 abwehrzentrum (HETAZ) 26, 27 Gürbüz, Sedat 74 Geeinte Deutsche Völker und Stämme Hessisches Informationsund Kompetenz54, 159 zentrum gegen Extremismus (HKE) 26, 32, 33, 34 GegenUni (GU) 476, 57, 88-94, 117, H 118, 119, 120, 146, 182, 183, 368 Hessisches Kultusministerium 34 Hai'at Tahrir al-Sham (HTS, Komitee zur Geheime Staatspolizei (Gestapo) 351 Befreiung der Levante) 216, 369 Hessisches Landeskriminalamt (HLKA) 27 Gehlen, Arnold (1904-1976) 93 Halk Cephesi (Volksfront) 282 Hessisches Ministerium der Justiz 33 Gemeinsame Arbeitsgruppe Justiz/Polizei Halle (Sachsen-Anhalt) 330 Hessisches Ministerium des Innern und (GAG) 294 für Sport 19 Hamburg 129, 189, 232, 233, 237, 260, 282 Gemeinsames Extremismusund TerrorisHessisches Ministerium für Wirtschaft, musabwehrzentrum (GETZ) 23, 25 Hanau (Main-Kinzig-Kreis) 63, 74, 128, Energie, Verkehr und Wohnen 309, 311 129, 192, 193, 248, 249, 289 Gemeinsames Internetzentrum (GIZ) 23, 24 Heß, Rudolf (1894-1987) 95, 104, 341 Hannover (Niedersachsen) 130 Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum Heyva Sor a Kurdistane (HSK, Kurdischer (GTAZ) 23, 24, 25 Hantusch, Thassilo 125 Roter Halbmond) 278, 370 Generalbundesanwalt (GBA) Harakat al-Muqawama al-Islamiya (HAMAS, Hezen Parastina Gel (HPG, Volksverteidi23, 24, 25, 26, 53, 76, 102, 160 Islamische Widerstandsbewegung) gungseinheiten) 268, 370 209, 239, 247, 369 Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main Hidden Cobra s. Lazarus (APT 38) 26, 27 Harakat al-Shabab al-Mujahidin (al-Shabab, Bewegung der Mujahidin-Jugend) 222, 369 Hilfsorganisation für nationale politische GeGeneralzolldirektion (GZD) 26 fangene und deren Angehörige e. V. (HNG) Harles, Danilo 146 105, 107, 368 Generation Identitaire (GI) 45, 78, 82, 83 Hashemi, Said Nesar 74 Hitler, Adolf (1889-1945) 101, 104, 106, Gezmis, Deniz (1947-1972) 286 107, 251, 339, 341, 350, 366 Hasselroth (Main-Kinzig-Kreis) 54, 158 Gießen (Landkreis Gießen) 86, 179, 195, Hitlerjugend 351 198, 200, 202, 273, 278, 279, 289 Hattersheim am Main (Main-Taunus-Kreis) 57, 182 Hizb al-Hurriya wa-l-Adala (Partei der Gießener Echo 198 Freiheit und Gerechtigkeit) 241 Heidelberg (Baden-Württemberg) 140 Glashütten (Hochtaunuskreis) 75 Hizb Allah (Partei Gottes) 209, 257, 258, Heise, Thorsten 125 259, 260, 369 Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU, Hauptverwaltung beim Generalstab Herzog, Jitzchak 64, 250 Hizb ut-Tahir (HuT, Partei der Befreiung) der Streitkräfte der Russischen Föderation) 63, 229-238, 369 Hessen CyberCompetenceCenter (Hessen3C) 300 36 Hochtaunuskreis 75, 79, 116, 119, 216 Global Strike Bündnis Darmstadt 186 Hessische Bereitschaftspolizei 34 Hofbauer, Hannes 92 Gnauck, Hannes 118 Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Hofmannsthal, Hugo von (1874-1929) 346 Goethe-Universität Frankfurt am Main Flüchtlinge (HEAE) 316 186, 233, 273, 274 Huber, Ernst Rudolf (1903-1990) 339 Hessische Hochschule für öffentliches Google LCC 82 Management und Sicherheit (HöMS) 33 Huber, Kurt (1893-1943) 366 Graf, Willi (1918-1943) 366 Hessische Landesregierung 19, 54, 149, 160 Graue Wölfe s. Ülkücü-Bewegung Hessische Lehrkräfteakademie 31 I Graz (Österreich) 90 Hessische Polizeiakademie (HPA) 33 Identitäre Bewegung (IB) 45, 46, 72, Groß-Gerau (Kreis Groß-Gerau) 136 Hessischer Beauftragter für Datenschutz 73, 77, 89, 93, 97, 146, 147, 183, 368 und Informationsfreiheit 19 Großbritannien 105, 245, 334 Identitäre Bewegung Deutschland e. V. (IBD) Hessischer Landtag 19 45, 51, 77-87, 89, 90, 91, 118, 119, 120, Grup Yorum 66, 282, 283 121, 144, 368 374 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REGISTER Identitäre Bewegung Hessen (IBH) Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 261, 262, 369 45, 77-87, 89, 94, 116, 122, 368 215, 218, 228, 369 Kampf der Nibelungen (KdN) 105, 113 Identitäre Bewegung Österreich (IBÖ) 82, 87 Islamisches Zentrum Hamburg (IZH) 258, 260, 369, 259, 261 Kanada 334 Identitäre Bewegung Sachsen 81 Island 357 Kaplan, Cemaleddin (1926-1995) 261 Immenhausen (Landkreis Kassel) 181, 182 Ismail Aga Cemaati (IAC) 246, 249, 253, 369 Kaplan, Metin 261, 262 Inan, Hüseyin (1949-1972) 286 Israel 64, 194, 195, 209, 234, 239, 243, Karamollaoglu, Temel 63, 247, 248, 249 Indien 68, 298, 303 249, 250, 251, 254, 255, 257, 258, 259, 336 Kassel 33, 56, 57, 58, 59, 74, 76, 86, 95, Indigenes Volk Germaniten 54, 159, 368 Istanbul (Türkei) 66, 240, 247, 262, 272, 102, 117, 179, 181, 182, 183, 184, 185, 187, 282, 283 195, 196, 198, 200, 201, 202, 269, 271, 273, Instagram 45, 78, 80, 81, 82, 118, 119, 278, 279, 280, 289 229, 231, 233, 236, 237 Italien 67, 83, 139, 294, 295, 332, 361 Katar 63, 240, 334 Institut Europeen des Sciences Humaines (IESH) 245 Kaya, Mustafa 249 Institut für Staatspolitik (IfS) 47, 88, J Kaypakkaya, Ibrahim (1948-1973) 284 89, 90, 91, 94, 117, 120 Jagsch, Stefan 51, 123, 125, 127 Kemal, Mustafa (Atatürk, 1881-1938) Institute for Strategic Dialogue 29 252, 253, 261 Jemen 258, 288 Inter-Services Intelligence (ISI) 303 Kenia 275 Jerusalem (Israel) 64, 233, 234, 258 Interkulturelles Jugendforum e. V. (KAGEF) "Khalistan" 303 Jihadisten 41, 60, 61, 209, 210, 211, 285 212, 213, 215-222, 225, 226, 227, 228, Khamenei, Ali 64, 259, 260 International Holocaust Remembrance 243, 262, 338, 344 Alliance (IHRA) 335 Khomeini, Ruhollah Musawi (1902-1989) Jinen Ciwanen Azad (Bewegung 64, 258, 259, 261 Internationale Rote Hilfe (IRH) 187, 344 junger Frauen) 278, 370 Kierpacz, Mercedes 74 Interventionistische Linke (IL) 180, 192, Jinen Xwendekaren Kurdistan (JXK, Studie196, 270, 368 rende Frauen aus Kurdistan) Kinaci, Zeynep (1971-1996) 367 274, 278, 279, 370 Irak 63, 184, 216, 219, 220, 221, Klapperfeld 196 231, 258, 270, 272, 276, 277, 279, 280 Jordanien 233, 242, 334 Klein, Martina 361 Iran 64, 68, 258, 259, 260, 261, Jung, Edgar (1894-1934) 347 Knockout 51 49, 114, 368 276, 287, 298, 302, 355, 361 Jung, Rudolf (1882-1945) 350 Köln (Nordrhein-Westfalen) 25, 252, 270 Irland 244, 357 Junge Alternative (JA) Hessen 50, 51, 115-123, 182, 183 Koma Civaken Kurdistan (KCK, Gemeinschaft Islami Cemaat ve Cemiyetler Birligi (ICCB, der Kommunen Kurdistans) 276, 370 Verband der islamischen Vereine und Junge Alternative (JA) Sachsen-Anhalt 119 Gemeinden e. V.) 261, 369 Komalen Jinen Kurdistan (KJK, Koordination Junge Alternative für Deutschland (JA) der Gemeinschaft der Frauen Kurdistans) Islamische Gemeinschaft der schiitischen Ge51, 115-123, 368 271, 370 meinden Deutschlands e. V. (IGS) 259, 260, 261, 369 Junge Nationalisten (JN) 51, 52, 123, Kommunistische Organisation (KO) 125, 128-130, 134, 135, 144, 368 59, 200, 368 Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) 239, 242 Justizakademie Hessen 33 Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) 200 Islamische Gemeinschaft Justizvollzugsanstalt Frankfurt in Süddeutschland e. V. 242 am Main III 187, 188 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 198, 201, 344, 368 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) Jüterborg (Brandenburg) 129 246, 247, 248, 252, 256, 257, 369 Kompetenzzentrum Rechtsextremismus (KOREX) 21, 34 Islamische Union Europa e. V. (IUE) 252 K Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdistane Islamischer Staat (IS) 60, 61, 210, 215, (KADEK, Freiheitsund Demokratiekongress 216, 218, 219, 222, 227, 228, 271, 275, 277, Kabul (Afghanistan) 218 Kurdistans) 276, 370 334, 369 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 375 REGISTER Kongreya Civaken Demokratik li KurdistaLandkreis Fulda 35, 83, 86, 136, 150, 151 Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) niyen Ewropa (KCDK-E, Kurdischer Demokrati59, 63, 86, 136, 179, 180, 182, 195,196, scher Gesellschaftskongress in Europa) Landkreis Gießen 86, 165, 195, 198, 200, 201, 202, 239, 273, 278, 279, 289 269, 278, 370 200, 202, 273, 278, 279, 289 Marburger Burschenschaft Germania 182 Kongreya Gele Kurdistane (KONGRA GEL, Landkreis Hersfeld-Rotenburg 35, 136 Volkskongress Kurdistans) 276, 370 Marburger Echo 199 Landkreis Kassel 45, 47, 54, 81, 99, Königreich Deutschland (KRD) 115, 117, 159, 181, 182 Marksist Leninist Komünist Parti (MLKP, Mar54, 158, 159, 368 xistische-Leninistische Kommunistische Partei) Landkreis Limburg-Weilburg 136, 138, 66, 286, 287, 288, 370 Konstanz (Baden-Württemberg) 90 140, 142 Marksist Leninist Komünist Parti-Kurulus Koordinasyona Civaka Demokratik a KurdisLandkreis Marburg-Biedenkopf 59, 63, 86, (MLK-P-Kurulus, Marxistische-Leninistische tan (CDK, Koordination der kurdisch-demo136, 182, 195, 200, 202, 239, 273, 278, Kommunistische Partei-Aufbau) 287 kratischen Gesellschaft) 278 279, 289 Martell, Karl (688/691-741) 82 Koordinierte Internetauswertung (KIA) 25 Landkreis Offenbach 79, 279 Marx, Karl (1818-1883) Kotku, Mehmet Zaid (1897-1980) 253 Landkreis Waldeck-Frankenberg 136, 200 93, 176, 287, 345, 348, 349 Krauss-Maffei Wegmann GmbH & Co. KG Langen (Landkreis Offenbach) 79 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands 57, 185 (MLPD) 57, 184, 368 Lazarus (APT 38) 303 Krebs, Dr. Pierre 47, 95, 96, 97, 183 Masar-i-Sharif (Afghanistan) 222 LebensGlück e. V. 54, 159 Kreis Bergstraße 81, 136 Mecklenburg-Vorpommern 81, 93, 108, 131 Lenin (eigentl. Uljanow), Wladimir Iljitsch Kreis Groß-Gerau 136, 137, 138, 198, (1870-1924) 176, 251, 334, 346 Mekka (Saudi-Arabien) 47, 96, 251, 347 229, 289 Leun (Lahn-Dill-Kreis) 48, 109 Meldestelle Hessen gegen Hetze 36 Kreutzmann, Thomas 29 Libanon 242, 257, 258 Military Intelligence (MI) (Pakistan) 303 kritik&praxis - radikale Linke [f]rankfurt Liechtenstein 357 Milli Gazete (Nationale Zeitung) 196, 368 64, 247, 249, 250, 251, 254, 256, 257, 369 LIES! 213, 226, 369 Kubitschek, Götz 144, 145, 146 Milli Istihbarat Teskilati (MIT, Nationaler Limburg (Landkreis Limburg-Weilburg) 136 Kühnen, Michael (1955-1991) 104 Nachrichtendienst) 302 Linden (Landkreis Gießen) 165 Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Milli Nizam Partisi (MNP, Nationale Orde. V. (Civika Azad) 278 linksjugend ['solid] Darmstadt 186, 368 nungspartei) 252 "Kurdistan" 268, 272, 273, 274, 276, Lübcke, Dr. Walter (1953-2019) Milli-Görüs-Bewegung 288, 357 44, 49, 74, 76 63, 64, 209, 246-257 Kurtovic, Hamza 74 Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern) 81 Milliyetci Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung) 270, 272 Ludwigsburg (Baden-Württemberg) 248 Minister für Inneres und Europa L Lunikoff 48, 109 (Mecklenburg-Vorpommern) 108 Lachmann, Daniel 123, 125, 127 Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen 260 Lahn-Dill-Kreis 33, 35, 48, 52, 109, 128, M 129, 132, 134, 136, 137, 139, 140, 142 Modellschule Obersberg (Bad Hersfeld, LandMacron, Emmanuel 236 kreis Hersfeld-Rotenburg) 35 Lampertheim (Kreis Bergstraße) 136 Main-Kinzig-Kreis 35, 54, 63, 74, 128, Moeller van den Bruck, Arthur (1886-1925) Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz 261 129, 132, 158, 192, 248, 249, 289 347 Landgericht Berlin 239 Main-Taunus-Kreis 57, 182 Mogadischu (Somalia) 222 Landgericht Frankfurt am Main 74, 216, 217 Malta 164 Mojahedin-e-Khalq (MEK, Volksmojahedin) 302 Landgericht Gießen 58, 188 Mao Zedong (1893-1976) 348 Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) Landkreis Darmstadt-Dieburg 285 Maoist Komünist Partisi (MKP, Maoistisch198, 229 Kommunistische Partei) 284, 285, 370 376 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REGISTER Morus, Thomas (1478-1535) 345 Neuseeland 87, 330 P Moscheebau-Kommission e. V. 242 Niederlande 279 Pakistan 68, 219, 298, 303, 355, 361, "Mosaikrechte" 94, 118, 119, 120, 121, Niedernhausen (Rheingau-Taunus-Kreis) 81 "Palästina" 194, 209, 233, 234, 239, 122, 123 243, 247, 250, 251, 258, 259, 287, 288 Niedersachsen 103, 130, 233, 237 Mossul (Irak) 216 Palästinensische Autonomiegebiete 239 Nordglanz 108, 111, 368 Mubarak, Husni (1928-2020) 241 Palestine Liberation Organization (PLO, Nordkorea 68, 298, 303, 355 Palästinensische Befreiungsorganisation)194 München (Bayern) 242, 366 Nordrhein-Westfalen 25, 64, 83, 132, Paris (Frankreich) 244 Münster (Nordrhein-Westfalen) 260 140, 237, 249, 252, 258, 269, 270, 282 Parlamentarische Kontrollkommission Mursi, Mohammed (1951-2019) 241, 242 North Atlantic Treaty Organization (NATO, Verfassungsschutz (PKV) 18, 19, 20 Nordatlantische Vertragsorganisation) Muslimbruderschaft (MB) 63, 208, 209, 51, 57, 59, 127, 184, 199, 200, 288, 335 Partiya Careseriya Demokratik a Kurdistane 233, 234, 238-245, 369 (PCDK, Partei für eine politische Lösung in Norwegen 60, 222, 300, 357 Mussolini, Benito (1883-1945) 332, 361 Kurdistan) 279 Nouripour, Omid 272 Partiya Jiyana Azad a Kurdistane (PJAK, Nouvelle Droite 98 Partei für ein freies Leben in Kurdistan) 279 N Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, ArbeiterparNSU 2.0 192 tei Kurdistans) 64, 65, 267, 268-280, Nachrichtendienstliche Informationsund Nürnberg (Bayern) 79, 341 281, 287, 302, 337, 352, 357, 367, 370 Analysestelle (NIAS) 24, 25 Partiya Yekitiya Demokrat (PYD, Partei der Naqshband, Bahaud-Din (1318-1389) 253 Demokratischen Union) 268, 277, 279, 370 Naqshbandiya-Bruderschaft 253 O Pastörs, Udo 131 Nasrallah, Hassan Sayyed 258 O Mujahideen in the West 218 Paun, Vili Viorel 74 Nationaldemokratische Partei Deutschlands Ober-Ramstadt (Landkreis DarmstadtPerspektive Kommunismus (PK) (NPD) 15, 47, 51, 52, 55, 73, 96, Dieburg) 285 179, 353 103, 105, 123-135, 138, 169, 368 Oberlandesgericht Frankfurt am Main Phalanx-Europa Onlineshop 91, 118, 119 Nationale Sozialisten Rostock (NSR) 108 43, 44, 61, 75, 76, 216 Phänomenbereichsübergreifende wissenNationales Sicherheitsbüro des RegionalOberlandesgericht Dresden 193 schaftliche Analysestelle Antisemitismus und kommandos der syrischen Ba'ath-Partei Öcalan, Abdullah 65, 267, 268, 269, Fremdenfeindlichkeit (PAAF) 21, 30, 36 303, 304 270, 271, 272, 274, 275, 277, 279, 280, 337 Piroglu, Ecevit 286 Nationalistische Front (NF) 104 Offenbach am Main 127, 128, 151, 196, 286 Plauen (Sachsen) 137 Nationalistische Türken s. Ülkücü-Bewegung Offenes Antifaschistisches Treffen (OAT) Poitiers (Frankreich) 82 Nationalpolitische Erziehungsanstalt Frankfurt 196, 368 (Napola) 103 Polizeiliche InformationsOffenes Antifaschistisches Treffen (OAT) und Analysestelle (PIAS) 24, 25 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Kassel 60, 196, 203, 273, 368 (NSDAP) 123, 130, 140, 141, 339, 350 Postautonome 177, 179, 180, 190 Ökologisch radikal links - ffm 196 Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) 104 Preußen 45 Organisierte Kriminalität (OK) Neonazis 42, 47, 48, 49, 52, 72, 73, 98, 16, 18, 21, 67, 293-296, 317, 368 Preußisches Institut s. Bismarcks Erben 100-108, 110, 111, 112, 131, 135, 341, 344, 345 Ortenberg (Wetteraukreis) 124, 128 Probst, Christoph (1919-1943) 366 Neu-Isenburg (Landkreis Offenbach) 279 Oslo (Norwegen) 222 Puls, Hendrik 330 NeuDeutschland 158 Osmanisches Reich 246, 250, 254 Putin, Wladimir W. 146 Neue Rechte 34, 36, 46, 47, 50, 86, 87, Österreich 78, 83, 90, 283, 366 88, 89, 90 91, 92, 94, 98, 120, 121, Ostritz (Sachsen) 113 122, 123, 144, 145, 146, 147, 150, 351 Outlaw Motorcycle Gangs (OMCG) 67, 295 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 377 REGISTER Q Rote Hilfe e. V. (RH) 59, 60, 187, Schubert, Klaus 361 201-203, 369 QAnon 53, 146, 171 Schutzstaffel (SS) 103, 138, 351 RTL Hessen 274 Qutb, Sayyid (1906-1966) 241, 242 Schweden 139 Rumänien 335, 357 Schweiz 81, 357 Runkel (Landkreis Limburg-Weilburg) 138 Sellner, Martin 46, 81, 144, 145, 146 R Rüsselsheim (Kreis Groß-Gerau) 137, 138, 289 Senator für Inneres Bremen 260 Rabanus-Maurus-Schule (Fulda, Landkreis Fulda) 35 Russland 27, 29, 30, 46, 47, 51, 52, 53, 57, Serbien 286 Ramadan, Said (1926-1995) 242 59, 63, 67, 68, 81, 86, 96, 97, 116, 124, 127, Serxwebun (Unabhängigkeit) 268, 279 134, 135, 136, 137, 142, 143, 168, 169170, Rat der Imame und Gelehrten e. V. (RIG)/Rat 172, 173, 184, 199, 200, 231, 288, 290, 294, Sezession 89, 91, 144, 145, 146 der Imame und Gelehrten in Deutschland 295, 298, 299, 300, 301, 304, 334, 344 (RIGD) 244 Signal 148 Rzehaczek, Paul 129 Realität Islam (RI) 63, 229, 230, 231, Sinimusta Liike 139 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 369 Skinheads, rechtsextremistische Recht und Wahrheit 47, 98, 99 S 100, 105, 109, 131, 367 Reichsbürger und Selbstverwalter Saadet Deutschland Regionalverein Hessen Slushba Wneschnej Raswedki (SWR, Dienst 21, 28, 33, 36, 40, 46, 47, 53, 54, 55, e. V. (SP Hessen) der Außenaufklärung der Russischen 98, 143, 155-166, 169, 368 63, 246, 248, 249, 255, 369 Föderation) 300 Reichstrunkenbold 108, 111, 368 Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) Smirnova, Julia 29, 30 63, 246, 247, 248, 249, 252, 253, 254, Somalia 222 Reinhardswald (Landkreis Kassel) 255, 256, 257, 369 45, 54, 81, 86, 115, 117, 122, 159 Sowjetunion 59, 200, 295, 351, 361 Saarland 123, 132 Research & Analysis Wing (R&AW) 303 Sozialdemokratische Partei Sachsen 52, 82, 113, 131, 132, 137, 138, 193 Deutschlands (SPD) 27, 273 Revolutionärer 1. Mai Frankfurt 57, 183, 184 Sachsen-Anhalt 47, 77, 88, 90, 117, 330 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend Revolutionary Guard Corps (IRGC, Revolutionsgarden) 302 Sächsische Schweiz 81 (SDAJ) 57, 59, 184, 200, 201, 289, 369 Rheingau-Taunus-Kreis 81 Safeguard Defenders 301 Sozialistische Reichspartei (SRP) 103, 130 Rheinland-Pfalz 130, 135, 140, 261, 333 Salafisten 32, 41, 60, 61, 62, 208, 209, Sparta (Griechenland) 85 210, 211-228, 232, 262, 337, 338, 340 Spencer, Herbert (1820-1903) 359 Rheinmetall entwaffnen 57, 184 Saracoglu, Fatih 74 Spengler, Oswald (1880-1936) 347 Riederwald (Stadtteil von Frankfurt am Main) 58, 186Rieger, Diana Saudi-Arabien 223, 240, 242, 334 Staatliches Schulamt Fulda 34, 35 146 Scheiteljugend Kassel 48, 102, 103, 368 Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main 26, 27 Riesa (Sachsen) 132 Schleswig-Holstein 130 Stadt, Land, Volk 182 Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) 182 Schmidtke, Sebastian 125 Stalin (eigentl. Dschugaschwilli Josef W., Schmitt, Carl (1888-1985) 47, 93 1878-1953) 361, 362 RiseUp4Rojava 65, 273, 357 Schmitt, Josephine 146 Stalingrad (Russland) 366 Roeder, Manfred (1929-1914) 103 Schmorell, Alexander (1917-1943) 366 Steinau an der Straße (Main-Kinzig-Kreis) 35 "Rojava" 273, 274, 276, 287 Schnellroda (Sachsen-Anhalt) 88, 90, 117 Sterk TV/NUCE-TV 268, 279 Rosenberg, Alfred (1893-1946) 95, 350 Scholl, Hans (1918-1943) 366 Streitmacht 108, 368 Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) 93 Scholl, Sophie (1921-1943) 366 StudentsDefendRojava 186 Rote Armee 139 Schönborn, Meinolf 47, 98, 99 Sturm 18 e. V. 105, 107, 368 Rote Hilfe Deutschlands (RHD) 201, 344 Sturmabteilung (SA) 351 378 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 REGISTER Sturmbrigade 44/Wolfsbrigade 44 Türkei 63, 64, 65, 66, 68, 184, 216, 217, Vereinte Staaten von Amerika (United States 107, 368 220, 240, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, of America, USA) 47, 53, 67, 76, 96, 253, 254, 255, 256, 257, 261, 262, 267, 268, 51, 127, 164, 171, 194, 218, 222, 255, 290, Sturmrebellen 108, 111, 368 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 334, 359, 364, 367 278, 279, 280, 282, 283, 284, 285, 286, 287, Stuttgart (Baden-Württemberg) 79, 82, 270 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung 288, 290, 298, 302, 334, 362, 363, 364, 367 des Staates Subkulturell orientierte Rechtsextremisten Türkische Union Europa e. V. 252 37, 41, 46, 54, 55, 143, 165, 167-173 21, 48, 49, 73, 100, 108-114 Türkiye Isci Köylü Kurtulus Ordusu (TIKKO, Verlag Antaios 89, 90, 91, 118, 119, 144 Swing 179 Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee) 284, 285 Verwaltungsgericht Dresden 113 Syrien 62, 63, 65, 66, 68, 184, 216, 217, 219, 220, 221, 225, 231, 242, 258, 268, 272, Vezarat-e-ettelaat jomhuri-ye eslami-ye Türkiye Komünist Isci Hareketi (TKIH, 275, 276, 277, 279, 280, 287, 288, 298, 303, iran/Ministry of Intelligence (VAJA/MOIS) Türkische Kommunistische Arbeiterbewegung) 304,355 302 287 Türkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist HaVietnam 68, 298, 303 reketi (TKP/ML-H, Türkische Kommunistische T Partei/Marxisten-Leninisten-Bewegung) Violence Prevention Network (VPN) 32, 232 T.A.S.K. 181, 182, 183, 196, 369 287 Vogel, Pierre 214 Taiwan 298 Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist Voice of Khurasan 218 (TKP/ML, Türkische Kommunistische Taleban 61, 215, 228, 369 Partei/Marxisten-Leninisten) Voigt, Udo 125, 131 65, 66, 284-286, 370 Telegram 45, 78, 79 81, 82, 89, 90, 98, Volksgerichtshof 366 99, 101, 111, 126, 129, 130, 148 TV5 249 Teutonicus 48, 109 Twitter 82, 98, 99, 118, 119, 120, 121, 229, 233, 237, 273 W Tevgera Ciwanen Soresger (TCS, Bewegung der revolutionären Jugend) 270, 278 Wackersdorf (Bayern) 189 Tevgera Jinen Kurd li Ewropa (TJK-E, Waffen SS 340 U Kurdische Frauenbewegung in Europa) 272 Wagenknecht, Sahra 93 ufuq.de [Verein in Berlin] 232 Teyrebazen Azadiya Kurdistan (TAK, Freiheitsfalken Kurdistans) 268, 370 Wapnjarka (Ukraine) 171 Ukraine 27, 46, 47, 51, 52, 55, 57, 59, 63, 67, 68, 69, 81, 86, 96, 97, 116, 117, 124, Washington D. C. (USA) 47, 96 Thaler, Philip 77 127, 134, 135, 136, 137, 142, 143, 145, 168, Thommen, Lukas 85 169, 170, 171, 172, 173, 184, 185, 199, 200, We love Muhammad 213, 226, 369 231, 288, 290, 298, 299, 300, 301, 304 Threema 148 Wegbereiter 138 Ülkücü-Bewegung 267, 362, 363, 364 Thule-Gesellschaft 95 Wehrsportgruppe Hoffmann 104 Ungarn 81, 139 Thule-Seminar e. V. 47, 95-98, 368 Weidenthal (Rheinland-Pfalz) 135 Unvar, Ferhat 74 Thüringen 50, 99, 115, 118, 121, 126, Weigler, Sebastian 129 129, 131, 193 Ustaosmaoglu, Mahmut (1929-2022) 249, 253 Weilburg (Landkreis Limburg-Weilburg) 136 Thüringer Heimatschutz (THS) 104 Weiße Rose 85, 366 TikTok 229, 230, 231, 237 Weisse Wölfe Terrorcrew 107, 368 Tong cuc 2 (TC2) 303 V Werl, Michael 115, 117, 118 Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) Tromso (Norwegen) 300 54, 158, 159, 368 Wesertal (Landkreis Kassel) 47, 99 Trotzki, Leo (1879-1940) 362 Velkov, Kaloyan 74 Westdeutscher Rundfunk (WDR) 29 Trotzkisten 55, 178, 183, 362 Vereinigte Arabische Emirate 240, 334 Wetteraukreis 35, 51, 115, 116, 123, Tunesien 239 124, 125, 127, 128, 132, 134 Vereinte Nationen (United Nations, UN) 335 Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) 33, 128, 129, 136 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 379 REGISTER WhatsApp 148 Zollkriminalamt (ZKA) 23, 24 Wiesbaden 22, 62, 115, 116, 150, Zypern 64, 250, 357 151, 202, 213, 285 Wieschke, Patrick 125 Wildeck (Landkreis Hersfeld-Rotenburg) 35 Wolfgang-Ernst-Gymnasium (Büdingen, Wetteraukreis) 35 Women Defend Rojava 273 Worch, Christian 104, 105 Wulff, Thomas 104 Wunsiedel (Bayern) 52, 138, 142, 243, 341 Wurm, Manuel 115, 116, 118, 119 Y Yekineyen Parastina Gel (YPG, Volksverteidigungseinheiten) 65, 268, 272, 280, 370 Yekineyen Parastina Jin (YPJ, Frauenverteidigungseinheiten) 268, 280 Yekitiya Jinen Kurdistan li Elmanyaye (YJK-E, Verband der Frauen aus Kurdistan in Deutschland) 271, 370 Yekitiya Xwendekaren Kurdistan (YXK, Verband der Studierenden aus Kurdistan) 274, 278, 279, 285, 370 Yeni Demokratik Genclik (YDG, Neue demokratische Jugend) 66, 273, 274, 285, 370 Yeni Kadin (Neue Frau) 66, 285, 370 Yeni Özgür Politika (YÖP, Neue Freie Politik) 268, 279 Young Struggle 66, 273, 274, 285, 287, 288, 370 YouTube 80, 82, 83, 89, 111, 147, 229, 236, 237 Yürüyüs (Marsch) 282 Z Z-Versand 47, 98 Zentralrat der Muslime (ZMD) 239 Zentrum der Islamischen Kultur (ZIK) 260, 261, 369 Zilan s. Kinaci, Zeynep 380 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES VERFASSUNGSSCHUTZES IN HESSEN Vom 25. Juni 2018 - veröffentlicht am 3. Juli 2018 im Gesetzund Verordnungsblatt für das Land Hessen, Nr. 13, S. 302ff. Artikel 1) Hessisches Verfassungsschutzgesetz (HVSG) PRÄAMBEL Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Er ist Dienstleister der Demokratie und hält insbesondere die analytischen Kompetenzen zur Beurteilung jener Gefahren vor, die Demokratie und Menschenrechten durch extremistische Bestrebungen drohen. Er tauscht sich mit Wissenschaft und Gesellschaft aus. Hierzu gehört auch der öffentliche Diskurs. Er berücksichtigt gesellschaftliche Vielfalt und gesellschaftliche Entwicklungen. ERSTER TEIL Organisation und Aufgaben des Landesamts SS1 ORGANISATION DES LANDESAMTS (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz (Landesamt) untersteht als obere Landesbehörde dem für den Verfassungsschutz zuständigen Ministerium. Es darf mit Polizeidienststellen organisatorisch nicht verbunden werden. (2) Verfassungsschutzbehörden anderer Länder dürfen in Hessen nur im Einvernehmen, das Bundesamt für Verfassungsschutz nur im Benehmen mit dem Landesamt tätig werden. Das Landesamt darf in anderen Ländern nur tätig werden, soweit die Rechtsvorschriften der anderen Länder dies zulassen. SS2 AUFGABEN DES LANDESAMTS (1) Das Landesamt ist zuständig für die Zusammenarbeit Hessens mit dem Bund und den anderen Ländern in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes. Aufgabe des Landesamts ist es, es den zuständigen Stellen zu ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu treffen. Das Landesamt hat auch die Aufgabe, den in Abs. 2 genannten Bestrebungen und Tätigkeiten durch Information, Aufklärung und Beratung entgegenzuwirken und vorzubeugen (Prävention). Zur Aufklärung der Öffentlichkeit erstellt das Landesamt mindestens einmal jährlich einen Bericht über Bestrebungen und Tätigkeiten nach Abs. 2 oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür. Der Bericht wird von dem für den Verfassungsschutz zuständigen Ministerium herausgegeben und auf der Internetseite des Landesamts für fünf Jahre bereitgestellt. (2) Aufgabe des Landesamts ist die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder die eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 381 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, 3. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 4. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), gerichtet sind, 5. Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität im Geltungsbereich des Grundgesetzes. (3) Das Landesamt wirkt mit bei Sicherheitsüberprüfungen und Überprüfungen nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Juni 2017 (BGBl. I S. 1634). (4) Das Landesamt ist zuständig für Sicherheitsüberprüfungen nach SS 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) vom 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, 2998), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2017 (BGBl. I S. 3202). SS3 BEGRIFFSBESTIMMUNGEN (1) Die Begriffsbestimmungen des SS 4 Abs. 1 Satz 1, 2 und 4 sowie Abs. 2 des Bundesverfassungsschutzgesetzes finden Anwendung. (2) Organisierte Kriminalität im Sinne dieses Gesetzes ist die von Gewinnoder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind, durch mehr als zwei Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig tätig werden 1. unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, 2. unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohung oder 3. unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft. ZWEITER TEIL Befugnisse des Landesamts SS4 INFORMATIONSERHEBUNG (1) Das Landesamt darf die zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 Abs. 1 und 2 erforderlichen Informationen erheben und verarbeiten. Einzelheiten zum Umgang mit den erhobenen Informationen regelt eine von dem für den Verfassungsschutz zuständigen Ministerium zu erlassende Dienstvorschrift. (2) Das Landesamt darf personenbezogene Daten aus allgemein zugänglichen Quellen erheben und verarbeiten, um zu prüfen, ob tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen. (3) Liegen bei der betroffenen Person tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vor oder wird das Landesamt nach SS 2 Abs. 3 oder 4 tätig, darf es Auskünfte bei öffentlichen Stellen oder Dritten einholen, wenn die Daten 1. nicht aus allgemein zugänglichen Quellen, 2. nur mit übermäßigem Aufwand oder 3. nur durch eine die betroffene Person stärker belastende Maßnahme erhoben werden können. Würde durch die Erhebung von Auskünften nach Satz 1 der Zweck der Maßnahme gefährdet oder die betroffene Person unverhältnismäßig beeinträchtigt, darf das Landesamt Akten und Register öffentlicher Stellen einsehen. Im Übrigen gilt SS 18. 382 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (4) Das Landesamt muss Ersuchen auf Auskunft oder Einsicht nicht begründen, soweit dies dem Schutz der betroffenen Person dient oder eine Begründung den Zweck der Maßnahme gefährden würde. Es hat die Ersuchen aktenkundig zu machen. Über die Einsichtnahme nach Abs. 3 Satz 2 hat das Landesamt einen Nachweis zu führen, aus dem der Zweck, die ersuchte Behörde und die Aktenfundstelle hervorgehen. Der Nachweis ist gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. (5) Zur Beantwortung von Übermittlungsersuchen nach SS 20 Abs. 1 Nr. 2 darf das Landesamt personenbezogene Daten nur erheben, soweit dies zur Überprüfung der dem Landesamt bereits vorliegenden Informationen erforderlich ist. Abs. 3 bleibt unberührt. (6) Werden Daten bei der betroffenen Person oder bei Dritten außerhalb des öffentlichen Bereichs offen erhoben, so sind die Befragten auf die Freiwilligkeit ihrer Angaben hinzuweisen. Gegenüber der betroffenen Person ist der Erhebungszweck anzugeben. Die Befragten sind bei einer Sicherheitsüberprüfung nach SS 2 Abs. 3 oder 4 auf eine dienst-, arbeitsrechtliche oder sonstige vertragliche Mitwirkungspflicht hinzuweisen. (7) Ein Ersuchen des Landesamts um Übermittlung personenbezogener Daten darf nur diejenigen personenbezogenen Daten enthalten, die für die Erteilung der Auskunft unerlässlich sind. Schutzwürdige Interessen der betroffenen Person dürfen nur in unvermeidbarem Umfang beeinträchtigt werden. (8) Zur Aufgabenerfüllung nach SS 2 dürfen personenbezogene Daten von Personen, bei denen keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie selbst Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des SS 2 Abs. 2 nachgehen (Unbeteiligte), nur erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn 1. dies für die Erforschung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorübergehend erforderlich ist, 2. die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre und 3. überwiegende schutzwürdige Belange der betroffenen Personen nicht entgegenstehen. Personenbezogene Daten Unbeteiligter dürfen auch erhoben werden, wenn sie mit zur Aufgabenerfüllung erforderlichen Informationen untrennbar verbunden sind. (9) Daten, die für das Verständnis der zu speichernden Informationen nicht erforderlich sind, sind unverzüglich zu löschen. Dies gilt nicht, wenn die Löschung nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand möglich ist; in diesem Fall dürfen die Daten nicht verwertet werden. SS5 INFORMATIONSERHEBUNG MIT NACHRICHTEN DIENSTLICHEN MITTELN (1) Das Landesamt darf Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln erheben. Für personenbezogene Daten gilt dies nur, wenn 1. bei der betroffenen Person tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen und anzunehmen ist, dass auf diese Weise zusätzliche Erkenntnisse erlangt werden können, 2. tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass auf diese Weise die zur Erforschung von Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 erforderlichen Quellen gewonnen werden können, 3. dies zum Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Einrichtungen, Gegenstände und Informationsquellen des Landesamts gegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist oder 4. dies zur Überprüfung der Nachrichtenehrlichkeit und der Eignung von Vertrauensleuten erforderlich ist. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 383 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (2) Nachrichtendienstliche Mittel sind Mittel und Methoden, die mittelbar oder unmittelbar dem von der betroffenen oder außenstehenden Person nicht erkennbaren Erheben von Daten dienen. Als nachrichtendienstliche Mittel darf das Landesamt einsetzen: 1. Überwachung des Brief-, Postund Fernmeldeverkehrs im Sinne des Art. 10 des Grundgesetzes einschließlich notwendiger Begleitmaßnahmen nach SS 6, 2. technische Mittel zur Wohnraumüberwachung nach SS 7, 3. technische Mittel zur Ortung von Mobilfunkendgeräten nach SS 9, 4. besondere Auskunftsersuchen nach SS 10 zu a) den Umständen des Postverkehrs bei Unternehmen, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen oder daran mitwirken, b) Telekommunikationsverbindungsund Teledienstenutzungsdaten bei Unternehmen, die geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste und Teledienste erbringen oder daran mitwirken, c) Daten bei Verkehrsunternehmen, Betreibern von Computerreservierungssystemen und globalen Distributionssystemen sowie bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen, 5. Observation nach SS 11, 6. Verdeckte Mitarbeiterinnen, Verdeckte Mitarbeiter und Vertrauensleute nach den SSSS 12 und 13, 7. verdeckte Ermittlungen und Befragungen, 8. Tonund Bildaufzeichnungen außerhalb der Schutzbereiche der Art. 10 und 13 des Grundgesetzes mit und ohne Inanspruchnahme technischer Mittel, 9. Tarnmittel, 10. Funkbeobachtungen, 11. Beobachtung des Internets; dies beinhaltet auch die verdeckte Teilnahme an der im Internet geführten Kommunikation, insbesondere in Foren und elektronischen Kommunikationsplattformen. (3) In den Fällen des Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 dürfen nachrichtendienstliche Mittel nicht gezielt gegen Unbeteiligte eingesetzt werden; im Übrigen gilt SS 4 Abs. 8 Satz 2 und Abs. 9. Einzelheiten regelt das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium durch Dienstvorschrift, insbesondere die organisatorische Zuständigkeit für die Anordnung von Informationserhebungen mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Die Dienstvorschrift ist der Parlamentarischen Kontrollkommission nach SS 1 des Verfassungsschutzkontrollgesetzes vom 25. Juni 2018 (GVBl. S. 302, 317) zu übersenden. (4) Gemeinden, Gemeindeverbände und die sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie die Gerichte und Staatsanwaltschaften und das Landesamt leisten sich gegenseitig Amtsund Rechtshilfe. Dies gilt insbesondere für die technische Hilfe bei Tarnmaßnahmen. Polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse stehen dem Landesamt nicht zu. Das Landesamt darf auch nicht im Wege der Amtshilfe Polizeibehörden um Maßnahmen ersuchen, zu denen es selbst nicht befugt ist. (5) Zur Erfüllung von Aufgaben aufgrund eines Gesetzes nach Art. 73 Nr. 10 Buchst. b und c des Grundgesetzes stehen dem Landesamt die Befugnisse zu, die es zur Erfüllung der entsprechenden Aufgaben nach diesem Gesetz hat. SS6 ÜBERWACHUNG DES BRIEF, POST UND FERNMELDE VERKEHRS UND DER TELEKOMMUNIKATION Die Überwachung des Brief-, Postund Fernmeldeverkehrs im Sinne des Art. 10 des Grundgesetzes richtet sich nach dem Artikel 10-Gesetz mit den in Satz 2 bis 6 bestimmten Maßgaben und dem Hessischen Ausführungsgesetz zum Artikel 10-Gesetz vom 16. Dezember 1969 (GVBl. I S. 303), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. September 2012 (GVBl. I S. 290), in der jeweils geltenden Fassung. Dabei ist SS 3a Satz 12 des Artikel 10-Gesetzes mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Dokumentation sechs Monate nach der Mitteilung oder nach der Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach SS 12 Abs. 1 Satz 1 oder 5 des Artikel 10-Gesetzes zu löschen ist. Ist eine laufende Kontrolle nach SS 4 Abs. 1 Satz 2 des Hessischen Ausführungsge384 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV setzes zum Artikel 10-Gesetz durch die G 10-Kommission noch nicht beendet, ist die Dokumentation bis zum Abschluss der laufenden Kontrolle aufzubewahren. SS 3b des Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass sich SS 3b Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes auch auf Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte erstreckt, die in anderen Mandatsverhältnissen als der Strafverteidigung tätig sind, auf Kammerrechtsbeistände sowie auf deren Berufshelfer nach SS 53a der Strafprozessordnung. SS 4 Abs. 1 Satz 5 des Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Protokolldaten sechs Monate nach der Mitteilung oder nach der Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach SS 12 Abs. 1 Satz 1 oder 5 des Artikel 10-Gesetzes zu löschen sind. SS 4 Abs. 1 Satz 6 des Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Löschung der Daten auch unterbleibt, soweit die Daten für eine Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Beschränkungsmaßnahme nach SS 4 Abs. 1 Satz 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz durch die G 10-Kommission von Bedeutung sein können. SS7 VERDECKTER EINSATZ TECHNISCHER MITTEL ZUR WOHNRAUMÜBERWACHUNG (1) Das Landesamt darf bei der Erhebung personenbezogener Daten in einer Wohnung verdeckt technische Mittel einsetzen, um das nichtöffentlich gesprochene Wort abzuhören und aufzuzeichnen sowie Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen herzustellen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen für eine konkretisierte dringende Gefahr für 1. den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes, 2. Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder 3. solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Bundes oder eines Landes oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt. (2) Die Anordnung einer Wohnraumüberwachung ist nur zulässig, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtlos oder wesentlich erschwert wäre. Die Maßnahme darf sich nur gegen eine Person richten, von der aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass sie für die Gefahr verantwortlich ist (Zielperson), und nur in deren Wohnung durchgeführt werden. In der Wohnung einer anderen Person ist die Maßnahme nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass sich die Zielperson dort zur Zeit der Maßnahme aufhält, sich dort für die Erforschung des Sachverhalts relevante Informationen ergeben werden und der Zweck der Maßnahme nicht allein unter Beschränkung auf die Wohnung der Zielperson zu erreichen ist. Die Maßnahme darf auch durchgeführt werden, wenn andere Personen unvermeidbar betroffen werden. (3) Im Antrag auf eine richterliche Anordnung nach SS 8 Abs. 1 sind anzugeben: 1. die Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, soweit möglich, mit Name und Anschrift, 2. die zu überwachende Wohnung oder die zu überwachenden Wohnräume, 3. Art, Umfang und Dauer der Maßnahme, 4. der Sachverhalt sowie 5. eine Begründung. (4) Die Maßnahme ist unzulässig, soweit tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass durch sie allein Erkenntnisse gewonnen werden würden 1. aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder 2. bei einer Rechtsanwältin, einem Rechtsanwalt, einem Kammerrechtsbeistand, einer der in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung genannten Person oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, über die der Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte. Erfolgen Maßnahmen bei einem der im Übrigen in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder 5 der Strafprozessordnung genannten Berufsgeheimnisträger oder einer diesen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 385 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, sind das öffentliche Interesse an den von dem Berufsgeheimnisträger wahrgenommenen Aufgaben und das Interesse an der Geheimhaltung der diesem anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen besonders zu berücksichtigen. Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 gelten nicht bei Maßnahmen zur Aufklärung von eigenen Bestrebungen oder Tätigkeiten der genannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. (5) Ergeben sich während der Überwachung tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne von Abs. 4 Satz 1, ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen, sobald dies ohne Gefährdung eingesetzter Personen möglich ist. Bestehen insoweit Zweifel, darf nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Sind das Abhören und Beobachten nach Satz 1 unterbrochen worden, so darf die Maßnahme fortgeführt werden, wenn keine Anhaltspunkte nach Abs. 4 Satz 1 vorliegen. Erkenntnisse, die durch eine Maßnahme nach Abs. 1 erlangt worden sind, sind dem für die Anordnung zuständigen Gericht unverzüglich vorzulegen. Das Gericht entscheidet unverzüglich über die Verwertbarkeit oder Löschung. Soweit Erkenntnisse im Sinne von Abs. 4 Satz 1 durch eine Maßnahme nach Abs. 1 erlangt worden sind, dürfen sie nicht verwertet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Dokumentation ist sechs Monate nach der Mitteilung oder nach Erteilung der gerichtlichen Zustimmung zur Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach SS 8 Abs. 4 zu löschen. (6) Bei Gefahr im Verzug können die Erkenntnisse, die durch eine Maßnahme nach Abs. 1 erlangt worden sind, unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat, gesichtet werden. Die oder der Bedienstete entscheidet im Benehmen mit der oder dem Datenschutzbeauftragten des Landesamts über eine vorläufige Verwertung der Erkenntnisse. Die Bediensteten sind zur Verschwiegenheit über die ihnen bekannt gewordenen Erkenntnisse, die nicht verwertet werden dürfen, verpflichtet. Die gerichtliche Entscheidung nach Abs. 5 Satz 4 und 5 ist unverzüglich nachzuholen. SS8 VERFAHREN BEI MASSNAHMEN NACH SS 7 (1) Der Einsatz technischer Mittel nach SS 7 bedarf einer richterlichen Anordnung. Die Anordnung ergeht schriftlich. Bei Gefahr im Verzug kann die Behördenleitung oder ihre Vertretung die Anordnung treffen; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. Die Anordnung ist auf höchstens einen Monat zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als einen weiteren Monat sind zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. (2) Das Landesamt prüft unverzüglich und sodann in Abständen von höchstens sechs Monaten, ob die erhobenen personenbezogenen Daten für seine Aufgaben nach SS 2 Abs. 1 und 2 erforderlich sind. Soweit die Daten für diese Zwecke nicht erforderlich sind und nicht für eine Übermittlung an andere Stellen benötigt werden, sind sie unverzüglich unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat, zu löschen. Die Löschung ist zu protokollieren. Die Protokolldaten dürfen ausschließlich zur Durchführung der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Protokolldaten sind sechs Monate nach der Mitteilung oder nach Erteilung der gerichtlichen Zustimmung zur Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach Abs. 4 zu löschen. Die Löschung der Daten unterbleibt, soweit die Daten für eine Mitteilung nach Abs. 4 oder für eine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme von Bedeutung sein können. In diesem Fall sind die Daten in der Verarbeitung einzuschränken; sie dürfen nur zu diesen Zwecken verwendet werden. (3) Die verbleibenden Daten sind zu kennzeichnen. Die Behördenleitung oder ihre Stellvertretung kann anordnen, dass bei der Übermittlung auf die Kennzeichnung verzichtet wird, wenn dies unerlässlich ist, um die Geheimhaltung einer Maßnahme nicht zu gefährden, und das für die Anordnung zuständige Gericht zugestimmt hat. 386 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV Bei Gefahr im Verzug kann die Anordnung bereits vor der Zustimmung getroffen werden. Wird die Zustimmung versagt, ist die Kennzeichnung durch den Übermittlungsempfänger unverzüglich nachzuholen; die übermittelnde Behörde hat ihn hiervon zu unterrichten. Nach einer Übermittlung ist die Kennzeichnung durch den Empfänger aufrechtzuerhalten. (4) Eine Maßnahme nach SS 7 ist der betroffenen Person nach ihrer Einstellung mitzuteilen. Die Mitteilung unterbleibt, solange eine Gefährdung des Zwecks der Beschränkung nicht ausgeschlossen werden kann oder solange der Eintritt übergreifender Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes absehbar ist. Erfolgt die nach Satz 2 zurückgestellte Mitteilung nicht binnen zwölf Monaten nach Beendigung der Maßnahme, bedarf die weitere Zurückstellung der Zustimmung des für die Anordnung zuständigen Gerichts. Das Gericht bestimmt die Dauer der weiteren Zurückstellung. Einer Mitteilung bedarf es nicht, wenn das Gericht festgestellt hat, dass 1. eine der Voraussetzungen in Satz 2 auch nach fünf Jahren nach Beendigung der Maßnahme noch vorliegt, 2. sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft vorliegt und 3. die Voraussetzungen für eine Löschung sowohl beim Landesamt als auch beim Empfänger vorliegen. Eine Mitteilung kann auch auf Dauer unterbleiben, wenn überwiegende Interessen einer betroffenen Person entgegenstehen oder wenn die Identität oder der Aufenthaltsort einer betroffenen Person nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu ermitteln ist. Die Mitteilung obliegt dem Landesamt. Wurden personenbezogene Daten übermittelt, erfolgt die Mitteilung im Benehmen mit dem Empfänger. (5) Die aus der Anordnung sich ergebenden Maßnahmen sind unter Verantwortung des Landesamts und unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten vorzunehmen, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat. Die Maßnahmen sind unverzüglich zu beenden, wenn sie nicht mehr erforderlich sind oder die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vorliegen. Die Beendigung ist dem für die Anordnung zuständigen Gericht anzuzeigen. (6) Personenbezogene Daten aus Maßnahmen nach SS 7 dürfen nur verwendet werden 1. zur Abwehr einer drohenden Gefahr im Sinne von SS 7 Abs. 1, 2. wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die dringende Gefahr der Begehung von besonders schweren Straftaten im Sinne von SS 100b Abs. 2 der Strafprozessordnung vorliegen oder 3. zur Verfolgung von Straftaten, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme nach den entsprechenden Befugnissen der Strafprozessordnung angeordnet werden könnte. Personenbezogene Daten aus Maßnahmen nach SS 7, die durch Herstellung von Bildaufnahmen oder Bildaufzeichnungen erlangt wurden, dürfen nicht zu Strafverfolgungszwecken weiterverarbeitet werden. (7) Dient der Einsatz technischer Mittel nach SS 7 ausschließlich dem Schutz der für den Verfassungsschutz bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen, erfolgt die Anordnung abweichend von Abs. 1 durch die Behördenleitung oder ihre Vertretung. Eine anderweitige Verwendung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zulässig, wenn zuvor richterlich festgestellt wurde, dass die Maßnahme rechtmäßig ist und die Voraussetzungen des SS 7 Abs. 1 vorliegen; Abs. 1 Satz 3 gilt entsprechend. Im Übrigen sind die Daten unverzüglich zu löschen. (8) Zuständig für die richterlichen Entscheidungen ist das Amtsgericht am Sitz des Landesamts; über Beschwerden entscheidet das in SS 120 Abs. 4 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes bezeichnete Gericht. Für das Verfahren gelten die Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586, 2587), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2780), in der jeweils geltenden Fassung entsprechend; die Rechtsbeschwerde ist ausgeschlossen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 387 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV SS9 ORTUNG VON MOBILFUNKENDGERÄTEN (1) Das Landesamt darf technische Mittel zur Ermittlung des Standorts eines aktiv geschalteten Mobilfunkendgeräts oder zur Ermittlung der Geräteoder Kartennummer einsetzen, soweit tatsächliche Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Gefahr für die von SS 2 umfassten Schutzgüter vorliegen. (2) SS 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 und die SSSS 9 und 10 Abs. 1 bis 3 des Artikel 10-Gesetzes gelten entsprechend. SS10 BESONDERE AUSKUNFTSERSUCHEN (1) Das Landesamt darf im Einzelfall, soweit dies zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 erforderlich ist, bei denjenigen, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen oder Telemedien anbieten oder daran mitwirken, Auskünfte über Daten, die für die Begründung, inhaltliche Ausgestaltung, Änderung oder Beendigung eines Vertragsverhältnisses über Postdienstleistungen oder Telemedien gespeichert worden sind, einholen. (2) Das Landesamt darf im Einzelfall zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen, bei 1. Verkehrsunternehmen sowie Betreibern von Computerreservierungssystemen und Globalen Distributionssystemen für Flüge zu Namen und Anschriften von Kunden sowie zu Inanspruchnahme und Umständen von Transportleistungen, insbesondere zum Zeitpunkt von Abfertigung und Abflug und zum Buchungsweg, 2. Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen zu Konten, Konteninhabern und sonstigen Berechtigten sowie weiteren am Zahlungsverkehr Beteiligten und über Geldbewegungen und Geldanlagen, insbesondere über Kontostand und Zahlungseinund -ausgänge, einholen. Im Fall des SS 2 Abs. 2 Nr. 1 gilt dies nur für Bestrebungen, die bezwecken oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, 1. zu Hassoder Willkürmaßnahmen gegen Teile der Bevölkerung aufzustacheln oder deren Menschenwürde durch Beschimpfen, böswilliges Verächtlichmachen oder Verleumden anzugreifen und dadurch die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt zu fördern und den öffentlichen Frieden zu stören oder 2. Gewalt anzuwenden oder vorzubereiten, einschließlich des Befürwortens, Hervorrufens oder Unterstützens von Gewaltanwendung, auch durch Unterstützen von Vereinigungen, die Anschläge gegen Personen oder Sachen veranlassen, befürworten oder androhen. (3) Das Landesamt darf im Einzelfall, soweit dies zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 erforderlich ist, von denjenigen, die geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringen oder daran mitwirken, Auskünfte über die nach den SSSS 95 und 111 des Telekommunikationsgesetzes vom 22. Juni 2004 (BGBl. I S. 1190), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3618), in der jeweils geltenden Fassung erhobenen Daten verlangen (SS 113 Abs. 1 Satz 1 des Telekommunikationsgesetzes). Dies gilt auch für Daten, mittels derer der Zugriff auf Endgeräte oder auf Speichereinrichtungen, die in diesen Endgeräten oder hiervon räumlich getrennt eingesetzt werden, geschützt wird (SS 113 Abs. 1 Satz 2 des Telekommunikationsgesetzes). Die Auskunft darf auch anhand einer zu einem bestimmten Zeitpunkt zugewiesenen Internetprotokoll-Adresse verlangt werden (SS 113 Abs. 1 Satz 3 des Telekommunikationsgesetzes). Die Auskunft darf nur verlangt werden, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für das Nutzen der Daten vorliegen. (4) Das Landesamt darf im Einzelfall zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes bei Personen und Unternehmen, die geschäftsmäßig 1. Postdienstleistungen erbringen oder daran mitwirken, Auskünfte zu Namen, Anschriften und Postfächern und sonstigen Umständen des Postverkehrs, 2. Telekommunikationsdienste erbringen oder daran mitwirken, Auskünfte zu Verkehrsdaten nach SS 96 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 5 des Telekommunikationsgesetzes 388 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV 3. Telemedien anbieten oder daran mitwirken, Auskünfte über a) Merkmale zur Identifikation des Nutzers von Telemedien, b) Beginn und Ende sowie über den Umfang der jeweiligen Nutzung und c) die vom Nutzer in Anspruch genommenen Telemedien einholen. (5) Auskünfte nach Abs. 3, soweit Daten nach SS 113 Abs. 1 Satz 2 und 3 des Telekommunikationsgesetzes betroffen sind, und Auskünfte nach Abs. 4 dürfen nur auf Anordnung des für den Verfassungsschutz zuständigen Ministeriums eingeholt werden. Die Anordnung ist durch die Behördenleitung schriftlich zu beantragen. Der Antrag ist zu begründen. Das Ministerium unterrichtet unverzüglich die G 10-Kommission nach SS 2 Abs. 1 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz über die Anordnung vor deren Vollzug und holt deren Zustimmung ein. Bei Gefahr im Verzug kann das Ministerium den Vollzug der Anordnung auch bereits vor Unterrichtung der G 10-Kommission anordnen. Die G 10-Kommission prüft von Amts wegen oder aufgrund von Beschwerden die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Einholung von Auskünften. SS 15 Abs. 5 des Artikel 10-Gesetzes ist entsprechend anzuwenden. Anordnungen, welche die G 10-Kommission für unzulässig erklärt, hat das Ministerium unverzüglich aufzuheben. (6) Bei Maßnahmen nach Abs. 2 bis 4 ist SS 4 des Artikel 10-Gesetzes mit der Maßgabe nach SS 6 Satz 5 und 6 dieses Gesetzes anzuwenden, die SSSS 9, 10, 11 Abs. 1 und 2, SS 12 Abs. 1 und 3, SS 17 Abs. 3 des Artikel 10-Gesetzes sowie SS 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz sind entsprechend anzuwenden. Abweichend von SS 10 Abs. 3 des Artikel 10-Gesetzes genügt eine räumlich und zeitlich hinreichende Bezeichnung der Telekommunikation, sofern anderenfalls die Erreichung des Zwecks der Maßnahme aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Soweit dem Verpflichteten keine Entschädigung nach besonderen Bestimmungen zusteht, findet SS 20 des Artikel 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. Im Übrigen hat der Verpflichtete die Auskunft unentgeltlich zu erteilen. (7) Die zur Erteilung der Auskunft erforderlichen Daten müssen unverzüglich, vollständig und richtig übermittelt werden. Das Auskunftsersuchen und die übermittelten Daten dürfen der betroffenen Person oder Dritten vom Verpflichteten nicht mitgeteilt werden. (8) Auf Auskünfte nach Abs. 4 Nr. 2 sind die Vorgaben des SS 8b Abs. 8 Satz 4 und 5 des Bundesverfassungsschutzgesetzes anzuwenden. Für die Erteilung von Auskünften nach Abs. 1, 2 und 4 Nr. 3 gilt die Nachrichtendienste-Übermittlungsverordnung vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I S. 2117), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3346), in der jeweils geltenden Fassung. (9) Dem Verpflichteten ist es verboten, allein aufgrund eines Auskunftsersuchens einseitige Handlungen vorzunehmen, die für die betroffene Person nachteilig sind und die über die Erteilung der Auskunft hinausgehen, insbesondere bestehende Verträge oder Geschäftsverbindungen zu beenden, ihren Umfang zu beschränken oder ein Entgelt zu erheben oder zu erhöhen. Die Anordnung ist mit dem ausdrücklichen Hinweis auf dieses Verbot und darauf zu verbinden, dass das Auskunftsersuchen nicht die Aussage beinhaltet, dass sich die betroffene Person rechtswidrig verhalten hat oder ein darauf gerichteter Verdacht bestehen müsse. SS11 OBSERVATION (1) Das Landesamt darf zur Aufklärung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 außerhalb der Schutzbereiche der Art. 10 und 13 des Grundgesetzes Personen verdeckt mit oder ohne Inanspruchnahme technischer Mittel planmäßig observieren, insbesondere das nichtöffentlich gesprochene Wort mithören, abhören und aufzeichnen sowie Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen anfertigen. (2) Die Maßnahme ist im Einzelfall länger als 48 Stunden oder an mehr als drei Tagen innerhalb einer Woche (langfristige Observation) nur zur Aufklärung von Bestrebungen oder Tätigkeiten mit erheblicher Bedeutung zulässig, insbesondere, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 389 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV wenn sie darauf gerichtet sind, Gewalt anzuwenden oder Gewaltanwendung vorzubereiten. (3) Die Maßnahme darf sich nur gegen Personen richten, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass sie 1. an den Bestrebungen oder Tätigkeiten beteiligt sind, oder 2. im Zusammenhang mit einer Person nach Nr. 1 stehen und durch die Maßnahme Erkenntnisse, die nicht gleichermaßen nach Nr. 1 zu gewinnen sind, über die Bestrebungen oder Tätigkeiten gewonnen werden können. Die Maßnahme darf auch durchgeführt werden, wenn andere Personen unvermeidbar betroffen werden. (4) Über die Anordnung einer langfristigen Observation nach Abs. 2 entscheidet die Behördenleitung oder ihre Vertretung. Die Anordnung ergeht schriftlich. Bei Gefahr im Verzug kann die zuständige Abteilungsleitung oder deren Vertretung die Anordnung treffen; die Entscheidung nach Satz 1 ist unverzüglich nachzuholen. Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als drei weitere Monate sind zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. (5) In der Anordnung einer langfristigen Observation nach Abs. 2 sind anzugeben: 1. die Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, soweit möglich, mit Name und Anschrift, 2. Art, Umfang und Dauer der Maßnahme sowie 3. die wesentlichen Gründe. (6) Die Maßnahme ist unzulässig, soweit tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass durch sie allein Erkenntnisse gewonnen werden würden 1. aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder 2. bei einer Rechtsanwältin, einem Rechtsanwalt, einem Kammerrechtsbeistand, einer der in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung genannten Person oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, über die der Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte. Erfolgen Maßnahmen bei einem der im Übrigen in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder 5 der Strafprozessordnung genannten Berufsgeheimnisträger oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, sind das öffentliche Interesse an den von dem Berufsgeheimnisträger wahrgenommenen Aufgaben und das Interesse an der Geheimhaltung der diesem anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen besonders zu berücksichtigen. Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 gelten nicht bei Maßnahmen zur Aufklärung von eigenen Bestrebungen oder Tätigkeiten der genannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. (7) Ergeben sich während der Maßnahme tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne von Abs. 6 Satz 1, ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen, sobald dies ohne Gefährdung eingesetzter Personen möglich ist. Bestehen insoweit Zweifel, darf nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Sind das Abhören und Beobachten nach Satz 1 unterbrochen worden, so darf die Maßnahme fortgeführt werden, wenn keine Anhaltspunkte nach Abs. 6 Satz 1 vorliegen. Automatische Aufzeichnungen nach Satz 2 sind dem Amtsgericht am Sitz des Landesamts unverzüglich vorzulegen. Das Gericht entscheidet unverzüglich über die Verwertbarkeit oder Löschung; SS 8 Abs. 8 Satz 2 gilt entsprechend. Soweit Erkenntnisse im Sinne von Abs. 6 Satz 1 durch die Maßnahme erlangt worden sind, dürfen sie nicht verwertet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Dokumentation ist sechs Monate nach der Mitteilung oder nach Zustimmung der Behördenleitung zur endgültigen Nichtmitteilung nach Abs. 9 zu löschen. (8) Bei Gefahr im Verzug können Aufzeichnungen nach Abs. 7 Satz 2 unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat, gesichtet werden. Die oder der Bedienstete entscheidet im Benehmen mit der oder dem Datenschutzbeauftragten des Landesamts über eine vorläufige Verwertung der Er390 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV kenntnisse. Die Bediensteten sind zur Verschwiegenheit über die ihnen bekannt gewordenen Erkenntnisse, die nicht verwertet werden dürfen, verpflichtet. Die gerichtliche Entscheidung nach Abs. 7 Satz 4 und 5 ist unverzüglich nachzuholen. (9) Dauert eine langfristige Observation nach Abs. 2 durchgehend länger als eine Woche oder findet sie an mehr als 14 Tagen innerhalb eines Monats statt, ist die Maßnahme der betroffenen Person nach ihrer Einstellung mitzuteilen. Die Mitteilung unterbleibt, solange eine Gefährdung des Zwecks der Beschränkung nicht ausgeschlossen werden kann oder solange der Eintritt übergreifender Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes absehbar ist. Erfolgt die nach Satz 2 zurückgestellte Mitteilung nicht binnen zwölf Monaten nach Beendigung der Maßnahme, bedarf die weitere Zurückstellung der Zustimmung der Behördenleitung. Die Behördenleitung bestimmt die Dauer der weiteren Zurückstellung. Einer Mitteilung bedarf es nicht, wenn 1. eine der Voraussetzungen in Satz 2 auch nach fünf Jahren nach Beendigung der Maßnahme noch vorliegt, 2. sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft vorliegt und 3. die Voraussetzungen für eine Löschung vorliegen. Eine Mitteilung kann auch auf Dauer unterbleiben, wenn überwiegende Interessen einer betroffenen Person entgegenstehen oder wenn die Identität oder der Aufenthaltsort einer betroffenen Person nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu ermitteln ist. Die Mitteilung obliegt dem Landesamt. SS12 VERDECKTE MITARBEITERINNEN UND VERDECKTE MITARBEITER (1) Das Landesamt darf eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter einer ihnen verliehenen und auf Dauer angelegten Legende (Verdeckte Mitarbeiterinnen und Verdeckte Mitarbeiter) einsetzen. (2) Verdeckte Mitarbeiterinnen und Verdeckte Mitarbeiter dürfen weder zur Gründung von Bestrebungen nach SS 2 Abs. 2 noch zur steuernden Einflussnahme auf derartige Bestrebungen eingesetzt werden. Sie dürfen in Personenzusammenschlüssen oder für diese tätig werden, auch wenn dadurch ein Straftatbestand verwirklicht wird. Im Übrigen dürfen Verdeckte Mitarbeiterinnen und Verdeckte Mitarbeiter im Einsatz bei der Beteiligung an Bestrebungen solche Handlungen vornehmen, die 1. nicht in Individualrechte eingreifen, 2. von den an den Bestrebungen Beteiligten derart erwartet werden, dass sie zur Gewinnung und Sicherung der Informationszugänge unumgänglich sind, und 3. nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine Verdeckte Mitarbeiterin oder ein Verdeckter Mitarbeiter rechtswidrig einen Straftatbestand von erheblicher Bedeutung verwirklicht hat, wird ihr oder sein Einsatz unverzüglich beendet und die Strafverfolgungsbehörde unterrichtet. Über Ausnahmen von Satz 4 entscheidet die Behördenleitung oder ihre Vertretung. (3) Bei Einsätzen zur Erfüllung der Aufgabe nach SS 2 Abs. 2 Nr. 5 gilt SS 9a Abs. 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes entsprechend. (4) Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die verdeckt Informationen in sozialen Netzwerken und sonstigen Kommunikationsplattformen im Internet erheben, gelten Abs. 2 und 3 sowie SS 9a Abs. 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes entsprechend, auch wenn sie nicht unter einer auf Dauer angelegten Legende tätig werden. SS13 VERTRAUENSLEUTE (1) Für den Einsatz von Privatpersonen, deren planmäßige, dauerhafte Zusammenarbeit mit dem Landesamt Dritten nicht bekannt ist (Vertrauensleute), gilt SS 12 Abs. 1 bis 3 entsprechend. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 391 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (2) Über die Verpflichtung von Vertrauensleuten entscheidet die Behördenleitung oder ihre Vertretung. Vertrauensleute müssen nach ihren persönlichen und charakterlichen Voraussetzungen für die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz geeignet sein. Diese Eignung ist fortlaufend durch das Landesamt zu überprüfen. Als Vertrauensleute dürfen Personen nicht angeworben und eingesetzt werden, die 1. nicht voll geschäftsfähig, insbesondere minderjährig sind, 2. von den Geldoder Sachzuwendungen für die Tätigkeit auf Dauer als alleinige Lebensgrundlage abhängen würden, 3. an einem Aussteigerprogramm teilnehmen, 4. Mitglied des Europäischen Parlaments, des Deutschen Bundestages, eines Landesparlaments oder Mitarbeiterin oder Mitarbeiter eines solchen Mitglieds sind oder 5. im Bundeszentralregister mit einer Verurteilung wegen eines Verbrechens oder zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, eingetragen sind. Die Behördenleitung oder ihre Vertretung kann eine Ausnahme von Satz 4 Nr. 5 zulassen, wenn die Verurteilung nicht als Täter eines Totschlags (SSSS 212, 213 des Strafgesetzbuchs) oder einer allein mit lebenslanger Haft bedrohten Straftat erfolgt ist und der Einsatz zur Aufklärung von Bestrebungen unerlässlich ist, die auf die Begehung von in SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes oder SS 100b Abs. 2 der Strafprozessordnung bezeichneten Straftaten gerichtet sind. Im Falle einer Ausnahme nach Satz 5 ist der Einsatz nach höchstens sechs Monaten zu beenden, wenn er zur Erforschung der in Satz 5 genannten Bestrebungen nicht zureichend gewichtig beigetragen hat. Auch im Weiteren ist die Qualität der gelieferten Informationen fortlaufend zu bewerten. SS14 SCHRANKEN NACHRICHTENDIENSTLICHER MITTEL (1) Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat das Landesamt diejenige zu treffen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt. (2) Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. (3) Eine Maßnahme ist nur zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann. (4) Eine Maßnahme ist unzulässig, soweit tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass durch sie allein Erkenntnisse gewonnen werden würden 1. aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder 2. bei einer Rechtsanwältin, einem Rechtsanwalt, einem Kammerrechtsbeistand, einer der in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung genannten Person oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, über die der Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte. Erfolgen Maßnahmen bei einem der im Übrigen in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder 5 der Strafprozessordnung genannten Berufsgeheimnisträger oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, sind das öffentliche Interesse an den von dem Berufsgeheimnisträger wahrgenommenen Aufgaben und das Interesse an der Geheimhaltung der diesem anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen besonders zu berücksichtigen. Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 gelten nicht bei Maßnahmen zur Aufklärung von eigenen Bestrebungen oder Tätigkeiten der genannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. (5) Ergeben sich während einer Maßnahme tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne von Abs. 4 Satz 1, ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen, sobald dies ohne Gefährdung oder Enttarnung eingesetzter Personen möglich ist. Die Maßnahme darf fortgeführt werden, wenn keine Anhaltspunkte nach Abs. 4 Satz 1 mehr vorliegen. Soweit Erkenntnisse im Sinne von Abs. 4 Satz 1 durch eine Maßnahme erlangt worden sind, dürfen sie nicht verwertet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu doku392 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV mentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Dokumentation ist am Ende des Kalenderjahres, das der Protokollierung folgt, zu löschen. DRITTER TEIL Verarbeitung personenbezogener Daten SS15 GELTUNG DATENSCHUTZRECHTLICHER VORSCHRIFTEN Bei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 2 durch das Landesamt findet das Hessische Datenschutzund Informationsfreiheitsgesetz vom 3. Mai 2018 (GVBl. S. 82) in der jeweils geltenden Fassung wie folgt Anwendung: 1. SS 1 Abs. 8, die SSSS 4, 14 Abs. 1 und 3, SS 19 sowie der Zweite Teil finden keine Anwendung, 2. die SSSS 41, 46 Abs. 1 bis 4 und die SSSS 47 bis 49, 57, 59, 78 und 79 sind entsprechend anzuwenden. SS16 SPEICHERUNG, BERICHTIGUNG, LÖSCHUNG UND VER ARBEITUNGSEINSCHRÄNKUNG (1) Das Landesamt darf zur Erfüllung seiner Aufgaben personenbezogene Daten in Dateien speichern, verändern und nutzen, wenn 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen, 2. dies für die Erforschung und Bewertung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 erforderlich ist oder 3. das Landesamt nach SS 2 Abs. 3 tätig wird. Unterlagen, die nach Satz 1 gespeicherte Angaben belegen, dürfen auch gespeichert werden, wenn in ihnen weitere personenbezogene Daten Dritter enthalten sind. Eine Abfrage von Daten Dritter ist unzulässig. (2) Umfang und Dauer der Speicherung personenbezogener Daten sind auf das für die Aufgabenerfüllung des Landesamts erforderliche Maß zu beschränken. (3) Das Landesamt darf Daten über eine minderjährige Person unter 14 Jahren in Dateien und zu ihrer Person geführten Akten nur speichern, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie eine der in SS 3 Abs. 1 und 1a des Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. (4) In Dateien oder zu ihrer Person geführten Akten gespeicherte Daten über eine minderjährige Person sind nach zwei Jahren auf die Erforderlichkeit der Speicherung zu überprüfen und spätestens nach fünf Jahren zu löschen, es sei denn, dass nach Eintritt der Volljährigkeit weitere Erkenntnisse angefallen sind, die eine Fortdauer der Speicherung rechtfertigen. Nicht erforderliche Daten sind zu löschen. (5) Personenbezogene Daten, die erhoben worden sind, um zu prüfen, ob Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen, dürfen in Dateien erst gespeichert werden, wenn sich tatsächliche Anhaltspunkte für derartige Bestrebungen oder Tätigkeiten ergeben haben. Bis zu diesem Zeitpunkt dürfen auch keine zur Person geführten Akten angelegt werden. (6) Unrichtige personenbezogene Daten sind zu berichtigen. Wird bei personenbezogenen Daten in Akten festgestellt, dass sie unrichtig sind, oder wird ihre Richtigkeit von der betroffenen Person bestritten, so ist dies zu vermerken oder auf sonstige Weise festzuhalten. (7) Das Landesamt prüft bei der Einzelfallbearbeitung und im Übrigen nach von ihm festgesetzten angemessenen Fristen, spätestens jedoch nach fünf Jahren, ob Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 393 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV gespeicherte personenbezogene Daten zur Aufgabenerfüllung noch erforderlich sind. Gespeicherte personenbezogene Daten über Bestrebungen nach SS 2 Abs. 2 Nr. 1 und 3 bis 5 sind spätestens 15 Jahre nach dem Zeitpunkt der letzten gespeicherten relevanten Information zu löschen, es sei denn, die Behördenleitung trifft im Einzelfall ausnahmsweise eine andere Entscheidung. Enthalten Sachakten oder Akten zu anderen Personen personenbezogene Daten, die nach Satz 2 zu löschen sind, dürfen sie nicht mehr verwendet werden. Soweit Daten automatisiert verarbeitet oder Akten automatisiert erschlossen werden, ist auf den Ablauf der Fristen nach Satz 1 und 2 hinzuweisen. Nicht erforderliche Daten sind zu löschen. (8) Personenbezogene Daten sind nicht zu löschen, sondern nur in der Verarbeitung einzuschränken, wenn 1. Grund zu der Annahme besteht, dass schutzwürdige Belange der betroffenen Person beeinträchtigt würden, 2. die Daten zur Behebung einer bestehenden Beweisnot unerlässlich sind oder 3. die Verwendung der Daten zu wissenschaftlichen Zwecken erforderlich ist. In den Fällen des Satz 1 Nr. 3 sind die Daten zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu anonymisieren. (9) Die Verpflichtung nach SS 8 Abs. 1 und 2 des Hessischen Archivgesetzes vom 26. November 2012 (GVBl. S. 458), geändert durch Gesetz vom 5. Oktober 2017 (GVBl. S. 294), in der jeweils geltenden Fassung bleibt unberührt. (10) Zum Zweck der gegenseitigen Information über den Einsatz von Vertrauenspersonen darf das Landesamt zusammen mit den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der anderen Länder eine Übersicht als gemeinsame Datei führen. Die Übersicht kann Angaben über wesentliche Eigenschaften der Vertrauenspersonen und deren Einsatzbereiche enthalten. Das Landesamt und das Hessische Landeskriminalamt koordinieren den jeweiligen Einsatz von Vertrauenspersonen; Näheres regeln gemeinsame Richtlinien. SS17 ZWECKBINDUNG (1) Das Landesamt darf personenbezogene Daten nur zum Zweck der Aufgabenerfüllung des Verfassungsschutzes im Sinne des SS 2 übermitteln. Zu anderen Zwecken dürfen personenbezogene Daten nur nach Maßgabe der SSSS 20 bis 23 übermittelt werden. (2) Personenbezogene Daten dürfen auch zur Ausübung von Aufsichtsund Kontrollbefugnissen übermittelt und in dem dafür erforderlichen Umfang verwendet werden. SS18 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH ÖFFENTLICHE STELLEN AN DAS LANDESAMT (1) Die Behörden, Gerichte hinsichtlich der dort geführten Register, sonstigen öffentlichen Stellen des Landes Hessen sowie die Gemeinden, Gemeindeverbände und sonstigen der Aufsicht des Landes Hessen unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts haben dem Landesamt die ihnen bei Erfüllung ihrer Aufgaben bekanntgewordenen Informationen einschließlich personenbezogener Daten auch ohne vorheriges Ersuchen des Landesamts zu übermitteln, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Informationen für die Erfüllung der Aufgaben des Landesamts erforderlich sein können. SS 18 Abs. 1a und 1b des Bundesverfassungsschutzgesetzes bleibt unberührt. Die Übermittlung kann auch durch Einsichtnahme des Landesamts in Akten und Dateien der jeweiligen öffentlichen Stelle erfolgen, soweit die Übermittlung in sonstiger Weise den Zweck der Maßnahme gefährden oder einen übermäßigen Aufwand erfordern würde. Über die Einsichtnahme in amtlich geführte Dateien führt das Landesamt einen Nachweis, aus dem der Zweck und die eingesehene Datei hervorgehen; die Nachweise sind gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr ihrer Erstellung folgt, zu löschen. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 übermitteln 394 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV die Staatsanwaltschaften außerdem Anklageschriften und Urteile. (2) Das Landesamt überprüft die übermittelten Informationen nach ihrem Eingang unverzüglich darauf, ob sie für die Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich sind. Ergibt die Prüfung, dass die Informationen nicht erforderlich sind, werden sie unverzüglich gelöscht. Die Löschung kann unterbleiben, wenn die Trennung von anderen Informationen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand erfolgen kann; in diesem Fall dürfen die nicht erforderlichen Informationen nicht verwendet werden. (3) Die Übermittlung personenbezogener Daten nach Abs. 1, die aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a der Strafprozessordnung bekannt geworden sind, ist nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass jemand eine der in SS 3 Abs. 1 und 1a des Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. Auf die dem Landesamt nach Satz 1 übermittelten Kenntnisse und Unterlagen findet SS 4 Abs. 1 und 4 bis 6 des Artikel 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. (4) Die in Abs. 1 genannten Stellen sind zur Übermittlung verpflichtet, wenn im Einzelfall ein Ersuchen des Landesamts nach SS 4 Abs. 3 vorliegt. Hält die ersuchte Stelle das Verlangen nach Auskunft oder Einsichtnahme nach SS 4 Abs. 3 nicht für rechtmäßig, so teilt sie dies dem Landesamt mit. 3Besteht dieses auf dem Verlangen nach Auskunft oder Einsichtnahme, so entscheidet die für die ersuchte Stelle zuständige oberste Aufsichtsbehörde, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. SS19 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDES AMT AN ÜBERGEORDNETE BEHÖRDEN (1) Das Landesamt unterrichtet die Ministerien und die Staatskanzlei über Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür, die für deren Zuständigkeitsbereich von Bedeutung sind. Dabei dürfen auch personenbezogene Daten übermittelt werden. (2) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium und das Landesamt dürfen personenbezogene Daten zum Zweck der Aufklärung der Öffentlichkeit über Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür öffentlich bekanntgeben, wenn die Bekanntgabe für das Verständnis des Zusammenhangs oder der Darstellung von Organisationen erforderlich ist und das Allgemeininteresse das schutzwürdige Interesse der betroffenen Person überwiegt. SS20 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDES AMT INNERHALB DES ÖFFENTLICHEN BEREICHS (1) Das Landesamt darf Informationen einschließlich personenbezogener Daten, auch wenn sie mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, an inländische öffentliche Stellen übermitteln, wenn der Empfänger die Informationen benötigt 1. zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder sonst für Zwecke der öffentlichen Sicherheit oder der Strafverfolgung, soweit die Übermittlung nicht nach Abs. 2 beschränkt ist, oder 2. zur Erfüllung anderer ihm zugewiesener Aufgaben, sofern er dabei auch zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung beizutragen oder Gesichtspunkte der öffentlichen Sicherheit oder auswärtige Belange zu würdigen hat, insbesondere bei a) der Sicherheitsüberprüfung von Personen, denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse anvertraut werden, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich verschaffen können, b) der Sicherheitsüberprüfung von Personen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind oder beschäftigt werden sollen, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 395 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV c) der Überprüfung der Verfassungstreue von Personen, die sich um Einstellung in den öffentlichen Dienst bewerben, mit deren Einwilligung, d) der sicherheitsbehördlichen Überprüfung von Einbürgerungsbewerberinnen und Einbürgerungsbewerbern, e) der sicherheitsbehördlichen Überprüfung von Ausländerinnen und Ausländern im Rahmen der Bestimmungen des Ausländerrechts, f ) der Überprüfung der Zuverlässigkeit von Personen nach dem Luftsicherheits-, Atom-, Waffen-, Jagdund Sprengstoffrecht, g) der Überprüfung der Zuverlässigkeit von Personen nach den bewachungsund gewerberechtlichen Vorschriften, insbesondere aa) der Zulassung von Personen für den zugangsgeschützten Sicherheitsbereich von Veranstaltungen, bb) von an der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge und ihren Außenstellen beschäftigtem Sicherheitspersonal, cc) von an kommunalen Flüchtlingsunterkünften eingesetztem Wachpersonal, h) der Überprüfung der Zuverlässigkeit von an der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge und ihren Außenstellen beschäftigten Dolmetscherinnen und Dolmetschern, i) der anlassbezogenen Überprüfung der Zuverlässigkeit von Personen und Organisationen, mit denen die Landesregierung zusammenarbeitet aa) in begründeten Einzelfällen, bb) anlässlich der erstmaligen Förderung von Organisationen mit Landesmitteln, sofern diese in Arbeitsbereichen zur Bekämpfung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen tätig werden sollen, mit deren Einwilligung und der Möglichkeit zur Stellungnahme, j) der Zuverlässigkeitsüberprüfung von anstaltsfremden Personen nach den hessischen Vollzugsgesetzen, soweit im Einzelfall erforderlich, k) Ordensverfahren zur Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland - mit Ausnahme der Verdienstmedaille - und des Hessischen Verdienstordens, l) sonstigen Zuverlässigkeitsüberprüfungen und Überprüfungen von Personen, soweit dies gesetzlich vorgesehen ist, m) im besonderen öffentlichen Interesse liegenden sonstigen Überprüfungen von Personen mit deren Einwilligung. (2) Informationen, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, dürfen an die Staatsanwaltschaften, die Finanzbehörden nach SS 386 Abs. 1 der Abgabenordnung, die Polizeien, die mit der Steuerfahndung betrauten Dienststellen der Landesfinanzbehörden, die Behörden des Zollfahndungsdienstes sowie andere Zolldienststellen, soweit diese Aufgaben nach dem Gesetz über die Bundespolizei vom 19. Oktober 1994 (BGBl. I S. 2978, 2979), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Mai 2017 (BGBl. I S. 1066) wahrnehmen, nur übermittelt werden 1. zur Abwehr einer im Einzelfall bestehenden Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person oder für solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Bundes oder eines Landes oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt, 2. wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, dass der Empfänger die Informationen zur Verhinderung, sonstigen Verhütung oder Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung benötigt oder 3. wenn der Empfänger die Informationen auch mit eigenen Befugnissen in gleicher Weise hätte erheben können. Unter Straftaten von erheblicher Bedeutung nach Satz 1 Nr. 2 fallen Verbrechen im Sinne des SS 12 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs und schwerwiegende Vergehen im Sinne des SS 12 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs, wenn die Straftat im Einzelfall mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, sie den Rechtsfrieden empfindlich stört und dazu geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigten. Unter den Voraussetzungen des SS 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 sowie Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes ist das Landesamt zur Übermittlung verpflichtet. 396 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (3) Soweit Informationen übermittelt werden, die mit Maßnahmen nach SS 7 gewonnen wurden, gilt SS 8 Abs. 1 entsprechend. Der Empfänger darf die Informationen nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt worden sind. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung hinzuweisen. (4) Zur Übermittlung nach den Abs. 1 und 2 ist auch das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium befugt; Abs. 3 gilt entsprechend. SS21 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LAN DESAMT AN STATIONIERUNGSSTREITKRÄFTE UND AN AUSLÄNDISCHE ÖFFENTLICHE STELLEN (1) Das Landesamt darf Informationen einschließlich personenbezogener Daten, auch wenn sie mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, an Dienststellen der Stationierungsstreitkräfte übermitteln, soweit die Bundesrepublik Deutschland dazu im Rahmen des Art. 3 des Zusatzabkommens zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen vom 3. August 1959 (BGBl. 1961 II S. 1183, 1218) in der jeweils geltenden Fassung verpflichtet ist. (2) Das Landesamt darf Informationen im Sinne des Abs. 1 auch übermitteln an ausländische öffentliche Stellen sowie an überund zwischenstaatliche Stellen, wenn die Übermittlung zur Wahrung erheblicher Sicherheitsinteressen des Empfängers erforderlich ist, es sei denn, auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland stehen der Übermittlung entgegen. (3) Die Übermittlung hat zu unterbleiben, wenn im Einzelfall ein datenschutzrechtlich angemessener und die elementaren Menschenrechte wahrender Umgang mit den Daten beim Empfänger nicht hinreichend gesichert ist. (4) Soweit Informationen übermittelt werden, die mit Maßnahmen nach SS 7 gewonnen wurden, gilt SS 8 Abs. 1 entsprechend. Der Empfänger darf die Informationen nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt worden sind. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt sich vorbehält, Auskunft über die Verwendung der Daten zu verlangen. (5) Zur Übermittlung nach Abs. 1 und 2 ist auch das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium befugt; Abs. 3 und 4 gelten entsprechend. SS22 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDESAMT AN STELLEN AUSSERHALB DES ÖFFENT LICHEN BEREICHS (1) Das Landesamt darf personenbezogene Daten an Personen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs nicht übermitteln, es sei denn, dass dies zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Gewährleistung der Sicherheit von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen nach SS 20 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b erforderlich ist und das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium im Einzelfall seine Zustimmung erteilt hat. Das Landesamt führt über die Auskunft nach Satz 1 einen Nachweis, aus dem der Zweck der Übermittlung, die Fundstelle und der Empfänger hervorgehen; die Nachweise sind gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. Der Empfänger darf die übermittelten personenbezogenen Daten nur für den Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt wurden. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt sich vorbehält, Auskunft über die Verwendung der Daten zu verlangen. Satz 1 bis 4 finden keine Anwendung, wenn personenbezogene Daten zum Zwecke von Datenerhebungen nach SS 4 übermittelt werden. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 397 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (2) Soweit Informationen übermittelt werden, die mit Maßnahmen nach SS 7 gewonnen wurden, gilt SS 8 Abs. 1 entsprechend. Der Empfänger darf die Informationen nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt worden sind. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt sich vorbehält, Auskunft über die Verwendung der Daten zu verlangen. (3) Zur Übermittlung nach Abs. 1 ist auch das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium befugt; Abs. 2 gilt entsprechend. SS23 ÜBERMITTLUNGSVERBOTE (1) Die Übermittlung von Informationen nach diesem Teil unterbleibt, wenn 1. erkennbar ist, dass unter Berücksichtigung der Art der Informationen und ihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen der betroffenen Person das Interesse der Allgemeinheit oder des Empfängers an der Übermittlung überwiegen, 2. überwiegende Sicherheitsinteressen, insbesondere Gründe des Quellenschutzes oder des Schutzes operativer Maßnahmen, dies erfordern oder 3. besondere gesetzliche Regelungen entgegenstehen; die Verpflichtung zur Wahrung gesetzlicher Geheimhaltungspflichten oder von Berufsoder besonderen Amtsgeheimnissen, die nicht auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, bleibt unberührt. (2) Ein Überwiegen im Sinne von Abs. 1 Nr. 1 und 2 liegt nicht vor, soweit die Übermittlung von Informationen erforderlich ist zur 1. Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Bundes oder eines Landes oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt, oder 2. Verfolgung einer besonders schweren Straftat im Sinne von SS 100b Abs. 2 der Strafprozessordnung, es sei denn, dass durch die Übermittlung eine unmittelbare Gefährdung von Leib oder Leben einer Person zu besorgen ist und diese Gefährdung nicht abgewendet werden kann. Die Entscheidung trifft in den Fällen von Satz 1 die Behördenleitung oder ihre Vertretung, die unverzüglich das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium unterrichtet. Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission. SS24 MINDERJÄHRIGENSCHUTZ (1) Personenbezogene Daten minderjähriger Personen dürfen nach den Vorschriften dieses Gesetzes übermittelt werden, solange die Voraussetzungen ihrer Speicherung nach SS 16 Abs. 3 erfüllt sind. Liegen diese Voraussetzungen nicht mehr vor, bleibt eine Übermittlung nur zulässig, wenn sie zur Abwehr einer erheblichen Gefahr oder zur Verfolgung einer der in SS 100a der Strafprozessordnung genannten Straftaten erforderlich ist. (2) Personenbezogene Daten minderjähriger Personen dürfen nach den Vorschriften dieses Gesetzes nicht an ausländische oder überoder zwischenstaatliche Stellen übermittelt werden. SS25 NACHBERICHTSPFLICHT Erweisen sich personenbezogene Daten nach ihrer Übermittlung nach den Vorschriften dieses Gesetzes als unvollständig oder unrichtig, sind sie unverzüglich gegenüber dem Empfänger zu berichtigen, wenn dies zu einer anderen Bewertung der Daten führen könnte oder zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der betroffenen Person erforderlich ist. 398 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV SS26 AUSKUNFT (1) Das Landesamt erteilt der betroffenen Person über zu ihrer oder seiner Person gespeicherte Daten auf Antrag unentgeltlich Auskunft, soweit die betroffene Person hierzu auf einen konkreten Sachverhalt hinweist und ein besonderes Interesse an einer Auskunft darlegt. Legt die betroffene Person nach Aufforderung ein besonderes Interesse nicht dar, entscheidet das Landesamt nach pflichtgemäßem Ermessen. Die Auskunft erstreckt sich nicht auf 1. die Herkunft der Daten und die Empfänger von Übermittlungen und 2. Daten, die nicht strukturiert in automatisierten Dateien gespeichert sind, es sei denn, die betroffene Person macht Angaben, die das Auffinden der Daten ermöglichen, und der für die Erteilung der Auskunft erforderliche Aufwand steht nicht außer Verhältnis zu dem von der betroffenen Person dargelegten Auskunftsinteresse. Das Landesamt bestimmt das Verfahren, insbesondere die Form der Auskunftserteilung, nach pflichtgemäßem Ermessen. (2) Die Auskunftserteilung unterbleibt, soweit durch sie 1. eine Gefährdung der Erfüllung der Aufgaben zu besorgen ist, 2. Nachrichtenzugänge gefährdet sein können oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise des Landesamts zu befürchten ist, 3. die öffentliche Sicherheit gefährdet oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes ein Nachteil bereitet würde oder 4. Daten oder die Tatsache ihrer Speicherung preisgegeben werden, die nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, insbesondere wegen der überwiegenden berechtigten Interessen eines Dritten, geheim gehalten werden müssen. Die Entscheidung trifft die Behördenleitung oder eine von ihr besonders beauftragte Mitarbeiterin oder ein von ihr besonders beauftragter Mitarbeiter. (3) Die Ablehnung der Auskunftserteilung bedarf keiner Begründung. Sie enthält einen Hinweis auf die Rechtsgrundlage für das Fehlen der Begründung und darauf, dass sich die betroffene Person an die Hessische Datenschutzbeauftragte oder den Hessischen Datenschutzbeauftragten wenden kann. Mitteilungen der oder des Hessischen Datenschutzbeauftragten an die betroffene Person dürfen ohne Zustimmung des Landesamts keine Rückschlüsse auf den Kenntnisstand des Landesamts zulassen. SS27 DATEIANORDNUNGEN (1) Für den erstmaligen Einsatz einer automatisierten Datei nach SS 16 trifft das Landesamt in einer Dateianordnung, die der Zustimmung des für den Verfassungsschutz zuständigen Ministeriums bedarf, die in SS 14 Abs. 1 Satz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes genannten Festlegungen. Die oder der Hessische Datenschutzbeauftragte ist vor Erlass einer Dateianordnung anzuhören. Das Gleiche gilt für wesentliche Änderungen von Dateianordnungen. Das Landesamt führt ein Verzeichnis der geltenden Dateianordnungen. (2) Das Landesamt hat in angemessenen Abständen die Notwendigkeit der Weiterführung oder Änderung der Dateien zu überprüfen. (3) Ist im Hinblick auf die Dringlichkeit der Aufgabenerfüllung die vorherige Mitwirkung der in Abs. 1 genannten Stellen nicht möglich, so kann das Landesamt eine Sofortanordnung treffen. Das Verfahren nach Abs. 1 ist unverzüglich nachzuholen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 399 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV VIERTER TEIL Schlussvorschriften SS28 EINSCHRÄNKUNG VON GRUNDRECHTEN Aufgrund dieses Gesetzes können die Grundrechte auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes, Art. 14 Abs. 1 der Verfassung des Landes Hessen), Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 des Grundgesetzes, Art. 12 der Verfassung des Landes Hessen) und Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes, Art. 8 der Verfassung des Landes Hessen) eingeschränkt werden. SS29 AUFHEBUNG BISHERIGEN RECHTS Das Gesetz über das Landesamt für Verfassungsschutz vom 19. Dezember 1990 (GVBl. I S. 753)2), zuletzt geändert durch Gesetz vom 3. Mai 2018 (GVBl. S. 82), wird mit Ausnahme der SSSS 20 bis 22 aufgehoben; die SSSS 20 bis 22 werden mit Ablauf des 17. Januar 2019 aufgehoben. SS30 INKRAFTTRETEN Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft. Artikel 2) Gesetz zur parlamentarischen Kontrolle des Verfassungsschutzes in Hessen (Verfassungsschutzkontrollgesetz) SS1 PARLAMENTARISCHE KONTROLLE (1) Die Landesregierung unterliegt hinsichtlich der Tätigkeit des Landesamts für Verfassungsschutz der parlamentarischen Kontrolle. Sie wird von der Parlamentarischen Kontrollkommission ausgeübt. (2) Der Landtag wählt zu Beginn jeder Wahlperiode die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission aus seiner Mitte. (3) Er bestimmt die Zahl der Mitglieder, die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der Parlamentarischen Kontrollkommission. (4) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Landtags auf sich vereint. (5) Scheidet ein Mitglied aus dem Landtag oder seiner Fraktion aus oder wird es Mitglied der Landesregierung, so verliert es seine Mitgliedschaft in der Parlamentarischen Kontrollkommission. Für dieses Mitglied ist unverzüglich ein neues Mitglied zu wählen; das Gleiche gilt, wenn ein Mitglied aus der Parlamentarischen Kontrollkommission ausscheidet. (6) Die Parlamentarische Kontrollkommission wählt eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden aus ihrer Mitte und gibt sich eine Geschäftsordnung. Sie oder er wird durch eine bei der Präsidentin oder dem Präsidenten des Landtags eingerichtete Geschäftsstelle unterstützt. (7) Im Übrigen bleiben die Rechte des Landtags unberührt. 400 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV SS2 GEHEIMHALTUNG, PROTOKOLLIERUNG, VERWEN DUNG VON MOBILEN GERÄTEN (1) Die Beratungen der Parlamentarischen Kontrollkommission sind geheim; das Sicherstellen der Geheimhaltung obliegt jedem Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission. Hierauf weist die oder der Vorsitzende vor Beginn jeder Sitzung hin. Die Mitglieder sind zur Geheimhaltung der Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen bei ihrer Tätigkeit in der Parlamentarischen Kontrollkommission bekannt geworden sind. Dies gilt auch für die Zeit nach ihrem Ausscheiden. (2) Die Sitzungen werden durch die Kanzlei des Landtags protokolliert. Zum Zwecke der Protokollierung werden die Sitzungen aufgezeichnet. Die Aufzeichnung ist spätestens zwei Wochen nach Fertigstellung des Protokolls zu löschen. Die Vorschriften der Verschlusssachenanweisung bleiben unberührt. Die oder der Vorsitzende leitet das Protokoll nach Fertigstellung der von der Präsidentin oder dem Präsidenten des Landtags bestimmten Stelle zur Registrierung und Verwaltung zu. Je eine Ausfertigung des Protokolls wird beim Landesamt für Verfassungsschutz sowie bei der Präsidentin oder dem Präsidenten des Landtags als Verschlusssache archiviert. (3) Den Mitgliedern ist gestattet, sich für die Beratungen während der Sitzungen handschriftliche Notizen anzufertigen. Aus Gründen des Geheimschutzes stellt die oder der Vorsitzende im Anschluss an jede Sitzung die Einziehung und Vernichtung der handschriftlichen Notizen mit Sitzungsbezug sicher, soweit von der Erstellerin oder dem Ersteller der Notizen eine Verwahrung durch die Landtagsverwaltung nicht gewünscht wird. Wird Verwahrung gewünscht, übergibt das Mitglied der oder dem Vorsitzenden die Unterlagen in einem verschlossenen Umschlag. Die von der Präsidentin oder dem Präsidenten des Landtags bestimmte Stelle zur Registrierung und Verwaltung von Verschlusssachen verwahrt die handschriftlichen Notizen mit dem Protokoll der Sitzung. Jedem Mitglied ist auf Verlangen Einsicht in seine Notizen zu gewähren. (4) Der Gebrauch von Mobiltelefonen, tragbaren elektronischen Datenverarbeitungsgeräten oder sonstigen Geräten zur Aufzeichnung von Bildund Tondaten während der Sitzung ist nicht gestattet. Die oder der Vorsitzende stellt vor Beginn der Sitzung sicher, dass keine der in Satz 1 genannten Geräte eingesetzt werden können. PFLICHT DER LANDESREGIERUNG ZUR UNTERRICH TUNG (1) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission umfassend über die allgemeine Tätigkeit des Landesamts für Verfassungsschutz und über Vorgänge von besonderer Bedeutung, insbesondere SS3 über wesentliche Änderungen im Lagebild der inneren Sicherheit, behördeninterne Vorgänge mit erheblichen Auswirkungen auf die Aufgabenerfüllung und Einzelvorkommnisse, die Gegenstand politischer Diskussionen oder öffentlicher Berichterstattung sind. Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium berichtet zu einem konkreten Thema aus dem Aufgabenbereich des Landesamts für Verfassungsschutz, sofern die Parlamentarische Kontrollkommission dies wünscht. (2) Zeit, Art und Umfang der Unterrichtung der Parlamentarischen Kontrollkommission werden unter Beachtung des notwendigen Schutzes der Quellen durch die politische Verantwortung der Landesregierung bestimmt. (3) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission 1. im Abstand von höchstens sechs Monaten über Auskunftsersuchen nach SS 10 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes vom 25. Juni 2018 (GVBl. S. 302), insbesondere durch einen Überblick über Anlass, Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der im Berichtszeitraum durchgeführten Maßnahmen, 2. in jährlichem Abstand durch einen Lagebericht zu a) Maßnahmen nach den SSSS 7, 9 und 11 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 401 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV b) dem Einsatz von Verdeckten Mitarbeiterinnen und Verdeckten Mitarbeitern sowie Vertrauensleuten nach den SSSS 12 und 13 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes, 3. über die Dienstvorschrift des Landesamts für Verfassungsschutz für die Zusammenarbeit mit und insbesondere die Führung von Verdeckten Mitarbeiterinnen und Verdeckten Mitarbeitern sowie Vertrauensleuten nach den SSSS 12 und 13 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes. (4) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium erstattet dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundes im Abstand von höchstens sechs Monaten einen Bericht nach SS 8b Abs. 10 Satz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Juni 2017 (BGBl. I S. 1634), über die Durchführung von Maßnahmen nach SS 10 Abs. 4 Nr. 2 und 3 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes; dabei ist insbesondere ein Überblick über Anlass, Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der im Berichtszeitraum durchgeführten Maßnahmen zu geben. (5) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission über den Vollzug des Wirtschaftsplans im Haushaltsjahr. SS4 BEFUGNISSE DER PARLAMENTARISCHEN KONTROLL KOMMISSION (1) Jedes Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission kann die Einberufung einer Sitzung und die Unterrichtung der Parlamentarischen Kontrollkommission verlangen. Diese hat Anspruch auf entsprechende Unterrichtung durch die Landesregierung. (2) Jedem Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission ist Akteneinsicht zu gewähren. Die Akteneinsicht erstreckt sich auch auf vom Landesamt für Verfassungsschutz amtlich verwahrte Schriftstücke sowie die Einsicht in Daten des Landesamts für Verfassungsschutz. Soweit im Rahmen der Akteneinsicht erforderlich, ist den Mitgliedern der Parlamentarischen Kontrollkommission Zutritt zu den Dienststellen des Landesamts für Verfassungsschutz zu gewähren. (3) Die Parlamentarische Kontrollkommission kann im Einzelfall zur Wahrnehmung ihrer Kontrollaufgaben mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder nach Anhörung der Landesregierung beschließen, eine sachverständige Person mit der Durchführung von Untersuchungen zu beauftragen. Die sachverständige Person hat der Parlamentarischen Kontrollkommission über das Ergebnis der Untersuchungen zu berichten. Die Landesregierung ist der sachverständigen Person gegenüber in gleicher Weise zur Auskunft und Mitwirkung verpflichtet wie der Parlamentarischen Kontrollkommission. Insbesondere ist der sachverständigen Person auf Verlangen Akteneinsicht zu gewähren. SS 2 Abs. 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend für die sachverständige Person. (4) Die Parlamentarische Kontrollkommission kann der oder dem Hessischen Datenschutzbeauftragten Gelegenheit zur Stellungnahme in Fragen des Datenschutzes geben. (5) Der Haushaltsplan des Landesamts für Verfassungsschutz wird der Parlamentarischen Kontrollkommission zur Mitberatung überwiesen. SS5 UNTERSTÜTZUNG DER MITGLIEDER DER PARLAMEN TARISCHEN KONTROLLKOMMISSION (1) Die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission haben das Recht, zur Unterstützung ihrer Arbeit je eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter ihrer Fraktion nach Anhörung der Landesregierung mit Zustimmung der Parlamentarischen Kontrollkommission zu benennen. Voraussetzung für diese Tätigkeit sind die Ermächtigung zum Umgang mit Verschlusssachen und die förmliche Verpflichtung zur Geheimhaltung. 402 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (2) Die benannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind befugt, die Beratungsgegenstände der Parlamentarischen Kontrollkommission mit den Mitgliedern der Parlamentarischen Kontrollkommission zu erörtern. Sie haben grundsätzlich keinen Zutritt zu den Sitzungen der Parlamentarischen Kontrollkommission. Die Parlamentarische Kontrollkommission kann im Einzelfall mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder beschließen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen an bestimmten Sitzungen teilnehmen können. (3) Die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission haben auch das Recht, die Beratungsgegenstände der Parlamentarischen Kontrollkommission mit der Parlamentarischen Geschäftsführerin oder dem Parlamentarischen Geschäftsführer ihrer Fraktion zu erörtern. Für diese gilt SS 2 Abs. 1 entsprechend. SS6 BERICHTERSTATTUNG Die Parlamentarische Kontrollkommission erstattet dem Landtag mindestens in der Mitte und am Ende jeder Wahlperiode einen Bericht über ihre Kontrolltätigkeit. Dabei nimmt sie insbesondere dazu Stellung, ob die Landesregierung ihrer Unterrichtungspflicht zu Vorgängen von besonderer Bedeutung nachgekommen ist. Die Parlamentarische Kontrollkommission erstattet dem Landtag jährlich einen Bericht über die Durchführung sowie Art, Umfang und Anordnungsgründe der Auskunftsersuchen und Maßnahmen nach den SSSS 7, 9, 10 und 11 Abs. 2 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes; dabei sind die Grundsätze des SS 2 Abs. 1 zu beachten. SS7 INKRAFTTRETEN Dieses Gesetz tritt am 18. Januar 2019 in Kraft. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 - 403 IMPRESSUM Herausgeber Hessisches Ministerium des Innern und für Sport Friedrich-Ebert-Allee 12 65185 Wiesbaden Redaktionsschluss: 21. Juni 2023 Gestaltungskonzept & Artwork Nina Faber de.sign, Wiesbaden Bildnachweise S. 5: (c) HMdIS | S. 9 +13: (c) Landesamt für Verfassungsschutz Hessen, Wiesbaden | S. 39: (c) picture alliance/Arne Dedert, (c) picture alliance/Andreas Arnold, (c) picture alliance/Markus Scholz, (c) picture alliance/Arne | Dedert, (c) picture alliance/Andrea DiCenzo, (c) picture alliance/Boris Roessler | S. 71: (c) picture alliance/Markus Scholz | S. 155: (c) picture alliance/Patrick Seege | S. 167: (c) Pixabay/InstagramFOTOGRAFIN | S. 175: (c) picture alliance/Arne Dedert | S. 205: (c) picture alliance/Andrea DiCenzo, (c) picture alliance/Boris Roessler | S. 265: (c) picture alliance/Andreas Arnold | S. 293: (c) picture alliance/Boris Roessler | S. 297: (c) picture alliance/Ulrich Baumgarten | S. 307: (c) picture alliance/Matthias Balk | S. 313: (c) picture alliance/Thoralf Plath, (c) picture alliance/Jochen Zick, (c) picture alliance/Andreas Arnold, (c) picture alliance/Julian Stratenschulte Kontakt Landesamt für Verfassungsschutz Hessen Konrad-Adenauer-Ring 49 65187 Wiesbaden Tel.: 0611-7200 Fax: 0611-7201139 Internet: www.verfassungsschutz.hessen.de Druck AC Medienhaus GmbH, Wiesbaden FSC - zertifiziertes Papier Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Hessischen Landesregierung herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zweck der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Landtags-, Bundestagsund Kommunalwahlen sowie Wahlen zum Europaparlament. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl darf die Druckschrift nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der Landesregierung zugunsten einzelner Gruppen verstanden werden könnte. Die genannten Beschränkungen gelten unabhängig davon, wann, auf welche Weise und in welcher Anzahl diese Druckschrift dem Empfänger zugegangen ist. Den Parteien ist es jedoch gestattet, die Druckschrift zur Unterrichtung ihrer einzelnen Mitglieder zu verwenden. 404 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2022 Hessisches Ministerium des Innern und für Sport Friedrich-Ebert-Allee 12 65185 Wiesbaden www.hessen.de